Integrität: Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie [1. Aufl.] 9783839403259

Was bedeutet es, Integrität zu besitzen? In der kapitalistischen Spätmoderne wird es zunehmend schwieriger, »integer« zu

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German Pages 394 [393] Year 2015

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Inhalt
Einleitung
1. Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben einer Pathognostik des Sozialen
2. Bedeutungsdimensionen der Integrität: Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit
3. Selbstverständigung und Desintegration: Integrität als schwieriges Selbstverhältnis
Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehrtheit oder "Die Schwierigkeit zu sagen, was fehlt"
4. Interaktion und Invasion: Integrität als schwieriges Verhältnis zu anderen
5. Die nähere Verwandtschaft der Integrität: Würde und Ehre, Freiheit und Autonomie, Authentizität und Wahrhaftigkeit
6. Augewandte Sozialphilosophie als Psychopathognostik der Integrität
Literatur
Sachregister
Ausführliches Inhaltsverzeichnis
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Integrität: Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie [1. Aufl.]
 9783839403259

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Integrität

Amd Poilmann (Dr. phil.) arbeitet und lehrt am MenschenRechtsZentrum der Universität Potsdam im Rahmen eines DFG-Projektes zum Thema >>Soziale Menschenrechte«. Seine Forschungsschwerpunkte sind Ethik, Moralphilosophie, Politische Philosophie, Sozialphilosophie und Schalke 04.

ARND POLLMAN N

Integrität Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie

[transcript]

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:j fdnb.ddb.de abrufbar.

©

2005

transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Arnd Poilmann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-325-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http:/ fwww.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung 1. Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben einer Pathognostik des Sozialen 2. Bedeutungsdimensionen der Integrität: Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit 3. Selbstverständigung und Desintegration: Integrität als schwieriges Selbstverhältnis

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Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehrtheit oder "Die Schwierigkeit zu sagen, was fehlt"

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4. Interaktion und Invasion: Integrität als schwieriges Verhältnis zu anderen

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5. Die nähere Verwandtschaft der Integrität: Würde und Ehre, Freiheit und Autonomie, Authentizität und Wahrhaftigkeit 6. Augewandte Sozialphilosophie als Psychopathognostik der Integrität

Literatur Sachregister Ausführliches Inhaltsverzeichnis

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"And they all pretend they're orphans and their memory's like a train you can see it getting smaller as it pulls away and the things you can't remernher tell the things you can't forget that history puts a saint in every dream" Tom Waits: "Time"

Einleitung

Im amerikanischen New Jersey, unweit der Stadt New York, liegt tief im Washington Valley eine Ausbildungsstätte mit dem Namen The Seeing Eye. Es handelt sich dabei um keine herkömmliche Lehranstalt. Nicht etwa Menschen drücken dort die Schulbank, sondern Hunde. The Seeing Eye ist ein Ort, an demjunge Labradore und Schäferhunde eine Ausbildung als Blindenführer erhalten. In einem mehrmonatigen Trainingsprogramm bringt man ihnen bei, einen Menschen ohne Sehvermögen durch die Tücken des Alltags zu lotsen. Wochen später dann werden die Vierbeiner ihren zukünftigen Weggefährten an die Hand gegeben, und zwar in einem buchstäblichen Sinne: Beide, die blinde Person und ihr eigens dafür ausgebildeter Hund, müssen nun lernen, Seite an Seite durch das Leben zu gehen. Sind sie erst einmal aufeinander eingespielt, werden sie fortan nicht mehr zu trennen sein. Wie gefahrenvoll der Alltag einer blinden Person sein kann und wie sehr diese dabei auf die Hilfe ihres Hundes angewiesen ist, vermag ein einfaches Beispiel zu verdeutlichen. Man stelle sich vor, das ungleiche Paar nähere sich einer vielbefahrenen Kreuzung. Da der blinde Mensch gelernt hat, das Verkehrsaufkommen anhand des Straßenlärms einzuschätzen, hält er zunächst am Fahrbahmand inne, und erst nachdem der Lärm abgeklungen ist, gibt er seinem Hund das Zeichen "vorwärts". Aber nehmen wir an, auf der Kreuzung befände sich noch immer ein Auto. Es hat den Gegenverkehr abgewartet und will nun anfahren. Jetzt ist der Moment des Blindenhundes gekommen! Er wird die bedrohliche Situation erkennen und sich weigern, dem Befehl des Halters nachzukommen. Der Hund bleibt ganz einfach stehen. So bewahrt er siebeidevor einer großen Gefahr. Es ist dieses Verhalten des Hundes, von dem die Ausbilder von The Seeing Eye sagen, es handele sich um "intelligent disobedience", um klugen Ungehorsam. Angesichts einer akuten Gefahr kann der von ihnen angelernte Hund seinem Halter die Gefolgschaft verweigern, um ihn dadurch vor dro-

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hendem Unheil zu bewahren. Dabei ist das, was den Hund zum Stehenbleiben zwingt, eine Mischung aus Übung und Instinkt. Die Ausbildung hat ein intuitives Frühwarnsystem aktiviert und habituell überformt, wodurch eine antrainierte Protesthaltung möglich wurde, die nun in Gestalt einer "zweiten Natur" in den Dienst der gemeinsamen Sache tritt. Somit ist intelligent disobedience nur vermeintlich ein Akt des Ungehorsams. Der zugleich instinktive und trainierte Widerstand des alarmierenden Hundes ist vielmehr Ausdruck einer tief sitzenden Verbundenheit und Solidarität. Die Verweigerung erfolgt zum Schutze derer, denen für einen Moment die Gefolgschaft aufgekündigt wird. Und damit verlassen wir dann auch schon das Schulgelände von The Seeing Eye ... In dem vorliegenden Buch wird von den Aufgaben der Sozialphilosophie zu reden sein, und es dürfte sich bereits der Verdacht eingeschlichen haben, dass die an diesem Geschäft beteiligten Akteure im Folgenden mit Blindenhunden verglichen werden sollen. Dies wird tatsächlich geschehen, doch obgleich die dadurch nahegelegte Analogie einen leicht romantischen oder gar pathetischen Beigeschmack haben dürfte, werden wir auch im Zusammenhang dessen, was hier unter Sozialphilosophie verstanden werden soll, von "klugem Ungehorsam" sprechen können. Dabei wird sich jedoch herausstellen, dass die Metapher des Blindenhundes nicht nur eine pathetische, sondern zudem auch eine spezifisch pathologische Bedeutung besitzt, die für das Unternehmen der Sozialphilosophie charakteristisch ist. Zunächst einmal ist die Vermutung kaum von der Hand zu weisen, dass nicht nur einzelne Menschen sich gelegentlich "verrennen", auch Gesellschaften können in Orientierungsnot geraten, worüber etwa die seit den Tagen Max Webers geläufige und periodisch aufgefrischte Diagnose von einem kulturellen "Sinn- und Orientierungsverlust" Auskunft gibt. Zieht man hier Blindheit als Metapher heran, so lässt sich eine Sehstörung entsprechend auch in größerem Maßstab diagnostizieren, d.h. im Hinblick auf Gemeinschaften, wenn man bedenkt, dass diese bisweilen in Krisen geraten, die das Resultat einer versäumten Risikoabschätzung oder eines Mangels an Weitblick sind. 1 An den Kreuzungen des sozialen, politischen, kulturellen oder auch ökonomischen Getümmels bedarf es nicht selten einer Art renitenter Rast, einer vorausschauenden Verweigerungshaltung, mit der die Zeit gewonnen wird, den Verkehr als Ganzen in den Blick zu bekommen und dabei eine der Gesellschaft drohende Fehlentwicklung abzuschätzen bzw. einen bereits herrschenden Notstand festzustellen. Michael Walzer zählt ein "gutes Auge" zu den grundlegenden Charaktereigenschaften des Sozialkritikers. Siehe ders. (2000): "Mut, Mitleid und ein gutes Auge", in: Deutsche Zeitschriftfür Philosophie, 5/2000.

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Es versteht sich von selbst, dass gesellschaftliche Desintegrationen, wie Orientierungskrisen dieser Art in den Sozialwissenschaften häufig genannt werden, allein dann abzuwenden sind, wenn sie für die davon Betroffenen rechtzeitig erkennbar werden. Herrschende Missstände müssen zunächst auf einer breiten Basis augenscheinlich und bewusst werden oder besser noch zur Sprache kommen, bevor es zu einschneidenden gesellschaftlichen Veränderungen kommen kann. Dazu bedarf es einer himeichend deutlich artikulierten Kritik. Erblickt man in solchen Klagen mehr als nur das übliche Lamento einiger weniger ewig Unzufriedener, dürfte das regelmäßige Aufkommen eines Unbehagens an der Kultur nicht so sehr lästig oder beunruhigend wirken als vielmehr erfrischend bis ermutigend. Proteste dieser Art lassen sich nämlich als unverzichtbare Triebkräfte der gesellschaftlichen Fortentwicklung deuten, durch die so mancher fallige Wandel überhaupt erst möglich wird. Eine Gesellschaft drohte zweifelsohne an ihrem Status Quo zu ersticken, fände der in ihr herrschende Unmut kein Ventil. So ist es kaum verwunderlich, dass wir vor allem im Zusammenhang dessen, was gemeinhin auf die einfache Formel intellektueller "Sozial-", "Kultur-" oder "Gesellschaftskritik"2 gebracht wird, aufvielfaltige Beispiele von intelligent disobedience stoßen. Angesichts einer beinahe chronischen Krisenanfälligkeit des gesellschaftlichen Lebens zeigt es sich, dass jede Gemeinschaft auf selbstinduzierten Stress angewiesen ist. Damit ist der sich periodisch ansammelnde, zeitskeptische Druck gemeint, der in der Regel nicht einfach "von außen" auf die herrschenden Verhältnisse einwirkt, sondern vielmehr aus deren eigener Mitte kommt oder, um im obigen Bilde zu bleiben, von ihrer Seite. Die Artikulation gesellschaftlicher Verdrossenheit hat vornehmlich die Gestalt einer internen Revision. Die Kritikerinnen und Kritiker sind parteilich. Sie beteiligen sich mit einem gleichsam intuitiven wie trainierten Gespür für negative soziale Stimmungslagen an einem kollektiven Prozess der Selbstverständigung, bei dem es um die Zukunft ihrer eigenen Gemeinschaft geht. 3 Sozialphilosophische Kritik ist demzufolge ein genuiner Bestandteil des gesamtgesellschaftlichen Ensembles und Ausdruck einer dort frei flottierenden Nervosität, die zum normativen Fluchtpunkt die Veränderung oder gar die Aufhebung unannehmbarer Zustände hat. Nun zeigt jedoch ein gerrauerer Blick auf den sozial- und kulturkritischen Diskurs unserer Tage, dass eben dieser normative Fluchtpunkt äußerst um2 3

Ich gebrauche diese Ausdrücke zunächst synonym mit ähnlichen Termini wie "Zeit-" und "Kulturdiagnose" oder "Gegenwarts-" bzw. "Zeitkritik". Zu dieser Mischung aus kognitivem, normativem und emotionalem Eingebundensein siehe Georg Lohmann (1993): "Zur Rolle von Stimmungen in Zeitdiagnosen", in: Hinrich Fink-Eitel/Georg Lohmann (Hg.) (1993): Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurt!Main: Suhrkamp. 11

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stritten ist. 4 Angesichts zeitgenössischer sozialphilosophischer Diskussionen mag einen vielmehr die Befürchtung beschleichen, dass die Frage, anhand welcher Maßstäbe Gesellschaftskritik geübt werden soll, weitgehend ungeklärt ist. Das Geschäft der kritischen Zeitdiagnose, das lange, nahezu unproblematisch, entweder von "links" oder von "rechts" betrieben werden konnte, versteht sich heute längst schon nicht mehr von selbst. Wer an einer Diagnose gesellschaftlicher Missstände und Fehlentwicklungen interessiert ist, der hat im Zuge seiner Kritik deutlich werden zu lassen, wem die von ihm festgestellten sozialen Desintegrationen zum Nachteil gereichen. Um hier nur einige mögliche Antworten auf das damit umrissene sozialphilosophische Begründungsproblem anzudeuten: Geht es der Kritik um einen Mangel an Freiheit, Menschenwürde oder Glück, um ein Fehlen an Sicherheit, Ordnung oder Frieden, um Defizite an Gerechtigkeit, Gemeinwohl oder Solidarität, um das Schwinden von Toleranz, Achtung oder Anerkennung? Es sieht so aus, als habe sich die Sozialphilosophie, wollte sie das Unternehmen einer kritischen Zeitdiagnostik vorantreiben, zunächst mit der gewissermaßen metakritischen Frage auseinander zu setzen, in wessen Namen die Gesellschaft kritisiert werden soll. Die vorliegende Untersuchung wird mit einem Überblick über die prominentesten sozialphilosophischen Begründungsansätze der Gegenwart einsetzen. Dabei werden wir feststellen, dass, so verschiedenartig das derzeitige Angebot an normativen Leitbegriffen auch sein mag, letztlich doch ein kleinster gemeinsamer Nenner der Kritik erkennbar ist: Die zeitgenössische Sozialphilosophie, so wird ein erstes Ergebnis lauten, kreist um einen in konzeptioneller Hinsicht "dünnen", d.h. inhaltlich bescheidenen Begriff vom menschlichen Wohlergehen, der auch heute, d.h. unter den Bedingungen des weltanschaulichen Pluralismus, Anspruch auf normative Generalisierbarkeit anmelden darf. Aber um welchen gerraueren Begriff des Wohlergehens handelt es sich? Schon Georg Simmel hatte im Rahmen seiner zeitkritischen Analysen den Verdacht geäußert, dass spezifisch moderne Desintegrationserfahrungen ein menschliches Bedürfnis nach "Ganzheit" wachrütteln. Den zentrifugalen Kräften der Modeme korrespondiere eine Fragmentierung und "Zersplitterung" des Subjekts. 5 Es ist genau dieser schlichte Gedanke eines in der Modeme mit besonderer Dringlichkeit hervortretenden Begehrens nach Intaktheil oder auch UnversehrtheU menschlicher Selbst- und Weltverhältnisse, der bis heute eine normative Einheit in der Vielheit sozialkritischer Bemühungen stiftet. Dahinter, so ist zu vermuten, verbirgt sich die Vorstellung von einer existenziellen Selbstbeziehung des Menschen, die allein dann als gelungen 4 5

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Wir werden auf das Folgende ausführlicher in Kapitel I zu sprechen kommen. Georg Simmel (1970): Grundfragen der Soziologie, Berlin: de Gruyter, bes. S. 69; ders. (1987): Das individuelle Gesetz, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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bezeichnet werden kann, wenn die betroffene Person es vermag, von äußeren und inneren Zwängen weitgehend unbehelligt, in Einklang mit dem zu leben, was ihr wichtig ist. Von diesem menschlichen Grundbedürfnis heißt es entsprechend, dass es durch gesellschaftliche Fehlentwicklungen dauerhaft frustriert werden kann. Zumeist aber bleibt diese Idee noch so diffus, dass kaum erkennbar wird, was explizit damit gemeint sein soll. Mit dem bloßen Hinweis auf ein menschliches Streben nach Ganzheit und Unversehrtheit ist zweifellos noch nicht sehr viel gewonnen. Weitgehend im Dunkeln muss bleiben, in welchen Hinsichten sich die Sozialphilosophie den Menschen als "verletzlich" vorzustellen hat. Ist damit mehr als bloß die Versehrbarkeit des menschlichen Körpers gemeint? Geht es auch um die Verletzlichkeit seiner Seele, seiner Freiheit, seines Willens oder gar seines gesamten ethisch-existenziellen Lebenszusammenhangs? Genau an diesem Punkt, wo in der gegenwärtigen Debatte die Verlegenheit spürbar wird, die Idee der Intaktheit menschlicher Existenz mit Leben füllen zu müssen, wird immer häufiger der äußerst suggestive Begriff "Integrität" herbeizitiert. Auf seine Verwendung trifft man in sozialphilosophischen Kontexten zumeist dort, wo auf die Schwierigkeiten vergesellschafteter Individuen hingewiesen werden soll, das eigene ethisch-existenzielle Selbstund Weltverhältnis gegenüber Angriffen von außen zu schützen. Damit übernimmt der Integritätsbegriff die Rolle einer Art Deckkategorie: Mit deren Nennung scheint sich die problematische Aufgabe, die Versehrbarkeit des Menschen einmal deutlicher zu explizieren, umgehend zu erledigen. Der Inhalt der Integritätsidee wird in der Regel für derart unproblematisch und selbstverständlich gehalten, dass es gänzlich unnötig erscheint, sich philosophisch eingehender damit zu beschäftigen. 6 Doch so vielversprechend die Wahl des Integritätsbegriffs in diesen sozialphilosophischen Zusammenhängen auch sein mag, seine derzeit überwiegend oberflächliche Verwendung weckt den Verdacht, man wolle dem damit verknüpften sozialphilosophischen Begründungsproblem ausweichen. Das konzeptionelle Problem einer genaueren Bestimmung dessen, was es bedeuten würde, ein intaktes oder auch unversehrtes Selbst- und Weltverhältnis zu besitzen, wird damit eher zugedeckt als in Angriff genommen. Daher wird es das Ziel des vorliegenden Buches sein, dem kritischen Sinn und Gehalt des Integritätsbegriffs umfassend nachzuspüren. Es soll erkennbar werden, was genau die Sozialphilosophie im Visier hat, wenn es heißt, dass ganz bestimmte gesellschaftliche Missstände und Fehlentwicklungen die Integrität einzelner Gesellschaftsmitglieder verletzen. 6

Manchmal gewinnt man den Eindruck, dass eine gewisse Scheu vorliegt, den Begriff genauer zu analysieren, so als könne er vor den Augen des Betrachters zerrieseln. Mehr dazu in Abschnitt 2.4.

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Wenn wir im Folgenden den Blick über die Grenzen der Sozialphilosophie hinaus auch auf das Gebiet benachbarter philosophischer Disziplinen, vor allem der zeitgenössischen Ethik und Moralphilosophie, schweifen lassen, und zwar in der Hoffnung, dort bereits auf ausgereiftere Integritätskonzepte zu stoßen, so werden wir dabei eine doppelte Ernüchterung erfahren: Zum einen ist in Bezug auf die Integritätsproblematik so etwas wie eine philosophische Tradition noch gar nicht vorhanden. Der Integritätsbegriff mag zwar ehrwürdig und altertümlich anmuten, bislang jedoch ist er eine auffallend vernachlässigte philosophische Kategorie. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen7 , taucht der Terminus in der philosophischen Debatte überhaupt erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts auf. Zum anderen wird sich bei der Sichtung des vorhandenen Materials zeigen, dass die Verwirrung mit Blick auf die Bedeutung des Integritätsbegriffs weit größer ist, als ohnehin schon vermutet. Zu der sozialphilosophischen Verwendung des Begriffs im Sinne der Ganzheit und Unversehrtheit gesellt sich sofort ein zweiter Begriffsgebrauch, von dem auf Anhieb unklar sein dürfte, ob er sich mit dem ersten annähernd verträgt. Diese zweite Bedeutung des Integritätsbegriffs klingt immer dann an, wenn wir- auch in alltagssprachlichen Zusammenhängen- von einem Menschen sprechen, der "integer" ist. 8 In der Regel haben wird dabei Personen vor Augen, von denen es heißt, sie seien "unbestechlich", sie hätten "feste Werte", zu denen sie stehen, und von denen sie sich nicht abbringen lassen. Während der Integritätsbegriff in seiner sozialphilosophischen Verwendung eine eher defensiv gehaltene Kategorie ist, mit deren Gebrauch wir darauf hinweisen, dass das menschliche Leben ein zerbrechliches Gut ist, attestieren wir einer Person in der zweiten Verwendung des Wortes eine besondere Charaktereigenschafl, die besagt, dass sie sich selbst "treu" ist. 9 Wir werden jedoch sehen, dass das Bedeutungsspektrum des Integritätsbegriffes mit diesen beiden Verwendungen noch immer nicht abgedeckt ist. 7

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Zu nennen wären Marcus Tullius Cicero: De officiis - Vom pflichtgemäßen Handeln, Stuttgart 1992: Reclam; Thomas v. Aquin: Summa theologiae - Summe der Theologie, 3 Bände, Stuttgart 1985: Kröner. Dazu eine wichtige terminologische Vorbemerkung: Das Adjektiv "integer" ist alltagssprachlich auf die nun folgende zweite Bedeutung festgelegt. Da aber in diesem Buch der Versuch unternommen wird, einen komplexen Integritätsbegriff zu umreißen, der diverse Verwendungsweisen integriert, wird der Gebrauch des Adjektivs hier auch auf andere Bedeutungsdimensionen ausgeweitet. Vorab sei angemerkt, dass sich bei der Verwendung der Integritätskategorie kulturabhängige Akzentsetzungen bemerkbar machen. Während z.B. im angloamerikanischen Sprachraum zumeist die zweite Bedeutung mitschwingt, wenn von "integrity" die Rede ist, wobei ein entsprechendes Adjektiv fehlt, zielt im Deutschen die Verwendung des Substantivs zumeist auf jene erste Begriffsbedeutung, das entsprechende Adjektiv meint fast ausschließlich die zweite.

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Die Durchsicht der Debatte wird mindestens noch zwei weitere zentrale Begriffsdimensionen freilegen - namentlich moralische "Rechtschaffenheit" und psychologische "Integriertheit" -, die sich auf erstere nicht einfach reduzieren lassen. Damit tritt ein Gewirr unterschiedlichster Bedeutungsaspekte hervor, von denen bislang weitgehend ungeklärt ist, ob und, wenn ja, wie sie miteinander verknüpft sind. Zwar ist in der Integritätsdebatte verschiedentlich der Versuch unternommen worden, einzelne dieser Verwendungsweisen gegeneinander abzugrenzen, insgesamt aber hinterlässt die Diskussion bis dato den Eindruck, als habe man es weniger mit unterschiedlichen Bedeutungen als vielmehr mit gänzlich unterschiedlichen Begriffen zu tun. Damit ist bis auf weiteres nicht nur fraglich, wie es kommt, dass im Zuge der Darstellung vermeintlich unterschiedlicher Sachverhalte dennoch derselbe Terminus Verwendung findet. Auch die zentrale Frage, was es denn nun heißt, Integrität zu besitzen bzw. ein Leben in Integrität zu führen, bleibt unbeantwortet. Mit der vorliegenden Untersuchung ist das Vorhaben verknüpft, möglichst viele Bedeutungen des Integritätsbegriffs nicht nur aufzuweisen und hinreichend zu unterscheiden, sondern zudem auch unter dem Dach einer einzigen Integritätskonzeption zusammenzufassen. Das konzeptionelle Argument wird wie folgt lauten: Es lassen sich zunächst vier zentrale Bedeutungsdimensionen des Integritätsbegriffs unterscheiden, die sich aus unterschiedlichen Kontextualisierungen der Integritätsidee ergeben. Dabei können wir einen ethischen, einen moralischen, einen eher psychologischen und einen sozialphilosophischen Begriffsgebrauch unterscheiden. Sogleich jedoch wird zu berücksichtigen sein, dass diese unterschiedlichen Wortverwendungen ersichtlich nicht auf der gleichen begrifflichen Ebene liegen, auch wenn sie aufeinander verweisen: "Selbsttreue" meint die Übereinstimmung von Lebensvollzug und ethisch-existenziellem Selbstbild. "Rechtschaffenheit", d.h. moralische Integrität, wird sich als ein Bestandteil der Selbsttreue erweisen, der dieser Grenzen im Hinblick auf die moralische Zulässigkeit des jeweiligen Lebensvollzugs setzt. Der Aspekt der "Integriertheit" dagegen wird kategorial anders geartet sein. Er benennt die kohärente Einheit in der Vielheit divergierender Lebensvollzüge, und zwar sowohl in der horizontalen Dimension des eigentlichen Lebensvollzugs als auch in der vertikalen Dimension einer nicht selten disparaten Lebensgeschichte. "Ganzheit" schließlich wird als seelischkörperliche Stimmung interpretiert werden, die sich allein dann einstellen kann, wenn Integrität in jeder der drei zuvor genannten Hinsichten vorhanden ist. So soll sich insgesamt herausstellen, dass die genannten vier Bedeutungsdimensionen, trotz ihrer Divergenz, letztlich Aspekte ein und derselben Sache sind. Für die hier dargebotene systematische Begriffsanalyse hat demnach von Beginn an ein methodischer Verdacht als motivationaler Ansporn gedient, der

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in einem der wenigen vorhandenen philosophischen Lexikonartikel zum Integritätsbegriffwie folgt gefasst worden ist: "All ofthe accounts ofintegrity [... ] have a certain intuitive appeal and capture some important feature of our concept of integrity. There is, however, no philosophical consensus on the best account. lt may be that the concept of integrity does not 1end itse1f to a sing1e coherent description. lntegrity may be a duster concept, tying together different, overlapping qualities of character under the one term. On the other hand, it may be that a fully adequate account ofintegrity is simp1y yet to emerge." 10

Verlassen wir für einen kurzen Moment das Gefilde der im engeren Sinne philosophischen Debatte und wenden uns Zusammenhängen der Alltagssprache zu, so wird deutlich, dass der Integritätsbegriff dort nicht nur, wie in der philosophischen Diskussion auch, in unterschiedlichen Bedeutungen kursiert, sondern zudem auf gänzlich ungleiche Entitäten Anwendung findet: So beklagt die Ökologiebewegung eine Zerstörung der "Integrität der Natur", sozialwissenschaftliche Studien warnen vor dem Zerfall der "Integrität der Familie", der gewerbliche Rechtsschutz untersucht die "Integrität von Marken und Waren", Staatsgebiete haben Grenzen und deshalb eine "territoriale Integrität", das Virenschutz-Programm manches Computers vollzieht beim Start einen "integrity-check" und in medizinisch-technologischen Labors wird die "Integrität von Kondomen" getestet. In diesem Buch hingegen soll der Integritätsbegriff allein als ein Attribut gehandhabt werden, das wir Personen zu- oder absprechen. Dabei wird der Personenbegriff zunächst in einem recht unspezifischen Sinn gebraucht werden, d.h. ohne dass damit bereits vorab das Plädoyer zugunsten einer ganz bestimmten philosophischen Theorie der Person verbunden wäre. Vorerst soll lediglich behauptet werden, dass nicht schon alle Angehörigen der menschlichen Spezies umfassend Integrität besitzen, sondern allenfalls jene, die eine Reihe von Merkmalen aufweisen, die in der Philosophie für gewöhnlich mit dem Personsein assoziiert werden. 11 Erst im Verlauf des Buches wird deutlich werden können, um welche Merkmale genau es sich dabei handelt. Im Zuge ihrer Erörterung wird sich ein Ansatz abzeichnen, der in normativer Hinsicht zweistufig angelegt ist: Zum einen kann und wird bestritten werden, dass wirklich alle Mitglieder der Menschengemeinschaft - von der befruchteten Eizelle bis zur Leiche - Integrität besitzen können. Der Rückgriff auf Charakteristika des Personseins lässt vielmehr deutlich werden, dass Menschen, 10 Damian Cox/Marguerite La Caze/Michae1 Levine (2001): "lntegrity", in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy, auf: http://plato.stanford.edu/contents.htm1 (Stand: 31. Januar 2005). II Dazu etwa Dieter Sturma (Hg.) (2001): Person, Paderbom: Mentis.

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die keine Personen sind, auf ganz grundsätzliche Weise nicht zur Integrität prädisponiert sind. Zum anderen kann und wird angezweifelt werden, dass alle Menschen, die zur Integrität fähig sind, darum auch schon in gleichem Maße Integrität besitzen. Um Integrität vorweisen zu können, so die These, bedarf es nicht nur einer Reihe von Voraussetzungen, Eigenschaften und Fähigkeiten. Personen müssen in der Lage sein, diese auch tatsächlich realisieren zu können. Personale Integrität wird demnach als eine Chance zu begreifen sein, die sich nicht allen Menschen bietet, und die zudem, falls vorhanden, erst noch genutzt werden muss. Insofern das normative Begründungsproblem der zeitgenössischen Sozialphilosophie den Kontext dieser Begriffsklärungen abgibt, handelt es sich bei dieser Untersuchung demnach, wie schon ihr Untertitel sagt, um die "Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie". Nun mag aber diese vorab angedeutete Einschränkung der Integritätsproblematik auf den Adressatenkreis von Personen vorschnell zu dem Verdacht verleiten, hier solle einer elitären Theorie das Wort geredet werden, die ganz bestimmte Gruppen von Menschen, etwa Kinder, geistig Behinderte oder Altersdemente, von den Vorzügen der Integrität fernhalten will. Wenn dem so wäre, läge aus sozialphilosophischer Sicht die zweifellos unerwünschte, ja, absurde Konsequenz nahe, dass allein jene Menschen, die bereits Integrität besitzen, entsprechend auch ein Recht auf Schutz ihrer Integrität genießen dürfen. Wie dieser Verdacht bereits auf konzeptioneller Ebene zu vermeiden ist, wird erst im Verlauf des Buches deutlich werden können. Die wichtigste Prämisse, die dabei plausibel werden soll, ist die folgende: Nicht alle Menschen besitzen gleichermaßen Integrität, aber alle Menschen besitzen das gleiche Recht auf Schutz eines Freiraums, in dem allein sich ein integres Leben zu entfalten vermag. Am Ende dieser Abhandlung wird ein eigener sozialphilosophischer Begründungsansatz umrissen werden, der zunächst davon absehen kann, ob Individuen de facto Integrität vorzuweisen haben. Er wird lediglich ein allgemeines Recht auf die sozialen "Ermöglichungsbedingungen" von Integrität einklagen. Im Zuge dieser Begriffsklärung ist die Frage, was es heißen würde, ein Leben in Integrität zu führen, zuvorderst aus der Betroffenenperspektive zu stellen. Obgleich hier nicht behaupten werden wird, dass Personen sich im Alltag faktisch genau so verstehen, wie es im Folgenden in philosophischer Begrifflichkeit entwickelt wird, sollen in dieser Untersuchung doch, gewissermaßen in Stellvertretung, verallgemeinerbare Aussagen über alltägliche Sachverhalte der ethisch-existenziellen Lebensführung versammelt werden. Anhand oftmals recht trivialer Beispiele werden vertraute Phänomene erhellt und deren Strukturähnlichkeiten systematisiert werden. Philosophische Theo-

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riezusammenhänge und alltagspraktische Phänomenbeschreibungen sollen sich wechselseitig erläutem. 12 Eine zentrale Prämisse ist dabei schlicht als unstrittig gesetzt: Personen haben ein Bedürfnis nach Integrität, ganz gleich ob sie damit nun auf Ganzheit, Selbsttreue oder einen der übrigen Bedeutungsaspekte abzielen. Wer am Gelingen des eigenen ethisch-existenziellen Lebensvollzugs interessiert ist, wird Orientierungen aufweisen müssen, die anhand des Integritätsvokabulars begrifflich strukturiert und anschaulich gemacht werden können. An dieser Stelle soll vorab zwei naheliegenden Bedenken begegnet werden: Zum einen dürfte angesichts des konzeptionellen Zuschnitts der Integritätsidee auf Aspekte des Personseins fraglich sein und bis zuletzt auch fraglich bleiben, wie "universalistisch" die hier vorgelegte Integritätskonzeption beschaffen ist. Der transkulturelle und ahistorische Nachweis, dass tatsächlich alle Menschen nach Integrität streben, würde den Rahmen einer systematischen Begriffsanalyse sprengen, da er eine detaillierte kulturhistorische und ethnologische Forschung erforderlich machte. Daher werde ich hier zunächst schlicht unterstellen müssen, auch wenn diese Unterstellung später an Plausibilität gewinnen wird, dass zumindest für Menschen, die sich als Personen verstehen, Integrität ein wichtiges, ja, unverzichtbares Gut darstellt. Ob das Personsein selbst ein universelles Gut ist, mag umstritten sein, kann aber hier nicht weiter erörtert werden. Die folgenden Überlegungen sind daher primär als Selbstverständigung innerhalb des Bezugsrahmens philosophischer Theorien des Personseins zu verstehen. Zum anderen werden sich Unterstellungen dieser Art kaum mit Parolen des postmodernen Zeitgeistes zur Deckung bringen lassen, denen zufolge es weit eher die "Brüche" und "Diskontinuitäten" des Selbst und seiner Geschichte sind, d.h. die mehr schlecht als recht verarbeiteten Nähte der so genannten patchwork-identity, die das Leben lebenswert machen. Postmoderne Menschen, so die Überzeugung, seien gar nicht an Einheit, sondern an Vielheit interessiert, nicht an Ganzheit, sondern an einer Auflösung von Grenzen, nicht an Selbsttreue, sondern an einer permanenten Neuerschaffung des Subjekts.13 Aus dieser Sicht auf die Lebensverhältnisse unseres westlichen Kulturkreises muss es beinahe so scheinen, als sei das Plädoyer für personale In-

12 Dramatische Beispiele- und auch solche werden hier zur Sprache kommenmarkieren jene Bruchstellen im Leben, an denen Integrität scheitert. Banale Beispiele hingegen illustrieren die "normale" Praxis, in denen das Leben in Integrität zumeist gelingt. 13 Dazu nur ein Beispiel direkt aus der Integritätsdebatte: Victoria M. Davion (1991): "lntegrity and Radical Change", in: Claudia Card (Hg.) (1991): Feminist Ethics, Lawrence: Kansas UP.

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tegrität bloß als eine anachronistische, konservative Reaktion auf den vermeintlich allgemeinen Wertezerfall zu interpretieren. 14 Insbesondere gegen Ende dieses Buches wird sich jedoch herausstellen, dass die zeitkritischen Verdachtsmomente, von denen die hier vorgelegte Integritätskonzeption geleitet ist, weder mit dem modischen Trend zum "Leben als Kunstwerk" noch mit dem konservativen Klagelied über einen allgemeinen "Tugendverlust" verträglich sind. Zu Beginn jedoch soll lediglich, ganz allgemein, von einem erhöhten Bedürfnis nach Integrität - und wohl auch nach einer Theorie der Integrität- ausgegangen werden, für das als erstes Indiz die folgende Anekdote herhalten mag: "A couple of years ago I began a university commencement address by telling the audience that I was going to talk about integrity. The crowd broke into applause. Applause! Just because they had heard the ward integrity." 15

Die sechs Kapitel dieses Buches sind konzentrisch angelegt. Konzeptionelle Probleme der Sozialphilosophie bilden die äußere Klammer (Kapitel 1 u. 6). Die mittlere umfasst Fragen des Gebrauchs der Integritätskategorie innerhalb der philosophischen Diskussion (Kapitel 2 u. 5). Die innere Klammer dient der Erläuterung ihres systematischen Gehalts (Kapitel 3 u. 4). Den Kern der Untersuchung bildet eine entwicklungspsychologische Spekulation über die lebensgeschichtlichen Ursprünge der Integrität (Rekurs). Dabei werden sich, der Reihe nach, die folgenden Argumentationsschritte ergeben: Kapitel 1 soll einen Überblick über die derzeitige Lage der Sozialphilosophie verschaffen. Im Mittelpunkt dieser Sondierung des gesellschaftskritischen Terrains wird die metakritische Frage nach den normativen Maßstäben gegenwärtiger Zeitdiagnostik stehen, wobei sogleich ein kleinster gemeinsamer Nenner der Kritik erkennbar werden wird: das intakte Selbst- und Weltverhältnis. An die medizinische Metaphorik heutiger Sozialphilosophie anknüpfend, soll dabei das Unternehmen einer "Pathognostik des Sozialen" erste Konturen gewinnen, das um einen normativ gehaltvollen Begriff personaler Integrität bereichert wird. Das primär begriffsklärende Kapitel 2 sammelt und sortiert dann die vorhandenen philosophischen Beiträge zur Integritätsproblematik. Wie bereits angedeutet, werden genau vier zentrale Bedeutungsdimensionen des Integri-

14 Solche Diagnosen gibt es durchaus. Ein Beispiel aus religiöser Sicht: J. Daniel Hess (1978): Integrity. Let your Yea be Yea, Scottdale: Herald Press. Dort wird der allgemeine Integritätsverlust wie folgt beklagt: "A small box of cereal is relabeled Large. Plastic is grained to Iook like wood. Pringles are made to crunch like potato chips. Rubber pads are shaped into a size D breast" (S. 20). 15 Stephen L. Carter (1997): Integrity, New Y ork: HarperPerennial, S. 5.

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tätsbegriffes unterschieden werden, von denen zunächst unklar sein muss, wie sie miteinander verlmüpft sind: Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit. Erste Verdachtsmomente werden für die Rechtmäßigkeit des im weiteren Verlauf der Untersuchung unternommenen Versuchs sprechen, diese unterschiedlichen Kontextualisierungen der Integritätsidee in eine einzige Konzeption zu integrieren. Anschließend wird sich das begriffssystematische Kapitel 3 zunächst der Frage zuwenden, inwiefern personale Integrität als ein "schwieriges Selbstverhältnis" beschrieben werden muss. Hier soll der verantwortliche Eigenbeitrag geklärt werden, den jede Person zum Erhalt ihrer Integrität beizusteuern hat. Das Ergebnis wird sein, dass jeder Mensch zumindest insofern für seine Integrität selbst verantwortlich ist, als er mindestens drei prototypische Integritätsmängel zu vermeiden hat: "Konfliktscheue", "Selbsttäuschung" und "Willensschwäche". Diese ersten drei Defizite an Integrität werden uns auf eine wichtige existenzielle "Aporie" des integren Lebens aufmerksam machen: Wir streben nach Integrität, obwohl wir wissen, das sie niemals vollständig zu erreichen sein wird. An diesem Punkt angelangt, wird es sich als notwendig erweisen, Spekulationen darüber anzustellen, woher das in diesem Buch unterstellte Bedürfnis, ja, die "Sehnsucht" nach Integrität stammen mag. Diese Erwägungen werden in einen entwicklungspsychologischen Exkurs gekleidet sein, der aufgrund seiner buchstäblichen Rückwärtsgewandtheit Rekurs heißen soll. Dieser Einschub wird die argumentative Stoßrichtung der Untersuchung in mindestens zwei Hinsichten fundamental verändern: Zum einen markiert der Rekurs einen Übergang zwischen den im ersten Teil konzeptionalisierten Formen einer integren Subjektivität zu den im zweiten Teil untersuchten Mustern intakter Intersubjektivität. Zum anderen wird das Buch dabei an einen ontogenetischen Kipppunkt gelangen, der diskursiv kaum mehr einholbar zu sein scheint. Die entwicklungspsychologischen Spekulationen des Rekurses sollen in das argumentativ nur schwer zugängliche Terrain lebensgeschichtlicher Früherfahrungen vorstoßen, um eben dort nach den Ursprüngen des Bedürfnisses nach Integrität zu fahnden. Wenn wir die Sehnsucht nach Integrität nur weit genug zurückverfolgen, so die These, die im Rückgriff auf inzwischen reichhaltiges klinisches Forschungsmaterial entwickelt wird, vermag deutlich zu werden, dass das Streben nach Integrität einem überaus früh erworbenen "Phantasma" gelingender Intimität folgt, dessen Explikation auf philosophischem Wege bislang kaum möglich schien. Auf dem lebensgeschichtlichen Grund der Integritätsidee stoßen wir auf eine Sehnsucht nach Wiederherstellung frühester intimer Allianzen, die es der Analyse im weiteren Verlauf unmöglich machen werden, Integrität weiterhin in den eher konventionellen Bahnen von Begriffen wie "Autonomie" und "Selbstbestimmung" primär als ein Selbstverhältnis zu deuten. Freilich wird der Rekurs aufgrund

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EINLEITUNG

seines tiefenpsychologischen und überaus spekulativen Charakters auf geneigte Leserinnen und Leser hoffen müssen. Damit wird das Feld einer immer schon gebrochenen Intersubjektivität sowohl als Bedingung der Möglichkeit integren Lebens wie auch als Schauplatz gravierender Verletzungserfahrungen ausgewiesen sein. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich werden, dass es sich bei personaler Integrität um eine zentrale Modalität des gelingenden Lebens handelt, die uns zugleich "verfügbar" und "unverfügbar" ist. Parallel zu Kapitel 3 wird Kapitel 4 dann folgerichtig der Frage nachgehen, inwieweit personale Integrität stets auch als ein "schwieriges Verhältnis zu anderen" gedeutet werden muss. Hier nun wird das Ergebnis lauten: Jeder Mensch ist insofern nicht für seine Integrität verantwortlich, als diese immer auch vom Wohlverhalten anderer abhängt. Fragen der Moralphilosophie und einer Theorie sozialer Anerkennungsbeziehungen werden notwendige soziale Ermöglichungsbedingungen der Integrität vor Augen treten lassen. Die Skizze einer Phänomenologie "invasiver Eingriffe" in das integre Leben soll typische soziale Verletzungserfahrungen zusammentragen. Zu Beginn von Kapitel 5 wird die in diesem Buch umrissene Integritätskonzeption zunächst ausführlich zusammengefasst 16 , um anschließend eine Abgrenzung zu ähnlichen normativen Begriffen vornehmen zu können. Die Begriffe "Würde und Ehre", "Freiheit und Autonomie" sowie "Authentizität und Wahrhaftigkeit" werden als nächste Verwandte des Integritätsbegriffes vorgestellt. Auch wenn es geboten bleibt, diese Begriffe auseinander zu halten, da sie jeweils aufunterschiedliche Modi gelingenden Lebens aufmerksam machen, erweist sich ein komplexer Begriff von Integrität den anderen dennoch als überlegen, indem er jeweils viel von deren Bedeutungsgehalt in sich aufzunehmen vermag. Das Schlusskapitel 6 besitzt dann wesentlich programmatischen Ausblickscharakter. Es umfasst erste Überlegungen zu einer am Integritätsbegriff orientierten Sozialpathognostik, die das medizinische Begriffsinstrumentarium der zeitgenössischen Sozialphilosophie ernster nimmt, als es zunächst wünschenswert erscheinen mag. In Andeutung eines disziplinären Brückenschlags zwischen sozialphilosophischer Gegenwartsanalyse und klinischer Psychopathologie werden Krankheitsbilder, von denen es heißt, sie seien für die heutige Zeit typisch - namentlich "Depression", "Narzissmus" und "Borderline" - in das Integritätsvokabular übersetzt, d.h. als fundamentale Integritätsstörungen gedeutet, und somit für die Sozialphilosophie konzeptionell fruchtbar gemacht.

16 Wer sich einen ersten Überblick über die Ergebnisse dieses Buches verschaffen möchte, lese vorab die Einleitung zu Kapitel 5.

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INTEGRITÄT

Das vorliegende Buch ist eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Sommer 2003 am Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Goethe-Universität in Frankfurt/Main eingereicht habe. Der geübte Leser mag auf Danksagungen verzichten können, der Verfasser einer Abhandlung über das Wesen personaler Integrität dagegen nicht. Verschiedentlich wird in dieser Untersuchung davon zu sprechen sein, dass Integrität notwendig auf intakte Sozialbeziehungen angewiesen ist. Folgende Personen und Institutionen sind der Beweis dafür, dass nicht einmal ein Buch über den Integritätsbegriff ohne das Wohlwollen anderer möglich wäre. Zunächst danke ich der Stiftung der Deutschen Wirtschaft für ein dreijähriges Stipendium, ohne das ich meine Dissertation kaum hätte schreiben können. Ein Zuschuss von Fritz Steinberg halfbei der Drucklegung. Axel Honneth hat mir seinerzeit den Freiraum geschenkt, ein ganz eigenes Projekt in Angriff zu nehmen. Christoph Menke hat am Ende für den nötigen Druck gesorgt, dass es zu einem Abschluss kam. Erinnern möchte ich an Dietmar Kamper, von dem ich viel, auch über die Unverfügbarkeit der Integrität, gelernt habe. Ich vermisse ihn - als guten Lehrer und Menschen. Dann ein Dank aus "primordialen" Gründen. Meine Familie gab mir das Vertrauen, einen eigenen Weg einzuschlagen, auf dem sie mich jederzeit bedingungslos unterstützt hat. Unserem Mittwochskolloquium- zunächst Serge Embacher, Mattias Iser, Bernd Ladwig, David Strecker und Klaus Roth - danke ich für wichtige Hinweise und Kritik, vor allem aber für die vielen spannenden Diskussionen in den letzten Jahren. Robin Celikates hat darüber hinaus für den letzten Schliff an der Endfassung gesorgt. Deniz Sertcan, der verlässliche Freund, hat das gesamte Manuskript, und nicht nur dieses, gelesen. Ich danke ihm für viele gute Ratschläge, aber auch dafür, dass er nur wenige fundamentale Einwände hatte. Wir haben uns an einem schönen Sommertag auf die folgende Sprachregelung geeinigt: Ich wünschte, ich könnte die verbliebenen Probleme auf ihn schieben. Ein ganz besonderer Dank geht an Alexandra Deak. Mit unablässiger Neugierde, aber auch mit größter Gelassenheit hat sie den langen Prozess der Fertigstellung dieses Buches begleitet und begutachtet. Vom Tag unserer ersten Begegnung an hat sie mich spüren lassen, worauf es in "intakter Intersubjektivität" ankommt. Horst Hanke war es, der mir, wie kein anderer, gezeigt hat, was es bedeuten würde, ein Leben in Integrität zu fuhren. Ihm verdanke ich viel: Freundschaft und, nicht zuletzt, eine bestimmte Art des Nachhakens, vor allem aber die Einsicht in die Dringlichkeit jenes Strebens, um das es im Folgenden gehen soll.

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1. Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben einer Pathognostik des Sozialen

Auf dem Gebiet der Geistes- und Sozialwissenschaften hat der Vorgang einer auf die Defizite gesellschaftlichen Lebens abzielenden internen Revision im Laufe der Zeit eine zunehmend institutionelle und professionelle Gestalt angenommen. 1 Dabei kann, wer heute an einer Benennung sozialer Krisensymptome interessiert ist, inzwischen auf eine reichhaltige Tradition zurückgreifen. Denkt man an die großen klassischen Gesellschaftstheoretiker von Platon und Aristoteles über Hobbes, Locke, Rousseau, Regel, Marx und Weber bis hin zur so genannten Frankfurter Schule, so haben diese ihre Erkundigungen auf dem Feld des Sozialen nie bloß als nüchterne Bestandsaufnahmen verstanden, sondern immer auch als kritisch-normative Reaktionen auf die Wirren ihrer Zeit. Damit sich jedoch das Unternehmen der Sozialkritik zu einer eigenständigen Disziplin hat entwickeln können, musste im Rahmen der geistes- und sozialwissenschaftliehen Theorieentwicklung zunächst einige Zeit verstreichen. Erst als sich etwa ab dem 18. Jahrhundert, und zwar in Folge des sich mit der Neuzeit ausbreitenden szientistischen Wissenschaftsverständnisses, die "positivistische" oder "empirische Soziologie" zu formieren und gegenüber der klassischen Lehre von der Politik abzustoßen begann, war diesbezüglich ein erster theoriegeschichtlicher Schritt vollzogen. Mit dem seinerzeit wachsenden Anspruch auf Objektivität aller wissenschaftlichen Erkenntnis, Das beweist allein schon die Vielzahl zeitdiagnostisch ausgerichteter Sammelbände: z.B. Hans Ludwig Ollig (Hg.) (1991): Philosophie als Zeitdiagnose, Darmstadt Wissenschaftliche Buchgesellschaft; Rudolf Maresch (Hg.) (1993): Zukunft oder Ende, München: Boer; Axel Honneth (Hg.) (1994a): Pathologien des Sozialen, Frankfurt/Main: Fischer; Christoph Görg (Hg.) (1994): Gesellschaft im Übergang, Darmstadt Wissenschaftliche Buchgesellschaft; Axel Honneth (Hg.) (2002a): Befreiung aus der Mündigkeit, Frankfurt/Main: Campus.

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auch der sozialwissenschaftlichen, und dem daraus resultierenden Bemühen um eine möglichst realistische und vorurteilsfreie Beschreibung gesellschaftlicher Tatbestände, schien der Versuch einer konkreten Bewertung sozialer Zusammenhänge nicht länger vereinbar. Vielmehr wurde das Einbringen von Werturteilen in die soziologische Analyse zunehmend als unzulässige "Parteilichkeit" gebrandmarkt, so dass es allmählich auch zu einer disziplinären Abkapselung der empirisch-deskriptiven Funktionen gesellschaftstheoretischer Betrachtung von ihren spezifisch normativen Aufgaben kommen musste.2 Damit sich jedoch eine akademische Spezialisierung auf das Geschäft der Kritik vollziehen konnte, war noch ein zweiter Schritt vonnöten, und zwar eine Differenzierung innerhalb der normativen Perspektive selbst. Hier musste sich zunächst das Amalgam zweier zentraler Fragestellungen aufzulösen beginnen, von denen die eine theoriegeschichtlich lange Zeit dominant gewesen war. Zu dem - bis heute freilich unabgeschlossenen - Prozess der Herausbildung einer überwiegend mit Sozialkritik befassten Teildisziplin konnte es erst in dem Moment kommen, als sich der den unterschiedlichsten sozialtheoretischen Ansätzen inhärente Argwohn gegenüber den herrschenden Lebensverhältnissen systematisch zu emanzipieren begann von der seit der Antike für die Politische Philosophie konstitutiven Frage, wie statt der vorhandenen eine "wohlgeordnete" oder "gerechte Gesellschaft" auszusehen hätte. 3 Erst als die unter normativen Gesichtspunkten dekonstruktive4 oder gar destruktive Aufgabe einer kritischen Erfassung der Gegenwart eindeutiger als zuvor unterscheidbar wurde von der vornehmlich konstruktiven und in die Zukunft weisenden Frage der Politischen Philosophie nach dem Wesen, der Legitimität und den Institutionen einer besseren Gesellschaft, konnte schließlich jenes sozialwissenschaftliche Vorhaben charakteristische Züge annehmen, für das sich heute das Etikett "Sozialphilosophie" anzubieten und gegen alternative Wortverwendungen durchzusetzen scheint. 5 2

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Dazu Jürgen Habermas (1963): "Die klassische Lehre von der Politik in ihrem Verhältnis zur Sozialphilosophie", in: ders. (1963/1971 ): Theorie und Praxis, Frankfurt/Main: Suhrkamp; vgl. Ernst Topitsch (1961a): "Begriff und Funktion der Ideologie", in: ders. (1961 b ): Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, Berlin: Luchterhand, bes. S. 31 f. Vgl. Wolfgang Kersting (1998): "Politische Philosophie", in: Annemarie Pieper (Hg.) (1998): Philosophische Disziplinen, Leipzig: Reclam. Ich benutze den Terminus "dekonstruktiv" als Gegenbegriff zu "konstruktiv". Eine theoretische Vorentscheidung zugunsten des so genannten Dekonstruktivismus liegt mir jedoch aus Gründen, die noch deutlich werden dürften, fern. Ich beziehe mich hier und im Folgenden auf Axel Honneth (1994b): "Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie", in: ders. (1994a). Die Unterscheidung zwischen den Disziplinen Politische Philosophie und Sozialphilosophie ist allerdings in erster Linie analytisch gemeint. Die

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Soll hier und im Folgenden unter Sozialphilosophie jenes primär zeitdiagnostisch ausgerichtetes Deutungsunternehmen verstanden werden, das sich auf eine kritische Begutachtung sozialer Missstände und die Frage nach den schädlichen Einflüssen aktueller gesellschaftlicher Krisen und Fehlentwicklungen auf die Lebensumstände einzelner Gesellschaftsmitglieder spezialisiert hat, so ist der Begriffheute freilich auch in davon abweichenden Varianten in Gebrauch. 6 Mal wird die Sozialphilosophie den empirischen Sozialwissenschaften in Gestalt einer gesellschaftlichen Normenlehre bzw. eines Werte beschaffenden Juniorpartners zur Seite gestellt_? Ein anderes Mal soll sie als grundbegrifflicher Taktgeber für sämtliche sozial orientierten Einzelwissenschaften - Soziologie, Politische Philosophie, Politische Wissenschaft oder auch Rechtstheorie- fungieren. 8 An wieder anderer Stelle, und das gilt insbesondere für die angelsächsische Literatur, wird der Begriff bis zur Unkenntlichkeit demjenigen angeglichen, den wir uns gewöhnlich von der Politischen Philosophie als einer Lehre von der gerechten Gesellschaft machen. 9 Daher ist es notwendig, die Konturen einer im Gegensatz dazu ausdrücklich zeitdiagnostisch und zeitkritisch verfahrenden Sozialphilosophie hier erst noch ein wenig deutlicher hervortreten zu lassen. Das vorliegende erste Kapitel dieses Buches soll eben jenes Terrain der Geistes- und Sozialwissenschaften zu sondieren versuchen, auf dem das hier umrissene Geschäft der Zeit- und Kulturkritik eine gewisse Professionalisierung erfahren hat. Im ersten Schritt wird an eine inzwischen als klassisch geltende Begriffsbestimmung der Sozialphilosophie erinnert, die uns deren spezifisches Aufgabenprofil noch einmal genauer vor Augen führt (1.1 ). Greift die Sozialphilosophie in ihren kritischen Analysen immer dann, wenn sie von sozialen "Krisen" oder gar "Krankheiten" sowie von "Diagnosen" spricht, auf eine eindeutig medizinische Metaphorik zurück, legt sie damit die

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Werke der betreffenden Autorinnen und Autoren beinhalten zumeist sowohl zeitkritische als auch konstruktive Theorieelemente. Siehe dazu neben Honneth (1994b) auch Heinz Maus (1958): "Sozialphilosophie", in: Alwin Diemer/Ivo Frenzel (Hg.) (1958/1977): Fischer-Lexikon: Philosophie, Frankfurt/Main: Fischer. So verstehe ich z.B. Ernst Topitsch (1961 b). Dazu etwa Kurt Röttgers (2002), Kategorien der Sozialphilosophie, Magdeburg: Scriptum. Vgl. zudem den Artikel "Sozialphilosophie", in: Jürgen Mittelstraß (Hg.) (1980), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart: Metzler. Auch Mischformen finden sich: Alessandro Ferrara (2002): "The Idea of a Social Philosophy", in: Constellations, 3/2002. Siehe dazu exemplarisch David Archard (1996): "Political and Social Philosophy", in: Nicholas Bunnin/E. P. Tsui-James (Hg.) (1996): The Blackwell Campanion to Philosophy, Oxford: Blackwell. Auch die umgekehrte Strategie ist möglich: James Tully (2003): "Politische Philosophie als kritisches Handeln", in: Deutsche Zeitschriftfür Philosophie, 1/2003.

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Möglichkeit einer Analogiebildung zwischen der Gesellschaft und dem menschlichen Körper nahe, so als könnten beide gleichermaßen als krankheitsanfällige Symptomträger betrachtet und untersucht werden. Das wird ihr in diesem Buch den Beinamen einer "Pathognostik des Sozialen" einbringen, wobei jedoch zunächst die Zulässigkeit einer solchen Übertragung klinischen Vokabulars auf sozialkritische Zusammenhänge zu prüfen ist (1.2). Dabei wird deutlich werden, dass die Sozialphilosophie derzeit in der misslichen Lage ist, die metakritische Frage nicht länger unberücksichtigt lassen zu können, woher genau die normativen Maßstäbe ihrer Invektiven stammen. Damit ist das "Begründungsproblem" der gegenwärtigen Sozialphilosophie umrissen. Ich werde die derzeit prominentesten Versuche, auf eben dieses Problem zu reagieren, anhand einer Unterscheidung zwischen "kulturalistischen" (1.3) und "ethisch-moralischen" Kritikansätzen (1.4) zu sortieren versuchen. Im letzten Abschnitt wird dann erstmals deutlich werden, inwiefern das uns im gesamten Rest des Buches beschäftigende Problem der Integrität mit dem sozialphilosophischen Begründungsproblem verlmüpft ist (1.5).

1.1 Zur Idee einer kritischen Sozialphilosophie Als Max Horkheimer im Jahre 1931 seine berühmte Antrittsvorlesung als Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung hielt, in deren Rahmen er sich eine Bestandsaufnahme der "gegenwärtigen Lage der Sozialphilosophie" vorgenommen hatte, diente ihm die schon damals auffällige Unbestimmtheit dessen, was konkret unter Sozialphilosophie zu verstehen sei, als thematischer Ausgangspunkt. 10 Zwar vermochte Horkheimer trotz der unterschiedlichsten sozialphilosophischen Bestrebungen seiner Zeit das gemeinsame Ziel einer "philosophische[n] Deutung des Schicksals der Menschen, insofern sie nicht bloß Individuen, sondern Glieder einer Gemeinschaft sind" auszumachen, doch war bis dato jeder gerrauere Bestimmungsversuch begrifflich unverbindlich geblieben. Die eigene Auffassung von Sozialphilosophie, die Max Horkheimer dann an genannter Stelle programmatisch zu skizzieren versucht hat und die später- wenn auch in wiederholt leicht modifizierter Form 11 -als einer der tragenden Theoriestränge des Forschungsprogramms der "Kritischen

I 0 Max Horkheimer (1931 ): "Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung", in: ders. (1981): Sozialphilosophische Studien, Frankfurt/Main: Fischer. 11 Siehe dazu die nicht weniger berühmten Schriften: Max Horkheimer (1937): "Traditionelle und kritische Theorie", in: ders. (1992): Traditionelle und kritische Theorie, Frankfurt/Main: Fischer; ders. (1967): Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt/Main: Fischer, bes. Abschnitt 5.

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ZUR IDEE EINER KRITISCHEN SOZIALPHILOSOPHIE

Theorie" oder auch "Frankfurter Schule" in die Theoriegeschichte eingehen sollte, zeichnet sich vor allem durch drei wesentliche Charakteristika aus: Das erste richtungsweisende Merkmal der Sozialphilosophie liegt bereits auf der Hand und hätte von Horkheimer dann auch bloß aufgegriffen werden müssen, wenn es nicht dessen programmatische Schriften selbst gewesen wären, die den damit verbundenen Anspruch erstmals prägnant herausgearbeitet und dadurch theoriegeschichtlich festgeschrieben haben: Gemeint sind die nicht bloß deskriptiven, sondern in erster Linie eben kritischen oder dekonstruktiven Ambitionen der Sozialphilosophie. Wenn Horkheimer hinsichtlich der hier bereits zitierten Gemeinsamkeit sozialphilosophischer Bemühungen von einem "Schicksal" des gesellschaftlichen Menschen spricht und dieses für besonders interpretationsbedürftig hält, dann schwingt in dieser etwas pathetisch klingenden Formulierung bereits der Befund mit, dass es um die konkret vorgefundene Lage des Menschen gerade nicht zum Besten stehe. Vielmehr ist für die Sozialphilosophie, so Horkheimer, der Wille um Einsicht in drohendes oder bereits eingetretenes Unheil konstitutiv und mit ihm das erkenntnisleitende Interesse "an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts".12 Mit Blick auf alternative Definitionen von Sozialphilosophie ist festzuhalten, dass diese damit nicht schon auf die Funktion eines bloßen Wertebeschaffers zu reduzieren ist, nur weil sie der normativen Richtschnur "Aufhebung gesellschaftlichen Unrechts" folgt. Zwar habe die Sozialphilosophie, so Horkheimer, das sozialwissenschaftliche Unternehmen einer umfassenden Gegenwartsdiagnose mit normativem Elan zu versorgen, doch lasse sich dieser Auftrag gar nicht isoliert von ihren spezifisch diagnostischen, d.h. beschreibenden und realitätserfassenden Funktionen, erledigen. 13 Freilich bleibt dabei die Frage offen, in welchem genaueren Verhältnis die Sozialphilosophie zu den übrigen Sozialwissenschaften steht, womit wir bei ihrem zweiten Charakteristikum angelangt wären. Als das wohl größte Defizit der Sozialphilosophie seiner Zeit bemängelte Max Horkheimer die Empiriefeindlichkeit seiner philosophischen Kollegen. Da die Sozialphilosophie es offenbar nicht für nötig hielt, ihre idealistischen Glaubensakte am "harten" Material der einzelwissenschaftlichen Forschung zu überprüfen, musste sie, so Horkheimer, zu einer realitätsfremden Einschätzung der vorhandenen Lage, zur bloßen Weltanschauung verkommen. Die konzeptionelle Alternative, die Horkheimer dann an genannter Stelle selbst zu umreißen versucht hat, sollte allerdings weit über eine bloße Rückendeckung 12 Horkheimer (1937), S. 259. Zu diesem Verständnis von Kritischer Theorie siehe auch Jürgen Habermas (1973): Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/Main: Suhrkamp, bes. Abschnitt 111. 13 Horkheimer (1937); ders. (1967).

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der Sozialphilosophie durch die empirischen Einzelwissenschaften hinausgehen. Sozialphilosophie, so Horkheimer, wäre vielmehr erst dann ein ernst zu nehmendes Unterfangen, wenn sie zu den empirischen Nachbardisziplinen in ein prinzipiell revisionsoffenes Wechselverhältnis träte, d.h. in ein Bündnis gegenseitiger Korrektur oder, wie Horkheimer selbst es ausdrückte, der "fortwährenden dialektischen Durchdringung von philosophischer Theorie und einzelwissenschaftlicher Praxis". 14 Demzufolge würde eine Sozialphilosophie der von Horkheimer vorgeschlagenen Art, und eben das ist ihr zweites Wesensmerkmal, nicht bloß Anschluss an die empirischen Einzelwissenschaften suchen, sie hoffte vielmehr ausdrücklich auf deren korrektive Kraft. Orientiert an einem fächerübergreifenden Forschungsverbund, der im Fall der Frankfurter Schule alsbald den Namen "interdisziplinärer Materialismus" 15 erhielt, hätte sie ihren Beitrag zu einer umfassend fundierten Gegenwartsdiagnose zu leisten und dabei gegenüber den Erkenntnissen und Revisionsvorschlägen benachbarter Disziplinen aufgeschlossen zu bleiben. Dabei hätte die Sozialphilosophie, so Horkheimer, zunächst die eher grundsätzlichen Fragen nach der Struktur und der Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens aufzuwerfen und diesbezüglich zu ersten, vorläufigen Diagnosen zu kommen, bevor diese dann allerdings im Rahmen z.B. von ökonomischen, kulturtheoretischen oder auch sozialpsychologischen Untersuchungen zu konkretisieren und zu überprüfen wären. Zwar besitzt die Sozialphilosophie damit eine für alle übrigen gesellschaftstheoretisch orientierten Disziplinen taktgebende Funktion, indem sie "eine aufs Allgemeine, »Wesentliche« gerichtete Intention" verfolgt und einzelnen Forschungsvorhaben damit "beseelende Impulse" zu geben versucht, doch erschließt sich ihr eigentümlicher Sinn eben erst in einem disziplinären Nebeneinander von sozialphilosophischer Grundlagenforschung und einzelwissenschaftlicher Forschungspraxis. 16 Damit kommen wir zum dritten Kennzeichen kritischer Sozialphilosophie. Im soeben skizzierten Nachbarschaftsverhältnis zwischen der Sozialphilosophie auf der einen und den übrigen sozialwissenschaftliehen Disziplinen auf der anderen Seite kommt der zuerst genannten zwar eine klare Aufgabe zu die Rolle eines grundbegriffliehen Wegbereiters und Wegbegleiters -, doch hat sie es deshalb nicht schon mit einem ebenso fest umrissenen Objektbereich zu tun. Folgen wir Horkheimer, so ist es ein charakteristisches Merlemal von Sozialphilosophie, dass ihr diagnostischer Blick keinen thematischen 14 Horkheimer (1931 ), S. 38ff. 15 Dazu Wolfgang Bonß/Norbert Schindler (1982): "Kritische Theorie als interdisziplinärer Materialismus", in: Wolfgang Bonß/Axel Honneth (Hg.) (1982): Sozialforschung als Kritik, Frankfurt/Main: Suhrkamp. 16 Horkheimer (1931 ), S. 40f.

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ZUR IDEE EINER KRITISCHEN SOZIALPHILOSOPHIE

Einschränkungen unterliegt, wodurch sie sich von ihren Nachbardisziplinen, etwa der Ökonomie, der Kulturtheorie oder auch der Sozialpsychologie, merklich unterscheidet. Es muss ihr vielmehr ein ureigenes Anliegen sein, angesichts der Vielzahl gesellschaftstheoretischer Problemstellungen den Überblick zu bewahren. Demnach findet sich der Themenbereich der Sozialphilosophie insofern entschränkt, als sie zu der von ihr kritisierten Gemeinschaft in einer Art Totalitätsbezug zu stehen hat: Ihr kritischer Blick soll das gesellschaftliche Leben in möglichst ganzer Bandbreite streifen, ganz gleich, ob dabei nun ökonomische, kulturelle, sozialpsychologische oder auch andere gesellschaftstheoretisch relevante Phänomene ins Sichtfeld geraten. 17 Hält man nun in Anknüpfung an Horkheimer an genau diesen drei Charakteristika der Sozialphilosophie fest, so handelt es sich dabei, kurz gefasst, um ein zeitdiagnostisch und zeitkritisch verfahrendes Deutungsuntemehmen, das auf produktive Auseinandersetzungen mit ihren Nachbardisziplinen angewiesenes ist und mit Blick auf das gesellschaftliche Leben in seiner Gesamtstruktur bei Konzentration auf eher grundsätzliche Problemstellungen nach den schädlichen Einflüssen gesellschaftlicher Missstände und Fehlentwicklungen fragt. Die Sozialphilosophie vollzieht somit in Stellvertretung, d.h. ausgehend von den vorherrschenden gesellschaftlichen Stimmungslagen, Prozesse einer autokollektiven Selbstdiagnose und Selbstkritik. Allerdings sind dabei sogleich mindestens zwei konzeptionelle Grenzziehungen zu beachten: Erstens folgt aus dem erhofften disziplinären Wechselverhältnis nicht schon, dass Sozialphilosophie empirische Forschung ist. Sie hat mit dieser zwar in einen produktiven Dialog zu treten, doch wird sich ein solches Komplementärverhältnis allein dann als fruchtbar erweisen, wenn die Disziplinen nicht von vomherein ineinander aufgehen sollen. Zweitens darf das Projekt der Sozialphilosophie im engeren Sinne nicht mit dem weit umfassenderen Programm einer "Kritischen Theorie der Gesellschaft" verwechselt werden. 1R Ohnehin ist angesichts der heute sowohl thematisch wie auch institutionell weit verzweigten Debatten fraglich, ob der Wunsch, komplementäre sozialwissenschaftliche Forschungsvorhaben noch einmal unter nur einem "Dach" zu versammeln, aus wissenschaftsorganisatorischen Gründen realistisch ist. Im Hinblick auf den Anspruch des vorliegenden Buches ergeben sich daraus zwei wichtige Konsequenzen: Erstens sind die hier vorgetragenen Über17 Horkheimer (1931), S. 43. Mit "Totalitätsbezug" ist hier ausdrücklich nicht die von vielen Kritikern ebenfalls mit der frühen Kritischen Theorie assoziierte Bemühung gemeint, das gesamte gesellschaftliche Leben aus nur einem singulären Prinzip, etwa dem der "Naturbeherrschung", ableiten zu wollen. 18 Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang, dass Horkheimer neben der Sozialphilosophie und den empirischen Einzelwissenschaften mit einer Theorie der historischen Entwicklung noch einen dritten Strang der Kritischen Theorie für unentbehrlich hielt.

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legungen insofern in einem vorempirischen Sinne zu verstehen, als mit ihnen nicht schon der Anspruch verknüpft ist, sie im gleichen Zuge am Forschungsmaterial der Nachbardisziplinen ausweisen zu können. Zweitens wird hier ausdrücklich nicht das weitaus ambitioniertere Ziel verfolgt werden, den umfassenden Anspruch Kritischer Theorie zu restituieren.

1.2 Das klinische Instrumentarium einer Pathognostik des Sozialen Bringt die Sozialphilosophie Begriffe wie "Krise", "Diagnose", ,,Symptom", "Missstand", "Fehlentwicklung" oder "Störung" ins Spiel, so ist der Gebrauch eines Vokabulars angezeigt, das ersichtlich dem Bereich der Medizin entstammt.19 Offenbar soll die Gesellschaft hier in einem mehr oder weniger metaphorischen Sinn als ein lebendiger Organismus vorgestellt und dabei auf solche Funktionsstörungen hin "abgeklopft" werden, die als Abweichung von einem wie auch immer gearteten Soll- oder Gesundheitszustand beschrieben werden müssen. In dieser Perspektive geraten die diagnostizierten Missstände und Fehlentwicklungen dann folgerichtig als gesellschaftliche "Anomalien", "Deformationen" oder gar "Krankheiten" in den Blick. Besonders augenfällig wird der Import klinischer Termini in die Praxis zeitdiagnostischer Gesellschaftskritik heute vor allem dort, wo von "Pathologien des Sozialen" die Rede ist. 20 Allerdings liegt damit sogleich die Frage auf der Hand, inwiefern überhaupt in einem von individuellen Krankheitszuständen abstrahierenden Sinn auch von so etwas wie "gesellschaftlichen Leiden" oder "Krankheiten" die Rede sein kann. In medizinischen Zusammenhängen hat der Terminus Pathologie, und zwar ausgehend vom ursprünglichen Wortsinn einer "Lehre vom Leiden", zunächst die Bedeutung einer "Wissenschaft von den Krankheiten" angenommen. Erst später findet der Begriff dann in der Pluralform "Pathologien" seine Verwendung als klinische Bezeichnung für die als krank bezeichneten Anomalien und Funktionsstörungen selbst. Um die Wende zum 20. Jahrhundert herum wandert dieser klinische Sprachgebrauch dann in die Soziologie ein. Paul von Lilienfeld und auch Franz Müller-Lyer stellten erstmals ausdrücklich eine "allgemeine Pathologie" und "größere Medizin" in Aussicht, 19 Dazu Lohmann (1993), S. 272ff.; Honneth (1994b), 49ff. 20 Ich beziehe mich vor allem auf folgende Autoren: Hans Peter Dreitzel (1972): Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft, München: dtv; Jürgen Habermas (1981a): Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, Frankfurt/Main: Suhrkamp; Klaus Eder ( 1985): Geschichte als Lernprozeß?, Frankfurt/Main: Suhrkamp; Axel Honneth (1994b).

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DAS KLINISCHE INSTRUMENTARIUM EINER PATHOGNOSTIK DES SOZIALEN

im Rahmen derer sie "Leiden und Übel, denen die menschliche Gesellschaft und das Individuum unterworfen sind", einer sozialwissenschaftliehen Betrachtung oder gar Behandlung zugänglich machen wollten. 21 Zwar war die dadurch nahegelegte Analogie zwischen dem menschlichen Körper, der anfällig für Krankheiten und Funktionsstörungen ist, und einem großformatigen Gesellschaftskörper, der damit gleichermaßen als labil und versehrbar zu gelten hätte, keineswegs neuartig. 22 Dennoch muss der Wissenschaftsoptimismus, der in diesem Anspruch einer quasi-medizinischen Sozialdiagnostik zum Ausdruck kam, zu Zeiten von Lilienfelds und Müller-Lyers, in denen sich die eben erst aufkommende "moderne" Soziologie ohnehin implizit als therapeutische Krisenwissenschaft zu verstehen begann 23 , geradezu ansteckend gewirkt haben. Auch noch Karl Mannheim schien von der unmittelbaren Plausibilität klinischer Analogien überzeugt zu sein und davon einen eher unproblematischen Gebrauch machen zu können, als er in seiner 1951 erschienenen Diagnose unserer Zeit den folgenden Vorschlag unterbreitete: "Nehmen wir die Haltung eines Arztes an, der versucht, eine wissenschaftliche Diagnose der Krankheit zu geben, an der wir alle leiden. Daß die menschliche Gesellschaft krank ist, steht außer Zweifel." 24 Doch bereits zwei Jahrzehnte zuvor hatte ein bedeutender Kulturkritiker gänzlich anderer Prägung ernst zu nehmende Bedenken gegen einen derart vorschnellen Abgleich von individuellen und kollektiven Krankheitsbildern angemeldet. Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse, sah in seinem berühmtem Essay über "Das Unbehagen in der Kultur" zwar ausdrücklich die Möglichkeit einer "Pathologie der kulturellen Gemeinschaften" am kulturkritischen Horizont heraufziehen, doch nahm er dort zugleich auch die bis heute gewichtigsten Einwände gegen den sozialwissenschaftliehen Gebrauch klinischer Termini vorweg. 25 Ein erster methodologischer Vorbehalt Freuds betraf 21 Paul von Lilienfeld (1896): La pathologie sociale, Paris: Giard; Franz MüllerLyer (1914): Soziologie der Leiden, München: Langen. Die Zitate finden sich beim Letzteren, S. 2. 22 Man findet einen solchen quasi-medizinischen Blick des Zeitdiagnostikers bereits bei Thukydides oder auch in Platons Politeia. 23 Vgl. Dreitzel (1972), S. 2; Honneth (1994b), S. 28ff. 24 Kar! Mannheim (1951), Diagnose unserer Zeit, Zürich u.a.: Europa. Wenig später glaubt auch der Historiker Reinhart Koselleck, ein solches Vorgehen bedürfe "keiner weiteren Erklärung". Siehe ders. (1959/1973): Kritik und Krise , Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. XI. 25 Sigmund Freud (1930/2000): "Das Unbehagen in der Kultur", Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt/Main: Fischer. Im Anschluss an Freud: Erich Fromm (1960/1981): Wege aus einer kranken Gesellschaft, Frankfurt/Main u. Berlin: Ullstein.

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dabei die eben bereits aufgeworfene Frage, ob denn von Gesellschaften überhaupt im Sinne eines Subjekts in Großformat die Rede sein kann. Obgleich kulturelle Gemeinschaften aus einzelnen Mitgliedern zusammengesetzt sind, die jeweils mit einem Körper und einem psychischen Apparat ausgestattet sind, lassen diese sich doch nicht zu einem großen Ganzen, einem eigenen lebendigen Organismus aggregieren. Allein deshalb, so Freud, muss sich der Versuch, medizinische Begriffe "aus der Sphäre zu reißen, in der sie entstanden und entwickelt worden sind", als problematisch erweisen. 26 Aber selbst dann, wenn eine solche Übertragung grundsätzlich legitim wäre, ergäbe sich daraus doch sogleich ein zweites und besonders gravierendes Problem: Die Rede von sozialen Krankheiten oder gar Pathologien setzt, wie im individuellen Krankheitsfall auch, als Meßlatte eine genauere Vorstellung von einem Zustand der "Gesundheit" oder auch "Normalität" voraus, und zunächst ist überhaupt nicht klar, woher der Sozialdiagnostiker einen solchen Maßstab nehmen soll. Da es bekanntlich bereits auf individueller Ebene äußerst schwer fällt, eine genauere Bestimmung der Begriffe Krankheit und Gesundheit vorzunehmen 27 , dürfte sich dieses konzeptionelle Problem auf der Stufe von Sozialdiagnosen nur noch verschärfen. Wenn einmal zugestanden wird, dass eine Gesellschaft gar nicht buchstäblich, sondern allenfalls in einem übertragenen Sinne mit einem lebendigen Organismus verglichen werden kann, inwieweit kann dann also überhaupt noch von Sozialpathologien die Rede sein? Ein dritter Einwand Freuds schließlich bezieht sich auf die eigentümliche Rolle des Kulturkritikers. Man nehme einmal an, soziale Pathologiediagnosen seien tatsächlich methodisch sinnvoll möglich: Würde sich der Sozialarzt im Anschluss an seine Diagnose dann nicht sofort mit dem Problem konfrontiert sehen, seinen Patienten auch behandeln zu müssen, d.h. ihm ein Rezept auszustellen oder eine Therapie vorzuschlagen? Wie aber hätte man sich dies mit Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge vorzustellen? Und zudem: Wer überhaupt hört auf den Sozialkritiker? So fragt Freud: "[W]as hülfe die zutreffendste Analyse der sozialen Neurose, da niemand die Autorität besitzt, der Masse die Therapie aufzudrängen?"28 Im Anschluss an diese drei konzeptionellen Vorbehalte Freuds, lässt sich der zunächst eben bloß metaphorische Charakter einer sozialphilosophischen Adaption klinischer Termini erhellen. Wenn auch im Folgenden ausdrücklich an diesen quasi-medizinischen Sprachgebrauch angelmüpft werden soll, so darf dabei an keiner Stelle außer Acht gelassen werden, dass von Pathologien 26 Freud (1930/2000), S. 269. 27 Dazu etwa Thomas Schramme (2000): Patienten und Personen. Zum Begriff der psychischen Krankheit, Frankfurt/Main: Fischer. 28 Freud (1930/2000), S. 269. Vgl. Lohmann (1993), S. 273.

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des Sozialen in mindestens dreifacher Hinsicht bloß sinnbildlich die Rede sein kann: Erstens ist das biologistische Missverständnis zu vermeiden, dass sich eine Gesellschaft genau wie ein menschlicher Organismus untersuchen lässt. Gesellschaften "leiden" offensichtlich nicht auf dieselbe Weise wie menschliche Individuen. Da sie weder einen Körper noch eine Psyche im strikten Sinne besitzen, muss die Sozialkritik bis auf weiteres davon ausgehen, dass sich individuelle und kollektive Krankheits- und Gesundheitszustände wesenhaft voneinander unterscheiden. 29 Folgerichtig kann zweitens der für Sozialkritik notwendige Maßstab eines gesellschaftlichen Sollzustandes nicht einfach aus der schon in individuellen Zusammenhängen problematischen Verwendung der Begriffe Krankheit und Gesundheit abgeleitet werden. Zu vermeiden ist hier also das anamnesische Missverständnis, dass die an empirischem Forschungsmaterial ausgewiesenen Krankheits- und Gesundheitskonzepte klinischer Mediziner und Psychologen von gleicher Beschaffenheit seien wie die kritischen Beobachtungen der Sozialphilosophen. Ganz gleich, ob man unter gesellschaftlicher Gesundheit ein Stadium der bloßen "Abwesenheit von Krankheit" verstehen will, ob man den Begriff der "Normalität" vor Augen hat, einen Zustand bloßer "Funktionstüchtigkeit" oder gar eine Art kollektives "Wohlergehen": Sozialdiagnostische Maßstäbe dieser Art sind auf ganz eigene Weise erklärungsbedürftig. 30 Drittens schließlich ist zu bedenken, dass mit einer quasi-medizinischen Sozialdiagnostik nicht schon von vomherein der Anspruch verbunden sein kann, der Erhebung sozialphilosophischer Krankengeschichten stets auch konkrete Therapiemaßnahmen folgen zu lassen. Weder ist die Gesellschaft ein Patient in Großformat, noch ist der Diagnostiker für deren Wohlergehen verantwortlich. Zu vermeiden ist demnach das therapeutische Missverständnis, die Sozialphilosophie habe auch in Behandlungsfragen "Sprechstunde". Zwar haben Sozialkritikerinnen und -kritiker die Möglichkeit, die von ihnen erstellten Diagnosen in öffentliche Diskurse einzubringen, doch darf der damit betretene gesellschaftspolitische Raum nicht schon mit dem Behandlungszimmer einer ärztlichen oder therapeutischen Praxis verwechselt werden. Nicht zuletzt aus Gründen der Logik demokratischer Entscheidungsprozesse ist dem Sozialdiagnostiker das - im engeren Sinne - therapeutische Instrumentarium entzogen. Inwieweit an sozialphilosophische Untersuchungen die Vergabe von Patentrezepten oder gar eine Art Therapie anschließen kann oder

29 Dreitzel (1972), S. 2; Eder (1985), S. 32ff.; Lohmann (1993), S. 272. Freud selbst deutet a.a.O. darauf hin, dass nicht zuletzt der aussagekräftige Kontrast entfallen muss, durch den sich für gewöhnlich der einzelne Kranke von seiner als gesund oder normal eingestuften Umgebung abhebt. 30 Vgl. Dreitzel (1972), S. 9; Lohmann (1993), 272f.; Honneth (1994b), S. 50.

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auch nur soll, ist Gegenstand von Diskussionen, auf die der Kritiker als Einzelner nur noch wenig Einfluss hat. 31 Mit diesen drei Bedenken dürften die derzeit wichtigsten methodologischen Beschwerden der zeitgenössischen Sozialphilosophie auf dem metakritischen Behandlungstisch liegen. Sie betreffen erstens die Frage nach der Konstitution ihres Untersuchungsgegenstandes, der sich offenbar bloß sinnbildlich mit dem menschlichen Organismus vergleichen lässt, zweitens die Suche nach den geeigneten Maßstäben von Sozialkritik, die eine ganz eigene, eben kollektive Art von Gesundheit auszuzeichnen hätten, und drittens die Forderung, dass sich die Sozialphilosophie auf ihre spezifisch diagnostischen Aufgaben konzentrieren solle. Man mag nun einwenden, es sei daher aus Gründen terminologischer Vorsicht angeraten, auf den sozialphilosophischen Gebrauch klinischen Vokabulars ganz zu verzichten. Ein solcher Schluss wäre jedoch verfehlt. Zwar sollte die Sozialphilosophie gewillt sein, die hier reformulierten Einwände ernst zu nehmen, doch müssen sich Gesellschaften als Ganze deshalb nicht schon von vornhereinjeder quasi-medizinischen Untersuchung entziehen. Wo aber genau hätte die Sozialphilosophie hier anzusetzen? Dieser methodische Anknüpfungspunkt vermag kenntlich zu werden, wenn sich zwei alternative und durchaus geläufige Untersuchungsvorhaben als defizitär erweisen, die heute ebenfalls auf einen sozialen Pathologiebegriff rekurrieren: auf der einen Seite eine individualistisch zugespitzte Sozialdiagnostik, auf der anderen eine rein funktionalistisch ausgerichtete Gesellschaftskritik. Folgt man zunächst dem oben zuerst genannten Einwand, eine Gesellschaft lasse sich keineswegs im buchstäblichen Sinne nach Art eines menschlichen Körpers untersuchen, so mag man zu dem Versuch verleitet werden, einen strikt mikroskopischen Blickwinkel einzunehmen und zunächst ausschließlich nach Symptomen individueller Krankheiten Ausschau zu halten. Wenn sich dann herausstellt, dass sich tatsächlich bei auffallend vielen Gesellschaftsmitgliedern ähnlich gravierende Krankheiten, Persönlichkeitsstörungen und Leiden feststellen lassen, so ließe sich anschließend ohne Umschweife auf eine grassierende Epidemie schließen? 2 Dies jedoch wäre ein Kurzschluss. Bedenkt man den Umstand, dass als mögliche Krankheitsfaktoren zweifellos nicht allein soziale Lebensumstände in Frage kommen, man

31 Dass kritische Intellektuelle gar nicht erst den Wunsch haben sollten, sich zu politisch aktiven "Philosophenkönigen" aufzuschwingen, versteht sich heute beinahe von selbst. 32 So z.B. bei Michael Theunissen (1981): Selbstverwirklichung und Allgemeinheit, Berlin u. New York: de Gruyter; Alasdair Macintyre (1995): Verlust der Tugend, Frankfurt/Main: Suhrkamp; m.E. auch Axel Honneth (2000a): Leiden an Unbestimmtheit, Stuttgart: Reclam.

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denke hier nur an etwaige genetische Dispositionen der Individuen, so kann die sozialphilosophische Diagnostik erst dann ihre Beobachtungen individueller Störungen auf den Verdacht einer allgemeinen Krankheit bringen, wenn sie zuvor den Beitrag der Gesellschaft oder auch der Kultur für das Auftreten dieser als leidvoll erfahrenen Störungen herausgearbeitet hat. Wenn man es genau nimmt, beinhaltet die übereilte Folgerung, eine Gesellschaft sei krank, weil einige ihrer Mitglieder es seinen, überhaupt keine spezifisch sozialphilosophische Urteilsbildung. Allein aus konzeptionellen Gründen wäre die Möglichkeit ausgeblendet, dass sich Individuen und ihr soziales bzw. kulturelles Umfeld in einem mal produktiven, mal destruktiven Wechselverhältnis befinden.33 Ein rein mikroskopischer Blick muss sich daher für die Sozialphilosophie als kurzsichtig erweisen. Man könnte nun stattdessen dem oben an zweiter Stelle genannten Einwand bezüglich einer fehlenden Kommensurabilität individueller und kollektiver Gesundheitsbegriffe folgen und gänzlich von individuellen Krankheitszuständen zu abstrahieren versuchen. In einer konsequent makroskopischen Perspektive wären allein solche gesellschaftlichen Fehlentwicklungen als Pathologien zu bezeichnen, die als Störungen einer inneren Systemlogik beschrieben werden müssen. 34 Gemeint sind etwa solche Krisen, in denen es in gesellschaftlichen Teilbereichen, man nehme den kapitalistischen Markt oder auch den bürokratischen Verwaltungsapparat, zu einem Versagen der dort angesiedelten Institutionen und zu einer Einbuße ihrer sonstigen Funktionstüchtigkeit kommt. Auf den ersten Blick hätte eine solche funktionalistische Diagnosetechnik den Vorteil, dass der Diagnostiker unter Berufung auf die innere Funktionslogik der jeweils inspizierten Subsysteme scheinbar gänzlich von individuellen Befindlichkeiten und Gesundheitszuständen absehen und damit ohne Umschweife auf die Begriffsebene sozialer Krankheiten wechseln dürfte. Allerdings wird angesichts einer derart technisch ansetzenden Zeitdiagnose fraglich, warum Systemkrisen dieser Art überhaupt als Pathologien und nicht bloß als Störungen von eher mechanischen Abläufen beschrieben werden. Bedenkt man, dass auch Teilbereiche der Gesellschaft keine Organismen darstellen und die Ebene des Individuellen kategorial ausgeblendet ist, bleibt niemand übrig, dem man so etwas wie ein "Leiden" zubilligen könnte. Daher würde der klinische Sprachgebrauch der Sozialkritik seinen Sinn gänzlich verfehlen, wenn er von individuellen Krankheitszuständen abstrahieren zu können glaubte. Warum sollte eine gesellschaftliche Funktionsstörung oder 33 Das gilt im Übrigen auch für den ohnehin unhaltbaren Umkehrschluss, alle Individuen seien krank, weil die Gesellschaft es sei. 34 Ein solcher Pathologiebegriff findet sich heute z.B. in systemtheoretisch ausgerichteten Zeitdiagnosen a la Niklas Luhmann. Man denke hier aber auch an den strukturalistischen Marxismus in der Tradition von Louis Althusser.

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Fehlentwicklung, von der am Ende gar nicht erwiesen ist und nicht einmal erwiesen werden soll, dass sie tatsächlich individuelles Leid verursacht, selbst schon als Krankheit eingestuft werden? So erweist sich auch der rein makroskopische Blick auf die Gesellschaft zwar nicht als falsch, in diesem Fall jedoch als zu weitsichtig. 35 Daher kommt es auf einen methodischen Kompromissvorschlag an: Wenn man sowohl der Gesellschaft als auch den Individuen ein gewisses Eigenleben, d.h. eine jeweils eigene Entwicklungslogik, zubilligen möchte, so wird sich die Rede von Pathologien des Sozialen dann - und nur dann - als gerechtfertigt erweisen, wenn der mikroskopische Blick auf das Individuum mit der makroskopischen Perspektive auf gesellschaftliche Strukturzusammenhänge insoweit verschränkt wird, dass die jeweiligen Korrelationen zwischen individuellen Störungen und sozialen Missständen ins Blickfeld geraten können. Erst dann nämlich kann offenkundig werden, dass Gesellschaften zwar nicht buchstäblich erkranken, dass es in diesen aber zu Missständen und Fehlentwicklungen kommen kann, die einen das Wohlergehen ihrer Mitglieder beeinträchtigenden oder gar tendenziell krankheitserregenden Einfluss besitzen. Der klinische Sprachgebrauch der Sozialkritik folgt damit der nahezu unabweisbaren Tatsache, dass die Strukturen einer Gesellschaft bisweilen Leid produzieren und dass deren Mitglieder von den herrschenden Lebensumständen nicht bloß formiert, sondern eben auch deformiert werden; ob nun in körperlicher, in psychischer oder auch in psychosomatischer Hinsicht. Um diesem Zusammenhang auch terminologisch Rechnung zu tragen und um Verwechselungen mit alternativen Definitionen von Sozialphilosophie zu vermeiden, werden im Folgenden die Termini "Pathologie" und "Diagnostik" zusammengezogen. Von Sozialphilosophie wird von nun an im Sinne einer "Pathognostik des Sozialen" oder kurz "Sozialpathognostik" die Rede sein. 36 Denn selbst noch dort, wo die Sozialphilosophie heute nicht eindeutig klinisch etikettiert ist, lassen sich, wie sich am Ende dieses Kapitels zeigen wird, deutliche Anzeichen einer quasi-medizinischen Gutachtertätigkeit erkennen, die das gesellschaftliche Leben daran messen soll, inwieweit es leidvolle und schädliche Auswirkungen auf das Wohlergehen einzelner Gesellschaftsmitglieder mit sich bringt. Dabei wäre freilich zuvor zu klären, was genau hier unter dem "Wohlergehen" Einzelner verstanden werden soll. Ein Blick in die sozialphilosophi35 Hier ist bereits ausdrücklich auf den methodisch höchst problematischen Umstand hinzuweisen, dass individuelles Leiden nicht immer offen zutage tritt. Es kann verschüttet und den Betroffenen unbewusst sein oder sich auf abwegige Weise äußern. Dazu mehr in Kapitel 6. 36 Pathognostik ist laut Duden die "Erkennung einer Krankheit aus charakteristischen Symptomen".

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sehen Debatten unserer Tage betätigt die Vermutung, dass die Beschäftigung mit den methodologischen Vorbehalten gegenüber einer Pathognostik des Sozialen heute überwiegend auf eine offene Konfrontation mit eben jener konzeptionellen Schwierigkeit hinausläuft, die man das Begründungsproblem der gegenwärtigen Sozialphilosophie nennen kann: Sollen die vorhandenen Lebensumstände nicht nur beschrieben, sondern hinterfragt und bewertet werden, wird man überzeugende Maßstäbe und Kriterien angeben müssen, anhand derer sich ganz konkrete Gesellschaftsentwicklungen gerechtfertigt als Störungen oder eben als Pathologien des Sozialen im Sinne einer Beeinträchtigung menschlichen Wohlergehens diagnostizieren lassen. Wer heute, wie es in der Einleitung zu diesem Buch heißt, intelligent disobedience üben und sich an einer Generaldiagnose des Gesellschaftlichen versuchen will, gerät sogleich in die konzeptionelle Verlegenheit, den Horizont der Werte explizieren zu müssen, vor dessen Hintergrund die jeweilige Kritik Sinn und Triftigkeit erhalten soll. Da es jedem sozialpathognostischen Befund solange an Überzeugungskraft mangeln muss, bis nicht genauer der positive Bezugspunkt geklärt ist, anhand dessen Kritik geübt wird, hat die Sozialphilosophie die metakritische Aufgabe, sich zunächst der normativen Werkzeuge zu vergewissern, mit denen sie an ihre Arbeit geht. Das bedeutet letztlich aber auch, dass sich der zunächst als typisch erwiesene "dekonstruktive" Charakter der Sozialphilosophie nicht vollständig wird durchhalten lassen. Das normative Fundament der Sozialkritik kann nicht selbst schon durchweg von Skepsis befallen sein. Auch wenn die entsprechenden Diagnosekriterien keineswegs für alle Zeit feststehen müssen und im Zuge der Analyse ab und an einer Überprüfung oder auch Revision unterzogen werden sollten, so ist doch nur schwer eine Form von Gesellschaftskritik denkbar, die gänzlich ohne eine zumindest annähernde Vorstellung von einer "besseren" Sozialordnung operierte, die dem individuellen Streben nach Wohlergehen gerechter werden würde. So lassen sich dann auch beinahe alle der derzeit einflussreichsten sozialphilosophischen Theorieentwürfe als Versuche deuten, auf diese bislang offen gebliebene Begründungsfrage zu reagieren. Der nun folgende Überblick soll unterschiedliche Typen von Sozialkritik hervortreten lassen, deren Charakteristik durch den jeweiligen Weg bestimmt sein wird, auf dem sich die betreffenden Autorinnen und Autoren der normativen Maßstäbe ihrer Kritik zu versichern versuchen. Als mögliche Kandidaten kritischer Sozialphilosophie konkurrieren heute zwei grundsätzliche Modelle: "kulturalistische" Ansätze zum einen, "ethisch-moralische" Modelle zum anderen, wobei im Folgenden jeweils vier Versionen auseinandergehalten werden.

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1.3 Kulturalistische Formen der Gesellschaftskritik Ist intelligent disobedience oben als "renitente Rast" umschrieben worden, die auf eine nur vermeintlich widersprüchliche Weise zugunsten der dabei kritisierten Gesellschaft eingelegt wird, so hatte sich damit bereits der Verdacht erhärtet, dass die Bande zwischen dem Sozialkritiker und seiner Gemeinschaft enger geknüpft sind, als man es zunächst vermuten mag. Die im Rahmen von Zeitdiagnosen stellvertretend vorgenommenen Prozesse einer kollektiven Selbstrevision vollziehen sich in deren eigenen Reihen und sollen der Aufdeckung jener Hindernisse dienen, die der Realisierung gemeinsamer Werte im Wege stehen. Weil nun aber zunächst unklar sein muss, um welche Prinzipien genau es sich dabei handelt und für wie allgemeinverbindlich man diese halten darf, liegt der Versuch nahe, den sozialphilosophischen Blick über den bereits vorhandenen kulturellen Wertehorizont schweifen zu lassen, in der Hoffnung, dort aufwichtige Anhaltspunkte zu stoßen. Sozialkritische Ansätze dieser Art werden im Folgenden kulturalistisch genannt, da sie an gesellschaftlich eingespielte Wertorientierungen anzuknüpfen versuchen; wobei noch einmal zwischen "immanenten", "ideologiekritischen", "kulturhermeneutischen" und "hyperbolischen" Varianten unterschieden werden kann. 37 Es ist der Sozialphilosoph Michael Walzer, der dem hier umrissenen methodologischen Problemzusammenhang eine besondere metakritische Aufmerksamkeit gewidmet hat. Er steht für jene Variante der Sozialphilosophie, die mit dem Label immanente Kritik versehen werden kann. Ganz gleich, ob man dabei auf Walzers- im engeren Sinne- methodologische Arbeiten schaut, mit denen er den Standpunkt des Sozialkritikers auf sehr grundsätzliche Weise zu markieren versucht 38 , oder ob man dessen ideengeschichtliche Studien heranzieht, in denen er die von ihm favorisierte Praxis der Gesellschaftskritik am Beispiel einiger berühmter kritischer Intellektueller illustriert39 , stets dient ihm die Ungelöstheit des folgenden konzeptionellen Problems als Motivationsgrund: Wie allgemein dürfen die Maßstäbe und Wertüberzeugungen sein, auf die sich der Sozialkritiker bei seinen zeitdiagnostischen Interventionen beruft? Und woher stammen sie? Zunächst, so Walzer, drohen zwei Gefahren, die der Kritiker vermeiden muss. Da ist zum einen das im Zuge von intelligent disobedience nahezu 37 Die in diesem und auch im nächsten Abschnitt genannten Autorinnen und Autoren lassen sich den aufgelisteten Typen von Sozialkritik nicht immer eindeutig zuordnen, da sich in deren Werken oftmals unterschiedliche sozialphilosophische Ansätze gleichzeitig andeuten. Wesentliche Einsichten in die folgenden Unterscheidungen verdanke ich Diskussionen mit Rainer Forst. 38 Michael Walzer (1993): Kritik und Gemeinsinn, Frankfurt/Main: Fischer; ders. (1994): Thick and Thin, Notre Dame: Notre Dame UP. 39 Michael Walzer (1991): Zweifel und Einmischung, Frankfurt/Main: Fischer.

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greifbare Risiko, dass die skeptische Distanz zwischen dem Beobachter und seinem Untersuchungsgegenstand so sehr anwächst, dass der emotionale und intellektuelle Kontakt abbricht, durch den sich der Kritiker mit seiner Gemeinschaft verbunden fühlt. Die zweite Gefahr besteht darin, dass die Beurteilungsmaßstäbe, die der Diagnostiker an seine Gemeinschaft heranträgt, derart abstrakt ausfallen, dass er kein Gehör mehr findet. Walzer hat hier vor allem jene "universalistisch" orientierte Moralkritik a la John Rawls und Jürgen Habermas vor Augen, deren Kontexttranszendenz von ihren Autoren ja gerade als besondere Stärke behauptet wird. Für Walzer hingegen steht außer Frage, dass der abstrakte Universalismus keine Anhindung an faktisch kursierende Moralvorstellungen aufweist und daher insofern zur Asozialität verurteilt ist, als er in politischer Konsequenz zu Manipulation und Zwang drängt. 40 Beide Gefahren will Walzer dadurch umgehen, dass er den Kritiker unwiderruflich in dessen konkreter Lebenswelt verankert und zu einem "internen Dissidenten" macht: Unter Verzicht auf radikale Traditionsbrüche, übertriebene Skepsis, inquisitorische Kritik und prophetische Heilsverkündigungen soll sich der Zeitdiagnostiker in die tatsächlichen Wertedebatten seiner Tage einmischen statt berauscht von der eigenen Selbstherrlichkeit einem weltanschaulichen Wolkenkuckucksheim das Wort zu reden. 41 Dabei kann und soll der Kritiker allein auf solche Wertkonzepte zurückgreifen, die bereits greifbar sind. Die Maßstäbe der Gesellschaftskritik müssen, so Walzer, nicht erst von einem göttlichen oder naturrechtliehen Himmel geholt oder gar eigens auf dem Reißbrett entworfen werden. Sie sind vielmehr immer schon in die konkrete Alltagspraxis der eigenen Gemeinschaft eingelassen und damit einer "immanent" ansetzenden Kulturanalyse zugänglich. Sie müssen dort ledig aufgestöbert und einer beständigen Reinterpretation und Neuanpassung an die sich historisch wandelnden Begebenheiten unterzogen werden. In dieser Hinsicht weisen die Schriften Walzers eine auffallende Ähnlichkeit mit den Arbeiten von Alasdair Maclntyre auf. Auch dessen Werk trägt deutliche Züge einer immanent ansetzenden Zeitdiagnose, allerdings in einer eigentümlich zugespitzten Form: Bei Maclntyre ist es die von Walzer zunächst nur metakritisch diagnostizierte Schwierigkeit der Werte-Ermittlung selbst, die zugleich das derzeit gravierendste sozialpathognostische Symptom

40 Siehe dazu Walzer (1993), S. 18-27 und 77. Der Affekt gegen universalistische Prinzipien geht bei Walzer so weit, dass jene schon mal unter Inquisitions- bzw. Bolschewismus-Verdacht geraten. Siehe ders. (1994), S. 48. 41 Vgl. dazu Raymond Aron (1957): Opiumfür Intellektuelle oder Die Sucht nach Weltanschauung, Köln u. Berlin: Kiepenheuer & Witsch. Bei Walzer (1993) heißt es: "Ein wenig abseits, aber keine Außenseiter: kritische Distanz ist eine Frage von Zentimetern" (S. 74).

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darstellen soll, an dem moderne Gesellschaft als Ganze kranken. 42 Auch für Maclntyre sind die moralischen Welten, in denen wir leben, das Ergebnis von historisch sich wandelnden Interpretationsprozessen, die von den Mitgliedern einer Gesellschaft gemeinsam in der Öffentlichkeit ausgetragen werden und an denen sich der Sozialkritiker lediglich beteiligen kann. Entsprechend ist auch Maclntyre davon überzeugt, dass sich die Maßstäbe der Sozialkritik an eben diesen öffentlichen Wertstreitigkeiten ablesen lassen müssen. Nun sei jedoch mit der Moderne eine Form von Liberalismus zur ideologischen und institutionellen Vorherrschaft gelangt, der zwar bemüht sei, die Regeln eines friedfertigen sozialen Miteinanders festzulegen, der sich jedoch aus Rücksicht auf die neuzeitliche Pluralität individueller Lebensformen sowie angesichts der Gefahr eines politischen Patemalismus zur strikten "Neutralität" in ethischen Fragen nach dem "guten Leben" verpflichtet sehe. Dies hat zur Konsequenz, so Maclntyre, dass die Beschäftigung mit der Frage nach dem guten Leben in das Private zurückgedrängt worden ist und der öffentliche Raum der ethischen Verwaisung anheim fallt. Wo aber Werte nicht mehr gemeinsam artikuliert und debattiert werden, da kann sich niemand mehr von ihrem Gewicht überzeugen oder gar von ihnen anstecken lassen. Dies, so lautet die pointierte Zeitdiagnose Maclntyres, habe eine "Verwässerung" der soziamoralischen Lebenspraxis sowie eine allgemeine Sinn- und Orientierungskrise zur Folge, die einem sich egoistisch missverstehenden, nahezu krankhaften Besitzindividualismus Tür und Tor öffne und zu einem Verlust wichtiger traditioneller "Tugenden" führen müsse. 43 Nach Art einer konzertierten Aktion sei der öffentliche Raum wiederzubeleben, indem die Mitglieder unserer ethisch verwahrlosten Gemeinschaften erneut in eine gemeinsame Diskussion kollektiver Werte eintreten. Allerdings bleibt aus Maclntyres Sicht fraglich, ob wir uns angesichts der individuellen wie kulturellen Unterschiede im Hinblick auf unsere individuellen Vorstellungen vom menschlich Guten tatsächlich auf so etwas wie allgemeinverbindliche Standards würden einigen können, auf die dann auch der Sozialkritiker zurückzugreifen vermochte. Auch wenn Maclntyre selbst eine solche Einigung nicht ausschließen möchte44 , so muss doch, wenn wir im An42 Dazu vor allem Maclntyre (1994): "Die Privatisierung des Guten", in: Honneth (1994a); Maclntyre (1995). 43 Siehe Maclntyre (1994), bes. S. 174-177; ders. (1995). 44 Haben frühere seiner Arbeiten den Verdacht nahegelegt, Maclntyre vertrete die relativistische Position, dass die prinzipielle lnkommensurabilität ethischmoralischer Wertstandpunkte anerkannt werden müsse, so hat er nachträglich klarzustellen versucht, dass es sich dabei um einen empirischen Befund und nicht um eine prinzipielle epistemologische Aussage handeln sollte. Siehe das Vorwort zur Neuausgabe von ders. (1966/1998): A Short History of Ethics, London: Routledge.

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schluss an dessen zeitdiagnostische Überlegungen auf die metakritische Ebene zurückwechseln, fraglich bleiben, ob eine in dieser Weise immanent ansetzende Sozialkritik überhaupt zu allgemeingültigen Kriterien kommen kann. Wenn doch der Kritiker auf einen öffentlichen Diskurs verwiesen bleibt, dessen Ausgang ungewiss ist, so fehlen ihm weiterhin die kritischen Werkzeuge, mit denen er an seine Arbeit gehen könnte. Wie dieses Problem zu lösen oder besser zu umgehen ist, wird deutlich, wenn wir uns noch einmal Walzer zuwenden, um die eigentliche Pointe interner Dissidenz in den Blick zu bekommen. Dem immanenten Kritiker, so Walzer, soll es gar nicht um die Gewinnung unverrückbarer Wertmaßstäbe gehen - das verbietet ihm schon die Vorsicht vor einem kulturell entwurzelten Universalismus. Wenn die Kritik das Gehör auf die ethisch-moralischen Debatten unserer Tage richtet, dann deshalb, weil sie die innerhalb der jeweiligen Gemeinschaft bereits anerkannten Werte und Prinzipien auf ein Tableau bekommen will, um dieses der Gemeinschaft dann anschließend wie einen Spiegel vorzuhalten. 45 Der immanente Kritiker fragt nach eben jenen Werten und Regeln einer Gemeinschaft, die in deren soziale, kulturelle, religiöse, politische oder auch ökonomische Praktiken eingelassen sind, freilich ohne dass sie deshalb schon hinreichend realisiert wären. Der Kritiker trägt keine fremden Ansprüche an seine Gemeinschaft heran, vielmehr will er zeigen, dass seine Gemeinschaft ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird. Es ist diese Art der Immanenz, die dem Diagnostiker die Möglichkeit verschafft, nicht nur auf universalistische Wertmaßstäbe verzichten zu können, sondern auch den Abstand zur eigenen Gemeinschaft gering zu halten. 46 Bei genauerem Hinsehen erweist sich ein solcher Kritikansatz dennoch als problematisch. Seine in Opposition zum Universalismus stehende, kontextualistische Grundhaltung läuft ständig Gefahr, in moralische Beliebigkeit abzukippen. Ganz offenkundig kursieren innerhalb einer konkreten Gemeinschaft immer schon gänzlich unterschiedliche Auffassungen von einem individuellen oder auch kollektiven Guten. Daher muss unklar bleiben, nach welchen wenn nicht am Ende eben doch Universalistischen - Kriterien der immanente Kritiker bessere von schlechteren Wertmaßstäben unterscheiden kann und soll. Darüber hinaus hätte sich die immanente Kritik darauf zu verlassen, dass 45 Dazu Walzer (1993): "Wir wissen, daß wir nicht auf der Höhe der Maßstäbe leben, die uns rechtfertigen könnten. Und wenn wir dieses Wissen einmal vergessen sollten, dann taucht der Gesellschaftskritiker auf, um uns daran zu erinnern" (S. 59). 46 In diesem Sinne lässt sich der berühmte Ausspruch des jungen Kar! Marx verstehen, der meinte, man müsse die "versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt". Siehe ders. (1844a/1956): Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW, Bd. I, Berlin: Dietz, S. 381.

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sich die Mitglieder einer Gemeinschaft weitestgehend darüber klar sind, was sie je für sich und ihre Gemeinschaft als gut erachten. Kann aber die Sozialphilosophie ernsthaft darauf vertrauen, dass die Menschen bereits wissen und auch artikulieren können, was sie "wirklich" wollen? Es ist eben diese methodologische Skepsis gegenüber einem nur unzureichend erschlossenen Werte- und Bedürfnishorizont47 , durch die eine zweite Sorte von Sozialphilosophie auf den Plan gerufen wird. Sie wird gemeinhin Ideologiekritik genannt und ist bis heute zumeist in marxistischer Tradition beheimatet. 48 Ähnlich wie der immanente Ansatz richtet auch sie ihren Blick auf die bereits vorfindliehen Diskursformationen der Gegenwart. Allerdings geht es ihr dabei gerade nicht um die Aufdeckung und Auszeichnung positiver Werte, sondern allein um die Diskreditierung solcher hegemonialer Überzeugungen und Denkweisen, die der Realisierung eines "wahrhaft" Guten im Wege stehen. Getragen ist diese Kritik von der durchweg pejorativ gehaltenen Grundüberzeugung, dass die Weltanschauungen und W ertvorstellungen, die in unseren westlichen kapitalistischen Gesellschaften vorherrschend sind, nicht als Einstellungen verstanden werden dürfen, die von den Betroffenen frei gewählt sind, sondern als historisch bzw. kulturell kontingente Produkte bewusstseinsformierender Sozialpraktiken, in denen illegitime Machtbeziehungen und gravierende Ungerechtigkeiten zum Ausdruck kommen. Aus Sicht der Ideologiekritik bietet die Lebenswelt den Anblick einer in den Dunst diskursiver Nebelkerzen eingehüllten Gemeinschaft, deren Zwangsstrukturen darin bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen und gerade dadurch eine gewisse Stabilität erfahren. Somit tritt die Ideologiekritik in nahezu klassischaufklärerischer Manier an, die "Schleier der Verblendung" zu lüften, durch die hindurch das ganze Ausmaß an gesellschaftlichen Missständen und Fehlentwicklungen bislang noch gar nicht angemessen in den Blick hat kommen können. Dabei steht der Begriff ,,Ideologie" für die Unterstellung, dass Menschen sich aufgrund ihrer Verstrickung in soziale, kulturelle, politische und ökonomische Lebensumstände über das, was sie "wirklich" wollen, zu täuschen vermögen, ja, dass sie einem "falschen Bewusstsein" unterliegen und von ihrer eigentlichen Bedürfnisstruktur "entfremdet" sein können. Nun hat allerdings die Ideologiekritik von Beginn an unter dem Verdacht gestanden - und die Anhäufung der Anführungszeichen im letzten Satz dürfte dafür ein Indiz sein -, einem tendenziell totalitären Patemalismus Vorschub zu leisten. Wer 47 Zum Problemgehalt siehe James Bohman (1993): "Welterschließung und radikale Kritik", in: Deutsche Zeitschrift/ur Philosophie, 311993. 48 Dazu insgesamt Karl-Otto Apel u.a. (1971 ): Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt/Main: Suhrkamp; Kurt Lenk (Hg.) (1984): Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie, Frankfurt/Main u. N ew Y ork: Campus.

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ein Bewusstsein als "falsch" oder "entfremdet" brandmarken will, so die Kritik, müsse sich unweigerlich auf eine Theorie "wahrer" oder "authentischer" Interessen und Bedürfnisse berufen und dadurch mit prinzipiell unhaltbaren anthropologischen Prämissen ausrüsten. In der jüngeren Vergangenheit jedoch haben Autoren wie Raymond Geuss und Cornelius Castoriadis durchaus die Möglichkeit einer nicht-paternalistischen Ideologiekritik in das sozialphilosophische Blickfeld rücken lassen. 49 Diesen Autoren ist die Annahme gemein, dass die Sozialphilosophie zwar weiterhin auf eine Diffamierung falschen Bewusstseins und entfremdeter Lebensverhältnisse zu bestehen habe, dass sie dabei aber auf eine Auszeichnung wahrer Bedürfnisse und nichtentfremdeter Lebensvollzüge verzichten könne. Wie sollen sich diese beiden Prämissen vereinbaren lassen? Im Anschluss an die Kritische Theorie des frühen Habermas vertritt Raymond Geuss die Überzeugung, dass die Interessen und Wertüberzeugungen eines Menschen allein dann als "wirklich" oder "wahrhaftig" angesehen werden dürfen, wenn sie das Resultat eines Meinungsbildungsprozesses sind, der zwei Bedingungen erfüllt: Er muss sich zum einen unter Berücksichtigung aller Informationen vollziehen, die für die betreffende Person von Relevanz sind. Und er hat zum anderen unter "moralisch akzeptablen" Bedingungen stattzufinden, d.h. im Rahmen zwangloser, nicht-unterdrückender Lebensumstände.50 Angesichts dieser Forderungen, so Geuss, habe die Sozialphilosophie mit Blick auf die Realität spätkapitalistischer Gesellschaften nüchtern festzustellen, dass weder von der Voraussetzung transparenter Informationsflüsse noch von dem Vorhandensein von solchen kommunikativen Strukturen ausgegangen werden kann, in denen sich eine Praxis unverzerrter ethischexistenzieller Selbstverständigung vollzieht. Vielmehr seien alle Meinungsbildungsprozesse aufgrundder vorherrschenden gesellschaftlichen Reproduktionszwänge immer schon ideologisch prädeformiert 51 Der Philosoph und Psychoanalytiker Cornelius Castoriadis kommt zu einer ganz ähnlichen Diagnose, deren Eigentümlichkeit jedoch an ihrer ausdrücklich tiefenpsychologischen Ausrichtung festzumachen ist. 52 Castoriadis will die ideologische Verblendung und Entfremdung des Menschen als Herrschaft "eines anderen in mir" entlarven. Hierbei macht er sich im Anschluss an Sigmund Freud und Jacques Lacan zunächst eine entwicklungspsychologi-

49 Raymond Geuss (1981 ): The Idea of a Critical Theory, Cambridge: Cambridge UP; Comelius Castoriadis (1984): Gesellschaft als imaginäre Institution , Frankfurt/Main: Suhrkamp. 50 Siehe Geuss (1981), Kap 2. 51 Vgl. Andre Gorz (1989): Kritik der ökonomischen Vernunft, Berlin: Rotbuch. 52 Siehe dazu neben Castoriadis (1984), bes. Kap. 11.3, auch ders. (1997): World in Fragments, Stanford: Stanford UP, bes. Abschnitt III.

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sehe Annahme zunutze, die in ganz anderen Zusammenhängen auch von Georg H. Mead 53 entwickelt worden ist: Das mit dem Begriff "Subjekt" bezeichnete Verhältnis des Menschen zu sich selbst ist lebensgeschichtlich als das Resultat einer frühkindlichen Verinnerlichung der Perspektive und Verhaltenserwartungen anderer aufzufassen; womit vor allem die ersten engen Bezugspersonen des Kindes gemeint sein sollen. Diese anderen nisten sich im Innem des Heranwachsenden unmerklich als ständige imaginäre Gesprächspartner ein. Das Subjekt, so folgert Castoriadis, ist den anderen nicht einfach entgegengesetzt, es ist das Verhältnis zu und die Auseinandersetzung mit diesen anderen. 54 Diese "innere Stimme" des Subjekts repräsentiert nun aber imaginär nicht nur dessen konkrete Bezugspersonen, sondern die Gesellschaft insgesamt, und zwar mit all ihren Regeln, Praktiken und Institutionen: Die prägenden Bezugspersonen eines Kindes tragen nicht allein ihre individuellen Ansprüche in dessen Sozialisation hinein, sie geben immer auch den Druck der gesellschaftlichen Verhältnisse weiter, der aufihnen selbst lastet. Folgerichtig muss das zugleich individuierte und vergesellschaftete Subjekt von Beginn an auch für soziale Störungen und Anomalien anfallig sein. Wenn das gesellschaftliche Ensemble bereits in frühester Sozialisation in die menschliche Psyche hineinreicht und dabei wie ein "System der Einflüsterung" wirkt, dann müssen sich dort auch dessen institutionelle Verhärtungen und Deformationen bemerkbar machen. So kann sich der deformierte "Diskurs des Anderen" im Innem des Subjekts dauerhaft festsetzen und dort eine derartige Übermacht erlangen, dass der Mensch im späteren Leben unter dem ständigen Druck dieser nicht mehr nur als äußerlich erfahrenen Ansprüche unweigerlich der Entfremdung anheim fällt. 55 Der ideologische Schleier, der sich über die kapitalistische Welt ausgebreitet hat und den Castoriadis, ähnlich wie auch Geuss, lüften möchte, verursacht Blockierungen des menschlichen Vermögens, sich ethisch-existenziell über sich selbst zu verständigen und dabei zu autonomen Entscheidungen sowie kreativen Lebensprojekten zu gelangen. Allein bei Abwesenheit von Zwängen dieser Art wäre von einem Leben in wahrhafter Autonomie zu sprechen. Das im Innem des Subjekts waltende "gesellschaftliche Imaginäre" dünkt diesem jedoch so real, dass es zu keiner angemessenen Klärung der Genese und des Sinns dieser ihm als fremd gegenübertretenden Ansichten und Bedürfnisse kommen kann. Ein falsches Bewusstsein unterwirft sich sei53 Dazu Jürgen Habermas (1988a): "Individuierung durch Vergesellschaftung. Zu G. H. Meads Theorie der Subjektivität", in: ders. (1988b): Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/Main: Suhrkamp. 54 Castoriadis (1984), S. 179. 55 Castoriadis (1984), S. 185.

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ner Fremdbestimmung weitestgehend blind und unkritisch. Klärende Einsichten in die Möglichkeit einer kreativen Neugestaltung des Sozialen werden dadurch unmöglich. Fragt man nun nach der von Castoriadis und auch Geuss geforderten Befreiung des Menschen von derartiger Heteronomie, so wäre diese weder als bloße Bewusstwerdung herrschender Verblendungszusammenhänge noch als völlige Beseitigung jenes Diskurses "der Anderen in mir" zu denken. Es ginge dabei vielmehr um eine grundlegende und wiederholte Überprüfung jener zunächst bloß überlieferter und internalisierter Ansichten und Ansprüche, im Zuge derer es zu einer geziehen Ablehnung dieser Ansichten, aber durchaus auch zu deren begründeter Billigung kommen kann. 56 Betrachten wir diese ideologiekritischen Überlegungen von einem metakritischen Standpunkt aus, so kann festgehalten werden, dass weder Castoriadis noch Geuss inhaltliche Antworten auf die Frage zu geben versuchen, was gegenüber einer entfremdeten Bedürfnisstruktur "echte" oder "wahre" Interessen wären. Aus der tiefsitzenden Überzeugung heraus, dass die Wahl ethisch-existenzieller Lebensorientierungen nicht nur individuell, sondern auch historisch und kulturell variiert und den Betroffenen daher selbst überlassen bleiben sollte, findet sich die unvertretbar zu leistende Aufgabe einer Suche nach konkreten Inhalten autonomen Lebens bei beiden Autoren auf eigentümliche Weise eingeklammert: Ein nicht-entfremdetes Bewusstsein würde allein solche wertbehafteten Überzeugungen beinhalten, die den Betroffenen unter Bedingungen einer wahrhaft freien Meinungsbildung zu Bewusstsein kämen. Die Ideologiekritik beansprucht aber nicht selbst schon den konkreten Aufweis authentischer Bedürfnisse. Sie zielt lediglich auf eine Diskreditierung jener Lebensumstände, unter denen die Menschen eine unreflektierte, dogmatisch verblendete Existenz führen. Als normativer Fluchtpunkt der Ideologiekritik bzw. als deren formaler Maßstab zeichnet sich damit also eine Idee unverzerrter Kommunikationsverhältnisse ab, in denen autonome Individuen ihre wahrhaftigen Interessen selbständig zu ergründen vermochten.57 Indem sie jene gesellschaftlichen Missstände zu diskreditieren verspricht, durch die ethisch-existenzielle Selbstverständigungsverhältnisse blockiert werden, kann die Ideologiekritik zwar dem gegen die immanente Sozialphilosophie gerichteten Einwand entgegentreten, dass Menschen sich im konkreten Einzelfall nicht immer darüber im Klaren sind, was in ihrem ureigensten Interesse liegt. Der oben ebenfalls angedeuteten Gefahr, in normative Beliebigkeit zu verfallen, vermag jedoch auch sie nicht auszuweichen. Vielmehr kehrt der Vorwurf in verschärfter Form wieder: Die immanente Kritik war lediglich mit 56 So folgert Castoriadis (1984): "Autonom ist ein Subjekt, das mit Grund schließen kann: Das ist wahr, und: Das ist mein Begehren" (S. 178). 57 Geuss (1981 ), S. 54; Castoriadis (1984), S. 182ff.

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dem Problem konfrontiert, die Kriterien angeben zu müssen, nach denen sie zwischen gesellschaftlich konkurrierenden Werten eine Auswahl zu treffen gedenkt. 5R Die Ideologiekritik hingegen weist aufgrund ihres Verzichts auf jede Art der Auszeichnung wünschenswerter Lebensinhalte einen derart formalen Charakter auf, dass sie normativ fast vollständig leer läuft. 59 Wenn aber die Etablierung unverzerrter Kommunikationsverhältnisse, in denen allein sich wahrhaftige Wertauffassungen bilden könnten, auf absehbare Zeit unrealistisch bleibt, stellt sich dann nicht die Frage, ob sich die Sozialphilosophie offen halten sollte gegenüber dem Bedarf der erst langsam "zu sich" kommenden Individuen nach einer konkreten, inhaltlichen Lebensorientierung? Möglicherweise vermag an diesem strittigen Punkt eine dritte Form der Gesellschaftskritik einzuhaken, die im Folgenden als kulturhermeneutische Variante der Sozialphilosophie präsentiert wird. Auch sie richtet ihren Blick auf das undurchsichtige Geflecht der Wertvorstellungen und sozialen Praktiken, die im eigenen Kulturkreis maßgeblich sind, doch ist sie dabei vor allem an der kulturellen Genese unseres Selbstverständnisses als spezifisch moderne Subjekte interessiert. Der von der kulturhermeneutischen Kritik augezielte Aufweis einer unhintergehbaren "Historizität" vorherrschender W ertorientierungen soll dazu dienen, weitverbreitete und folgenschwere Selbstmissverständnisse auszuräumen, die den Blick darauf verstellen, wer wir als moderne Individuen "wirklich" sind und- vor allem- wie wir zu dem geworden sind. Demnach steht im Mittelpunkt der kulturhermeneutischen Sozialpathognostik der Versuch einer Rekonstruktion unserer kulturellen Vergangenheit, und zwar aus der Perspektive gegenwärtiger Problemlagen heraus. Zweifellos ist Michel Foucault derjenige, der die Idee einer unvermeidlichen Historizität moderner Subjektvorstellungen wie kaum ein anderer in den humanwissenschaftliehen Diskurs eingebracht hat. Mit nahezu detektivischem Gespür hat Foucault ein bemerkenswert vielgestaltiges Theorieprojekt vorangetrieben, dem er in Anknüpfung an Friedrich Nietzsche den Namen "Genealogie" gegeben hat. 60 Wollte man hier die pathognostische Begrifflichkeit zeitgenössischer Sozialphilosophie zur Anwendung bringen, so ließe sich das von Foucault mit kulturhistorischer Akribie betriebene Unterfangen als eine umfassende Krankengeschichte charakterisieren. Auch wenn das Werk Foucaults auf den ersten Blick eher unüberschaubar und in seinen systemati58 Würde man die immanente Kritik einer ideologiekritischen Bewertung unterziehen, geriete deren Konzentration auf den eigenen kulturellen Wertehorizont zum Symptom. Die viel beschworene Immanenz dieser Ansätze hätte als Signum einer kulturellen Ignoranz zu gelten. 59 Sieht man einmal ab von ihrem Plädoyer flir "Autonomie". lch komme im letzten Abschnitt dieses Kapitels darauf zurück. 60 Michel Foucault (1987a): "Nietzsche, die Genealogie, die Historie", in: ders. (1987b ): Von der Subversion des Wissens, Frankfurt/Main: Fischer.

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sehen wie normativen Ansprüchen nebulös erscheint, so fügen sich seine umfangreichen historischen Studien doch in ihrer Gesamtschau zu einer weitverzweigten Anamnese, mit deren Hilfe die Konstitution des unter vielfältigen Deformationen leidenden modernen Subjekts aus dessen Entstehungsgeschichte heraus erklärt werden soll. 61 Foucault selbst hat gegen Ende seines Lebens- für viele seiner Leser eher unerwartet - einen internen Zusammenhang seiner zunächst disparat wirkenden Arbeiten behauptet: Stets habe er in all seinen Untersuchungen das eine Ziel vor Augen gehabt, "eine Geschichte der verschiedenen Verfahren zu entwerfen, durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden".62 Diesem genealogischen Anspruch, die verborgenen und zum Teil unheilvollen Aspekte dieser modernen "Erfolgsgeschichte" zu enthüllen, ist Foucault auf insgesamt drei Achsen seines Werkes gefolgt. Im Mittelpunkt stand zunächst eine Analyse hegemonialer Wahrheits- und Wissensformationen innerhalb der subjektformierenden Diskurse der Humanwissenschaften. Es folgte eine breite Untersuchung institutionalisierter Machtordnungen, für die, nach Foucault, das Gefängnis als prototypische "Disziplinaranstalt" steht. Gegen Ende seines Schaffens war Foucault dann vor allem mit dem Aufweis von "Selbsttechniken" beschäftigt, man denke hier an kulturelle Phänomene wie Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Geständnisse und vor allem auch an den Bereich der Sexualität, durch die ein Prozess umfassender Selbstdisziplinierung in Gang gekommen sein soll. 63 Diesen drei Achsen seines Werkes - von Foucault kurz "Diskurs", "Macht" und "Ethik" genannt - entsprechen nun drei historisch eher kontingente Ordnungen oder "Dispositive", die das moderne Subjekt formiert haben sollen und die es bis heute dazu verführen, die eigene, historisch äußerst spezifische Existenzform falschlieherweise als Inbegriff des menschlichen Daseins aufzufassen. Dabei bleibe der sonderbar willkürliche Zucht- und Dressurcharakter der modernen Subjektwerdung den prädeformierten Individuen weitgehend unbewusst. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass, 61 Es ist in dieser pathognostischen Hinsicht bezeichnend, dass Foucault mit einem Buch über die Geschichte des Wahnsinns und der Psychiatrie berühmt geworden ist. Siehe ders. (1969): Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp. 62 Michel Foucault (1987c): "Warum ich Macht untersuche: Die Frage des Subjekts", in: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow (1994): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim: Beltz Athenäum. Siehe aber auch die Einleitung zu ders. (1986a): Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit. Bd. !I, Frankfurt/Main: Suhrkamp. 63 Für die erste dieser Phasen siehe ders. (1971): Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/Main: Suhrkamp; für die zweite ders. (1976): Überwachen und Strafen, Frankfurt/Main: Suhrkamp; für die dritte ders. (1986a) u. ders. (1986b): Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit, Bd. III, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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auch wenn Foucault selbst für seine historisch detaillierten Analysen einen rein deskriptiven Charakter beansprucht, diese doch alles andere als normativ neutral ausgerichtet sind. Inzwischen haben zahlreiche Interpreten Foucaults zeigen können, dass dessen Untersuchungen von wertbehafteten Grundüberzeugungen zehren, ohne die ihnen jeder kritische Stachel gezogen wäre. 64 Zwar sucht man innerhalb des Werkes von Foucault vergeblich nach expliziten Kritikmaßstäben - etwa der Idee einer nonkonformen Subjektivität, die ihren modernen Zurichtungen zu trotzen vermochte -, doch hat diese Leerstelle einen ganz anderen Grund. Foucault ist davon überzeugt, dass die Befreiung des modernen Subjekts weit weniger eine Sache der theoretischen Konstruktion als vielmehr das Resultat sozialer Kämpfe zu sein hätte. Gleichwohl sind seine Analysen gar nicht anders zu verstehen, denn als Versuche, "freieren" Formen von Subjektivität den Weg zu bahnen. 65 Das Werk Foucaults ist in quasi-therapeutischer Absicht verfasst. Die Bewusstwerdung einer Verlustgeschichte des modernen Subjekts soll zugleich dessen geschwächte Widerstandskräfte stärken. Somit verfährt die Sozialphilosophie Foucaults weitestgehend dekonstruktiv66, während eine zweite Spielart kulturhermeneutischer Sozialpathognostik stark affirmative Züge aufweist. Im Gegensatz zu Foucault, der die negative Kehrseite des modernen Subjektseins freilegen will, um sie als veränderbar zu entlarven, geht es dieser vielmehr darum, den positiven Kern unserer heutigen Subjektvorstellungen herausschälen, um ihn zu bewahren. In diese "anti-genealogische" Stoßrichtung weisen heute vor allem die kulturhistorisch fundierten Zeitdiagnosen von Charles TaylorY Den normativen Bezugspunkt seiner Gesellschaftskritik entnimmt dieser der von ihm zugleich beanstandeten kulturellen Alltagspraxis selbst. Mit der Modeme, so Taylor, ist eine Idee "guten Lebens" zur Vorherrschaft gelangt, der zufolge das Ge64 Dazu exemplarisch Charles Taylor (1988a): "Foucault über Freiheit und Wahrheit", in: ders. (1988b): Negative Freiheit?, Frankfurt/Main: Suhrkamp. 65 Siehe Michel Foucault (1978): Dispositive der Macht, Berlin: Merve, bes. S. 32 u. 65; ders. (1987c). 66 Auch der so genannte Dekonstruktivismus weist, insofern er ausdrücklich sozialkritisch ausgerichtet ist, in die von Foucault vorgegebene genealogische Richtung. Aus diesem Grund habe ich darauf verzichtet, den Dekonstruktivismus, etwa in seinen feministischen Spielarten, als eine eigenständige Form von Sozialphilosophie zu präsentieren. Siehe aber exemplarisch die Beiträge in: Seyla Benhabib/Drucilla Comell (Hg.) (1987): Feminism as Critique, Minneapolis: Minnesota UP. 67 Das direkt auf Taylor gemünzte Etikett "Anti-Genealogie" stammt von Martin Seel (1991): "Die Wiederkehr der Ethik des guten Lebens", in: Merkur, 502/1991. Das Präfix "Anti" soll keine völlige Abkehr von der historischen Betrachtungsweise anzeigen, sondern lediglich eine Umkehrung der normativen Perspektive.

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lingen der menschlichen Existenz auf der Möglichkeit und Fähigkeit beruht, relativ frei von inneren und äußeren Zwängen, das je eigene Leben "authentisch" verwirklichen zu können. 6R Allerdings lasse das Ausmaß, in dem sich diese zweifellos hehre Idee in unserer kapitalistischen Lebenswirklichkeit tatsächlich realisiert findet, sehr zu Wünschen übrig; und zwar insbesondere dort, wo heute die Hegemonie einer "technisch-instrumentellen" Weltsicht mit den "romantisch-expressiven" Quellen unseres modernen Selbstverständnisses kollidiere. Das Ideal der Authentizität sei vielmehr längst zu einer sinnentleerten, sich egoistisch oder gar narzisstisch missverstehenden Lebensorientierung verkommen, zu einer "Malaise of Modernity" 69 , die ein inzwischen breites kulturelles Unbehagen hervorgerufen habe. Entsprechend, so Taylor, müssen die Legitimationskrisen, von denen unsere kapitalistischen Gesellschaften periodisch heimgesucht werden, auf eben diese Enttäuschung zurückgeführt werden, dass sich das spezifisch moderne Versprechen von einem guten Leben noch immer nur unzureichend eingelöst findet. Wenn die Darstellung von Taylors sozialphilosophischem Ansatz hier auch äußerst knapp ausfallen muss, so wird dennoch deutlich, welche Strategie er bei der Gewinnung seiner normativen Prämissen wählt: Aus dem eher undurchsichtigen Gemenge moderner Wertorientierungen will Taylor genau jenes noch immer kostbare, aber offenbar flüchtige Substrat zeitgenössischer Authentizitätsvorstellungen extrahieren, das angesichts der ideologischen Vorherrschaft eines zum "Atomismus" tendierenden Liberalismus unter Artenschutz zu stellen wäre. 70 Im Zuge der Auszeichnung einer in soziale, kulturelle und historische Kontexte eingelassenen und dort zugleich entstellten Idee authentischer Identität versorgt Taylor sein kulturhermeneutisches Projekt ausdrücklich mit eben jenen kritischen Maßstäben, die man bei Foucault, seinem genealogischen Pendant, vermisst haben mag. Folgt man Taylor, so muss die normative Leitidee der Authentizität nicht erst erkämpft werden. Sie wäre lediglich wiederzuentdecken und endlich unverkürzt zur Geltung zu bringen. Doch ganz gleich, ob man nun die genealogische oder aber die antigenealogische Richtung kulturhermeneutischer Kritik einschlagen möchte, in beiden Fällen führt die Anerkennung der Kontextualität und Historizität sozialphilosophischer Maßstäbe zu eben jenem methodologischen Problem normativer Beliebigkeit zurück, auf das wir bereits bei der Diskussion der ersten 68 Dazu vor allem Charles Taylor (1994): Quellen des Selbst, Frankfurt/Main: Suhrkamp; ders. (1995): Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp. 69 So der englische Originaltitel von Taylor (1995). 70 Dazu auch Charles Taylor (1993): Multiku/tura/ismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt/Main: Fischer.

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beiden sozialpathognostischen Ansätze gestoßen sind. Bedenkt man, dass sich auch in historisierender Perspektive eine letztlich breite Konkurrenz an normativen Idealen abzeichnen muss, wird fraglich, anhand welcher Kriterien zu entscheiden wäre, welche dieser Wertvorstellungen den jeweils anderen vorzuziehen sind. Sowohl Taylors Überzeugung, dass das Ideal der Authentizität der hegemonialen Weltsicht instrumenteller Rationalität überlegen sei, als auch Foucaults Ansicht, dass sich freiere Formen der Subjektivität den herrschenden Disziplinierungsmechanismen entgegen zu stemmen hätten, verweisen am Ende selbst wieder auf stärkere, d.h. kontexttranszendierende Prinzipien, die nötig wären, um historische Wertekonflikte dieser Art bereits auf theoretischer Ebene vorzuentscheiden. 71 Bevor wir nun zur Darstellung solcher sozialpathognostischer Ansätze übergehen, die der Gefahr normativer Beliebigkeit sehr viel offensiver begegnen, indem sie ausdrücklich eine Auszeichnung allgemeinverbindlicher Standards anzielen, sei hier aber zunächst noch ein vierter kulturalistischer Ansatz erwähnt. Dieser fallt vor allem deshalb ein wenig aus dem Rahmen, weil er sich um die Möglichkeit einer positiven Auszeichnung normativer Kriterien gar nicht erst kümmern will. Ja, wie sich zeigen wird, sind die gemeinten Sozialpathognostiker nicht einmal mehr an einer adäquaten Beschreibung unserer Gegenwart interessiert. Denkt man an die Werke von so unterschiedlichen Autoren wie z.B. Jean Baudrillard, Giorgio Agamben, Dietmar Kamper oder auch Peter Sloterdijk, so mag dem Leser der Verdacht kommen, dass es sich bei deren Kulturkritik eher um eine gezielte Übertreibung vorfindlicher gesellschaftlicher Notstände handelt. 72 Diese Autoren überzeichnen die gegenwärtige gesellschaftliche Lage in einer provokativen Schärfe, die den Leser offenkundig zu einer ganz besonderen Form der Bewusstwerdung verleiten soll. Ich möchte diese Beiträge unter dem Stichwort einer hyperbolischen Sozialpathognostik zusammenfassen. Wir haben es dabei mit einer Art philosophischer Science Fielion zu tun. Wenn etwa Baudrillard das völlige "Absterben der realen Welt" und deren Auflösung in "totale mediale Simulation" konstatiert oder Agamben von einer biopolitisch induzierten, allgemeinen Reduzierung des Menschen auf das "nackte Leben" nach dem Vorbild des "Lagers" spricht, wenn Kamper die massenmedial generierte "Zerstückelung" der Menschen "in geistlose Körper

71 Vgl. Onora O'Neill (2000): "Starke und schwache Gesellschaftskritik in einer globalisierten Welt", in: Deutsche Zeitschriftfür Philosophie, 5/2000. 72 Ich weise im Hinblick auf diese vier Autoren lediglich auf jeweils ein wichtiges Werk hin: Jean Baudrillard (1978): Agonie des Realen, Berlin: Merve; Giorgio Agamben (2002): Homo Sacer, Frankfurt/Main: Suhrkamp; Dietmar Kamper (1995): Unmögliche Gegenwart, München: Fink; Peter Sloterdijk (1998ff.): Sphären I-III. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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und körperlosen Geist" registriert oder Sloterdijk die so genannte Globalisierung als ein "Synchronstreßsystem im Weltmaßstab" deutet, das für moderne Menschen katastrophale "Immunschwächen" mit sich bringt, dann ist rhetorisch, aber auch der Sache nach angezeigt, dass hier gezielt zeitdiagnostische Übertreibungen vorgenommen werden. Die hyperbolische Science Fiction soll offenbar eine Art self destroying prophecy bewirken - in der Hoffnung, dass das Vorhergesagte gerade nicht eintreten möge. Eine Karikatur der gesellschaftlichen Verhältnisse und Entwicklungstendenzen dient dazu, im Leser eine Verstimmung hervorzurufen oder gar einen Schrecken auszulösen, durch den ein längst überfälliges Umdenken in Gang kommen soll. In der Regel schlägt der Hyperboliker dazu einen nahezu apokalyptischen Ton an, dem der "Charme des Endgültigen" anhaftet. 73 Nur zu oft wird auf den ersten Blick nicht einmal sichtbar, ob dessen Überlegungen tatsächlich kritisch gemeint sind oder ob er das vermeintliche Unheil lediglich nüchtern registriert. Der bisweilen sogar affirmative Gestus hyperbolischer Reflexionen ist freilich selbst nur rhetorisches AusdrucksmitteL Das vermeintliche Einverständnis des Autors mit dem von ihm diagnostizierten Verhängnis soll den bewirkten Verfremdungseffekt nur noch verstärken, damit sich im ohnehin schon aufgewühlten Leser stärkerer Widerstand regt. Bereits im Zusammenhang der Ideologiekritik sind wir auf den Umstand aufmerksam geworden, dass die in einer kulturellen Gemeinschaft herrschenden Wertvorstellungen derart verkrustet und dogmatisch verblendet sein können, dass Chancen auf davon abweichende, kritische Einsichten von vomherein vereitelt sind. Das kulturelle Selbstverständnis einer Gemeinschaft mag dann auf eine Weise eingespielt sein, in der es dauerhaft gegen Kritik sowohl von innen wie auch von außen abgeschottet ist. In Fällen dieser Art kann eine radikale Form "welterschließender Kritik" notwendig werden, die den pathologisch erstarrten Wissenshorizont rhetorisch aufzubrechen versucht, um den verblendeten Individuen veränderte oder noch unbekannte Denkperspektiven zu eröffnen. 74 Eben dies soll hyperbolische Kritik leisten. Deren Verpflichtung zu einer, wenn man so will, wahrheitsgetreuen oder adäquaten Beschreibung der Wirklichkeit fällt eher unverbindlich oder besser indirekt aus: Der welterschließende oder eben hyperbolische Kritiker verlmüpft mit seinen zumeist in Essay-Form vorgetragenen Überlegungen gar keinen Wahrheitsanspruch in dem Sinne, dass er sich vom Leser gegen Ende der Lektüre dessen Zustimmung versprechen würde. Stattdessen ist an diesen Essays geradezu der Wunsch ablesbar, der Leser möge dem Autor eben nicht beipflichten, 73 Nicht selten meint man gar ein gewisses Augurenlächeln zu vernehmen, aus dem der Triumph der Verkündung spricht. Dazu Hans Magnus Enzensberger (2000): "Das digitale Evangelium", in: Der Spiegel, 2/2000. 74 James Bohrnarr (1993).

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sondern an ihm Anstoß nehmen und in der dadurch bewirkten Konfrontation und Verwirrung zu neuen, eigenen Wahrheiten kommen. Demnach ist hyperbolische Kritik als ein "unversöhnliches Schreiben" zu charakterisieren, das auf Widerrede hoffC 5 Folglich wäre mit Blick aufunser metakritisches Grundproblem zu sagen: Die Idee einer Welt, die von der diagnostizierten Katastrophe unbeschadet wäre, muss vom Hyperboliker gar nicht eigens ausgezeichnet oder gerechtfertigt werden. Sie soll im Leser durch eine radikale Veränderung seiner Realitätssicht regelrecht evoziert werden. Indem von den tatsächlichen Lebensbedingungen eine ungewöhnliche und bisweilen schockierende Neubeschreibung vorgenommen wird, nimmt "schlagartig alles die neue Bedeutung eines pathologischen Zustandes" an, so dass die bisher gehegten Wertüberzeugungen des Lesers kaum unverändert bleiben können. 76 Demnach wird man der rhetorischen Emphase, von der die hyperbolische Kritik getragen wird, kaum gerecht werden, wollte man das Fehlen normativer Maßstäbe bemängeln. Zweifellos ist aus den Werken der genannten Autoren häufig nur schwer herauszulesen, wie gegenüber dem diagnostizierten warst case eine nicht-pathologische Gesellschaft auszusehen hätte. Auch hier bleibt der Leser letztlich allein gelassen. Doch auch wenn ihm keine konkreten normativen Kriterien an die Hand gegeben werden, lässt sich eines mit Sicherheit festhalten: Eine nicht-pathologische Gemeinschaft zeichnete sich dadurch aus, dass all jene beängstigenden Symptome eben nicht auftreten würden, die der Hyperboliker an die Wand malt, als sei es der Teufel, den es zu vertreiben gilt. 77 Fassen wir zusammen: Auf die eine oder andere Weise sind alle vier der hier "kulturalistisch" genannten Ansätze mit dem Vorwurf konfrontiert, in normative Beliebigkeit zu verfallen: War die immanente Kritik davon ausgegangen, dass die Maßstäbe der Sozialpathognostik immer schon in die sittliche Diskurswelt der eigenen Gemeinschaft eingelassen sind und dort lediglich wiederentdeckt zu werden brauchen, so war doch auf metakritischer Ebene unklar geblieben, wie der lokale Kritiker bessere von schlechteren Wertvorstellungen unterscheiden kann. Hatte sich die neuere Ideologiekritik aus antipaternalistischer Vorsicht heraus jeglicher Konstatierung von "wahren" Bedürfnissen verweigert, so konnte den unter Verblendungsverdacht stehenden

75 Dietmar Kamper (1996): Abgang vom Kreuz, München: Fink, S. 180f. 76 So Axel Honneth mit Blick auf das vielleicht prominenteste Vorbild hyperbolischer Kritik. Siehe ders. (2000b): "Über die Möglichkeit einer erschließenden Kritik. »Die Dialektik der Aufklärung« im Horizont gegenwärtiger Debatten über Sozialkritik", in: ders. (2000c): Das Andere der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 81. 77 Insofern könnte auch von einer diabolischen Sozialkritik die Rede sein.

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Individuen am Ende überhaupt keine konkrete Orientierungshilfe mehr angeboten werden. Zielte die kulturhermeneutische Sozialpathognostik auf eine historische Rekonstruktion spezifisch moderner Lebensideale, so blieb auch hier unklar, anhand welcher "höherer" Werte sich die Dekonstruktion, aber auch die Affirmation dieser Ideale sollte rechtfertigen lassen. Musste schließlich die hyperbolische Kritik zugunsten des von ihr erzielten rhetorischen Effekts in deskriptiver wie in normativer Hinsicht missverständlich bleiben, lief sie Gefahr, einen verwirrten Leser zurückzulassen, dessen Wertvorstellungen sich gänzlich aufzulösen drohten. Man mag nun in der normativen Enthaltsamkeit dieser kulturalistischen Ansätze deren eigentliche Stärke begründet sehen. Der Sozialkritiker, so heißt es häufig, dürfe all denjenigen, die unter den Folgen von gesellschaftlichen Missständen leiden, nicht einfach seine eigenen partikularen Wertvorstellungen überstülpen. Er habe sich vielmehr an deren Idealen zu orientieren. Auch wenn man diese Kritik ernst nehmen möchte, kann man ihr Folgendes entgegenhalten: Wenn die konzeptionelle Dringlichkeit des oben aufgeworfenen Begründungsproblems erst einmal erkannt ist, wird man diesem nicht dadurch beikommen können, dass man ihm ausweicht. Solange die Sozialphilosophie keine hinreichend klaren und verallgemeinerbaren Kritikmaßstäbe zu setzen vermag, wirdjene zentrale Frage nach ihrer Überzeugungskraft unbeantwortet bleiben, die da lautet: Wie hätte gegenüber den jeweils diagnostizierten Sozialpathologien eine "gesunde" Gesellschaft auszusehen?

1.4 Ethisch-moralische Ansätze der Gesellschaftskritik Wenden wir uns nun solchen sozialphilosophischen Begründungsstrategien zu, die dem Vorwurfnormativer Beliebigkeit dadurch begegnen, dass sie sich explizit um eine Rechtfertigung verallgemeinerbarer Standards bemühen. Die im Folgenden zu skizzierenden Ansätze sollen den pluralistischen Kontext der jeweiligen Gesellschaft, deren Missstände sie festhalten, zumindest insoweit transzendieren, dass eine Auszeichnung von Grundwerten und Grundgütern möglich wird, deren Gültigkeit und Wichtigkeit zumindest für alle der von den diagnostizierten Pathologien Betroffenen außer Frage stehen soll. Kritikansätze dieser Art werden hier ethisch-moralisch genannt, weil die von ihnen in normativer Hinsicht geleistete Begründungsarbeit von der Idee eines individuellen oder auch kollektiven "Guten" geleitet ist, dessen Realisierung angesichts der vorhandenen Lebensumstände in Gefahr sein soll. Man kann hier zwischen einer "gerechtigkeitsorientierten", einer "minimalistischen", einer "intersubjektivistischen" und einer "neoeudaimonistischen" Version von Sozialkritik unterscheiden.

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Die Perspektive einer gerechtigkeitsorientierten Sozialkritik stellt sich dann ein, wenn sich der Sozialpathognostiker dazu entschließt, zunächst auf die Ergebnisse der zeitgenössischen Politischen Philosophie zurückzugreifen, die es, wie zu Beginn dieses Kapitels angedeutet, mit der primär konstruktiv gemeinten Frage nach den Strukturen und Institutionen einer "wohlgeordneten Gemeinschaft" zu tun hat. Zu einer kritischen Diagnose der Gesellschaft kann es dann freilich erst durch Umkehrung der normativer Perspektive kommen: Ist die Idee einer "guten" oder auch "gerechten" Gesellschaft erst einmal entworfen, so mag es nahe liegen, dieses Ideal mit der gegebenen Faktenlage abzugleichen, um zu ergründen, inwieweit die vorhandene Gesellschaft von der zuvor konzeptionalisierten Idee einer wahrhaft guten Gesellschaft abweicht. Betrachten wir dazu jene seit gut dreißig Jahren anhaltende Diskussion um eine Theorie der Gerechtigkeit, wie sie seinerzeit durch das gleichnamige Werk von John Rawls in Gang gebracht worden ist.n John Rawls hat darin der überaus grundsätzlichen Frage nachzugehen versucht, welche moralischen Grundintuitionen Menschen zum Ausdruck bringen, wenn sie über Gerechtigkeit reden. Im Anschluss an die vertragstheoretische Tradition der Politischen Philosophie gerät auch bei Rawls das Gedankenexperiment eines gesellschaftlichen "Urzustandes" zum Dreh- und Angelpunkt der Theorie, wenngleich auf überaus originelle Weise: Rawls lässt die Teilnehmer seiner fiktiven Übereinkunft bekanntlich hinter einem "Schleier des Nichtwissens" verschwinden, der sie all das vergessen lässt, was sie zu besonderen Individuen macht - ihre Herkunft, ihre Abstammung, ihr Geschlecht, ihr Alter, ihren Status, ihre Klasse, ihre konkreten Lebensziele, ihre besonderen Talente etc. Angesichts dieser Unwissenheit können die Personen nicht voraussehen, an welchem Platz der Gesellschaft sie sich wiederfinden werden, wenn sich der Schleier des Nichtwissens lüftet. Nun fragt Rawls: Woraufwürden sich die Vertragspartner einigen, wenn man sie bitten würde, die Grundsätze einer wohlgeordneten, gerechten Gesellschaft festzulegenT9 Die berühmte Antwort lautet: Sie werden zuallererst zwei fundamentale Gerechtigkeitsprinzipien festlegen. Während der erste Grundsatz, das "Gleichheitsprinzip", den Anspruch eines jeden Bürgers auf institutionelle 78 John Rawls (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Zur Diskussion insgesamt siehe Rainer Forst (1994): Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp; Will Kymlicka (1997): Politische Philosophie heute, Frankfurt/Main u. New York: Campus; Wolfgang Kersting (2000): Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart: Metzler. 79 Rawls (1975), Kapitel 3. Für eine kürzere Fassung des gesamten Arguments siehe ders. (1992a): "Gerechtigkeit als Faimeß: politisch und nicht metaphysisch", in: ders. (1992b): Die Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 261.

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Gleichbehandlung und Gleichverteilung festschreibt, fungiert der zweite Grundsatz, das "Differenzprinzip", als Leitlinie für verteilungspolitische Ausnahmen. Demzufolge haben gesellschaftliche Ungleichheiten bzw. Ungleichverteilungen allein dann als legitim zu gelten, wenn sie den am schlechtesten Situierten zum Vorteil gereichen. Rawls ist nicht daran interessiert, alle nur erdenklichen Verteilungsunterschiede zu beseitigen, sondern allein jene, durch die einzelne Personen benachteiligt werden. Damit ist im Hinblick auf die gesellschaftlich zu verteilenden sozialen Chancen und Grundgüter eine Art Quotenregelung benannt: Die Bevorzugung weniger begünstigter Gesellschaftsmitglieder wird solange befürwortet, bis die als ungerecht einzustufenden Unterschiede ausgeglichen sind. Nun ist aber mit Blick auf die normative Tragweite der Rawlsschen Begründungsfigur sowie hinsichtlich der daraus abgeleiteten Liste sozialer GrundgüterR 0 zunächst unklar geblieben, ob diese Überlegungen tatsächlich als eine "umfassende", d.h. universalistische Konzeption der Moral gemeint sein sollten. In späteren Arbeiten hat Rawls auf entsprechende Kritik reagiert und deutlich zu machen versucht, dass seine Theorie als eine "politische" Konzeption der Gerechtigkeit aufgefasst werden müsse, die auf den spezifischen Kontext westlicher, demokratischer Rechtsstaaten zugeschnitten sei. Sie könne daher nicht schon für alle nur erdenklichen Gesellschaften und Kulturen Geltung beanspruchen. 81 Im Zuge dieser zunächst klärenden Einschränkung ist es jedoch zu einer Verlagerung des normativen Schwerpunktes seines Werkes gekommen. In den Vordergrund seiner späteren Arbeiten rückte zusehends die äußerst formal gehaltene Idee einer von "öffentlicher Vernunft" geleiteten, konsensualen Einigung zwischen demokratischen Staatsbürgern. Die zuvor durchaus substanziell gefasste Forderung nach einer sozialen Gleichverteilung notwendiger Grundgüter verblasste, so dass man bei der Suche nach den sozialkritischen Maßstäben seines Werkes nunmehr auf eine im Grunde kulturalistische Begründungsfigur a la Michael Walzer zurückverwiesen war. Den Anspruch auf universelle Geltung seiner Theorie büßt Rawls erklärtermaßen ein, um die konkrete Ausgestaltung der Gerechtigkeitsidee den betroffenen Staatsbürgern selbst zu überlassen. Selbstredend ist aber auch schon gegenüber dem ursprünglichen Gerechtigkeitsmodell vielfältige Kritik geäußert worden. 82 An dieser Stelle soll lediglich ein zentraler Punkt Erwähnung finden, der vor allem von Ronald Dworkin in die Diskussion eingebracht worden ist und uns zu dessen Auffas80 Rawls (1975), Abschnitt 15. 81 Siehe neben Rawls (1992b), z.B. S. 365ff., vor allem ders. (1998): Politischer Liberalismus, Frankfurt/Main: Suhrkamp. 82 Dazu exemplarisch: Norman Daniels (Hg.) (1989): Reading Rawls, Stanford: Stanford UP.

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sung von Gerechtigkeit hinüberleiten soll. 83 Rawls, so lautet der Vorwurf, habe sich in seiner Gerechtigkeitstheorie zu sehr auf die Ungleichverteilung sozialer Güter konzentriert und dabei dem Umstand zu wenig Beachtung geschenkt, dass Menschen auch aufgrund ihrer "natürlichen" Ausstattung unverdient benachteiligt sein können; man denke hier etwa an genetische Prädispositionen, Intelligenz, Talente etc. Zwar sorgten die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze von Rawls dafür, dass die Verteilung sozialer Grundgüter nicht von natürlichen Gaben abhängig sein dürfe. Aber ob und wie diese natürlichen Ungerechtigkeiten als solche aufgehoben werden können, müsse unklar bleiben. 84 Tatsächlich will Dworkin der Ansicht folgen, dass mit unserem alltäglichen Gerechtigkeitsverständnis die Hoffnung verknüpft sei, dass in einer wahrhaft gerechten Gesellschaft auch etwaig unverschuldete Nachtteile zum Ausgleich kämen. Dann erst hätten wirklich alle Menschen, trotz gegebener Unterschiede im Einzelnen, die gleiche Chance, erfolgreich die Herausforderungen des Lebens zu meistern. 85 Man solle daher, so Dworkin, die gut gemeinte egalitäre Forderung, jeden Menschen "als Gleichen" zu behandeln, nicht mit der abwegigen egalisierenden Forderung verwechseln, ihn strikt "gleich" zu behandeln.R 6 Denn natürliche Unterschiede können durchaus eine Ungleichverteilung zugunsten der schlechter Gestellten notwendig werden lassen. Aber können solche schicksalhaften Nachteile dadurch tatsächlich ausgeglichen werden? Dworkin favorisiert in seinem Gerechtigkeitsmodell einen modifizierten "Schleier des Nichtwissens" und stellt sich die ursprüngliche Verteilung der Grundgüter als eine große Auktion vor, deren Teilnehmer nicht wissen, ob sie natürliche Benachteiligungen aufweisen. Jeder Auktionsteilnehmer erhält die gleiche Kauflrraft, zugleich aber auch die Möglichkeit, einen Teil seines Geldes in eine Versicherung gegen unverschuldete Ungleichheiten zu investieren. Nach Ende der Auktion sollen die tatsächlich Benachteiligten aus dem sich dabei ansammelnden Fonds entschädigt werden. Mit diesem "Versicherungsmodell" will Dworkin einen konzeptionellen Mittelweg beschreiten zwischen 83 Dazu vor allem Ronald Dworkin (1981 a): "What is Equality? Part 1: Equa1ity of Welfare", in: Philosophy and Public Affairs, 3/1981; ders. (1981b): "What is Equality? Part 2: Equality of Resources", in: Philosophy and Public Affairs, 4/1981. 84 Bei Rawls (1975), S. 123, heißt es: "Die natürliche Verteilung ist weder gerecht noch ungerecht." Dazu etwa Amartya Sen (1993a): Jnequality Reexamined, New York u. Cambridge: Harvard UP, S. 81 ff. 85 Dazu Ronald Dworkin (1990): Foundations of Liberal Equality. The Tanner Lectures on Human Values, XI, Salt Lake City: Utah UP. 86 Vgl. Ronald Dworkin (1987a): "Liberalism", in: ders. (1987b): A Matter of Principle, Cambridge: Harvard UP.

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der kategorialen Vernachlässigung unverschuldeter Nachteile bei Rawls und der letztlich wohl unrealistischen Hoffnung, dass sich diese Nachteile jemals vollkommen ausgleichen lassen werden. Will eine Theorie der Verteilungsgerechtigkeit auch aufpraktische Umsetzbarkeit bedacht sein, so Dworkin, kann sie daher letztlich immer nur eine zweitbeste Lösung anbieten. 87 Mit "praktischer Umsetzbarkeit" ist dann auch das Stichwort zu einer Überprüfung der sozialphilosophischen Relevanz derartiger Gerechtigkeitstheorien gefallen. Zu Beginn dieses Abschnitts war etwas vorschnell behauptet worden, es sei nahe liegend, die im Rahmen der Politischen Philosophie erarbeiteten Gerechtigkeitsmodelle mit der konkret vorfindliehen Faktenlage abgleichen zu wollen, um Phänomene sozialer Ungerechtigkeit in den Blick zu bekommen. Allerdings muss festgestellt werden, dass die konzeptionelle Chance einer gerechtigkeitsorientierten Sozialphilosophie bislang weitgehend ungenützt geblieben ist, so viel auch in den letzten Jahren normativkonstruktiv über Gerechtigkeit diskutiert wurde. 88 Das mag an der Abstraktheit der verfügbaren Gerechtigkeitstheorien liegen, vielleicht aber auch an deren hohen Ansprüchen. Angesichts von zum Teil eklatanten sozialen und ökonomischen Ungerechtigkeiteil auch in der westlichen Welt müssen derart unbescheidene Vorstellungen von distributiver Gerechtigkeit wie ein utopisches Wolkenkuckucksheim anmuten, dessen Realisierung vermutlich eher mit einer sozialistischen Planwirtschaft als mit dem Bestand des kapitalistische Wohlfahrtsstaates kompatibel wäre.R 9 Daher mag man sich dazu genötigt sehen, sich auf eine Art "Grundsatzliberalismus" zurückzuziehen und aus der Diskussion praktischer Anwendungsfragen weitgehend herauszuhalten. 90 Dieser Missstand hat in den letzten Jahren manchen Autor auf den Plan gerufen, der sich aufgrund der letztlich unrealistischen Gerechtigkeitstheorien zu einem vergleichsweise bescheidenen Plädoyer veranlasst sah. So lässt sich heute etwa den Arbeiten von Avishai Margalit und Richard Rorty die sozialpathognostische Grundüberzeugung entnehmen, dass eine Kritik gesellschaftlicher Fehlentwicklungen bereits völlig ausreichend untermauert sei, wenn sich diese auf einen Begriff nicht der gerechten, sondern der bloß "anständigen" Gesellschaft berufen könne. Die heutigen Gesellschaftssysteme mögen zwar tatsächlich zahlreiche Ungerechtigkeiteil aufweisen, doch dürfe die hehre Gerechtigkeitsdebatte nicht den Blick darauf verstellen, dass mancherorts

87 Dworkin (1981b). 88 Ausnahmen sind Arbeiten von Gerald A. Cohen, Amartya Sen, Rodney G. Peffer oder auch Nancy Fraser. 89 Kymlicka (1997), S. 93. 90 Dazu William Connolly (1984a): "The Dilemma of Legitimacy", in: ders. (Hg.) (1984b), Legitimacy and the State, New York: New York UP.

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nicht einmal die Minimalstandards eines zivilisierten, "menschenwürdigen" Miteinanders erfüllt seien. 91 Auf je eigene Weise knüpfen Margalit und Rorty dabei an Judith N. Shklars Motto "Putting Cruelty First"92 an, wenn sie das negativ gehaltene Prinzip der Vermeidung von Grausamkeit zum normativen Ausgangspunkt ihrer gesellschaftskritischen Überlegungen machen. Von Grausamkeit könne vor allem dort gesprochen werden, wo Menschen von anderen "gedemütigt" werden, d.h. wo ihnen das Recht auf Behandlung als Gleiche unter Gleichen streitig gemacht werde. Während Margalit den demütigenden Charakter sozialer und institutioneller Praktiken daran bemessen will, ob der Mensch "als Mensch" geachtet oder stattdessen wie ein Ding, eine Maschine oder ein Tier behandelt wird, hat Rorty vor allem den paradigmatischen Fall der Folter vor Augen. 93 Mit Überlegungen dieser Art ist eine minimafisfische Form der Sozialpathognostik in Aussicht gestellt, die auf elementare Umgangsformen einer zivilisierten Gesellschaft zielt. Fragt man bei Margalit und Rorty nach dem positiven Maßstab ihrer Kritik, d.h. nach eben jenem Prinzip, das durch grausame oder demütigende Akte verletzt wird, so ist dieses Kriterien nur unschwer aus ihren Schriften herauszulesen. Es ist das Ideal eines aufrechten Lebens in "Würde" und "Selbstachtung", von dem abhängt, ob eine Gesellschaft das Prädikat "human" verdient. Allerdings hegen beide Autoren Zweifel an der Möglichkeit, Überlegungen dieser Art in die Form einer philosophischen Theorie gießen zu können. Der als Relativist geltende Rorty geht davon aus, dass selbst noch die Forderung nach Grausamkeitsvermeidung einer Setzung gleichkomme, die sich bei genauerem Hinsehen als willkürlich und philosophisch nicht weiter begründbar erweise, so dass selbst noch der universalistische Gehalt der Menschenwürdeidee bestritten werden könne. 94 Margalit hingegen befürchtet, dass sich der im Würdebegriff versteckte "Empfindungsgehalt" gänzlich aufzulösen beginnt, wenn man ihn genauer philosophisch zu analysieren versucht. 95 Dennoch, d.h. trotz dieser Bedenken, sind die Überlegungen beider Autoren als ein engagiertes Plädoyer für menschenwürdige Lebensverhältnisse zu deuten, womit ein "dünner" Begriff der Moral skizziert wäre, der den Minimalstandard eines von Grausamkeit unberührten Lebens in Würde und Selbstachtung festschreibt. 96 91 Avishai Margalit (1997): Politik der Würde, Berlin: Alexander Fest; Richard Rorty (1989): Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/Main: Suhrkamp. 92 Judith N. Shklar (1984): Ordinary Vices, Cambridge: Harvard UP. 93 Margalit (1997), Kap. 6.; Rorty (1998), Kap. 8. 94 Rorty (1998), S. 14f. 95 Margalit (1997), S. 331 f. 96 Das bringt beide Autoren in die Nähe der metakritischen Überlegungen von Walzer (1994).

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Damit ist der entscheidende Unterschied zwischen einer "bloß" menschenwürdigen Gesellschaft und der zuvor diskutierten gerechten Gesellschaft markiert. In einer menschenwürdigen Gesellschaft käme es zu keinen Grausamkeiten. Sie wäre frei von jeder Art der institutionellen Demütigung. Die gerechte Gesellschaft hingegen wäre nicht nur, in diesem Sinne, "anständig", sie sorgte darüber hinaus für eine umfassend faire Verteilung materieller wie ideeller Ressourcen. Je nach Perspektive ist damit eine umgekehrte Rangfolge beider Prinzipien benannt: In normativer Hinsicht hat das Ideal der Gerechtigkeit gegenüber dem der Menschenwürde als das anspruchsvollere Prinzip zu gelten, da es das letztere bereits umfasst. In politischer Hinsicht hingegen kann die Realisierung einer menschenwürdigen Gesellschaft weitaus dringlicher und zunächst wohl auch aussichtsreicher erscheinen als die Etablierung wahrhaft gerechter Gesellschaftsstrukturen. 97 Aus der metakritischen Sicht der Sozialphilosophie mag man sich daher in der Verlegenheit sehen, entscheiden zu müssen, ob man das anspruchsvollere Ideal der Gerechtigkeit aufgreifen will, und zwar auf die Gefahr hin, dass die Theorie unrealistische Züge annimmt, oder ob man stattdessen dem momentan dringlicheren Interesse an einer menschenwürdigen Gesellschaft folgen möchte, in diesem Fall allerdings mit dem Risiko, kritischen Spielraum zur Diagnose solcher Missstände zu verschenken, die zwar Ungerechtigkeiten darstellen, darum aber nicht schon als menschenunwürdig gelten müssen. 98 Von ganz besonderer Relevanz ist jedoch der folgende Umstand: Greift die Idee der anständigen Gesellschaft auf das Motiv des "bloß" menschenwürdigen Lebens zurück, so muss das normativ höher gestufte Gesellschaftsideal der Gerechtigkeit entsprechend einen anspruchsvolleren Begriff vom menschlichen Wohlergehen lancieren. Sobald ein sozialkritisches Unternehmen den Horizont der menschenwürdigen Gesellschaft übersteigt, wird es ein Lebensideal propagieren müssen, dessen Realisierung noch wünschenswerter wäre als das menschenwürdige. 99 Damit liegt sogleich das Problem auf dem Tisch, ob die sozialphilosophische Frage nach einer nicht-pathologischen Gesellschaft überhaupt noch länger abzukoppeln ist von der spezifisch "ethischen" Frage nach dem individuell guten Leben. 100 Dies soll uns zu zwei weiteren ethisch-moralischen Kritikansätzen fuhren, die an der Idee einer wohlgeordneten Gesellschaft ausdrücklich deshalb interessiert sind, weil es

97 98 99

Vgl. Margalit (1997), S. 310-325. Man nehme das Beispiel ungleicher Bildungschancen. Siehe die Beiträge in R. Bruce Douglass/Gerald M. Mara/ Henry S. Richardson (Hg.) (1990): Liberalism and the Good, New York u. London: Routledge. I 00 Vgl. Martin See! (1996a): "Wohlergehen. Über einen Grundbegriff der praktischen Philosophie", in: ders (1996b): Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt/Main.

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sich dabei um die "sozialen Bedingungen" individuellen Wohlergehens handelt. Dabei wird der erste dieser beiden Ansätze bestreiten, dass sich die Idee guten Lebens aufphilosophischem Wege konkret füllen lässt, so dass er sich auf notwendige Voraussetzungen des Guten konzentrieren wird. Der zweite Ansatz hingegen verzichtet selbst noch auf diese ethisch-philosophische Bescheidenheit, indem er der Idee des guten Lebens auch einen substanziellen Gehalt gibt. Wenden wir uns zunächst jenen Kritikansätzen zu, die im Folgenden intersubjektivistisch genannt werden, weil es darin um die Benennung jener zentralen Interaktionsmodi geht, von denen es heißt, sie seien notwendige Voraussetzungen für eine gelingende "Ich-Identitätsentwicklung". Überlegungen dieser Art sind in der jüngeren Vergangenheit vor allem im direkten Einzugsbereich der Kritischen Theorie vorgetragen worden. Es ist insbesondere Jürgen Habermas und dessen Theorie des kommunikativen Handelns 101 zu verdanken, dass die Sozialphilosophie zunehmend den Blick auf die Bedingungen gelingenden Lebens richtete. Nun mag es manchem seiner Leser auf den ersten Blick gewagt erscheinen, die Arbeiten von Habermas mit einer Konzeptionalisierung guten Lebens in Verbindung zu bringen, hat Habermas selbst sich doch häufig ausdrücklich gegen die Möglichkeit einer philosophischen Explikation spezifisch ethisch-existenzieller Angelegenheiten ausgesprochen.102 Bei gerrauerem Hinsehen jedoch bezog sich diese Skepsis stets ausschließlich auf den V ersuch, allgemeingültige Aussagen über den Inhalt guten Lebens treffen zu wollen. Die Möglichkeit aber, philosophische Überlegungen eher "formaler" Art über allgemeine Bedingungen menschlichen Wohlergehens zu formulieren, sollte damit nicht schon ausgeschlossen werden.103 Selbst noch am Horizont seiner überaus formal gehaltenen Arbeiten zur Diskursethik zeichnete sich das normative Fernziel ab, mit der "Schutzvorrichtung" der Moral die zentralen Voraussetzungen individuell gelingenden Lebens ausfindig zu machen. 104 Mit der bereits 1981 erschienenen Theorie des kommunikativen Handeins war hingegen primär das ernorm anspruchsvolle Unterfangen einer Reaktuali101 Habermas (1981a). 102 Siehe vor allem die Beiträge in: Habermas (1991), Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/Main: Suhrkamp, bes. S. 184f. 103 Nach einer inzwischen breit geführten Debatte um die Aktualität und Dringlichkeit ethisch-philosophischer Theoriebildung- siehe Amd Poilmann (1999), "Gut in Form. Die neuere Debatte um eine Philosophie des »guten Lebens« im Überblick", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 4/1999 - hält inzwischen nicht einmal Habermas selbst mehr eine derartige Enthaltsamkeit für angebracht. Siehe ders. (2001 ): Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt/Main. Suhrkamp, bes. S. 17. 104 Habermas (1991), besonders S. 15f.

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sierung Kritischer Theorie verbunden. Der aufwendige Argumentationsgang des Werkes, mit dem eine Synthese aus mikrosoziologischer Handlungstheorie, makrosoziologischer Entwicklungstheorie sowie zeitdiagnostischer Kritik angezielt war, kann hier selbstredend nur im Hinblick auf dessen sozialpathognostische Implikationen zur Darstellung kommen. Wenden wir uns daher der zentralen Pathologiediagnose des Buches zu, die schon bald nach Erscheinen größte Popularität erlangen sollte. Habermas stellt fest, dass die "Lebenswelt" - gemeint ist hier das Reservoir kulturell eingespielter Hintergrundgewissheiten, aus dem sich kommunikativ handelnde Menschen im Rahmen ihrer Alltagspraxis mit dem nötigen Wissen zur Bewältigung ihrer Probleme versorgen 105 - in der Modeme einem Prozess der "Rationalisierung" unterworfen worden ist. Die Säkularisierung, d.h. das Verblassen religiös geprägter Weltbilder, und auch die modernen Wissenschaften haben den Menschen gegenüber seinen bloß tradierten Gewissheiten misstrauisch werden lassen. War der kulturell verfügbare Wissensfundus lange Zeit durch die Autorität der staatlichen und kirchlichen Obrigkeiten sowie durch die Starrheit der traditionellen Gesellschaftsordnung garantiert, geriet er mit deren Machtverlust zunehmend zur Verhandlungssache. Die Bewohner der Lebenswelt, so Habermas, haben nunmehr selbst und gemeinsam über die Geltungsansprüche des kulturell verfügbaren Wissens zu debattieren. Die kritische Zeitdiagnose von Haberrnas knüpft unmittelbar an diese Rekonstruktion einer Rationalisierung der Lebenswelt an. Es sei zu beobachten, so Haberrnas, dass die moderne Lebenswelt bloß "einseitig" rationalisiert worden ist. Die wachsenden Zwänge der materiellen Reproduktion verursachen Problemlagen, die der Lebenswelt auf Dauer an die "Substanz" gehen. Die gesellschaftlichen Systemimperative, vor allem in Ökonomie und Verwaltung, dringen selbst in solche Bereiche der Lebenswelt ein, die zuvor wesenhaft kommunikativ integriert waren, deren Reproduktion also maßgeblich auf Verständigung beruhte. Habermas ist der Ansicht, dass sich die Imperative der materiellen Reproduktion wie Parasiten in den "Poren" der kommunikativen Alltagspraxis einnisten, um die dort kommunikativ Handelnden einseitig auf den Gebrauch ihrer "instrumentellen Vernunft" einzuschwören. Dabei treten alternative Formen von Rationalität in den Hintergrund, die sich, wie etwa die "moralisch-praktische" oder auch die "ästhetische" Vernunft, dem rein objektivierenden Zugang zur Welt widersetzen. Die gesellschaftlichen Strukturzwänge reduzieren den Menschen auf einen bloß unvollständigen bzw. einseitigen Gebrauch seiner verfügbaren Rationalitätspotenziale und damit auf eine eingeengte "Verständigungsform". Nach Maßgabe einer nahezu wildwüchsigen, rein instrumentellen Rationalität wird das kommunikative

105 Habermas (198la), Band 2, Kapitel VI.

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Leben der Gesellschaft zunehmend anonymen Systemanforderungen geopfert. Es ist diese Entwicklung, von der Habermas sagt, sie könne als eine systemisch bedingte "Kolonialisierung der Lebenswelt" beschrieben werden. 106 Im objektivierenden Brennglas einer hegemonialen funktionalistischen Vernunft kann die gesamte Welt allein noch unter dem Gesichtspunkt der instrumentellen Verfügbarkeit in den Blick geraten. In der Modeme ist daher ein ,,fragmentiertes Alltagsbewußtsein" zur Vorherrschaft gelangt, das im Rahmen alltäglicher Interaktionen wie ein Einfallstor wirkt, durch das die nunmehr naturwüchsig erscheinenden Systemimperative der materiellen Reproduktion einmarschieren können wie "Kolonialherren in eine Stammesgesellschaft" .107 Genau an dieser Stelle zeigt sich, dass Habermas auf einen formalen Begriff des Guten rekurrieren muss: Es sind nicht primär die Verzerrungen der Kommunikation zwischen den Bewohnern der Lebenswelt, die dem Diagnostiker ins Auge fallen, diese Verzerrungen werden erst dann als gravierende Störungen verständlich und kritikwürdig, wenn man sie auf ihre pathologischen Auswirkungen auf das Innenleben der Individuen hin untersucht. Schon an früherer Stelle hatte Habermas zu zeigen versucht, und zwar in enger Zusammenarbeit mit dem Psychoanalytiker Alfred Lorenzer, dass psychische Persönlichkeitsstörungen maßgeblich als Verzerrungen individueller Selbstverständigung zu deuten sind, die in den gestörten oder blockierten Kommunikationsverhältnissen der Umwelt ihre Wurzel haben. 108 Wenn das ethisch-existenzielle Selbstverhältnis des Menschen als eine Art Selbstgespräch zu deuten ist, das wir im Umgang mit unseren ersten engen Bezugspersonen erlernen, so Habermas im Anschluss an Sigmund Freud und George H. Mead, dann ist anzunehmen, dass sich Verzerrungen oder gar pathologische Störungen dieser frühen sozialen Kommunikationsverhältnisse im Innem des Individuums niederschlagen. Erst wenn man diese psychoanalytisch geprägte Einsicht auf den Zusammenhang der späteren Kolonialisierungsthese überträgt, vermag die kritische Stoßrichtung der Theorie des kommunikativen Handeins deutlich zu werden. Indem der Umgang der modernen Menschen untereinander aufgrund systemischer Strukturzwänge zunehmend der "Verdinglichung" anheim fällt, kann der in diesen Verhältnissen vergesellschaftete Einzelne dauerhaft kaum der Gefahr entrinnen, am Ende auch sich selbst instrumentell misszuverstehen. Trotz des hohen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsniveaus findet sich das Individuum in ein ihm kulturell ange106 Habermas (198la), Band 2, S. 293. 107 Ebd., S. 522. I 08 Habermas (1973); ders. (1984a): "Überlegungen zur Kommunikationspathologie", in: ders. (1984b), Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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sonnenes Zwangskorsett unvollständig ausgeprägter Rationalitätsstrukturen eingepfercht, das so eng geschnürt ist, dass es pathologische Verformungen der Person und ihres Weltverhältnisses mit sich bringen muss. In methodologischer Hinsicht wird die Sozialpathognostik demnach durch das Feld sozialer Interaktionen hindurchgreifen und sich Phänomenen individueller Pathologien zuwenden müssen. 109 Was auf dem Spiel steht, das ist das in möglichst unverzerrten Kommunikationsverhältnissen zu erwerbende Vermögen gelingender ethisch-existenzieller Selbstverständigung. In dieser Diagnose klingt bereits die Überzeugung an, dass es die idealisierenden Voraussetzungen der intersubjektiven Alltagspraxis sind, d.h. die in dieser zum Ausdruck kommenden ethisch-moralischen Ansprüche, denen sich die Sozialphilosophie zuzuwenden hätte, weil allein hier emanzipatorische Potentiale zu vermuten wären. Diese Ansicht teilt Habermas mit dem ebenfalls in der Tradition Kritischer Theorie stehenden Sozialphilosophen Axel Honneth. 110 Dessen eigene methodische Ausgangsüberlegung steht in direkter Erbfolge des Linkshegelianismus: Die sozialphilosophische Theorie muss genauer über die "vorwissenschaftliche" Instanz Auskunft geben können, in der ihre kritischen Bewertungsmaßstäbe als tiefgreifende ethischmoralische Erfahrungen außertheoretisch verankert sind. Zum Schlüsselproblem der Sozialpathognostik gerät daher der Aufweis einer, so Honneth, "innerweltlichen Transzendenz" von alltäglichen ethisch-moralischen Bedürfnissen, die kritisch über die bestehenden Verhältnisse hinaus auf deren Veränderung zielen. 111 Nun hat aber die Art und Weise, in der Habermas den Ansatz seiner Theorie des kommunikativen Handeins in Richtung der Diskursethik ausbaute, Honneth nie wirklich überzeugen können. Das kommunikationstheoretische Moralkonzept von Habermas setze auf einer derart hohen Abstraktionsebene an, dass diese allenfalls noch von gebildeten Trägerschichten erklommen werden könne. Dagegen, so Honneth, sind in die gesellschaftliche Realität der allermeisten Menschen weitgehend intuitive und sich zumeist spontan äußernde Moralempfindungen und Unrechtsvorstellungen eingelassen, die oftmals gar nicht erst zur Sprache kommen, weil sie durch die spätkapitalistischen Herrschaftsverhältnisse blockiert, verschüttet oder gar integriert sind. Einem kommunikationstheoretischen Ansatz müssen sie daher aus dem Blick geraten. Es sind vielmehr leidvolle Erfahrungen einer oftmals sprachlos blei109 Vgl. Habermas (1981a), Band 2, S. 520ff. 110 Siehe vor allem Axel Honneth (1992): Kampf um Anerkennung, Frankfurt/ Main: Suhrkamp. III Axel Honneth (1990a): "Moralbewußtsein und soziale Klassenherrschaft", in: ders. (1990b): Die zerrissene Welt des Sozialen, Frankfurt/Main: Suhrkamp; ders (1994c), "Die soziale Dynamik von Mißachtung", in: Leviathan, 1/1994.

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benden Verletzung von "Anerkennungsbedürfnissen", die sich aus den sozialen Konflikten unserer Zeit herauslesen lassen sollen. Damit wandelt sich der zeitdiagnostische Charakter linkshegelianischer Sozialkritik: In deren Mittelpunkt kann nun nicht mehr der scheinbar anonym verlaufende Prozess einer "Kolonialisierung der Lebenswelt" stehen, der ein "fragmentiertes Alltagsbewußtsein" bewirkt. Nun muss es vor allem um eine Diagnose derjenigen gesellschaftlichen Ursachen gehen, die für systematische Verzerrungen sozialer Anerkennungsbeziehungen verantwortlich sind und die dadurch einer gelingenden Persönlichkeitsentwicklung der jeweils betroffenen Individuen im Wege stehen. Beimjungen Regel entleiht Honneth die für ihn zentrale Vorstellung, dass der Verlauf einer jeden Persönlichkeitsentwicklung als ein individueller Reifungsprozeß zu verstehen ist, der zugleich das Potenzial sozialer Evolution und Emanzipation in sich birgt. 112 Das Bedürfnis nach Anerkennung individueller Identitätsansprüche und dessen wiederholte Frustration führt zu sozialen Konflikten, die langfristig auf immer anspruchsvollere Formen des gemeinschaftlichen Lebens drängen, in denen die wichtigsten Anerkennungsbedürfnisse der Menschen gestillt wären. Am normativen Horizont der sozialen Kampfarena zeichnet sich somit eine Vision "posttraditionaler Sittlichkeit" ab, die nichts anderes bedeuten würde als ein weitverzweigtes Netz unverzerrter Anerkennungsverhältnisse, in dessen Maschen der Vollzug eines wahrhaft gelingenden und erfüllten Lebens möglich wäre. Fragt man bei Honneth nach eben jenen Formen von Anerkennung, die Menschen sich wechselseitig zukommen lassen müssen, um gesunde Ich-Identitäten ausbilden zu können, so sind die folgenden drei zu nennen: zum einen Liebe seitens unserer primären Bezugspersonen, zum zweiten die im modernen Recht zum Ausdruck kommende Moral gleicher Achtung und zum dritten die Solidarität derjenigen, die sich in ein gemeinsames gesellschaftliches Unternehmen eingebunden wissen. Diese drei elementaren Anerkennungsformen haben nach Honneth als Voraussetzungen für ein gelingendes Leben zu gelten, weil ein Mensch erst durch sie - in dieser Reihenfolge - zu "Selbstvertrauen", "Selbstachtung" und "Selbstwertgeflihl" kommen kann. Entsprechend wird die Sozialphilosophie von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen oder Pathologien genau dann sprechen können, wenn die vorhandenen gesellschaftlichen Interaktionsverhältnisse nicht das Maß an Anerkennung bereitstellen, auf das Individuen im Rahmen ihrer Persönlichkeitsentwicklung notwendig angewiesen sind. 113

112 Dazu und flir das Folgende siehe Honneth (1992). 113 Honneth (1994b).

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Wie schon bei Habermas sind diese normativen Überlegungen insofern formal gehalten, als es bei Liebe, Recht und Solidarität um allgemeine Bedingungen eines jeden gelingenden Lebens geht, ohne dass damit bereits Genaueres über dessen konkreten Inhalt ausgesagt wäre. 114 Auch wenn sich der intersubjektivistische Ansatz in dieser Hinsicht ethisch recht enthaltsam zeigt, so rückt dennoch mit den normativen Leitideen unverzerrter Kommunikationsverhältnisse (Habermas) sowie unverzerrter Anerkennungsverhältnisse (Honneth) die Idee des guten Lebens in den Mittelpunkt der Sozialpathognostik. Hier werden notwendige gesellschaftliche Voraussetzungen des menschlichen Wohlergehens benannt, deren Fehlen von der Sozialkritik als sozialpathologisch zu diagnostizieren wäre. Gleichwohl mag man sich fragen, warum man es bei der Klärung formaler Bedingungen des Wohlergehens belassen muss. Lassen sich vielleicht nicht doch, trotz aller gebotenen antipaternalistischen Vorsicht, auch einige universelle Inhalte gelingenden Lebens auszeichnen? In diese ethisch offensive Richtung weisen heute vor allem jene sozialphilosophisch motivierten Überlegungen, die in enger Zusammenarbeit von Amartya Sen und Martha C. Nussbaum unter dem Stichwort "capabilities approach" erarbeitet worden sind. 115 Der von Sen und Nussbaum entwickelte Ansatz wird an dieser Stelle neoeudaimonistisch genannt, weil er sich ausdrücklich an einer Wiederbelebung der aristotelischen Glücksethik interessiert zeigt. Das Gerüst dieses Theorieansatzes hat der Ökonom und Philosoph Sen im Zuge einer langjährigen Auseinandersetzung mit Rawls einerseits, mit dem zeitgenössischen Utilitarismus anderseits errichtet. Dabei ist er zu der Überzeugung gelangt, dass jede Kritik gesellschaftlicher Missstände auf einer annähernden Vorstellung vom menschlichen Wohlergehen oder genauer: von spezifisch menschlichen "Fähigkeiten" zu fußen habe. Wenn sich die Kritik allein an der Idee einer gerechten Verteilung von Grundgütern orientieren würde, so wie Rawls, dann müsse sie die Tatsache übersehen, dass unter Menschen massive Unterschiede im Hinblick auf deren Fähigkeiten existieren, aus den vorhandenen Grundgütern auch tatsächlich einen Nutzen zu ziehen. Wenn sich die Kritik hingegen allein auf die Frage des outcome, d.h. der faktischen Nutzenrealisierung kapriziert, so wie der Utilitarismus das vorschlägt, so macht sie den Betroffenen bereits auf kategorialer Ebene den 114 Zur Unterscheidung allgemeiner "Bedingungen" und "Inhalte" guten Lebens siehe Martin See! (1995): Versuch über die Form des Glück5, Frankfurt/Main: Suhrkamp, bes. Kapitel 2.2. 115 Amartya Sen (1987): The Standard of Living, Cambridge: Cambridge UP; ders. (1993a); Martha C. Nussbaum (1986): The Fragility ofGoodness, Cambridge: Cambridge UP; dies. (1999a): Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Siehe aber auch Martha C. Nussbaum/Amartya Sen (Hg.) (1993): The Quality ofLife, Oxford: Clarendon.

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"intrinsischen Wert" jener Freiheit streitig, die darin besteht, selbst darüber zu entscheiden, welche der vielgestaltigen Möglichkeiten des Lebens sie ergreifen wollen. 116 Demnach geht es dem Kritikansatz Sens weniger um die konkreten Mittel, über die eine Person verfugen muss, damit sie ein gutes Leben zu führen vermag, noch um den speziellen Nutzen, den sie jeweils aus der Verwendung dieser Mitteln zieht, sondern um die Gewinnung eines Spielraums von "Möglichkeiten und Fähigkeiten", in denen sich individuelle Handlungsvollzüge und Funktionsweisen erst noch entwickeln müssen, damit die betreffende Person zu einer selbstbestimmten Realisierung eigener Lebenspläne fähig wird. Mit der damit angezeigten grundbegriffliehen Konzentration auf menschliche Fähigkeiten lenkt Sen den Blick der Sozialphilosophie in Richtung einer positiver Auszeichnung von solchen konkreten menschlichen Bedürfnissen, mit denen nicht allein notwendige Bedingungen, sondern auch erste Inhalte des menschlichen Wohlergehens oder, wie Sen selbst es ausdrückt, eines hinreichenden "Lebensstandards" markiert wären. 117 Leider wird man aber im Anschluss an die Lektüre Sens ein wenig ernüchtert feststellen müssen, dass die von Sen gelieferte Liste von konkreten Fähigkeiten, die für ein gutes Leben typisch sein sollen, große Lücken aufweist. Zwar finden darauf bereits einige zentrale Aspekte des gelingenden Lebens Erwähnung, z.B. ein adäquater Ernährungs- und Gesundheitszustand oder auch die gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, doch fehlt bei Sen ein systematisches Kriterium, mit dessen Hilfe sich eine detailliertere Auffassung vom menschlichen Wohlergehen erarbeiten ließe. Genau an diesem Punkt kommt ihm Martha Nussbaum zu Hilfe, die Sens Fähigkeiten-Ansatz in Richtung einer sozialphilosophisch motivierten Auffassung von der menschlichen "Natur" ausbauen will. 118 Dabei hat Nussbaum, wie im Übrigen auch Sen, stets die aristotelische Überzeugung vor Augen, dass ein politisches Gemeinwesen primär den Lebensmöglichkeiten seiner Mitglieder gegenüber in der Verantwortung steht. Um genau diesen Verantwortungsbereich abzustecken, zielt Nussbaum auf eine "dicke vage Konzeption des Guten". 119 Dick soll die Theorie insofern sein, als die darin gehsteten 116 Vgl. ders. (1993b): "Capabi1ities and Weli-Being", in: Nussbaum/Sen (1993). 117 Sen (1987). 118 Martha C. Nussbaum (1999b): "Die Natur des Menschen, seine Fähigkeiten und Tätigkeiten: Aristoteles über die distributive Aufgabe des Staates", in: dies. (1999a). Sen selbst istangesichtsder weltweiten Pluralität des Guten in anthro-pologischer Hinsicht skeptischer als Nussbaum. Daher spricht er vorzugsweise von letztlich kulturabhängigen Lebensstandards. 119 Dazu und für das Folgende Martha C. Nussbaum (1993): "Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit", in: Micha Brumlik!Hauke Brunkhorst (Hg.) (1993): Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt/Main: Fischer.

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Bestimmungen weder auf einzelne Aspekte noch auf einen bestimmten Bereich des menschlich Guten eingeschränkt sind. Sie sollen vielmehr die Gesamtgestalt der menschlichen Existenz mit deren wesentlichsten Zwecken und Inhalten erfassen. Gleichwohl, so Nussbaum, muss die Theorie hinreichend vage bleiben, um letztlich doch dem Faktum des Pluralismus gerecht werden zu können. Nussbaum führt ihre Liste des Guten in einer Kombination aus anthropologischer und ethischer Argumentation ein. Zunächst erfährt man, was das Leben zu einem menschlichen Leben macht, danach soll geklärt werden, was das menschliche Leben darüber hinaus zu einem guten menschlichen Leben macht. Folgende menschliche "Fähigkeiten" sollen es dem Menschen möglich machen, mit den existenziellen Grunderfahrungen des Lebens auf eine insgesamt gelungene Weise umzugehen: das Vermögen, die eigene Existenz langfristig als lebenswert auszukosten; körperliche Gesundheit; die Abwesenheit von unnötigem Schmerz sowie die Offenheit gegenüber lustvollen Erfahrungen; die Fähigkeit, Verstand und Sinne zu gebrauchen; ein vertrauensvolles Selbst- und Weltverhältnisses; das Vermögen, rationale Lebenspläne zu schmieden und auch zu verfolgen; die Fähigkeit zu tiefen sozialen Bindungen; die Fähigkeit zur Anteilnahme auch an der nicht-menschlichen Umwelt; Freiräume, um lachen, spielen und sich erholen zu können; die Fähigkeit, ein nicht-entfremdetes Leben zu fuhren, sowie nicht zuletzt die Chance, dies alles in selbstgewählten sozialen Kontexten zu tun. 120 Lässt man einmal die nahe liegende Frage beiseite, ob Nussbaums Katalog des guten Lebens nicht doch einige wichtige Punkte vermissen lässt man denke hier nur an den Aspekt einer als sinnvoll erfahrenen Arbeit -, so besteht die bestechende Leistung von Nussbaum wohl auch weniger in der noch immer etwas unsystematisch wirkenden Auflistung menschlicher Grundfertigkeiten als vielmehr in der Unermüdlichkeit, mit der sie relativistische Tendenzen innerhalb des philosophischen Mainstreams attackiert. Auch wenn sie ihren universalistischen Ansatz ausdrücklich gegenüber individuellen, kulturellen und auch historischen Differenzen offen halten möchte und der konkrete Einzelnachweis, dass es sich bei den von ihr genannten Aspekten tatsächlich um allgemeine Charakteristika guten menschlichen Lebens handelt, einen enormen empirischen Überprüfungsaufwand erforderte, so macht Nussbaum sich dennoch zur radikalen Fürsprecherin einer sozialphilosophisch inspirierten Konzeption des Guten, die von der Überlegung geleitet ist, dass ein universeller Inhalt dieses Guten auszumachen ist, aus dem sich dann auch ein spezifischer Verantwortungsbereich der Politik ergibt. Der Staat, so Nussbaum, hat seinen Mitgliedern nicht nur ein menschliches oder

120 Nussbaum (1993), S. 339f.

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menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, sondern ein gutes menschliches Leben. 121 Aber so ehrenwert die politischen Intentionen von Nussbaum auch sein mögen, am Ende schießt ihre Liste doch ein wenig über das Ziel hinaus. Nicht zuletzt bleibt fraglich, wie weitreichend die öffentliche Hand zum Eingriff in das Leben der Menschen ermächtigt werden soll. Die Arbeiten Nussbaums hinterlassen verschiedentlich den Eindruck, als habe der - im aristotelischen Sinne - gute Staat tatsächlich für sämtliche auf ihrer Liste befindlichen Güter, d.h. umfassend für das gute Leben zu sorgen. Nun haben wir es im Alltag auffallend häufig auch mit solchen Aspekten des menschlichen Wohlergehens zu tun, die überhaupt gar nicht in den Verantwortungsbereich politischer Planung und Verteilung fallen können oder auch nur sollen. Nehmen wir das Beispiel tiefer sozialen Beziehungen, etwa Freundschaft oder Liebe, oder auch das Leben in Lust und Humor- dies sind Bestandteile des menschlichen Wohlergehens, deren Realität der Staat schlichtweg nicht sichern kann oder von denen er gar die Finger lassen sollte, da sie in den Bereich der Privatsphäre gehören. 122 Ein Staat, der auch solche Aspekte des Guten zu verteilen hätte, käme einer furchteinflößenden Utopie gleich, so sehr er sich dabei auch um das Wohlergehen seiner Bürger bemühte. 123 Diese Einsicht hat metakritische Konsequenzen für eine ethisch-moralisch ausgerichtete Sozialphilosophie, die an einer Diagnose gesellschaftlicher Beeinträchtigungen des menschlichen Wohlergehens interessiert ist. Zwar sollte sich die Sozialpathognostik ein genaueres Bild von den allgemeinen Bedingungen und Inhalten des menschlichen Wohlergehens machen, da ihr ohne ein solches Bild der positive Bezugspunkt der Kritik fehlen muss. Sie sollte sich jedoch zugleich davor hüten, ein überhöhtes Anspruchsdenken im Hinblick auch auf solche Aspekte des Guten auszubilden, deren Verteilung gar nicht Aufgabe der Gesellschaft und damit auch nicht Gegenstand der Sozialkritik sein kann. Genau dies ist dann auch das wichtigste Ergebnis, zu dem der Durchgang durch die ethisch-moralischen Ansätze zeitgenössischer Sozi-

121 Allerdings verbleibt ein Rest an anti-patemalistischer Vorsicht: Ob und inwieweit der Mensch die sich ihm bietenden Möglichkeiten tatsächlich ausschöpft, muss ihm selbst überlassen bleiben. Dazu Nussbaum (1993). 122 Vgl. Paul Seabright (1993): "Pluralism and the Standard ofLiving", in: Nussbaum/Sen (1993). 123 Im Hinblick auf den Verantwortungsbereich der Gesellschaft muss zwischen "Grundgütem" und "Hinsichten" staatlicher Verteilungspolitik unterscheiden werden. Grundgüter sind jene, die der Staat tatsächlich bereitzustellen hätte. Hinsichten benennen jene Aspekte des Guten, die zwar nicht schon verteilbar sind (z.B. soziale Beziehungen, Humor etc.), deren Wichtigkeit bei der Distribution von Gütern aber dennoch zu berücksichtigen wäre (z.B. durch die Verteilung von ausreichend Freizeit). Dazu Pollmann (1999); Seabright (1993).

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alpathognostik führen sollte: War der gerechtigkeitsorientierte Ansatz der anti-patemalistischen Skepsis jener zuvor diskutierten vier kulturalistischen Ansätze mit dem Anspruch entgegengetreten, die Strukturen fairer sozialer Kooperation auszuzeichnen, so erwies er sich doch am Ende in seiner Idealität als sozialpathognostisch kaum noch operationalisierbar. Stellte sich im Gegensatz dazu der in normativer Hinsicht bescheidenere minimalistische Ansatz als anwendungsfreundlicher und zudem politisch vordringlicher heraus, so musste dieser doch aufgrund seiner kategorialen Beschränkung auf die Idee der Menschenwürde sozialphilosophisches Potenzial zur Kritik solcher Missstände verschenken, die zwar dem Wohlergehen Einzelner abträglich sind, ohne damit aber bereits als elementare Verletzungen der Menschenwürde gelten zu müssen. War damit ausdrücklich die Idee menschlichen Wohlergehens in den Blickpunkt der Sozialphilosophie gerückt, wollte sich der intersubjektivistische Ansatz mit einer Kritik allgemeiner Bedingungen des Wohlergehens bescheiden, d.h. auf eine inhaltliche Ausbuchstabierung des Guten verzichten. Kündigte der neoeudaimoistische Ansatz auch noch diese Bescheidenheit auf, indem er ausdrücklich auf substanzielle Angaben über das menschliche Wohlergehen zielte, überfrachtete er das normative Fundament der Sozialkritik doch derart, dass er auf nicht mehr zu rechtfertigende Weise das gute Leben insgesamt in den Verantwortungsbereich der Gesellschaft rückte. Damit sind wir am Ende dieses Kapitels mit der Frage konfrontiert, wie ein geeigneter sozialpathognostischer Maßstab auszusehen hätte, der in ethischmoralischer Hinsicht ausreichend substanziell gefasst ist, um nicht, wie die kulturalistischen Ansätze, in normative Beliebigkeit abzudriften, der sich aber dennoch einen Rest anti-patemalistische Skepsis bewahrt, der zufolge eine Gesellschaft nicht schon insgesamt für das Wohlergehen ihrer Mitglieder verantwortlich sein kann.

1.5 Sozialpathognostik: Eine Frage der Integrität Die programmatischen Erwägungen zu Beginn dieses Kapitels hatten die Annahme gefestigt, dass die Sozialphilosophie dann gerechtfertigt auf einen Maßstab gesellschaftlicher Krankheit und Gesundheit rekurrieren kann, wenn es ihr dabei um eine Diagnose von Missständen und Fehlentwicklungen geht, die einen schädlichen oder gar krankheitserregenden Einfluss auf das Wohlergehen der Individuen haben. Doch steht ein solcher verbindlicher Kritikmaßstab nicht fraglos zur Verfügung. Er wäre erst noch näher zu bestimmen. Wie, so lautet am Ende dieses Kapitels die sozialpathognostische Begründungsfrage, lässt sich der Begriff individuellen Wohlergehens substanziell so fassen - in diesem Fall: verallgemeinerbar und doch nicht patemalistisch -,

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dass die Metapher gesellschaftlicher Gesundheit und Krankheit sinnvoll daraufbezogen werden kann? Die eben geleistete Bestandsaufnahme der gegenwärtig in der Sozialphilosophie konkurrierenden Begründungsansätze mag den Eindruck erweckt haben, als seien allein die beiden letzten der insgesamt acht Ansätze ausdrücklich auf einen verallgemeinerbaren Begriff guten Lebens bezogen, hatten alle anderen Ansätze doch ernsthafte Bedenken gegen ein Begründungsprogramm mit einer philosophischen Konzeption des Wohlergehens erhoben. Insofern mag diese Bestandsaufnahme im Hinblick auf die sozialphilosophische Begründungsfrage zunächst ernüchternd wirken. Doch ändert sich diese Einschätzung rasch, wenn wir von der Ebene selbstkritischer normativer Absichtserklärungen auf die Ebene der von den hier präsentierten Theorieansätzen stillschweigend vorausgesetzten Prämissen hinüberwechseln. Dann nämlich wird deutlich, dass tatsächlich alle der eben diskutierten Formen von Sozialphilosophie von wie auch immer "dünnen" Annahmen substanzieller Art über ethisch-existenzielle Grundbedürfnisse des Menschen zehren. Von diesen Grundbedürfnissen müssen selbst die in normativer Hinsicht skeptischen kulturalistischen Theorieansätze annehmen, dass sie nicht auf bestimmte Kulturkreise beschränkt sein können, da ihre Kritik am Ende sonst nicht einmal mehr in ihrer eigenen pluralistischen Gesellschaft zu rechtfertigen wäre.l24

Wenn etwa die Vertreter der immanenten Kritik, Walzer und Maclntyre, ihren kritischen Blick über den verschütteten Horizont kulturell verfügbarer Werte schweifen lassen, so hoffen sie dabei doch auf eine Gesellschaft, die insofern als nicht-pathologisch einzustufen wäre, als es darin zu einer unverstellten Aufdeckung und Wiederaneignung gemeinschaftlicher und Orientierung stiftender Werte käme. Für das individuelle Wohlergehen hätte dies zweifellos nichts anderes zu bedeuten, als dass die Betroffenen selbst in die Lage versetzt werden müssten, ihr Leben in Orientierung an diesen gemeinsam interpretierten Werten als gleichwohl autonome ethisch-existenzielle Einheiten zu gestalten. Die Vertreter der neueren Ideologiekritik setzen ganz ähnliche normative Erwägungen voraus. Trotz ihrer Bedenken gegen eine Theorie "wahrer" Bedürfnisse haben Geuss und Castoriadis das Ideal eines von dogmatischen Verblendungen befreiten, d.h. selbstbestimmten Lebensvollzugs vor Augen. Folglich hätte eine Gesellschaft genau dann als gesund zu gelten, wenn in ihr die Ausbildung solcher autonomer, nicht-entfremdeter Selbstverhältnisse möglich wäre. 124 Man bedenke, dass es heute keine größere Gesellschaft mehr geben dürfte, in denen nicht unterschiedliche Kulturen aufeinanderprallen. Die Sozialkritik wird daher stets einen kulturübergreifenden Maßstab anlegen müssen, solange sie kein Plädoyer für eine bestimmte "Leitkultur" abgeben möchte.

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Auch ein gerrauerer Blick auf die kulturhermeneutische Variante von Sozialpathognostik lässt deutlich werden, dass die gesellschaftlichen Missstände, die auf historisierendem Wege diagnostiziert werden, letztlich als Beeinträchtigungen ethisch-existenzieller Lebenszusammenhänge entlarvt werden sollen. Foucault hat "freiere" Formen von Subjektivität vor Augen, die sich gegenüber den herrschenden Disziplinierungen und Deformationen widerständig zeigten. Taylor hingegen unterstellt ein allgemeines Interesse an einer von inneren und äußeren Zwängen befreiten, "authentischen" Identität. Die hyperbolischen Sozialpathognostiker lassen zwar ihre normative Überzeugungen zugunsten des rhetorischen Effekts weitgehend im Dunkeln, mit etwas Mühe jedoch können auch aus ihren Arbeiten normative Leitideen individueller und kollektiver Gesundheit herausgelesen werden: Bei Baudrillard ist es die Hoffnung auf eine Gesellschaft, deren Mitglieder die allgegenwärtigen "Simulation" zu durchbrechen vermochten, bei Agamben das Bild eines dem "Lager" entflohenen, mehr als bloß "nackten" Menschseins, bei Kamper die Aussicht auf eine Form von Subjektivität, die mit ihrer unhintergehbaren "Zerstückelung" souverän umzugehen vermochte, bei Sloterdijk schließlich die Idee eines in solidarischen Nahbeziehungen aufgehobenen, "stressresistenten" Selbstseinkönnens. Bei den ethisch-moralischen Kritikansätzen wird die Anknüpfung an ethisch-existenzielle Bedürfnislagen dann weitaus greifbarer. Legt die gerechtigkeitsorientierte Sozialphilosophie ihr Hauptaugenmerk auf die Strukturen fairer Chancengleichheit, so dient ihr entweder, wie bei Rawls, die Idee einer selbstbestimmten Verwirklichung "rationaler Lebenspläne", oder aber, wie bei Dworkin, die Aussicht auf eine "erfolgreiche Meisterung" der Herausforderungen des Lebens als normative Grundlage. Demgegenüber ist die minimalistische Sozialkritik von Rorty und Margalit in ihren normativen Ansprüchen zwar bescheidener, doch will auch sie an einer Tiefenschicht des guten Lebens, und zwar an der "Menschenwürde", festhalten. Demnach hätte eine Gesellschaft allein dann als gesund oder "anständig" zu gelten, wenn sie ein Leben ohne institutionelle Demütigungen und Grausamkeiten zu garantieren vermochte. Die intersubjektivistische Sozialpathognostik von Habermas und Honneth zielt dann in einem weit umfassenderen Sinne auf die sozialen Voraussetzungen menschlichen Wohlergehens. In einer Gesellschaft, die ihre Pathologien auszukurieren begänne, käme es zu einer Entstörung verzerrter "Kommunikations-" bzw. "Anerkennungsverhältnisse". Dann erst würden sich die Umrisse einer posttraditionellen Sittlichkeit abzuzeichnen beginnen, im Rahmen derer die Herausbildung nicht-pathologischer, d.h. ungezwungener Selbstund Weltverhältnisse möglich wäre. Der neoeudaimonistische Ansatz von Sen und Nussbaum schließlich geht über diese zunächst formalen Bestimmungen des Guten noch einen Schritt hinaus, indem er die Idee menschlichen Wohl71

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ergehens mit substanziellem Gehalt zu füllen beginnt. In Konzentration auf eine Liste spezifisch menschlicher "Fähigkeiten", die es dem einzelnen Individuum ermöglichen sollen, aus den gesellschaftlich verfügbaren Ressourcen auch tatsächlich einen befriedigenden Nutzen zu ziehen, gewinnt das Ideal einer an Lebensmöglichkeiten reichen Existenz Konturen, deren Realisierung dem Verantwortungsbereich staatlicher Verteilungspolitik zugeschlagen wird. Die Ergebnisse dieses Berichts zur gegenwärtigen Lage der Sozialphilosophie, lassen zweierlei besonders deutlich werden: Erstens sind sich nahezu alle der hier diskutierten Sozialpathognostiker jener anfangs skizzierten Begründungsproblematik bewusst, der zufolge die Sozialphilosophie auf positive Kritikmaßstäbe rekurrieren können muss. Zweitens verweist am Ende, und zwar mancherorts dem eigenen exoterischen Anspruch zum Trotz, jeder dieser zunächst sehr heterogenen Fundierungsversuche auf einen zwar kleinen, aber dennoch gemeinsamen normativen Nenner. Ganz gleich welchem der insgesamt acht Ansätze man sich zuwendet, stets greift die sozialphilosophische Kritik durch die Diagnose der kranken Gesellschaft hindurch auf einen wie immer dünnen oder gar trivialen Begriff vom individuellen Wohlergehen zurück, der einerseits für hinreichend verallgemeinerbar gehalten wird, um breite Geltung beanspruchen zu dürfen, der aber andererseits genügend vage gehalten ist, um für kulturelle und historische Differenzen offen zu sein. 125 Demnach kann das, worum es in all diesen Theorieansätzen geht, als eine Sozialphilosophie ad hominem bezeichnet werden: Erst aus Sicht der potenziell Betroffenen, so die gemeinsame Annahme, wird tatsächlich geklärt werden können, was in gesellschaftlichen Störfällen auf dem Spiel steht. So wie die medizinische Einzelfalldiagnostik von einem Begriff der Gesundheit abhängig ist, muss sich die Sozialpathognostik auf einen wie immer bescheidenen Begriffvom menschlichen Wohlergehen stützen können. Folglich kreisen alle der acht hier diskutierten Kritikansätze um eine mal mehr, mal weniger diffuse Vorstellung von den versehrbaren Strukturen der menschlichen Existenz, an der sich jede Kritik sozialer Pathologien letztlich wird messen lassen müssen. Für die Sozialphilosophie insgesamt lässt sich daher behaupten: "Positiv gewertet wird nämlich das, was für eine zu erreichende Einheit oder Ganzheit des individuellen Lebens förderlich ist, als negativ wird das verstanden, was dem abträglich ist oder es verhindert." 126 Will man den hier benannten Maßstab der "Ganzheit" individuellen Lebens inhaltlich noch etwas genauer fassen, so lässt sich die normative Schnittmenge der hier skizzierten Ansätze durchaus noch etwas erweitern. Gemein ist 125 See! (1996a). Vgl. Honneth (1994b); m.E. Lohmann (1993). 126 Lohmann (1993), S. 283.

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den hier skizzierten Kritikansätzen der Bezug auf eine ethisch-existenzielle Grundbefindlichkeit des Menschen, die man als den Wunsch nach Ganzheit im Sinne eines intakten und unversehrten Selbst- und Weltverhältnisses zu beschreiben hätte. In dieser Hinsicht ist häufig auch von einer "unverzerrten Form der Selbstverwirklichung" oder einem "ungestörten Selbstsein" die Rede.127 Wollte man diesbezüglich einen ersten metakritischen Verdacht äußern, so würde dieser lauten: In jedem dieser Fälle handelt es sich um die Idee einer von inneren und äußeren Zwängen möglichst unbeeinträchtigten Selbst- und Weltbeziehung, mit der die Vorstellung von einem ethisch-existenziellen Lebenszusammenhang einhergeht, der allein dann als "intakt" zu bezeichnen wäre, wenn die betreffende Person in Einklang mit einer ihr möglichst transparenten Bedürfnisstruktur ein überwiegend selbstbestimmtes Leben zu führen vermochte und dabei von den schädlichen Einflüssen gesellschaftlicher Pathologien weitgehend unbehelligt bliebe. Dieser zunächst "dünne" Begriff des menschlichen Wohlergehens begreift das nicht-pathologische gesellschaftliche Leben "als poröse Schutzhülle gegen Kontingenzen [... ], denen der versehrbare Leib und die darin verkörperte Person ausgesetzt sind. Moralische Ordnungen sind zerbrechliche Konstruktionen, die beides in einem schützen, die Physis gegen körperliche und die Person gegen innere oder symbolische Verletzungen. [... ]Die Abhängigkeit vom Anderen erklärt die Verletzbarkeit des Einen durch den Anderen. Die Person ist Verwundungen in den Beziehungen am schutzlosesten ausgesetzt, auf die sie zur Entfaltung ihrer Identität und zur Wahrung ihrer Integrität am meisten angewiesen ist."12s Damit ist dann auch jener Begriff gefallen, um den es im Rest dieses Buches gehen wird. Nicht selten ist es nämlich, so wie hier, ein recht schillernder Begriff der Integrität, der in der Sozialphilosophie eine Art Stellvertreterrolle übernimmt. Auf seine Verwendung trifft man zumeist dort, wo auf die Schwierigkeiten vergesellschafteter Individuen hingewiesen werden soll, das eigene ethisch-existenzielle Selbst- und Weltverhältnis gegenüber Angriffen von außen zu schützen. 129 Demnach wird dem Integritätsbegriff in sozialpathognostischer Hinsicht eine eher defensive Funktion zugewiesen. Sein Gebrauch rekurriert auf den zweifellos verallgemeinerbaren Umstand, dass "die Integrität der Einzelnen in besonderer Weise von dem schonenden Charakter ihres Umgangs miteinander" 130 abhängt, so dass vergesellschaftete In-

127 128 129 130

Zum Beispiel bei Honneth (1994b), S. 51; Habermas (2001), S. 16f.. Habermas (2001 ), S. 63. Dort geht es allerdings primär um "Moral". Etwa bei den Autoren Habermas, Honneth, Rorty und Margalit. Habermas (2001), S. 96.

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dividuen ihre jeweiligen Lebensvollzüge nur zu oft gegen die Übermacht oder gar Gewalt gesellschaftlicher Missstände werden verteidigen müssen. Mit dem Begriff der Integrität wird demnach auf eben jenen Wunsch nach einem "intakten" oder "einheitlichen" Lebenszusammenhang Bezug genommen, der auf die eine oder andere Weise allen der hier präsentierten Ansätze als normativer Maßstab zugrunde liegt; auch wenn der Integritätsbegriff selbst dabei nicht immer explizit Erwähnung findet. Doch so vielversprechend die Wahl des Integritätsbegriffs in diesen Zusammenhängen auch sein mag, sein derzeit überwiegend unspezifischer Gebrauch erweckt den Anschein eines Ausweichmanövers. Da die Verwendung des Begriffs, wie sich noch zeigen wird, in der sozialphilosophischen Literatur kaum einmal über äußerst kursorisch bleibende Begriffsbestimmungen hinausgeht, werden die begründungstheoretischen Schwierigkeiten einer genaueren Bestimmung dessen, was es bedeuten würde, ein intaktes oder auch unversehrtes Selbst- und Weltverhältnis zu besitzen, bislang eher verschleiert als angegangen. Diese black box des Integritätsbegriffs wäre zunächst zu öffnen, damit deutlich werden kann, inwiefern man der Sozialphilosophie als deren kleinsten gemeinsamen Nenner eine Idee des menschlichen Wohlergehens unterstellen darf, die genügend konkret, aber dennoch hinreichend verallgemeinerbar ist, um dem Geschäft der Sozialpathognostik als kritischer Bezugspunkt zu dienen. 131 Dabei werden die im F algenden präsentierten Bestimmungen der Integrität konzeptionell auf den ethisch-moralischen Bereich genau zwischen "minimalen" und "substanziellen" Ideen des Guten zielen: Personale Integrität wird hier als ein zentraler "Modus" des menschlichen Wohlergehens, als eine spezifische Seins- und Vollzugsweise gelingenden Lebens vorgeführt werden. Dies wird einerseits bedeuten, dass ein Leben, welches nicht in ausreichendem Maße Integrität aufweist, darum auch kein im ethisch-moralischen Sinne gutes Leben genannt zu werden verdient. Andererseits darf dabei jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass mit dem Modus der Integrität zunächst nur ein - wenngleich zentrales Merkmal guten Lebens benannt wird. Ein Leben ist nicht schon deshalb ein gutes Leben, weil es in ausreichendem Maße Integrität aufweist. Dazu bedarf es einer ganzen Reihe zusätzlicher Faktoren, die nicht schon insgesamt unter den Begriff der Integrität zu bringen sind. 132

131 Der in diesem Buch offerierte Integritätsbegriff soll der Sozialpathognostik als Pendant zum medizinischen Begriff der Gesundheit dienen. Im Schlusskapitel werden wir ausdrücklich auf die Frage zu sprechen kommen, inwiefern dieser sozialphilosophische Begriff des Wohlergehens an die Klinik zurückverwiesen werden muss. 132 Poilmann (1999).

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Die hier vorgelegten Reflexionen betreffen somit lediglich einen wichtigen Ausschnitt dessen, was man als allgemeine Bedingungen und Vollzugsweisen eines insgesamt guten Lebens bezeichnen kann. Insofern wäre nicht bloß von einer formalen 133 , sondern vielmehr von einer modalen Theorie des Guten oder besser noch: des Wohlergehens die Rede. Mit dem Integritätsbegriff werden wir einen verallgemeinerbaren Inhalt des menschlichen Wohlergehens zu fassen bekommen, obwohl es dabei nur um einen bestimmten Modus guten Lebens unter anderen gehen wird. Zudem ist gleich zu Beginn eine wichtige konzeptionelle Einschränkung der sozialphilosophischen Reichweite des Integritätsbegriffes angezeigt: Angesichts einer begründeten Skepsis gegenüber jeder Art von überhöhtem Anspruchsdenken, so wie wir es z.B. beim neoeudaimonistischen Kritikansatz angetroffen haben, sollten wir mit Blick auf die hier präsentierte Theorie des Wohlergehens stets im Hinterkopf behalten, dass auch die vergleichsweise bescheidene Idee der Integrität nicht als Ganze in den Zuständigkeitsbereich der Gesellschaft fallen muss. Personen, so wird sich herausstellen, sind in zentralen Hinsichten des Lebens immer auch selbst für ihre Integrität verantwortlich. Gleichwohl vermag die Integrität von Personen insgesamt eine geeignete Hinsicht abzugeben, an der sich gesellschaftliche Verhältnisse werden messen lassen müssen. Auch wenn der konkrete Vollzug integren Lebens den Betroffenen selbst überlassen bleiben muss, sollte die Gesellschaft alles, was in ihrer Macht steht, tun, um ihren Mitgliedern den Zugang zu den Möglichkeiten, ein Leben in Integrität zu führen, offen zu halten. Im Schlusskapitel des Buches soll eben dieser Gedanke aufgegriffen und verdeutlicht werden. Freilich kann über die sozialpathognostische Frage, inwiefern die Gesellschaft Integritätsspielräume beschränkt, erst dann debattiert werden, wenn zuvor geklärt worden ist, was es heißen würde, umfassend Integrität zu besitzen. Der Grundgedanke, der den Rest dieser Untersuchung leiten wird, lässt sich demnach, mit Martin Seel, wie folgt fassen: "Versteht man Sozialphilosophie als einen Beitrag zur normativen Selbstverständigung moderner Gesellschaften, so handelt sie nicht allein davon, wie soziales Leben in Geschichte und Gegenwart möglich ist. Ihr Thema lautet vielmehr: Wie ist soziales Leben so möglich, daß die Integration seiner Teilnehmer nicht auf Kosten der Integrität dieser Teilnehmer geht? Wie ist eine Gesellschaft möglich, die auf allen ihren Ebenen - der Ökonomie, des Rechts, der Politik, der Verwaltung - die Integrität ihrer Mitglieder wahrt? Diese Fragen sind freilich nur dann aufschlussreich, wenn geklärt werden kann, was unter der Integrität vergesellschafteter Individuen zu verstehen ist." 134 133 Zur Idee einer formalen Theorie des Guten siehe Seel (1995). 134 See! (1996a), S. 254.

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2. Bedeutungsdimensionen der Integrität: Selbsttreue, Rechtschaffenheit, lntegriertheit und Ganzheit

Nur ein einziges Mal sah es so aus, als rückte der Integritätsbegriff in das Zentrum praktisch-philosophischer Aufmerksamkeit. Bemard Williams war es, der ab Mitte der 1970er Jahre in einer Reihe von Artikeln, die rasch berühmt werden sollten, den Versuch unternahm, den seinerzeit in der angloamerikanischen Moralphilosophie vorherrschenden Denkströmungen des Utilitarismus und des Kantianismus die ethisch-existenzielle Gegenrechnung zu präsentieren. 1 Beiden Denkrichtungen warfWilliams vor, in ihren normativen Prämissen und Folgerungen derart abstrakt und rigoros zu sein, dass sie vollkommen außer Acht lassen müssten, wie ganz gewöhnliche Menschen in eher alltäglichen moralischen Konfliktsituationen tatsächlich zu Entscheidungen gelangen. Wollte man von diesen Menschen verlangen, stets der Moral - ob nun in Gestalt des utilitaristischen Prinzips kollektiver Nutzenmaximierung oder aber in Form des kategorischen Imperativ - den Vorzug vor etwaigen anderen Neigungen zu geben, so müsse ihnen vieles von dem abhanden kommen, was sie zu unverwechselbaren Individuen macht. Utilitarismus und Kantianismus, so Williams, attackieren und "entfremden" die individuelle Persönlichkeit des Menschen, weil dieser in seinem Alltagsleben nur zu oft zwischen partikularen Lebensvollzügen einerseits, spezifisch moralischen Überlegungen anderseits abzuwägen hat. Eine kategorische Vorentscheidung zugunsten der Moral, käme einer kategorischen Vorentscheidung gegen das eigene Selbst gleich. Kurzum: Die Moralphilosophie missachtet, so Williams, das ethisch-existenzielle Bedürfnis einer jeden Person nach einem selbstbestimmten Leben in "Integrität".

Bemard Williams (1979): Kritik des Utilitarismus, Frankfurt/Main: Klostermann; ders. (1984a): Moralischer Zufall, Königstein/Ts.: Hain.

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BEDEUTUNGSDIMENSIONEN DER INTEGRITÄT

Um etwaigen Missverständnissen von Beginn an vorzubeugen, sei hier zunächst geklärt, was genau im Folgenden mit den Begriffen "Ethik" und "Moral" gemeint sein soll, denn beide Begriffe tauchen in der philosophischen Diskussion in mindestens drei Verwendungen auf. Betrachten wir zunächst den Terminus Ethik. Häufig steht der Begriff Ethik ganz einfach für die philosophische Beschäftigung mit Fragen der Moral, so wie diese uns alltäglich als gesellschaftlich eingespieltes Reglement des sittlichen Zusammenlebens begegnet. Demzufolge wäre Ethik als eben jene philosophische Disziplin zu verstehen, die auf alltagsmoralische Zusammenhänge systematisch reflektiert. 2 Nun hat aber diese Unterscheidung den offenkundigen Nachteil, dass sich die von Williams angedeutete Differenz zwischen einer ethisch-existenziellen und einer spezifisch moralischen Lebensperspektive darin gar nicht wiederfinden lässt. Eben diesem Umstand soll eine zweite Differenzierung gerecht werden, die in den letzten Jahren vor allem durch das diskursethische Werk von Jürgen Habermas an Popularität gewonnen hat? Nach dieser Unterscheidung steht der Begriff Ethik für die Beschäftigung mit der Frage nach dem "guten Leben", während der Moralbegriff für universalistische Theorien der "Gerechtigkeit" reserviert wird. Auf eine Faustformel gebracht: Im Zuge ethischer Reflexion fragt sich die Person, was gut für sie ist, im Zuge moralischer Reflexion hingegen erkundigt sie sich nach dem, was gerechtfür alle wäre. Bei gerrauerem Hinsehen hat jedoch auch diese Begriffsbestimmung einen entscheidenden Haken. Die Gegenüberstellung von gutem Leben und gerechter Moral fällt darin derart strikt aus, dass der von Williams angesprochene Konflikt bereits auf theoretischer Ebene unmöglich wird. Angesichts der pluralistischen Vielfalt möglicher Lebensorientierungen geht Habermas davon aus, dass die Beantwortung der Frage nach dem guten Leben jedem Betroffenen selbst überlassen bleiben müsse und sich die Philosophie daher allein noch mit Problemen einer Moral der Gerechtigkeit, d.h. mit Regeln friedlicher Koexistenz, beschäftigen könne. Ein genuin philosophischer Standpunkt, der den nicht selten problematischen Zusammenhang von gutem Leben und Moral zu erhellen versuchte, wird damit bereits auf der Ebene der Theoriebildung ausgeschlossen. Von Williams selbst stammt daher eine dritte Begriffsbestimmung, der auch wir uns im Folgenden anschließen werden. 4 Demnach soll sich die philosophische Ethik mit der bereits von Sokrates aufgeworfenen Frage befassen, "wie man leben soll, um gut zu leben". Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als sei diese dritte Verwendung des Ethikbegriffs von der 2

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Dazu exemplarisch Ernst Tugendhat (1993a): Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Habermas (1991). Siehe vor allem Bemard Williams (1985), Ethics and the Limits of Philosophy, London: Fontana.

BEDEUTUNGSDIMENSIONEN DER INTEGRITÄT

zweiten kaum zu unterscheiden, geht es doch bei beiden um Fragen nach dem guten Leben. Bei genauerem Hinsehen jedoch markiert die Verwendung des zunächst unpersönlichen Wörtchens man in der Frage, "wie man leben soll, um gut zu leben", einen philosophisch entscheidenden Unterschied. Die Frage nach dem guten Leben wird hier nicht, wie bei Habermas, aus der Betroffenenperspektive eines nach individuellem Glück strebenden Individuums gestellt, sondern aus der verallgemeinemden Sicht des nach dem Guten im menschlichen Leben schlechthin fragenden Theoretikers. Der Ethiker, so Williams, fahndet angesichts der pluralistischen Vielfalt möglicher Lebensvollzüge nach universellen Bedingungen "des" Guten. In eben dieser Perspektive umfasst die philosophische Ethik sowohl Fragen nach dem individuell oder auch "präferenziell"5 Guten als auch Fragen nach dem für alle Gerechten, ja, sie hat es immer schon mit der Möglichkeit von Konflikten zu tun, die aus dem Widerstreit von subjektiv gutem Leben und intersubjektiver Moral resultieren können. Nun ist damit zunächst aber allein die Verwendung des Ethikbegriffs geklärt. Auch der Begriff Moral ist philosophisch mehrdeutig. Folgt man der kantischen Tradition, so meint Moral die Menge alljener Verpflichtungen, die sich für uns aus einer Perspektive normativer Unparteilichkeit gegenüber allen anderen der Allgemeinheit ergeben. Demnach zielt die Moral auf das mit Rücksicht auf alle Menschen gleichermaßen Gebotene bzw. auf das für alle Gerechte. 6 Davon zu unterscheiden ist eine zweite Verwendung des Moralbegriffs, mit der nicht bloß, wie bei Kant, universelle, sondern sämtliche Verpflichtungen von Mitmenschen untereinander ausgezeichnet werden. Dieser Begriffsgebrauch soll den Umstand berücksichtigen, dass sich eine Person in der Regel nicht bloß auf unparteiliche Weise gegenüber der Allgemeinheit verpflichtet sieht, sondern in durchaus zentralen Hinsichten ihres Lebens, man denke hier etwa an Fürsorge-, Liebes oder Solidarbeziehungen, immer auch parteilich gegenüber einzelnen, d.h. je besonderen Mitmenschen. 7 Eine dritte, eher alltagssprachliche Verwendung des Moralbegriffs zielt schließlich auf die empirisch vorfindliehen Regeln des normenkonformen Zusammenlebens innerhalb einer konkreten sittlichen Gemeinschaft. Wer in diesem Sinne von moralischen Regeln spricht, meint eben jene Verhaltenserwartungen, die Menschen, weitgehend unabhängig von Bemühungen philosophischer Theoriebildung, im Alltagfaktisch aneinander herantragen. 8 Anders als beim Terminus Ethik wird im Folgenden auf alle drei dieser Verwendungsweisen des Moralbegriffs zurückgegriffen werden, wenngleich auf jeweils ganz spezifische Weise: Der kantische Begriff von Moral wird 5 6

Dazu See! (1995). Habermas (1991).

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Vgl. Honneth (2000c). Vgl. Tugendhat (1993a).

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BEDEUTUNGSDIMENSIONEN DER INTEGRITÄT

zwar verschiedentlich Erwähnung finden, allerdings immer nur dann, wenn der Begriff der Integrität, wie von Williams vorgezeichnet, kritisch dagegen in Stellung gebracht wird. Aus Sicht personaler Integrität, so wird sich zeigen, kann sich der kantische Moralbegriff tatsächlich als Zumutung erweisen. Daher wird in dieser Untersuchung jener oben an zweiter Stelle genannte, umfassendere Moralbegriff favorisiert, dem zufolge nicht nur die im engeren Sinne unparteilichen, sondern alle soziale Verpflichtungen des Menschen zur Moral gehören. Gleichwohl wird an verschiedenen Stellen auch die dritte Bedeutung von Moral im Sinne normenkonformer Sittlichkeit anklingen. Mit Blick auf die Frage, was genau es heißt, ein Leben in Integrität zu führen, wird sich herausstellen, dass allein im Rückgriff auf die konkreten Wertvorstellungen eben jener Gemeinschaft, in der eine Person ihre Integrität zu bewahren versucht, spezifisch moralische "Grenzen" der Integrität erkennbar werden. Doch kommen wir zunächst zu der von Williams angestoßenen Integritätsdebatte zurück. Zwar ist im Anschluss an Williams' wegweisende Moralkritik eine zunächst heftige Diskussion über die Frage entbrannt, was überhaupt unter der Integrität eines Menschen zu verstehen ist und ob wir tatsächlich davon auszugehen haben, dass diese durch die moraltheoretischen Überlegungen des Utilitarismus und des Kantianismus gefährdet ist, doch ist diese Debatte schon bald wieder im Sande verlaufen. 9 Auch wenn bis heute vereinzelt noch ein Echo auf die damalige Diskussion zu vernehmen ise 0 , so ist in der Folgezeit nur noch sporadisch der Versuch unternommen worden, dem Integritätsbegriff einmal eine genauere Fassung zu geben. 11 Eine Sondierung der vorhandenen Literaturlage offenbart zudem den zweifellos problematischen Umstand, dass die Verwendung des Integritätsbegriffs insgesamt äußerst uneinheitlich ausfällt und überdies auffallend häufig von jener am Ende von Kapitel 1 bereits umrissenen sozialphilosophischen Wortbedeutung abweicht, der zufolge Integrität als ein von äußerlichen Übergriffen "unversehrtes Selbst- und Weltverhältnis" zu beschreiben sei. Wenn Williams selbst an zentraler Stelle davon spricht, "daß jemand, der Integrität an den Tag legt, Siehe vor allem Samuel Scheffler (1982): The Rejection of Consequentialism, Oxford: Oxford UP; Barbara Herman (1983): "lntegrity and lmpartiality", in: The Monist, 66/1983. 10 Owen Flanagan (1991): Varieties of Moral Personality, Cambridge u. London: Harvard UP, Kap. 3 u. 4; Elisabeth Ashford (2000): "Utilitarianism, Integrity and Partiality", in: Journal of Philosophy, 8/2000. II Mare Haifon (1989): Integrity, Philadelphia: Temple UP; Hayden Ramsay (1997): Beyond Virtue. Integrity and Morality, New York: St. Martin's; Damian Cox/Marguerite La Caze/Michael P. Levine (2003): Integrity and the Fragile Self, Ashgate: Aldershot. Auch Einträge in philosophische Fachlexika sind selten: Cora Diamond (1992): "Integrity", in: Encyclopedia of Ethics, New York u. London: Garland; Cox/La Caze/Levine (2001 ).

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aus den Dispositionen und Motiven handelt, die in tiefstgreifender Weise die seinigen sind" 12 , dann ist mit personaler Integrität offenkundig etwas ganz anderes gemeint als das von der Sozialphilosophie diagnostizierte und durch gesellschaftliche Fehlentwicklungen bedrohte Bedürfnis nach "Ganzheit" oder auch "Intaktheit". Hier scheint es vielmehr um den jeweils an sich selbst adressierten Wunsch von Personen zu gehen, sich in den eigenen Lebensvollzügen "treu" zu sein und auch zu bleiben, d.h. in Übereinstimmung mit dem zu leben, was einem wirklich wertvoll ist. Zum Ausdruck kommt dies häufig auch in der alltagssprachlich vertrauten Verwendung des Adjektivs integer. Doch damit nicht genug: Die weitere Durchsicht der vorhandenen philosophischen Beiträge zur Integritätsproblematik wird eine Reihe zusätzlicher Bedeutungsdimensionen des Begriffs offenbaren, die von den beiden bereits erwähnten Verwendungen allenfalls tangiert werden. Überdies wird zu beobachten sein, dass der Gebrauch des Integritätsvokabulars zumeist nahtlos von einer Begriffsverwendung in die nächste übergeht, ohne dass den jeweiligen Autorinnen und Autoren begriffliche und phänomenologische Unterschiede auffallen würden. Daher müssen diese Differenzen hier zunächst genauer herausgearbeitet werden. Wir beginnen mit der Idee der "Selbsttreue", auf die wir vor allem bei Williams und seinen Interpreten stoßen. Dabei wird es zunächst insbesondere darum gehen, den Integritätsbegriff in einem "vormoralischen"13, d.h. ethisch-existenziellen Sinne zu klären (2.1 ). Während jedoch Williams vor allem darauf aus war, die Integrität der von moralischen Konflikten Betroffenen gegenüber überzogenen normativen Restriktionen in Schutz zu nehmen, hat mancher seiner Kritiker den Einwand geltend machen wollen, dass personale Integrität ohne den Bezug auf eine kantische Moral der Unparteilichkeit überhaupt nicht zu haben sei. Verschiedentlich ist daher der Versuch unternommen worden, personale Integrität an überaus strikte normative Forderungen zurückzubinden, womit die Idee einer spezifisch moralischen Integrität Gestalt angenommen hat, die hier unter dem Begriff "Rechtschaffenheit" firmieren wird (2.2). Nicht zuletzt aus der sich daraus ergebenden Spannung zwischen präferenziellen und moralischen Lebensorientierungeil wird sich die Notwendigkeit einer dritten Verwendung des Integritätsbegriffes ergeben, die Platz für die existenzielle Konfrontation mit derartigen Konflikten lässt. Da diese dritte Bedeutung vor allem in solchen Debattenbeiträgen anklingt, die an eher innerpsychischen Vorgängen interes-

Bemard Williams (1984b ): "Utilitarismus und moralische Selbstgefälligkeit", in: ders. (1984a), S. 59. 13 Es soll nicht behauptet werden, der Gegenstand sei gänzlich ohne moralische Bedeutung. Die moralische Dimension der Integrität wird zunächst lediglich methodisch eingeklammert, damit die Betrachtung ethisch-existenzieller Sachverhalte nicht von vomherein durch eine bestimmte moralische Sichtweise eingeschränkt wird. Vgl. See] (1995). 12

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siert sind, wird von der Idee psychischer "Integriertheit" die Rede sein (2.3). Anschließend werden wir zu jener Bedeutung der Integrität im Sinne der "Ganzheit" zurückkehren, auf die wir bereits im Rahmen der Erörterungen zur Sozialphilosophie gestoßen sind. Allerdings wird diese vierte Bedeutungsdimension - angereichert durch die drei zuvor erläuterten Verwendungsweisen -nunmehr in einem klareren Licht erscheinen (2.4). Da erst in den darauf folgenden Kapiteln der Versuch unternommen werden kann, diese vier bis dahin weitgehend unvermittelten Bedeutungsdimensionen in ein gemeinsames und komplexes Verständnis von Integrität einzubeziehen, wird das vorliegende Kapitel zunächst mit einer etymologischen Spurenlese schließen, auf der lediglich erste Indizien dafür gesammelt werden sollen, dass die vier unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen miteinander verlmüpft sind (2.5). Folgende Unterscheidungen müssen diesem Kapitel vorangeschickt werden: Auf die Gefahr grober Vereinfachung hin wird entsprechend der vier erläuterten Begriffsdimensionen von einer "ethischen", einer "moralischen", einer eher "psychologischen" und einer "sozialphilosophischen" Bedeutung von Integrität die Rede sein können. Das heißt jedoch nicht, dass es sich dabei um vier verschiedene Begriffe von Integrität handelt. Gemeint sind zunächst lediglich vier unterschiedliche Zugangsweisen zu ein und demselben Problem, die sich aus unterschiedlichen Kontextualisierungen des Integritätsbegriffes ergeben. Dabei werden zwei weitere wichtige kategoriale Differenzierungen für alle vier Bedeutungsdimensionen maßgeblich sein: Erstens werden wir im Hinblick auf die Frage, ob und inwieweit eine Person Integrität besitzt, zwischen einer Innenperspektive der "Selbstzuschreibung" und einer Außenperspektive der "Fremdzuschreibung" unterscheiden müssen. Ob eine Person selbst glaubt, Integrität zu besitzen, ist von der Frage, ob auch andere ihr dies attestieren würden, relativ unabhängig. 14 Zweitens werden die vier grundlegenden Begriffsdimensionen zusätzlich in "positive" und "negative" Selbstund Fremdzuschreibungen aufgefachert werden. Die Frage nämlich, ob Personen Integrität besitzen, wird nur dann adäquat beantwortet werden können, wenn zugleich deutlich wird, an welchem Punkt sie ihre Integrität einbüßen. Daraus werden sich insgesamt 16 Verwendungen des Integritätsbegriffes ergeben. Der besseren Orientierung wegen, seien diese vorweg in einem Schaubild dargestellt. 15

14 Die Unterscheidung Selbst-/Fremdzuschreibung soll nicht zuletzt dem Umstand gerecht werden, dass dieselbe Person sich in der Regel sowohl von innen als auch von außen, d.h. mit den Augen anderer, als mehr oder weniger integer zu erkennen vermag. 15 Auf eine dritte kategoriale Unterscheidung soll an dieser Stelle lediglich hingewiesen werden: Jede der 16 Begriffsverwendungen weist sowohl deskriptive wie auch normative Aspekte auf- deskriptiv im Sinne von Selbst- bzw. Fremdzuschreibungen, normativ im Sinne von Bedürfnissen bzw. Erwartungen.

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Abb. 1 Bedeutungsdimensionen der Integrität

lNNENPERSPEKTIVE/ SELBSTZUSCHREIBUNQ

AUßENPERSPEKTIVE/ FREMDZUSCHREIBUNQ

positiv

negativ

positiv

negativ

ethisch

Selbsttreue

Depersonalisation

Unbestechlichkeit

Bestechlichkeit

moralisch

Rechtschaffenheit

"Schmutzige Hände"

Unbescholtenheit

Scheinheiligkeit

psychologisch

Integriertheit

Desintegration

Kohärenz

Inkohärenz

sozialphil.

Ganzheit

Entzweiung

Unversehrtheit

Verletztheit

2.1 Selbsttreue und Unbestechlichkeit Die bahnbrechenden Arbeiten von Williams, mit denen er vor nunmehr knapp dreißig Jahren den Begriff personaler Integrität gegen die Zumutungen der vorherrschenden Moralphilosophie in Schutz zu nehmen beabsichtigte, haben der Integritätsdebatte eine Reihe von illustrativen Beispielen beschert, denen eine glanzvolle Karriere in der Moralphilosophie beschieden war: Man nehme die Geschichte des arbeitslosen Chemikers George, der eine Familie zu ernähren hat und sich deshalb zu der Entscheidung gedrängt sieht, eine Job-Offerte der biochemischen Rüstungsindustrie anzunehmen. Man erinnere sich an Jim, den Expeditionsteilnehmer irgendwo in Südamerika, der von einer militärischen Einheit gefangen genommen wird, deren sadistischer Anführer ihn vor die Wahl stellt, entweder einen seiner zwanzig Mitgefangenen zu erschießen, um für die anderen und auch ihn selbst die Freilassung zu erwirken, oder aber mit ihnen allen in den Tod zu gehen. An anderer Stelle wird von einem Schiffbruch berichtet, in dessen dramatischem Verlauf sich ein Ehemann vor die Alternative gestellt sieht, entweder seine Frau oder aber einen xbeliebigen anderen Passagier zu retten. Schließlich wird vom Maler Gauguin

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erzählt, der mit der Entscheidung ringt, seine Familie zu verlassen, um sich auf einer fernen Südsee-Insel als Künstler verwirklichen zu können. 16 Kaum jemand, der sich heute mit Praktischer Philosophie befasst, dürfte um diese seither viel diskutierten Beispiele herumkommen. Worum es Williams, dem Moralkritiker, in allen diesen gezielt als schwerwiegend konstruierten Konfliktsituationen geht, ist der Umstand, dass in existenziellen Entscheidungssituationen partikulare, d.h. parteiische Verpflichtungen mit moralischen, d.h. unparteiischen Verpflichtungen kollidieren können. Den Betroffenen kann hier eine bereits auf theoretischer Ebene vorweggenommene Entscheidung zugunsten der Unparteilichkeitsmoral nicht ohne weiteres abverlangt werden. Dies hätte dramatische Auswirkungen auf ihr Leben: Der Chemiker George wird seine Familie der Armut preisgeben, wenn er aufgrund seiner Bedenken gegen die biochemische Kriegsführung weiterhin arbeitslos bleibt. Der Forschungsreisende Jim wird nie wieder ruhig schlafen können, wenn man ihm eine Tötung zumutet, um die gemeinsame Freilassung zu erwirken. Der schiffbrüchige Ehemann wird zum Witwer, wenn er statt seiner Frau irgendeine andere Person rettet. Der Künstler Gauguin schließlich wird in Depressionen verfallen, wenn er seiner Berufung nicht angemessen folgen kann. Anhand dieser schicksalhaften Beispiele entwirft Williams ein Charaktermodell, dem zufolge die Identität bzw. das ethisch-existenzielle Selbstbild einer Person aus wertbehafteten "Grundvorhaben" und "Selbstverpflichtungen" zusammensetzt ist. 17 Dabei handelt es sich um tief im Selbstverständnis einer jeden Person verwurzelte Hauptanliegen und Projekte, die für das Individuum in dem Sinne als identitätsstiftend und kategorisch bindend angesehen werden können, dass die Sinnhaltigkeit seines Lebens insgesamt bedroht wäre, wenn ihm diese Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen abhanden kämen. Von eher "profanen" Präferenzen und Bedürfnissen unterscheiden sich Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen durch ihre existenzielle Wichtigkeit und Dringlichkeit: Während man auf die Befriedigung so mancher seiner alltäglichen Wünsche durchaus verzichten kann, würde eine Person aufhören, diejenige zu sein, für die sie sich hält, wenn sie auf ihre zentralen Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen verzichten müsste. Ihr käme die ethisch-existenzielle Grundorientierung abhanden und damit eben zugleich auch, so Williams, ihre Integrität als Person. 16 George und Jim tauchen in: Williams (1979) auf; die Schiffbrüchigen in: ders. (1984c ): "Personen, Charakter und Moralität"; Gauguin in: ders. (1984d): "Moralischer Zufall", beide in: ders. (1984a). 17 Im Original spricht Williams von "ground projects" und "commitments". Letztere sind in der deutschen Fassung mit "Bindungen" übersetzt, wodurch von vomherein eher moralische Assoziationen geweckt werden. Um aber deren spezifisch ethischen Charakter zu betonen, weiche ich von dieser Übersetzung ab. 84

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Mit identitätsstiftenden Hauptanliegen und Selbstverpflichtungen sowie mit den jeweiligen Werten, Prinzipien und Idealen, die diesen fundamentalen Lebensorientierungen zugrunde liegen, nimmt das substanzielle Selbstbild einer Person Gestalt an, mit dem zugleich auch die Grenzen markiert sind, die unter keinen Umständen verletzt werden dürfen, wenn die Person ihren individuellen Persönlichkeitskern nicht einbüßen soll. Folgt man Williams oder ganz ähnlichen Überlegungen von Harry G. Frankfurt 1R, sind Selbstverpflichtungen und Grundvorhaben nicht bloß als wichtiger Bestandteil der Integrität zu deuten, sondern zugleich auch als Mahnung, dass ein Betrug dieser Ideale einer Verletzung der unhintergehbaren Grenzen der eigenen Persönlichkeit gleichkäme. Werden diese Grenzen überschritten, so hat dies unweigerlich zur Folge, dass eine Person sich und ihrem ethisch-existenziellen Selbstverständnis untreu wird. Christine Korsgaard fasst dies - in unmittelbarer Nähe zu Williams und Frankfurt- wie folgt zusammen: "lt is the conceptions of ourselves that are most important to us that give rise to un-

conditional obligations. For to violate them is to lose your integrity and so your identity, and to no Iongerbe who you are. That is, it is to no Ionger be able to think of yourself under the description under which you value yourself and find your life tobe worth living and your actions tobe worth undertaking." 19 Demnach ist es der Wunsch nach Integrität im Sinne einer Treue zu sich selbst, d.h. nach einem Leben in Einklang mit den je eigenen Werten und Idealen, der uns solche "unbedingten Verpflichtungen" gegenüber uns selbst erkennen lässt. 20 Würden wir diese Grundüberzeugungen mutwillig korrumpieren, wären wir nicht länger das, was wir zu sein wünschen. Insofern ist mit Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen eine Art "volitionale Notwendigkeit" verknüpft: Aus der Binnenperspektive einer mit existenziellen Entscheidungssituationen konfrontierten Person geht von diesen Grundüberzeugungen ein seltsam zwangloser Zwang aus, der von der betroffenen Person weniger als Unfreiheit denn als Freiheit empfunden wird. 21 Eine Person, die Integrität besitzt, sieht sich außerstande, entgegen ihren festen Überzeugungen zu handeln und damit ihre Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen zu verraten, und sie ist ebenso unfähig, eine solche Unfähigkeit nicht zu wollen. Die le18 Harry G. Frankfurt (1999a): "On the Necessity ofldeals", in: ders. (1999b): Necessity. Volition and Love, Cambridge: Cambridge UP. 19 Christine M. Korsgaard (1996): The Sources of Normativity, Cambridge: Cambridge UP, S. 102. 20 Siehe neben Williams vor allem: Joseph Raz (1986): The Morality of Freedom, Oxford: Clarendon; Lynne Mcfall (1987): "Integrity", in: Ethics, 98/1987; Haifon (1989). 21 Harry G. Frankfurt (1988a): "The Importance ofWhat We Care About", in: ders. (1988b ): The Importance of What We Care About, Cambridge: Cambridge UP.

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benspraktische Grundorientierung an einem Kurs in Übereinstimmung mit dem, was der Person wichtig ist, wird als ein "Müssen" erkannt, d.h. als notwendige Bedingung des gelingenden Lebens. Deshalb wird sich die Person angesichts ethischer Konfliktsituationen gegenüber etwaigen Alternativen, die einen existenziellen Kurswechsel mit sich bringen würden, in der Regel ablehnend verhalten. Auf diesem Wege werden selbstverschuldete Verletzungen der elementaren Bestandteile des eigenen Selbstbildes vermieden, durch die das Selbst als solches in Gefahr geraten würde. Während uns die integralen Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen auf einen festen ethischen Kurs einschwören, werden wir von korrespondierenden "Aversionen" ebenso kategorisch davor bewahrt, von diesem Kurs abzukommen.22 Man nehme den Fall eines gewissenhaften Politikers, der einen Ekel verspürt, wenn wirtschaftliche Interessenvertreter mit Einladungen und kleineren Geschenken locken. Es gibt Dinge im Leben einer Person, die diese nicht tun kann, ohne dass ihr ethisches Selbstverständnis zusammenbricht. Demnach nimmtjede Selbstverpflichtung immer auch die Form einer Abwehr gegenüber den Gefahren eines Integritätsverlustes an. Ein derart entschiedenes Müssen bezieht sich auf eben jene unentbehrlichen oder integralen Bestandteile des ethisch-existenziellen Selbstbildes, die Bedingungen für ein Weiterleben als jene Persönlichkeit sind, mit der wir uns identifizieren: "[W]e are liable tobe bound by necessities which have less to do with our adherence to the principles of morality than with integrity or consistency of a more personal kind. These necessities constrain us from betraying the things we care about most and with which, accordingly, we are most closely identified. In a sense which a strictly ethical analysis cannot make clear, what they keep us from violating are not our duties or our obligations but ourselves. "23 Doch ginge es zu weit, darauf beharren zu wollen, dass für eine integre Person schlicht jede mögliche Alternative undenkbar ist. Ausnahmen müssen möglich sein, solange dies dem Selbstverständnis der Person keinen gravierenden Schaden zufügt. Integre Menschen sind nicht, wie z.B. drogensüchtige oder auch zwangsneurotische Menschen, hilflos einem innerlichen Zwang ausgeliefert. Die auf Integrität bedachte Person will. Sie hätte die Freiheit, an22 Vgl. George W. Harris (1999): Agent-centred Morality, Berkeley: Califomia UP. 23 Frankfurt (1988a), S. 91. Es ist ratsam, hier noch einmal zwischen absoluten und letzten Endes doch bedingten Selbstverpflichtungen zu unterscheiden. Ein Beispiel: Es mag einem berufstätigen jungen Mann überaus wichtig sein, von seinen Vorgesetzten und Kollegen als ein Mitarbeiter geschätzt zu werden, der stets zur Stelle ist, wenn man ihn ruft. Wenn ihm jedoch sein Selbstbild als ein guter Familienvater letztlich mehr am Herzen liegt, wird er im Konfliktfall man denke an den Fall einer Erkrankung seiner Kinder - Schädigungen jenes guten Rufs in Kauf nehmen.

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ders zu handeln, als es ihr Selbstverständnis von ihr verlangt, doch zieht sie ein solches Handeln in der Regel gar nicht ernsthaft in Betracht, weil sie ihr mit Werten behaftetes Selbstverständnis nicht leichtfertig opfert. Demnach wäre im Hinblick auf personale Integrität, insofern darunter Selbsttreue verstanden wird, treffender von einem kategorischen "Wollen" als von einem kategorischen "Müssen" zu sprechen. 24 Darüber hinaus hat sich der integre Mensch revisionsoffen zu halten, denn eines Tages mögen andere gute Gründe ihn dazu bewegen, seine bisherigen Grundüberzeugungen kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls auch zu verwerfen. 25 Wer sich niemals irritieren lässt, wird niemals einen Irrtum einsehen können. Daher muss Selbsttreue sogleich von überzogenen Formen der Unbeugsamkeit abgegrenzt werden, die einem gelingenden Leben auf Dauer abträglich sind: Sturheit, Borniertheit, Dogmatismus und Fanatismus sind Eigenschaften, in denen eine geradezu zwanghafte Selbsttreue am Werke ist. Hier schlägt Integrität in Fundamentalismus um. Menschen, die stur, borniert, dogmatisch oder fanatisch sind, lassen definitionsgemäß die Bereitschaft vermissen, sich auf eine Praxis ethischer Deliberation einzulassen. 26 Fraglich ist allerdings, ob überhaupt eine klare Grenze zwischen Selbsttreue unddefizientenFormen zwanghafter Unbeirrbarkeit auszumachen ist oder ob diesbezüglich von eher fließenden Übergängen zu sprechen wäre. An dieser Stelle muss es vorerst genügen, mit der Charaktereigenschaft "resolut" eben jene Persönlichkeitsschwelle zu markieren, an der ein Zuviel an Selbsttreue in Übertreibung ausartet. 27 Das Wesen existenzieller Selbstverpflichtungen wird aber auch dort erkennbar, wo wir es mit Individuen zu tun haben, die überhaupt gar keine unentbehrlichen Wertvorstellungen vorweisen können. Wendet man sich z.B. "depressiven" Personen zu, denen nichts in ihrem Leben wirklich wichtig zu sein scheint, so wird man feststellen, dass diese sich schon deshalb nicht treu sein können, weil sie gar kein substanzielles Selbstbild besitzen. Sie erfahren sich als "leer" und dem persönlichen Zerfall ausgesetzt. Schlägt man an dieser Stelle den Bogen zurück zu Williams' Kritik an der zeitgenössischen Moralphilosophie, so wird deutlich, welche ethisch-existenzielle Tragweite seinen Einlassungen zukommt. Wenn man das von der Unparteilichkeitsmoral geforderte Primat kategorischer Normen konsequent zu Ende denkt, dann droht dem Menschen ein Leben, das stets zugunsten allgemeiner Normen von et24 Vgl. Blustein (1991): Care and Commitment, New York u. Oxford: Oxford UP. 25 Haifon (1989); Neil Roughley (1996): "Selbstverständnis und Begründung", in: Annette Barkhaus u.a. (Hg.) (1996): Identität, Leiblichkeit, Normativität, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Dazu mehr in Kapitel 3. 26 Zur Unvereinbarkeit von Integrität und Fundamentalismus siehe Peter Rinderle (1994): "Liberale Integrität", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1/1994; Cheshire Calhoun (1995): "Standing for Something", in: Journal ofPhilosophy, 5/1995. 27 Dazu mehr in Kapitel 3.

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waig damit konfligierenden eigenen Neigungen abzusehen hätte. Ein solches Leben mag "Heiligen"28 beschieden sein, für die meisten Menschen jedoch dürfte es zweifellos ein ödes Leben sein, in dessen Verlauf es, ähnlich wie im Rahmen einer depressiven Existenz auch, zu einer Verwirklichung eigener Wünsche gar nicht kommen kann. Der ausnahmslos moralkonforme Mensch lässt wie der depressive einen individuellen Persönlichkeitskern vermissen: "This means that he Iacks a personal essence, which would comprise the necessary condition of his identity. For this reason, there is no such thing for him as genuine integrity. After all, he has no personal boundaries whose inviolability he might set himselfto protect. There is nothingthat he is essentially." 29 Wenn hier von einer "Essenz" personaler Integrität die Rede ist, dann sollte dies nicht als philosophische Reminiszenz an metaphysische Vergangenheiten missverstanden werden. Gemeint ist lediglich die weithin unproblematische Annahme, dass jede Person ein eigenes evaluatives Selbstverständnis besitzt, das ihren individuellen Charakter prägt. Ein Mensch, der keinen solchen Persönlichkeitskern aufzuweisen hat, kann deshalb auch nicht Integrität besitzen, weil er gar nicht weiß, wofür es sich, aus seiner Sicht, zu leben lohnt. Das Anliegen der Selbsttreue, d.h. einer Übereinstimmung von Selbstverpflichtungen und Lebensvollzügen, muss solchen Menschen völlig fremd vorkommen. Gleichwohl sollte von feststellbaren Defiziten an Integrität nicht immer gleich auf das vollständige Fehlen eines ethisch-existenziellen Selbstverständnisses geschlossen werden. Schwerwiegende Abweichungen von einem vormals festgesteckten Kurs reichen aus, um Integritätsmängel konstatieren zu können. Die bloße Möglichkeit, sich selbst treu zu sein, verweist auf den Umstand, dass sich eine Person schrittweise eben auch untreu werden, d.h. von sich selbst "entfremden" kann. 30 Entfremdende Grenzerfahrungen können von kleineren Kratzern am ethischen Selbstbild bis hin zur völliger Unkenntlichmachung dieses Selbstbildes reichen. Da der Begriff "Entfremdung" in der philosophischen Debatte vielfach belegt ist31 , sollten wir im Folgenden mit Blick auf die negative Kehrseite der Selbsttreue besser von einer Tendenz zur Depersonalisation sprechen. In klinischen Zusammenhängen wird damit gemeinhin das als leidvoll erfahrene Gefühl eines Patienten beschrieben, ihm komme die Selbstverständlichkeit abhanden, zu dem, was er denkt und tut, 28 Susan Wolf(1982): "Moral Saints", in: Journal ofPhilosophy, 8/1983. 29 Frankfurt (1999b ), S. 115. 30 Williams (1979), S. 81. Dazu kritisch Adrienne Piper (1987): "Moral Theory and Moral Alienation", in: Journal ofPhilosophy, 2/1987. 31 Vgl. Rahe! Jaeggi (2005): Freiheit und Indifferenz. Versuch einer Rekonstruktion des Entfremdungsbegrijj5, Frankfurt/Main u. New York: Campus (i.E.). Mit Blick auf die Integritätsproblematik siehe Flanagan (1991 ).

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,,Ich" sagen zu können. Geht mit der Selbsttreue das Vermögen zu einer reflektierten Identifikation mit je eigenen Wünschen und Werten verloren, so verschwindet damit einer der nach gängiger philosophischer Auffassung wohl wesentlichsten Aspekte des Personseins. Der Begriff der Depersonalisation ist daher als Bezeichnung für eine negative Tendenz der Integrität zur Selbstuntreue passender. Nur wer sich in diesem depersonalisierenden Sinne untreu und fremd werden kann, wird im Gegensatz dazu Integrität aufweisen können. Mit dem Streben nach Selbsttreue geht daher stets auch eine existenzielle Fragilität der Person einher: "Both the strength and the fragility of an entity are features of its integrity [... ]. A stone is not a diamond unless it has the strength to resist fracture under a certain degree of stress. Diamonds, however, also have a point at which they loose the capacity to retain the status as the wholes they are. [... ] The qualities a thing has in virtue of which we are willing to attribute integrity to it are its categorical qualities. By reaching the Iimits of its capacities to retain its categorical qualities under stress, integral breakdown occurs along the lines of the Iimitation threshold, and its integrity is lost. " 32 Mit Blick auf die Annahme, Selbsttreue müsse als Übereinstimmung von ethischem Selbstbild und existenziellem Lebensvollzug gedeutet werden, sind noch einige weitere begriffliche Spezifizierungen vorzunehmen. Es ist festzustellen, dass es dreierlei bedeutet, in Übereinstimmung mit dem eigenen ethischen Selbstverständnis "zu leben": Das Selbstbild einer Person muss erstens in ihren Äußerungen, zweitens in ihren Handlungen und drittens auch in ihrem sonstigen Verhalten zum Ausdruck kommen. 33 Abweichungen in allen drei Hinsichten könnenjeweils zu einem Verlust an Integrität führen. Je weniger sich die Prinzipien und Ideale einer Person in deren Auftreten niederschlagen, desto stärker nährt sich der Verdacht, dass die gemeinten Überzeugungen gar nicht tief genug in ihrem Selbstverständnis verankert sind. 34 Das Problem verschärft sich, wenn eine Person ohne elaboriertes Selbstbild in Gegenwart anderer Menschen lediglich "so redet", "so tut" oder sich "so gibt", als hätte sie bereits ein unumstößliches Selbst- und Weltbild. Menschen dieser

32 George W. Harris (1997): Dignity and Vulnerability, Berkeley: California UP, S. 7.

33 Diese Unterscheidung treffe ich im Anschluss an Charles Taylor (1988c): "Was ist menschliches Handeln?", in: ders. (1988b ). Man denke bei "sonstigem Verhalten" z.B. an Mimik, Gestik, Statussymbole oder Kleidung. 34 Gabriele Taylor (1985): Pride, Shame, and Guilt, Oxford: Oxford UP, Kap. 5. Beispiele sind der strikte Abtreibungsgegner, der seine Geliebte zum Schwangerschaftsabbruch ins Ausland begleitet; die bürgerliche Spießerin, die sich eine "flippige" Wohnungseinrichtung zulegt; die sonntägliche Kirchgängerin, die noch am Abend zuvor zu jeder Sünde bereit war.

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Art wirken für gewöhnlich unreif oder auch anmaßend, in keinem Fall jedoch integer. Selbsttreue setzt nicht nur ein tief verwurzeltes Geflecht aus Grundüberzeugungen und Selbstverpflichtungen voraus, sondern zudem die Etablierung komplementärer Sprech-, Handlungs- und Verhaltensmuster. Dieser Zusammenhang lässt sich prüfen, wenn die betreffende Person unter ethischen Rechtfertigungsdruck gesetzt wird. Ihr Leben muss nicht nur rein äußerlich in Konkordanz zu dem stehen, was sie für sich als wichtig erachtet, es sollte zudem einen gut begründeten Lebensvollzug darstellen. Auch wenn das evaluative Selbstbild eines Menschen im Alltag zumeist eine ganz unproblematische Umsetzung erfährt, sollte die betreffende Person doch auf Anfrage einen stichhaltigen Begründungszusammenhang herstellen können, vor dessen Hintergrund die jeweils in Frage stehende Äußerung, Handlung oder Verhaltensweise sinnvoll erscheint. 35 Darüber hinaus ist zu bedenken, dass es dem Menschen immer dann leicht fallen wird, in Einklang mit dem zu leben, was ihm wichtig ist, wenn ohnehin nichts und niemand ihn davon abhalten will. Erst wenn echte Hindernisse im Wege stehen, z.B. neurotischer Zwang, körperlicher Schmerz, soziale Hemmungen, äußerer Druck oder gar direkte Gewalt, wird Selbsttreue zum ernsthaften Problem. 36 Die Integrität einer Person muss sich auch oder besser gerade angesichts von Widerständen erweisen. Personale Integrität ist durch ein hohes Maß an Beherztheit charakterisiert. Sie ist die Kraft, den Widrigkeiten des Lebens ohne charakterliche Verluste zu trotzen. Das bedeutet selbstredend nicht, dass stets Widerstände vorhanden sein müssen, damit von Integrität die Rede sein kann. Die integre Person verkörpert lediglich den festen Entschluss, an dem, was ihr wichtig ist, auch dann festzuhalten, wenn einmal schwerwiegende Hindernisse auftreten sollten. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die selbstgestellte Forderung nach einer Übereinstimmung von Selbstbild und Lebensvollzug keineswegs bloß in eine Richtung zielt. Nicht nur muss retrospektiv das Auftreten einer Person mit deren Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen übereinstimmen. Die Person muss ihr Selbstbild immer auch prospektiv zum Ausdruck bringen wollen. Ein integrer Mensch meint nicht nur das, was er sagt und tut, er sagt und tut auch das, was er meint. Wer mit seinen Wertvorstellungen dauerhaft "hinter dem Berg" hält oder sich in sein privates Schneckenhaus zurückzieht, wird schwerlich eine integre Person sein können. Das grundsätzliche Vorhaben einer Transformation eigener Überzeugungen in Wort und Tat muss sozusagen auf dem ethisch-existenziellen "Masterplan" stehen. Insofern ist das

35 Rinderle (1994), S. 80. Wir kommen wiederholt auf diesen Punkt zurück. 36 Man kann hier zwischen internen und externen Hindernissen, d.h. zwischen Störungen des individuellen Selbstverhältnisses (siehe Kapitel 3) und der Beziehung zu anderen Menschen (siehe Kapitel 4) unterscheiden.

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SELBSTTREUE UND UNBESTECHLICHKEIT

integre Leben nicht nur beherzt, sondern auch durch ein großes Maß an Konsequenz gekennzeichnet. Eine integre Person gibt sich somit nicht nur das jeweils konkrete Versprechen, auf einem ganz bestimmten Vorhaben zu beharren. Sie unterliegt darüber hinaus dem "höheren" Schwur, an der Gesamtheit ihrer Versprechen festzuhalten. Diese doppelte Selbstverpflichtung, auch unter Druck und gegen Widerstände identitätsstiftende Selbstverpflichtungen einzugehen und zu realisieren, macht aus Selbsttreue ein "standhaltendes Wollen'm. Dies mag zunächst so klingen, als sei personale Integrität eine gewöhnliche "Tugend" neben anderen. 3R Diese Deutung ist jedoch verfehlt. Versteht man gemeinhin unter Tugend eine charakterliche Disposition zum Guten, so muss personale Integrität als eine Art Meta-Tugend gedeutet werden, die als doppelte Selbstverpflichtung der Ausübung konkreter Tugenden vorausliegt. 39 Integrität ist eine Handlungsorientierung zweiter oder besser noch dritter Stufe: Existenzielle Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen sind das Ergebnis eines reflektierten Willens zweiter Ordnung, der, im Sinne Frankfurts, einfache Wünsche erster Ordnung will, während er andere verneint. Personale Integrität hingegen ist ein abermals übergeordnetes Wollen dritter Stufe, das Ordnung in den Willen zweiter Ordnung bringt, der wiederum Wünsche erster Ordnung will. Selbsttreue ist als eine dauerhafte Meta-Verpflichtung gegenüber jeweils gut begründeten Einzelverpflichtungen anzusehen: "Personal integrity requires that an agent ( 1) subscribe to some consistent set of principles or commitments and (2), in the face oftemptation or challenge, (3) uphold these principles or commitments, (4) for what the agent takes to be the right reasons."40

Dass manche Menschen in besonders dramatischen Lebenssituationen für ganz bestimmte ihrer Selbstverpflichtungen sogar größte Risiken bis hin zum eigenen Tod in Kauf zu nehmen bereit sind, mag diese Selbstbindungen zwar nicht schon als solche objektiv wertvoll bzw. für jeden anderen Menschen nachahmenswert erscheinen lassen. Gleichwohl kann dieser Umstand als untrügliches Zeichen für die Unentbehrlichkeit eben dieser Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen in eben deren Leben gedeutet werden. Dazu ein Beispiel: Am 16. Januar 1969 verbrannte sich der Prager Student Jan Palach aus 37 Diesen Ausdruck verwendet in anderem Zusammenhang Martin See! (2002a): "Sich bestimmen lassen. Ein revidierter Begriff der Selbstbestimmung", in: ders. (2002b ): Sich bestimmen lassen, Frankfurt/Main: Suhrkamp. 38 Dieser Auffassung sind z.B. Cox/La Caze/Levine (2003). 39 Vgl. Williams (1984b), S. 58f. 40 McFall (1987), S. 9. Vgl. Christine McKinnon (1991): "Hypocrisy, with a Note on Integrity", in: American Philosophical Quarterly, 4/1991. John Beebe (1995): Integrity in Depth, New York: Fromm International.

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Protest gegen die russische Besatzungspolitik öffentlich selbst. Tragische Überzeugungstaten dieser Art machen deutlich, wie weit der Wunsch nach Integrität gehen kann. Sie markieren zugleich aber auch deren natürliche "Grenze". Eine Person mag zum Zwecke des Erhalts ihrer Integrität deren biologische Grundlage riskieren, wenn ihr die unwidersprochene Fortsetzung des Lebens unmöglich erscheint. 41 Dass im Fall Palachs tausende Menschen zum Begräbnis eines zuvor vollkommen unbekannten Mannes kamen, macht zudem deutlich, dass solche Taten, selbst wenn sie zu unwiederbringlichen Verlusten führen, größte Bewunderung hervorrufen können. Damit sind wir bei der Frage angelangt, wie Selbsttreue von außen, d.h. von anderen Menschen wahrgenommen wird. Hier geht es um die soziale Wünschbarkeil integrer Lebensformen. Personale Integrität wird gemeinhin als Grundlage von Vertrauens-, Solidaritäts-, Freundschafts-, Rechts- oder auch Geschäftsbeziehungen geschätzt. Eine integre Person "steht" zu dem, was sie denkt, sagt und tut. Sie ist verlässlich, hält ihre Verpflichtungen ein und kümmert sich um ihr "Geschwätz von gestern". Wir attestieren ihr Unbestechlichkeit. Eine integre Person wird in den Grundfesten ihres Charakters für so stabil und standhaft gehalten, dass wir davon ausgehen, sie werde sich jederzeit gegenüber Verführungs- und Manipulationsversuchen immun zeigen. Gleichwohl besteht die Möglichkeit, durch Verlockungen oder sonstige Anreize vom Kurs der Selbsttreue abgebracht zu werden. Dabei können unterschiedliche Schweregrade eines aus der Außenperspektive entsprechend als negativ einzustufenden Mangels an Integrität benannt werden. Zu differenzieren ist zwischen einer "bestechlichen", einer "korrupten" und einer "verkommenen" Person: Bestechlich ist ein Mensch dann, wenn er zwar eigene Grundüberzeugungen und Wertvorstellungen hat, sich aber gelegentlich aus Opportunitätserwägungen zu Ausnahmen hinreißen !äst. Man denke hier etwa an eine ansonsten verlässliche Amtsperson im Tietbauamt, die, weil sie sich bei ihrem eigenen Hauskauf übernommen hat, einer Baufirma gegen Bares lukrative Aufträge zuschanzt. Dieselbe Person ist jedoch als korrupt einzustufen, wenn diese Ausnahme zur Regel wird. Korrupte Menschen haben ihre Wertbindungen derart gelockert, dass sie sich um deren Realisierung kaum mehr kümmern. Bei Vorlage eines geeigneten Angebots lassen sie sich rasch gänzlich von ihrem Schlingerkurs abbringen. Demgegenüber kann ein Menschen als ethisch verkommen gelten, wenn er, wie z.B. der so genannte Wendehals, überhaupt gar keine festen

41 McFall (1987), S. 12f. Ein weiteres berühmtes Beispiel ist Sokrates, der den Schierlingsbecher der Verbannung vorzog. Dazu George Kateb (1998): "Socratic Integrity", in: Ian Shapiro/Robert Adams (1998) (Hg.): Integrity and Conscience, New Y ork u. London: New York UP.

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Überzeugungen besitzt und stattdessen sein Fähnchen in jeden neuen Wind hängt, um stets auf der sicheren Seite zu sein. 42 Der zunächst vergleichsweise harmlos erscheinende Integritätsmangel der Bestechlichkeit, ist für die Selbsttreue deshalb am gefährlichsten, weil er der Abhang ist, an dem die integre Lebensform ins Rutschen gerät. Wer sich angesichts einer entsprechenden Verlockung temporär zur Abweichung von seinen Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen hinreißen lässt, wird zukünftig vielleicht auch weitere Ausnahmen zu machen bereit sein, so dass der erste Bestechungsversuch in Konsequenz zur Erosion des gesamten Charakters führt. 43 Allerdings sollte auch hier nicht, ähnlich wie schon im Fall der in Fundamentalismus ausartenden Selbsttreue, einer sturen und bornierten Persönlichkeit das Wort geredet werden. Ein integrer Mensch darf sich nicht so weit unter Kontrolle haben, dass er sich in seinen Grundfesten durch nichts und niemanden mehr irritieren lässt. Auch hier muss eine Schwelle der Integrität angenommen werden, an der Selbsttreue in eine Art Beratungsresistenz umschlägt. Diese - zweifellos riskante - Hemmschwelle kann mit der Charaktereigenschaft "flexibel" belegt werden. Vor allem aber ist zu beachten, dass eine Fremdzuschreibung oder -aberkennung von Integrität keineswegs nur von den Grundüberzeugungen des jeweiligen Betrachters ausgehen darf, sondern in erster Linie jene Wertsetzungen in Betracht zu ziehen hat, die von der jeweils zu beurteilenden Person für sich selbst in Anspruch genommen werden. Ob eine Person Integrität besitzt und Unbestechlichkeit demonstriert, hängt zuallererst davon ab, ob sie in Einklang mit ihren Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen lebt: "The roJe of ethical integrity is very different in the third person, however. When I consider what life is best for someone else, I must take his settled convictions into account, just as facts, in my judgement about what kind oflife he should lead."44 Gleichwohl ist die Fremdzuschreibung personaler Integrität von der Selbsteinschätzung der zu beurteilenden Person zugleich abhängig und unabhängig. Zwar haben wir zunächst deren eigene Grundüberzeugungen in Betracht zu ziehen, doch mag unser Urteil darüber, ob die Person tatsächlich Integrität be42 Eine geniale Darstellung der Komik und Tragik derartigen Lebens gibt Woody Allen in Zelig (1982). Der Film handelt von einem unter extremen Minderwertigkeitsgefühlen leidenden menschlichen Chamäleon, das sich äußerlich und habituell jeder sozialen Umgebung anzupassen vermag. 43 Carter (1997), S. 11. Ähnliches gilt für die "Lüge": Wer einen anderen Menschen in einer wichtigen Angelegenheit belügt, wird sich später unter Umständen dazu genötigt sehen, diese Lüge mit weiteren Lügen abzusichern, wodurch die eigene Integrität ins Schwimmen gerät. Dazu Sissela Bok (1979): Lying, New York: Random Hause, S. 25ff. 44 Dworkin (1990), S. 81.

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sitzt, von deren eigener Einschätzung abweichen. Es ist denkbar, dass wir einem Menschen Integrität attestieren, ohne dass er selbst sich für besonders integer hält. Hier wäre z.B. an eine uns überaus fromm und verlässlich erscheinende Person zu denken, die in ihrem Innern jedoch von heftigen Selbstzweifeln geplagt ist, weil sie glaubt, dem Gebot christlicher Nächstenliebe nicht zu genügen. Es ist jedoch ebenso möglich, dass andere einem Menschen Integrität absprechen, obwohl er selbst sich als besonders integer erlebt. Man nehme den bekannten Fall eines Fußballtrainers, der aufgrund einer Haarprobe des Kokain-Konsums und damit der wiederholten Lüge überführt wird, obgleich er kurz zuvor in einem Interview vorgegeben hatte: "Integrität ist das höchste Lebensmotto". An dieser Stelle, wo das Wechselverhältnis zwischen der Selbst- und Fremdzuschreibung von Integrität thematisch wird, stellt sich erneut die Frage, inwieweit sich personale Integrität mit sittlicher Konformität verträgt. Wenn eine Person sich sehnliehst wünscht, in den Augen anderer als integer zu gelten, dann mag sie sich zu Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen hingezogen fühlen, für die sie aus der Außenperspektive eine sichere Zustimmung zu erwarten hat. Der Verdacht, dass ein durchweg normenkonformes Leben auf ethischem Ödland grast, ist hier bereits geäußert worden. Allerdings sollte dabei differenziert werden: zwischen dem Inhalt eines ethisch-existenziellen Selbstbildes und der Beziehung, die der jeweilige Mensch zu seinen Selbstverpflichtungen unterhält. Der Integritätsbegriff ist insofern "formal" zu verstehen, als der konkrete Inhalt der in Frage stehenden Wertvorstellungen zunächst relativ unbedeutend ist. Diese Wertvorstellungen dürfen inhaltlich von den Konventionen abweichen, sie können aber durchaus auch konventioneller Natur sein. Für die spezifische Beziehung, die eine Person zu ihren Überzeugungen unterhält, gilt das hingegen nicht. Eine integre Person darf ihre Grundüberzeugungen nicht einfach unkritisch von anderen übernommen haben. Sie muss sich diese im Laufe ihres Lebens zu eigen gemacht oder besser angeeignet haben, und zwar nach einer aus freien Stücken vorgenommenen, niemals gänzlich abgeschlossenen Selbstprüfung. 45 Daraus ergibt sich eine überaus wichtige Konsequenz: Wer von personaler Integrität im Sinne von Selbsttreue und Unbestechlichkeit spricht, der beurteilt nicht so sehr spezifische Selbstverpflichtungen im Einzelnen. Vielmehr ist der Gesamtcharakter einer Person im Visier, d.h. die persönliche Haltung, die sie zu ihren Grundüberzeugungen einnimmt, und zwar ganz gleich, ob diese nun inhaltlich konventionell oder aber unkonventionell sind. Vielleicht lehnen wir seine konkreten Selbstverpflichtungen ab, "but we may admire him at least for having the courage of his convictions." 46 Kann demnach in 45 Vgl. McFall (1987). 46 Gabriele Taylor (1981 ): "Integrity", in: Proceedings of the Aristotelian Society, Supplement 55/1981, S. 30.

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den Augen eines Betrachters, der sich politisch eher auf einer kommunistischen Plattform wähnt, selbst noch ein strammer Konservativer Integrität besitzen und umgekehrt? Es entspricht offenbar einer starken und nahezu alltäglichen Intuition, dass der Begriff der Integrität offen zu sein hat für die pluralistische Divergenz vorhandener Lebensorientierungen. Die Zuschreibung von Integrität darf keineswegs davon abhängig gemacht werden, ob der Zuschreibende selbst den Lebenswandel der betreffenden Person für nachahmenswert hält. Zugleich jedoch mag uns der nicht weniger alltägliche Verdacht beschleichen, dass personale Selbsttreue nicht vollständig in moralische Beliebigkeit abgleiten darf. Es ist uns für gewöhnlich nicht vollkommen egal, welche spezifischen Wertvorstellungen der nach Integrität strebende Mensch verfolgt. Kann er ein überzeugter Krimineller oder gar eine moralische Bestie sein? Zweifellos gibt es moralische Grenzen dessen, was wir an substanziellen Wertvorstellungen zulassen, wenn wir von der Integrität einer Person sprechen. Es zeigt sich also, dass die Analyse des bislang weitgehend in einem vormoralischen Sinne gedeuteten Integritätsbegriffes nun doch um die Frage nach etwaigen moralischen Restriktionen erweitert werden muss. So werden wir innerhalb der Integritätsanalyse von Fragen der Moral eingeholt, die wir mit Williams und dessen moralkritischen Überlegungen zunächst hatten ausklammem wollen. Bevor wir uns genau diesem Problem, d.h. der Frage nach der moralischen Verträglichkeit personaler Integrität, zuwenden, lassen sich die bisherigen Ergebnisse wie folgt zusammenfassen: Personale Integrität hat sich aus der Innenperspektive der betroffenen Person als Selbsttreue zu erweisen, während entsprechende Integritätsmängel als Tendenz zur Depersonalisation erfahren werden. Aus der Außenperspektive hingegen wird Selbsttreue als Unbestechlichkeit wahrgenommen, während sich entsprechende Defizite in einem unterschiedlichen Ausmaß an Bestechlichkeit bemerkbar machen.

2.2 Rechtschaffenheit und Unbescholtenheit Der im letzten Abschnitt umrissene Integritätsbegriff ist insofern als formal und vormoralisch aufgefasst worden, als der Zusammenhang von Selbstbild und Lebensvollzug nur dann einer Überprüfung standzuhalten hatte, wenn deren Einklang explizit in Frage stand. Eine genauere Spezifizierung substanzieller Inhalte schien bislang nicht geboten. Im letzten Abschnitt ist jedoch zugleich deutlich geworden, dass im Rahmen von ethischen Selbstverständigungsprozessen mindestens zwei Sorten von Grundvorhaben kollidieren können: präferenzielle und moralische Orientierungen. Mit präferenziellen Überlegungen zielt eine Person auf die Beantwortung der Frage, was zu tun für sie am Besten wäre. Moralische Reflexionen hingegen kreisen um das Problem,

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was zu tun mit Rücksicht auf andere geboten ist. Diesbezüglich war im letzten Abschnitt der Verdacht geäußert worden, dass die Integrität einer Person zwar keineswegs gänzlich in den sittlichen Wertvorstellungen ihrer Gesellschaft aufgehen darf, ja, dass mit Integrität gar eine gewisse Devianz verträglich ist. Dennoch stehen die Mitglieder einer Gemeinschaft nicht vollkommen gleichgültig der Frage gegenüber, mit welchen Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen sie es beim jeweils anderen zu tun haben. Zwar sprechen wir einem Menschen nicht allein dann Integrität zu, wenn er, wie ein Heiliger, in einem umfassenden Sinne moralische Tugenden aufweist. Ja, wir können ihm in vielen Fällen auch dann noch Integrität attestieren, wenn er Werte vertritt, die auf die meisten von uns eher befremdlich bis abstoßend wirken. Dennoch gibt es Ausnahmen, in denen der Lebenswandel einer Person uns moralisch derart bedenklich erscheint - man nehme das Beispiel eines Verkäufers von Kinderpornographie -, dass wir beinahe sicher sind, ausschließen zu können, dass die Integritätskategorie hier überhaupt noch anwendbar ist. Dazwischen gibt es zahlreiche Grenzfälle der Moral, die zugleich Grenzfälle der Integrität in dem Sinne sind, dass in ihnen fraglich wird, ohne dass es damit bereits ausgeschlossen ist, ob wir Integrität attestieren können oder nicht: "The person of lntegrity need not be a Gandhi but also cannot be a person who blows up buildings to make a point."47 Aus dem Umstand, dass Menschen in alltäglichen Entscheidungssituationen zwischen präferenziellen und moralischen Erwägungen schwanken können, sowie aus der Tatsache, dass wir in der Beurteilung personaler Integrität nicht gänzlich frei von moralischen Vorbehalten sind, ergibt sich die Notwendigkeit, Grenzen der moralischen Verträglichkeit integren Lebens auszuloten. Die Dringlichkeit dieser Klärung zeigt sich vor allem dort, wo, wie im Fall des politisch oder religiös motivierten Bombenlegers, Wertüberzeugungen ins Extrem gesteigert werden. Fanatiker und Schwerverbrecher sind gewillt, unbeirrt und notfalls mit Gewalt ihre Pläne zu verwirklichen. Offenbar verstoßen sie damit gegen elementare Intuitionen, die mit dem Begriff der Integrität verknüpft sind. Um welche Intuitionen jedoch handelt es sich? Solange die Frage unbeantwortet bleibt, ob und inwieweit das integre Leben spezifisch moralischen Restriktionen unterliegt, muss es sich bei personaler Integrität, wie John Rawls kritisch angemerkt hat, um eine Ansammlung von Charaktereigenschaften handeln, die selbst der "Tyrann" vorweisen kann. 48 Zunächst mag es nahe liegen, mit Blick auf die Spannung zwischen präferenziellen und moralischen Erwägungen von einem grundsätzlichen Konflikt

47 Carter (1997), S. 7. Vgl. G. Taylor (1985); Calhoun (1995). 48 Rawls (1975), S. 564.

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zwischen zwei Formen von Integrität- einer ethisch-existenziellen und einer spezifisch moralischen - auszugehen. Die Alternative würde dann lauten: Entweder man ist sich selbst treu oder aber man ist moralisch integer. 49 Diese Dichotomisierung ist jedoch verfehlt. Moralische Integrität darf nicht, wie sich nun zeigen wird, als Gegempielerin einer spezifisch ethischen Integrität konzeptionalisiert werden, sie muss vielmehr als deren Bestandteil gedeutet werden. Moralische Integrität ist ein "Minimum" an Normenkonformität, das die Selbsttreue aufweisen muss, um auch aus der Perspektive anderer als Integrität gelten zu dürfen. Angesichts der Gefahr, dass Selbsttreue in Rücksichtslosigkeit umschlägt, zieht die Idee moralischer Integrität Grenzen sozialer Verträglichkeit. Aber verlassen wir damit endgültig das Feld einer strikt formalen Analyse, da nunmehr substanzielle moralische Restriktionen im Raume stehen? Beginnen wir direkt mit der Fremdzuschreibung von moralischer Integrität, denn dabei handelt es sich um Fragen von konkreter sittlicher Tragweite. In der Alltagssprache sind mit dem Integritätsbegriff spezifisch moralische Bedenken häufig dann verbunden, wenn Mitmenschen sich danach erkundigen, ob eine Person sich im Laufe ihres Lebens etwas hat "zu Schulden" kommen lassen. Ist dies nicht der Fall, so wird ihr eine "weiße Weste" und vor allem "Unbescholtenheit" attestiert. Diese Klassifizierungen zielen offenkundig nicht bloß auf die formal gehaltene Frage, ob die betreffende Person in Einklang mit ihren Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen lebt, vielmehr unterzieht die beurteilende Person die Lebensgeschichte und den Lebenswandel der beurteilten Person einer explizit moralischen Bewertung. Ein Mensch gilt als unbescholten oder moralisch integer, wenn man ihm öffentlich nichts vorzuwerfen hat, wenn er frei von "Schimpf und Tadel" ist. Die Feststellung einer derart "unbefleckten" Reputation kann dann so weit gehen, der betreffenden Person "Reinheit" und "Unschuld" des Gewissens zu unterstellen. 5° Aus der Betroffenenperspektive vermag man sich solchen moralischen Beurteilungsverfahren schwerlich zu entziehen, solange man darauf angewiesen ist, in soziale Anerkennungsverhältnisse eingebunden zu sein. 51 Auch wenn sich das eigene Leben niemals gänzlich mit Moral und Sittlichkeit zur Deckung bringen lässt, werden Personen doch in der Regel ein Interesse daran haben, in der jeweiligen Gemeinschaft, in der sie leben, nicht als völlig ruchlos oder verdorben zu gelten. Von extremen oder gar soziapathischen Ausnahmen einmal abgesehen, kann es aus der Binnensicht des nach Integrität 49 Vgl. McFall (1987). Einen überwiegend moralischen Integritätsbegriff vertreten Peter Winch (1972a): "Moral Integrity", in: ders. (1972b): Ethics and Action, London: Routledge; Herman (1983); Korsgaard (1996). 50 Auf den hier bereits anklingenden katholischen Diskurs um "Unschuld" und "Unbeflecktheit" kommen wir im letzten Abschnitt dieses Kapitels zurück. 51 Dazu mehr in Kapitel 4.

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strebenden Menschen allein deshalb zu einem tiefgreifenden Konflikt zwischen präferenziellen und moralischen Erwägungen kommen, weil stets schon die folgenden beiden Bedingungen erfüllt sind: Personen gestehen sich einerseits ein gewisses Eigenrecht auf die Verfolgung ihrer jeweils spezifischen Lebenspläne zu, von denen sie wissen, dass sie mit den Anforderungen von Moral und Sittlichkeit in Konflikt geraten könnten. Anderseits gestehen sie aber auch der Moral ein gewisses Eigenrecht zu, da deren Gültigkeit offenbar nicht von dem besonderen Wohlverhalten einzelner Personen abhängig gemacht werden darf.5 2 Als das vernünftige Resultat eines derart gedoppelten und zunächst paradox anmutenden Rechtsempfindens ist die Bereitschaft anzusehen, sich im Rahmen der eigenen ethisch-existenziellen Grundsatzentscheidungen stets auch auf spezifisch moralische Überlegungen einzulassen, an denen sich die jeweils zu treffende Entscheidung wird messen lassen müssen. Damit erhält aus Sicht der Betroffenen die Moral selbst den Status einer ethischen Selbstverpjlichtung, und zwar in Gestalt der Bereitwilligkeit zu einem fortgesetzten Perspektivenwechsel zwischen Fragen nach dem, was präferenziell am besten wäre, und dem, was aus Sicht anderer geboten ist. Diese Bereitwilligkeit, sich an der Moral bzw. an den jeweils vorherrschenden Sittlichkeitsvorstellungen der eigenen Gemeinschaft zumindest zu orientieren, dient nicht zuletzt dem Ziel, in den Rang einer moralisch integren Person zu gelangen. Was aus der Außensicht der Fremdzuschreibung als Unbescholtenheit charakterisiert wird, stellt sich aus der Binnensicht der nach Integrität strebenden Person als Tendenz zur "Rechtschaffenheit" dar. Wer sich um die soziale Verträglichkeit der eigenen Lebensvollzüge sorgt, wer darüber hinaus gar zum moralischen Gelingen seiner Gemeinschaft aktiv beitragen will, folgt dem Bedürfnis, sich im Rahmen seiner Lebensvollzüge als ein nicht nur Rechte genießendes, sondern auch das Rechte schaffendes Mitglied der Gemeinschaft erfahren zu können. Wer hingegen nicht zur Rechtfertigung seiner Lebensvollzüge bereit ist, wird moralische Integrität von vomherein vermissen lassen. 53 Gewiss sind damit noch immer keine substanziellen Angaben über das moralische Minimum gemacht, das der rechtschaffene und unbescholtene Mensch vorzuweisen hat, dennoch treten erste Aspekte der individuellen "Motivation" zur Moral in den Vordergrund: Die nach Integrität strebende Person ist deshalb an einer spezifisch moralischen Integrität interessiert, weil es ihr ein grundlegendes Anliegen ist, Lebensorientierungeil vorweisen zu können, die mit den Ansichten und Interessen ihrer 52 Zum ersten Punkt siehe Eric Maclc (1993): "Personal Integrity, Practical Recognition, and Rights", in: The Monist, 1/1993; zum zweiten Punkt Abschnitt 4.1. 53 Es mag Menschen geben, die an moralischer Integrität, d.h. an Rechtschaffenheit, nicht sonderlich interessiert sind. Sie werden Integrität im umfassenden Sinne nur dann besitzen können, wenn sie wenigstens das im Folgenden zu umreißende moralische Minimum erfüllen.

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Mitmenschen nicht unnötig kollidieren. Demnach muss, wie schon vermutet, die moralische Integrität einer Person als genuiner Bestandteil ihrer Gesamtintegrität aufgefasst werden und nicht als deren Gegenspieler. Personen sind nicht, wie Williams vermutet hat, zwischen ihrer personalen Integrität einerseits und externen moralischen Erwägungen anderseits zerrissen, vielmehr ist der Konflikt zwischen präferenziellen und moralischen Erwägungen innerhalb der Integrität selbst anzusiedeln. Zwar kann es sein, dass die moralische Integrität gegenüber anderen Aspekten der Persönlichkeit - etwa deren professioneller, intellektueller, religiöser, politischer und künstlerischer Integrität54 - von der Person selbst als vordringlicher und normativ höherwertig eingestuft wird und im Konfliktfall einen gewissen Trumpfcharakter besitzt. Gleichwohl wird das Streben nach Rechtschaffenheit aus der Binnenansicht der Betroffenen als nur ein Grundvorhaben neben anderen erfahren: "But if morality is an aspect of integrity which not all persons of integrity possess but ought to strive for, then the moral commitments persons of integrity should strive to develop are part of their (full) integrity. Persons of integrity are committed to integrity that includes morality". 55 Eine Person, die nach Integrität strebt, findet sich immer schon in ein Netz sozialer Wechselbeziehungen eingelassen, und sie hofft, darin für ihre Überzeugungen Akzeptanz oder wenigstens Toleranz zu erfahren. Gleichwohl kann sie nicht schon davon ausgehen, für ihre Lebensvollzüge stets ein umfassendes Einverständnis im Sinne einvernehmlicher Zustimmung zu erhalten. Andere müssen dem Lebenswandel einer Person, der sie Integrität bescheinigen, nicht schon derart emphatisch zustimmen können, dass sie diesen für unbedingt nachahmenswert halten. Dennoch sollten sie die entsprechenden Überzeugungen und Wertsetzungen zumindest insoweit nachvollziehen können, dass sie dem betreffenden Menschen vor dessen spezifischem Hintergrund unterstellen dürfen, dass er seine Lebensweise mit hinreichend guten Gründen zu vertreten vermag. Man sollte demnach, im Sinne von Rawls, von der Möglichkeit eines "reasonable disagreement" in ethisch-existenziellen Fragen ausgehen: Mit Blick auf die Integrität einer Person muss auf Seiten anderer lediglich so etwas wie Verständnis, Akzeptanz oder wenigstens Toleranz vorliegen. Es wäre jedoch zu viel verlangt, stets auch ein umfassendes Einverständnis fordern zu wollen. 56

54 Dazu Albert W. Musschenga (1998): "Personal and Moral Integrity", Ms.; Cox/ La Caze/Levine (2003), Kap. 4. 55 Ramsay (1997), S. 16. Der Standpunkt der Integrität ist eben nicht schon mit dem der Moral identisch. Dazu mehr in Abschnitt 4.1. 56 Dazu McFall (1987); Rinderle (1994).

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Um dies zu verstehen, sollte mit Blick auf die Rechtfertigung eines konkreten Lebensvollzuges zwischen "guten Gründen", "hinreichend guten Gründen" und "vollständig guten Gründen" unterschieden werden. Gründe sind Urteile oder Sachverhalte, mit denen eine Person ihre Äußerungen, Handlungen oder ihr sonstiges Verhalten zu rechtfertigen versucht. Gut sind diese Gründe dann, wenn die dabei vorgebrachten Annahmen das zu Begründende tatsächlich zu stützen vermögen. Argumente, die anderen oder gar einem selbst unplausibel erscheinen, sind zwar Gründe, schwerlich aber gute. Hinreichend gut sind diese Gründe dann, wenn sie eine weitere Rechtfertigung obsolet werden lassen. Sie brauchen aber, wie gesagt, lediglich zu Akzeptanz und Verständnis seitens der anderen zu fuhren, damit diese von weiteren Fragen absehen, aber nicht schon zu deren vollkommenem Einverständnis im Sinne der Bereitschaft, diesen Gründen ebenfalls zu folgen. Aus der ethisch-existenziellen Sicht der anderen können diese Gründe noch immer ablehnenswert erscheinen. Dagegen liegen vollständig gute Gründe allein dann vor, wenn aus Sicht dieser anderen Personen überhaupt gar keine weiteren guten Gründe abzusehen sind, die jene zu übertrumpfen vermögen. Zwar beglaubigen solche Gründe nicht schon die "objektive Wahrheit" der darin zum Ausdruck kommenden Annahmen, doch erweisen sie sich im jeweils strittigen Kontext für alle als zwingend und nachahmenswert. Was aber bedeuten diese Unterscheidungen für die Integritätsproblematik? Um moralische Integrität besitzen zu können, d.h. um als rechtschaffen bzw. unbescholten gelten zu dürfen, reichen bloß "gute" Gründe nicht aus, es müssen jedoch auch keine "vollständig guten" Gründe vorhanden sein, die den Diskurspartner sogleich zu einem ethischen Kurswechsel nötigen würden. Es genügen "hinreichend gute" Gründe, die für alle nachvollziehbar sind und die zu einem Abbruch der weiteren Befragung führen. Demnach können wir von moralischer Integrität im Sinne der Rechtschaffenheit und Unbescholtenheit dann sprechen, wenn die betreffende Person in ihrem Lebensvollzug ersichtlich um die Rechtfertigbarkeit ihres Tuns mit hinreichend guten Gründen bemüht ist. Zum Selbstverständnis integrer Personen gehört ein affirmatives Verhältnis zur Teilnahme an einer mit anderen geteilten Lebensform sowie die Bereitschaft, für ihr Verhalten notfalls gute Gründe anzuführen, d.h. für ihre Äußerungen und Handlungen "gerade zu stehen". 57 Integrität äußert sich als Praxis einer verantwortlichen Selbstüberprüfung und Selbstbeschränkung nach Maßgabe einer Orientierung an auch von anderen geteilten Wertvorstellungen. Im Hinblick auf die Frage nach dem moralischen Minimum der Integrität führen diese Überlegungenjedoch zu einem eher ernüchternden Ergebnis: Die moralische Grenze integren Lebens wird sich auf theoretischem Wege gar 57 Calhoun (1995); Roughley (1996).

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nicht unabhängig von den konkreten sittlichen Wertvorstellungen der jeweiligen Gemeinschaft bestimmen lassen, in denen dieses Leben geführt wird. Was im Einzelnen als moralisch verträglich gilt bzw. toleriert werden kann und was nicht, hängt wesentlich von der konkreten Sittlichkeit eben jener Umstände ab, in denen es zu moralischen Meinungsverschiedenheiten kommt. 58 Um noch mit Rechtschaffenheit und Unbescholtenheit vereinbar zu sein, muss die in Frage stehende Eigenschaft, Wertvorstellung, Handlung etc. gerade noch für moralisch erträglich gehalten werden, obwohl sie aus der spezifisch präferenziellen Sicht der anderen abgelehnt wird. Die Schranke, an der die Fremdzuschreibung moralischer Integrität halt macht, befindet sich dort, wo ethisch anstößige Eigenschaften oder Wertvorstellungen sittlich toleriert werden müssen, weil die Person als Persontrotz allem noch Respekt verdient. Da der Anspruch auf moralische Integrität stets in konkrete soziale Kontexte eingelassen ist, wird die Grenze integren Lebens daher nicht durch das bestimmt, was idealiter - im Sinne einer abstrakten Philosophenmoral der Unparteilichkeit - moralisch wäre, sondern durch das, was de facto in den jeweiligen Kontexten für sittlich tolerabel gehalten wird. Damit bleibt die Formalität der Integritätsanalyse auch noch im Hinblick auf deren moralische Grenzen durch eine, wenn man so will, "diskursethische" Zusatzprämisse bewahrt: Was substanziell als moralisch nicht mehr tragfähig oder auch, juristisch ausgedrückt, als "sittenwidrig" gilt, kann nicht schon von der philosophischen Analyse vorweggenommen werden. Der materiale Gehalt eines Minimums moralischer Integrität ist Verhandlungssache derjenigen, die um die Anerkennung ihrer jeweiligen Ansprüche auf Integrität streiten. Damit liegt sogleich die Frage auf der Hand, wie die Mitglieder eines Gemeinwesens mit ihren Integritätsansprüchen öffentlich zu verfahren haben, wenn gravierende moralische Meinungsverschiedenheiten auftreten. Die Idee moralischer Integrität setzt offenkundig einige eher formale, kommunikationstheoretische Konsistenzerwägungen voraus. 59 Integre Diskurspartner müssen sich angesichts moralischer Konflikte grundsätzlich diskussionsbereit und anderen Meinungen gegenüber aufnahmefähig zeigen. Sie haben zudem mit der Möglichkeit zu rechnen, dass sie sich im Zuge dieser Auseinandersetzungen zu Kurskorrekturen an ihrer Vorstellung von Integrität veranlasst sehen werden. Darüber hinaus müssen sie sich gegenseitig unterstellen können, dass sie denjeweiligen politischen Konsequenzen zustimmen werden, die sich aus ihrenjeweils eigenen Überzeugungen ergeben mögen.

58 Sieht man einmal ab von eher unumstrittenen, kulturübergreifenden Normen wie dem Verbot der Tötung aus niedrigen Beweggründen oder dem Gebot der Vermeidung unnötigen Leids. 59 Amy Gutmann/Dennis Thompson (1990): "Moral Conflict and Political Consensus", in: Douglass/Mara/Richardson (1990), S. 136ff. 101

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Demnach, so können wir zusammenfassen, fußt das moralische Minimum der Integrität nicht nur auf der Bereitschaft zu einer ethisch-existenziellen Rechtfertigungspraxis unter Berücksichtigung möglicher Interessen anderer, sondern auch auf dem Respekt vor einer Schnittmenge konkreter sittlicher Grenzziehungen. 60 Selbstredend kann von niemandem erwartet werden, dass er seine Selbstverpflichtungen, Äußerungen und Handlungen stets und ständig öffentlich begründet. Die Forderung nach Rechtfertigung ist allein dann zulässig, wenn die Interessen anderer berührt sind und schädliche Auswirkungen auf deren Integrität zu befürchten sind. Darüber hinaus sollte der integre Mensch allein schon deshalb nicht unentwegt oder gar zwanghaft sinnieren, weil es ebenso zu einem Leben in Integrität gehört, handlungsfahig zu bleiben und "zur Sache zu kommen". Unter Umständen kann dies sogar bedeuten, auch dann aktiv zu werden, wenn zu befürchten ist, dass andere nicht werden zustimmen können. Die Beherztheit und Konsequenz, die man von einer integren Person erwartet, können diese dazu drängen, gezielt gegen geltende Regeln zu verstoßen. Wenn dafür in erster Linie präferenzielle, d.h. selbstbezogene, Motive ausschlaggebend sind, kann von Trotz, Devianz oder auch Renitenz die Rede sein, wird dabei so etwas wie eine "höhere" Moral ins Spiel gebracht, d.h. eine andere Gerechtigkeit als jene, die sittlich vorherrscht, so kann von Opposition und Rebellion bis hin zur Revolution gesprochen werden. 61 Es kann also geschehen, dass sich eine Person aufgrund von Integritätserwägungen dazu genötigt sieht, ihre "Unschuld" aufzugeben, d.h. an moralischer Integrität einzubüßen. Wenn hier von "Unschuld" die Rede ist, so kann damit selbstredend bloß menschenmögliche Rechtschaffenheit und Unbescholtenheit gemeint sein. Da eine Rückkehr in ursprüngliche Unschuld vor dem ,,Sündenfall" undenkbar ist, nimmt das Konzept irdischer Rechtschaffenheit und Unbescholtenheit deren säkularen Platz ein: Rechtschaffen ist diejenige Person, die ihre Lebensvollzüge hinreichend an moralischen Prinzipien ausrichtet. Als unbescholten kann sie darüber hinaus dann angesehen werden, wenn ihre Mitmenschen ihr nichts vorzuwerfen haben. 62 Als unschul60 Hier geht es ausdrücklich nicht, wie etwa bei Rawls, um einen "übergreifenden Konsensus" im Sinne einer Schnittmenge gemeinsam geteilter Werte, sondern um einen Bereich der Toleranz, dessen Grenze zwischen gerade noch verträglichen und nicht mehr erträglichen Wertvorstellungen verläuft. 61 Im ersten Fall wäre an einen Künstler zu denken, der vermeintlich "unmoralische" Werke produziert, im zweiten Fall an Sophokles' Antigone. 62 Es ist zu bedenken, dass die jeweilige Gemeinschaft, die eine derartige Zuschreibung vornimmt, im Besitz einer "falschen" Moral sein kann. In Zeiten der Diktatur können Menschen als vorbildlich gelten, die in Rechtsstaaten bloß Verachtung finden würden. Leider kann ich die damit aufgeworfene Frage, ob das moralische Minimum der Integrität nicht letztlich doch auf eine Rechtfertigungsgemeinschaft verweist, die den sittlichen Kontext konkreter Gemein-

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dig kann ein Mensch heute allenfalls noch gelten - sieht man einmal vom

strafrechtlichen Gebrauch des Wortes ab-, wenn er rechtschaffen und unbescholten ist, ohne sich dessen bewusst zu sein: "Integrity requires a selfknowledge which innocence cannot possess." 63 Hinsichtlich der Frage, wie ein entsprechender Verlust an Rechtschaffenheit aus der Binnenperspektive der betroffenen Person erfahren wird, müssen mindestens zwei negative Falltypen unterschieden werden. Wenn eine Person einer anderen weitgehend ungewollt einen Schaden zugefügt hat, können Schuldgefühle und Reue, in weniger gravierenden Fällen schlechtes Gewissen aufkommen. Gänzlich anders geartet sind Situationen, in denen sich eine Person nahezu gezwungen sieht, eine moralisch bedenkliche oder gar verwerfliche Tat zu vollbringen, gerade um ihre Integrität zu retten. Man denke hier etwa an den im Anschluss an Immanuel Kant viel diskutierten Fall der "Notlüge" oder auch an Lawrence Kohlbergs berühmtes "Heinz-Dilemma", in dem der gleichnamige Ehemann einer krebskranken Frau steckt, der in eine Apotheke einzubrechen gedenkt, um ein teures Medikament zu stehlen. In Fällen dieser Art ist im Rahmen der Integritätsdebatte häufig treffend vom Phänomen "schmutziger Hände" die Rede. Hier wird ein Verlust an moralischer Integrität im Sinne der Rechtschaffenheit gezielt in Kauf genommen, um dadurch die Integrität insgesamt zu bewahren. 64 Dies führt uns zu der Einsicht, dass eine integre Person Einbußen an moralischer Integrität erleiden kann, ohne damit sogleich ihre Gesamtintegrität zu verlieren. Auch aus der Außensicht der Fremdzuschreibung von Unbescholtenheit sind dabei zwei negative Falltypen zu unterscheiden. Im ersten Fall fügt ein Mensch einem anderen aufunmoralischem Wege einen Schaden zu und lädt "Schuld" auf sich. Er überschreitet die Grenzen des moralisch Erträglichen und "befleckt" seine "weiße Weste". Fälle des zweiten Typs sollen an folgendem Beispiel illustriert werden: Der Argentinier Diego Armando Maradona, einst zweifelsohne einer der besten Fußballspieler der Welt, erzielt im Viertelfinale der Fußballweltmeisterschaft 1986 in Mexiko ein entscheidendes Tor gegen den Erzfeind England. Allerdings nimmt er dabei, für Kameras und Zuschauer kaum merklich, regelwidrig die Hand zur Hilfe. Der Schiedsrichter lässt das Tor gelten. Auf die Frage eines Reporters, wie es zu diesem Tor gekommen sei, antwortet Maradona: Die "Hand Gottes" sei im Spiel gewesen.

schaften in Richtung einer Weltgesellschaft transzendieren würde, hier nicht weiter behandeln. Den Hinweis verdanke ich Klaus Roth. 63 Peter Johnson (1988): Politics. Innocence. and the Limits ofGoodness, London u. New York: Routledge, Kap. I, hier S. 15. 64 Michael Stocker (1990a): "Dirty Randsand Ordinary Life", in: ders. (1990b): Plural and Conjlicting Values, Oxford: Oxford UP; G. Taylor (1981 ).

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Mit diesem ironischen Beispiel ist ein wichtiger moralischer Integritätsmangel angezeigt, und zwar buchstäblich: die Scheinheiligkeit. Im Fall Maradona kann nicht wirklich von einer infamen Lüge die Rede sein, eher von einer Mischung aus charmanter Tatsachenverdrehung und größenwahnsinniger Selbststilisierung. Der scheinheilige Mensch täuscht andere über seine, in Wahrheit, unmoralischen Motive hinweg, und zwar in Hinsichten, die für die Getäuschten- in diesem Fall: Gegner und Zuschauer- wichtig sind. 65 Ihm ist daran gelegen, die Wahrnehmungen anderer zu seinen Gunsten zu manipulieren, um vor allem sich selbst dadurch in ein möglichst günstiges Licht zu rücken. Während der integre Mensch daran interessiert ist, nach seinen eigenen Wertmaßstäben zu leben, geht es dem Scheinheiligen eher darum, dass andere glauben, er lebte nach ihren. Die integre Person handelt aus eigener Überzeugung, die scheinheilige aus der moralischen Selbstgefälligkeit heraus, als ein guter Mensch dastehen zu wollen. 66 Scheinheilige Menschen wollen vor allem den Eindruck moralischer Integrität erwecken, indem sie letztere bloß simulieren. In Wahrheit sind sie heuchlerisch nach außen, selbstsüchtig und selbstgefällig nach innen. Werden sie durchschaut, stoßen sie auf größte Ablehnung, weil sie eine Gefahr für das System der Moral darstellen. Sie untergraben die Idee des "Guten", indem sie sich besser darstellen, als sie es in Wahrheit sind. 67 Fassen wir diesen Abschnitt zunächst zusammen: Moralische Integrität in dem hier erläuterten Sinne sittlicher Tolerierbarkeit muss als ein korrigierender Teilaspekt personaler Integrität begriffen werden. Der Konflikt zwischen präferenziellen und spezifisch moralischen Selbstverpflichtungen ist der Integrität keineswegs äußerlich. Aus der Binnensicht der Betroffenen wird moralische Integrität als Rechtschaffenheit erfahren. Ein entsprechender Mangel ist als das Phänomen schmutziger Hände beschrieben worden. Aus der Perspektive der Fremdzuschreibung wird in positiver Hinsicht Unbescholtenheit, in negativer Hinsicht vor allem Scheinheiligkeit attestiert. Das geforderte moralische Minimum der Integrität lässt sich wie folgt charakterisieren: Die integre Person muss ihre moralischen Konflikte hinreichend reflektieren und an den Toleranzgrenzen ihrer sittlichen Gemeinschaft ausrichten, auch wenn die Moral selbst dabei das Nachsehen haben kann. Die integre Person zielt nicht allein auf das moralisch Gute, sondern auf das fiir sie alles in allem Gute. Worin dieses besteht, kann nicht schon auf theoretischem Wege vorweggenommen werden: 65 Von der "Unaufrichtigkeit" wäre die Scheinheiligkeit vor allem dahingehend zu unterscheiden, dass erstere sich auch auf nicht-moralische Angelegenheiten beziehen kann. 66 Bemard Mayo (1978): "Moral Integrity", in: Godfrey Vesey (1978) (Hg.): Human Values, Sussex: Harvester; Williams (1984b); Blustein (1991). 67 McKinnon (1991).

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"[P]ersons of integrity will characteristically maintain a consistent commitment to do what is best - all things considered - and this normally involves acting in the appropriate mannerat distinct and separate points in time." 6R Das bedeutet jedoch auch, dass eine Person nicht auf integre Weise das Schlechte oder Böse wollen kann. Sie hat das Gute im Sinn, selbst wenn sich im Nachhinein herausstellen sollte, dass es das Schlechte war. Damit ist ein konzeptioneller Mittelweg eingeschlagen, der zwischen einer subjektivistischen Integritätstheorie, die sämtliche Wertsetzungen dem Individuum selbst überlassen würde, und einem objektivistischen Ansatz, der die Integrität auf ein konkretes, allgemein menschliches Gutes einzuschwören versuchte, hindurchführen soll. Entscheidend für die Integrität ist allein die Disposition zum Guten. Der integre Mensch muss das Gute subjektiv tun wollen, wenn er es auch objektiv verfehlen kann. Die Reflexion auf das Gute schließt moralische Erwägungen stets mit ein, obgleich diese keineswegs immer obsiegen müssen. Die Bedingungen personaler Integrität sind bereits dann eingehalten, wenn eine Person ihre Entscheidungen hinreichend kritisch prüft und anschließend nicht wissentlich und willentlich das Schlechtere tut. 69 Dieser Ansicht ließe sich der Verdacht entgegenhalten, dass am Ende ohnehin jeder Mensch, nicht nur der integre, subjektiv das Gute will, auch wenn er objektiv verwerflich handelt. Wenn dies stimmen würde, so könnten wir allenfalls einem pathologischen Amaralisten oder Soziopathen moralische Integrität absprechen. Denkt man jedoch an solche Personen, die ihren Mitmenschen sehenden Auges einen Schaden zufügen, sei es aus Neid, Hass, Rache oder auch nur aus einem moralischen Trittbrettfahrerkalkül heraus, so erweist sich der Verdacht als falsch. Es ist davon ausgehen, dass diese Menschen in der Regel wissen, dass sie aus egoistischen Motiven etwas moralisch Bedenkliches oder gar Unrechtes tun. Eben damit kommen sie als Kandidaten für moralische Integrität kaum mehr in Frage. 70 Nehmen wir dazu den im Zusammenhang der Integritätsproblematik häufig diskutierten Extremfall Adolf Eichmann. Im Zuge seines Strafverfahrens in Jerusalem wurde Eichmann nicht müde zu betonen, dass er stets ein Idealist mit festen Prinzipien gewesen sei. 71 Gleichwohl erscheint es uns so, als könne Eichmann so etwas wie Integrität gar nicht besessen haben, weil wir seine im Resultat: tödlichen - Prinzipien für absolut verachtenswert halten. Diese 68 Haifon (1989), S. 49. 69 Siehe neben Haifon (1989) auch Susan M. Babbit (1996): Impossible Dreams: Rationality, Integrity, and Moral Imagination, Bou1der: Westview, bes. S. 115ff. Eine "perfektionistische" Theorie vertritt dagegen Ramsay (1997). 70 Ein so genannter Schwarzfahrer mag ein sympathischer Mensch sein, moralische Integrität besitzt er nicht. Er spürt das selbst, und zwar bei jedem neuen Bahnhof, in den er einfahrt. 71 Marga1it (1997), S. 69ff. 105

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Einschätzung ist richtig und falsch zugleich. Zweifelsohne finden wir die Nazi-Komplizenschaft Eichmanns widerwärtig. Moralische Integrität kann er daher nicht besitzen. Aber neigen wir deshalb schon dazu, ihm insgesamt Integrität abzusprechen? Ist es nicht vielmehr so, dass wir uns schlicht nicht vorstellen können, dass Eichmann selbst mit dem Wissen um seine Mittäterschaft hat leben können? In einer von Hannah Arendts Beobachtungen zur "Banalität des Bösen"72 angeregten filmischen Dokumentation des Gerichtsverfahrens73 wird deutlich, was den eigentlichen Integritätsmangel Eichmanns begründet. An einer entscheidenden Stelle des Prozesses gesteht Eichmann den Anklägern ausdrücklich zu, dass ihm sein unbedingter Gehorsam allein durch "Abspaltung" des Wissens um die daraus resultierenden Gräueltaten möglich gewesen sei. Damit liegt folgender Verdacht nahe: Nicht dass er verwerflich gehandelt hat, raubt ihm seine Integrität, sondern die Tatsache, dass er dieses Handeln am Ende nicht in sein idealistisches Selbstbild hat integrieren können. So hart es zunächst klingen mag, die Vermutung, die wir später noch eingehender klären werden, muss lauten, dass ein Mensch mit seiner moralischen Unbescholtenheit nicht schon seine Integrität als Ganze einbüßen muss, solange er seine Unmoral für letzten Endes hinreichend gut begründet hält. Dies würde nach dem eben Erläuterten voraussetzen, dass die Person selbst wahrhaftig davon überzeugt sein muss, das Gute zu tun, ohne sich dabei in Selbstwidersprüche zu begeben. Auch wenn das freilich eher selten der Fall sein dürfte, völlig undenkbar ist es nicht: "ln view ofthese constraints, it is improbable that a Nazi qua Nazi could possess the virtue of integrity. But it may not be impossible. "74 Demnach muss weder der insgesamt integre Mensch vollständig moralisch integer sein, noch muss der moralisch integre Mensch deshalb schon Integrität im Ganzen aufweisen. Ersterer ließe Moral vermissen, letzterer dagegen Charakter. Die im ersten Abschnitt behandelte Fremdzuschreibung von Unbestechlichkeit ist von der in diesem Abschnitt diskutierten Fremdzuschreibung von Unbescholtenheit zugleich abhängig und unabhängig: Unbestechlichkeit ist abhängig von Unbescholtenheit, insofern es dem Zuschreibenden nicht vollkommen egal sein kann, ob der nach Integrität strebende Mensch auch moralisch integer ist. Unbestechlichkeit ist unabhängig von Unbescholtenheit, weil jene doch in seltenen Fällen auch ohne moralische Integrität denkbar ist. Obgleich wir diesen Widerspruch erst in Kapitel 4 werden auflösen können, 72 Hannah Arendt (1964): Eichmann in Jerusalem, München: Piper. 73 Siehe Ein Spezialist (1998, Regie: Eyal Sivan). 74 Haifon (1989), S. 135. D.h. Eichmann hätte nicht abspalten müssen, wenn er voll und ganz von seinem Handeln überzeugt gewesen wäre. Offensichtlich war er es nicht.

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geht die Verwendung der Integritätskategorie, deren moralisches Minimum hier ergründet werden sollte, damit bereits in eine dritte Bedeutungsdimension über: Aus der Gesamtsicht personaler Integrität ist unmoralisches Verhalten nicht so sehr wegen seiner Inhalte problematisch, sondern vor allem deshalb, weil mit ihm das Unvermögen einhergehen kann, die eigenen Widersprüche noch in ein und dasselbe ethisch-existenzielle Selbstbild einzufügen. Angesichts derartiger innerpsychischer Konflikte wird Integrität als Integriertheit zum Problem.

2.3 lntegriertheit und Kohärenz Aus der letztlich untilgbaren Spannung zwischen präferenziellen und moralischen Erwägungen ergibt sich die zentrale Einsicht, dass ein vollkommen konsistentes Selbstbild und Werteverständnis ohne jede Form von Konflikthaltigkeit unwahrscheinlich ist; wenn man einmal von äußerst einfältigen oder durchweg konformistischen Lebensformen absieht. Personen, die nach Integrität streben, sehen sich für gewöhnlich mit der ethisch-existenziellen Aufgabe konfrontiert, eine bestmögliche Integration von zum Teil widerstreitenden Lebensorientierungen in ein einheitliches Selbstbild erst noch herbeizuführen.75 Allerdings zeigt es sich rasch, dass diese Integrationsanforderung nicht allein auf dem eben umrissenen Konflikt zwischen präferenziellen und moralischen Integritätserwägungen beruht. Im Leben können durchaus auch gänzlich andere Orientierungen, z.B. intellektuelle, wissenschaftliche, künstlerische, ästhetische, politische oder auch religiöse Motive, aufeinanderprallen.76 Dazu vorab ein Beispiel: Der Geschichte des schottischen Spitzensportlers Eric Liddeli ist mit dem in den 1920er Jahren spielenden Film Chariots of Fire (1984, Regie: Hugh Hudson) ein Denkmal gesetzt worden. 77 Als sich herausstellt, dass der von Liddeli lang ersehnte Olympia-Qualifikationslauf auf den heiligen Sonntag fällt, ist der hauptberuflich als christlicher Missionar tätige Läufer zerrissen zwischen seiner Integrität als Sportler und seiner Integrität als Gläubigem. Schweren Herzens entscheidet er sich gegen seine Teilnahme am Wettbewerb, mit der Begründung, Gott habe ihm sein Talent geschenkt, daher sei es wichtiger, Gott zu ehren, als im irdischen Wettbewerb zu siegen. Am Ende wird es Liddeli gestattet, in einem anderen Laufwettbewerb anzutreten, und er gewinnt die Goldmedaille. 75 Dazu vorab die empirische Studie von Anne Colby/William Darnon (1993): "Die Integration des Selbst und der Moral in der Entwicklung moralischen Engagements", in: Wolfgang Edelstein/Gertrud Nunner-Winkler/Gil Noam (Hg.) (1993): Moral und Person, Frankfurt/Main: Suhrkamp. 76 Vgl. Cox/La Caze/Levine (2003), Kap. 4. 77 Dazu Haifon (1989), S. 54f. 107

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Diese Geschichte mag kitschig anmuten, doch sie lässt deutlich werden, dass in ein und derselben Person unterschiedliche Formen von Integrität in Spannung stehen können, ohne dass es sich dabei stets um einen Konflikt zwischen präferenziellen und moralischen Überlegungen handeln muss. Dass ein umfassend konsistentes Selbstverständnis daher schwer erreichbar sein dürfte, ergibt sich aber noch aus einem weiteren Grund. Nicht nur gibt es Spannungen zwischen unterschiedlichen Typen von Selbstverpflichtungen, sondern immer auch eine Konkurrenz an Orientierungen innerhalb dieser Typenklassen. Eine Person mag sich z.B. mit einem intern religiösen Konflikt konfrontiert sehen, wenn sie sich konfessionell umzuorientieren beginnt. Ein Politiker trägt einen intern moralischen Widerstreit mit sich aus, wenn er sich fragt, ob er auf das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit setzen oder stattdessen für mehr solidarische Umverteilung plädieren soll. Das "Faktum des Pluralismus"78 gilt nicht nur auf der gesellschaftlichen Ebene eines individuellen Nebeneinanders umfassender Vorstellungen vom Guten, sondern auch in der existenziellen Dimension individueller Selbstverständigung, d.h. innerhalb des individuellen Werteverständnisses ein und derselben Person. 79 Ein durchweg unerschütterliches Überzeugungsgerüst ist daher im doppelten Sinne unwahrscheinlich. Die ethisch-existenzielle Orientierung an unterschiedlichen Werten und Werttypen führt zu kleineren und größeren Spannungen im individuellen Selbstverständnis, die sich dauerhaft gar nicht vermeiden lassen. Damit darf allerdings nicht schon ausgeschlossen sein, dass am Ende nicht doch so etwas wie eine Einheit in das individuelle Selbstbild gebracht werden kann. Das immer schon "zerrissene" Leben lässt den Wunsch spürbar werden, "daß man es in der Erzählung ordnen will". 80 Gemeint ist der Versuch, aufnarrativem Wege einen biographischen Gesamtzusammenhang herzustellen, in dem die Konflikte und Widersprüche des eigenen Lebens "aufgehoben" sind und erklärbar werden. Dazu bedarf es einer sprachlichen Artikulationsfähigkeit, die auf dem Wege ethisch-existenzieller Selbstverständigung, d.h. im Zuge einer Art Autobionarration, einen lebensgeschichtlichen Zusammenhang herzustellen vermag. In konzeptioneller Hinsicht sollte daher an die Stelle einer überzogenen Vorstellung von völliger Konfliktfreiheit und Konsistenz die Idee eines "integrierten" und "kohärenten" Selbstverständnisses treten. Dadurch werden die zum Teil disparaten Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen einer Person trotz bestehender

78 Diese Diagnose geht vor allem aufisaiah Berlin und John Rawls zurück. 79 Vgl. Christoph Menke (1993a): "Die Vernunft im Widerstreit. Über den richtigen Umgang mit praktischen Konflikten", in: Christoph Menke/Martin See! (Hg.) (1993): Zur Verteidigung der Vernunft gegen ihre Liebhaber und Verächter, Frankfurt/Main: Suhrkamp. 80 Dieter Thomä (1998): Erzähle dich selbst, München: Beck, hier S. 20. 108

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Spannungen "als Ausdruck der reflektierten Stellungnahme ein und derselben Person" erkennbar. Rl Damit sind zwei wichtige konzeptionelle Eckpfeiler eingeschlagen: der Wunsch nach einer sinnstiftender Einheitsbildung zum einen, die Idee autobionarrativer Artikulationsfahigkeit zum anderen. Daraus ergibt sich das Leitbild einer sprachlich vermittelten Integration des je eigenen Lebenszusammenhangs, womit wir bei der dritten Dimension des Integritätsbegriffes angelangt wären. Aus der Innenansicht der betroffenen Personen ist dieses Leitbild als Bedürfnis nach IntegriertheU beschreibbar. 82 Unausweichliche Konflikte und Widersprüche auf der horizontalen Achse der eigenen Lebensgeschichte, aber auch Veränderungen oder gar Brüche auf der vertikalen, lassen Prozesse einer ethisch-existenziellen Selbstverständigung notwendig werden. In deren Verlauf werden die Unstimmigkeiten im eigenen Leben auf "höherer" narrativer Stufe aufgehoben und in einen insgesamt stimmigen lebensgeschichtlichen Gesamtzusammenhang eingegliedert: "Hier können wir nun einen weiteren wichtigen Bedeutungsgehalt von Integrität hinzufügen: [... ]Durch unser Selbstverständnis können wir selbst dann, wenn sich in unserem Leben ein radikaler Wandel ereignet, eine Kontinuität in unserer Lebensgeschichte herstellen. Anders gesagt, selbst wenn es Brüche in unserem Leben gibt gestern noch Trotzkist, heute ein Konservativer -, werden diese durch unsere Lebensgeschichte in ein übergeordnetes Ganzes aufgenommen." 83 Ein überaus enger Bezug dieser dritten Begriffsbedeutung zu den zuvor erläuterten Integritätsaspekten der Selbsttreue und Rechtschaffenheit ergibt sich vor allem dann, wenn wir bedenken, dass ein narrativer Zusammenhang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oft deshalb hergestellt werden soll, damit klar wird, in Einklang "mit was" die betreffende Person leben will. Während die Aspekte Selbsttreue und Rechtschaffenheit primär auf die Dimension der Realisierung eines ethisch-existenziellen Selbstbildes bezogen sind, betrifft der Aspekt der Integriertheit dessen Gewinnung. Wenn Integriertheit bedeutet, dass die betreffende Person in etwa weiß, wer sie ist und

81 Vgl. Honneth (1993a): "Dezentrierte Autonomie", in: Menke/Seel (1993), dessen Überlegungen allerdings auf einen erneuerten Begriff personaler Autonomie zielen. Auf das, was ich Autobionarration nenne, kommen wir in Abschnitt 3.2 zurück. 82 Einen derart psychologischen Integritätsbegriff favorisiert auch der älteste mir bekannte Debattenbeitrag: James Gutman (1945): "Integrity as a Standard of Valuation", in: Journal of Philosophy, 8/1945. Siehe aber auch McFall (1987); Martin Benjamin (1990): Splitting the Difference. Compromise and Integrity in Ethics and Politics, Lawrence: Kansas UP. 83 Margalit (1997), S. 165. Ein ganz ähnlicher Integritätsbegriff findet sich bei Anthony Giddens (1991): Modernity and Selfldentity, Oxford: Blackwell.

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sein möchte, dann muss eine himeichend integrierte Lebensgeschichte als notwendige Bedingung für den Vollzug eines Lebens in Übereinstimmung mit den eigenen Selbstverpflichtungen und überdies in sozialverträglichen Bahnen aufgefasst werden. Dabei meint Integriertheit nicht bloß die Zusammenführung vieler zum Teil divergenter Einzelbezüge zu einer in sich weitgehend stimmigen Einheit, sondern auch die Übereinstimmung jedes einzelnen dieser Bezüge mit dem, was wir insgesamt für unser "Selbst" halten. Anders ausgedrückt: Die einzelnen Lebensvollzüge sollen nicht nur mit den jeweils anderen Lebensvollzügen zusammenpassen, sondern mit dem, was unser Selbst ist.R 4 Wenn eine Person zur Praxis autobionarrativer Selbstverständigung nicht fahig oder auch nur nicht bereit ist, dann fehlt ihr die vielleicht wichtigste Voraussetzung für eine sinnvolle Orientierung im Leben. Ist der Aspekt der Integriertheit damit als notwendige Bedingung der Aspekte Selbsttreue und Rechtschaffenheit ausgewiesen, so gilt zugleich auch umgekehrt, dass letztere Bedeutungsdimensionen notwendige Hinsichten der lebensgeschichtlichen Integration darstellen. Integriertheit ist ein Integritätskriterium zweiter Stufe, in dem sich die beiden Integritätskriterien erster Stufe - Selbsttreue und Rechtschaffenheit - lebensgeschichtlich reflektieren. Der Wunsch, ein Leben in Übereinstimmung mit dem eigenen standhaltenden Wollen sowie in sittlich tolerierbaren Bahnen zu führen, gibt einen doppelten roten Faden ab, an dem sich die autobionarrative Reflexion und Selektion orientiert. Das Streben nach Integriertheit soll "in der Zeit" der eigenen Lebensgeschichte einen sinnvollen Zusammenhang zwischen jenen Aspekten stiften, die "im Raum" gegenwärtiger Lebensorientierungen auf einen Einklang von Selbsttreue und Rechtschaffenheit zielen. Die Autobionarration, so kann man es kurz fassen, integriert Episoden des Strebens nach Selbsttreue und Rechtschaffenheit. Was aus der Binnensicht der Individuen als Integriertheit beschrieben werden kann, stellt sich aus der Fremdperspektive als "Kohärenz" dar. 85 Kohärenz bedeutet weit mehr als nur die sichtbar werdende Kongruenz von Selbstbild und Lebensvollzug. Gemeint ist eine von den Betroffenen stets aufs Neue herzustellende und zu demonstrierende Einheit ihrer jeweiligen Persönlichkeit und Geschichte. Personale Integrität ist von dem Vermögen getragen, die eigenen Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen sowie die Erinnerung an deren lebensgeschichtliche Entwicklung in eine Ordnung existenzieller Wichtigkeit und Dringlichkeit zu bringen. Nicht nur die Person selbst, auch ihre Bezugspersonen wollen erfahren, welche Persönlichkeitsanteile für das Handeln der betreffenden Person maßgeblich sind und auch zukünftig maßgeblich sein werden. Autobionarrative Selbstintegration ist immer auch eine

84 Diesen Hinweis verdanke ich Christoph Menke. 85 Dazu besonders McFall (1987).

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Prioritätensetzung- sowohl nach innen wie nach außen- angesichts konkurrierender Wertorientierungen und nicht immer stimmiger lebensgeschichtlicher Entwicklungen.R 6 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass angesichts ethisch-existenzieller Konflikte und Widersprüche nicht bloß Strategien der autobionarrativen Tilgung entsprechender Unstimmigkeiten zum Zuge kommen. Konflikte und Widersprüche sind im Leben ohnehin nur selten gänzlich zum Verschwinden zu bringen. Häufig sind die vom jeweiligen Selbstverständnis abweichenden Motive und Bestrebungen schlicht zu stark. 87 In Fällen dieser Art kann eine Art "Separation" weiterhelfen: Auf dem Wege ethisch-existenzieller Selbstverständigung verschafft die betreffende Person sich Klarheit darüber, mit welcher der widerstreitenden Überzeugungen oder Bestrebungen sie sich "von ganzem Herzen" identifizieren kann und mit welcher nicht.R 8 Auch wenn sich die bei dieser Klärung unterlegene Bestrebung dadurch nicht schon vollständig zum Verstummen bringen lässt, kommt es dabei doch zu einer autobionarrativen Isolierung jener irgendwie als "fremd" erfahrenen Bestrebungen von den wahrhaft integralen Bestandteilen des eigenen Selbstverständnisses. Personen, die mit sich und ihren Grundvorhaben ins Gericht gehen, brauchen keineswegs frei von jeglicher Ambivalenz zu sein. Sie müssen sich lediglich darüber klar zu werden versuchen, auf "welcher Seite" sie stehen:

"A person who makes up his mind also seeks thereby to overcome or to supersede a condition of inner division and to make hirnself into an integrated whole. But he may accomplish this without actually eliminating the desires that conflict with those on which he has decided, as long as he dissociates himselffrom them." 89 Separation darf hier nicht als "Abspaltung" im psychologischen Sinne einer völligen Verdrängung unliebsamen Wissens- wie im Fall Eichmann- verstanden werden, sondern schwächer als "Absonderung". Die Person bleibt sich ihrer derart isolierten Persönlichkeitsanteile bewusst, um sie gezielt handhaben zu können. In diesem Sinne ist Separation mit Integrität vereinbar, auch wenn wir dabei an deren Grenze stoßen. Fraglich ist, an welchem Punkt Separation in pathologische Abspaltung umschlägt, und wie solche psychischen Erfahrungen zu beschreiben wären. 90 Ähnlich wie in den letzten beiden 86 Harris (1999); Blustein (1991 ). 87 Man nehme das Beispiel eines zölibatären Priesters, von dem kaum anzunehmen ist, dass er niemals in Versuchung gerät. 88 Harry G. Frankfurt (1988c): "Identification and Wholeheartedness", in: ders. (1988b). 89 Frankfurt (1988c), S. 174. 90 Wie schmal z.B. der Grad zwischen dem postmodernen Plädoyer für patchwork identities und einer Kritik psychopathalogischer Zerrüttung ist, macht unfreiwillig Davion (1991) deutlich. 111

BEDEUTUNGSDIMENSIONEN DER INTEGRITÄT

Abschnitten, in denen Selbsttreue nicht ohne Depersonalisation und Rechtschaffenheit nicht ohne "schmutzige Hände" denkbar gewesen sind, muss auch der dritte Integritätsaspekt der Integriertheit eine negative Kehrseite aufweisen. Wendet man sich zunächst der Binnensicht der Betroffenen zu, dürften Erschütterungen des eigenen Selbstbildes und damit verknüpfte Gefühle der Konfusion eine eher alltägliche Erfahrung sein. Diese kann von harmlosen Verwirrungen bis hin zu schweren Zusammenbrüchen reichen. Für die Bandbreite unterschiedlich schwerwiegender Konfusionen bietet sich der psychologisch konnotierte Sammelbegriff der "Desintegration" an. 91 Angesichts von autobionarrativem Stress besteht für die Integrität einer Person stets die Gefahr existenzieller Fassungslosigkeit. Als kurzfristig und überdies alltäglich wäre diese Verwirrung dann einzustufen, wenn es der Person gelingt, rasch wieder zu sich selbst "zurückzufinden" und die momentanen Unstimmigkeiten in das eigene Selbstverständnis zu reintegrieren. Als gravierender, aber auch seltener sind solche Konfusionen dann anzusehen, wenn die autobionarrative Reintegration dauerhaft fehlschlägt. Der längerfristig fassungslose Mensch mag sich dazu genötigt sehen, die widersprüchlichen Erfahrungen seines Lebens in unterschiedliche Parzellen seines Selbstverständnisses wegzusperren und die Erinnerung an verbliebene Widersprüche auszublenden, um nicht daran zu zerbrechen. Ein Leben, in dem solche Unstimmigkeiten vorhanden sind, ist nicht mehr aus einem Guss: "Desires and beliefs can occur in a life which consists merely of a succession of separate moments, none ofwhich the subject recognizes- either when it occurs or in anticipation or in memory - as an element integrated with others in his own continuing history. When this recognition is entirely absent, there is no continuing subject."92 Nicht selten sind verdrängte Desintegrationserfahrungen nur noch von außen als Widersprüche im betreffenden Lebensvollzug erkennbar. In Fällen dieser Art wäre von "Inkohärenz" zu sprechen. Als vielleicht auffälligstes Symptom eines nach außen hin inkohärenten Charakters gilt in der Integritätsdebatte das Phänomen "shallowly sincere". 93 Der bloß oberflächlich aufrichtige Mensch demonstriert Wertbindungen, die dem Beobachter seltsam willkürlich anmuten, weil derselbe Mensch in vergleichbaren Situationen mit genau dem gleichen Enthusiasmus völlig andere Überzeugungen an den Tag legt. Betrachtet

91 Vgl. Harris (1997), S. 4f. 92 Frankfurt (1988a), S. 83. Als klassischer Fall kann Ibsens Wildente gelten. Zum

Problemgehalt siehe Taylor (1981 ). Dazu kritisch Raimond Gaita (1981 ): "Integrity", in: Proceedings of the Aristotelian Society, Supplement 55/1981. 93 Der Begriff geht zurück auf Herbert Fingarette (1969): Self-Deception, New York: Humanities. 112

INTEGRIERTHEIT UND KOHÄRENZ

man den Fall eines gesinnungslosen Aktienspekulanten, der mit großer Verve jedes Unternehmen anpreist, das ihm einen momentanen Kursgewinn verspricht, ganz gleich, ob es sich um einen Rüstungskonzern oder um ein umweltfreundliches Unternehmen handelt, so ist erneut eine Verschiebung des Integritätsproblems gegenüber den ersten beiden Begriffsdimensionen festzustellen. Während es in den Negativfällen von Bestechlichkeit und Scheinheiligkeit zu Diskrepanzen zwischen Selbstbild und Lebensvollzug kommt, demonstriert die bloß oberflächlich aufrichtige, inkohärente Person Unstimmigkeiten innerhalb ihres nach außen getragenen Selbstbildes. Sie mag stets mit großem Ernst bei der Sache sein, doch sie kümmert sich nicht um die Kompatibilität ihres jeweiligen Erscheinungsbildes. Es scheint der Person gleichgültig zu sein, ob sie sich an früheren Äußerungen und Handlungen messen lassen muss. Die Inkohärenz, die sie aufweist, wird ihrerseits nicht weiter begründet oder gar aufgelöst. 94 Damit können wir auch diesen Abschnitt zusammenfassen: Von den Bedeutungsdimensionen Selbsttreue und Rechtschaffenheit ist eine dritte, eher psychologische Verwendung des Integritätsbegriffes zu unterscheiden, die dem Umstand Rechnung trägt, dass für ein Leben in Integrität ein ethischexistenzielles Selbstverständnisses notwendig ist, das auf dem Wege autobionarrativer Selbstreflexion gewonnen und angesichts von unvermeidlichen Konfusionen im Leben ständig reintegriert werden muss. Aus der Innenperspektive der integren Person kommt dieses Ideal als Bedürfnis nach Integriertheit zum Tragen, während gravierende Abweichungen als Erfahrungen der Desintegration beschrieben werden können. Aus der Perspektive der Fremdzuschreibung spricht man von einem Charakter, der Kohärenz aufweist, während ein konfuses oder widersprüchliches Auftreten entsprechend den Verdacht der Inkohärenz weckt. Insgesamt sollte jedoch nicht übersehen werden, dass ein ethischexistenzielles Selbstbild derart "entschlackt" werden kann, dass die autobionarrative Integration der Persönlichkeit auf eher bequeme Weise möglich wird. Personen, die zahlreiche und zum Teil konfligierende Selbstbindungen aufweisen, werden es mit der Integriertheit ihrer Lebensgeschichte weitaus schwerer haben als jene, die ihr Selbstbild, um mögliche Konflikte bereits im Ansatz zu vermeiden, auf nur sehr wenige Grundvorhaben zurechtstutzen. Fraglich ist, ob ein derart "überschaubares" und im ethischen Sinne wohl auch ärmeres Leben mit Integrität vereinbar ist. Nicht nur wird ein solches Leben aufgrund seiner Schlichtheit stets die Tendenz aufweisen, in Einfalt abzugleiten. Vor allem ist anzunehmen, dass Integrität als Problem überhaupt erst dann auftauchen kann, wenn es im Leben einer Person - zumindest vereinzelt - zu gravierenden ethisch-existenziellen Konflikten kommt. Die Frage perso94 Vgl. G. Taylor(1981). 113

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naler Integrität wird sich gar nicht stellen, wenn die betreffende Person nicht eine gewisse Widerständigkeit des Lebens erfährt. Erst aus dieser Widerständigkeit resultiert die Notwendigkeit einer Reintegration auseinander driftender Persönlichkeitsanteile. In jedem Fall aber sollte das, worum es in Vorgängen autobionarrativer Integration und Reintegration geht, nicht mit dem letztlich ängstlichen Bedürfnis verwechselt werden, Lebensvollzüge vereinfachen, Widersprüche glätten und Unstimmigkeiten übertünchen zu wollen. Der integre Mensch strebt nach einer integrierten Persönlichkeit, die trotz aller potenziellen Konfusionen des Lebens weit eher auf mutige Diversität als auf konfliktscheue Schlichtheit ausgerichtet wäre. Die Notwendigkeit einer Reintegration eigener Selbstbeschreibungen angesichts ethisch-existenzieller Verwirrungen zielt nicht auf eine völlige Beseitigung lebenspraktischer Unstimmigkeiten, sondern auf deren "Aufhebung". Verbleibende Ungereimtheiten brauchen dabei keineswegs verschwiegen zu werden. Zweck der Autobionarration ist die Integration unterschiedlichster Persönlichkeitsanteile und Lebensvollzüge nicht in ein vollkommen konsistentes, sondern in ein kohärentes großes Ganzes. Mit eben dieser Idee eines "großen Ganzen" ist dann auch der Übergang zu eben jener Verwendung des Integritätsbegriffes bereitet, auf die wir bereits gegen Ende des ersten Kapitels gestoßen sind. Das in diesem Abschnitt diskutierte Ideal der Integriertheit zielt offenkundig auf eine in Selbstverständigungsprozessen herzustellende sowie von Widersprüchen und Widerständen möglichst unbeeinträchtigte Einheit des ethisch-existenziellen Lebenszusammenhangs. Eben diese Einheit scheint es gewesen zu sein, die im ersten Kapitel in sozialphilosophischer Perspektive als ein "unverzerrtes Selbstverhältnis" beschrieben wurde, dessen Fragilität hervorgehoben werden sollte.

2.4 Ganzheit und Unversehrtheit Während das Ideal der Integriertheit den aktivischen Aspekt der Herstellung eines intakten Lebenszusammenhangs betont, ist im ersten Kapitel darauf hingewiesen worden, dass man im Rahmen der Sozialphilosophie auf die Verwendung des Integritätsbegriffes zumeist dort trifft, wo auf die Notwendigkeit des Schutzes ethisch-existenzieller Selbstverhältnisse gegenüber Angriffen von außen rekurriert wird. Es ist der als fundamental zu bewertende Umstand, dass die Integrität von Personen äußerst fragil und verletzbar ist, der immer dann anklingt, wenn etwa von einem "Recht auf Schutz der Integrität von Leib und Leben" die Rede ist. 95 In sozialpathognostischer Hinsicht 95 In Artikel 2, Absatz 2, des Grundgesetzes ist bekanntlich ein "Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" festgeschrieben. In rechtsdogmatischen Kommentaren wird dies häufig in ein "Recht auf Schutz der Integrität" übersetzt.

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kommt dem Integritätsbegriff daher ein primär defensiver Charakter zu. Was hier betont werden soll, ist der Aspekt einer prinzipiellen Versehrbarkeit personaler Integrität sowie die Tatsache, dass die Integrität einzelner Personen von deren schonendem Umgang untereinander abhängt. Dabei ist bereits ein allgemeiner Wunsch nach "Ganzheit" im Sinne eines ungestörten Selbstseins unterstellt worden, von dem es hieß, dass er in Gestalt eines normativen Ideals nahezu allen der derzeit diskutierten sozialphilosophischen Begründungsansätzen inhärent sei, selbst noch jenen, die den Integritätsbegriff gar nicht verwenden. Nun stellt sich die Frage, was genau unter diesem Bedürfnis nach Ganzheit zu verstehen ist. Zudem wäre zu klären, wie sich diese vierte Dimension des Integritätsbegriffes zu den drei übrigen hier diskutierten Bedeutungen verhält. Zunächst ist auffällig, dass der Integritätsbegriff in sozialphilosophischen Zusammenhängen zwar häufig und oftmals auch an zentraler Stelle fällt, dass er aber nur selten einen genaueren Bedeutungsgehalt zugewiesen bekommt. 96 Offenbar wird der Integritätsbegriff für derart selbstverständlich gehalten, dass sich jede weitere Klärung zu erübrigen scheint. Dass aber diese Ansicht verfehlt ist, dürfte hier bereits deutlich geworden sein. Blicken wir von diesem Punkt aus noch einmal auf jene Debattenbeiträge zurück, die wir in den letzten drei Abschnitten diskutiert haben, so wird bei genauerem Hinsehen deutlich, dass nicht selten auch dort schon die Bedeutungsdimension der Ganzheit anklingt, ohne aber jemals systematisch eigenständig behandelt zu werden. Zumeist geht die Integritätsanalyse ohne Umstände in die Betrachtung der Selbsttreue, Rechtschaffenheit oder Integriertheit über, oder aber es kommt zu verwirrenden Mischanalysen, in denen die eigentümlich defensive Bedeutung der Ganzheit vollständig untergeht. 97 Ein Auszug aus einem der zentralen Beiträge zur Integritätsdebatte vermag dies zu illustrieren: "While on the first interpretation 'integrity' appears tobe a Iabel for a selected set of moral virtues, on the second interpretation it seems rather a Iabel for a special application of these virtues, viz, honesty about and loyalty to one's own principles. But the notion of integrity may also be approached not by picking out such moral qualities as are normally associated with it, but by thinking of the person possessing integrity as being the person who 'keeps his inmost self intact', whose life is 'of a 96 Siehe z.B. Axel Honneth (1990c): "Integrität und Mißachtung", in: Merkur, 501/1990; See! (1996a); Margalit (1997); Otfried Höffe (2002): Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München: Beck, Kap. 3.3.1. 97 In der bis dato umfassendsten Integritätsstudie von Cox/La Caze/Levine (2003) wird sogar verneint, dass Integrität etwas mit "Ganzheit" zu tun habe. Mit dem zweifellos richtigen Hinweis, Phänomene der "Desintegration" seien aus einem Leben in Integrität nicht wegzudenken, wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Die in der vorliegenden Untersuchung vorausgesetzte Gmndintuition, dass Integrität gleichwohl auf Ganzheit zielt, geht dort gänzlich verloren.

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BEDEUTUNGSDIMENSIONEN DER INTEGRITÄT

piece', whose self is whole and integrated. My claim is that it is this view of integrity which is the fundamental one. The person of integrity keeps his self intact, and the person who Iacks integrity is corrupt in the sense that his self is disintegrated."9R Hier klingen sämtliche der vier Begriffsdimensionen auf einmal an, ohne dass deren Unterschiede und Zusammenhänge hervortreten würden. Die Versuchung mag groß sein, die Unvermitteltheit der ethischen, moralischen, psychologischen und sozialphilosophischen Verwendungsweisen des Integritätsbegriffes auf den Umstand zurückzuführen, dass die unterschiedlichen Disziplinen nur unzureichend miteinander in Kontakt stehen. Demnach handelte es sich bei der Bedeutung der Ganzheit nur um einen Begriffsaspekt neben anderen, der überdies so selbstverständlich anmutet, dass er nicht eigens geklärt zu werden braucht. Wollte man dieser Deutung jedoch folgen, so geriete der überaus bedeutsame Umstand aus dem Blick, dass es sich bei der Ganzheit nicht bloß um eine alternative, sondern - wie selbst die eben zitierte Gabriele Taylor in ihrer Verwirrung vermutet- um eine "fundamentale" Bedeutung des Integritätsbegriffes handelt, vor deren Hintergrund die jeweils anderen Verwendungsweisen überhaupt erst ihren Sinn erhalten. Allerdings zeigt sich im Umgang mit der Ganzheitsidee sogleich eine konzeptionelle Schwierigkeit, die auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass diese vierte Begriffsdimension auf den Bedeutungsgehalt der anderen drei Verwendungsweisen immer schon auf vermeintlich widersprüchliche Weise bezogen ist: Einerseits, so wird sich zeigen, muss der Aspekt der Ganzheit als das ethisch-existenzielle Resultat eines auch in den drei übrigen Dimensionen intakten Lebenszusammenhangs verstanden werden, anderseits will der Aspekt der Ganzheit zugleich auch das existenzielle Fundament und damit eine unhintergehbare Voraussetzung für ein Leben in Integrität benennen. Während dieser konzeptionelle Widerspruch erst gegen Ende des Rekurses vollständig zur Auflösung kommen kann, soll hier der Aspekt der Ganzheit zunächst noch etwas eingehender beleuchtet werden. Wir waren im Anschluss an den Abriss zeitgenössischer sozialpathognostischer Begründungsansätze zu dem Ergebnis gekommen, dass diesen allen, gewissermaßen als kleinster gemeinsamer Nenner, eine Idee menschlichen Wohlergehens zugrunde liegt, die als "unverzerrte Form der Selbstverwirklichung" beschrieben werden kann. Mit dieser Formel war eine von inneren und äußeren Zwängen möglichst unbeeinträchtigte Selbst- und Weltbeziehung bezeichnet, die allein dann "intakt" genannt werden kann, wenn die betreffende Person in Einklang mit einer möglichst transparenten Bedürfnisstruktur und weitgehend unbehelligt von den schädlichen Einflüssen gesellschaftlicher Pathologien ein überwiegend

98 G. Taylor(1981), S. 143f.

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GANZHEIT UND UNVERSEHRTHEIT

selbstbestimmtes Leben zu führen vermag. Hatte sich dort bereits der Integritätsbegriff als passendes Etikett angeboten, so sehen wir nun, dass mit diesen ersten, noch recht intuitiven Bestimmungen bereits einige jener zentralen Merkmale personaler Integrität benannt worden sind, die in den drei folgenden Abschnitten des zweiten Kapitels ausführlicher zur Sprache kamen. "Selbstbestimmung" und "Freiheit von Zwang" haben offenkundig etwas mit Selbsttreue zu tun. Rechtschaffenheit kann in den Aspekt einer "unbeeinträchtigten Weltbeziehung" hineingelesen werden. "Transparente Bedürfnisstruktur" lässt sich durchaus mit Integriertheit übersetzen. Insofern liegt der Verdacht nahe, dass die sozialphilosophische Verwendung der Integritätskategorie so interpretiert werden muss, dass sie den Aspekt der Versehrbarkeit personaler Integrität in den drei Hinsichten der Selbsttreue, Rechtschaffenheit und Integriertheit betonen soll. Demnach rekurriert die Sozialphilosophie auf den Umstand, dass Menschen sich angesichts der in ihrer Gemeinschaft herrschenden Lebensbedingungen so sehr in ihren Lebensvollzügen eingeschränkt fühlen können, dass sie ihre Lebenssituation als Angriff auf die Einheit und Intaktheit ihrer Person empfinden, gerade weil ihnen ein Leben erstens in Übereinstimmung mit den eigenen Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen, zweitens in sozial verträglichen Bahnen und schließlich drittens auf Basis eines möglichst integrierten Selbstbildes unmöglich zu werden droht. Was bislang beinahe in der gesamten Integritätsdebatte unklar geblieben ist, muss demnach wie folgt gekennzeichnet werden: Integrität im Sinne der Ganzheit muss als eine Art psychophysische oder auch "ganzheitliche" Gemütsverfassung gedeutet werden, die aus der umfassenden Gewissheit resultiert, angesichts der vorfindliehen gesellschaftlichen Umstände ein Leben zu führen, das aus Sicht der Betroffenen alles in allem wünschenswert erscheint. Ganzheit ist demnach weniger als Zustand integren Lebens, sondern vielmehr als Stimmung zu interpretieren, in der das Leben als "Ganzes" in den Blick kommt und Personen ihre "Beziehung zur Welt subjektiv wertend vor dem Hintergrund des eigenen Wollens" als insgesamt affirmierungswürdig erfahren. 99 Auch wenn sich schwerlich angeben lässt, wodurch genau sich eine solche Stimmung positiv auszeichnet, muss die Gemütsverfassung der Ganzheit als Erlös oder auch als Belohnung für ein Leben begriffen werden, das nicht zuletzt in den Hinsichten der Selbsttreue, der Rechtschaffenheit und der Integriertheit Befriedigung oder gar Erfüllung bringt. In negativer Hinsicht ließe sich diese Gemütsverfassung beispielsweise durch die Abwesenheit ernsthafter Unzufriedenheit, gravierender Sorgen, nervöser Unruhe, depersonalisierender Entfremdungstendenzen, schwerwiegender Konfusionen oder auch schmerzlich unerfüllter Ambitionen

99 So Ursula Wolf im Anschluss an Martin Heidegger in: dies. (1993a): "Gefühle im Leben und in der Philosophie", in: Fink-EitelfLohmann (1993), S. 121.

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BEDEUTUNGSDIMENSIONEN DER INTEGRITÄT

charakterisieren. Eine positive Stimmung der Ganzheit kann sich in jedem Fall erst dann einstellen, wenn einer Person in autobionarrativen Selbstverständigungsprozessen die Einsicht dämmert, dass es das eigene Leben wert ist, umfassend bejaht zu werden: "lntegrity is the condition someone achieves who is able to live out of the conviction that his life, in its central features, is an appropriate one for him, that no other life he might live would be a plainly better response to the parameters of his ethical situation rightly judged. " 100 Integrität im Sinne einer solchen Gemütsverfassung ist weder mit einem singulären Gefühl zu vergleichen, noch auf den Akt bloßen Erkennens zu reduzieren. Vielmehr ist personale Integrität im Sinne der Ganzheit als eben das aufzufassen, was Personen einschließlich ihrer jeweiligen Empfindungen und Erkenntnisse temporär in dieser Stimmung erfahren. Empfindungen, die mit personaler Integrität verknüpft sein mögen- u.a. Zufriedenheit, Stolz, Freude, Glück oder auch, wie im negativen Fall, Angst, Selbstfremdheit, Verzweiflung, Scham - enthüllen einer Person positiv die relative Intaktheit, negativ die "Entzweiung" ihres Lebenszusammenhangs, und zwar in Form eines Erlebens, das psychophysischen Charakter besitzt und daher weder bloß als Gefühl noch als Erkenntnis, sondern als ganzheitliche Erfahrung beschrieben werden muss. 101 Mit diesem Hinweis auf den psychophysischen Charakter der Ganzheit sind wir bei genau jenem Aspekt der Integrität angelangt, der weiter oben als das in der bisherigen Diskussion weithin vernachlässigte "Fundament" des Integritätsbegriffes bezeichnet worden ist. Wenn von der Schutzbedürftigkeit der psychischen und physischen Integrität eines Menschen die Rede ist, dann wird dabei offenkundig auf die Existenz einer seelischen und leiblichen Minimalgrenze angespielt, von der behauptet werden soll, dass sie übertreten und verletzt werden kann. Für personale Integrität, das machen die sozialphilosophischen Bezugnahmen auf den Begriff deutlich, spielt die individuelle W ahmehmung einer eigenen und intakten psychophysischen Grenze eine besonders hervorgehobene Rolle. Die Stimmung der Ganzheit kann sich aus der Binnenansicht einer Person nur dann einstellen, wenn ihr zugleich von außen, d.h. aus der Perspektive der Fremdzuschreibung, "Unversehrtheit" attestiert werden kann. Eine integre Person muss sich in Abgrenzung zu anderen als insgesamt intakt, eins und unteilbar erfahren können und als solche auch anerkannt werden - so wie ein Staat, dessen territoriale Integrität von der Unversehrtheit seiner Grenzen gegenüber anderen Staaten abhängt.

100 Vgl. Dworkin (1990), S. 80. I 0 I Vgl. Benjamin (1990), bes. S. 52. Beebe (1995), bes. S. 18. 118

GANZHEIT UND UNVERSEHRTHEIT

Diese für die Integrität einer Person maßgebliche psychophysische Unterscheidbarkeit in Raum und Zeit ist in mindestens vier Aspekte aufzufachern: Zunächst ist der zweifellos basale Umstand zu bedenken, dass jeder Mensch einen eigenen psychophysischen Organismus darstellt und schon in dieser objektiven Hinsicht von anderen Menschen zu unterscheiden ist. Daraus folgt zweitens, dass jeder Mensch subjektive, d.h. ganz eigene Erfahrungen sammelt, die sich untereinander nicht im strikten Sinne "austauschen" lassen. Drittens ist zu berücksichtigen, dass jedes personale Leben Selbstbewusstsein im Sinne einer mehr oder weniger reflektierten Einstellung zu eben jenem subjektiven Erfahrungszusammenhang vorzuweisen hat. Viertens schließlich muss jeder Mensch insofern als ein unvertretbarer Einzelner aufgefasst werden, als er sich die Verantwortung seiner Äußerungen und Handlungen letztlich von niemandem wird abnehmen lassen können. 102 Es sind genau diese vier Charakteristika, die psychophysische Minimalbedingungen menschlichen Personseins und damit personaler Integrität benennen. Sie formen das reflexive Bewusstsein eines Individuums, das sich als existenzielle Einheit erfahrt, deren Grenzen bewahrt werden müssen. Ob diese Grenzen aber tatsächlich als intakt und unversehrt gelten dürfen oder ob nicht doch von außen feststellbare Grade an "Verletztheit" vorliegen, hängt nicht zuletzt davon ab, ob die betreffende Person in ihrer Umwelt förderliche Lebensbedingungen vorfindet. Störungen in der Wahrnehmung der eigenen Integritätsgrenzen werden vor allem durch fremde Übergriffe hervorgerufen. Entsprechend werden gewalttätige Angriffe auf die psychophysische Unversehrtheit einer Person in der Regel als illegitime Verletzungen ihrer Integrität bewertet. Gewalt greift derart fundamental in den personalen Lebenszusammenhang ein, dass es in den meisten Fällen zu einem Verlust der Integrität kommen muss. Mit dem Aspekt der Unversehrtheit ist die absolute Minimalgrenze integren Personseins benannt, die in jedem Fall von außen unberührt sein muss, damit ein Mensch sich um sein weiteres Wohlergehen kümmern kann. 103 Damit sind wir jedoch erneut bei jenem oben schon einmal konstatierten und später noch eingehender zu klärenden Widerspruch angelangt: Einerseits soll mit den Begriffen Ganzheit und Unversehrtheit eine komplexe und anfallige Stimmungslage benannt sein, die aus dem Zusammentreffen unterschiedlichster Integritätsaspekte resultiert. Zugleich jedoch ist mit der Idee einer psychophysischen Minimalgrenze der Integrität der vermutlich empfindlichste Punkt markiert, an dem gravierende Verletzungserfahrungen sogleich auf die

I 02

Vgl. Flanagan (1991 ), S. 61 f. Dort werden allerdings nur die ersten drei Eigenschaften genannt. Die Idee der "Unvertretbarkeit" findet sich bei Lutz Wingert (1993), Gemeinsinn und Moral, Frankfurt/Main: Suhrkamp. 103 Vgl. Wingert (1993), S. 168. 119

BEDEUTUNGSDIMENSIONEN DER INTEGRITÄT

gesamte Integrität einer Person durchschlagen können. 104 Betrachten wir dazu das drastische Beispiel der Folter 105 : Neben den physischen Schmerzen, die ein Folteropfer erleidet, und dem bereits dadurch bewirkten Verlust der Ganzheit wird die Qual der Folter von den Betroffenen selbst vor allem auch als vehementer Kontrollverlust durchlitten, der ihrem Vermögen zur Selbsttreue die psychosomatische Grundlage entzieht. Überdies kann im Zuge physischen und psychischen Zwangs das Gefühl der Rechtschaffenheit verloren gehen, wenn sich das Folteropfer dazu gezwungen sieht, etwa durch den Verrat eines W eggefahrten, gegen seine tiefsten moralischen Überzeugungen zu verstoßen. Zudem mag dabei das ethisch-existenzielle Selbstbild der betroffenen Person zerreißen und damit deren Integriertheil verloren gehen, wenn das Opfer mit dem Wissen um den Verrat anschließend nicht mehr "leben" kann. Zunächst muss das Ergebnis daher lauten: Da Angriffe auf die Ganzheit und Unversehrtheit einer Person auf deren Integrität insgesamt durchgreifen können, wird von personaler Integrität nur dann die Rede sein können, wenn die fragilen psychophysischen Grenzen der Person nicht fundamental angetastet werden. Entsprechend muss von einer Verletzung personaler Integrität immer dann gesprochen werden, wenn gravierende psychische oder physische Verletzungen feststellbar sind. Bei genauerem Hinsehen jedoch gilt dieser kausale Beeinflussungszusammenhang auch umgekehrt. Die psychophysische Stimmung der Intaktheit kann ebenso dadurch verloren gehen, dass einer der drei übrigen Modi der Integrität abhanden kommt. Wer seine Selbsttreue, Rechtschaffenheit oder auch Integriertheit einbüßt, der wird, zumindest temporär, auch das Gefühl für Ganzheit und Unversehrtheit verlieren. Allerdings sollte man hier und auch im Folgenden stets zwischen einem Verlust "an" und einem Verlust "der" Integrität unterscheiden. Ein Verlust an Integrität liegt bereits dort vor, wo die Integrität einer Person in mindestens einer ihrer vier Dimensionen ernsthaft Schaden nimmt, während die übrigen weitgehend intakt bleiben. Von einem Verlust der Integrität kann erst dann die Rede sein, wenn, wie im Fall der Folter, das gesamte psychophysische System zusammenbricht. Fassen wir auch diesen Abschnitt zusammen: Wenn im sozialphilosophischen Sprachgebrauch von einem Recht auf Schutz der geistigen und physischen Integrität die Rede ist, dann wird auf den als allseits vorhanden unterstellten Wunsch nach einem intakten Lebenszusammenhang rekurriert, dessen

I 04 Offenkundig werden Verletzungen der Integrität besonders dann, wenn es um

jene Grenze geht, die an der Schnittstelle von Innen- und Außenwelt liegt: die Haut. Man erinnere sich an den Studenten Palach, der den paradoxen Plan verfolgte, sich in Brand zu setzen, um seine Integrität zu bewahren. Eine nahezu atemberaubende Analyse dieser "Hautgrenze" findet sich bei Didier Anzieu (1991 ), Das Haut-Ich, Frankfurt/Main: Suhrkamp. I 05 Dazu Rorty (1989), Kap. 8.; s.u. Abschnitt 4.3.

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GANZHEIT UND UNVERSEHRTHEIT

Erfüllung aus der Innenperspektive der Betroffenen als Stimmung der Ganzheit und dessen Frustration entsprechend als Entzweiung erfahren wird. Aus der Perspektive der Fremdzuschreibung von Integrität sprechen wir von der Unversehrtheil einer Person, wenn keine gravierenden psychischen oder physischen Verletzungen feststellbar sind, während eine Verletztheil der Person bereits dann konstatiert werden muss, wenn deren fragile psychophysischen Grenzen angetastet wurden. Sofern in diesem Abschnitt die Vermutung leitend war, dass die Stimmung der Ganzheit als "Resultat" der Einsicht in die relative Intaktheit des je eigenen ethisch-existenziellen Lebenszusammenhangs gedeutet werden muss, so ist uns damit erstmals eine begrifflich überaus komplexe Integritätsidee vor Augen getreten, die so anspruchsvoll und schwer zu realisieren sein dürfte, wie die Integrität selbst fragil und verletzbar ist. Mit diesen zunächst knappen Ausführungen ist aber allenfalls ein erster, noch loser Zusammenhang der insgesamt vier Bedeutungsdimensionen aufgezeigt, der offenkundig weiterer Erläuterung bedarf.

2.5 Etymologische Spurenlese Die Notwendigkeit einer Vermittlung der bislang aufgezeigten vier Begriffsdimensionen ließe sich umgehen, wollte man den hier gesuchten komplexeren Definitionszusammenhang als bloße Summe der unterschiedlichen Wortverwendungen bilden. Demnach besäße eine Person dann Integrität, wenn sie Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und insgesamt Ganzheit erfährt bzw. wenn ihr von außen Unbestechlichkeit, Unbescholtenheit, Kohärenz und Unversehrtheit attestiert werden können. Mit einem solchen begrifflichen Stückwerk wäre jedoch niemandem geholfen und überdies das philosophische Publikum enttäuscht. Es bedarf einer genaueren Fassung des Problems, die zwar möglichst viel von dem Bedeutungsgehalt der vier Grundbestimmungen in sich aufzunehmen vermag, ohne aber die Konturen eines einheitlichen Begriffskonzeptes zu verlieren. Im weiteren Verlauf dieses Buches wird ein derart vermittelnder Integritätsbegriff Gestalt annehmen. Zum Ende dieses Kapitels jedoch sollen zunächst bloß erste Indizien dafür gesammelt werden, dass die vier Bedeutungen miteinander verknüpft sind, und zwar enger, als man gemeinhin vermuten mag. Auf dem Wege einer etymologischen Spurenlese wird deutlich, dass bereits die alltägliche Verwendung des Integritätsbegriffes mancherlei Beziehung zwischen den vier genannten Bedeutungsdimensionen unterschwellig herstellt. Kommen wir demnach zur W Ortgeschichte des Integritätsbegriffes und einiger seiner Verwendungen. 106 106 Die folgenden Überlegungen sind mit Hilfe nachstehender einschlägiger Wörterbücher zusammengetragen worden: Trübners Deutsches Wörterbuch, Berlin: de Gmyter; Grimms Deutsches Wörterbuch, Leipzig: Hirzel; Handwörterbuch

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BEDEUTUNGSDIMENSIONEN DER INTEGRITÄT

Beginnen wir auf einem Umweg und wenden uns zunächst dem speziellen Fall der Unbestechlichkeit zu. Dieser nimmt eine Art Schlüsselstellung im etymologischen Zusammenhang der Integritätsproblematik ein. Um der besonderen Bedeutung des Wortes gewahr werden zu können, ist es notwendig, das Alltagsverständnis von "bestechlich" für einen Moment zu suspendieren. Liest man den Begriff buchstäblich, dann wird man feststellen, das man eine Person, die im wörtlichen Sinne bestechlich ist, zu stechen vermag. Man kann sie mit einem spitzen Gegenstand, z.B. einem Messer oder einer Speerspitze, verletzen oder gar töten. Entsprechend hat der Ausdruck "bestechen" in historischer Perspektive zunächst vor allem in der Kampfessprache und bei ritterlichen Turnieren seinen Platz. Im Deutschen ist bis heute die Wendung "Hauen und Stechen" für ein mehr oder weniger unkontrolliertes Gefecht geläufig. Manchmal sprechen wir von einem Akt des Ausstechens; etwa dann, wenn eine Person bei einem Bewerbungsgespräch gegenüber ihren Mitbewerbern die besseren Karten hat. Doch ist diese Verwendung gerade nicht, wie es scheinen mag, dem Kartenspiel entlehnt, sie hatte vielmehr ursprünglich die Bedeutung, eine andere Person "bei einem Turnier aus dem Sattel zu heben", d.h. jemanden vom Pferde zu stoßen. Entsprechend liefern wir einen Menschen, den wir "im Stich lassen", dem Angriff, eben dem Stich, eines potenziellen Feindes aus. Daraus folgt, dass eine Person, die buchstäblich unbestechlich bzw. unbestochen ist, im ursprünglichen Sinne unverletzt bleiben durfte. In dieser ganz konkreten, physischen Bedeutung fallen die Begriffe "Unbestechlichkeit" und "Unversehrtheit" demnach von vomherein zusammen. Bevor wir zu der Frage kommen, wie es im Laufe der Zeit zu einer Bedeutungsverschiebung des Wortes "bestechlich" in Richtung von "korrupt" hat kommen können, sollten wir jedoch noch einen Moment bei dem originär physischen Aspekt der Bestechung verweilen. Diese WOrtgeschichte wäre gar nicht so bedeutsam, wenn das deutsche Adjektiv "unbestechlich" nicht die getreueste Wiedergabe des lateinischen Wortes "integer" wäre. Der indogermanische Wortstamm von Integrität - "teg" - hieß eben seinerzeit so viel wie "stechen". Tatsächlich ist das hochdeutsche Verb selbst, wie auch das ihm verwandte "stecken", durch eine bloße Wurzelerweiterung aus teg hervorgegangen. Das durch einfache Vemeinung gebildete lateinische Adjektiv integer findet demnach in un-bestechlich seine recht genaue Übersetzung, und zwar in ebenjenem ursprünglich physischen Sinne von un-versehrt. Somit hat das unmittelbar benachbarte Adjektiv "intakt" als das genaue Gegenteil von "Kontakt" zu gelten.

der deutschen Sprache, Leipzig: Wiegand; Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, Hannover u. Leipzig: Hahnsehe Buchhandlung; Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, München: dtv.

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ETYMOLOGISCHE SPURENLESE

Allein durch Verweise dieser Art ist dann auch anschaulich zu machen, wie der Integritätsbegriff im Laufe der Zeit die Bedeutung der Integriertheit hat annehmen können. Ganzheit und Integriertheit sind nicht von vomherein dasselbe, denn offenkundig kann etwas nur dann integriert werden, wenn es zuvor gewissermaßen tegriert, d.h. entzweit war. Zwischen den Zuständen einer ursprünglicher Ganzheit und der im Nachhinein hergestellten Integriertheit muss sich eine Verlusterfahrung eigener Art ereignet haben. Integration muss als Reaktion auf eine Einbuße an Integrität verstanden werden, d.h. als das Bemühen, diesen Verlust ungeschehen zu machen. Das Verb "integrieren" beinhaltet somit eine doppelte Vemeinung, insofern es die Wiederherstellung einer zerstörten Einheit meint bzw. das Zusammenfügen der auseinander gebrochenen Bestandteile eines vormals intakten Ganzen. Integriertheit ist demnach eine Unversehrtheit zweiter Stufe. Man kann sie mit einer geklebten Vase vergleichen. Moderne philosophische und psychologische Theorien narrativer Identitätsbildung nehmen sich ein Beispiel an der Mathematik, indem sie das Prinzip der Integralrechnung auf den Akt des Erzählens einer Lebensgeschichte übertragen. Das, was in diesem Buch "Autobionarration" genannt wird, hat als eine sukzessive Summierung und Bestandsaufnahme dessen zu gelten, was unverzichtbar zu einer Person und ihrer Geschichte gehört. Die ethischexistenzielle Selbstverständigung soll einen Zusammenhang zwischen den in diesem Sinne integralen Bestandteilen der Persönlichkeit herstellen. Darüber hinaus ist die Autobionarration jener fortwährende Prozess, im Zuge dessen sich Personen durch Revision und Wiederherstellung ihres mitunter gestörten Selbstverhältnisses aus Zuständen der Desintegration herauszukämpfen versuchen. Kehren wir jedoch zurück zu der Frage, wie das Wort bestechlich die Bedeutung von korrupt hat annehmen können. Dazu müssen wir uns "unter Tage", d.h. in die Tunnelanlagen des Bergbaus, begeben. Etymologisch ist nämlich davon auszugehen, dass der uns heute geläufige Sinn von "bestechen" aus der Bergbausprache stammt. Gemeint ist der folgende Vorgang: Der Bergarbeiter untersucht mit Hilfe eines so genannten Grubenmessers, ob die Holzbalken, mit denen der Stollen abgestützt ist, frisch sind oder aber morsch. Der Grubenarbeiter macht im wahrsten Sinne des Wortes eine Stichprobe. Er prüft, ob das Gebälk standhält, d.h. ob sich das Holz als tragfähig und zuverlässig oder aber als faul erweist. Sind die Balken "stichhaltig" oder ist festzustellen, dass sie einen "Stich haben", wie man seither für Dinge, etwa Lebensmittel, sagt, die verderben oder verfaulen? Folgerichtig ist der Versuch einer Bestechung im übertragenen Sinne der Manipulation durch Geld oder sonstige Versprechungen als der Versuch zu deuten, die Standhaftigkeit und Zuverlässigkeit derjenigen Persönlichkeit zu testen, die bestochen werden soll. Der Charakter der unbestechlichen Person wird sich angesichts einer so!123

BEDEUTUNGSDIMENSIONEN DER INTEGRITÄT

chen Überprüfung gerade nicht als morsch, sondern als tragfahig erweisen. Die korrupte Person dagegen ist faul, wie es im Übrigen auch das lateinische Verb corrumpere- dt. "verderben"- anzeigt. Wenn man nun im nächsten Zug aus "verderben" das Wort "verdorben" macht, ist sogleich angedeutet, wie rasch die oben zunächst in einem Vormoralischen Sinne verwendete Rede von einem unbestechlichen Menschen eine spezifisch moralische Schlagseite annimmt. Betrachten wir dazu zunächst noch einmal das Verb "stechen". Im Laufe der Zeit hat es noch eine weitere aufschlussreiche Bedeutungsverschiebung erfahren, und zwar in Form des "Stichelns", was ursprünglich bedeutete "mit spitzem Gegenstand wiederholt in etwas einstechen". Erst später erhielt es die übertragene Bedeutung von "mit spitzen Worten reizen" oder auch "tadeln, verletzen, beleidigen". Ein Stichwort ist damit ursprünglich als "ein stechendes, beleidigendes, verletzendes Wort" zu verstehen, auch wenn es heute bloß noch ein besonders hervorstechendes Wort ist. So darf der moralisch rechtschaffene Mensch als ungestichelt im Sinne von untadlig und unbeleidigt gelten. Weil er sich nichts zu Schulden hat kommen lassen, muss er sich keiner Diffamierung aussetzen. Unbescholten ist er insofern, als man "keinen Lärm" um ihn macht. "Schall" und "Schelle" sind mit "unbescholten" wortverwandt Demnach ist der unbescholtene Mensch frei von lautstarkem Schimpf und Tadel. Auf diese Weise lässt sich etymologisch andeuten, inwiefern der Integritätsbegriff in seiner heutigen Verwendung immer schon mit einer moralischen Bedeutung schwanger geht. Vor allem aber offenbart ein Blick auf den im westlichen Kulturkreis primär katholisch dominierten Diskurs über die Jungfräulichkeit eine direkte Verknüpfung der physischen Ursprünge des Integritätsbegriffes mit einer spezifisch moralischen Komponente. 107 Mit dem Geschlechtsakt, jenem ersten ihr vom Mann versetzten "Stich", verliert die Jungfrau nicht nur ihr Hymen- so weit der physische Vorgang der Versehrung -, sie büßt zugleich auch ihre "Unschuld" ein. Das lässt auch sie nicht "unberührt". Von nun an haftet ihr, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, ein Stigma an: ein ihr eingestochenes und sie auf seltsame Weise moralisch disqualifizierendes Wundmal. Das Wort der "Befleckung" und das kirchliche Dogma von der unbefleckten Empfängnis geben über diesen doppelten Zusammenhang aus physischer Kennzeichnung und moralischer Entwertung beredt Auskunft. Maria, die Mutter Gottes, ist für den Katholiken nicht zuletzt

107 Michel Foucault hat gezeigt, dass bereits im Zuge der Spätantike eine "neue Erotik" aufkommt, die den Begriff der Integrität im Sinne der "Reinheit" und "Jungfräulichkeit" zum Gegenstand hat. Siehe ders. (1986b ), S. 292ff. V gl. Marina Wamer (1985): Monumentsand Maidens, New York: Atheneum, bes. S. 242-250. Vgl. Beebe (1995), bes. 76f. Dort finden sich außerdem Hinweise zu der christlichen Verwendung von integritas im Sinne einer ursprünglichen Unschuld der Menschheit vor dem Sündenfall.

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ETYMOLOGISCHE SPURENLESE

deshalb so anbetungswürdig und heilig, weil sie ein Kind zur Welt gebracht hat, ohne sich zuvor befleckt zu haben. Sie ist damit im körperlichen wie im moralischen Sinne intakt geblieben. Fassen wir diese etymologischen Indizien zusammen, so kann davon ausgegangen werden, dass im allgemeinen Sprachgebrauch die integre, d.h. die sich selbst treue Person, von der es aus der Perspektive der Fremdzuschreibung heißt, sie sei unbestechlich, die Vorzüge einer verlässlichen Person mit dem Nimbus moralischer Makellosigkeit verknüpft, den wir einer unbescholtenen Person zuerkennen würden. Darüber hinaus dürfte deutlich geworden sein, dass die ursprünglich physische Bedeutung des Integritätsbegriffes im Sinne der Ganzheit und Unversehrtheit in daraus abgeleiteten Begriffsverwendungen ihr Echo findet. Ähnliches gilt für jene oben genannte dritte Bedeutungsdimension der Integriertheit, die wortgeschichtlich nach Art einer doppelten Vemeinung ursprünglicher Entzweiungserfahrungen entfaltet werden kann. Diese etymologischen Verdachtsmomente können als erste Belege dafür herhalten, dass es nur wenig sinnvoll wäre, sich im Rahmen einer Abhandlung über den Begriff personaler Integrität auf die eine oder andere seiner Bedeutungsdimensionen zu versteifen. Den Status von Beweisen können solche Überlegungen selbstredend nicht beanspruchen. Sie lassen es jedoch lohnenswert erscheinen, über einen größeren systematischen Zusammenhang der in diesem Kapitel präsentierten Begriffsverwendungen nachzudenken.

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3. Selbstverständigung und Desintegration: Integrität als schwieriges Selbstverhältnis

Angesichts der zunächst verwirrenden Beobachtung, dass der Integritätsbegriff auf recht verschiedenartige Weise in Gebrauch ist, liegt der voreilige Schluss nahe, dass bei dessen Verwendung weniger unterschiedliche Aspekte ein und derselben Sache anklingen, als vielmehr widerstreitende Auffassungen davon, was personale Integrität im Kern ausmacht. Daher mag zunächst eine Entscheidung zu Gunsten einer dieser Verwendungen statt einer umfassenden Untersuchung, die an der Aufdeckung vorhandener Zusammenhänge interessiert wäre, angebracht erscheinen. Dennoch wird in den beiden folgenden Kapiteln der Versuch unternommen, einen Wesenskern der Integritätsidee freizulegen, aus dem die unterschiedlichen Bedeutungen gemeinsam hervorgehen. Das vorliegende dritte Kapitel wird sich primär solchen Fragen zuwenden, die auf das ethisch-existenzielle Selbstverhältnis der nach Integrität strebenden Person zielen, wobei vor allem die beiden Begriffsdimensionen Selbsttreue und Integriertheit relevant sein werden. Die zentrale Frage lautet: Können ganz bestimmte charakterliche Voraussetzungen benannt werden, die eine Person vorweisen muss, um überhaupt ein Leben in Integrität führen zu können? Und gibt es entsprechend auch typische charakterliche Defizite, die einen selbstverschuldeten Integritätsmangel bewirken? Das vierte Kapitel hingegen wird vor allem solchen Problemen auf den Grund gehen, die aus dem Umstand resultieren, dass Personen für ihre Integrität nicht allein die Verantwortung tragen. Menschen wissen sich immer schon in intersubjektive Lebenszusammenhänge eingebunden, in denen sie ihre Integrität verteidigen müssen; wobei maßgeblich die beiden Integritätsaspekte Rechtschaffenheit und Ganzheit im Vordergrund stehen. Die entscheidende Frage lautet dort: Welches sind die spezifisch sozialen Voraussetzungen für ein Leben in Integrität? Und inwiefern gerät das integre Leben durch Übergriffe von außen in Gefahr? Der zwischen die Kapitel 3 und 4 ein-

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SELBSTVERSTÄNDIGUNG UND DESINTEGRATION

gelassene Rekurs wird eine Art Brücke bilden, indem er auf die Frage nach den "intersubjektiven Wurzeln" personaler Integrität zu antworten versucht: Wie weit genau, d.h. bis zu welchem biographischen oder auch entwicklungspsychologischen Punkt, lässt sich das Bedürfnis nach Integrität zurückverfolgen? Und inwiefern muss das Streben nach personaler Integrität von Beginn an als auf charakteristische Weise intersubjektiv geprägt gedeutet werden? Wenden wir uns jedoch zunächst Fragen des ethisch-existenziellen Selbstverhältnisses zu. Gegen Ende des letzten Kapitels sind wir erneut auf den Aspekt der Ganzheit und Unversehrtheit integren Lebens gestoßen, der zuvor bereits im Rahmen der sozialphilosophischen Begründungsproblematik angeklungen war. Personale Integrität im Sinne einer ganzheitlichen Gemütsverfassung wurde als ein fragiles psychophysisches Erleben gedeutet, das für die nach Integrität strebende Person sowohl emotionalen wie kognitiven Aufschlusscharakter besitzt. Dem Zustand der Intaktheit, so hieß es, korrespondiert eine "Stimmung", die der Person anzeigt, dass der eigene ethischexistenzielle Lebenszusammenhang, so wie er ist, "bejaht" werden kann. Was aber genau heißt das? Zunächst gehört zu einem derart bejahenswerten Leben die Gewissheit, dass die betreffende Person in etwa so lebt, wie sie leben möchte. Andernfalls wäre kaum Integrität im Sinne einer Übereinstimmung von Selbstbild und Lebensvollzug zu konstatieren. Dies setzt jedoch zweitens eine hinreichend klar umrissene Vorstellung davon voraus, wie die betreffende Person überhaupt leben möchte. Ohne dieses ethisch-existenzielle Orientierungswissen fehlte ihr der wegweisende rote Faden im Leben. Drittens muss ein derart integriertes Selbstverständnis seinerseits darauf bauen können, dass die entsprechenden Lebensorientierungen mehr als nur ein Set bloßer Präferenzen bilden. Personale Integrität setzt einen Willen voraus und damit die tiefsitzende Identifikation mit Überzeugungen und Lebensvollzügen, die der betreffenden Person fundamental wertvoll sind. Damit ist ein komplexer begrifflicher Integritätszusammenhang angedeutet, der im Folgenden erst noch erhellt werden muss. Bei der Explikation der genannten drei Integritätsbedingungen werden wir in umgekehrter Reihenfolge verfahren, damit deutlich wird, wie diese Voraussetzungen stufenweise aufeinander aufbauen. Zunächst soll es um die Frage ethisch-existenziellen WalZens gehen, deren Beantwortung unweigerlich die weitere Frage aufwerfen wird, was es heißt, "Werte zu haben". Dabei stoßen wir auf einen ersten gravierenden Integritätsmangel: Angesichts der unausweichlichen Konflikthaftigkeit unterschiedlichster Wertbindungen im Leben wird die integre Person ethisch-existenzielle "Konfliktscheue" vermeiden müssen (3.1). Erst im Anschluss kann das Problem behandelt werden, was es heißt, "zu wissen, wie man leben möchte". Das Fehlen derartigen Wissens führt zu schwerwiegenden Orientierungskrisen und Desintegrationserfahrungen, die auf einen zweiten zentralen Integritätsmangel aufmerksam machen: Bei dem Versuch, das 128

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jeweils eigene ethisch-existenzielle Selbstbild zu klären, sollte die integre Person auf "Selbsttäuschungen" verzichten (3.2). Ist ein hinreichend klares Selbstverständnis erst einmal gewonnen, sieht sich die nach Integrität strebende Person sogleich mit der Frage konfrontiert, ob sie auch "so lebt, wie sie leben will". Hier wird sich ein drittes zentrales Integritätsdefizit bemerkbar machen: Da personale Integrität nicht nur auf starken Wertsetzungen beruht, sondern auch auf der Bereitschaft, den eigenen ethisch-existenziellen Selbstverpflichtungen Worte und Taten folgen zu lassen, hat die integre Person das Problem der "Willensschwäche" zu überwinden (3.3). Nachdem diese drei Voraussetzungen geklärt sind, können wir zu der Frage zurückkehren, was es heißt, "das eigene Leben zu bejahen". Dabei werden wir mit Blick auf das Integritätsproblem eine Reihe existenzieller Aporien identifizieren müssen, die uns zu einer wichtigen konzeptionellen Kurskorrektur zwingen: Das zuvor für die Integrität behauptete kategorische "Ja" zum eigenen Leben kann in wichtigen Hinsichten immer nur ein ,,Jein" sein (3.4). Gleichwohl handelt es sich bei der Integrität um eine insgesamt affirmative Grundstimmung des Lebens, zu der am Ende dieses Kapitels ein emotionaler Kontrast gezeichnet werden soll. Der vielleicht aufschlussreichste Geflihlskomplex, der einer Person anzeigt, dass sie selbst ihre Integrität in Gefahr bringt, ist aus den Emotionen "Angst" und "Selbstfremdheit" zusammengesetzt (3.5).

3.1

Kursbestimmung ohne Konfliktscheue: Was es heißt, Werte zu haben

Wenn hier bereits verschiedentlich die Annahme anklang, dass ein Leben in Übereinstimmung mit dem eigenen ethisch-existenziellen Wollen auf einer hinreichend klaren Vorstellung von wahrhaft integralen Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen zu fußen habe, dann ist damit auf eine altehrwürdige Grundidee philosophischer Ethik verwiesen, der zufolge das unreflektierte Leben ohne Selbsterforschung niemals ein wahrhaft gutes Leben genannt zu werden verdient. Wenn Menschen sich bewusstlos treiben lassen und unkritisch ihr Dasein fristen, so lautet die seit Sokrates vertraute Annahme, werden sie niemals das Glück eines erfüllten Lebens erlangen können. 1 Nur wer die Gesamtheit seiner Selbstbindungen und Grundvorhaben kritisch zu hinterfragen vermag, wer seine Wünsche und Anliegen ihrer Dringlichkeit nach zu Platon: Des Sokrates Verteidigung, Werke, Bd. 1.2, Berlin 1989: Akademie, hier S. 153 (38). Heute wird diese Ansicht z.B. vertreten von: Williams (1985); Robert Spaemann (1989): Glück und Wohlwollen, Stuttgart: Klett-Cotta; Ursula Wolf (1999a): Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt; Holmer Steinfath (2001): Orientierung am Guten, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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ordnen und darüber hinaus die Widersprüche des eigenen Lebens weitgehend aufzulösen imstande ist, nur der wird ein gutes und wohl auch - wie in dem uns betreffenden Fall- ein integres Leben führen können. Was sich in dieser Auffassung ankündigt, das ist der an jede Person, die nach Integrität strebt, gerichtete Auftrag, das je eigene Leben als eine ständige Herausforderung und beharrliche Orientierungssuche zu begreifen. Diese Bestimmung begreift die Ausgangslage des Menschen als die eines existenziell Ortsunkundigen: Der Mensch findet sich in sein Leben "geworfen" und nahezu von Beginn seiner Existenz an mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich in einem komplexen Koordinatensystem mannigfaltiger Eindrücke, Wertvorstellungen und Lebensentwürfe deutend zurechtzufinden. 2 Auch wenn dieser Befund inzwischen bis in die Esoterik-Ecke jeder größeren Buchhandlung vorgedrungen sein mag, dürfte er dadurch dennoch nicht an philosophischer Relevanz eingebüßt haben. Die klassisch sokratische Frage, "wie man leben soll, um gut zu leben", besitzt nicht nur für die philosophische Ethik, sondern schlicht für jedes Leben, das gelingen soll, existenziellen Vorrang. Da die Rede über Integrität offenbar nichts anderes als eben jene Modi guten Lebens hervorhebt, bei denen es um Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit geht, dürfte niemand, der sich um die Bewahrung seiner Integrität sorgt, um die Beschäftigung mit der Frage nach dem guten Leben herumkommen.3 Wer zu einem Selbstbild kommen möchte, das Orientierung stiftet, wird herausfinden müssen, auf welche seiner Selbstbindungen er unter keinen Umständen verzichten kann. Kurzum: Er hat zu erkunden, was ihm wirklich wertvoll ist bzw. was seine Werte sind. Die damit ins Auge gefasste Orientierungssuche betrifft die Identifizierung von Prinzipien und Kriterien, an denen die integre Person ihr Leben insgesamt auszurichten gedenkt. Nicht nur ihr gegenwärtiges Tun bedarf der Ausrichtung, auch mit planvollem Blick auf zukünftiges Handeln sowie in der autobionarrativen Rückschau sind derartige Orientierungsmarken vonnöten. In Kapitel 2 ist diesbezüglich bereits von "Selbstverpflichtungen" und "Grundvorhaben" die Rede gewesen. Deren Struktur erhellt sich allerdings erst dann, wenn wir den Sinn der Rede über "Werte" und "Wertbindungen" klären, denn diese besitzen für das Leben in Integrität eine noch grundlegendere Bedeutung. Werte benennen evaluative Gesichtspunkte, anhand derer Personen ihre Handlungen und Lebensvollzüge, aber auch die Handlungen und Lebensvollzüge anderer beurteilen; man denke hier etwa an Werte wie "Freiheit", "Selbstverwirklichung", "Wahrhaftigkeit", "Respekt" oder auch 2 3

Diese existenzphilosophisch angehauchte Charakterisierung der anthropologischen Ausgangslage findet sich z.B. bei Taylor (1994) und Maclntyre (1995). Ramsay (1997). Allerdings sollte dabei stets zwischen einer philosophischen und einer alltäglichen Beschäftigung mit der Frage nach dem guten Leben unterschieden werden. Dazu Wolf (1999a), bes. S. 204f.

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"Gerechtigkeit". 4 All diese und andere Werte bringen das zum Ausdruck, was einer Person "am Herzen" liegt und von dem sie glaubt, dass es auch anderen am Herzen liegen sollte. 5 Mit dem Bekenntnis zu Werten geben Personen sich gegenseitig Auskunft darüber, welche Lebensorientierungeil von ihnen als vorrangig und übergeordnet anerkannt werden. Demnach sind Werte als der viel beschworene rote Faden anzusehen, der sich durch das Leben von Personen zieht. Wer sich an Werte gebunden fühlt, sieht sich in eine "höhere Ordnung" gestellt, die den alltäglichen Umgang mit eher profanen Vorlieben und Präferenzen auf noch näher zu erläuternde Weise transzendiert. Werte gelten insofern "als gut", als sie "zum Guten" führen sollen. 6 Zu berücksichtigen ist dabei allerdings aus der ethisch-existenziellen Perspektive der Betroffenen, dass diese zunächst abstrakt wirkenden Werte stets in konkrete und partikulare Lebensvollzüge, d.h. in spezifizierte Wertbindungen eingebettet sind. Es geht um die Freiheit der eigenen Existenz, die Solidarität der eigenen Gemeinschaft, den Stolz auf das eigene Vaterland. So hätte eine gerrauere definitorische Formel zu lauten: Werte sind kontextuell verankerte, gleichwohl mit generellem Anspruch versehene, dauerhafte Bewertungskriterien, anhand derer Personen in ihrem Leben zwischen eher zweitrangigen Orientierungen und solchen Selbstverpflichtungen unterscheiden, an denen ihnen wirklich gelegen ist. Freilich trifft die Unterstellung einer prinzipiellen W ertorientiertheit des Lebens auf den Kreis aller Personen zu. Von der integren Person hingegen hieß es, sie besitze äußerst "gefestigte" Werte, von denen sie sich nicht abbringen lasse. Personale Integrität scheint demnach eine besondere Form der Wertorientiertheit vorauszusetzen, die sich durch ein hohes Maß an Beherztheit und Konsequenz auszeichnet: Für integre Personen sind Werte mit einer nochmals stärkeren Wichtigkeit und Dringlichkeit versehen. 7 Eine Person mag Werte besitzen, ohne dass sich diese in ihrem Leben nachhaltig und handlungswirksam niederschlagen. Die Wertbindungen der integren Person hingegen formen einen kategorischen Willen, der angesichts von Konflikten, Widersprüchen und Orientierungsnöten die Empfindung wachruft, dass es der betroffenen Person kaum gleichgültig sein kann, wie sie sich entscheiden wird, da ihr ethisch-existenzielles Selbstverständnis auf dem Spiel steht. Im 4

5 6 7

Insbesondere im Hinblick auf moralische Ideale wie Gerechtigkeit kann zwischen "Normen", die eine absolute Verbindlichkeit, und "Werten", die eine graduelle Vorzugswürdigkeit benennen, unterscheiden werden. Siehe Jürgen Habermas (1992): Faktizität und Geltung, Frankfurt/Main: Suhrkamp, bes. S. 310ff. Allerdings wird aus moralischen Normen immer dann ein Wert, wenn Personen sich diese Normen zu Eigen machen. Frankfurt (1988b ). Hans Joas (1997): Die Entstehung der Werte, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Vgl. Cox/La Caze/Levine (2003), bes. S. Sf. 131

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Gegensatz zu sonstigen Orientierungen, z.B. bloßen Vorlieben, Präferenzen oder Bedürfnissen, besitzen Werte eine besondere Dignität. Sie benennenjene Kriterien zur Beurteilung möglicher Handlungsalternativen, denen die integre Person im Konfliktfall stets den Vorrang einzuräumen gewillt ist. Werte, so heißt es in Erinnerung an Oscar Wilde, sind "Kriterien der Inkaufnahme. Ist Freiheit der höchste Wert, mag man revolutionäre Gewalt in Kauf nehmen. Für den Dandy hingegen, für den es Freizeit ist, gehen beim Sozialismus einfach zu viele Wochenenden drauf." 8 Demzufolge sind Werte im Leben der integren Person als "Trümpfe" aufzufassen, die im Konfliktfall etwaig schwächer begründete Handlungsalternativen ausstechen. Der von ihnen ausgehende zwanglose Zwang nötigt zu Entscheidungen, die nicht als Beschränkung der eigenen Freiheit, sondern als Akte der Selbstbestimmung und zugleich auch Selbstüberschreitung erfahren werden, insofern dieser Zwang von einer Ordnung, die das Individuum zu transzendieren scheint, auf den eigenen praktischen Lebensvollzug ausstrahlt. 9 Demnach setzt personale Integrität nicht nur den bloßen Besitz von Werten, sondern nahezu ergebene Wertbindungen voraus, mit denen eine lediglich laxe Orientierung ausgeschlossen ist. Es ist dieser Zusammenhang, der weiter oben bereits in der Integritätsbestimmung einer Handlungsorientierung "dritter Stufe" angedeutet wurde. Integrität ist eine dauerhafte und konsequente Selbstverpflichtung gegenüber ethisch-existenziellen Wertbindungen zweiter Stufe, in deren Lichte Vorlieben und Neigungen erster Stufe einer Bewertung unterzogen werden. Wie genau dies geschieht, soll hier zunächst noch etwas eingehender geklärt werden. Beginnen wir mit dem eher banalen Beispiel einer Raucherin. Man stelle sich vor, eine junge Frau hat den Entschluss gefasst, täglich nicht mehr als eine halbe Schachtel, also etwa zehn Zigaretten, zu rauchen. Das ist, verglichen mit dem Pensum einer Kettenraucherin, nicht viel, aber immerhin noch genug, um gelegentlich darüber nachzudenken, ganz aufzuhören. Die Frau sitzt mit Freunden in einem Lokal. Gutes Essen, gute Stimmung. Der Tischnachbar zündet sich eine Zigarette an. Auch unsere Raucheringreift nach ihrem Päckchen, hält dann aber sogleich inne. Die Packung ist bereits halb leer. Nun überlegt sie: Eine Zigarette würde ihr jetzt gut tun. Aber soll sie ihren Vorsatz brechen? Das Beispiel soll zunächst lediglich den überaus alltäglichen Umstand illustrieren, dass Menschen in ihren Lebensvollzügen häufig mit Situationen konfrontiert sind, in denen widersprüchliche oder gar sich wechselseitig ausschließende Wünsche kollidieren: "Zigarette oder nicht", "Vanille oder 8

Jürgen Kaube (1998): "Ich weiß nicht, was soll ich bedeuten", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Januar 1998.

9

Dazu Joas (1997).

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Erdbeere", "Thomas oder Frank". In Momenten, in denen sich derartige Alternativen bieten, sind Entscheidungen zu fallen. Dazu bedarf es geeigneter Kriterien, vor deren Hintergrund der jeweils zu treffende Entschluss sinnvoll erscheint. Harry Frankfurt und Charles Taylor werfen Licht auf die Struktur solcher Entscheidungsprozesse. Sie gehen davon aus, dass sich Personen gegenüber anderen Lebewesen dadurch auszeichnen, dass sie nicht bloß Wünsche haben, sondern angesichts von Wunschkonflikten einen reflektierten "Willen" ausbilden können. 1°Führen wir uns diesen Unterschied anhand unseres Beispiels vor Augen. Die Raucherirr kann entweder schlicht abzuwägen versuchen, welcher ihrer beiden Wünsche- "Ich möchte rauchen" und "Ich möchte nicht rauchen" - ihr momentan dringlicher erscheint, um dann einfach dem augenblicklich heftigeren Wunsch zu folgen. Oder aber sie bemüht sich um Distanz zu ihren Wünschen und fragt sich: "Welchen der beiden Wünsche kann ich denn nun wirklich wollen?" Im ersten Falllässt sie sich nach kurzem Abwägen einfach von ihrem momentan stärkeren Wunsch überwältigen. Was aber passiert im zweiten Fall? Zunächst ist festzustellen, dass in beiden Fällen, wie Frankfurt sagt, eine Reflexion "zweiter Ordnung" einsetzt. Die Person stellt fest, dass sie sich gegenüber ihren karrtligierenden Wünschen "erster Ordnung" kritisch bewertend verhalten kann. Sie unterzieht ihre Wünsche einer Überprüfung und fragt sich, welcher der beiden handlungswirksam werden soll. Der entscheidende Unterschied zwischen erstem und zweitem Fall besteht darin, dass die Person allein im letzteren, wie Taylor sagt, eine "starke" Wertung vollzieht. Hier fragt sie sich nicht bloß, welcher ihrer beiden Wünsche momentan dringlicher ist. Dies wäre lediglich eine "schwache" Wertung, die ohne jedes höherstufige Kriterium auskäme. 11 Vielmehr ist sie darum bemüht, sich an das zu erinnern, was ihr wahrhaft am Herzen liegt. Sie ruft ihre festen Prinzipien und Wertbindungen auf den Plan- z.B. Maximen der Gesundheit, Disziplin, Sparsamkeit, aber auch der Geselligkeit, Entspannung und Lebensfreude-, in deren Lichte die anstehende Entscheidung als sinnvoll erscheinen muss. Erst vor dem Hintergrund solcher höherstufiger Abwägungen formt sich das, was wir den Willen einer Person nennen. Der Wille ist ein starker, handlungswirksamer Wunsch zweiter Ordnung, insofern er ein begründeter Wunsch ist, der die Realisierung eines Wunsches erster Ordnung will. Menschen haben stets viele Wünsche, aber nur wenige davon sind wirklich gewollt in dem Sinn, dass ihre Verwirklichung beschlossen und auch tatkräftig vorangetrieben wird. Die jeweiligen Gründe, die in derartige Willensbil10 Dazu vor allem Harry G. Frankfurt (1988d): "Freedom ofthe Will and the Concept of a Person", in: ders. (1988b ); Taylor (1988c ). II Frankfurt unterscheidet diesbezüglich zwischen "second-order desires" und "second-order volitions".

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dungsprozesse einfließen, müssen dabei auf Werte und vorhandene W ertbindungen zurückgreifen können. Wer keine Wertbindungen vorweisen kann, wird stets nur schwach, aber niemals stark werten können. Der Person müsste jegliche Orientierung im Leben und zugleich eine zentrale Voraussetzung personaler Integrität abhanden kommen. Zwar müssen ihr diese Wertbindungen nicht schon ausdrücklich bewusst sein, um sich in Entscheidungen niederschlagen zu können 12 , dennoch sind bereits derart unwichtige Entscheidungsprobleme, wie die Frage nach einer weiteren Zigarette, gänzlich ohne höherstufige Bewertungskriterien schwer zu lösen; jedenfalls dann nicht, wenn die Entscheidung wohlüberlegt und nicht bloß triebhaft oder mutwillig gefällt werden soll. 13 Wenn hier von Aspekten des Selbstbildes die Rede ist, die den betreffenden Personen "wirklich" wichtig sind, so sind jene Tiefenschichten ihres ethisch-existenziellen Selbstverständnisses berührt, in die eingeritzt steht, als was für ein Mensch sie sich verstehen wollen. Das ethisch-existenzielle Selbstbild einer Person ist folglich immer auch als Summe starker Wertungen aufzufassen, deren Ablehnung bedeuten würde, sich selbst abzulehnen. Werte und Wertbindungen gehören zu jenen integralen Bestandteilen unseres Selbstbildes, die uns als Individuen zu dem machen, was wir zu sein beanspruchen. Kämen uns diese integralen Aspekte abhanden, kämen wir uns selbst abhanden. Bevor wir darauf zu sprechen kommen können, was diese zunächst allgemeinen Charakterisierungen des Personseins mit der Integritätsproblematik im Besonderen zu tun haben, sind zu Gunsten einer besseren Einsicht in die Komplexität existenzieller Selbstverhältnisse noch einige definitorische Unterscheidungen vorzunehmen. Im Anschluss an Frankfurt und Taylor kann von bloßen "Bedürfnissen" und "Wünschen" dann gesprochen werden, wenn ein Begehren erster Ordnung gemeint ist (z.B. "Hunger" oder "Wärme"), auf das sowohl schwache als auch starke Wertungen höherstufig reflektieren. "Vorlieben" und "Präferenzen" sind als Resultat schwacher Abwägungen zu verstehen, bei denen wir ohne höherstufige Kriterien auskommen (z.B. ,,Vanille statt Erdbeere" oder "Rauchen statt Nicht-Rauchen"). Demgegenüber sind "Werte" und "Wertbindungen", ähnlich wie auch "Ideale"14, als ebenjene höherstufigen Maßstäbe aufzufassen, die in starke Evaluierungen einfließen. Erst im Lichte dieser begrifflichen Klärungen lässt sich den bereits in Kapitel 2 als zentral eingestuften Kategorien "Selbstverpflichtung" und "Grundvorhaben" eine genauere Bestimmung geben. Beide verweisen auf die Mög12 Behauptet wird lediglich, dass eine Identifikation von ganzem Herzen möglich wäre, sollte es zu Reflexionsprozessen kommen. 13 Zum Phänomen des "wanton" siehe Frankfurt (1988d). 14 Bei Idealen handelt es sich um solche Werte, die sich per definitionem niemals vollends verwirklichen lassen; z.B. "umfassende Gerechtigkeit".

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lichkeit von langfristig disponierten ethischen Hauptanliegen, im Rahmen derer einzelne Wertorientierungeil auf ein gemeinsames Ziel hin ausgerichtet werden. Selbstverpflichtungen sind dauerhafte, inhaltlich konkrete Handlungsorientierungen (z.B. stets "fair" oder auch "ehrfürchtig" sein zu wollen), deren Ernsthaftigkeit sich daran bemisst, ob sie sich in entsprechenden Verhaltensmustern niederschlagen. Mit Grundvorhaben hingegen ist jene eher begrenzte Menge an ethisch-existenziellen Großprojekten benannt (z.B. ein "moralischer Mensch" oder auch "ein guter Vater" sein zu wollen), die insofern als wahrhaft integrale Persönlichkeitsanteile aufzufassen sind, als mit deren Verlust auch die Integrität der Person abhanden käme. Ihrer Tendenz nach sind beide, Selbstverpflichtungen und Grundvorhaben, zeitlich unabschließbar. Häufig erstrecken sie sich über die gesamte Spanne des eigenen Lebensentwurfs, wobei sie oftmals bis in den Tod hinein aufrechterhalten werden. Auch wenn damit die wichtigsten formalen Aspekte eines jeden annähernd elaborierten Selbstbildes benannt sein dürften 15 , so ist doch noch immer fraglich, inwiefern die hier am Beispiel einer Raucherirr erörterte Werteproblematik zu einem gerraueren Verständnis der Frage, was unter personaler Integrität zu verstehen ist, beizutragen vermag. Mit der Idee einer dem Wertepluralismus geschuldeten Konflikthaftigkeit menschlichen Daseins sind wir zunächst auf einen überaus allgemeinen Umstand personalen Lebens verwiesen. Um nachvollziehen zu können, warum die Annahme, Werte seien "Kriterien der Inkaufnahme", für die Integritätsproblematik eine besondere Relevanz besitzt, müssen wir unserem Beispiel erst noch eine schärfere Fassung geben. Man stelle sich vor, der Vater der Raucherirr ist wenige Wochen zuvor an Lungenkrebs gestorben. Sofort wird ihr Gewissenskonflikt in einem gänzlich anderen Licht erscheinen. In der ersten Fassung des Beispiels betraf ihre Entscheidungsnot den eher alltäglichen Konflikt zwischen Wünschen erster Ordnung, der durch eine einfache Wertentscheidung zweiter Ordnung aufgelöst werden konnte. In der zweiten Version hingegen kommt es zu Kollisionen auf der höheren Ebene der Wertbindungen selbst. Was der Raucherirr angesichts ihrer halbleeren Zigarettenschachtel schmerzlich zu Bewusstsein kommt, ist der Widerstreit zwischen dem Andenken an den zuletzt schwer leidenden Vater und ihrem Selbstbild als genussorientierte Raucherin. Früher oder später wird sie sich grundlegend entscheiden müssen. Die Frage, ob sie an eben diesem Abend eine weitere Zigarette rauchen möchte oder nicht, ist zweitrangig. Unklar ist vielmehr, ob sie sich fortan überhaupt noch als eine leidenschaftliche Raucherirr verstehen will.

15 Dieses formale Selbstbild ließe sich durch "Motive", "Interessen", "Ziele", "Prinzipien", "Maximen", "Regeln", "Normen" u.ä. anreichern.

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Es sind Konflikt- und Entscheidungssituationen dieser Art, in denen nicht nur Wünsche, Vorlieben und Präferenzen, sondern Werte, Selbstverpflichtungen und Grundvorhaben aufeinanderprallen, angesichts derer sich die Integrität einer Person erweisen muss. Wenn Wertbindungen kollidieren, muss der Wille standhalten. Erst in höherstufig gelagerten Orientierungsnöten kann der Schritt von der Person zur integren Person vollzogen werden. Man sollte es allerdings vermeiden, angesichts derartiger Konfliktsituationen stets von "Dilemmata" oder auch "Widersprüchen" zu sprechen. Der Begriff Dilemma betrifft ethisch-existenzielle Zwangslagen, die grundsätzlich unlösbar sind, weil alle nur erdenklichen Alternativen unannehmbar erscheinen. Solche Notsituationen mögen vorkommen. Personen können in vermeintlich unlösbare Schwierigkeiten geraten, doch wirklich unentscheidbar sind Wertekonflikte nur in den seltensten Fällen. In der Regel können existenzielle Problemlagen entschieden werden, selbst wenn daraus für die Betroffenen gravierende Nachteile erwachsen. 16 Um jedoch dem nach oben offenen Schweregrad solcher Entscheidungssituationen auch begrifflich Rechnung zu tragen, kann in Fällen dieser Art von "tragischen" Konflikten die Rede sein. Konflikte sind tragisch, wenn es aus der Betroffenenperspektive heraus so scheint, als sei die anstehende Entscheidung entweder gar nicht oder doch nur unter massiven Verlusten zu treffen. Nahezu spiegelbildlich wird man durch die Gleichsetzung von Konflikten und Widersprüchen auf eine falsche Fährte geleitet. Zumindest die hegelianische Verwendung des Widerspruchsbegriffs stellt das gerraue Gegenteil von dilemmatischer Unentscheidbarkeit in Aussicht, und zwar die bereits prinzipiell gegebene Möglichkeit einer "Versöhnung" widerstreitender Orientierungen. In den zweifellos meisten ethischen Konfliktfällen ist jedoch auch dies kaum zu erwarten. In aller Regel werden existenzielle Entscheidungen eben nur unter Inkaufnahme von Konsequenzen oder gar Verlusten getroffen, und dementsprechend kann, sobald eine solche Entscheidung gefallen ist, von einer völligen Auflösung oder Besänftigung des jeweiligen Konfliktes kaum die Rede sein. Allenfalls auf der Ebene des akuten Handlungskonfliktes ist die Idee einer Auflösung des Widerstreits sinnvoll. Wenn die Raucherirr sich nach reiflicher Überlegung dazu entscheidet, das Rauchen, zumindest für den Rest des Abends, einzustellen, ist der Handlungskonflikt vorerst beigelegt. Doch auf der weit tiefer liegenden Ebene der Gründe, die für die jeweiligen Handlungsalternativen gesprochen haben, bleibt der Konflikt bestehen. Selbst wenn an diesem Abend kein konkreter Klärungsbedarf mehr besteht, sind doch die Argumente, die zuvor für eine weitere Zigarette gesprochen haben, damit nicht schon restlos widerlegt oder ungültig; was die junge Frau vermut-

16 Dazu Ursula Wolf (1993b): "Moralische Dilemmata und Wertkonflikte", m: Menke/Seel (1993).

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lieh für den Rest des Abends dann auch spüren dürfte. Diese Gründe haben sich lediglich im jeweiligen Reflexions- und Entscheidungsprozess als weniger stark erwiesen. 17 Das Beispiel zeigt, dass es in Konfliktsituationen, in denen eine Entscheidung zu Gunsten einer von mehreren höherstufigen Wertbindungen getroffen wird, keineswegs dazu kommen muss, dass die Gründe, die ursprünglich zur Formulierung der später unterlegenen Entscheidungsoptionen geführt haben, gänzlich ihre Kraft einbüßen. Dies zeitigt wichtige Konsequenzen für die Integritätsproblematik: Das integre Leben wird sich angesichts eben solcher ethischer Entscheidungssituationen beweisen müssen, und zwar nicht, wie man es zunächst vielleicht vermuten würde, als versöhnliche Auflösung vorhandener Konflikte, sondern im Zuge von Entschlüssen, die den vorhandenen Widerstreit zwischen unterschiedlichen Wertbindungen anerkennen und gelten lassen. Die integre Person ringt sich zu Entscheidungen durch, ohne die dabei unterlegenen Gründe ganz beiseite zu schieben. Sie vermag die Heterogenität und Pluralität von Wertbindungen und guten Gründen auch dann noch zu tolerieren, wenn sie ihr eigenes Selbstverständnis betreffen. Integre Menschen bleiben auch nach einer schweren Entscheidung noch jener stichhaltigen Handlungsgründe eingedenk, die am Ende lediglich nicht stark genug waren, um im Entscheidungskonflikt den Ausschlag zu geben. Aus Sicht der Integrität sind existenzielle Entscheidungen demnach allein dann angemessen, wenn sie "in Wahrnehmung der eigentümlichen Kraft der unterlegenen Verpflichtung und des abgewiesenen Anspruchs" 1R getroffen werden. Zwar mögen die im vorigen Kapitel aufgefächerten Integritätsaspekte der Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit den Verdacht nahe gelegt haben, dass es im Wertgefüge integrer Personen zu keinen wirklich tiefgreifenden Ambivalenzen und Konflikten kommen dürfe, doch muss sich ein solcher Verdacht spätestens an dieser Stelle als voreilig erweisen. Personale Integrität ist keine Umgehungsstraße, die um sämtliche Konflikte des Lebens herumführt. Sie kommt vielmehr in der Art und Weise zum Ausdruck, wie Personen ihre Konflikte durchstehen. Integrität zeigt sich in einer kontextspezifischen Anwendung und gegebenenfalls auch Abwägung divergierender Wertbindungen. Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit müssen sich angesichts existenzieller Entscheidungssituationen zu einem gut begründeten "Sich-Durchhalten" formieren. Mit der Bagatellisierung oder gar Verleugnung von Konflikten und Ambivalenzen sind sie unvereinbar. Die Tatsache einer nahezu unausweichlichen Konflikthaftigkeit des

17 Menke (1993a). 18 So Menke (1993a), S. 211, mit Bezug aufWilliams. Vgl. Haifon (1989).

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menschlichen Lebens ist der Integritätsidee nicht äußerlich, sie muss mit in den Integritätsbegriff hineingenommen werden. 19 Freilich gilt auch hier, was im vorigen Kapitel bereits mit Blick auf das "standhaltende Wollen" zutreffend war, dass Personen in ihrem Leben keineswegs stets und ständig mit Konflikten zu kämpfen haben müssen, damit man ihnen Integrität attestieren kann. Sie sollten ihre Integrität lediglich angesichts gravierender Entscheidungssituationen bezeugen können, wie selten auch immer sich solche Situationen ergeben mögen. Zugleich aber darf angenommen werden, dass Personen, die integer sein wollen, derartigen Schwierigkeiten auch nicht ständig ausweichen dürfen, womit wir bei einem ersten typischen Integritätsdefizit angelangt wären: Integre Person dürfen keine "Konfliktscheue" an den Tag legen. Sie mögen zwar bemüht sein, eine kohärente und tendenziell sogar rigorose Grundhaltung auszubilden, mit der allein sich schon viele tiefgreifende Konflikte werden vermeiden lassen. Dennoch müssen sich integre Personen jenen Problemen, die unausweichlich sind, selbstbewusst stellen. Sie haben sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass nach schwerwiegenden Entscheidungssituationen, in denen nicht alle ihrer divergenten Wertbindungen zugleich realisiert werden konnten, gravierende Ambivalenzen verbleiben dürfen, solange diese sich autobionarrativ einholen lassen. Da der Besitz personaler Integrität gänzlich ohne Konflikte nicht einmal denkbar ist, muss Konfliktscheue als ein struktureller Integritätsmangel eingestuft werden. Wie aber verhält es sich mit einer alternativen Strategie der Konfliktbewältigung, die in alltäglichen Lebenszusammenhängen überaus häufig zur Anwendung kommt? Konfrontiert mit Wunsch- und Wertkonflikten neigen Individuen oft dazu, ihre Entscheidungen so zu treffen, dass beide der in Frage stehenden Motive, zumindest in Maßen, zu ihrem Recht kommen. Entscheidungen fallen dann weniger zu Gunsten bzw. Ungunsten jeweils einer der widerstreitenden Orientierungen, vielmehr wird ein Kompromiss gebildet, der beide berücksichtigen soll; nach dem Motto "eine letzte Zigarette noch", "halb Vanille, halb Erdbeere", "unter der Woche Thomas, am Wochenende Frank". Es ist anzunehmen, dass im Zuge von Kompromissbildungen personale Integrität nicht schon verloren gehen muss. Dennoch werden bereits diese eher trivialen Beispiele so manchem wahrhaft prinzipientreueil Menschen gegen den Strich gehen. Die Forderung, eine integre Person dürfe überhaupt gar keine Kompromisse eingehen, mag überzogen 19 Ein analoges Argument gilt fiir das "Leiden", wenn man darunter eine am eigenen Leibe erfahrene Beeinträchtigung des Wohlergehens verstehen will. Völlige Leidensfreiheit kann fiir personale Integrität kein notwendiges Kriterium sein. So manche Form von Unwohlsein, Mühsal oder gar Schmerz wird mit Integrität vereinbar sein. Auch hier zeigt sich letztere in der Art und Weise, wie die Person mit den Schwankungen des Lebens umgeht.

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und zudem unrealistisch sein. Außer Frage steht wohl aber, dass die Kornpromissbereitschaft integrer Personen Grenzen aufweist. Entscheidungen und Zwischenlösungen, in denen sich weder die eine noch die andere der kaufligierenden Wertorientierungeil wiedererkennen lassen, scheiden aus. Zudem sind halbherzige Konzessionen ausgeschlossen, mit denen eine Person sich und ihr Selbstbild derart "kompromittiert", dass sie fundamental an Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit oder auch Ganzheit einbüßt. Etwaige Zugeständnisse pragmatischer o.ä. Art dürfen allenfalls zu situativen Abstrichen am eigenen ethisch-existenziellen Selbstbild führen. Die grundlegenden Wertbindungen und Selbstverpflichtungen müssen stets erkennbar bleiben. Kompromisse müssen ihrerseits mit hinreichend guten Gründen vertretbar und mit dem Selbstverständnis der betreffenden Person kompatibel sein. 20 Wo aber genau die Grenze zwischen vertretbaren Konzessionen und selbstschädigender Inkonsequenz verläuft, lässt sich sowohl in konzeptioneller Hinsicht als auch im konkreten Einzelfall schwer vorherbestimmen. Nur zu oft stellt sich erst im Nachhinein heraus, dass ein seinerzeit eingegangener Kompromiss zu einem Riss in der Außenhaut des Charakters geführt hat, in dessen Folge die in Frage stehenden Wertbindungen erst allmählich ganz abhanden kamen. Insofern bergen Kompromisse eine ähnliche Gefahr wie der in Kapitel 2 diskutierte Fall der Bestechung: Sie können der Anfang vom Ende einer integralen Selbstverpflichtung sein. Wenn eine Person sich über diesen Zusammenhang im Klaren ist, wird ihre Kompromissbereitschaft Grenzen aufweisen. Und dennoch: Völlige Kompromisslosigkeit kann kein Merkmal integren Lebens sein. Wollte man die Bereitschaft zum Kompromiss bereits auf prinzipieller Ebene ausschließen, fiele man erneut der Sturheit, der Borniertheit, dem Dogmatismus oder gar dem Fanatismus anheim. Der vermeintliche Vorzug würde so in einen Makel umschlagen. 21 Ein weiteres Beispiel: In einem Schlager von Udo Jürgens mit dem Titel "Ich war noch niemals in New York" wird von einem Mann berichtet, der am Abend die eheliche Wohnung verlässt, um eben Zigaretten holen zu gehen. Im neonhellen Treppenhaus, in dem es nach Bohnerwachs und Spießigkeit riecht, wird ihm bewusst, dass er fast alles bei sich trägt, was er benötigen würde, um der Enge seines Lebens zu entfliehen: Pass, Euro-Schecks und etwas Geld. Vielleicht geht heute Abend noch ein Flug! Wir erinnern uns: Er war noch niemals in New York. Er war noch niemals auf Hawaii. Ging nie durch San Francisco in zerrissenen Jeans. Für einen Moment schwelgt er in der Phantasie einer neu gewonnenen Freiheit. Doch noch bevor er wirklich dahin aufbricht, kehrt er um, verschreckt von der Kühnheit des Gedankens. Er schreitet durch das Treppenhaus. Seine Frau erwartet ihn bereits und ruft ihm

20 Benjamin (1990); Ramsay (1997). 21 Vgl. Haifon (1989), Kap. 6. 139

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zu: "Wo bleibst du bloß? Dalli-Dalli geht gleich los". Und auf die Frage: "War 'was?", antwortet er: "Nein, was soll schon sein?" Auf Anhieb mag es nahe liegen, von Tagträumereien und einem Mangel an Entschlossenheit zu sprechen. Aus einer gänzlich anderen Sicht wäre dem Mann Besonnenheit und eheliches Verantwortungsbewusstsein zu attestieren. Nach einer dritten Deutung kann die verhinderte Flucht als Kompromissbildung zwischen der "verrückten" Phantasie einerneuen Freiheit und den Verpflichtungen, Bindungen und Zwängen des wirklichen Lebens interpretiert werden. Unabhängig von den tatsächlichen Überzeugungen und Wertbindungen, die der Betroffene selbst in seine Überlegungen hat einfließen lassen, wird ein solcher Fall kaum angemessen beurteilt werden können. Dennoch tritt anhand des Beispiels ein überaus zentraler Aspekt im Verhältnis von Integrität und Konflikt hervor. Wir müssen davon ausgehen, dass die Sehnsucht nach einem völlig anderen Leben, d.h. der Wunsch, einmal ganz anderen Wertbindungen zu folgen als jenen, denen man bis dato verpflichtet gewesen ist, nicht immer nur eine romantische Spinnerei ist. Zwar stehen uns unsere ethisch-existenziellen Wertbindungen niemals vollständig zur Disposition, da diese derart tief in unser jeweiliges Selbstverständnis eingelassen sind, dass mit ihnen unser Personsein als solches zur Disposition stehen würde. Überhaupt sind diese Wertbindungen nicht "frei wählbar" in dem Sinne, dass man aus ihren Kontexten, d.h. aus den nicht zuletzt sozialen sowie kulturellen Prägungen des eigenen Charakters, ganz einfach heraustreten könnte. 22 Dennoch kann es dazu kommen, dass Personen sich mit Entscheidungssituationen konfrontiert sehen, in denen sie ihre Werte von Grund auf zu überdenken haben. Wenn ihnen, wie im Fall des letztlich mutlosen Ehemanns, die Einsicht dämmert, dass sie viele Jahre den falschen Werten hinterhergelaufen sind oder dass sie gar ein gänzlich falsches Leben geführt haben, kann es notwendig werden, die eigenen Selbstverpflichtungen zu revidieren oder aber durch andere Wertbindungen zu ersetzen. 23 Integre Personen haben sich gegenüber der Tatsache offen zu halten, dass auch sie in ihren Wertorientierungen fehlbar sind. Sie müssen mit der Notwendigkeit von Korrekturen ihres Wertevokabulars bis hin zur völligen Revision ihrer Selbstverpflichtungen rechnen, d.h. mit Lernprozessen, die durch dogmatisches Festhalten an überkommenen Wertbindungen im Ansatz verhindert werden. Demnach ist auch in dieser Hinsicht Konfliktscheue zu vermeiden. Wer aus Angst oder auch nur aus Bequemlichkeit jeder Form von 22 Siehe dazu auch die Beiträge in Frankfurt (1988b). 23 Die Unterscheidung Werterevision/Werteaustausch soll dem Umstand gerecht werden, dass Menschen eher bereit sind, ihre Wertbindungen umzudeuten als sie fallen zu lassen. Man denke hier z.B. an einen erklärtermaßen traditionsbewussten Sozialdemokraten, dessen Antworten auf die Frage, was soziale Gerechtigkeit sei, jedoch "mit der Zeit" gehen. 140

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ethisch-existenziellem Lernprozess ausweicht, indem er sich zwanghaft an gewohnte Wertvorstellungen klammert, wird immer nur den eigenen Status Quo bestätigen. Ein solches Festhalten mag oft angebracht sein. Wenn aber die integre Person eine kompromisslos rigide Haltung einnimmt, wird sie kaum mehr von der Stelle kommen. Wie später noch deutlicher werden wird, können gravierende Wertkonflikte im Rahmen der ethisch-existenziellen Selbstverständigung eine wichtige katalysatorische Rolle spielen, auch wenn ein dadurch bewirkter Wertewandel nicht selten das Ergebnis schmerzhafter Lern- und Umgewöhnungsprozesse ist. Daher muss personale Integrität sich stets auch als Offenheit gegenüber Konflikten und Ambivalenzen oder besser noch als Gelassenheit im Umgang mit diesen zeigen. Diese Gelassenheit wiederum setzt autobionarrative Prozesse der Selbstverständigung voraus, im Zuge derer die konfliktreichen Geschehnisse des Lebens in eine plausible Gesamtdarstellung eingeflochten werden. Erst in Verbindung mit ethischen Rechtfertigungspraktiken vermag die Akzeptanz der unausweichlichen Konflikthaftigkeit des Lebens zu einem sich wandelnden, aber gleichwohl integrierten Selbstbild zu führen, das die Ambivalenzen der eigenen Existenz nicht zu scheuen braucht. Wie aber genau hat man sich derartige Selbstverständigungsprozesse vorzustellen?

3.2 Selbstaufklärungcontra Selbsttäuschung: Wissen, wie man leben will Angesichts der Forderungen nach Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit mag sich sogleich das Bild einer geradlinigen, "kompletten" Persönlichkeit aufdrängen, deren Lebensvollzüge allenfalls minimale Kursabweichungen zulassen. Nimmt man jedoch den Gedanken einer unausweichlichen Konflikthaftigkeit der menschlichen Existenz ernst, dann wird sich die Integrität einer Person angesichts von Spannungen innerhalb des eigenen Selbstverständnisses nicht immer nur als ein gut begründetes Festhalten an tief verankerten Selbstverpflichtungen äußern, sondern manchmal eben auch als ein gut begründetes, wenngleich schmerzhaftes Loslassen. 24 Neue Erfahrungen im Leben einer Person können neue Einsichten und Lebensoptionen erschließen, die zuvor noch gar nicht abzusehen waren. Aus diesen neuen Einsichten können entsprechend neue Selbstverpflichtungen und Grundvorhaben resultieren. Allerdings sollten diese Überarbeitungen oder gar "Brüche" der eigenen Lebensgeschichte als ethisch-existenzielle Lernprozesse erkennbar bleiben, die sich weitgehend ungezwungen und gewaltlos vollzogen haben. Wenn eine Person in ihrem revidierten Selbstbild kaum mehr wiederzu24 Blustein (1991), Kap. 13. 141

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erkennen ist, kann angenommen werden, dass sie an Integrität eingebüßt hat. Angesichts tiefgreifender Persönlichkeitsentwicklungen ist ein derartiger Integritätsverlust allein dadurch zu verhindern, dass die ethisch-existenzielle Selbstrevision im Modus von Artikulation und Rechtfertigung verfährt: Eine gravierende Korrektur am eigenen Selbstbild kann der Person selbst, aber auch anderen allein dann einsichtig und gerechtfertigt erscheinen, wenn die Person himeichend gute Gründe anzuführen vermag, die jene Argumente, die einst für die aufgegebenen Wertorientierungen sprachen, tatsächlich übertrumpfen. Im Rahmen autobionarrativer Bemühungen um existenzielle Klarstellung offenbart Integrität sich demnach im Modus einer Einstellung zum eigenen Selbst als alleinverantwortlicher Instanz für eine Begründungspraxis, die auf die Integriertheit der Persönlichkeit zielt. 25 Freilich sind auch vorgeschobene, retrospektiv "glättende" Deutungsstrategien denkbar. Aus Sicht der Fremdzuschreibung von Integrität ist auf den ersten Blick nicht immer zu erkennen, ob ein autobionarrativer Korrekturvorgang tatsächlich aufrichtig und mit guten Gründen vollzogen wurde. Ruft man sich hier etwa den Fall eines prominenten Rechtsanwaltes in Erinnerung, der einst als Gründungsmitglied der Roten Armee Fraktion fungierte, später jedoch hoher Funktionär der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands wurde, so lässt sich hier ein biographischer Bruch konstatieren, der in den Augen der meisten Betrachter vermutlich nicht mehr mit Integrität zu vereinbaren ist. Ein anderer ehemaliger Mitstreiter der ultra-linken Szene, der sich zum bundesdeutschen Außenminister gemausert hat, dürfte diesbezüglich einen interessanten Grenzfall darstellen. Zwar ist nicht auszuschließen, ja, es ist sogar wahrscheinlich, dass der ehemalige Straßenkämpfer den Wandel seiner Wertorientierungen schlüssig und kohärent erklären kann. Ob er dabei aber lediglich die Brüche seiner Lebensgeschichte vor sich und anderen mit vorgeschobenen Gründen zudeckt oder "rationalisiert", ist von außen schwer zu entscheiden. Für die kohärente Erklärung ethischer Kurskorrekturen reichen nicht bloß irgendwelche retrospektiven Begründungen aus, es müssen himeichend gute und darüber hinaus vor allem wahrhaftige Begründungen sein, d.h. sie sollten jenen Motiven, von denen die Person einst faktisch zum Wertewandel bewogen wurde, nahe kommen. Eingehende Revisionen des eigenen Selbstbildes sind immer dann regelrecht geboten, wenn sich herausstellt, dass sich alte Wertbindungen und Grundvorhaben nicht länger mit hinreichend guten Gründen aufrechterhalten lassen. Eine Neuausrichtung des ethisch-existenziellen Wertevokabulars kann notwendig und überdies mit Integrität verträglich sein, wenn veränderte Umstände oder neue Informationslagen eine begründete Kursanpassung erzwingen. Demnach sind nicht nur, wie oben, schlecht begründete autobionarrative 25 Roughley (1996); Ramsay (1997).

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Rekonstruktionen, sondern zudem auch unterdrückte Werterevisionen als Integritätsmängel zu interpretieren. Auch wer zwanghaft an überkommenen Aspekten seines Selbstbildes festhält, obgleich er spürt, dass diese sich schon längst nicht mehr mit guten Gründen rechtfertigen lassen, büßt an Integrität ein. Freilich sollte diese Einsicht nicht schon zu dem nahezu postmodern anmutenden Motto verleiten: "Nur wer sich ändert, bleibt sich treu". 26 Eine Person, die unaufhörlich ihr Selbstbild revidieren würde, dürfte rasch eine tiefgreifende Desintegration erfahren. Ihr käme das Einheit stiftende autobionarrative Basiswissen abhanden, auf das sie bauen können muss, um einzelne Wandlungsprozesse erklärbar zu machen. Ähnliches gilt auch für die Idee eines radikalen Wandels, nach der Personen nicht nur einzelne Bestandteile ihres Selbstbildes, sondern das gesamte Wertegerüst auf einmal auszutauschen vermögen. 27 Gesetzt den äußerst unwahrscheinlich Fall, dies könnte gelingen, so würde die betreffende Person die Wurzeln ihrer lebensgeschichtlichen Erinnerung kappen und damit letztlich jede Chance auf autobionarrative Sinngebung preisgeben. Auch wenn der heutige Zeitgeist gern das Gegenteil propagiert, aus Sicht der Integrität müssen sich konfliktbedingte Veränderungen im eigenen Selbstverständnis in die Narration einer einheitlichen Lebensgeschichte einordnen lassen, die zwar nicht durchweg konsistent, aber dennoch möglichst kohärent, nicht vollkommen transparent, aber dennoch hinreichend artikuliert zu sein hat. 28 Mit der bereits wiederholt angerissenen Idee eines ausreichend kohärenten und artikulierten Selbstverständnisses wird auf die Ausgangsthese einer Art hermeneutischen Anthropologie angespielt, der zufolge der Mensch "das sich selbst interpretierende Tier" 29 ist. Da menschliche Individuen stets in vielfältige und oftmals konfliktreiche Lebenszusammenhänge eingebettet sind, in denen Desintegrationserfahrungen unvermeidlich sind, kommt es auf Seiten der Subjekte auf die Kraft einer ethisch-existenziellen Selbstverständigungspraxis an, die Einheit in die Mannigfaltigkeit von Lebensvollzügen und Krisenerfahrungen zu bringen vermag. Zwar ist das völlige Fehlen eines solchen Vermögens geradezu undenkbar, doch zweifellos gibt es Menschen, in deren Leben es zur Herausbildung eines ganz eigenen elaborierten Selbstbildes noch nicht hat kommen können. Führt man sich das Beispiel einer ergebenen, unter starker Bevormundung lebenden Haus- und Ehefrau vor Augen, so mag sich diese mit der Frage nach einem eigenen Willen, der unabhängig von dem ih-

26 Das Zitat wird dem Liedermacher Wolf Biermann zugeschrieben. 27 Dazu Davion (1991 ), die tatsächlich davon ausgeht, dass Integrität mit radikalem Wandel vereinbar sein soll. 28 Vgl. Honneth (1993a). 29 Charles Taylor (1985a): "Self-interpreting Animals", in: ders. (1985b): Philosophical Papers 1: Human Agency and Language, Cambridge: Cambridge UP.

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res Mannes existierte, bislang gar nicht konfrontiert haben. 30 In Fällen dieser Art offenbart sich das Integritätsproblem nicht, wie sonst häufiger, als ein Trachten nach Übereinstimmung von Selbstbild und Lebensvollzug, sondern auf weitaus fundamentalerer Ebene. Hier ist das völlige Fehlen eines autonomen Selbstbildes zu beklagen. Unterwirft sich ein Mensch weitgehend unkritisch den Präferenzen, Werten und Grundvorhaben eines anderen, dann macht er sich damit bestenfalls zum Komplizen von dessen Integrität. Mit der Einsicht in das Recht auf ein ganz eigenes Leben müssten in Fällen wie diesen elementare Grundlagen personaler Integrität überhaupt erst noch erarbeitet werden. 31 Insgesamt zielen ethische Selbstverständigungsprozesse auf eine überaus komplexe Verknüpfung von Vorgängen der Erinnerung und Selbstvergewisserung, der Bestandsaufnahme und Revision, der Selektion und Zuspitzung, der Affirmation und Kritik sowie nicht zuletzt der Orientierung und Planung. Unterschiedlichste Bestandteile der eigenen Lebensgeschichte und Identitätsentwicklung werden geordnet, untereinander in Beziehung gesetzt und häufig auch auf einen konkreten Befund hin ausgerichtet. 32 Philosophische und psychologische Theorien narrativer Selbstintegration33 gehen dabei für gewöhnlich von drei zentralen Koordinaten aus: Aus Sicht der Gegenwart, so heißt es, unternimmt die sich über sich selbst verständigende Person den Versuch, sich kritisch ihrer Vergangenheit zu vergewissern, um daraus Orientierung stiftende Perspektiven für die Zukunft ableiten zu können. Will man diese drei zeitlichen Perspektiven mit identitätstheoretischen Etiketten versehen, so kann von einem narrativen Zusammenspiel von "Lebensvollzügen", "Lebenserinnerungen" und "Lebensentwürfen" die Rede sein. Ziel dieses Zusammenspiels ist nicht allein die Aufhellung des je eigenen Lebenszusammenhangs bzw. die Klarstellung der eigenen Identitätsentwicklung, sondern immer auch deren selbstkritische "Aneignung". 34 Erst wenn es im wiederholten Durchgang durch scheinbar so triviale Fragen wie: "Wer bin ich?", "Wie bin ich zu dem geworden?" und "Wer möchte ich in Zukunft sein?" zur Akzeptanz der

30 Dazu Marilyn A. Friedman (1985): "Moral Integrity and the Differential Wife", in: Philosophical Studies, 47/1985. Vgl. Babbit (1996), Kap. 5. 31 Selbstredend soll nicht ausgeschlossen werden, dass die Hausfrau nach intensiver Selbstprüfung dennoch zu dem Entschluss kommen kann, sich weiterhin ausschließlich um das Wohl ihrer Familie zu kümmern. Erinnert sei aber dennoch an die Überlegungen zum "Heiligen" in Abschnitt 2.2. 32 Als philosophischer Klassiker wäre zu nennen: Wilhelm Dilthey (1970): Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt/Main: Suhrkamp, bes. S. 233-251. 33 Einen kritischen Einblick in die philosophische Diskussion verschafft Thomae (1998). Mit Blick auf die "narrative Psychologie" siehe Wolfgang Kraus (1996): Das erzählte Selbst, Pfaffenweiler: Centaurus. 34 Peter Bieri (2001 ): Das Handwerk der Freiheit, München: Hanser. 144

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eigenen Lebensgeschichte, zur Herausbildung eines kritischen Selbstbildes und zur Formulierung eines autonomen Willens hat kommen können, ist die Rede von einem "unverwechselbaren Individuum" sowie von einer "unvertretbaren Person" sinnvolJ.3 5 Der vertrackte narrative Selbstaufklärungsprozess kann entlang der drei genannten zeitlichen Koordinaten - Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft aber auch auf vielfältige Weise gestört sein. Dabei ist anzunehmen, dass sich Inkahärenzen oder gar Konfusionen der autobionarrativen Selbstdarstellung, anders als etwa Schwächen im Erzählfluss einer literarischen Geschichte, nahezu unmittelbar desintegrierend auf die sich selbst aufklärende Person auswirken. Zwar mag es schwer fallen, bereits auf konzeptioneller Ebene festzulegen, wie eine angemessene Gewichtung der drei zeitlichen Orientierungen auszusehen hätte, dennoch können für jede dieser drei Perspektiven schädliche Tendenzen benannt werden. Zunächst gibt es Personen, von denen es heißt, sie lebten "zu sehr in der Vergangenheit" (man denke an wehmütige Melancholiker). Da ihnen eine planvolle Orientierung an Gegenwart und Zukunft sinnlos erscheint, sind sie schutzlos ihren depressiven Stimmungen ausgeliefert. Wenn ein Mensch hingegen "zu wenig" in der Vergangenheit lebt (als Extremfall kann ein unter Amnesie leidendendes Unfallopfer gelten), wird er keine autobionarrativen Ressourcen vorweisen können, aus denen er im Rahmen der Rechtfertigung, aber auch der Planung gegenwärtigen und zukünftigen Tuns schöpfen kann. Ähnliches gilt für die Gegenwartsorientierung: Wenn eine Person zu sehr an der Gegenwart orientiert ist (wie etwa der postmoderne Hedonist), mag er in den Augen seiner Mitmenschen Verantwortung und Verlässlichkeit vermissen lassen. Wer demgegenüber zu wenig in der Gegenwart lebt (z.B. die enthaltsame Asketin), wird das eigene Leben am Ende vielleicht ganz verpassen. Auch für die Zukunftsorientierung lässt sich festhalten: Wenn ein Mensch zu sehr der Zukunft zugewandt ist (man nehme den Fall eines rastlosen Karrieristen), wird ihm die erfüllende Erfahrung von Stolz, Ruhe und Gelassenheit abgehen. Wer dagegen zu wenig an die Zukunft denkt (wie etwa der resignierte Fatalist), wird, wenn es darauf ankommt, Sinn stiftende Orientierung und Vorsorge vermissen lassen. Kurzum: Es bedarf einer ethisch-existenziellen Selbstartikulation, die sich stets auf drei zeitliche Dimensionen erstreckt, damit ein integriertes Selbstbild (a) rückwirkend sinnstiftend, (b) gegenwärtig handlungsorientierend und (c) prospektiv zielführend sein kann. Die Bedeutung lebensgeschichtlicher Selbstverständigungsprozesse tritt noch deutlicher hervor, wenn man dieses eher herkömmliche narrative Identitätsmodell leicht modifiziert. Man sollte besser zwischen zwei Dimensionen und insgesamt vier Modi der Autobionarration unterschieden: Auf der Hori35 Habermas (2001 ), S. 19. 145

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zontalen der eigenen Lebensgeschichte hat die ethische Selbstvergewisserung sowohl einen "deskriptiven" als auch einen "normativen" Sinn, auf der Vertikalen hingegen verfährt die Autobionarration nicht nur "rekonstruktiv", sondern auch "konstruktiv". Was ist gemeint? Im vorfindliehen Raum jeweils möglicher Lebensstiloptionen und Identitätsansprüche (horizontale Dimension) bemüht sich die integre Person in der Regel nicht nur um eine adäquate Bestandsaufnahme ihrer wahrhaft integralen Selbstverpflichtungen und Grundvorhaben (deskriptiver Modus), sondern immer auch darum, diese Persönlichkeitsanteile einer genaueren Überprüfung und Bewertung zu unterziehen (normativer Modus). Auf der zeitlichen Achse jeweils möglicher Lebensverläufe (vertikale Dimension) besitzt der Prozess der ethisch-existenziellen Selbstvergewisserung sowohl die Form der Aneignung einer unverwechselbaren Lebensgeschichte (rekonstruktiver Modus) als auch den Charakter des Entwurfs einer künftigen, erst noch zu realisierenden Existenz (konstruktiver Modus). 36 Insgesamt muss das Projekt der Autobionarration als eine immer wieder erneut vorzunehmende "Sukzession" verschiedenster einzelner Lebenssituationen zu der Situation des Lebens verstanden werden, weil erst so eine qualitative Einheit des Selbst und seiner Geschichte erkennbar wird. 37 Zu einem gegebenen Zeitpunkt mag das Leben schlecht und misslungen erscheinen und sich dennoch in der Gesamtschau als gut darstellen. Ebenso können einzelne Episoden der Lebensgeschichte auf eine gelingende Existenz schließen lassen, während jedoch die Gesamtbilanz eher ein Scheitern offenbart. Daraus ergibt sich eine wichtige Konsequenz für die Integritätsproblematik Die Autobionarration muss immer wieder, immer weiter und manchmal auch neu vorgenommen werden. Da personale Integrität ein integriertes Selbstbild voraussetzt, mit dem die eigenen Lebensvollzüge langfristig in Übereinstimmung gebracht werden sollen, hat sich das Leben nicht nur an einzelnen seiner Episoden, sondern an deren Gesamtschau zu orientieren. Erst vor dem Hintergrund eines solchen Einheitsbezuges kann Ordnung in die eigenen Wünsche, Wertbindungen, Selbstverpflichtungen und Grundvorhaben gebracht werden, was wiederum Voraussetzung dafür wäre, dass deren Realisierung planvoll in Angriff genommen werden kann. Das diesbezüglich gravierendste Integritätsproblem offenbart sich allerdings erst dann, wenn wir erneut bedenken, dass Lebensgeschichten in Fiktionen ausarten können. Nicht selten greifen Personen, wenn sie aus ihrem Leben erzählen, auf Strategien zurück, die ihr Selbstbild gezielt verfälschen. Da es im vorliegenden Kapitel primär um das schwierige Selbstverhältnis von 36 Man hat sich den Zusammenhang dieser vier Modi wie ein dreidimensionales Koordinatensystem vorzustellen. Wir können jeden einzelnen Raum-Zeit-Punkt der Lebensgeschichte herausschneiden und in allen vier Hinsichten befragen. 37 Dazu und für das Folgende See! (1995), Abschnitt 2.1.5.

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integren Personen gehen soll, sind diesbezüglich nicht so sehr gezielte Täuschungen anderer Personen als vielmehr "Selbsttäuschungen" relevant. 38 Damit sind wir beim zweiten prototypischen Integritätsmangel, neben dem der Konfliktscheue, angelangt: Menschen besitzen die aus philosophischer Sicht äußerst merkwürdige Fähigkeit, sich selbst darüber im Unklaren zu lassen, wie es um sie bestellt ist. Um dieses Problem anschaulich zu machen, können wir noch einmal auf das zuletzt skizzierte Modell ethisch-existenzieller Selbstverständigung zurückgreifen. Menschen können sich in allen vier der zuvor genannten autobionarrativen Hinsichten irren. Im deskriptiven Modus kann es zu abwegigen und unrealistischen Selbsteinschätzungen kommen. Dazu ein Beispiel: Der Psychiater Ronald D. Laing berichtet von einem Patienten, der auf die Frage, ob er Napoleon sei, wahrheitsgemäß mit "nein" antwortete. Der angeschlossene Lügendetektor jedoch schlug aus. 39 Auch in normativer Hinsicht, d.h. mit Blick auf die Frage, was ihnen "wirklich" wichtig ist, machen Menschen sich manchmal etwas vor. Man erinnere sich hier nur an das von der Ideologiekritik diagnostizierte Phänomen "falscher Bedürfnisse". Im rekonstruktiven Modus kann es zu Vorgängen psychischer Verdrängung kommen. Wer z.B. von einem schlimmen Erlebnis traumatisiert wurde, weist häufig desintegrierende Erinnerungslücken auf. In konstruktiver Hinsicht schließlich können unrealistische Ich-Ideale zu einer steten Überforderung der Person fuhren. Als Beispiel wäre hier die Tochter aus "gutem Hause" zu nennen, die Beruf, Eheleben, Mutterschaft, Elternpflege sowie kirchliches Ehrenamt unter einen Hut zu bringen versucht. Bereits diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass mindestens zwei Kategorien von Irrtümern sorgsam auseinandergehalten werden müssen, wenn behauptet wird, ein Mensch "täusche sich" hinsichtlich der Frage, wie es in Wirklichkeit um ihn steht. Im ersten Fall mag die betreffende Person tatsächlich durch eine echte Informationslücke zu einer falschen Beurteilung ihrer Lage verleitet werden. Nehmen wir das Beispiel eines Ehemanns, der sich in einer gut funktionierenden Ehe wähnt, ohne zu wissen oder Anhaltspunkte dafür zu haben, dass seine Frau ihn seit geraumer Zeit mit ihrem Tennislehrer betrügt. Hier setzt die Täuschung voraus, dass der Mann weder will noch weiß, dass er einem Irrtum unterliegt. Die zweite Kategorie von Täuschungen ist jedoch gänzlich anders geartet. Hier geht es um Fälle, in denen alle relevanten Informationen prinzipiell zugänglich sind, nur weigert sich die betroffene Person aus zunächst unerfindlichen Gründen, diese Informationen auch adäquat zur Kenntnis zu nehmen. Stellen wir uns vor, der betrogene Ehemann ahne bereits, dass seine Frau ihn seit geraumer Zeit hintergeht. Die erkennbaren Anzeichen ihrer Untreue- heimliche Telefonate, erhöhte Trai38 G. Taylor (1981); Blustein (1991). Zum Problemgehalt siehe vor allem Martin Löw-Be er ( 1990), Selbsttäuschung, Freiburg u. München: Alb er. 39 Ronald D. Laing (1972): Das geteilte Selbst, Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 42.

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ningsfrequenz, neue Mädchenhaftigkeit- ignoriert er aber. In Fällen wie diesem sagt man, die betreffende Person täusche sich nicht bloß, sondern sie täusche sich "über etwas hinweg". Man diagnostiziert einen Zustand der Verkennung von Tatsachen, an dem die Person auf seltsame Weise aktiv beteiligt ist. Ja, der Umstand ihrer Täuschung scheint regelrecht vorauszusetzen, dass die Person sowohl will als auch weiß, dass sie einer Täuschung unterliegt. Wie aber ist das möglich? Allein in Fällen dieser zweiten Kategorie kann von Selbsttäuschungen die Rede sein. Selbsttäuschungen dienen offenkundig dazu, aufkeimende Diskrepanzen im eigenen Selbstbild, die von den Betroffenen als schmerzvoll erfahren werden, gezielt abzuschwächen, zu vertuschen oder gar zu beseitigen. Selbsttäuschungen sind deshalb ein interessantes philosophisches Problem, weil sie die Frage aufwerfen, wie überhaupt ein derart gezielter Selbstbetrug vonstatten gehen kann. 40 Der Akt einer Täuschung anderer Personen impliziert, ihnen gezielt und geschickt relevante Informationen vorzuenthalten. Ein entsprechender Akt der Selbsttäuschung würde es paradoxerweise erforderlich machen, dass die betreffende Person sich selbst darüber klar wäre, welche Informationen sie sich verheimlichen möchte. Ein Akt der Selbsttäuschung verlangte von der sich täuschenden Person, ihn planvoll auszuführen und zugleich vor sich selbst zu verbergen. Wie aber soll das gelingen? Muss nicht die Klarheit über ein Wissen, das am Ende doch nicht gewusst werden soll, jeden Versuch, sich darüber hinwegzutäuschen, von vomherein zunichte machen? Oder kann sich ein Mensch dazu entschließen, das, was er weiß, von nun an nicht mehr zu wissen? Mindestens vier verschiedene Erklärungsansätze sind denkbar. Zunächst kann selbstverständlich bestritten werden, dass das Problem überhaupt existiert. Fälle, in denen es vorzuliegen scheint, müssten dann allesamt auf echte Informationslücken zurückführbar sein. Doch schon im Fall des betrogenen Ehemanns erweist sich diese Deutung als vollkommen unplausibel. Man mag zwar der Ansicht sein, dass dessen böse Vorahnungen nicht schon als "Wissen" im strikten Sinne interpretiert werden können, doch von einem echten Nicht-Wissen im Sinne völliger Ahnungslosigkeit kann ebenfalls nicht die Rede sein. Daher wird der Betrachter zunächst vielleicht einer zweiten Deutungsstrategie folgen wollen, die in ihrem Kern orthodox psychoanalytische Züge aufweist. Hier geht es um die Überzeugung, dass Akte der Selbsttäuschung gänzlich "unbewusst" ablaufen. Eine unkontrollierbare und undefinierbare Kraft im Innem des betrogenen Ehemanns hält diesen, ohne dass er es merken würde, davon ab, der desaströsen Wahrheit ins Auge zu sehen. Im Inneren des Subjekts kämpft- vom Bewusstsein unbemerkt bzw. abgespalten 40 Siehe neben Löw-Beer (1990) vor allem Fingarette (1969); Jon Elster (1983): Sour Grapes, Cambridge: Cambridge UP; Brian P. McLaughlin/Amelie 0. Rorty (Hg.) (1988): Perspectives on Self-Deception, Berkeley: Califomia UP.

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- eine Art Zensor um die Verdrängung und Unterdrückung unangenehmer Einsichten. 41 Nun, die Tatsache, dass dem Ehemann bereits "vorbewusst" präsent zu sein scheint, dass ihm ein großes Unglück droht, wird von dieser psychoanalytischen Deutung, die einen gänzlich unbewussten Vorgang annimmt, bereits auf kategorialer Ebene übersehen. Überhaupt ist anzunehmen, dass unangenehme Gedanken nur dann ins Unbewusste "verdrängt" werden können, wenn sie die Schwelle zum Bewusstsein bereits zu übertreten drohen. Dies mag den Betrachter zu einer dritten, völlig entgegengesetzten Deutung verleiten, nach der Selbsttäuschungen als durchweg bewusste oder besser noch absichtsvolle Verdrängungen zu verstehen sind. Der Selbstbetrug des Ehemanns wäre demnach als der gezielte Versuch aufzufassen, sich aus einer akuten Bedrängnis heraus in eine kognitive Dissonanz zu begeben. Das Ich wird in zwei Instanzen aufgespaltet- wie im fiktiven Dialog von "Engelchen" und "Teufelchen" -, von denen die eine weiß, dass sich die andere täuscht, ohne dass die betreffende Person sich auf eine dieser beiden Stimmen festzulegen bräuchte. 42 Die eine Stimme im Inneren des Ehemannes spricht von Betrug, während die andere beschließt, nicht weiter darauf zu hören. Ist das die richtige Beschreibung? Kann hier tatsächlich von einem absichtsvollen und vollkommen bewussten Vorgang die Rede sein? Ein vierter Erklärungsansatz sucht den konzeptionellen Mittelweg. Hier werden Selbsttäuschungsversuche weder als vollkommen bewusst noch als vollkommen unbewusst deklariert. Die These lautet vielmehr: Es ist wahr, dass Personen nicht zugleich von etwas wissen und sich dieses Wissen vorenthalten können. Gleichwohl können sie sich weigern, einen Sachverhalt, von dem sie prinzipiell wissen könnten, adäquat zur Kenntnis zu nehmen. Folgt man dieser Auffassung, dann sind Selbsttäuschungen als Strategien der "Selbstimmunisierung gegen kritische Selbstreflexion" möglich. 43 Die sich selbst täuschende Person schattet sich gegen unbequeme, angstbesetzte oder gar schmerzhafte Einsichten ab, durch die sie zu unangenehmen Korrekturen ihres Selbst- und Weltbildes angehalten wäre, sobald ihr diese Einsichten vollends zu Bewusstsein kämen. Wenn die zur Selbsttäuschung neigende Person spürt, dass eine quälende Erkenntnis über die Schwelle des Bewusstseins drängt, wird sie den Versuch unternehmen, das aufkommende Wissen im Keim zu ersticken oder auf "andere Gedanken" zu kommen, noch bevor ihr diese Einsichten vollends bewusst werden. In akuten Momenten vollziehen sich Selbsttäuschungen demnach als unkritisches Abschweifen oder auch als 41 Dazu exemplarisch Roy Schafer (1987), "Self-Deception, Defense, and Narra-

tion", in: Psychoanalysis and Contemporary Thought, 10/1987. 42 So die einschlägige Analyse der "mauvaise foi" bei Jean-Paul

Sartre

(1952/1991): Das Sein und das Nichts, Reinbek bei Hamburg: Rowoh1t. 43 Löw-Beer (1990).

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rasches "Sich-Eimeden" divergenter Wahrheiten, langfristig als Selbstimmunisierung gegen Erkenntnisse, durch die der sich selbst täuschende Mensch gezwungen wäre, sein bisheriges Selbstverständnis grundlegend zu überdenken. Akte der Selbsttäuschung, so ist festzuhalten, sind das Ergebnis einer mangelnden Selbstreflexion angesichts beunruhigender Einsichten, die nicht gewusst werden sollen. 44 Wenn hier behauptet wurde, dass Akte der Selbsttäuschung einen zweiten typischen Integritätsmangel bewirken, so ist nun der Schaden zu eruieren, den sie dem integren Leben zufügen. Da Personen nicht zugleich von einem Sachverhalt wissen und ihn verleugnen können, erfordert jede Selbsttäuschung eine Unterdrückung oder gar den willkürlichen Abbruch jenes inneren Selbstgesprächs, in dessen Rahmen sich eine Person Rechenschaft über ihr Leben gibt. Selbsttäuschungen blockieren und entstellen den autobionarrativen Prozess, bis sich der unter Selbsttäuschungen leidende Mensch am Ende nicht mehr nur über einzelne Sachverhalte seines Lebens, sondern letztlich über sich selbst hinweg täuscht. Wenn sich Selbsttäuschungen dauerhaft festsetzen, kann der Betroffene zunehmend der Depersonalisation anheim fallen. Wer auf die volle Einsicht in den eigenen ethisch-existenziellen Lebenszusammenhang bereits im Ansatz verzichtet, indem er unangenehme Erkenntnisse von vornherein auszublenden bereit ist, wird ein kohärentes und im Ernstfall problemlösendes Selbstverständnis niemals ausbilden können. 45 Die sich dauerhaft selbst täuschende Person beraubt sich zudem der Möglichkeit, den eigenen Lebensweg aus Einsicht und mit guten Gründen korrigieren zu können, sobald er sich als irreführend erweist. Beschließt ein Mensch, sich mit der "ganzen" Wahrheit seiner Existenz nicht weiter konfrontieren zu wollen, muss er auf Dauer eben jene Kontrolle über den eigenen ethischexistenziellen Lebenszusammenhang verlieren, die nicht zuletzt darin besteht, zukünftigen Negativentwicklungen vorzubeugen. Damit soll freilich nicht schon behauptet werden, dass in einem integren Leben überhaupt gar keine Selbsttäuschungen auftreten dürfen. Selbstredend mag es in so manchem Moment des Lebens verzeihlich oder gar angebracht sein, die kritische Reflexion temporär einzustellen. 46 Ein wiederholter bis dauerhafter Selbstbetrug jedoch führte langfristig in Sackgassen, in denen Lernprozesse unmöglich werden. Auch wenn Selbsttäuschungen vermeintlich dem Erhalt eines intakten Lebenszusammenhangs dienen, da hier Konflikte, die das eigene Selbstbild ins Wanken bringen würden, schlicht ausgeblendet werden, so wird doch, unter Aufbringung von zum Teil enormen psychischen 44 Selbsttäuschungen können als Retusche am ethisch-existenziellen Selbstbild

begriffen werden, im Zuge derer ganz bestimmte Bildausschnitte verwischt oder auch übermalt werden, noch bevor die ursprüngliche Farbe getrocknet ist. 45 Dazu auch G. Taylor (1985), S. 122ff.; Blustein (1991), S. 106ff. 46 Wir kommen auf diese Frage ausführlich in Abschnitt 3.4 zurück. 150

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Energien, am Ende nur der Schein, ja, die Illusion von Integrität aufrechterhalten. Die Autorschaft der eigenen Lebensgeschichte wird an eine Art Ghostwriter delegiert, der gezielt Lücken lässt und an vielen Stellen schlicht beschönigt. Die Autobionarration wird zur Fiktion. Zweifelsohne müssen im Hinblick auf eben diese Idee autobionarrativer Autorschaft sogleich drei wichtige konzeptionelle Einschränkungen vorgenommen werden, aus denen hervorgeht, dass Personen, selbst wenn sie nicht der Selbsttäuschung unterliegen, keineswegs buchstäblich als Autorinnen der eigenen Lebensgeschichte verstanden werden dürfen. 47 Erstens ist zu bedenken, dass sich die in autobionarrativen Selbstverständigungsprozessen angezielte "Einheit" des Lebens niemals als Ganze zur Darstellung bringen lassen wird. Zwar müssen wir im Rahmen der ethisch-existenziellen Selbstverständigung unweigerlich an der Idee einer wie auch immer gearteten Ganzheit des eigenen Lebenszusammenhangs ausgerichtet bleiben, doch wird unser Leben in keiner unserer Einzeldarstellungen vollständig aufgehen; wie ausgiebig auch immer man erzählen mag. Die Einheit des eigenen Lebenszusammenhangs sollte daher nicht als das Ergebnis einer großen Erzählung aufgefasst werden. Wir müssen diese Einheit im Rahmen der Aneinanderkettung vieler kleinerer Geschichten unterstellen und zugleich auch vergegenwärtigen. Aber herstellen lässt sie sich nicht. 4 R Erzählte und tatsächliche Lebensgeschichte werden niemals vollständig zur Deckung kommen, weil der Mensch seine autobionarrativen Einschätzungen stets in situ vornimmt, d.h. inmitten eines Lebens, das sich als Ganzes niemals in den Blick nehmen lässt: "Wir weben an einem Muster, wir geben den einzelnen Handlungen und Widerfahrnissen eine Bedeutung durch ständige Strukturierung und Umstrukturierung innerhalb von Kontexten eines »Selbstverständnisses«. Aber wir überschauen das Grundmuster nicht. Das Selbstverständnis ist selbst nur ein Moment im Lebensvollzug, der sich selbst als ganzer nicht ganz durchsichtig wird. In jedem Verstehen wird ein Totalsinn unterstellt, antizipiert, ohne den Verstehen sich aufhöbe und dessen der Verstehende doch nicht mächtig ist."49

47 Zu den Grenzen der Analogie von ethisch-existenzieller und literarischer Erzählung siehe neben Thomae (1998) auch Paul Ricreur (1988ff.): Zeit und Erzählung, 3 Bände, München: Fink; Christoph Menke (1993b): "Das Leben als Kunstwerk gestalten?", in: Maresch (1993). 48 Es gilt derzeit als schick, von einer narrativen "Konstruktion" des Selbst zu sprechen, doch wird damit eine Verfügbarkeit über den eigenen Lebenszusammenhang suggeriert, die faktisch gar nicht besteht. Siehe dennoch: Thomas C. Heller/Morton Sosna/David E. Wellbery (1986): Reconstructing Individualism, Stanford: Stanford UP. 49 Spaemann (1989), S. 90. V gl. aber auch Martin See! (1996c ): "Ästhetik als Teil einer differenzierten Ethik", in: ders. (1996b); Peter Sloterdijk (1988): Zur Welt kommen- Zur Sprache kommen, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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Die zweite konzeptionelle Einschränkung betrifft den Umstand, dass Prozesse der autobionarrativen Selbstaufklärung zumeist erst dann notwendig werden, wenn im Leben Hindernisse, Konflikte und Widersprüche auftauchen und entsprechende Desintegrationen bewirken. Damit ist der hier untersuchte Zusammenhang von Integrität und Autobionarration unter einen pragmatistischen Vorbehalt gestellt: Eine integre Person muss keineswegs stets und ständig ihre Lebensgeschichte erzählen und ihre unterschiedlichsten Lebensvollzüge in einen kohärenten Gesamtzusammenhang zu bringen versuchen. In der Regel kann sie sich in ihrem Leben auf ein breites Reservoir an gänzlich unproblematischen Hintergrundgewissheiteil verlassen, die zwar ständig in ihre alltäglichen Lebensvollzüge einfließen, dort jedoch nur selten zum Thema werden. Das ändert sich erst dann, wenn diese Hintergrundgewissheiteil durch Desintegrationserfahrungen in Frage gestellt werden: "Erst unter dem Situationsdruck eines aufuns zukommenden Problems werden relevante Bestandteile eines solchen Hintergrundwissens aus dem Modus der fraglosen Vertrautheit herausgerissen und als etwas der Vergewisserung Bedürftiges zu Bewußtsein gebracht. Erst ein Erdbeben macht uns darauf aufmerksam, daß wir den Boden, auf dem wir täglich stehen und gehen, für unerschütterlich gehalten hatten. "' 50

Dieses pragmatistische "San-Francisco-Argument"51 dürfte nicht zuletzt für jenen festen Boden an Selbstverpflichtungen und Grundvorhaben Geltung besitzen, auf dem sich die integre Person bewegt. Auch wenn sich deren Selbstverständnis schwerer erschüttern lassen wird als das Selbstbild einer ohnehin auf "wackeligen Füßen" stehenden Person, so sind es doch in der Regel Momente ethisch-existenzieller Erschütterung, die das Bedürfnis nach autobionarrativer Reintegration wachrufen. Die integre Person muss daher keineswegs unentwegt, sondern allein in eben solchen Momenten zur autobionarrativen Selbstaufklärung bereit und fähig sein. Das bedeutet auch, dass narrative Selbstintegration nicht gleich bei jedem problematischen Anlass auf das Ganze der eigenen Existenz zu zielen braucht. Das ethisch-existenzielle Selbstbild muss nicht schon bei jedem kleineren Beben vollständig in Sicherheit gebracht werden. Oftmals reichen bereits geringfügige und häufig sogar unbewusst ablaufende Korrekturen aus, um das erschütterte Selbstverhältnis wiederherzustellen. Demnach lassen sich je nach Ausdehnung und Intensität zwei Formen autobionarrativer Prozesse unterscheiden: jene, die einen größeren Bogen spannen, um einen Gesamtzusammenhang des Lebens erkennbar

50 Habermas (1981a), Bd. 2, S. 589, mit Blick auf das Problem "Lebenswelt". 51 Ulf Matthiesen (1983): Das Dickicht der Lebenswelt und die Theorie des kommunikativen Handelns, München: Fink, S. 157. 152

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werden zu lassen, und solche, die lediglich situativ klärend angelegt sind, indem sie problematische Ausschnitte der Lebensgeschichte thematisieren. Die dritte konzeptionelle Einschränkung ist vermutlich die gravierendste: Lebensgeschichtliche Integration sollte als eine Praxis aufgefasst werden, die eher geschieht, als dass sie vollzogen wird. Es mag metaphorisch aufschlussreich sein, sich die integrierende Person als die Autorin ihrer Biographie vorzustellen, doch in konzeptioneller Hinsicht ist das irreführend. Zwar weist der ethisch-existenzielle Selbstverständigungsprozess stets auch Züge einer artikulierten, säuberlich gesponnenen Erzählung auf, die mal in Gesprächen mit anderen, mal monologisch vorangetrieben wird. Gleichwohl kann der autobionarrative Klärungsprozess nicht schon mit der Arbeit eines Biographen bzw. Schriftstellers gleichgesetzt werden. Erstens läuft der autobionarrative Selbstverständigungsprozess nicht immer gezielt, voll bewusst oder bei ldarem Verstand ab; man denke hier nur an die psychologische Bedeutung von Träumen. Zweitens zerfällt dieser Prozess in viele kleinere Szenen und Episoden, die häufig gar nicht verknüpft zu werden brauchen. Und drittens schließlich sind zahlreiche subliminale, unterschwellige Faktoren, z.B. unwillkürliche Gedankensplitter und Empfindungen, verantwortlich dafür, dass der autobionarrative Erfahrungsfluss im Ganzen gar nicht steuerbar ist. Spätestens an dieser Stelle gerät ein erstes Moment der "Unverfügbarkeit" in das Verhältnis von Integrität und Selbstverständigung. Ob sich die Integriertheit einer Persönlichkeit am Ende einstellt, mag von Prozessen der Autobionarration abhängen, gänzlich herstellen lässt sie sich nicht. Insofern muss bereits an dieser Stelle das kognitivistische Missverständnis vermieden werden, personale Integrität sei primär als eine "Kompetenz" selbstreflexiver Personen zu begreifen. Dafür hängt das Gelingen existenzieller Selbstverständigung - und damit auch die Integrität selbst - viel zu sehr von letztlich unverfügbaren Faktoren ab. Während aber eine erschöpfende Analyse dieser unverfügbaren Elemente zu einer eingehenden Beschreibung tiefenpsychologischer Prozesse zu führen hätte, die hier gar nicht geleistet werden kann, sollten die drei eben genannten konzeptionellen Einschränkungen zunächst allein dem Nachweis dienen, dass die Analogie der Autorschaft problematisch ist.

3.3 Beherztheit versus Willensschwäche: Leben, wie man leben will Solange Personen sich nicht annähernd darüber im Klaren sind, von welchen Wertbindungen, Selbstverpflichtungen und Grundvorhaben sie sich leiten lassen wollen, wird ihnen ein Leben in Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit kaum gelingen können. Das integre Leben setzt aber 153

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nicht nur voraus, dass die betreffende Person weiß, wie sie leben will, sie muss tatsächlich auch so leben. Gefordert ist die zwanglose Übereinstimmung der eigenen Lebensvollzüge mit einem ebenso zwanglos gewonnenen Selbstverständnis. Erst wenn diese doppelte Voraussetzung erfüllt ist, kann von personaler Integrität in dem umfassenden Sinn eines wahrhaft selbstbestimmten Lebens die Rede. Gleich an dieser Stelle ist ein folgenreiches Missverständnis zu vermeiden: Personen, die im Zuge ihrer Entwicklung einen, wie es heißt, "selbstbestimmten" Willen auszubilden beginnen, schöpfen dabei niemals gänzlich aus dem Nichts. Sie finden sich immer schon in ganz konkrete, sie prägende und zugleich bindende Lebenszusammenhänge eingelassen, aus deren Wert- und Sinnbezügen sie nicht einfach heraustreten können. Die existenzialistische Annahme, im Hinblick auf das eigene Dasein sei so etwas wie eine "radikale Wahl" 52 , gänzlich frei von jeglicher Fremdbestimmung, möglich, ist eine irreführende Fiktion. Sie übersieht den Umstand, dass Personen in jedem einzelnen Moment, in dem sie sich als diese oder jene Person bestimmen, immer schon auf vielfältige Weise bestimmt sind, und zwar in mindestens drei Hinsichten: in actu aufgrund der objektiven Bedingungen der vorhandenen Lebenssituation; ex post durch die in ihrer jeweiligen Vergangenheit getroffenen Entscheidungen; ex ante aufgrund der genetischen, kulturellen, sozialen, ökonomischen etc. Prädispositionen, die sie mitbringen. 5 3 Folglich kann das selbstbestimmte und standhaltende Wollen auch der integren Person stets nur eine eigene Antwort auf die immer schon vorhandenen Bedingungen des je eigenen Lebens sein. Ein völliges Losreißen von jeglicher Form der Heteronomie ist demnach undenkbar. Die Integritätsvoraussetzung eines mit hinreichend guten Gründen versehenen Selbstbildes darf nicht als völlige Eigenkreation verstanden werden, sie ist stets nur das Ergebnis einer selbstkritischen Interpretation und Überprüfung bereits vorhandener Wert- und Sinnangebote. Das bedeutet freilich nicht, dass uns im Rahmen der lebensweltlichen Verstrickung in vielfältige hermeneutische Sinnzusammenhänge überhaupt kein Spielraum zur kreativen Einflussnahme bliebe. Unsere interpretativen Antworten auf die eigene evaluative Ausgangslage lassen letztere kaum unberührt. Überdies sind Personen dazu in der Lage - gerade deshalb sind sie selbstverantwortliche Personen -, einzelne Sinnangebote nach eigener Prüfung von sich zu weisen, wenn ihnen eine Identifikation unerwünscht erscheint. Solange Personen in den ihnen angestammten Kontexten verweilen, ist eine Revision vorhandener Wertangebote, d.h. deren kritische Aneignung, individuelle Interpretation und partielle Zurückweisung, möglich, ein vollständiger Austausch des gegebenen Interpretationsrahmens dagegen nicht. Wer ein integres und selbstbestimmtes Leben in Übereinstimmung mit

52 So der Topos bei Sartre (1952/1991). 53 See! (2002a). Vgl. Frankfurt(1999b); Bieri (2001).

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dem, was ihm am Herzen liegt, führen will, wird sich daher mit dem Umstand abfinden müssen, dass ein Leben in völliger "Autarkie" niemals zu haben sein wird. 54 Daraus ergibt sich die zunächst paradox anmutende Einsicht, dass das Leben in integrer Selbstbestimmung immer zugleich auch ein Leben in Fremdbestimmung ist. Angesichts einer vielfältigen und letztlich kontingenten Bestimmtheit des Lebens muss personale Integrität als autonome Antwortpraxis aufgefasst werden. Heteronomie ist nur dann ein gravierendes Hindernis für die Integrität, wenn der eigene Willen unterdrückt oder an seiner Realisierung gehindert wird oder wenn ein solcher Wille lebensgeschichtlich gar nicht erst formiert bzw. aufrechterhalten werden kann. Zwei Kategorien solcher Heteronomie sind dabei zu unterschieden. Während wir auf Fälle einer durch andere Personen bewirkten Unfreiheit erst später zu sprechen kommen werden55, sollen hier zunächst Phänomene betrachtet werden, bei denen die fehlende Realisierung selbstbestimmter Lebensorientierungen auf das eigene Konto der Betroffenen geht. Wir stoßen dabei auf einen dritten prototypischen Integritätsmangel, der als kompliziertes philosophisches Problem mit langer Tradition gilt. Führen wir uns zunächst den alltagssprachlich vertrauten Umstand vor Augen, dass Menschen nicht immer "so können, wie sie wollen". Wir werden nicht nur durch fremde, äußere Zwänge von der Realisierung unseres Willens abgehalten, häufig sind dabei auch fremdartige innere Kräfte und Zwänge am Werk, ja, in vielen Fällen scheinen Menschen regelrecht wider besseres Wissen zu agieren. Damit ist aus philosophischer Sicht das Problem der "Willensschwäche" berührt, von der seit jeher fraglich ist, ob überhaupt und wie es dazu kommen kann. 56 Bereits Sokrates warf die Frage auf, wie es möglich sei, "daß der Mensch, das Gute erkennend, es dennoch nicht zu tun pflegt". 57 Die Antwort des Hebammensohns verblüfft bis heute: Willensschwäche ist überhaupt nicht möglich. Aber kann das sein? Alle späteren Versuche, diese frühe Leugnung zu leugnen, haben deutlich werden lassen, dass eine Antwort auf die Frage nach der bloßen Möglichkeit von willensschwachen Handlungen vor allem von der inhaltlichen Charakterisierung des Phänomens abhängt. Damit ein von der philosophischen Diskussion zunächst unberührtes Bild

54 Die gesamte zweite Hälfte des Buches kann als Explikation dieser Überzeugung verstanden werden. 55 Siehe dazu vor allem Abschnitt 4.3. 56 Geoffrey Mortimore (Hg.) (1971): Weakness of Will, London: Macmillan; Thomas Spitzley (1992): Handeln wider besseres Wissen , Berlin u. New York: de Gruyter. Mit Blick auf die Integritätsproblematik: G. Taylor (1981 ); Blustein (1991); Cox/La Caze/Levine (2003). 57 Platon: Protagoras, in: Werke, Bd. 1.1, Berlin 1984: Akademie, S. 213 (355).

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vom Phänomengehalt des Problems vor Augen treten kann, beginnen wir mit einem ganz alltäglichen Beispiel. Die fleißige Studentin Anna sitzt spätabends an ihrem Schreibtisch. In wenigen Tagen wird eine schwere Prüfung stattfinden. Das Telefon klingelt, und ihre beste Freundin fragt an, ob Annamit ihr ausgehen möchte. Nun kann Anna auf eine der vier folgenden Weisen reagieren: (a) Sie zögert nicht lange, sagt spontan zu, nimmt ihre Jacke und verlässt das Haus; (b) Anna reagiert zögerlich, erwägt sorgfältig die Gründe, die gegen den geplanten Bar-Besuch sprechen, entscheidet sich am Ende aber dennoch dafür, die Arbeit ruhen zu lassen; (c) Anna überlegt, geht in sich, wird trotzt der Lust auf etwas Abwechselung von einem starken Pflichtgefühl ermahnt, so dass sie ihrer Freundin schweren Herzens absagt; (d) Anna zögert nicht erst, schlägt das Angebot der Freundin dankend aus und vertröstet sie auf einen Abend nach der Prüfung. Der Einfachheit halber werden wir davon ausgehen, dass Anna glaubt, noch nicht genug für ihre Prüfung gelernt zu haben. Die weitere Vorbereitung ist demnach als ein dringliches Projekt anzusehen. Nehmen wir zudem an, dass die beiden Freundinnen häufiger miteinander ausgehen. Ein gemeinsamer Drink an diesem Abend wäre nichts Besonderes. Der gemeinsame BarBesuch, so verlockend er auf den ersten Blick auch erscheinen mag, stellt demnach das alles in allem weniger wichtige Anliegen dar. Dies vorausgesetzt, wäre es verwunderlich, wenn Anna wie in Fall (a) reagierte und ihre guten Vorsätze ohne jedes Zögern über Bord zu werfen bereit wäre. Im Fall von (b) erliegt sie, trotz anfänglichen Zögerns, den Verlockungen des Moments. Käme es zu (c), würde sich Anna, wie man sagt, als "standhaft" und "besonnen" erweisen. Fall (d) wiederum dürfte erneut Verblüffung hervorrufen. Diesmal allerdings darüber, dass sich Anna von dem durchaus attraktiven Angebot ihrer Freundin nicht einmal einen Moment lang irritieren lässt. Auf den ersten Blick wird der Betrachter vermutlich dazu neigen, Anna in den Fällen (a) und (b) ein unterschiedliches Ausmaß an Willensschwäche, in den Fällen (c) und (d) hingegen ein ebenso unterschiedliches Maß an Willensstärke zu attestieren. Diese Deutung ist jedoch nur teilweise zutreffend. Wie schon bei den beiden ersten typischen Integritätsmängeln - Konfliktscheue und Selbsttäuschung - ist auch mit Blick auf die Willensschwäche anzunehmen, dass sich das Phänomen allein in solchen Situationen zeigen kann, in denen es im Selbstverständnis der betroffenen Person zu einer mehr oder weniger bewussten Kollision unterschiedlich gewichteter Interessen kommt. In dem Moment, in dem ein mit hinreichend guten Gründen versehenes übergeordnetes Wollen ("Ich muss lernen") mit eher spontanen Wünschen oder Antrieben ("Ich würde gerne ausgehen") kollidiert, muss Anna wissentlich vor der Alternative stehen, sich so oder auch anders entscheiden zu können. Die Aufforderung zur Willensstärke kann allein dann spürbar werden, wenn die 156

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Realisierung der grundsätzlich für besser gehaltenen Alternative ersichtlich gegen situative innere Antriebe oder Widerstände erfolgen müsste. Die beherzte, willensstarke Person überwindet diese inneren Widerstände, die willensschwache hingegen kapituliert. 58 Demzufolge sind wir allein in den Fällen (b) und (c) ausdrücklich mit der Frage nach der Willensschwäche bzw. -stärke einer Person konfrontiert, d.h. ausschließlich angesichts von Situationen, in denen konfligierende Bedürfnisse und Wertbindungen auf der Ebene von Gründen gegeneinander abgewogen werden. Allein in einem bewusst wahrgenommenen Konflikt kann so etwas wie ein fester Wille zum Vorschein kommen, an dem andere, damit unverträgliche Wünsche abprallen. Auf die beiden übrigen Fälle (a) und (d) kann die Willensschwächeproblematik daher keine Anwendung finden. Hier trifft Anna ihre Entscheidung derart unmittelbar und spontan, dass von einer eingehenden Überprüfung vorhandener Wertvorstellungen sowie von einer "starken" Wertung zweiter Reflexionsstufe gar nicht ausgegangen werden kann. Im ersten Fall nimmt Anna lediglich eine "schwache", unmittelbar dem Lustprinzip folgende Wertung vor. Im anderen Fall verbietet ihr eine überaus rigide Zielvorgabe bereits im Ansatz jegliche Form von Abwägung, so dass es auch hier zu keiner echten Überprüfung ihrer Orientierungen kommt. Kurzum: In beiden Fällen kann die Frage der Willensschwäche deshalb nicht aufkommen, weil gar kein handlungsleitender Wille erkennbar wird. Zwei wichtige Einschränkungen sind im Hinblick auf den Phänomenbereich der Willensschwäche vorzunehmen: Zum einen haben wir solche Fälle von der Problematik auszunehmen, in denen die Realisierung eines festen Willens an unüberwindbaren äußeren Widerständen scheitert; z.B. an einem dauerhaften Stromausfall oder daran, dass ein für die Prüfung wichtiges Buch erst wieder am nächsten Tag in der Bibliothek zugänglich sein wird. In Situationen wie diesen wäre es unangemessen, von Willensschwäche zu sprechen, wenn Anna mit ihrer Freundin ausginge. Vielmehr sollte von "Pech" oder aber dem Fehlen "negativer Freiheit" im Sinne der Beschränkung ihrer Handlungsfreiheit die Rede sein. Annas Wille kann hier gar nicht realisiert werden, selbst wenn sie fest dazu entschlossen ist. 59 Zum anderen sind aber 58 Ursula Wolf (1999b ): "Zum Problem der Willensschwäche", in: Stefan Gosepath (Hg.) (1999): Motive, Gründe, Zwecke. Theorien praktischer Rationalität, Frankfurt/Main: Fischer. 59 Ein Mensch, der wie ein Vogel fliegen möchte und es doch nicht kann, ist nicht willensschwach. Im Grunde kann er nicht einmal den "Willen" zum Fliegen haben, denn es gilt: Wollen impliziert Können. ln Fällen von überwindbaren äußeren Hindernissen ist das Problem jedoch anders geartet. Nehmen wir an, Anna hat beim Einkaufen ihren Wohnungsschlüssel verloren und sich daraufhin entschieden, mit ihrer Freundin auszugehen, obwohl sie stattdessen einen Schlüsseldienst hätte rufen können. ln Fällen wie diesem wäre durchaus von Willensschwäche zu sprechen.

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auch solche Fälle von der Problematik auszunehmen, in denen Menschen von schier unüberwindlichen inneren Widerständen, z.B. aufgrundvon Neurosen oder Sucht, an der Verwirklichung ihrer Vorhaben gehindert werden. 60 Hier kann ein selbstbestimmter Wille allein schon deshalb keine Realisierung finden, weil er sich gar nicht erst herausbildet. Aufgrund seltsam fremder Mächte scheint die neurotische oder eben süchtige Person bereits im Ansatz keine Wahl zu haben. Daher sollte man eher von "Zwang" oder der Abwesenheit "positiver Freiheit" im Sinne einer Beeinträchtigung ihrer Willensfreiheit sprechen. 61 Folglich kann die Forderung nach Beherztheit und Willenstärke ausschließlich dann spürbar werden, wenn drei Bedingungen erfüllt sind: Erstens müssen auf der Ebene bewusster Gründe mindestens zwei divergente Orientierungen kollidieren, und zwar ein übergeordnetes Wollen und ein davon abweichender situativer Wunsch. Zweitens darf keinem dieser beiden Vorhaben ein äußeres oder auch inneres Hindernis mit absolutem Zwangscharakter im Wege stehen. Drittens schließlich muss die Situation so beschaffen sein, dass sich der Streit zwischen den jeweiligen Gründen, die für beide Orientierungen sprechen, auf Anhieb gar nicht eindeutig entscheiden lässt. Im Nachhinein sind Fälle von Willensschwäche allein dort zu diagnostizieren, wo die betreffende Person auch anders hätte handeln können, und zwar gemäß ihres höherstufigen Willens, wo sie sich aber dennoch zu Gunsten der vermeintlich schlechteren Gründe entschieden hat. Aus zunächst unerfindlichen Gründen scheint freiwillig die alles in allem für besser gehaltene Orientierung das Nachsehen gehabt zu haben. 62 Der Verdacht liegt nahe, dass der in einer willensschwachen Situation am Ende unterlegene Vorsatz ("Ich muss lernen") am Ende gar nicht stark genug gewesen ist, um überhaupt als fester Wille gelten zu dürfen. Der de facto ausschlaggebende und nur vermeintlich für schwächer gehaltene Handlungsgrund ("Etwas Abwechselung würde mir jetzt gut tun") müsse letztlich eben doch der stärkere oder gar bessere gewesen sein, sonst hätte er nicht obsiegen können. Das ist in etwa die Position des Sokrates: Die bloße Tatsache, dass jene Gründe, die für die mutmaßlich bessere Handlung gesprochen haben, am Ende doch zurückgetreten sind, muss bedeuten, dass diese Gründe eben nur scheinbar die für besser gehaltenen waren, sonst wäre der mit ihnen verbundene Vorsatz handlungswirksam geworden. 63 Erinnern wir uns noch einmal an den traurigen Helden aus "Ich war noch niemals in New York". Dessen Vorsatz, der tristen Alltagswelt zu entfliehen, ist offenkundig noch nicht reif 60 Ausschließlich in diesem Sinne wird Willensschwäche interpretiert von Richard M. Hare (1963): Freedom and Reason , Oxford: Clarendon. 61 Das Verhältnis von Integrität und Freiheit wird genauer in Kapitel 5 behandelt. 62 Martin See! (2002c): "Ein Lob der Willensschwäche", in: ders (2002b). 63 Platon: Protagoras, a.a.O., S. 213ff. (355ff.).

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genug gewesen, um als ein handlungsleitender Wille wirksam zu werden, sonst hätte der Mann wohl mehr Anstrengungen unternommen als bloß schwärmerische Gedankenspiele auf dem Weg zum Zigarettenautomaten. Auch hier kann von Willensschwäche im strikten Sinne deshalb nicht die Rede sein, weil ein nach Realisierung strebender Vorsatz, d.h. ein fester Wille, gar nicht erst vorhanden war. Die sokratische Spitzfindigkeit lautet demnach: Ein Mensch würde das, was er tut, nicht freiwillig tun, wenn er es letztlich nicht doch für besser halten würde als das, was er unterlässt. Wird Willensschwäche als ein Handeln "wider besseres Wissen" definiert, ist sie damit bereits auf definitorischer Ebene ausgeschlossen. Die für besser gehaltenen Gründe sind definitionsgemäß immer jene, die am Ende obsiegen. Aristoteles hat diese sokratische Ansicht zugleich geteilt und in Zweifel gezogen, indem er davon ausging, dass es eine durchweg klarsichtige Willensschwäche tatsächlich nicht geben könne. 64 Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, so Aristoteles, dass ein Mensch bei vollem Bewusstsein das für ihn Schlechtere tut. Dennoch ist das hier ins Auge gefasste Alltagsphänomen nicht einfach wegzudefinieren. Von ihm muss lediglich eine andere inhaltliche Beschreibung gegeben werden. Selbst wenn der Mensch das Gute kennt, so Aristoteles, und zugleich fest zu dessen Realisierung entschlossen ist, gibt es dennoch Momente im Leben, in denen man, wie ein Betrunkener oder Träumender, für kurze Zeit vergisst, was das wahrhaft Gute ist. Die willensschwache Person leidet demnach temporär unter einer situationsbedingten Trübung ihres Bewusstseins, durch die sie das wahrhaft Gute für einen Moment aus den Augen verliert. Von Begierden, Lust und Leidenschaft sind ihr die Sinne betäubt und der Verstand benebelt. Nur insofern erweist sie sich als schwach, wenn sie diesen Begierden nachgibt. Sie handelt einem besseren Wissen zuwider, über das sie zwar prinzipiell, aber eben nicht augenblicklich verfügt. Demnach werden willensschwache Handlungen nicht sehenden Auges vollzogen, sondern im Zustand einer temporären Blindheit gegenüber dem Guten. Aber, so wäre Aristoteles zu fragen, sind nicht dennoch Fälle zu verzeichnen, bei denen wir davon ausgehen müssen, dass die willensschwache Person tatsächlich klarsichtig und absichtsvoll handelt? In maximaler Opposition zu Aristoteles vertritt heute vor allem Donald Davidson65 die Ansicht, dass Willensschwäche überhaupt nur dann auftreten kann, wenn klarsichtig jene Orientierung Umsetzung erfahrt, für die zuvor die vergleichsweise schlechteren Gründe gesprochen haben. Die in willensschwachen Momenten ausschlaggebenden Gründe sind und bleiben die schlechteren, so Davidson. Geht Anna 64 Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, München 1991: dtv, 7. Buch. 65 Donald Davidson (1985a): "Wie ist Willensschwäche möglich?", in: ders. (1985b): Handlung und Ereignis, Frankfurt/Main: Suhrkamp; ders. (1999): "Paradoxien der Irrationalität", in: Gosepath (1999). 159

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mit ihrer Freundin aus, obwohl sie weiß, dass sie lernen müsste, trifft sie ihre Entscheidung sehenden Auges. Sie bleibt der besseren Gründe, die für den Verbleib am Schreibtisch sprechen, ansichtig, doch sie ist bereit, für ihren nächtlichen Ausflug den Preis der Reue zu zahlen. Ihr Handeln ist klarsichtig, wenngleich "irrational", wie Davidson sagt, weil es ein Handeln aus den faktisch schlechteren Gründen ist. Zwar entscheidet sich Anna gezielt für das, was ihr momentan wünschenswert erscheint, doch kann sie ihre Entscheidung nicht noch einmal mit höherstufigen Argumenten verteidigen. Sie tut nicht das, was alles in allem gut für sie wäre. Selbst wenn man Fälle wie diesen prinzipiell für möglich hält, müsste doch erst noch geklärt werden, wie die Motive geartet sein sollen, die ein Handeln wider besseres Wissen in Gang zu bringen vermögen. Man könnte Personen die Fähigkeit zuschreiben, sich ab und an Ausnahmen zu gönnen, ohne sich dadurch bereits grundsätzlich von ihrem ethisch-existenziellen Kurs abbringen zu lassen ("Das, was ich heute nicht mehr geschafft kriege, hole ich morgen einfach nach"). 66 Denkbar sind solche ethisch-existenziellen AusnahmeregeJungen zweifellos, doch wäre die Diagnose Willensschwäche dann noch anwendbar? Handelte Anna noch immer wider besseres Wissen, wenn sie es sich ausnahmsweise gönnen würde, schwach zu werden? Nicht unbedingt, denn unter Umständen können sich Menschen wie Anna angesichts derartiger Ausnahmeregelungen eben gerade als besonders willensstark erweisen, und zwar dann, wenn sie sich durch kleinere Eskapaden nicht schon grundsätzlich davon abringen lassen, anschließend erneut zu ihren integralen Selbstverpflichtungen und Grundvorhaben zurückzukehren. Gelingt dies, so befinden sie sich letztlich wieder in Einklang mit dem, was sie in einem übergeordneten Sinne für das Richtige halten ("Wenn ich nicht ab und zu unter Leute gehe, werde ich noch verrückt!")Y Ganz gleich aber, wie Anna sich entscheiden mag, Beispiele wie das ihre zeigen, dass die Frage, ob im konkreten Einzelfall Willensschwäche attestiert werden muss, gar nicht unabhängig vom Inhalt des jeweiligen Begründungszusammenhangs beantwortet werden kann, den die betreffende Person selbst anstrengt. Betrachten wir dazu einen anderen Fall: Ein junger Mann hat sich nach einem langen Fernsehabend mit Schokolade, Chips und Bier in sein Bett begeben und unlängst damit begonnen, sich in seine Kissen zu vergraben. Schon gleitet er über in jenen wohligen Dämmerzustand, der die tiefe Nacht heraufbeschwören soll, als sich in seinem geschwächten Bewusstsein plötzlich und erst zaghaft so etwas wie ein störendes Kratzen bemerkbar macht. Langsam wird es stärker, um mit einem Mal den Schutzwall des Halbschlafes zu durchbrechen: Er hat vergessen, sich die Zähne zu putzen. Plötzlich hell-

66 Dazu Anthony Kenny (1975): Will, Freedom and Power, Oxford: Blackwell. 67 Vgl. Wolf(1999b), bes. S. 238.

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wach, malt der arme Mann sich nun aus, wie die Schokoladen-, Chips- und Bierreste über Nacht an seinen Zähnen arbeiten werden. Dennoch hat er wenig Lust, noch einmal aufzustehen. Fast war er schon eingeschlafen, und der Boden im Badezimmer ist unangenehm kalt. Folglich verspürt der Mann zwei sich direkt widersprechende Bedürfnisse: den Wunsch, im warmen Bett liegen zu bleiben, und zugleich auch den Drang, sich die Zähne putzen zu gehen. Er wird sich also entscheiden müssen. Nehmen wir an, er ließe es zu, dass ihn erneut Müdigkeit überkommt und damit von der Sorge um seine dentale Gesundheit abbringt. Wollte man ein aristotelisches Urteil fällen, so wäre von Willensschwäche zu sprechen. Wer sich schlaftrunken von seinen "niederen" körperlichen Regungen benebeln und dadurch von seinen festen Prinzipien und Werten abbringen lässt, offenbart, zumindest temporär, charakterliche Defizite. Man kann jedoch auch gänzlich anderer Auffassung sein. Davidson kommt zu dem nahezu entgegengesetzten und zweifellos sympathischeren Schluss, dass nicht etwa diejenige Person, die liegen bleibt, Willensschwäche zeigt, sondern jene, die aufsteht(!), um sich die Zähne zu putzen. Der sehnsüchtige Wunsch nach Ruhe und Schlaf, so ist Davidson zu interpretieren, wird hier der bloßen Konvention geopfert, man habe sich vor dem Schlafengehen nun mal die Zähne zu putzen. 6R Ganz gleich jedoch, ob man dieses Argument für stichhaltig hält, es macht uns darauf aufmerksam, dass Konflikte, in denen die Beherztheit eines Charakters auf dem Spiel steht, gar nicht von außen, d.h. aus der strikten Beobachterperspektive, gedeutet oder gar entschieden werden können. Stets sind die faktischen Motive und Wertorientierungen deljenigen Person zu berücksichtigen, die sich zu entscheiden hat. 69 Ist die Person so sehr um ihre dentale Gesundheit besorgt, dass sie dafür situative Unannehmlichkeit in Kauf zu nehmen bereit ist, wird sie sich vermutlich zum Aufstehen motivieren können. Wenn ihr aber die Erholung, die der sofortige Schlaf bieten würde, unerlässlich erscheint, mag sie sich anders entscheiden. Von Willensschwäche zu sprechen, ist nur dann angebracht, wenn eine Person sich offen gegen jene Gründe entscheidet, die aus eigener Überzeugung die fiir sie alles in allem besseren sind. Willensschwach sind Handlungen in Abweichung von dem, was subjektiv das Gute wäre. Verfehlungen gegenüber einem wie immer objektiv zu bestimmenden Guten sind hier zunächst irrelevant. 70 Dennoch bleibt es ratsam, in der Außenbeurteilung eines potenziellen Falls von Willensschwäche nicht allein auf die von den betreffenden Personen 68 Davidson (1985a), bes. S. 55f. 69 Vgl. See! (2002c). 70 Daher sollte das Problem der Willensschwäche auch nicht mit dem "moralischen Motivationsproblem" verwechselt werden. Dabei geht es allein um das Phänomen, dass Personen unbedingte Verpflichtungen gegenüber anderen Menschen verspüren können, ohne ihnen zu folgen.

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selbst gegebenen Begründungen zu setzen. So manche nachträglich gelieferte Rechtfertigung erweist sich bei gerrauerem Hinsehen als vorgeschoben ("Ich war mir sicher, dass keine Zahnpasta mehr da war"). Dieser Umstand ist vor allem deshalb von Interesse, weil derart unaufrichtige Begründungsstrategien nicht nur gegenüber anderen Menschen zum Einsatz kommen, sondern erinnert sei hier an den Integritätsmangel der Selbsttäuschung - auch im Rahmen des ethisch-existenziellen Selbstgesprächs. Ursula Wolf geht davon aus, dass Selbsttäuschungen für das Phänomen der Willensschwäche konstitutiv sind. 71 Die willensschwache Person, so Wolf, mag ihre höherstufigen Wertvorstellungen zwar kurz erwägen, doch werden diese rasch verdrängt oder mit vorgetäuschten Gründen schlicht beiseite geschoben. Angesichts der Verlockungen des Moments spürt die potenziell willensschwache Person, dass eine genauere Abwägung des Konflikts zu einer Revision ihres Werteverständnisses oder gar zu der Einsicht zu führen hätte, dass ihre höherstufigen Werte in Wirklichkeit gar keine festen höherstufigen Werte sind. Demnach unterliegt die willensschwache Person einer doppelten Selbsttäuschung im Hinblick auf ihre integralen Wertbindungen: Erstens werden sie verdrängt und zweitens sind es daher keine. Nach Wolf sind willensschwache Handlungen nicht, wie bei Aristoteles, Resultat rauschhafter Verwirrung, sondern "interessierte Fehler", d.h. absichtsvoller Selbstbetrug, wobei drei verschiedene Strategien denkbar sind: Entweder führt sich die willensschwache Person ihren Konflikt gar nicht ernstlich zu Bewusstsein ("Man sollte nicht immer so viel über alles nachdenken"). Das ist die Taktik der Verdrängung. Oder sie zitiert zur Rechtfertigung solche Handlungsgründe herbei, die faktisch für ihr Handeln gar nicht ausschlaggebend sind bzw. waren ("Das mit dem Lernen bringt heute eh' nichts mehr"). Dies kann als Strategie der Rationalisierung bezeichnet werden. Oder aber die Person deutet kurzfristig ihr ethischexistenzielles Selbstverständnis so um, dass die Handlungsgründe, die für die willensschwache Handlung sprechen, plötzlich dazu passen ("Eigentlich bin ich ja ein eher spontaner Typ"). Das ist die Taktik temporärer Identitätsumbildung. In all diesen Fällen, so Wolf, spürt die willensschwache Person, dass sie sich in Widersprüche verwickelt, aber sie will diese Widersprüche schlechtweg nicht wahrhaben. Selbsttäuschungen machen einen wichtigen ethischexistenziellen Kompromiss möglich: Einerseits kann die Person an ihrem idealen Selbstbild festhalten, andererseits braucht sie aber auch nicht auf die Befriedigung ihrer davon augenblicklich abweichenden Bedürfnisse zu verzichten. Gleichwohl ergibt sich der von Wolf angedeutete und an Sokrates erinnernde Schluss, dass eine Entscheidung zu Ungunsten des mutmaßlich höherstufigen Wertes Beweis genug dafür ist, dass der entsprechende Vorsatz 71 Dazu und für das Folgende siehe Wolf (1999b).

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am Ende doch nicht fest genug gewesen sein kann, keineswegs zwingend. Auch hier sind drei Fälle zu unterscheiden. Nehmen wir an, eine übergewichtige Person hat sich eine strikte Diät verordnet. Am Büfett einer Hochzeitsfeier gerät sie in Versuchung und wird willensschwach. Solange aber die Person ihrer Selbstverpflichtungen eingedenk bleibt und am nächsten Tag zu ihrer Diät zurückkehrt, wird sich ihr ursprünglicher Vorsatz trotz allem als fest und höherstufig erweisen. Geschieht dies nicht, wie bei den vielen abgebrochenen Diätversuchen zuvor, mag die Person zwar gut gemeinte Absichten haben, doch bleiben konsequente Taten aus. Gänzlich ohne Vorsatz ist die Person nicht, doch ohne festen Vorsatz und daher willensschwach. Wenn sie hingegen vollständig darauf verzichtet, eine Diät auch nur in Angriff zu nehmen, liegt überhaupt kein Vorsatz vor. Die übergewichtige Person mag zwar insgeheim den Wunsch haben, endlich einmal abzuspecken, doch aus diesem Wunsch folgt nichts. Entsprechend kann dann aber auch nicht von Willensschwäche die Rede sein, eben weil dazu ein Wille oder Vorsatz vorhanden sein muss. Personen wie diese sind nicht willensschwach, sondern schwach. Bei genauerem Hinsehen scheint es allerdings so, als liefen Wolfs Überlegungen zum Selbsttäuschungscharakter der Willensschwäche auf eine offene Konfrontation mit Davidson hinaus, der mit der Annahme, Willensschwäche sei allein klarsichtig möglich, genau das Gegenteil behauptet hatte. Martin Seel hat jedoch gezeigt, dass eine Entscheidung zu Gunsten einer dieser beiden Ansätze deshalb nicht angebracht ist, weil sie auf jeweils unterschiedliche Formen von Willensschwäche Bezug nehmen, die in der Realität beide vorkommen.72 Erst in der Analyse konkreter EinzeWille, so Seel, wird sich zeigen können, ob der von Wolf analysierte Fall eines durch Selbsttäuschung ermöglichten Kompromisses vorliegt oder ob man es mit dem von Davidson beschriebenen Phänomen klarsichtiger Irrationalität zu tun hat. Im ersten Fall ist an das Beispiel der übergewichtigen Person zu denken, die sich auch nach zahllosen Diätversuchen noch einzureden vermag, beim nächsten Mal werde es gelingen. Im zweiten Fall hingegen wäre an die fleißige Studentin Anna zu erinnern, die bereits weiß, dass sie ihren nächtlichen Ausflug bereuen wird. Damit lässt sich das aus philosophischer Sicht doppelte Problem, ob und, wenn ja, wie Willensschwäche möglich ist, wie folgt zusammenfassen: Die Frage, ob Willensschwäche möglich ist, muss zunächst positiv beantwortet werden. Willensschwache Handlungen sind das Resultat eines von der betroffenen Person mehr oder weniger bewusst wahrgenommenen Konfliktes zwischen Interessen von ethisch unterschiedlichem Rang, wobei dieser Konflikt, ohne dass innerer oder äußerer Zwang vorläge, zu Gunsten der jeweils schlechteren Gründe entschieden wird, und zwar entweder verdeckt durch Strategien der Selbsttäuschung oder aber klarsichtig und damit wider besseres 72 See! (2002c).

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Wissen. Willensschwache Personen des ersten Typs retuschieren ihr ethischexistenzielles Selbstbild durch Selbsttäuschungspraktiken, die gezielt den autobionarrativen Selbstverständigungsprozess verdunkeln, damit der schöne Schein von Integrität aufrechterhalten werden kann. Willensschwache Personen des zweiten Typs hingegen vollbringen sehenden Auges das, was sie für das alles in allem Schlechtere halten, und setzen damit den für die Integrität maßgeblichen Modus der Übereinstimmung von Selbstbild und Lebensvollzug aufs Spiel. Damit sind sie beide deutlich von integren Personen zu unterscheiden, die sich in der Regel Klarheit darüber verschaffen wollen, was wahrhaft gut für sie wäre, um dieses Gute entsprechend klarsichtig verfolgen zu können. Die Frage, wie Willensschwäche möglich ist, bedarf einer eher psychologischen Antwort. Es dürfte deutlich geworden sein, dass die prominent von Sokrates vertretene Annahme, die willensschwache Person "wisse" nicht, was das Gute ist, unhaltbar ist. Sie weiß es, doch sie identifiziert sich nicht vollständig mit diesem Wissen. Die Person mag die Gründe, die für das Gute sprechen, längst einsehen und auch anerkennen, doch ob sie diesen Gründen beherzt folgt, steht auf einem anderen Blatt. Allein aufgrund der Möglichkeit einer psychologischen Diskrepanz zwischen Einsicht und Motivation ist davon auszugehen, dass, wie es zu Beginn dieses Abschnitts hieß, Menschen nicht immer "so können, wie sie wollen". Weil aber die Gründe für diese Diskrepanz bei jedem Betroffenen selbst liegen, sollte der nahe liegende Verdacht, dass Willensschwäche uneingeschränkt als typischer Integritätsmangel einzustufen sei, zunächst mit Vorsicht behandelt werden. Vielleicht liegt in der Verwirrung, die von der Willensschwäche gestiftet wird, nicht selten auch das Potenzial zu wichtigen ethischen Kurskorrekturen verborgen. Dies soll im nächsten Abschnitt deutlich werden.

3.4 Affirmationtrotz Widerspruch: Das eigene Leben bejahen Die bisherigen Überlegungen dieses Kapitels dienten dem Nachweis, dass Personen allein dann Integrität aufweisen können, wenn ihr Leben weitestgehend frei von Konfliktscheue, Selbsttäuschung und Willensschwäche ist. Dies mag bereits zu der Befürchtung Anlass gegeben haben, dass mit personaler Integrität ein eher pedantisches Ideal gemeint ist, dem nachzueifern bedeuten würde, der eigenen Existenz sämtliche Spontaneität und Fehlbarkeit zu rauben. Der augenfallige Umstand, dass kein einziger philosophischer Debattenbeitrag das Integritätsideal als solches in Frage stellt, mag da eher als Anzeichen von akademischer Lebensfeme, denn als Indiz für die Wünschbarkeit

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der damit verbundenen Orientierungengewertet werden. 73 Darf sich Integrität denn nicht auch abseits der ausgetretenen Pfade eines Lebens in permanenter Übereinstimmung mit vorgefassten Wertvorstellungen zeigen? Gehört zum integren Leben nicht auch die Offenheit für Unklarheiten, Zweifel, Brüche oder gar Ohnmacht? Bereits verschiedentlich ist in diesem Buch die Vermutung angeklungen, dass im Hinblick auf so manche mutmaßlich rigorose Integritätsforderung Ausnahmen nicht nur möglich, sondern erwünscht sind. Diese Vermutung soll im Folgenden zu der Einsicht ausgebaut werden, dass eine Theorie der Integrität im Hinblick auf deren vermeintliche Schwächen die Tatsache zu berücksichtigen hat, dass Phänomene der Konfliktscheue, Selbsttäuschung und Willensschwäche zum integren Leben durchaus dazugehören; und zwar nicht nur, wie man es zunächst vielleicht vermuten würde, als tolerierbare Ausnahmen, sondern auch als Chancen, von festgefahrenen und fehlgeleiteten Wegen abzukommen. Wenn wir das integre Leben bejahen wollen, so lautet die zunächst paradox anmutende These, haben wir das Leben mitallseinen Gefahren für die Integrität zu bejahen. Vorab wäre jedoch zu klären, was es überhaupt für integre Personen bedeuten kann, das eigene Leben zu "bejahen". Die affirmative Antwort "Ja" setzt offenkundig eine Frage voraus, deren genauere Form bislang noch nicht benannt wurde. Sie lautet schlicht: Ist das eigene Leben lebenswert? Mögliche Antworten können zunächst auf zwei verschiedenen Ebenen ansetzen. Die fundamentalste aller denkbaren Affirmationen des Lebens betrifft das nackte Dasein. Wir können unterstellen, dass jede Person, insofern sie überhaupt lebt, auf ganz elementare Weise "Ja" zum eigenen Leben zu sagen bereit ist. Eine durchweg nihilistische oder gar suizidale Lebenseinstellung, die dem eigenen Daseinper se Wert absprechen würde, ist mit personalem Leben bereits im Ansatz unvereinbar. Ein derart fundamentaler Einspruch gegen das Leben würde, sobald man ihn exekutierte, jeder weiteren ethischen Wertsetzungspraxis den existenziellen Boden entziehen. Ausnahmen gibt es allerdings: In extremen Lebenssituationen- man denke hier etwa an den Fall einer unheilbaren Erkrankung - kann es passieren, dass auch der integre Mensch zu der Überzeugung gelangt, dass sein Leben fortan nicht mehr lebenswert ist. Ereignet sich ein unwiderruflicher Verlust integraler Bestandteile seines Lebenszusammenhangs, kann der Wunsch aufkommen, dem eigenen Leben ein Ende zu bereiten. Der selbstbestimmte Freitod oder auch die Bitte um Sterbehilfe wären dann zwar auch als Entzug der Grundlage integren Lebens, aber zugleich als dessen letzte Konsequenz aufzufassen. Ethisch-existenzielle Selbstbestimmung muss so weit gehen dürfen, der eigenen Existenz, sobald

73 Tatsächlich beschränken sich sämtliche Debattenbeiträge in ihren kritischen Passagen auf Warnungen vor übertriebenen Integritätsvorstellungen. 165

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dieser nicht einmal mehr ein "minimaler" Sinn zukommt, willentlich ein Ende zu bereiten. 74 Die zweite Form der Lebensbejahung ist insofern vielschichtiger als jene erste, als mit ihr die Überzeugung einhergehen muss, dass das eigene Leben alles in allem wertvoll ist. Nicht jeder Mensch, der durch schlichte Fortsetzung seiner Existenz implizit eine affirmative Antwort auf die eben verhandelte Grundsatzfrage nach dem Wert bloßen Überlebens gibt, wird im selben Zuge explizit von sich behaupten wollen, dass sein Leben bereits insgesamt bejahenswert in Sinne von "gut" ist. Zwar muss die betreffende Person nicht schon der Überzeugung sein, dass ihr Leben "das einzig richtige" isC 5 Selbstredend kann es darin zu Entwicklungen kommen, mit denen die Person im Einzelnen unzufrieden oder gar unglücklich ist und die sie deshalb ablehnt. Dennoch sollte das Leben insgesamt von der Gewissheit getragen sein, dass hinreichend gute Gründe für die Fortsetzung genau dieses gehaltvollen Lebenszusammenhangs sprechen. Wem das eigene Leben alles in allem lebenswert erscheint, der bejaht sein Leben nicht samt, sondern trotz der Widrigkeiten, die ihm begegnen. Entsprechend wäre noch eine dritte Form der Lebensbejahung denkbar, die auf der Überzeugung beruhte, dass das Leben tatsächlich in all seinen Facetten, d.h. alle Widrigkeiten, Konflikte, Widersprüche, Schwächen oder auch Schmerzen eingeschlossen, affirmiert werden kann. Es mag Menschen geben, die mit derart erhabenen philosophischen oder auch religiösen Überzeugungen durchs Leben schreiten. Die Rechtmäßigkeit einer derart souveränen Lebenseinstellung soll hier auch gar nicht in Abrede gestellt werden. Es wäre aber vermessen, von jeder integren Person fordern zu wollen, sie habe eine derart bedingungslose Affirmation des Lebens zu leisten. Dennoch soll im Folgenden eine alternative Form der Lebensbejahung erkennbar werden, die anspruchsvoller als die zweite, wenngleich weniger ambitioniert als die dritte ist. Personale Integrität, so wird die These lauten, ist von einem Gefühl der Lebensbejahung getragen, das sich selbst noch in der bewussten Konfrontation mit existenziellen "Aporien"76 einstellen muss. Die mit personaler Integrität einhergehende Affirmation des Lebens will zwar nicht schon die menschliche Existenz insgesamt, d.h. mit all ihren Widrigkeiten, gutheißen, sie setzt jedoch die Anerkennung der Tatsache voraus, dass vermeintlich negative Phänomene wie Konfliktscheue, Selbsttäuschung und Willensschwäche nicht nur unvermeidlich, sondern manchmal eben auch zu begrüßen sind. Beginnen wir auch hier mit dem Integritätsmangel der Konfliktscheue. Zur Erinnerung: Es war davon auszugehen, dass die unhintergehbare Plurali74 Vgl. Harris (1999), Kap. 3 u. 4. 75 Diese überzogene Forderung assoziiert Dworkin (1990), S. 80, mit dem IntegritätsideaL 76 Ich werde den Begriff im Anschluss an Wolf(1999a) gebrauchen.

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tät möglicher Wertbindungen und Selbstverpflichtungen zu einer ebenso unausweichlichen Konflikthaftigkeit menschlichen Lebens führt, von der sich selbst die integre Person situativ überfordert zeigen kann. Angesichts tiefgreifender Ambivalenzkonflikte, in denen das eigene ethisch-existenzielle Selbstverständnis auf dem Spiel steht, mag die betreffende Person die Neigung verspüren, der Gefahr desintegrierender Konfusionen einfach auszuweichen. Aus Sicht der Integrität jedoch sprach vieles für eine offene Konfrontation mit derartigen Konflikten. Integre Personen wissen, dass "aufgeschoben" nicht schon "aufgehoben" ist. Werden Probleme und Ambivalenzen verschleppt, können sie sich anhäufen, überlagern und der Persönlichkeit auf Dauer an die Substanz gehen. Zudem machen integre Personen nicht selten die Erfahrung, dass sie an den Konflikten ihres Lebens nicht bloß leiden müssen, sondern auch wachsen können. Die erfolgreiche Bewältigung gravierender Ambivalenzen und Unschlüssigkeiten kann zu Lern- und Reifungsprozessen führen, die dauerhaft zu einem festen und integralen Bestandteil des autobionarrativen Selbstbildes werden. In der lebensgeschichtlichen Retrospektive ist nur zu häufig festzustellen, dass Erfahrungen, die zunächst leidvoll waren, mit der Zeit zu einer wichtigen Veränderung und auch Stärkung der Persönlichkeit geführt haben. Selbst wenn man die seinerzeit erlittenen Erfahrungen keineswegs noch einmal "durchmachen" möchte, sind die damit in der Erinnerung verknüpften Ereignisse und Erkenntnisse häufig dennoch aus dem ethischexistenziellen Selbstbild der betreffenden Person kaum mehr wegzudenken. 77 Somit stellen gravierende ethisch-existenzielle Konflikte eine doppelte Herausforderung für integre Personen dar: Zum einen geht mit ihnen die Gefahr der Konfusion und Desintegration einher, zum anderen bergen sie das Potenzial zu tiefgreifenden Lern- und Entwicklungsprozessen. Dieser Befund mag zur Formulierung einer ersten Aporie verleiten, nach der integre Personen aufgrund der Entwicklungschancen, die Konflikte mit sich bringen, dazu angehalten sein könnten, die Kalamitäten des Lebens bereits als solche zu bejahen. Ein solcher Schluss ist jedoch voreilig. In aller Regel bejahen Personen nicht schon die konkreten Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen haben - diese werden vielmehr eo ipso abgelehnC 8 - , bejaht wird allenfalls, und zwar im Nachhinein, der durch diese Schwierigkeiten bewirkte Persönlichkeitsschub. Dies führt uns zwar zur Akzeptanz der allgemeinen anthropologischen Tatsache, dass Menschen durch die Konflikte ihres Lebens nicht bloß desintegriert, sondern manchmal eben auch vorangebracht werden. Eine Bejahung einzelner, konkretes Leid verursachender Ambivalenzkonflikte ist darin aber nicht schon impliziert: 77 Sicherlich gibt es aussichtslose oder gar "tragische" Konflikte und Entscheidungen, die sich allein schädlich auf das Leben auswirken, ohne dass von Reifung o.ä. die Rede sein kann. 78 In Nietzsches "Das Trunkene Lied" heißt es: "Weh spricht: Vergeh!"

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"But while accepting ambivalence may sometimes be helpful or wise, it is never desirable as such or for its own sake. And to remain persistently ambivalent conceming issues of substantial importance in the conduct of life is a significant disability".79 Wer mit tiefgreifenden Konflikten konfrontiert ist, kann ihnen ausweichen oder aber ins Auge sehen. Aus Sicht personaler Integrität mag es, wie gesagt, zunächst so scheinen, als sei allein Letzteres wünschenswert. Dennoch kann es, wie es im obigen Zitat heißt, manchmal "hilfreich oder weise" sein, Ambivalenzen auszuhalten, ohne sogleich die offene Konfrontation zu suchen und auf Lösungen zu drängen. Souveräne Behutsamkeit im Umgang mit Konflikten vermag situative Entlastungen und oftmals auch notwendige Bedenkzeit herbeizuführen. In Situationen anhaltender Ambivalenz, ja, temporärer Konfliktscheue können Spielräume gewonnen werden, Entscheidungen von gravierender Bedeutung zu überdenken und reifen zu lassen. Viele Probleme mögen unterdessen anwachsen und entsprechende Entscheidungen geradezu erzwingen, so manche andere Schwierigkeit wird sich derweil von selbst erledigen. In solchen Momenten werden integre Personen sich dessen gewahr, dass eine fortwährende Konfrontation mit den Konflikten des Lebens weder möglich noch wünschenswert ist. Ein gewisses Maß an Konfliktscheue ist vielmehr anzuraten. Konfliktscheue Momente besitzen nicht nur eine notwendige Entlastungsfunktion, sondern manchmal eben auch katalysatorische Wirkung. Erst jetzt sind wir bei der ersten existenziellen Aporie der Integrität angelangt: Angesichts der unausweichlichen Konflikthaftigkeit des Lebens können wir Konfliktscheue nicht wirklich gutheißen, aber wir können auch nicht gänzlich auf sie verzichten. Kommen wir zum zweiten prototypischen Integritätsmangel: dem Phänomen der Selbsttäuschung. Behauptet wurde, dass Personen, die nach Integrität streben, die Selbstverpflichtung übernehmen, für ihre Überzeugungen, Äußerungen und Handlungen hinreichend gute Gründe vorweisen zu können. Ihre Lebensführung muss "rational" im Sinne von "prinzipiell begründbar" sein. 80 Wer sich eindeutig nicht darum schert, die eigenen Lebensvollzüge, zumindest gelegentlich, einer gerraueren selbstkritischen Prüfung zu unterziehen, führt entweder ein bloß triebhaftes bzw. mutwilliges Leben oder aber, wie im Fall durchweg konventioneller Wertorientierungen, eine weitgehend fremdbestimmte Existenz. Mit Blick auf das Integritätsdefizit der Selbsttäuschung war

79 Harry G. Frankfurt (1999c), "The Faintest Passion", in: ders. (1999c), S. 102. 80 Wie Martin See! treffend feststellt, sollte prinzipielle Begründbarkeit nicht mit einer Praxis ständiger Begründung verwechselt werden. Von Personen kann nur dann verlangt werden, sich für ihre Lebensvollzüge zu rechtfertigen, wenn sich offenkundige Widersprüche und Konflikte ergeben. Siehe ders. (1996d): "Wie ist rationale Lebensführung möglich?", in: ders. (1996b ).

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jedoch fraglich geworden, wie stark die Verpflichtung zur Praxis des autobionarrativen Gebens von Gründen tatsächlich auszufallen hat. Können wir von integren Personen tatsächlich verlangen, der Wahrheit ihres Lebens stets und ständig ins Auge zu sehen? Lässt eine rationale Lebensführung überhaupt gar keinen Platz für Selbsttäuschungen oder auch Illusionen?R 1 Selbst wenn wir von dem Umstand absehen, dass ein vollkommen transparentes Selbstverständnis aufgrund der Komplexität autobionarrativer Selbstverständigungsprozesse ohnehin niemals zu haben sein wird, so ist doch zu bezweifeln, dass eine derartige Klarheit überhaupt wünschenswert wäre. In Ausnahmefällen kann es situativ gute Gründe dafür geben, auf eine durchweg realistische Selbsteinschätzung zu verzichten. Um hier zwei Beispiele zu nennen: Menschen, die sich neu verlieben, werden die Forderung, sie mögen die eigene Lebenssituation doch einmal nüchtern reflektieren, als missgünstig (und überdies aussichtslos) zurückweisen. Mit Blick auf Personen, die unheilbar erkrankt sind oder nur noch kurze Zeit zu leben haben, wird die entsprechende Forderung nahezu inhuman anmuten. Es gibt Momente im Leben einer jeden Person, auch der integren, in denen es regelrecht schädlich wäre, völlige Klarheit über die eigene Lebenssituation zu erlangen. Ein gewisses Maß an Selbsttäuschung ist in solchen Momenten nicht nur verzeihlich, sondern geradezu angebracht. Wenn eine realistische Prüfung der gegebenen Lebenssituation zu einer unwiderruflichen Beeinträchtigung der eigenen Lebensqualität führen würde, können uns Selbsttäuschungen bzw. Illusionen, solange diese sich nicht dauerhaft festsetzen, von dem Auftrag entbinden, unentwegt einer mitunter schmerzlichen Wahrheit ins Auge sehen zu müssen. Selbsttäuschungen und Illusionen entlasten den Menschen von der Schwere seiner Existenz, nehmen ihm die Angst vor der Einsicht in unangenehme Gewissheiten und schaffen so Raum für Entspanntheit, Kreativität und Lebenslust. Dennoch wäre es verfehlt, ähnlich wie schon im Zusammenhang der Konfliktscheue, aus den Vorteilen temporärer Selbsttäuschungen sogleich den Umkehrschluss zu ziehen, dass die nach Integrität strebende Person Selbsttäuschungen als solche zu bejahen habe. Affirmiert wird lediglich der konkrete situative Nutzen, den Selbsttäuschungen verschaffen, d.h. die Entspannung oder Kreativität, die in solchen Momenten freigesetzt wird. Zwar gelangen wir damit zur Anerkennung des allgemeinen Umstandes, dass Selbsttäuschungen und Illusionen bisweilen unausweichlich sind, doch darf mit dieser Bejahung nicht schon die Einsicht verloren gehen, dass dennoch jede einzelne Selbsttäuschung einer Unterdrückung selbstkritischer Prozesse gleichkommt, die wir dauerhaft nicht wollen können. Auch wenn nicht selten gute Gründe 81 Zum Verhältnis von Selbsttäuschungen und Illusionen siehe Amd Poilmann (2001a): "Vom Panschen reinen Weins", in: Ethik und Sozialwissenschajien, 2/2001.

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vorliegen mögen, sich momenthaft einer Selbsttäuschung oder Illusion hinzugeben, gibt es keine hinreichend guten Gründe, ein ganzes Leben in Selbsttäuschungen zu wollen.R 2 Ein beständiges Plädoyer für Selbsttäuschungen und damit gegen rationale Selbstrechtfertigung würde dem Streben nach Integrität die Geschäftsgrundlage entziehen. Auch wenn die Überzeugung, dass Selbsttäuschungen letzten Endes irrational sind, eine gewisse Borniertheit und Kälte zu beinhalten scheint, würde das gegenteilige Plädoyer für ein Leben in Selbsttäuschungen zum Verlust der zentralen Einsicht führen, dass integre Personen sich in der Regel gerade nicht über sich täuschen wollen, auch wenn es ihnen manchmal wünschenswert erscheinen mag. Zu einer Einbuße an Integrität führen Selbsttäuschungen aber allein dann, wenn die Person regelmäßig oder gar dauerhaft auf die selbstkritische Rechtfertigung ihrer Lebensvollzüge verzichtet. Damit lässt sich eine zweite existenzielle Aporie des integren Lebens markieren: Angesichts unhintergehbarer Konfitsionen im Leben können wir Selbsttäuschungen nicht wirklich gutheißen, aber wir können auch nicht gänzlich auf sie verzichten. Wenden wir uns schließlich dem dritten typischen Integritätsdefizit zu: der Willensschwäche. Auch hier wäre zu prüfen, inwieweit die entsprechende Integritätsforderung nach Beherztheit Ausnahmen duldet. Gezeigt wurde, dass Personen im Zuge der Realisierung ihrer Selbstverpflichtungen und Grundvorhaben auf erhebliche Hindernisse stoßen können, deren Überwindung einen starken Willen erfordert. Angesichts der unhintergehbaren Widerständigkeit des Lebens hat personale Integrität sich als ein entschlossenes, standhaltendes Wollen zu beweisen. Erinnern wir uns zunächst noch einmal an die nur vermeintlich triviale Einsicht, dass Willensstärke allein in solchen Momenten zutage treten kann, in denen zugleich auch Willensschwäche droht. Eine Person besitzt nicht schon deshalb Integrität, weil sie erfolgreich allen Hindernissen und Verlockungen des Lebens aus dem Weg geht. Als wahrhaft stark kann sich ein Wille nur in solchen Momenten erweisen, in denen ihn divergente Wünsche oder Leidenschaften in eine andere Richtung drängen. Die beherzte Person ist zugleich zu einem Verhalten versucht, das mit ihrem ethisch-existenziellen Selbstbild unverträglich wäre. Diese dissonanten Stimmen mögen in willensstarken Momenten zwar in den Hintergrund treten, gänzlich verstummen werden sie nicht. 83 Zumeist wird die integre Person von den in ihren Entscheidungen unterlegenen Optionen nicht einfach ablassen, sondern sich ihrer bewusst bleiben. Schließlich sind es ihre und keine völlig fremden Wünsche und Leidenschaften, die sie zu einer Kursabweichung haben drängen wollen. 84 Damit nimmt 82 Vgl. Löw-Beer (1990); Seel (1996d). 83 See! (2002c), bes. S. 240. 84 Dies scheint allein in solchen Fällen zutreffend zu sein, in denen es sich nicht um zwanghafte Gemütsregungen oder offenkundige Verirrungen handelt. Aber 170

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der integre Mensch die Gefahr in Kauf, dass diese abweichenden Stimmen sich in vergleichbaren Situationen erneut melden werden. Warum aber tut er das? Warum bringt er sie nicht gänzlich zum Schweigen, z.B. durch Abspaltung oder Verdrängung? Vermutlich auch deshalb, weil der integre Mensch mit seiner eigenen Fallibilität, d.h. mit der Möglichkeit rechnen muss, dass sich eines Tages selbst noch seine besten Absichten als verfehlt erweisen. Ein Wille wird sich jedoch schwerlich ändern können, wenn er stets und unbedingt befolgt wird. Als unerbittlicher Vollstrecker eines immer gleichen Wollens wäre die integre Person kaum flexibel genug, um auf die Notwendigkeit einer Revision eigener Selbstverpflichtungen und Grundvorhaben reagieren zu können. Es bliebe vielmehr ein wesentliches Element ihrer Selbstbestimmung unberücksichtigt, das darin besteht, in existenziellen Konfliktsituationen zu alternativen Überzeugungen zu gelangen und neue Wege einzuschlagen. Ein vollkommen unbeirrbarer Wille ließe die Offenheit für noch nicht gewonnene Orientierungen vermissen und damit die Quelle für Entwicklung und Veränderung versiegen. 85 Es sind vor allem Momente neugieriger Abweichung, d.h. Situationen der Versuchung und eben auch der Willensschwäche, in denen uns die Notwendigkeit eines ethisch-existenziellen Wandels zu Bewusstsein kommen kann. Abgesehen von der zweifellos auch hier zutreffenden Annahme, dass wir von einer integren Person keineswegs ausnahmslos verlangen können, sich permanent an den Widrigkeiten ihres Lebens abzuarbeiten, sollte die Person sich für Momente der Willensschwäche demnach auch deshalb offen halten, weil so existenzielle Lernprozesse möglich werden. Mit der Bereitschaft, ab und zu "schwach" zu werden, entfaltet sich das Potenzial zur Erschließung neuer Wertbindungen und Selbstverpflichtungen. Gleichwohl hat auch hier zu gelten: Willensschwäche ist und bleibt eine Schwäche. Bejaht werden nicht die willensschwachen Momente als solche, sondern allenfalls die neuen Einsichten, Lernprozesse und Korrekturen, zu denen man dabei gelangt. Zwar sind wir dadurch zur Anerkennung der anthropologischen Tatsache gezwungen, dass Situationen der Willensschwäche im Leben nicht ausbleiben können, doch eine Affirmation konkreter willensschwacher Akte ist darin ebenso wenig impliziert wie das umfassendere Plädoyer für ein ganzes Leben in Willensschwäche. Zweifellos gilt für integre Personen weiterhin, dass Beherztheit und Willensstärke dringliche Bedingungen für Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit sind, doch der zwanghafte Versuch, Momente der Willensschwäche gänzlich auszumerzen, käme selbst einer charakterlichen ist dem so? Nehmen wir das Beispiel eines zornigen Menschen, der sagt: "Ich möchte diese Person am liebsten umbringen!" Muss Integrität sich hier als rasche Besinnung auf die Bedingungen humanen Miteinanders oder als selbstkritische Reflexion selbst noch auf diese destruktiven Regungen erweisen? 85 See! (2002c ).

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SELBSTVERSTÄNDIGUNG UND DESINTEGRATION

Schwäche gleich. Demnach ist eine dritte existenzielle Aporie personaler Integrität zu konstatieren: Angesichts der unausweichlichen Widerständigkeil des Lebens können wir Willensschwäche nicht wirklich gutheißen, aber wir können auch nicht gänzlich auf sie verzichten. Lassen wir alle drei der hier diskutierten Aporien personaler Integrität noch einmal Revue passieren, so ist festzustellen, dass sich ein Leben in Integrität nicht etwa dadurch auszeichnet, dass Momente der Konfliktscheue, Selbsttäuschung und Willensschwäche unter allen Umständen vermieden werden. Vielmehr nimmt der Begriff personaler Integrität erst dann markante Züge an, wenn berücksichtigt wird, dass die nach Integrität strebenden Personen mit der Einsicht umgehen müssen, dass ein Leben gänzlich ohne derart scheue, illusionäre und auch schwache Momente nicht einmal wünschenswert ist. Personale Integrität ist somit stets auch durch die gelassene Einsicht zu charakterisieren, dass derartige Ambivalenzen im Leben nicht nur unvermeidlich und unerfreulich, sondern manchmal eben auch produktiv sind. 86 Damit sind wir bei einer vierten und fundamentalen Aporie der Integrität angelangt, die im weiteren Verlauf dieser Untersuchung noch von erheblicher Bedeutung sein wird. Die im Vollzug integren Personseins zum Ausdruck kommende Bejahung des Lebens weist in sich schon eine ambivalente Struktur auf. Sie setzt die Anerkennung der Tatsache voraus, dass personale Integrität in einem umfassenden Sinne, d.h. als vollständige Ganzheit und Intaktheit, gänzlich ohne Widersprüche und Konflikte, niemals zu haben sein wird. Wer das integre Leben bejaht, hat es mitallseinen Aporien zu affirmieren. Die Bejahung integren Lebens gleicht einem "Jein", insofern sie Bejahung im Grundsatz trotz zu negierender Widersprüche im Einzelnen ist. Die Basisaporie der Integrität lautet demnach wie folgt: Wir folgen einer Sehnsucht nach Ganzheit, obgleich wir wissen, dass die von uns ersehnte Einheitals vollkommene - unerreichbar bleiben wird. Wenn bislang von "Ganzheit" als einer vierten Bedeutungsdimension der Integrität die Rede war, dann muss darunter rückblickend das utopische Streben nach einem Ideal verstanden werden, das niemals vollständig zu realisieren sein wird. Dennoch bleiben integre Personen an diesem Ganzheitsideal orientiert, indem sie sich darum bemühen, bei aller Zerrissenheit im Leben, eine wenigstens menschenmögliche Einheit und Intaktheit herzustellen. So gehört es zur Integrität der Person, sich der Unvermeidlichkeit von Momenten der Konfliktscheue, Selbsttäuschung und Willensschwäche gewahr zu sein, ohne von der Idee der Intaktheit lassen zu können. Weil eine vollständige, reine oder gar ursprüngliche Ganzheit niemals zu restituieren ist, kann das integre Leben immer nur als "reintegrierte" Einheit ohne heiles Ganzes aufge86 Zwar finden sich in der Integritätsdebatte zahlreiche Hinweise auf die genannten drei lntegritätsmängel, doch die Annahme entsprechender Aporien sucht man vergebens.

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AFFIRMATION TROTZ WIDERSPRUCH

fasst und hergestellt werden; so wie das weiter oben bereits in der Metapher von der geklebten Vase zum Ausdruck kommen sollte. Das integre Leben muss sich offen halten für die Möglichkeit existenzieller Risse, die zwar zu kitten, aber niemals gänzlich zu beseitigen sind.

3.5 Angst und Selbstfremdheit: Die emotionale Kehrseite der Innenansicht Obwohl die Idee der Ganzheit niemals vollständig zu realisieren sein wird, muss ein entsprechendes Streben nicht schon gänzlich ins Leere laufen. Annäherungen an das utopische Ziel sind möglich. Bereits in Kapitel 2 war die Rede davon, dass uns eine "Stimmung" der Ganzheit und Unversehrtheit die zumindest relative Intaktheit des eigenen ethisch-existenziellen Lebenszusammenhangs enthüllen kann. Entsprechend gibt es Gefühlslagen im Leben, in denen uns eine entsprechende Sehnsucht als schmerzlich unerflillt zu Bewusstsein kommt. Dabei wird der betreffende Abstand vom Ideal der Ganzheit als ein emotionales Erleben von relativer Ganzheit bzw. Entzweiung spürbar, das über uns kommt, ohne dass wir darauf Einfluss hätten.R 7 Eben dieser Umstand, dass die zentrale Bedeutungsdimension der Ganzheit einen letztlich unverfügbaren emotionalen Gehalt aufweist, ist in der bisherigen Integritätsdebatte weitestgehend übersehen worden. 8REine Analyse personaler Integrität wird aber die Frage ihrer emotionalen Verankerung streifen müssen. Wendet man sich zunächst jenen Emotionen zu, die ein Indiz dafür sein können, dass Personen Integrität besitzen, so wäre zunächst an Gefühlslagen wie "Zufriedenheit", "Gelassenheit", "Stolz", "Wohlbefinden" oder "Glück" zu denken. Derart positive Gemütszustände stellen sich dann ein, wenn in autobionarrativen Selbstverständigungsprozessen die Einsicht dämmert, dass es das eigene Leben wert ist, gelebt und bejaht zu werden. Zu bedenken ist hierbei jedoch, dass der Besitz von Integrität von den Betroffenen keineswegs notwendig als positiv oder gar enthusiastisch erfahren werden muss. Selbst wenn wir von dem Umstand absehen, dass ein integres Leben immer auch Kosten und Mühen verursacht, so dass ein bestimmtes Maß an Schmerz, Mühsal, Leid oder gar Unglück 89 mit personaler Integrität verträglich ist, wird 87 Vgl. Wolf(1993a). 88 Eine Ausnahme ist Ramsay (1997). 89 Das Verhältnis von Integrität und Glück bzw. Unglück bedurfte einer längeren Erörterung. Glück kann ein Indiz daflir sein, dass eine Person Integrität besitzt. Zugleich wird ein ausreichendes Maß an Integrität Bedingung für ein glückliches Leben in dem Sinne sein, "daß nämlich solche Menschen weniger häufig einen Zusammenbruch haben oder Selbstmord begehen" (Williams 1979, S. 78). Dennoch können integre Menschen oft auch unglücklich sein, ja, ihre Integrität selbst mag ihnen Opfer abfordern, die ihrem Glück abträglich sind.

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die Stimmungslage der Ganzheit und Unversehrtheit oftmals lediglich eine Art emotionales /{quilibrium offenbaren, das zwar mit einer gewissen Zufriedenheit oder Gelassenheit einhergehen mag, dessen Qualität aber häufig erst dann "fühlbar" wird, wenn es verloren geht. Es ist ein weithin bekanntes Phänomen, dass Abweichungen vom emotionalen Gleichgewicht sogleich als Störungen empfunden werden, während das Gleichgewicht selbst rasch den Charakter des Selbstverständlichen annimmt. Daher ist es ratsam, von der Frage, welche positiven Emotionen mit dem integren Leben verknüpft sind, zu der gegenteiligen Frage überzugehen, welche negativen Gefühle mit ihrem Verlust einhergehen. Erinnern wir uns zunächst daran, dass dieses Kapitel von der Integrität als einem schwierigen Selbstverhältnis handelt. Emotionen, die sich aus unserem Umgang mit anderen Menschen ergeben, werden erst später zur Sprache kommen. Hier muss es primär um solche Momente der individuellen Selbstkonfrontation gehen, in denen eine Person spürt, dass sie selbst ihre Integrität in Gefahr bringt; z.B. dadurch, dass sie ihr ethisch-existenzielles Selbstbild derart kompromittiert, dass ihr die Gewissheit, ein Leben in Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit zu führen, ganz oder teilweise abhanden kommt. Fragt man nach jenem Gefühl, das einer Person auf elementarster Ebene anzuzeigen vermag, dass eine solche Gefahr besteht, so ist zuerst von "Angst" zu sprechen. 9° Führen wir uns folgende Situation vor Augen: Wiederholt wird ein junger Mann Ohrenzeuge von lautstarken Auseinandersetzungen in der Wohnung seiner Nachbarn. Dort wohnt ein kinderloses Ehepaar, das sich an glücklichere Tage kaum noch zu erinnern scheint. Neulich ist der junge Mann seiner Nachbarin im Hausflur begegnet. Ihr Gesicht wies deutliche Spuren von Misshandlung auf. Ihr Ehemann kommt zumeist spät und stets betrunken nach Hause. Oft kommt es dann zum Streit. Am heutigen Abend eskaliert die Auseinandersetzung. Einrichtungsgegenstände gehen zu Bruch. Die Frau ruft um Hilfe. Am liebsten würde der junge Nachbar sich schlicht die Ohren zuhalten, doch zugleich verspürt er den Drang und auch die Pflicht, etwas zu unternehmen. Er könnte die Polizei rufen. Aber vielleicht käme sie zu spät. Er könnte hinüber gehen und klingeln. Aber was erwartet ihn da? Der Mann verspürt ein heftiges Unbehagen, wägt ab, wird unsicher und ängstlich, stellt aber dennoch fest: Gar nichts zu unternehmen, käme nicht in Frage. Mit dem Wissen, dass womöglich Schlimmeres hätte verhindert werden können, würde der Mann "nicht leben" können. Er ist zwar nicht besonders mutig, aber feige will er auch nicht sein. So entscheidet er sich schließlich einzugreifen ... Zunächst ist eine wichtige konzeptionelle Vorentscheidung zu treffen. Aus existenzphilosophischer Sicht zählt die Angst zu jenen zentralen Erfah90 Dazu auch Beebe (1995), Kap. 2.

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ANGST UND SELBSTFREMDHEIT

rungen im Leben des Menschen, "von denen her Licht auf die Gesamtverfassung menschlichen Existierens fallt". 91 Damit ist mehr gemeint, als dass in Situationen der Angst konkrete Bedrohungen angezeigt wären, denen man ins Auge sehen, denen man aber auch ausweichen könnte. Nach einer berühmten Unterscheidung Soren Kierkegaards richtet sich "Furcht" auf ein jeweils bestimmtes, bevorstehendes Übel, während "Angst" als eine vermeintlich gegenstandlose und zunächst eher unbestimmte Befindlichkeit verstanden werden muss. 92 Machen wir uns das an unserem Beispiel klar: Der junge Mann mag Furcht vor den negativen Konsequenzen empfinden, die sich aus seiner Einmischung in die Angelegenheiten seiner Nachbarn ergeben mögen; man denke hier nur an die Gefahr, dass der tollwütige Ehemann auch ihm Gewalt antun könnte. Dennoch scheint ein anders geartetes Unbehagen ihn weit stärker zu belasten als selbst noch jene Furcht vor körperlichen Verletzungen. Gemeint ist die Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen, sich dabei untreu zu werden, Rechtschaffenheit einzubüßen, in Desintegration zu verfallen oder auch an Intaktheit einzubüßen. Sein Leben als Ganzes steht in Frage. Ihm droht ein Selbstverlust, der jede konkrete Befürchtung noch übertrifft, insofern er einem ethisch-existenziellen Absterben gleichkäme. 93 Es war bekanntlich Martin Heidegger, der von der Angst als einer "ausgezeichnete Befindlichkeit" sprach, mit der die Möglichkeit einer "Entschlossenheit" des Strukturganzen menschlichen Daseins einhergehe. 94 In der Angst, so Heidegger, wird das Dasein auf eine Weise mit sich selbst konfrontiert, in der sich das eigene "In-der-Welt-sein als Ganzes" offenbart. Situationen der Angst stellen insofern einen Ganzheitsbezug zur eigenen Existenz her, als in ihnen eine doppelte Sorge um das Leben insgesamt aufbricht. Einerseits muss Angst als massives Unbehagen angesichts der "Unheimlichkeit" einer Welt verstanden werden, der wir ohnmächtig und schutzlos ausgeliefert sind. Anderseits resultiert aus dieser Vereinzelung immer auch "die Freiheit des Sichselbst-wählens und -ergreifens". Angstvolle Situationen lassen den Menschen erkennen, dass es einzig an ihm liegt, sein Dasein zu fuhren, und dass er gänzlich frei ist, jene Orientierungspunkte zu markieren, die ihn dabei leiten sollen. Der Mensch ist, wie Jean-Paul Sartre95 in unmittelbarer Nähe zu Heidegger sagt, zur Freiheit "verurteilt": Wir Menschen sind restlos für unser Leben verantwortlich, haben buchstäblich die Qual der Selbstwahl und laufen dabei ständig Gefahr, mit unseren Lebensentwürfen zu scheitern und in völlige Bedeutungslosigkeit, das "Nichts", wie Sartre sagt, zurückzufallen. In der 91 Hinrich Fink-Eitel (1993): "Angst und Freiheit", in: Fink-EitelfLohmann (1993), S. 57. 92 Soren Kierkegaard (1844/1992): Der BegriffAngst, Stuttgart: Reclam. 93 Vgl. Williams (1984c), bes. S. 22. 94 Martin Heidegger (1927/1993): Sein und Zeit , Tübingen: Niemeyer, bes. § 40. 95 Sartre (1952/1991), bes. S. 79-118 u. 950-955. 175

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Angst "ängstigt sich die Freiheit vor sich selbst", weil die Notwendigkeit spürbar wird, die nackte Existenz mit "Essenz" aufzufüllen und sich dadurch auf zukünftige Lebenswege festzulegen: "Die Angst ist die Besorgnis, mich bei dieser Verabredung nicht anzutreffen, gar nicht mehr hingehen zu wollen." 96

In der Regellassen sich angstvolle Momente als ein mehrphasiges Geschehen rekonstruieren, in dem sich eine zunächst konkrete Furcht zu existenzieller Angst ausweitet: Zuerst furchtet sich die betreffende Person vor einer konkreten Gefahr oder Entscheidungssituation ("Soll ich tatsächlich bei den Nachbarn klingeln gehen?"). Sodann wird ein Fluchtbegehren spürbar ("Ich könnte einfach weghören!"). Schließlich erfährt die Person eine Hemmung dieses Fluchtbegehrens in Gestalt drohender Ausweglosigkeit ("Das würde ich mir nie verzeihen!"). Eben dieser Moment, in dem die Notwendigkeit zum eigenen Handeln erkannt wird, ist genuiner Entstehungsort der Angst. Mit dem drohenden Selbstverlust wird eben jene Freiheit spürbar, von der es heißt, sie mache Angst. Die Befindlichkeit der Angst muss daher als fundamentaler Grundzug menschlichen Seins zur Freiheit aufgefasst werden. Der Mensch ängstigt sich weniger vor dem völligen Nichts als vielmehr vor der Notwendigkeit, sich wählen zu müssen, und der Möglichkeit, dabei kläglich scheitern zu können. Die sich ängstigende Person erfährt ihre Angst als "unheimliche Überlassenheit an sich selbst". 97 Mit der Einsicht, dass sie sich als unvertretbare Einzelne letzten Endes an nichts und niemanden wird halten können, ist ihr auf beklemmende Weise der ethisch-existenzielle Boden unter den Füßen weggezogen. Psychoanalytisch gesehen, ist diese Form der Existenzangst "Signalangst" und "Trennungsangst" in einem, wenn auch auf ganz spezifische Weise. 9R Zum einen wird der sich ängstigende Mensch auf das Risiko eines Abweichens vom existenziellen Kurs bis hin zur Gefahr eines völligen Orientierungsverlustes aufmerksam. Die Angst erinnert ihn daran, dass er ethischexistenzielle Selbstverpflichtungen eingegangen ist. Insofern setzt sie also ein Signal. Zugleich aber handelt es sich um Trennungsangst, denn sie droht dem sich ängstigenden Menschen damit, dass er sich selbst verloren gehen wird: "Now the fact that a person betrays hirnself entails, of course, a mpture in his inner cohesion or unity; it means that there is a division within his will. There is, I believe, a quite primitive human need to establish and to maintain volitional unity. Any

96 Sartre (1952/1991), S. 102. 97 In diesem Absatz folge ich Fink-Eitel (1993). 98 Siehe Beebe (1995), S. 34ff.

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threat to this unity - that is, any threat to the cohesion of the self- tends to alarrn a person and to mobilize him for an attempt at »self-preservation«."99 Antworten auf derartige Bedrohungen sind Entscheidungen, die sich, wie immer rasch, aus autobionarrativen Selbstverständigungsprozessen ergeben müssen und mit denen eine Person ihre Angst zu bewältigen und ihre Intaktheit wiederherzustellen versucht ("Ich werde klingeln gehen!"). Wer seiner Angst dauerhaft aus dem Weg geht, indem er Entscheidungen dieser Art meidet, wird am Ende auch sich selbst aus dem Weg gehen. An klinischen Beispielen von Patienten, die chronisch von Ängsten und Panikattacken geplagt werden, lässt sich das zeigen. Nicht selten panzern sich angstkranke Personen mit einer hypersensiblen Abwehrhaltung gegen jegliche Art von Angst auslösender Bedrohung, was Psychotherapeuten von einer "Angst vor der Angst" sprechen lässt. 100 Zunehmend werden all jene Orte, Situationen und Lebensvollzüge vermieden, in denen Angst aufkommen könnte. Die quälende Befindlichkeit selbst verschwindet damit freilich nicht. Wie man aus psychoanalytischer Theorie und Praxis weiß, sucht sie sich neue Wege oder bleibt unterschwellig präsent und auf vielfältige andere Weisen destruktiv wirksam. 101 Dauerhaft muss ein Verhalten, das um jeden Preis Angst zu vermeiden sucht, zu einem gravierenden Verlust an Reflexions- und Handlungsfähigkeit führen. Man stelle sich nur den gar nicht unwahrscheinlichen Fall vor, dass sich der junge Mann aus unserem Beispiel aus Angst vor der Konfrontation mit seinen Ängsten in seiner Wohnung zunehmend "unheimlich" fühlt. Schließlich wird er sich kaum noch nach Hause trauen und am Ende eine neue Wohnung suchen. Bald wird der wahre Grund dafür vergessen sein. Sein diffuses Unbehagen und den Schweiß auf seiner Stirn bei jedem noch so kleinen Geräusch aus der neuen Nachbarwohnung mag er sich nicht erklären können. Vermutlich wird er sich dann abzulenken versuchen. Aus existenzphilosophischer Sicht würde man sagen, der junge Mann sei vor der Verantwortung für seine Freiheit geflohen und falle zunehmend dem Nichts anheim. Aus psychotherapeutischer Perspektive heißt es: Die Verdrängung der ursprünglichen Angst hat zur Symptombildung geführt und ein unterschwellig depressives Leiden hinterlassen. Für die Integritätsanalyse ist wohl vor allem von Bedeutung, dass Personen, die ihre Angst um jeden Preis zu meiden suchen, zunehmend den eigenen Lebenszusammenhang als undurchsichtig, unheimlich und fremd erfahren. Der allein autobionarrativ zu integrierende Lebensvollzug gerät außer Kontrolle. Vielfältige Symptombil99 Harry G. Frankfurt (1999d): "Autonomy, Necessity, and Love", in: ders. (1999b). 100 Dazu exemplarisch Doris Wolf (1989): .A"ngste verstehen und überwinden, Mannheim: PAL. 101 Einschlägig ist Fritz Riemann (1961/1995): Grundformen der Angst, München: Ernst Reinhardt.

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dungen, weiterer Verdrängungsaufwand und ein schleichend anwachsendes Unbehagen sind die Folge. Die Angst übernimmt die Macht über das Individuum, das "sich dabei selbst entfremdet". 102 Wenn Angst den drohenden Verlust der Integrität signalisiert, dann deutet ein diffuses Gefühl der Selbstfremdheit auf deren bereits eingetretenen Verlust hin. Zwar wird in der philosophischen Debatte unter "Selbstfremdheit" gemeinhin kein Gefühl, sondern eher ein Zustand der Depersonalisation verstanden, der eine wachsende Unfahigkeit des Subjekts anzeigt, sich weiterhin mit sich selbst identifizieren zu können. 103 Bislang jedoch fehlt ein passendes Wort für den emotionalen Gehalt derartiger Erfahrungen und Vorgänge, im Zuge derer sich die zunächst ja häufig berechtigte Angst vor dem Zerfall der eigenen Integrität in eine massive, irrationale Konfusion und Desintegration verwandelt. Das Phänomen Selbstfremdheit ist als Resultat einer Flucht vor der Angst oder besser noch als deren Abspaltung zu deuten. Angesichts des nicht selten unerträglichen Unbehagens, das in Momenten der Angst spürbar wird, kommt der Wunsch auf, diesem Unbehagen auszuweichen, es zu verdrängen oder aber in mentale Zustände zu entkommen, in denen es sich verflüchtigt. Die Betroffenen stürzen sich in Ablenkung, Geschäftigkeit, Konformität oder Selbsttäuschung. Unterhalb der Bewusstseinsschwelle bleibt die Angst zwar latent wirksam, die Oberfläche jedoch glättet sich. Zurück bleibt eine durch zahlreiche Symptombildungen verschanzte Beklemmung. Die Betroffenen fühlen sich nicht mehr wohl "in ihrer Haut". Der Kontakt zum eigenen Selbst bricht ab, die Integritätsmodi Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit gehen verloren. Die Empfindungen, von denen Vorgänge der Selbstentfremdung begleitet sind, lassen sich anhand der vier genannten Integritätsdimensionen alltagssprachlich veranschaulichen: Eine Person, die sich selbst untreu wird, mag sagen: Ich bin nicht mehr mit mir im "Einklang". Ein Mensch, der an seiner Rechtschaffenheit zweifelt, formuliert es so: Ich bin nicht mehr mit mir im "Reinen". Eine Person, deren Integriertheit zerfällt, äußert etwas wie: Ich bin "gespalten". Ein Mensch, dem die Stimmung der Ganzheit abhanden kommt, wird meinen: Ich bin nicht mehr "eins" mit mir. Insgesamt mag es so aussehen, als seien beide Gemütszustände - Angst und Selbstfremdheit - per se als negative Emotionen einzustufen. Doch auch ihnen lässt sich, ähnlich wie schon den zuvor diskutierten drei Integritätsaporien, etwas Positives abgewinnen. Starke Gefühle dieser Art signalisieren den Betroffenen, dass ihr Leben aus den Fugen gerät und die eigene Integrität gefahrdet oder bereits verloren gegangen ist. Gegenüber einfachen körperlichen Empfindungen wie Schmerz oder Lust zeichnen sich Emotionen durch Intentionalität und Reflexivität aus: Sie machen uns auf das aufmerksam, woran 102 Michael Theunissen (1993): "Melancholische Zeiterfahrung und psychotische Angst", in: Fink-Eitel/Lohmann (1993), S. 344. 103 Vgl. Jaeggi (2005).

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uns liegt. 104 Was starke negative Gefühle, wie eben Angst und Selbstfremdheit, dem Menschen anzeigen, das ist das fundamentale Bedürfnis nach Wiederherstellung einer intakten Einheit des ethisch-existenziellen Lebenszusammenhangs. Das vermeintlich "unteilbare" Individuum ist so unteilbar nicht. Indem uns Angst und Selbstfremdheit dazu anhalten, Prozesse der Reintegration in Gang zu bringen, weisen sie uns in die Schranken unserer Selbstkontrolle. 105 Damit sind wir auch hier auf die aporetische Grundstruktur integren Lebens zurückverwiesen: Auch wenn es sich im Einzelfall um unangenehme bis desaströse Empfindungen handelt, auf die man gern verzichten würde, setzt personale Integrität doch sowohl ein gewisses Maß an Angstbereitschaft als auch die Empfänglichkeit für das Gefühl der Selbstfremdheit voraus. Die integre Person ist zwar nicht schon zur Affirmation einzelner Zustände der Angst und Selbstfremdheit angehalten - auch diese werden eo ipso abgelehnt -, so doch aber zur Akzeptanz jener anthropologischen Kontingenz, der wir in derartigen Zuständen gewahr werden. Personale Integrität verfolgt nicht das Ziel, Gefühle der Angst und Selbstfremdheit gänzlich vermeiden oder eliminieren zu wollen. Sie hat vielmehr die Tatsache ethisch-existenzieller Kontingenz und Unsicherheit in das eigene Selbstverständnis einzutragen und sich darauf einzustellen. 106 Fraglich mag an dieser Stelle sein, woher das emotionale Bedürfnis nach Sicherheit und Ganzheit, das uns in Situationen der Angst und der Selbstfremdheit schmerzlich zu Bewusstsein kommt, denn nun ursprünglich stammt. Dass Menschen in der Regel Angst und Selbstfremdheit vermeiden wollen und stattdessen Zustände der Sicherheit und Ganzheit vorziehen, erklärt sich nicht von selbst. Ist uns dieses Streben von Natur aus eigen oder verdankt es sich den vielen schmerzhaften Verlusterfahrungen, die wir im Leben sammeln? Der nun folgende Rekurs, der uns zu den lebensgeschichtlichen Wurzeln jener Sehnsucht nach Sicherheit, Ganzheit und Unversehrtheit zurückführen soll, wird deutlich werden lassen, dass die Antwort paradoxerweise lauten muss: sowohl als auch. Das Streben nach Integrität, das uns als Sehnsucht nach Ganzheit und Unversehrtheit zu Bewusstsein kommt, ist dem Menschen, wie die folgenden Überlegungen zeigen werden, buchstäblich "angeboren".

104 Anthony Kenny (1963): Action. Emotion and Will, London: Routledge. 105 Vgl. Martha Nussbaum (2000): "Emotionen und der Ursprung der Moral", in: Wolfgang Edelstein/Gertrud Nunner-Winkler (Hg.) (2000): Moral im sozialen Kontext, Frankfurt/Main: Suhrkamp, bes. S. 101. 106 Vgl. Emil Angehm (1993): "Das Streben nach Sicherheit", in: Fink-Eitel/ Lohmann (1993).

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"Mit Klapsen und unter dem intimen Applaus der Geburt wurde ich in die Welt gedrängt - ich meine, mich daran zu erinnern. Nun, jedenfalls habe ich davon ein Innenbild - von dem blinden Jungen, in seinem rosigmilchig-grauwandigen (und salzigen) Aquarium, dem umgestürzten Aquarium, von dem Aufruhr in der Scheune von Frau ... von den phantastisch schlampigen Umständen, unter denen man seine Existenz antritt, erstmals gewählt wird; wie man mit seinen Sinnen, zum Brüllen gereizt, aus der leuchtenden, wunden Schmiere in und auf die unerklärte Liste von Neuern ringsumher, von überwältigend Unbekanntem eingeht, ungläubig, erschüttert, furchtbar beschmutzt vom Licht der Fakten. Ich meine, mich an den Atem zu erinnern, der in mir lauerte und dann jaulend ausbrach: an einen Anfang von solcher Unwiderruflichkeit." Harold Brodkey: Die flüchtige Seele

"Wir rennen nicht dem Tod entgegen, wir fliehen vor der Katastrophe der Geburt." Emile M. Cioran: Vom Nachteil, geboren zu sein

Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehrtheil oder "Die Schwierigkeit zu sagen, was fehlt"

Wiederholt haben die ersten drei Kapitel die unterschiedlichen Verwendungsweisen des Integritätsbegriffes in die Idee der Ganzheit und Unversehrtheit münden lassen. Hinter dieser Vorstellung war nicht bloß ein akzidentieller oder beiläufiger Wunsch des Menschen vermutet worden, sondern ein existenziell tief verwurzeltes, primäres Streben. Es zielt auf die Möglichkeit eines unverzerrten Selbstverhältnisses und auf die psychophysische Gewissheit eines insgesamt intakten Lebenszusammenhangs. Wenn nun die Annahme einer mit diesem Bedürfnis verbundenen Sehnsucht nicht vollends von der Hand zu weisen ist, so ist nicht nur fraglich, auf was genau dieses Streben zielt, sondern auch, woher es ursprünglich stammen mag. Nehmen wir dazu zunächst einen ideengeschichtlichen Umweg. Man nennt die philosophische Tradition, die es vorwiegend mit Fragen nach der Struktur und der Beschaffenheit menschlicher Selbstverhältnisse zu tun hat, für gewöhnlich Philosophie des Subjekts. Theorien des Subjekts bzw. der Subjektivität haben es mit jener Instanz in uns Menschen zu tun, die wir das "Bewusstsein", das "Selbst" oder auch das "Ich" nennen und von der es heißt, dass sie sich erkennend und reflektierend zur Welt, vor allem aber zu sich selbst zu verhalten vermag. Ihren historischen Siegeszug haben philosophische Theorien des Subjekts bekanntlich in der zweiten Hälfte des letzten Jahrtausends angetreten. Mit Rene Descartes "cogito ergo sum" setzte eine Denkbewegung ein, die später im Deutschen Idealismus gipfeln sollte und die es sich zum Ziel gesetzt hatte, das sich selbst erkennende Subjekt in den Mittelpunkt der Welt zu rücken. Die gemeinsame Grundannahme lautete wie folgt: Das sich selbst gegenüber transparente menschliche Bewusstsein entwirft die zu erkennende Welt aus eigener Vorstellungskraft. Damit war eine provokative Spekulation in die

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REKURS: DIE SEHNSUCHT NACH UNVERSEHRTHEll

Welt gesetzt, die von Kant seinerzeit als kopernikanische Wende 1 der Philosophie gefeiert wurde, die aber sofort auch auf heftigsten Widerstand stieß. In den Augen ihrer Gegner kam diese Provokation einer anmaßenden und frevlerischen Herabstufung der Welt zum bloßen Objekt menschlicher Geistesschöpfung gleich. Von nun an, so die bis heute anhaltende Kritik, saß ein gottesähnliches, selbstmächtiges und sich "autonom" dünkendes Subjekt auf dem philosophischen Thron, das für sich beanspruchte, die Welt denkend zu erschaffen und sich selbst dabei vollkommen durchsichtig zu sein. 2 Nun hat aber spätestens das 20. Jahrhundert für mindestens zwei schwere Erschütterungen jenes neuzeitlichen Urvertrauens in die Kraft der Subjektivität gesorgt, deren Nachbeben bis heute zu spüren sind. 3 Die erste dieser beiden subjektkritischen Denkbewegungen geht auf den Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, zurück. So sehr die "Entdeckung" des menschlichen Unbewussten inzwischen auch in unser psychologisches Alltagsverständnis eingesickert sein mag, zu Beginn des 20. Jahrhunderts muss sie revolutionär gewirkt haben. Die metapsychologische und im Rahmen von Freuds therapeutischer Arbeit dann auch bestätigte Annahme von Erinnerungen, Motiven und Trieben des Menschen, die jenseits des zugänglichen Bewusstseins wirken, weckte unwiderruflich den Verdacht, dass sich das Subjekt offenbar doch nicht in der Weise als selbstmächtig und transparent erweisen würde, wie es die idealistische Philosophie der Subjektivität in Aussicht gestellt hatte. Nach den tiefgreifenden "Kränkungen", die der Menschheit durch die Entdeckungen von Kopemikus und Darwin zugefügt worden waren, musste sich der Mensch nun außerdem noch eingestehen, dass das Subjekt nicht einmal mehr als "Herr im eigenen Hause" gelten durfte. 4 Peter Sloterdijk bebildert diesen dramatischen Denkumbruch wie folgt: "Wenn die Gespenster herrschen, beginnt die Epoche der Psychologie. Psychologie ist selbst nichts anderes als eine Philosophie, die Buße tut - Buße flir die gespenstischen Folgen des lch-bin-Sagens. [... ] Mit ihr treten das abgedunkelte Glühen und das todgedachte Sein wieder auf die Bühne der Betrachtung- aber sie kommen, wie es ihrer Herabwürdigung entspricht, nicht über die Haupttreppe des Ich-denke empor, sondern über die verpönten Hinteraufgänge des Bewußtseins. Unruhig wandern nichtfeststellbare Schmerzen durch die leeren Gänge des Körpers, und Träume zie-

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Hier darf der etwas altkluge Hinweis erfolgen, dass die kopernikanische Wende der Philosophie im Grunde eine anti-kopernikanische Wende gewesen ist, da die von Kopernilms zuvor bewirkte Revolution naturwissenschaftlichen Denkens durch eine Dezentrierung menschlicher Weltsicht charakterisiert war. Zur Tradition der Kritik an der Subjektphilosophie siehe Jürgen Habermas (1985a), Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Im Folgenden beziehe ich mich vor allem aufHonneth (1993a). Sigmund Freud (1916/2000): Vorlesungen zur Einfuhrung in die Psychoanalyse, Studienausgabe, Bd. I, Frankfurt/Main: Fischer, S. 284.

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hen wie schwer beladene Karawanen über den zwielichtigen Horizont. Je mehr Menschen sich mit einem Ich denke aus der Rüstkammer der modernen Ideologien bewaffnen, desto mehr Psychologie muß in dieser Gesellschaft aufkommen, um den Gespensterverkehr zu regulieren." 5 Aber kommen wir zunächst zur zweiten der oben angekündigten Erschütterungen subjektphilosophischen Denkens. Als sei die Entzauberung des modernen Individuums durch den Nachweis eines dunklen, wirkmächtigen Unbewussten bei weitem noch nicht hinreichend, wurde ihm etwa zur selben Zeit selbst noch die Autorschaft seiner bewussten Gedanken, Äußerungen und Handlungen streitig gemacht. Gemeint ist hier die sich im Anschluss an Ferdinand de Saussure und dann auch an den späten Wittgenstein formierende Front aus Strukturalismus und Sprachphilosophie, die den Verdacht aufkommen ließ, dass das einzelne denkende, sprechende und handelnde Individuum überhaupt nicht länger als autonom sinnstiftend angesehen werden könne. In seiner radikalsten Form wuchs sich dieser Zweifel zu der Überzeugung aus, dass das menschliche Subjekt letztlich nichts anderes sei als das Produkt ihm gänzlich fremder Mächte, eine Art Knotenpunkt gesellschaftlicher Strukturen und Sinnzusammenhänge, durch die es insgesamt und unwiderruflich festgelegt sei. 6 In abgeschwächter Form schlug und schlägt sich die gemeinte Skepsis bis heute in entwicklungspsychologischen Ansätzen nieder, die davon ausgehen, dass sich das Subjekt auf dem Wege seiner Individuierung zunächst einem Prozess der- sprachlich vermittelten - Vergesellschaftung zu unterwerfen habe, dem es das Vermögen der Autonomie überhaupt erst verdanke und von dem es zeitlebens geprägt bleibe. 7 Kritische Denkbewegungen dieser Art, so erneut Sloterdijk, lösen endgültig "den individualistischen Schein auf, der die Einzelnen als substantielle IchEinheiten auffassen möchte, die wie die Mitglieder eines liberalen Clubs auf freiwilliger Basis in Verkehr mit anderen träten, nachträglich, willkürlich, widerruflich, wie es der Ideologie der individualistischen Vertragsgesellschaft entspricht. Wo solche Individualismen auftauchen, dort läßt sich mit hoher psychologischer Evidenz auf eine freiheitsneurotische Grundstellung schließen; für die ist es charakteristisch, daß ein Subjekt sich nicht als enthaltenes, begrenztes, umgriffenes und besetztes denken kann. Es ist die Basisneurose der akzidentellen Kultur, von einem Subjekt träumen zu müssen, das alles beobachtet, benennt, besitzt, ohne sich von etwas enthalten, ernennen, besitzen zu lassen." 8

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Peter Sloterdijk (1985): Der Zauberbaum, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 283f. Gemeint sind so genannte poststrukturalistische Ansätze a Ia Foucault. Hier ist vor allem an Theorien im Anschluss an George H. Mead zu denken. Sloterdijk (1998), S. 85.

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Rückblickend muss allerdings festgestellt werden, dass sich die gemeinten Brüche im modernen Subjektdenken keineswegs so abrupt vollzogen haben, wie es hier zunächst erscheinen mag. Der Prozess der modernen Unterminierung des Subjekts tritt mit der Psychoanalyse und der Sprachphilosophie zwar unabweislich in eine entscheidende Phase ein, er hat jedoch auch eine wichtige Vorgeschichte. Während sich die tiefenpsychologische Aufdeckung des Unbewussten bereits in der deutschen Romantik ankündigt, etwa bei Friedrich Schlegel oder auch bei E.T.A. Hoffmann, findet sich die Idee sprachlich vermittelter Intersubjektivität in entscheidenden Hinsichten bei Johann Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt vorgezeichnet. Es scheint, als sei die moderne Subjektphilosophie bereits sehr früh von einer skeptischen Gegenströmung begleitet gewesen, die das selbstherrliche, autonome Subjekt vom Thron hat stürzen wollen. Insofern sollten subjektkritische Denkbewegungen der genannten Art eher als "Begleitmusik" modernen Subjektdenkens von Anfang an- oder jedenfalls beinahe von Anfang an- und weniger als schlagartige Denkrevolutionen verstanden werden. 9 Wenn wir nun diese beiden skeptischen Denkströmungen an die uns im vorliegenden Rekurs ja primär beschäftigende Problematik eines anthropologisch tiefsitzenden Bedürfnisses nach subjektiver Ganzheit und Unversehrtheit herantragen, so befinden wir uns sogleich in einem eigentümlichen Spannungsfeld. Einerseits werden wir von jener doppelten Unterminierung klassischer Subjektvorstellungen angezogen, die man verschiedentlich auch als "Dezentrierung" des Subjekts bezeichnet hat. 10 Vom anderen Pol jedoch scheint noch immer die inzwischen nahezu antiquiert und nur wenig progressiv anmutende Idee "intakter Subjektivität" eine Art Restmagnetismus auszustrahlen. Und auch die ersten drei Kapitel dieses Buches dürften längst den Eindruck bestätigt haben, dass im Folgenden an der Annahme einer fundamentalen Sehnsucht nach Ganzheit und Unversehrtheit festgehalten werden soll, auch wenn inzwischen zahlreiche Theorieansätze aus der angedeuteten Dezentrierung des Subjekts den folgenreichen Schluss haben ziehen wollen, dass gerade in der Uneinheitlichkeit, Nicht-Integriertheit oder gar Zerrissenheit so genannter Patchwork-Identitäten das eigentliche Potenzial kreativer Selbstschöpfungen zu lokalisieren wäre. 11 Nicht zuletzt, weil derartige Überlegungen vorschnell und gefährlich nah an eine unkritische Affirmation von Phänomenen heranreichen, die im Bereich klinisch-psychologischer Forschung unter dem Stichwort "multipler Persönlichkeiten" als tiefgreifende und krankhafte Persönlichkeitsstörungen verhandelt werden, soll hier der Versuch unternommen werden, auf der existenziellen Dringlichkeit eines 9 Diesen Hinweis verdanke ich Beate Rössler. 10 Dazu Honneth (1993a). 11 Vgl. Harald Wenzel ( 1995): "Gibt es ein postmodernes Selbst?", in: Berliner Journal für Soziologie, 1/1995. 186

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subjektiven Bedürfnisses nach Ganzheit und Unversehrtheit zu beharren. Dennoch werden wir zugleich auch die oben umrissene Kritik am idealistischen Subjekt teilen. Worum es im Folgenden gehen muss, das ist der Versuch, jene doppelte skeptische Einsicht in die unbewusste, fremdgesteuerte Seite menschlichen Subjektseins zum einen, in deren vorgängig intersubjektive Verfasstheit zum anderen mit der Idee eines tiefsitzenden Wunsches nach Integrität zu vermitteln. Dies wird nur dann gelingen können, wenn wir die genannten Zweifel an der Selbstmächtigkeit moderner Subjektivität konzeptionell so in die Integritätsanalyse einbinden, dass sie sich am Ende nicht etwa als Beschränkungen integren Personseins, sondern vielmehr als deren konstitutive Bedingungen erweisen. Wenn wir "den Spieß umdrehen" und das menschliche Subjekt samt seines Bedürfnisses nach Integrität aus den doppelten Wirren des Unbewussten und der Intersubjektivität zuallererst hervorgehen lassen, kann der Verdacht, die spätmoderne Dezentrierung des Subjekts ziehe unweigerlich die Preisgabe jeder Form von Ganzheitsdenken nach sich, ausgeräumt werden. 12 Mehr noch: Durch diesen Schritt wird eine angemessenere Idee integren Subjektseins überhaupt erst in den Blick kommen können. Die entscheidende These wird lauten: Das individuelle Subjekt mit seiner Sehnsucht nach Ganzheit und Unversehrtheit muss sowohl als Reaktion auf ein zu kanalisierendes Unbewusstes wie auch als Antwort auf ein übergreifendes Interaktionsgeschehen verstanden werden. Subjekte, die nach Integrität streben, sind immer schon in eben diesem doppelten Sinne Inter-Subjekt, d.h. Subjekte "zwischen" anderem und anderen. Im Zuge der Explikation dieser These wird allerdings der Umstand Berücksichtigung finden müssen, dass wir die in biographischer Hinsicht entscheidende Szenerie, mit der einsetzt, was Subjektwerdung oder auch "Individualisierung" genannt wird, gegenüber den allermeisten Theorien der Subjektivität vorzudatieren haben. Die Schwierigkeit jedoch, diesen Zeitpunkt genauer zu bestimmen, wird als "Schwierigkeit zu sagen, was fehlt" erkennbar werden. 13 Der vorliegende Rekurs nimmt vier Stufen mit ansteigendem Skurrilitätsgrad: Zunächst soll der Vermutung nachgegangen werden, dass sich das Subjekt samt seiner Sehnsucht nach Ganzheit radikalen und dramatischen Trennungs- und Verlusterfahrungen in frühester Kindheit verdankt (1). Anschließend soll anschaulich werden, wie diese frühkindlichen Traumata schon bald ins autobionarrative Abseits geraten, indem sie - mitsamt der Erinnerung an einen vorausgehenden, vergleichsweise paradiesischen Zustandins Unbewusste abgedrängt werden, wo sie gravierende und untilgbare Spuren hinterlassen (2). Auf verstörende Weise wird sich dann zeigen, dass die

12 Vgl. Honneth (1993a). 13 Dazu Sloterdijk (1998), S. 466ff.

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Idee der Intersubjektivität in eben diesen verdrängten Erinnerungen von Beginn an auf ganz eigentümliche Weise enthalten und wirksam ist (3). Von dort aus lässt sich eine erste Brücke zurück zur sozialpathognostischen Begründungsproblematik schlagen, indem ein gesellschaftskritischer Ansatz umrissen wird, der soziale Missstände an Verletzungen des individuellen Bedürfnisses nach Intaktheit misst (4). Am Ende dieses Rekurses müssen die bis dahin angestellten Überlegungen zur Sehnsucht nach Ganzheit dann ausdrücklich an jenen komplexen Integritätsbegriff zurückgekoppelt werden, der in der ersten Hälfte dieses Buches Gestalt angenommen hat (5).

1. Das Trauma der Trennung Jeder Versuch, sich an eben jene Stadien und Situationen des Lebens zu erinnern, in denen die Sehnsucht nach Ganzheit und Unversehrtheit aufgekommen sein mag, verliert sich in der autobionarrativen Nacht frühester Kindheitstage. Wer diese Sehnsucht verspürt, möchte fast glauben, sie sei immer schon da gewesen, in jedem Fall jedoch sehr früh. Der in autobionarrativer Hinsicht blinde Fleck in der Rückschau auf die Anfänge der eigenen Lebensgeschichte lässt zunächst drei Deutungen zu: (a) Das Bedürfnis nach Intaktheit ist eine natürliche, anthropologische Konstante, d.h. genetisches oder auch phylogenetisches Erbgut, mit dem wir als Menschen, ähnlich wie mit unseren Reflexen und Instinkten, zur Welt kommen. (b) Die gemeinte Sehnsucht ist nicht schon von Beginn an da, sondern wird im Laufe des Lebens erst noch erworben, indem der Mensch aus seinen zahlreichen negativen Schmerz- und Verlusterfahrungen allmählich das imaginäre Wunschbild einer demgegenüber vollständig intakten Existenz zusammensetzt. (c) Das Bedürfnis nach Ganzheit stützt sich auf eine tatsächlich vorhandene, positive Erinnerung an "bessere Tage", deren Unwiederbringlichkeit, nach Art eines Traumas, das gesamte spätere Leben überschattet und in eben jenem Streben nach Intaktheit sein stetes Echo findet. Mögliche Einwände gegen diese drei Ursprungsphantasien können selbstredend kaum weniger spekulativ und vage ausfallen als die darin enthaltenen Szenarien selbst. Dennoch scheint auf Anhieb sowohl gegen die an erster Stelle genannte Annahme einer anthropologischen Konstante als auch gegen die als zweites angeführte Behauptung einer negativen Wunschbildkonstruktion der, wie man es nennen könnte, "erlebte Erfahrungsgehalt" der hier ins Auge gefassten Sehnsucht zu sprechen. Was ist damit gemeint? Die beiden ersten Rekonstruktionsversuche gehen gemeinsam davon aus, dass sich die Idee der Ganzheit und Unversehrtheit einer Imagination verdankt. Im ersten Fall handelt es sich um ein angeborenes "Programm", das uns Menschen nach Art eines Instinktes antreibt, ohne dass wir genau wüssten, auf welches Ziel

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sich dieses natürliche Streben richtet und welche Gründe es dafür gibt. Im zweiten Fall haben wir es mit einem Konstrukt oder besser "Entwurf' zu tun, der zwar auf tatsächlich gemachten Erfahrungen beruht, der aber vor allem kontrastbildende Negativerfahrungen versammelt, deren positives Gegenbild zunächst bloß phantasiert wird. In jenen lebensgeschichtlichen Momenten jedoch, in denen sich das Begehren nach Ganzheit und Unversehrtheit regt, scheint eine -wenn auch blasse bzw. weitgehend unbewusste- "Erinnerung" an einen tatsächlich erlebten Zustand aufzuflackern, so als hallten besserer Zeiten nach, die in dicken biographischen Nebel getaucht sind. Eben das soll mit echtem Erfahrungsgehalt gemeint sein. Eben diese spekulative Annahme einer positiven Erinnerung an früheste Ganzheitserfahrungen soll im Folgenden an Plausibilität gewinnen. Das Bedürfnis nach Intaktheit wird als das Ergebnis einer traumatischen Einbuße an frühkindlicher Unversehrtheit gedeutet, die als "Phantasma" das gesamte spätere Leben des Menschen überschattet. Wer sich um erste metapsychologische und auch klinische Belege für eine derartige Auffassung bemüht, stößt unweigerlich auf das Feld der Psychoanalyse, die allerdings aus Sicht der Philosophie noch immer ein höchst umstrittenes Nischendasein führt. Manchmal mag es scheinen, als rege sich auf Seiten ihrer philosophischen Kritiker eine Art positivistischer Restaffekt Schließlich verfolgt die Psychoanalyse, insofern sie um Klärung der Genese frühester seelischer Verletzungen bemüht ist, das vermeintlich paradoxe Unterfangen, empirische Aussagen über seelische Vorgänge formulieren zu wollen, die sich aufgrund ihrer biographischen Verdunkelung einer wahrhaft empirischen Überprüfung zu entziehen drohen. Längst jedoch können sich die nun folgenden Überlegungen auf ein breites, wenngleich von Seiten der Philosophie noch vollkommen unzureichend wahrgenommenes Forschungsmaterial stützen, welches sich eingehenden psychologischen und medizinischen Studien verdankt. Beginnen wir mit der Frage nach eben jener dramatischen Urszenerie, die, so prägend sie auch gewesen sein mag, in aller Regel rasch wieder in biographische Vergessenheit gerät. Dazu muss die lebensgeschichtliche Kette von konkreten Schmerz-, Mangel- oder auch Trennungserfahrungen, die sich von Individuum zu Individuum nach Qualität und Quantität unterscheiden, bis zu jenem Punkt zurückverfolgt werden, an dem verallgemeinemde Aussagen über universelle Verlusterfahrungen möglich werden. In verblüffender Einstimmigkeit haben so unterschiedliche Autorinnen und Autoren wie die Anhänger der so genannten psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie 14 sowie der an Freud und Lacan geschulte Philosoph und Psychoanalytiker Comelius 14 Dazu der Überblick bei Jay R. Greenberg/Stephen A. Mitchell (1983): Object Relations in Psychoanalytic Theory, Cambridge: Harvard UP. Die Objektbeziehungstheorie hat den Perspektivenwechsel von der ödipalen hin zur präödipalen Beziehungsproblematik, d.h. vom Vater zur Mutter, eingeleitet. 189

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Castoriadis 15 darauf hingewiesen, dass es in der frühesten Kindheit eines jedes Menschen zu einer sukzessiven Folge letztlich vergleichbarer Brüche kommen muss, die von den ahnungslos Heranwachsenden nicht anders denn als dramatisch empfunden werden können. Gemeint sind jene schon bald nach der Geburt einsetzenden Erfahrungen des Kleinkindes, bei denen die temporäre Abwesenheit der schützenden und ernährenden Mutter wiederholt zu heftigen Unlusterfahrungen oder gar Angstzuständen führt. Man denke hier nur an wachsende Gefühle der Schutzlosigkeit, an erste Hungererlebnisse außerhalb des Uterus, an die Furcht, die das zeitweilige Verschwinden der Mutter auslöst, an den so genannten pavor nocturnus, jenen nächtlichen Schrecken, den das Kind erleidet, wenn es plötzlich in der Dunkelheit erwacht und niemanden um sich weiß, an Frustrationserfahrungen im Zuge der zunehmenden Aufmerksamkeitsverschiebung seitens der Mutter hin zu anderen familiären Bezugspersonen und vor allem auch an die wohl tiefgreifende Erfahrung einer dauerhaften Entwöhnung von der Mutterbrust Die Kette dieser und ähnlicher als nahezu universell einzustufender Verlusterfahrungen - so jedenfalls sehen es die Objektbeziehungstheoretiker und Castoriadis - führt beim Baby schrittweise zu einer schmerzhaften Desillusionierung. In seiner Not und Hilflosigkeit erfährt es sich mehr und mehr als grundverschieden von seiner Mutter, die plötzlich und zunehmend einen ganz eigenen, nicht immer nur fürsorglichen Willen offenbart. Als plausibel können sich derartige Überlegungen freilich erst dann erweisen, wenn man für den Anfang des menschlichen Lebens eine Phase der undifferenzierten Einheit, Symbiose oder auch "absoluten Abhängigkeit" zwischen Mutter und Kind annimmt. 16 In Momenten des Mangels und der tiefen Bedürftigkeit kommt dem Baby allmählich und schmerzhaft zu Bewusstsein, dass eine zuvor ungeschiedene "Monade" zerfällt, wie Castoriadis jene primär-intime Beziehung zwischen Kleinkind und Mutter nennt, die für das Baby "unzerstörbare Zusammengehörigkeit" sein soll und zugleich unerschöpfliche Lustquelle, "der nichts mangelt und die nichts zu wünschen übrig läßt". 17 Im Zustand eines "primären Narzissmus", wie es innerhalb der orthodoxen psychoanalytischen Theoriebildung oft heißt, muss der "omnipotente" Säugling seine eigenen Bedürfnisse, Regungen und Impulse als mit den entsprechenden Befriedigungsreaktionen seiner engsten Bezugsperson derart verschmolzen erlebt haben, dass sich zwischen dem "Hier" der Säuglingsrealität und der Objektivität eines wie auch immer gearteten "Dort" noch keine

15 Ich beziehe mich insbesondere aufCastoriadis (1984), Kap. VI. 16 Donald W. Winnicott (1994): Reifungsprozesse undfördernde Umwelt, Frankfurt/Main: Fischer, bes. S. 106ff. 17 Castoriadis (1984), S. 487.

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emotionale Kluft auftun konnte. 18 Von einer vom Säugling erlebten "Trennung" zwischen Kind und Mutter bzw. von einer erlebten Differenz zwischen Subjekt und Objekt, Selbst und Anderem, kann überhaupt erst ab dem Moment die Rede sein, wo das Baby mit der als bedrohlich empfundenen Realität einer temporär abwesenden Mutter aus einer als schützend erlebten Zwei-inEinheit gerissen wird. Erst dann, d.h. retrospektiv, erfährt sich der Säugling auf einen Erfahrungshorizont zurückgeworfen, dessen fragiler Bestand auf einen fürsorglichen Interaktionspartner angewiesen war und ist. Diese Erfahrung lässt einerseits das Bewusstsein einer konstitutiven Abhängigkeit aufkommen. Die Mutter wird zunehmend als etwas in der Welt erlebt, das sich der eigenen, vermeintlich omnipotenten Kontrolle entzieht. Zugleich aber können diese Vorgänge auch als erste bruchstückhafte Individualisierungsschübe gedeutet werden, d.h. als erste notwendige, wenn auch erzwungene Schritte des Kindes in die eigene Selbständigkeit: "Damit bildet sich für das Subjekt eine »Realität«, die unabhängig, aber auch formbar und zugänglich ist [... ]. Nicht minder als die unwiderstehliche Neigung der psychischen Monade, sich in sich selbst abzuschließen, ist dieser Bruch für das künftige Individuum konstitutiv. Wenn das Neugeborene zu einem gesellschaftlichen Individuum wird, dann deshalb, weil es diesen Bruch erleidet- und erfolgreich durchsteht, was erstaunlicherweise fast immer der Fall ist." 19 Während wir auf den Aspekt dieser schmerzhaften Inthronisierung des Subjekts erst später eingehender zu sprechen kommen werden, ist an dieser Stelle zunächst festzuhalten, dass wir es im Lichte der geteilten Überzeugungen von Castoriadis und der Objektbeziehungstheorie mit Trennungsschocks zu tun haben, die postnatal, d.h. nachgeburtlich, zu terminieren sind. Fraglich ist jedoch das Folgende: Wenn die hier angenommene Kette von Verlusten, die sukzessive zur Herausbildung separater Erlebniswelten führt, bereits bis zu überaus frühen Stadien des Mutter-Kind-Verhältnisses zurückverfolgt werden kann, und zwar bis kurz nach der Geburt, für welche Phase frühkindlicher Erfahrung soll dann die vermeintliche Monade oder Symbiose behauptet werden? Allein für jene äußerst kurze Spanne, die zwischen der Geburt des Kindes und seinen ersten Mangelerfahrungen liegt? Anders gefragt: Lässt sich der Zeitpunkt, an dem sich das Eindringenjenes wohl unterschiedenen "Anderen"

18 Vgl. Axel Honneth (2000d): "Objektbeziehungstheorie und postmoderne Identität", in: Psyche, 11/2000, bes. S. I 098. Das diesbezüglich von Sloterdijk gebrauchte Begriffspaar Hier/Dort trifft das aus Sicht des Säuglings vermutlich äußerst diffuse Gegenüber sehr viel besser als die vergleichsweise differenzierten Dichotomien Kind/Mutter, Subjekt/Objekt, Selbst/Anderer etc. 19 Castoriadis (1984), S. 499. 191

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derart manifestiert, dass es tatsächlich sichtbar zu einer gravierenden Trennung kommt, nicht doch noch etwas exakter bestimmen? Castoriadis und die Objektbeziehungstheorie übersehen den Umstand, dass die vermutlich folgemeichste aller frühkindlichen Desintegrationserfahren bereits hinter dem Neugeborenen liegt, wenn die nachgeburtliche Fürsorge einsetzt. 20 Es hätte nahegelegen, die analysierte Reihe kleinerer dramatischer Brüche bis zu eben jenem Punkt zurückzuverfolgen, an dem das psychophysische Desaster ursprünglicher Trennung augenfällig wird. Hier setzen Überlegungen ein, denen man heute z.B. bei Anhängern der Tiefenpsychologie Otto Ranks 21 oder auch in den philosophischen Arbeiten von Peter Sloterdijk22 begegnet. Die Rede ist von einem frühkindlichen Ereignis, mit dem in das Leben der Neugeborenen eine Art Blitz einschlagen soll, dem alle weiteren Katastrophen des Lebens wie ein verspäteter Donner folgen werden. Es ist das "Trauma der Geburt'm, dessen in psychischer Hinsicht katastrophale Nachwirkung sozusagen als Mutter aller späteren Verlusterfahrungen gedeutet wird. Wir haben zurückzublicken auf den in autobionarrativer Hinsicht denkbar weit entfernten Vorgang des Zur-Welt-Kommens, um jener, wie Sloterdijk sagt, biographischen "Nacht- und Nebelaktion" ansichtig zu werden, von der auf seltsame Weise "die meisten Menschen das Gefühl haben wollen, sie seien nicht selber dabei gewesen". 24 Nach Rank und Sloterdijk muss eine allgemeine "Verdrängung" von Erinnerungen rund um den je eigenen Geburtsvorgang angenommen werden. Nicht aber die Geburt als solche wird verdrängt- niemand wird ernsthaft von sich behaupten wollen, sie habe in seinem Fall nicht stattgefunden -, sondern lediglich der dadurch ausgelöste Trennungsschock. Die tiefenpsychologische Deutung lautet: Die Erfahrung, geboren zu werden, d.h. der erlebte Auszug aus der schützende "Höhle" des Mutterleibes, wird vom Säugling derart schmerzhaft durchlitten, dass die Erinnerung an dieses Ereignis schon bald aus den zugänglichen Bereichen des Bewusstseins ausgeschlossen wird, damit das damit verknüpfte Leiden als memoriertes nicht unentwegt reproduziert zu werden braucht. Deshalb, so heißt es, sei es kein Wunder, dass Menschen in ihrem späteren Leben dazu neigten, die zentrale Bedeutung menschlicher "Natalität"25 herunterzuspielen. Fraglich ist allerdings, warum die Geburt als 20 Im Lichte der nun folgenden Überlegungen ist das postnatale Versorgungsverhältnis nicht als Ursprung der Sehnsucht nach Ganzheit zu deuten, sondern als der erste intersubjektive Versuch, einen noch früheren Verlust zu kompensieren. 21 Ludwig Janus (Hg.) (1998): Die Wiederentdeckung Otto Ranksfür die Psychoanalyse, Gießen: Psychosozial. 22 Dazu insbesondere Sloterdijk (1988) sowie ders. (1998). 23 So der Titel des bahnbrechenden Hauptwerkes von Otto Rank (1924/1998): Das Trauma der Geburt, Gießen 1998: Psychosozial. 24 Sloterdijk (1988), S. 57ff. 25 Haunah Arendt (1958/1981 ): Vita Activa, München: Piper, bes. S. 15f.

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ein "traumatisches" Ereignis interpretiert werden muss, wenn doch kaum jemand schlechte Erinnerungen daran zu berichten weiß. Zunächst einmallässt sich folgender Hinweis ins Feld führen: Zwar gehen mit den Phänomenen Schwangerschaft und Geburt - zumindest in unserem Kulturkreis - zahlreiche romantisierende Verklärungen einher 6, doch wird von kaum jemandem ernsthaft bestritten, dass der Vorgang einer herkömmlichen Geburt (ohne Narkose und Kaiserschnitt) zumindest von den betroffenen Müttern als schmerzhaft und nicht selten sogar dramatisch erlebt wird. 27 Wenn dem aber so ist, stellt sich unweigerlich die Frage, warum derselbe Vorgang nicht auch vom Neugeborenen selbst, der ja, im Vergleich zur Mutter, völlig unwissend und unvorbereitet von der Geburt getroffen wird, als auf ähnliche oder noch viel stärkere Weise qualvoll empfunden werden soll. Dazu der Bericht einer Hebamme aus dem Jahre 1924: "Nachdem normalerweise ein gewisses Mißverhältnis zwischen Kopfgröße und Beckenausgang besteht, finden immer Drücken, Pressen und Formen des Kopfes statt, bis dieser dem Beckenausgang angepaßt ist und durchtreten kann [... ] Dabei wird der Kopf manchmal so schmal gedrückt und das innen befindliche Gehirn so zusammengepreßt, daß die Knochen sich zusammenschieben, die Zwischenräume verschwinden, einer sich über den anderen legt, das Hinterhauptbein unter den Scheitelbeinen ganz verschwindet und die Mitte der Stirne als scharfe Kante hervortritt [... ] [D]er Kopf behält für das ganze Leben eine an diese gewaltsame Verschiebung erinnernde Form. Ist es nun begründet anzunehmen, daß solcher Druck schmerzlos vor sich gehen oder ohne tief nachwirkenden Eindruck auf das Seelenleben des Neugeborenen bleiben kann?" 28 Obduktionen, die an Kindem durchgeführt wurden, die während oder kurz nach der Geburt verstorben sind, haben eine Vielzahl innerer Blutungen und Hirnverletzungen offenbart. 29 Da diese Schäden selbst noch bei äußerlich unbeschadeten Feten nachgewiesen werden konnten, spricht vieles für den Rückschluss, dass die herkömmliche Geburt in aller Regel einen erheblichen Stress für das Neugeborene darstellt. Klinisch lässt sich gut belegen, dass das von der Hebamme in aller Nüchternheit beschriebene Missverhältnis zwi-

26 Barbara Duden/Jürgen Schlumbohn/Patrice Veit (Hg.) (2002): Geschichte des Ungeborenen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; Ludwig Janus (1997a): "Die magische Dimension im Umgang mit dem Geburtstermin", in: ders./Sigrun Haibach (Hg.) (1997): Seelisches Erleben vor und während der Geburt, Neulsenburg: LinguaMed. 27 Friederike Siedentopf (2002): "Unter Schmerzen sollst du gebären!?", in: Dr. Med. Mabuse, 1/2002. 28 Dorothy Garley, zitiert nach Ludwig Janus (1997b ): Wie die Seele entsteht, Heidelberg: Mattes, S. 5lf. 29 Dazu und für das Folgende Janus (1997b ).

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sehen der Kopfgröße des Babys und dem Beckenausgang der Mutter im Kind während des Geburtsvorganges ein psychosomatisches Chaos aus Kälte, Zittern, Herzrasen, Angst, Schmerz und Atemnot auslöst. Schon die herkömmliche Geburt kann beim Neugeborenen zu einer Vielzahl von Schäden und Verletzungen führen. 30 Treten geburtshilfliehe Maßnahmen hinzu, z.B. Geburtseinleitung, Wehenbeschleunigung, Zangen- oder auch Saugglockengeburten, dürfte die buchstäbliche Drangsal des Kindes offenkundig sein. 31 Demnach erweist sich die schlichte Tatsache, dass der Mensch geboren wird, als der erste große "Nachteil" des Lebens. Man kann, so Sloterdijk, den ersten Schrei des Kindes, mit dem die selbsttätige Atmung einsetzt und sich ein autonomer Blutkreis zu entfalten beginnt, als wichtigen Individualisierungsschub und zugleich auch als das Versprechen deuten, dem Skandal der Geburt auf den Grund zu gehen. Der Nachteil, geboren zu sein, "mag er auch der absolute Nachteil sein, eröffnet den Mindestvorteil, sich sein Leben lang über ihn beklagen zu können". 32 Wir haben es bei diesem Geburtsschrei mit der ersten "Artikulation" eines Unbehagens zu tun, das sich zeitlebens in einer fortgesetzten Selbstverständigungspraxis entfalten wird. Doch bevor wir eingehender auf diesen Punkt zu sprechen kommen, muss zunächst die zwar naheliegende, aber keineswegs selbstverständliche Annahme geprüft werden, dass die bei der Geburt durchlittene physische Belastung des Babys, von der allein bislang die Rede war, tatsächlich auch in psychischer Hinsicht einen erheblichen Umsiedlungsschock auslöst. Dazu Rank: "Es scheint, daß der Drangsteffekt der Geburt, der das ganze Leben hindurch [... ] wirksam bleibt, von Anfang an nicht bloß Ausdruck physiologischer Beeinträchtigungen (Atemnot - Enge - Angst) des Neugeborenen ist, sondern infolge Verwandlung einer höchst lustvollen in eine äußerst unlustvolle Situation sogleich einen »psychischen« Gefühlscharakter bekommt. Diese empfundene Angst ist so der erste Inhalt der Wahrnehmung, sozusagen der erste psychische Akt, welcher der noch ganz intensiven Tendenz zur Wiederherstellung der eben verlassenen Lustsituation 30 Die Abschnitte P10-15 der einschlägigen International Classification ofDiseases (ICD-10) fassen solche Geburtsschäden zusammen. Untersuchungen des Mainzer Geburtenregisters belegen, dass in Deutschland, einem Land mit vergleichsweise guter medizinischer Versorgung, 5-8% aller Neugeborenen mit einer erheblichen Fehlbildung zur Welt kommen. Gut 20% dieser Fehlbildungen sind die Folge eines dramatischen Geburtsvorgangs. Erfasst sind hier allerdings allein solche Behinderungen, die bereits kurz nach der Geburt feststellbar sind. Etwaige geistige Schädigungen aufgrund von Sauerstoffmangel o.ä. während der Geburt zeigen sich oft erst später. Für diese Auskünfte danke ich Annette Queisser-Luft vom Mainzer Geburtenregister. 31 Dazu auch William R. Emerson (1997): "Geburtstrauma: Psychische Auswirkungen geburtshilflicher Eingriffe", in: Janus/Haibach (1997). 32 Sloterdijk (1988), S. 108. Siehe aber vor allem dessen literarische Bebilderung einer im Traum erinnerten Geburt in: ders. (1985), S. 240ff.

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die erste Schranke entgegensetzt, in der wir die Urverdrängung zu erkennen haben."33 Der Auszug aus der wärmenden, schützenden, paradiesisch anmutenden Höhle des mütterlichen Uterus und der damit verbundene Abbruch einer zuvor als verlässlich erlebten, plazentalen Totalversorgung, stürzt das Neugeborene in eine existenzielle Krise. Das Leben auf dieser Welt, so muss man sagen, fängt ziemlich schlecht an. Klinisch-psychologische Untersuchungen lassen vermuten, dass etwa 45 % aller neugeborenen Babys stark traumatisiert sind und nahezu der gesamte Rest zumindest leicht; wobei der Begriff "Trauma" hier zunächst in dem eher weiten Sinne eines psychischen Schocks verstanden werden muss, der mal gravierende, mal weniger gravierende Nachwirkungen mit sich bringt. 34 Wenn diese Annahmen nicht vollends von der Hand zu weisen sind, so wird rasch deutlich, warum die oben für die erste postnatale Phase unterstellte Annahme eines primären Narzissmus oder auch Omnipotenzwahns als überaus problematisch einzustufen ist. Die Geburt wird für das Baby ein derart einschneidendes Erlebnis sein, dass angenommen werden muss, dass sich der vielleicht heftigste aller frühkindlichen Brüche und Vertrauensverluste bereits auf "perinataler" Ebene, d.h. während der Geburt ereignet. Wenn hier überhaupt noch von der Erinnerung an frühkindliche Symbiose- oder Verschmelzungserfahrungen die Rede sein soll, so werden wir diese Erfahrungen gegenüber der von Castoriadis und der Objektbeziehungstheorie vertretenen Ansicht, sie seien ein Echo auf die erste Lebensphase nach der Geburt, nunmehr ins Vorgeburtliche zurückdatieren müssen, indem wir uns Untersuchungen der "pränatalen" Forschung zuwenden. 35 Hier ist jedoch sogleich die selbstkritische Warnung des Psychoanalytikers Ludwig Janus 36 zu bedenken, der wiederholt, wie schon vor ihm Nandor

33 Rank(1924/1998), S. 179. 34 Emerson 1997, S. 135f. Inwiefern sich an diesen Zahlen etwas ändern wird, wenn sich der derzeitige Trend zur Kaiserschnittgeburt ausweitet, ist bislang noch ungeklärt. Dennoch gibt es erste klinisch-psychologische Anzeichen für Persönlichkeitsunterschiede zwischen Kaiserschnitt-Kindern und vaginal geborenen. Letztere, so heißt es, werden im späteren Leben eine niedrigere Angstschwelle aufweisen. Zugleich aber sind sie psychisch von anderen Menschen unabhängiger, da sie den Geburtskampf "durchgestanden" haben. Demgegenüber sollen Kaiserschnitt-Kinder zwar weniger ängstlich, dafür jedoch von anderen Personen abhängiger sein. Siehe Jane English (1997): "Physische und psychosoziale Aspekte der Kaiserschnittgeburt", in: Janus/Haibach (1997). 35 Einen knappen Überblick über den medizinischen Stand gibt David B. Chamberlain (1997): "Neue Forschungsergebnisse aus der Beobachtung vorgeburtlichen Verhaltens", in: Janus/Haibach (1997). 36 Siehe neben Janus (1997b) auch ders. (2000): Die Psychoanalyse der vorgeburtlichen Lebenszeit und der Geburt, Gießen: Psychosozial.

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Fodor37 , daraufhingewiesen hat, dass die Einsicht in den perinatalen Geburtsschock nicht vorschnell zu einer Idealisierung vorgeburtlichen Lebens führen dürfe. Zwar stehe der traumatische Charakter der Geburt gänzlich außer Zweifel, doch solle man sich hüten, sich von dieser Überzeugung zu einer Art Uterus-Romantik verführen zu lassen, nach der die vorgeburtliche Existenz dem Paradies gleichgekommen sein müsse. Janus weist hier vor allem auf die in den 1960er Jahren aufkommenden pränatalen Ultraschalluntersuchungen hin, in deren Zuge nicht nur offenkundig und buchstäblich anschaulich wurde, dass menschliches Leben bereits vorgeburtlich einsetzt, sondern auch, dass es bereits zu diesem Zeitpunkt zahlreichen Gefahrdungen ausgesetzt ist. Vereinzelt ließen solche Aufnahmen erstmals fetales Schreien im Mutterleib sowie mimische Abwehrreaktionen von Embryonen bei akuten Bedrohungen erkennen. Als besonders dramatisch nimmt sich hier die umstrittene Dokumentation The Silent Scream des amerikanischen Abtreibungsarztes Bemhard Nathanson aus. Darin ist der verzweifelte Widerstand eines etwa zwölfwöchigen Embryos gegen seine Abtreibung zu sehen. 3R Inzwischen liegen zahlreiche weitere klinische Untersuchungen vor, die das vielfältige Risiko vorgeburtlicher Schädigungen belegen. Hiureichend bekannt dürfte sein, dass die schwangere Muter über die Plazenta einen gegebenen Alkohol-, Nikotin- oder Medikamentenkonsum direkt an ihr Kind weiter reicht. 39 Auch Fehlemährung, massiver Stress und tiefgreifende seelische Notlagen, z.B. Depressionen, der Mutter können zu gravierenden Entwicklungsstörungen des Kindes führen. 40 Am Beispiel "unerwünschter" Kinder lässt sich die psychosomatische Anfälligkeit und Abhängigkeit des Embryos auf besonders drastische Weise anschaulich machen. 41 Die Säuglingssterblichkeit liegt bei ungewollten Kindem signifikant höher als bei anderen. Gleiches gilt für deren Fehlbildungsrate im Hinblick auf Hirnschäden und geistige Behinderungen. Zu vermuten ist, dass ein im Mutterleib heranwachsendes Kind, dem nicht schon während der Schwangerschaft jene körperliche und emotionale Zuwendung - "bonding" genannt - zuteil wird, von der man annimmt, dass sie insgesamt von großer Bedeutung für eine gesunde Entwick37 Nandor Fodor (1949): The Search for the Beloved, New York: University Books. 38 Zu sehen sind diese Aufnahmen z.B. im Internet: http://www.si1entscream.org (Stand 30. Januar 2005). Der Film ist nichts für schwache Nerven. 39 Vgl. Michael Hertl (1994): Die Welt des ungeborenen Kindes, München: Piper, bes. S. 131 f. 40 Bea van den Bergh (1990): "The lnfluence of Matemal Emotions During Pregnancy on Fetal and Neonatal Behaviour", in: Journal of Prenatal and Perinatal Psychology and Health, 211990. 41 Thomas R. Verny (1997): "Isolation, Ablehnung und Gemeinschaft im Mutterleib", in: Janus/Haibach (1997); Helga Häsing/Ludwig Janus (Hg.) (1999): Ungewollte Kinder, Wiesbaden: Text-0-Phon.

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lung des Babys ist, ernsthaft Schaden nehmen kann. 42 Liegt gar eine massive emotionale Ablehnung des Kindes seitens der Mutter oder anderer enger Bezugspersonen vor, so wächst das Kind als "Fremdkörper im Fremdkörper" und damit regelrecht "in einer Kampfzone" heran, in der es unter teilweise desaströsen Mangelerscheinungen zu leiden hat. 43 Klinisch-psychologische Untersuchungsergebnisse dieser Art lassen den Schluss zu, dass bereits auf vorgeburtlicher Ebene mit der Möglichkeit von Brüchen in der psychophysischen Erfahrungswelt des im Mutterleib heranwachsenden Kindes gerechnet werden muss. Zudem sollte man nicht vorab schon kategorisch ausschließen, dass sich die hier vorgebrachten Überlegungen zeitlich noch weiter zurückverfolgen lassen. So darf inzwischen als medizinisch unstrittig angesehen werden, dass selbst der Zeugungsakt in seinem "Gelingen" von psychosozialen Einflüssen abhängig ist. Sterilität und ungewollte Kinderlosigkeit haben oft psychosomatische Ursachen, und zwar sowohl auf Seiten der Frau als auch auf Seiten des Mannes. 44 Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zu der Annahme, dass sich unzureichende Zeugungsbedingungen am Ende auch auf die psychophysische "Qualität" des dabei gegebenenfalls gezeugten Kindes auswirken können. Doch die in diesem Abschnitt bereits bis in die pränatale Sphäre zurückverfolgte Kette frühkindlicher Schockerlebnisse dürfte auf die meisten Leser schon irritierend genug gewirkt haben. Daher sollte an dieser Stelle zunächst einmal ein Schnitt erfolgen. Führen wir zunächst die in diesem Abschnitt skizzierten Annahmen über den entwicklungspsychologischen Ursprung jener fundamentalen biographischen Trennungserfahrung, die sich hinter dem späteren Bedürfnis nach Ganzheit verbergen soll, zusammen. Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als seien die drei hier vorgestellten tiefenpsychologischen Ansätze - das pränatale, das perinatale und das postnatale Trennungsmodell - letzten Endes unvereinbar. Sie alle wollen den gesuchten ursprünglichen Erfahrungsbruch aufunterschiedliche Termine festsetzen, so dass eine Entscheidung zugunsten eines dieser Modelle erforderlich zu sein scheint. Dies ist jedoch ein Kurzschluss. Vielmehr können, ja, müssen die drei Modelle konzeptionell mitein42 Dazu John Bowlby (1986): Mütterliche Zuwendung und geistige Gesundheit, Frankfurt/Main: Fischer. 43 J. Erik Mertz (2000): Borderline. Weder tot noch lebendig, Stuttgart: Enke, bes. 174f. u. Kap. 5. Mertz hält auf diese Weise gar medizinisch bislang rätselhafte Phänomene wie "Autismus" und "plötzlicher Kindstod" für erklärlich. Sie lassen sich als verzweifelter Protest oder als "Aufgeben" des Säuglings angesichts einer als ausweglos erfahrenen Lebenssituation deuten. Hegels Idee eines Kampfes um Anerkennung aufLeben und Tod erhält so ihre buchstäbliche Bedeutung. 44 Manfred Stauber (1993): Psychosomatik der ungewollten Kinderlosigkeit, Berlin:BMV.

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ander verwoben werden, und zwar aus folgendem Grund: Weder früheste Mangelerfahrungen im Mutterleib, d.h. auf pränataler Ebene, noch jene im Zuge der eigentlichen Geburt, d.h. auf perinataler Ebene, werden vom Kind als Trennung von der Mutter erfahren. Der Embryo hat in diesen Stadien ganz einfach noch kein "Bild" von seiner Gebärerin. Aus der uteralen Innensicht muss sich die Klausur in der Mutter zunächst weitgehend als differenzlose, wenngleich nicht immer ungestörte Fusion darstellen. Hier wird allenfalls, sobald es zu solchen Störungen kommt, eine erste gefühlte Differenz zwischen einem Hier und einem Dort auftreten können. Bloß in Ansätzen wird im Zuge solcher Erfahrungen die Vorstellung einer vormals ungeschiedenen, nun aber allmählich zerbrechenden Einheit Gestalt annehmen können, die im Zuge des Geburtsvorgangs dann allerdings gewaltsam offen- und aktenkundig wird. Ein genaueres Bild der Mutter als Mutter wird das Baby erst dann ausbilden können, wenn es zur Welt gekommen ist. Nach der Abnabelung des Kindes setzt für gewöhnlich ein konkreter leiblicher Umgang mit der Mutter ein, und vorerst langsam gewinnt das Baby eine genauere Vorstellung davon, was es heißt, eine mal mehr, mal weniger fürsorgliche Beschützerin zu haben. Wichtig ist hierbei das Folgende: Erst in dieser dritten Phase, d.h. auf postnataler Ebene, können neuerliche Enttäuschungen - gewissermaßen rückwirkend - mit älteren Mangelerscheinungen assoziiert und als "Trennungsängste" psychisch verankert werden, von denen nunmehr erkennbar wird, dass sie auch damals schon auf die Mutter bezogen waren. 45 Demnach, so lautet zusammengefasst ein erstes Ergebnis dieses Kapitels, sollte man weniger von einem einzigen, großen Bruch in der Erfahrungswelt des Kindes sprechen als vielmehr von einer sukzessiven Kette mal stärkerer, mal weniger starker Angst-, Mangel- und Trennungserfahrungen. Die auf allen drei genannten frühkindlichen Entwicklungsstufen auftretenden Schäden addieren sich schrittweise zu einem existenziellem Gesamtverlust, der allein retrospektiv als jener Verlust von etwas "Ursprünglichem" betrachtet werden kann, von dem es hieß, dass er das intrapsychische Leben des Menschen bis in sein Erwachsenenalter hinein prägen wird. Gerade dieser Punkt bleibt jedoch erklärungsbedürftig: Warum findet sich die tiefenpsychologische Betrachtung nicht einfach damit ab, wie so viele Menschen das ja offensichtlich tun, dass diese frühen Verlusterfahrungen schlicht "vergessen" werden? Was lässt es berechtigt erscheinen, von gravierenden Traumatisierungen zu sprechen, die lebenslang wirkmächtig bleiben? Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es einer genaueren Analyse des kategorialen Zusammenhangs von "Trauma" und "Phantasma".

45 Otto Rank (1927/1994): "Book Review of Sigmund Freud: Hemmung, Symptom, Angst", in: International Journal ofPrenatal Psychology and Medicine , 6/1994.

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2. Das Phantasma der Einheit Wenn man im Hinblick auf die kindliche Frühentwicklung von einer Kette dramatischer oder gar traumatischer Verluste sprechen will, dann wird sich diese Annahme allein dann plausibel machen lassen, wenn gezeigt werden kann, was genau dabei sukzessive verloren geht. Darüber hinaus hätte deutlich zu werden, wie schwer diese Einbuße in jedem einzelnen lebensgeschichtlichen Fall wiegt. Ganz gleich, ob wir im Anschluss an Castoriadis und die Objektbeziehungstheorie von einem postnatalen Aufbrechen der MutterKind-Monade reden wollen, ob wir mit Rank und Sloterdijk einen perinatalen Umsiedlungsschock bei der Vertreibung aus dem mütterlichen Paradies beklagen oder mit Janus und Fodor auf das bereits pränatal gegebene Risiko einer nachhaltigen Störung intrauteriner Zwei-in-Einheit hinweisen möchten: Als wahrhaft traumatisch werden sich diese Brüche allein dann auswirken können, wenn das Baby dabei stoßweise aus einem Zustand gerissen wird, der unvergleichlich behaglicher und angenehmer gewesen ist als jener, in den es nun übergeht. Auf nahezu paradoxe Weise muss trotz der hier unterstellten Verluste etwas Wichtiges zurückbleiben: Die Erinnerung an etwas, das durch eben jene Einbußen überhaupt erst Gestalt annimmt, eine Art schmerzlich empfundene Leerstelle oder auch die Ahnung von einem für immer verlorenen Land, "wo Milch und Honig fließt". Spätestens an dieser Stelle, wo wir tiefer in unsere Lebensgeschichte abzutauchen hätten, als es uns möglich erscheint, drohen wir endgültig in das empirisch gänzlich unzugängliche Schattenreich der reinen Spekulation abzudriften. Mit Blick auf "ozeanische" Urzustände primordialer, vorsprachlicher Prägung, sind wir, wenn diese denn überhaupt einmal existiert haben sollten, von einem dichten und schwerlich zu lüftenden Schleier des Nichtwissens umgeben. 46 Nüchterne Reisebeschreibungen erübrigen sich mangels substanzieller Taucherfahrungen. Hier scheinen allenfalls noch blumige Metaphern und literarische Fiktionen möglich. Doch wenden wir uns zunächst einem Bericht des Psychoanalytikers Sandar Ferenczi zu, der auf einer Geburtsstation folgende Erfahrungen sammelte: "Beobachtet man aber das sonstige Benehmen des Neugeborenen, so bekommt man den Eindruck, daß es von der unsanften Störung der wunschlosen Ruhe, die es im Mutterleibe genoß, durchaus nicht erbaut ist, ja, daß es in diese Situation zurückzugelangen sich sehnt. Die Pflegepersonen erkennen instinktiv diesen Wunsch des Kindes, und sobald es durch Zappeln und Schreien seiner Unlust Ausdruck verleiht, bringen sie es geflissentlich in eine Lage, die der Mutterleibssituation möglichst 46 Sloterdijk hat einmal gesagt, man habe sich als "Jacques Cousteau des Fruchtwassers" zu betätigen. Mit dem "ozeanischen Gefühl" rekurriere ich auf Freud (1930/2000), S. 197ff.

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ähnlich ist. Sie legen es an den warmen Körper der Mutter oder wickeln es in weiche, warme Decken, Pölster ein, offenbar, um ihm die Illusion des Wärmeschutzes durch die Mutter zu verschaffen. Sie schützen sein Auge vor Licht, sein Ohr vor Schallreizen und verschaffen ihm die Möglichkeit, die intrauterine Reizlosigkeit wieder zu genießen; oder sie reproduzieren die leisen und rhythmisch-monotonen Reize, die dem Kinde auch in utero nicht erspart geblieben sind (die Schaukelbewegungen beim Gehen der Mutter, die mütterlichen Herztöne, das dumpfe Geräusch, das von außen ins Körperinnere dringt), indem sie das Kind wiegen und ihm monoton-rhythmische Wiegenlieder vorsummen." 47 Was Ferenczi hier beobachtet, das ist eine lebensgeschichtlich überaus früh einsetzende Form gemeinsamer Trauerarbeit: Das hilflose Neugeborene leidet unter seiner neuen Umgebung, und die darin anzutreffenden ersten Bezugspersonen bemühen sich, dem Kind den schmerzlichen Übergang so erträglich wie möglich zu gestalten, indem sie es auf kompensatorischem Wege in Zustände versetzen, die an vergangene Ruhephasen erinnern sollen. Wir kennen diese Art der Sorge um das Kind selbstverständlich nicht bloß aus dem Krankenhaus. Säuglinge werden an die Mutterbrust gelegt, nah am Körper gehalten und gewärmt, in eine Wiege gebettet und in den Schlaf gesungen. Babys, die bereits im Mutterleib zu akustischer Wahrnehmung fahig sind, reagieren schon bald nach der Geburt mit Entspannung auf die Stimmen ihrer Eltern, insbesondere der Mutter, aber auch auf Musik, die sie während der Schwangerschaft mitgehört haben. 48 Eltern gehen mit dem Kinderwagen spazieren und wippen diesen hin und her, bis das Baby beruhigt eingeschlafen ist. Später begleiten sie ihre Kinder auf den Spielplatz, wo ebenfalls gewippt und geschaukelt wird, oder auf die Kirmes, wo die Kinder Karussell, Achter- und Geisterbahn fahren. Bis ins hohe Erwachsenenalter hinein schlafen viele Menschen gern in "embryonaler Haltung", schmiegen sich dabei an eine andere Person und verschwinden unter dicken Federbetten, um sich am nächsten Tag wie "neugeboren" zu fühlen. 49 Warum tun Menschenall das? Offenbar leben nicht bloß Neugeborene mit entsprechenden Erinnerungen, auch der erwachsene Mensch ist von einem instinktiven "Wissen" in Bezug auf die Frage geleitet, wie es einem schutzlosen Baby gehen mag. Woher stammen diese Kenntnisse? Wenn behauptet werden soll, dass in dieses intuitive Wissen tatsächlich eigene Früherinnerungen einfließen, ist man vermutlich umgehend mit dem kritischen Verdacht konfrontiert, derartige "Erinnerungen" seien nichts anderes als Projektionen von Erwachsenen, die im Laufe 47 Sandar Ferenczi, zitiert nach Janus (1997b), S. 22f. 48 Alfred A. Tomatis (1987): Der Klang des Lebens, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. 49 In diesem Zusammenhang sagt Sloterdijk mit Blick auf die kompensatorische Wirkung von Plumeaus: "Wer keinen Freund hat, kann immerhin eine Bettdecke haben." Siehe ders. (1998), S. 364. Vgl. Hertl (1994), S. 161-165.

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ihres Lebens - im Umgang mit kleineren Geschwistern, den Kindem von Angehörigen und Freunden oder später auch den eigenen - ganz bestimmte Phantasien davon entwickelt haben, wie die Zeit vor, während oder unmittelbar nach der eigenen Geburt ausgesehen haben könnte. Das bloße Vorhandensein einiger praktischer, vermutlich "instinktiver" Fertigkeiten im Umgang mit Kleinkindern rechtfertige längst nicht die Annahme eines echten Erfahrungsgehaltes derartiger Fürsorge. Nun, die empirische Annahme blasser Rückerinnerungen an das eigene Gefühl damaliger "Geworfenheit", wie man im Anschluss an Heidegger sagen könnte, wird wohl vorerst tatsächlich nicht zweifelsfrei untermauert werden können. 50 Dennoch sind in der Vergangenheit im Rahmen einer Vielzahl von, zugegebenermaßen heftig umstrittenen, psychologischen Therapieformen Psychoanalyse, Hypnosebehandlung, Primärtherapie, Regressionstherapie, LSD-Therapie, Körpertherapie, Atmungs- und Haltetherapie, "Rebirthing" u.a.- überaus erstaunliche Beobachtungen gemacht worden, die für die Validität derartiger Früherinnerungen sprechen. 51 Traumberichte über paradiesische und jäh beendete Aufenthalte in warmen und dunklen Grotten, über heldenhafte Kämpfe auf Leben und Tod mit Dämonen und feuerspeienden Monstern, über Fesselungen, Hilflosigkeit, Lähmungen und Erstickungsnot, lassen sich, nicht zuletzt aufgrund entsprechend "regressiver" Reaktionen der Patientinnen und Patienten beim "Wiedererleben" in der therapeutischen Praxis, kaum anders deuten denn als ein tiefsitzendes, verschüttetes Frühgedächtnis. Im Rahmen so genannter Verifizierungsforschung sind derartige Patientenberichte darüber hinaus mit objektiven Patientendaten abgeglichen worden, z.B. mit medizinischen Akten oder mit Berichten von Angehörigen bzw. Zeugen von Schwangerschaft und Geburt. In besonders eindrucksvollen Fällen konnten sich Patientinnen und Patienten im Rahmen der Therapie an geburtshilfliehe Eingriffe oder gar an Versuche, die Schwangerschaft abzubrechen, erinnern, die tatsächlich stattgefunden hatten, ohne dass den Betroffenenjemals davon berichtet worden war. 52 Inzwischen liegen demnach genügend Anhaltspunkte für die Annahme vor, dass die so häufig behauptete Amnesie im Hinblick auf die Ereignisse vor, während oder nach der Geburt keineswegs als vollständig, sondern lediglich als partiell einzustufen ist, so dass wir weniger von einem autobionarrativen "Vergessen" als von einer Art "Verschüttung" sprechen sollten. Neben

50 Liest man die betreffenden Stellen aus Sein und Zeit in diesem Licht, so lassen sie sich als Reminiszenz an die Natalität des Menschen deuten, wobei die ontologische Verbrämung der Zusammenhänge einen Rest Schleier des Nichtwissens offenbart. 51 Dazu Emerson (1997); Janus (1997b ), bes. Abschnitte III und V. 52 Emerson (1997); Ulfried Geuter (2003): "Im Mutterleib lernen wir die Melodie unseres Lebens", in: Psychologie heute, 1/2003.

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den erwähnten Patientenberichten ist hier vor allem auch an symbolische Darstellungen von Schwangerschaft und Geburt in Mythen, Märchen, Kunstwerken und rituellen Praktiken zu denken, die in unserer Kultur reichhaltig anzutreffen sind und in denen jene Früherinnerungen- auf gewissermaßen höherer Ebene - sublimiert und "aufgehoben" sind. 53 Dabei lassen sich die entsprechenden Artefakte immer auch als Versuche deuten, den dramatischen Urereignissen einen Sinn abzutrotzen. Nur um ein paar besonders berühmte Beispiele zu nennen: Die alttestamentarische Erzählung von der Vertreibung aus dem Paradies transformiert die Erfahrung eines gewaltsam erlittenen Bruchs mit der intrauterinen Behaglichkeit in das biblische Bild der Erbsünde und des Verlustes der Unschuld. Das berühmte Höhlengleichnis Platons symbolisiert den lebensbedrohlichen Auszug aus der allgemeinen Verblendung an das Tageslicht der Welt - man bedenke, dass der in die Höhle zurücldcehrende Philosoph getötet werden wird- als Akt der Befreiung und "Aufklärung". Überhaupt lässt sich zeigen, dass unzählige Heroengeschichten und Heldensagen die Struktur menschlichen Zur-Welt-Kommens aufweisen: In der Regel wird zunächst von einem Leben in (pränataler) Sicherheit berichtet. Dann tritt der (perinatale) Heimat-, Beziehungs- oder Sicherheitsverlust im Zuge einer drohenden oder bereits geschehenen Katastrophe ein. Schließlich folgt der (postnatale) Versuch einer Kompensation dieses Unglücks im Zuge eines zunächst ausweglos erscheinenden Kampfes gegen das Böse durch eigene und nicht selten "rächende" Taten. 54 Dies gilt bis hin zu den kulturgeschichtlich vergleichsweise spät auftauchenden Superman-Comics: Clark Kent, ein kleiner Junge, wird von seiner Eltern, die auf einem fremden, dem Untergang geweihten Planeten leben, in einer beengten (uteralen) Kapsel zur Erde gesandt. Im späteren realen Leben wird Kent dann ein recht biederer Zeitungsreporter sein. Angesichts drohender Menschheitskatastrophen jedoch zieht er sich in enge Telefonzellen zurück, um dort im Zuge einer regressiven Metamorphose zum "Übermenschen" zu werden und zu neuer bzw. alter Allmacht zu gelangen. Aber auch Werke der bildenden Künste, wie etwa die weltberühmten Gemälde Salvador Dalfs, können den Eindruck hinterlassen, dass in derartigen kulturellen Manifestationen schmerzhafte Urerfahrungen buchstäblich verarbeitet sind. Man nehme nur das berühmte Bild Geopolitisches Kind beobachtet die Geburt des neuen Menschen, das den Buchdeckel der Neuausgabe von Ranks Trauma der Geburt ziert: Hier kämpft sich ein männlicher Held aus dem Ei einer deformierten Weltkugel und wird dabei von einer Mutter und ihrem ängstlichen Kind beobachtet. Über dem Ei schwebt, wie eine Art Saugglocke, ein Baldachin. Das Ei selbst ruht auf einem weißen Laken, auf das ein Tropfen Blut fällt. Zu denken ist vor allem 53 Dazu vor allem Rank (1927/1998), aber auch Janus (1997b), Kap. IX. 54 Johannes Merke! (2000): Spielen. Erzählen, Phantasieren. Die Sprache der inneren Welt, München: Kunstmann, bes. S. 263-270.

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aber auch an Werke der Literatur. Adalbert Stifter hat auf einem nachgelassenen Blatt, das man nach seinem Tode in einer seiner Schubladen fand, die folgenden "Erinnerungen" notiert: "Weit zurück in dem leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzücken, das gewaltig fassend, fast vernichtend in mein Wesen drang und dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich. Die Merkmale, die festgehalten wurden, sind: Es war Glanz, es war Gewühl, es war unten. Dies muß sehr früh gewesen sein, denn mir ist, als liege eine hohe, weite Finsternis des Nichts um das Ding herum. Dann war etwas anderes, das sanft und lindernd durch mein Inneres ging. Das Merkmal ist: Es waren Klänge. Dann schwamm ich in etwas Fächelndem, ich schwamm hin und wieder, es wurde immer weicher und weicher in mir, dann wurde ich wie trunken, dann war nichts mehr. Diese drei Inseln liegen wie feen-und sagenhaft in dem Schleiermeere der Vergangenheit, wie Urerinnerungen eines Volkes. Die folgenden Spitzen werden immer bestimmter, Klingen von Glocken, ein breiter Schein, eine rote Dämmerung. Ganz klar war etwas, das sich immer wiederholte. Eine Stimme, die zu mir sprach, Augen, die mich anschauten, und Arme, die alles milderten. Ich schrie nach diesen Dingen. Dann war Jammervolles, Unleidliches, dann Süßes, Stillendes. lch erinnere mich an Strebungen, die nichts erreichten, und das Aufhören von Entsetzlichem und Zugrunderichtendem. lch erinnere mich an Glanz und Farben, die in meinen Augen, an Töne, die in meinen Ohren, und an Holdseligkeiten, die in meinem Wesen waren. Immer mehr fühlte ich die Augen, die mich anschauten, die Stimme, die zu mir sprach, und die Arme, die alles milderten." 55 So kitschig diese Zeilen auf den nicht geneigten Leser wirken mögen, so unschwer dürfte nach dem bislang Erwogenen zu erkennen sein, dass Stifter hier in knappen, schönen Worten eine Urszenerie zu skizzieren versucht, die von der pränatalen Behaglichkeit ("Wonne und Entzücken") über den perinatalen Umsiedlungsschock ("Die folgenden Spitzen werden immer bestimmter. .. ") bis hin zur postnatalen Auffangsituation im Schutzbereich der Mutter reicht ("Arme, die alles milderten"). Der Dichter hat hier ein langgezogenes Driften vor Augen, das vom paradiesischen Bad im uteralen Fruchtwasser über die reißende Strömung des Geburtskanals bis hin zur harten Brandung im Diesseits reicht, die schon bald nach der Geburt durch Fürsorge gemildert wird. Ob es sich bei den Aufzeichnungen Stifters um tatsächliche Erinnerungen handelt oder lediglich um einen notierten Traum, sei einmal dahingestellt. So oder ähnlich könnte jenes weitgehend vorsprachliche Gedächtnis des Men55 Adalbert Stifter (1959): "Nachgelassenes Blatt", Gesammelte Werke, Bd. 6, Gütersloh: Mohn, S. 584.

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sehen "zur Sprache" kommen, wenn einmal der Versuch dazu unternommen werden würde. 56 Gleichwohl wird solchen Schilderungen stets etwas Unzulängliches anhaften müssen. Wenn Stifter schreibt, dass den erinnerten Ereignissen als solchen "nichts mehr in meinem künftigen Leben glich", dann ist damit zugleich gesagt, dass diese frühen Erfahrungen durch spätere Erinnerungen nicht wirklich aufgefrischt oder reproduziert, sondern allenfalls angestoßen werden können. Das seinerzeit Erlebte muss als dermaßen bahnbrechend und prägend aufgefasst werden, dass sich alle späteren Erfahrungen im Leben dazu verhalten wie ein Echo zum ursprünglichen Laut. Jeder Versuch einer Verarbeitung und Darstellung dieser Erinnerungen - sei es in Sprache, Kunstwerken oder aber im Rahmen einer Therapie - muss am Ende unvollständig bleiben. Da es sich zudem um wesentlich vorsprachliche Erinnerungen handelt, wird eine adäquate sprachliche oder symbolische Abbildung jenes "intimen Atlantis"57 ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit sein: "Was fehlt und innner mangeln wird, ist das Unvorstellbare jenes »Urzustands« vor aller Trennung und Differenzierung, jene Proto-Vorstellung, die die Psyche nicht mehr hervorzubringen imstande ist, die aber ins psychische Feld unzerstörbare Kraftlinien eingezeichnet hat, daß darin Gestalt, Sinn und Lust eine unzertrennliche Einheit bilden. Dieses erste Begehren ist irreduzibel, weil es sich auf etwas richtet, das weder in der Realität ein Objekt findet, in dem es sich verkörpern könnte, noch in der Sprache Worte findet, in denen es sich aussprechen könnte. Nur in der Psyche selbst findet es ein Bild, um sich Gestalt zu geben. Hat die Psyche erst einmal die Erfahrung des Bruchs mit ihrem monadischen »Zustand« gemacht, wozu das »Objekt«, der andere und der eigene Körper sie nötigen, so hat sie für immer ihre Mitte verloren und ist stets an dem orientiert, was sie nicht mehr ist, was nicht mehr ist und nicht mehr sein kann. [... ] Aber noch immer beherrscht dieses Ziel total, roh, wild und unzugänglich die unbewußten Prozesse. Weniger noch als jede Verdrängung kann dieses Ziel jemals wirklich zu Worte kommen, weil sein "Sinn" in einem für immer verlorenen Anderswo liegt. Dieser Selbstverlust, diese Selbstspaltung ist die erste Leistung, die die Psyche zu ihrer Aufnahme in die Welt erbringen mußund die zu erfiillen sie sich weigern kann." 58 In diesem längeren Castoriadis-Zitat klingt bereits all das an, was es an dieser Stelle festzuhalten gilt: Die Erfahrung eines erzwungenen Auszugs aus der ursprünglichen Geborgenheit kann vom ahnungs- und sprachlosen Baby aufgrundder Gewalt der Ereignisse sowie der daraus resultierende Angst schlicht nicht verarbeitet werden. Aufgrund dieser Überforderung wird das Kind die 56 Der Psychoanalytiker Friedrich Kruse hat Patientenberichte gesammelt; siehe ders. (1969): Die Anfänge menschlichen Seelenlebens, Stuttgart: Enke. 57 Sloterdijk ( 1998), S. 63. 58 Castoriadis (1984), S. 491f.

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furchteinflößenden Erinnerungen zunehmend verdrängen müssen. Dennoch bleiben die erlittenen Schocks und Traumata, vor allem aber die Erinnerung an einen vergleichsweise paradiesischen Zustand davor, unterbewusst als unauslöschliche Spur präsent, und zwar nicht nur als "natürliche" Angstbereitschaft, sondern vor allem auch als unterschwelliges Begehren. Zurück bleibt eine tief empfundene, scheinbar objektlose Sehnsucht, die zur Regression, d.h. buchstäblich zur Rückkehr in die ursprüngliche Einheit tendiert. Mit anderen Worten: Die frühkindlichen Traumata sind allein deshalb Traumata, weil in ihnen gravierende Kontrasterfahrungen konserviert sind, deren Erinnerung latent mächtig bleibt: "Was wir flir unsere Existenz brauchen, haben wir in vollkommener Weise ohne eigene Bemühung: versorgt über die Nabelschnur aus den Schatzkammern der Plazenta, eingebettet im Fruchtwasser und abgeschottet von allem, was schaden und belasten könnte. Die Geburt beendet dieses Idyll und flihrt dramatisch in ein anderes Dasein, in eine neue Welt, die kalt sein kann im Milieu, grell im Licht, in eine Welt, die wir mit anderen zu teilen haben und die uns fordert, in ihr mit eigenen Kräften zu bestehen. " 59 Noch einmal sei jedoch daran erinnert, dass weniger von nur einem dramatischen Bruch als vielmehr von einer Reihe sukzessiver Brüche auszugehen ist, die sich zunächst pränatal, dann vor allem perinatal und schließlich auch postnatal ereignen. Erst in der Rückprojektion fügen sich all diese Brüche zum imaginären Gesamtbild eines existenziellen Totalverlustes zusammen, der ein doppeltes paradise lost markiert: Nicht nur der ursprüngliche Zustand als solcher kommt abhanden, sondern eben auch die bewusste Erinnerung daran. Und dennoch werden diese Ereignisse nicht vollständig vergessen. Die Erinnerung sickert lediglich ins Unbewusste ein, wo sie als "Phantasma", wie Castoriadis sagt60 , unmerklich wirksam bleibt. Der Mensch behält ein unterschwellig sehnsuchtsvolles Wunschbild zurück, in dem der monadische, ganzheitliche Frühzustand wiederhergestellt wäre oder besser: wiederhergestellt ist. Als Phantasma durchzieht die blasse Erinnerung an frühe, fundamentale Kontrasterfahrungen das gesamte spätere Leben, um sich dort, wie oben angedeutet, in Geschichten, Träumen, Kunstwerken u.ä. zum Ausdruck zu bringen. Die in diesem Wunschbild umherspukende, ursprünglich sprachlos erworbene Sehnsucht markiert unentwegt das, was hier mit Sloterdijk die "Schwierigkeit zu sagen, was fehlt" genannt werden soll: Der sich über die Spanne pränatalen, perinatalen und frühen postnatalen Lebens erstreckende Akt des Zur-Welt-Kommens muss als die erste fundamentale Desintegrationserfahrung im Leben des Menschen verstanden werden, die sich nach Art 59 Hertl (1994), S. 24. 60 Castoriadis (1984), z.B. S. 489.

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einerunlesbaren "Tätowierung" in den Körper und die Seele des Kleinkindes schreibt. 61 Folglich ist der Mensch vorgeburtlich, geburtlich und nachgeburtlich prädisponiert: pränatal, insofern er zeitlebens unter der verschütteten Erinnerung an ein verlorenes Nirwana leiden wird; perinatal, da ihm die Angst und die Enttäuschung der Geburt für immer in die Knochen gefahren sind; und postnatal, indem er für den Rest seines Lebens von den kompensatorischen Fürsorgequalitäten seiner ersten Bezugspersonen geprägt sein wird. Zugleich aber wird der Mensch unter einer seltsamen Amnesie leiden, die nicht, wie Heidegger meinte, Seinsvergessenheit ist, sondern Geburtsvergessenheit. 62 Insgesamt ist damit eine anthropologisch tiefsitzende Melancholie konstituiert, die den Menschen das ganze spätere Leben umtreiben wird. Oben ist bereits angedeutet worden, dass der Mensch im Laufe seines Lebens so manchen mal mehr, mal weniger gezielten Versuch unternehmen wird, seine wesentlich vorsprachliehen Erinnerungen an diese frühen Ereignisse auch sprachlich einzuholen. Mit dem biographisch denkbar früh zu datierenden Ausbruch jener Melancholie, von der, wie gesagt, bereits der erste Schrei des Neugeborenen Zeugnis ablegt, gerät das in Gang, was in der ersten Hälfte dieses Buches "Autobionarration" genannt wurde: der Versuch, die eigene Lebensgeschichte auf dem Wege einer ethisch-existenziellen Selbstverständigung sinnstiftend einzuholen. Doch wie sehr man sich auch bemühen mag, stets bleibt die Schwierigkeit, ja, die Unmöglichkeit, die eigene Geschichte bis zu den dunklen Anfängen zurückzuverfolgen: "Zeitlebens, meine Damen und Herren, sind wir in der Lage von Leuten, die zu spät ins Theater kommen - in einem Zwischenakt wird die Tür noch einmal halb geöffnet, wir zwängen uns atemlos in den Raum und suchen im Dunkeln nach dem eigenen Platz. Den Anfang der Handlung haben wir verpasst, und für den Augenblick kann nicht mehr geschehen, als daß wir von nun an ihrem Gang so aufmerksam wie möglich folgen." 63

Die Sprache, mit deren Hilfe der Mensch das Netz seines ethischexistenziellen Selbstverständnisses zu spinnen versucht, kommt im Leben zu 61 Sloterdijk (1988). 62 In Anlehnung nicht an Heidegger, sondern an Herberger könnte man sagen: "Nach der Geburt ist vor der Geburt". 63 Sloterdijk (1988), S. 12. Diese Analogie mag besonders diejenigen überzeugen, die einmal Kinder bei ihrem ersten Theaterbesuch beobachtet haben; ihre großen, erwartungsvollen Augen, sobald die Lichter ausgehen und sich der Vorhang öffnet, ihre Anspannung, in einer Mischung aus Wonne und Furcht, im dunklen Zuschauerraum. Man kann den erlösenden Schlussapplaus - auch noch der erwachsenen Zuschauer - als ein Klatschen deuten, das stets auch ihnen selbst gilt, weil sie das Drama (erneut) überstanden haben.

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spät, als dass sie die uns hier beschäftigenden Ereignisse von Beginn an begleiten könnte. Das Vermögen ethisch-existenzieller Selbstverständigung kann sich erst postnatal, d.h. im konkreten Umgang mit anderen sprechenden Menschen herausbilden. Erst die kommunikative Interaktion mit engsten Bezugspersonen lässt die Differenz zwischen den sprachlichen Perspektiven des "Ich" und des "Du" reifen, die Voraussetzung dafür ist, dass sich das heranwachsende Kind im Spiegel der Blicke, Verhaltensweisen und Sprechakte anderer reflektieren und dadurch zunehmend selbst erkennen lernt. 64 Hinsichtlich der uns hier beschäftigenden Problematik des Lebensanfangs sind Kinder, wenn sie "zur Sprache kommen", längst "zur Welt gekommen". Die ersten dramatischen Ereignisse haben sie bereits hinter sich. Weil diese vorsprachlichen Ereignisse zudem in einen Nebel aus Angst und Verdrängung gehüllt sind, müssen Menschen sich mit deren sprachlicher Aufarbeitung äußerst schwer tun. Die Möglichkeit einer radikal, d.h. frühestmöglich ansetzenden Autobionarration scheint damit in weite Ferne zu rücken: "Eine Fundamentalautobiographik, die im Lichthof des einzelnen Bewußtseins bleibt und keine Metaphysik des Bewußtseins bemüht, kommt erst dann in die Anfangsräume des vereinzelten Lebens, wenn es ihm ins sprachlos Flüssige folgt, wo die noch unbenannten Dinge an den Küsten des Begriffs spielen, ohne zu erstarren. Wer zu so frühen Zeichen seiner Anfange zurückblättert, der fangt im wahrsten Sinne des Wortes noch einmal an- er schlägt die leeren Seiten auf, in die die ersten Unterschiede eingeritzt werden, er entrollt das lebende Pergament, das die Einstiche seiner besonderen Tätowierung trägt. Was sich da zeigt, bestätigt die psychologische Vermutung, daß es Schichten des Seelischen gibt, in denen die Zeit stillesteht Kaum liegen aber die Seiten der frühen sprachlosen Gegenwärtigkeit offen, beginne ich zu verstehen, warum ihr Aufblättern so ganz vom Anschein der Unmöglichkeit umgeben ist. Hinter der schützenden Gewißheit, es nicht zu können, rührt sich eine panische Furcht, vielleicht doch dazu imstande zu sein. Denn könnte ich zu meinem wirklichen Beginn zurück, was geschähe dann?" 65 Aus tiefenpsychologischer Sicht ist mit der autobionarrativen Selbstverständigungspraxis nicht nur die verständliche Furcht vor einem entsprechenden Scheitern, sondern immer auch eine unterschwellige Angst vor dem Gelingen derartiger Selbstverständigung verknüpft. Die lebensgeschichtliche Rückschau rührt nicht nur am Phantasma ursprünglicher Intaktheit, sondern zugleich auch an der Erinnerung an den größten anzunehmenden Unfall. Damit rückt die im letzten Kapitel diskutierte Annahme, dass die ethischexistentielle Selbstverständigung einem tiefsitzenden Bedürfnis nach Integration unterschiedlichster Lebenserinnerungen, Lebensvollzüge und Lebensplä64 Habermas (1988a). 65 Sloterdijk (1988), S. 52.

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ne folge, in ein gänzlich neues Licht: Wenn wir davon ausgehen, dass der Mensch jene seligen, aber auch schmerzhaften Urerfahrungen, die ihm als Phantasma, aber eben auch als Trauma im Kopf herumspuken, in späteren Lebenssituationen wie ein Echo zu vernehmen vermag, dann muss das intime Selbstgespräch immer auch als der Versuch eines ethisch-existenziellen Rückzugs verstanden werden. 66 Er dient der bislang aufgeschobenen Verarbeitung von latenten und ambivalenten Früherinnerungen, auf die wir uns seit jeher keinen rechten "Reim" machen können. In eben diesem Sinne sind z.B. Träume, Tagebuchaufzeichnungen, Autobiographien, Erzählungen, Märchen, Konversationen oder auch Therapiegespräche stets auch als häufig kaum bewusste Versuche zu deuten, das betreffende Phantasma einzukreisen, um dadurch jener frühen und zum Teil noch immer als bedrohlich empfundenen Ereignisse habhaft zu werden. 67

3. Die Spur der Zweisamkeit Die zuletzt anklingenden entwicklungspsychologischen Annahmen über den Erwerb autobionarrativer Kompetenz ergeben vor dem Hintergrund der zuvor diskutierten Vermutungen über das Ausmaß frühkindlicher Verlusterfahrungen ein seltsam widersprüchliches Bild: Selbst dann, wenn wir im ethischexistenziellen Selbstgespräch Monologe zu führen glauben, ist immer schon der so genannte Andere anwesend. Wir sind nie wirklich allein, denn in den ersten Interaktionen unseres Lebens hat sich in unserem Inneren ein imaginärer Gesprächspartner eingenistet, der uns in die Lage versetzt, auch in Abwesenheit eines faktischen Gegenübers Selbstverständigung zu betreiben. Insofern ist im autobionarrativen Prozess immer schon Zweisamkeit. Auf der anderen Seite entspricht diesem imaginären Dialog aufgrund der frühkindlichen Verlust- und Trennungserfahrungen längst keine "wirkliche" Zweisamkeit mehr. Die Zwei-in-Einheit der frühen monadischen Intimbeziehung ist in dem Moment, in dem wir zur Sprache kommen, bereits zerbrochen. Insofern geht der Andere, selbst wenn er sich in unseren Köpfen breit machen wird, im Zuge der Subjektwerdung auf ganz konkrete Weise auch verloren. Die ur66 Vgl. Reinhold Esterbauer (2002): "Zinuner ohne Aussicht. Zum Verhältnis von Einsamkeit und Einheit", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 5/2002. Dass hier die Raumkategorie "Zimmer" als paradigmatischer Ort schützenden Rückzugs diskutiert wird, ist- tiefenpsychologisch gesehen- natürlich kein Zufall. 67 Am Ende mag dies gar fiir so manche philosophische Theoriebemühung gelten. Es ist daran zu erinnern, dass der in dieser Hinsicht wohl berühmteste aller Denker, Sokrates nämlich, das Kind einer Hebamme war und dass seine philosophische Methode, mit der er seine verblendeten Gesprächspartner ein zweites Mal zur Welt zu bringen versuchte, "Mäeutik" oder eben "Hebanunenkunst" genannt wird. Dazu mehr in: Sloterdijk (1988).

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sprungliehe Nähe löst sich auf in Subjekt 1 und Subjekt 2 und geht damit letztlich doch in Einsamkeit über. Die im Folgenden zu erhellende These wird lauten: Der heute viel beschworene Begriff der "Intersubjektivität" soll eben diesem Umstand Rechnung tragen. Er kann uns dabei helfen, die entsprechenden Widersprüche des autobionarrativen Selbstverhältnisses verständlich zu machen. Die Frage der Intersubjektivität betrifft die "Wiederaufnahme" von Beziehungen, die mit den Trennungserfahrungen frühester Lebensphasen abgebrochen sind. Was in bilateralen - und später dann auch multilateralen - Interaktionen seine Fortsetzung findet, ist eine Form der Sozialbeziehung, die ursprünglich keiner klärenden Worte bedurfte. Intersubjektivität bringt zusammen, was schicksalhaft und unwiderruflich in zwei Teile zerfallen ist und auf seltsame Weise in frühere Zustände zurückstrebt Auf dem lebensgeschichtlichen Weg von Subjekt 1 zu Subjekt 2 (und später dann auch zu Subjekt 3, 4, 5 etc.) öffnet sich ein "Zwischen", das eine frühere, engere Verbindung ersetzt. Aber wie genau vollzieht sich die Transformation jener ursprünglichen Zwei-in-Einheit in die ihr nachfolgende, kompensatorische Intersubjektivität? Wie weit genau lässt sich die Spur dieser Ersatz-Zweisamkeit lebensgeschichtlich zurückverfolgen? Die bisherigen Überlegungen zum symbiotischen, monadischen Urzustand liefen auf die Annahme hinaus, dass von einer entwickelten SubjektSubjekt-Beziehung überhaupt erst ab dem Moment die Rede sein kann, wo sich der oder besser die so genannte Andere deutlicher als zuvor als Andere bemerkbar macht. Das angehende Subjekt muss sich in einem konkreten anderen Subjekt reflektieren können, damit von mehr als einem bloß vagen Hier und Dort die Rede sein kann. Wann aber ist dieser Zeitpunkt gekommen? Interaktionistische Theorien einer "Individuierung durch Vergesellschaftung" 68 folgen der Überzeugung, dass Subjektivität und Intersubjektivität als das "gleichursprüngliche" Resultat eines zweifellos erst nachgeburtlich einsetzenden Interaktionsgeschehens zu deuten sind. Dieses könne frühestens dann anheben, wenn sich mit der zunehmenden Abwesenheit der schützenden Mutter das zuvor innige, nahezu ungeschiedene Fürsorgeverhältnis aufzulösen beginnt.69 Erst jetzt begegnen sich, für beide deutlich sichtbar, zwei Subjekte im engeren Sinne, ein vorhandenes und ein erst noch werdendes, und kommunikatives Handeln soll als entscheidender Vermittler den dabei entstehenden Zwischenraum überbrücken.

68 Habermas (1988a). Zum Folgenden siehe aber auch die Beiträge in: Hans Rudolf Leu/Lothar Krappmann (Hg.) (1999): Zwischen Autonomie und Verbundenheit, Frankfurt/Main: Suhrkamp. 69 Habermas hat diese entwicklungspsychologische Datierung jüngst noch einmal ausdrücklich bekräftigt. Siehe ders. (2001 ), S. 65.

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Nun ist aber weiter oben die Überzeugung entwickelt worden, dass Kleinkinder ihre ersten, ja, vielleicht sogar ihre prägnantesten Verlusterfahrungen bereits vor jeder Eingewöhnung in die Sprache durchleben. Daher muss die weit verbreitete interaktionistische Ansicht, Individuierung setzte erst mit dem Erlernen der Sprache ein, auf Anhieb problematisch erscheinen. Vielmehr lag hier bereits der Verdacht nahe, dass in der Folge einer Kette eben auch vorsprachlicher Verluste ein wie immer rudimentäres kindliches Differenzierungsvermögen schon viel früher vorhanden ist. Somit ist fraglich, ob das intersubjektive oder doch zumindest interaktive Individuierungsgeschehen nicht entsprechend vordatiert werden muss. Das dem tatsächlich so ist, darin wird die Pointe, aber auch die Skurrilität der nun folgenden Überlegungen liegen. Wir haben davon auszugehen, dass die spätestens mit der Geburt und den ihr folgenden Abnabelungsprozessen zerfallende Einheit von Beginn an eine, wenn auch schwach gespürte, Zweiheit, ja, vermutlich sogar Dreiheit ist. Auch wenn sich die Beteiligten an diesem Dramas füreinander erst viel später als Subjekte im engeren Sinne konstituieren werden (und dabei einer der drei gänzlich verloren gehen wird), wird der Embryo bereits sehr früh nicht nur ein erstes Hier und Dort, sondern auch hier schon ein erstes "Mit" verspürt haben. Im Zuge der Explikation dieser spekulativen Annahme wird sich die Vermutung eines "primären Narzissmus", d.h. einer ursprünglich vollkommen ungeschiedenen Ganzheitserfahrung, die hier bislang ja lediglich für das postnatale Versorgungsverhältnis zurückgewiesen werden konnte, selbst noch auf pränataler Ebene als irrig erweisen. Wenden wir uns dazu aber zunächst noch einmal jener nachgeburtliehen Intimbeziehung zwischen Mutter und Neugeborenem zu, von der relativ unumstritten ist, dass es sich um ein körperlich-emotionales Versorgungsverhältnis handelt, dessen Gelingen, aber auch Misslingen einen bleibenden Eindruck auf das Seelenleben des Kindes hinterlassen wird. Nach Ansicht der Objektbeziehungstheorie ist das Maß der Fürsorge, das dem Kind in den ersten Monaten nach seiner Geburt zuteil wird, für die Herausbildung eines elementaren Selbst- und Weltvertrauens sowie für alle spätere Reifeentwicklung und Beziehungsfähigkeit verantwortlich.70 Dies gilt einerseits für die Quantität und Qualität der aufgebrachten Fürsorgeleistungen selbst; man denke an Ernährung, Wärme, Nähe, Zuspruch oder auch Stimulation. Andererseits werden sich immer auch jene nahezu unausweichlichen Angst- und Frustrationserfahrungen ins Gedächtnis einschreiben, die sich für das Neugeborene aus den alsbald einsetzenden Abgrenzungsbewegungen der Mutter ergeben, die sich nach der Geburt allmählich wieder anderen Dingen und Bezugspersonen zuwendet. Das Kind wird nun

70 Jessica Benjamin (1993): Die Fesseln der Liebe, Frankfurt/Main: Fischer; Martin Domes (1993): Der kompetente Säugling, Frankfurt/Main: Fischer.

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lernen müssen, diese frühen Versagungs- und Trennungserlebnisse so zu verarbeiten, dass hintereinander oder gar zugleich Empfindungen der Sehnsucht, Zuneigung und Liebe, aber auch der Abhängigkeit, Angst und Aggression auftreten dürfen, ohne dass die Seele des Kindes dadurch zerrissen wird. Erst wenn sich beide, Kind und Mutter, zunehmend als abhängige und zugleich auch unabhängige, verfügbare und zugleich auch unverfügbare Wesen lieben und respektieren lernen, wird das Kind jenes Welt- und Selbstvertrauen ausbilden können, das es ihm ermöglicht, zukünftig auch bei Abwesenheit seiner engsten Bezugspersonen ohne Panik existieren bzw. alleine sein zu können. 71 Um zu illustrieren, wie sich ein Scheitern frühester interaktiver Intimbeziehungen desintegrierend auf das spätere Erwachsenenleben auswirken kann, und zwar als eine existenzielle Schwächung des Selbst- und Weltvertrauens, die später häufig allein durch faktische Andere kompensiert werden kann, seien hier zwei kurze Beispiele aufgeführt, ein eher banales und ein nahezu abstruses. Der Psychoanalytiker Karl König, der von einem Bedürfnis nach Anwesenheit "steuernder Objekte" spricht, berichtet von einem Studenten, der sein Fahrrad reparieren will. Er hat es dazu komplett auseinander genommen. Als er es wieder zusammenbauen möchte, scheitert er zunächst und verzweifelt. Erst als zufallig ein guter Bekannter vorbeikommt und sich zu ihm gesellt, ohne ihm Hilfe oder Ratschläge anzubieten, gelingt dem jungen Mann der Zusammenbau des Fahrrads ohne jede Mühe. 72 Im zweiten Beispiel berichtet Bela Grunberger, ebenfalls Psychoanalytiker, aus dem Intimraum dessen, was er "monadische" Kommunion nennt: "Es handelt sich um einen jungen Mann, der wegen verschiedener Beziehungsschwierigkeiten, einiger somatischer Symptome und sexueller Störungen usw. in die Analyse kam. Nachdem er sich die Grundregel, die der Therapeut ihm mitteilte [gemeint ist das psychoanalytische Gebot "freien Assoziierens", A. P.], angehört hatte, legte er sich auf die Couch und schwieg für den Rest der Stunde. Er kam zur folgenden Sitzung und verhielt sich einige Monate lang genauso. ln einer bestimmten Sitzung äußerte er sich schließlich und sagte: »Das ist es noch nicht, aber es geht schon besser.« Danach versank er wieder in Schweigen, und nach einigen Monaten, in denen er abermals absolut stumm blieb, stand er am Ende auf, erklärte, daß er sich heute gut fühle, hielt sich für geheilt, bedankte sich bei seinem Therapeuten und ging fort. "73

71 Zu dieser vor allem von Winnicott entwickelten These siehe auch Nussbaum (2000). Dort heißt es: "Die Intimität des Alleinseins ist immer inhärent auf Beziehung bezogen: Immer ist jemand gegenwärtig" (S. 103). 72 Kar! König (1999): Kleine psychoanalytische Charakterkunde, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, S. 33. 73 Bela Grunberger (1988): Narziß und Anubis, Bd. 2, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 195.

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Gehen wir davon aus, dass sich diese Ereignisse tatsächlich in Grunbergers Praxis abgespielt haben. Selbstverständlich können wir nur ahnen, was sich in jenen Monaten dieser beinahe wortlosen "Therapie" wirklich ereignet hat und wie es beiden, dem Patienten und auch dem Therapeuten, möglich gewesen ist, eine derart intime Stille auszuhalten. Man kann den am Ende vom Patienten selbst konstatierten Heilungserfolg als pure Einbildung abtun. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass der beziehungsgestörte junge Mann in der sprachund anspruchslosen Nähe seines Therapeuten zu einem Selbst- und Weltvertrauen gefunden hat, das ihm bis dahin, d.h. zeitlebens verwehrt gewesen war. Es ist, als habe die Therapie eine intime Urszenerie wiederholt und vor allem wiedergutgemacht, deren Misslingen in lebensgeschichtlichen Urzeiten dramatische Spuren hinterlassen hat. Die monatelange Klausur auf Sessel und Couch scheint erstmals im Leben des jungen Mannes eine Art Ruheraum geschaffen zu haben, in dessen Bipolarität, d.h. angesichts eines schweigenden "Mit", er endlich zu einer heilsamen Selbstintegration zu kommen vermochte.74 Aber selbst wenn wir die von Grunberger berichtete Episode tatsächlich als eine biographische Rehabilitationsmaßnahme verstanden wissen wollen, ist bei genauerem Hinsehen doch fraglich, inwiefern sie als Beispiel für das herhalten kann, was hier im Anschluss an die Objektbeziehungstheorie als Kompensation für das Scheitern einer postnatalen Intimbeziehung in Aussicht gestellt wurde. Zwar sind wir davon ausgegangen, dass die bald nach der Geburt einsetzende kompensatorische Fürsorge - Ernährung, Wärme, Nähe etc. - schon vor dem eigentlichen Spracherwerb anhebt und in diesem Sinne dann auch "ohne Worte" auskommen kann, doch ist unklar, woran uns ein derart einsilbiges und zudem auf beiderlei Seiten weitgehend inaktives Zusammensein erinnern soll. Selbst wenn wir berücksichtigen, dass auch ohne gemeinsame Sprache, und zwar durch den Austausch von Berührungen, Küssen, Blicken, Lächeln etc., emotional substantielle Interaktionen möglich sind, so ist mit Blick auf die erste Zeit nach der Geburt dennoch fraglich, ob es im Repertoire solcher frühen Nähe-Formen Szenen gibt, die "auch nur von Ferne dieser duellhaften Verschmelzung zweier Schweigenden über Monate hin als Vorbild gedient haben" könnten. 75 Müssen wir die hier umrissene Beziehungsproblematik nicht noch einmal zuspitzen und nach Frühformen menschlichen Zusammenseins Ausschau halten, die der in Grunbergers Praxis restituierten Ruhesituation näher kommen?

74 Sloterdijk (1998), S. 353ff. Überlegungen dieser Art werden von Heilungserfolgen im Zuge von therapeutischen "Halte"-Situationen gestützt, in denen Patienten mit teilweise schweren autistischen Störungen in embryonaler Lage gebettet werden, bis sie allmählich ihre Ängste verlieren und zur Ruhe kommen. 75 Sloterdijk (1998), S. 357.

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Fraglich ist also, ob das Kind nicht schon im Mutterbauch die Erfahrung einer ersten elementaren Form der Interaktion macht, in die sich das Baby wortlos und passiv einfügt. Weiter oben ist schon darauf hingewiesen worden, dass der Fetus im Mutterleib bereits recht früh zu sinnlicher Wahrnehmung fähig ist. 76 Im Alter von acht Wochen reagiert der Embryo auf akustische Stimulation mit elektrischer Hirntätigkeit, nach vierundzwanzig Wochen mit Veränderungen der Herzfrequenz oder gar Augenblinzeln. Der Klang der mütterlichen Stimme wird sofort nach der Geburt wiedererkannt, so dass nicht auszuschließen ist, dass er vom Baby bereits während der Schwangerschaft als etwas Vertrautes und zugleich Verschiedenes wahrgenommen wird, auch wenn das Kind hier selbstredend noch kein genaueres Bild von der Mutter haben kann. Aber vermutlich wird auch schon der über die Nabelschnur und die Plazenta vermittelte Austausch von Nahrung, Blut, Sauerstoff, Hormonen, Giften u.ä. einen ersten Eindruck von einer mal mehr, mal weniger befriedigenden Versorgung von "irgendwoher" aufkommen lassen, womit wir am vermutlich bizarrsten Punkt dieses Rekurses angelangt wären. Eben war bereits von einem unsichtbaren "Dritten" die Rede, einem Zeugen, der sich zum Kind und der Mutter hinzugesellt. Man könnte annehmen, der Vater des Kindes sei gemeint, doch erstaunlicherweise kommt dieser in den hier diskutierten tiefenpsychologischen Ansätzen so gut wie gar nicht vor. 77 Stattdessen wird vereinzelt von einer Art Zwilling des Embryos berichtet, der während der gesamten Schwangerschaft in dessen Nähe ist. In unserem Kulturkreis wissen die Menschen nur sehr wenig über diesen intimen Alliierten. In manch anderer Kultur wird er hingegen kultisch verehrt. Man feiert, beerdigt oder aber verspeist ihn. Hierzulande landet er gleich nach der Geburt im medizinischen Abfall, es sei denn, er wird zu pharmazeutischen Zwecken verarbeitet. Gemeint ist die Plazenta. 78 Ihr Name stammt aus dem Lateinischen und bedeutet "Kuchen". Weil die Plazenta eine Nahrungsquelle ist, die zwischen Mutter und Kind vermittelt, wird sie im Volksmund daher "Mutterkuchen" genannt. Am Ende der Schwangerschaft wiegt die Plazenta rund 500 g. Sie besteht aus dunkelrotem, schwammigem Gewebe, durch das sich zahlreiche große und kleine Blutgefäße ziehen, die sich baumartig verzweigen. Das hat ihr den Beinamen "Lebensbaum" eingebracht. Neben der Versorgung des Fetus mit Nahrung, Blut und Sauerstoff sowie der Entsorgung unterschiedlichster Abbauprodukte übernimmt die Plazenta eine lebenswichtige Filterfunktion: Gift- und Schadstoffe, die sich im mütterlichen Blut befinden, werden, so gut es geht, vom Ungeborenen ferngehalten. Damit

76 Tomatis (1987). 77 Ob die anti-freudianische Hinwendung vom ödipalen zum preödipalen Drama die Rolle des Vaters nicht zu stark vernachlässigt, wäre zu diskutieren. 78 Dazu Sloterdijk (1998), S. 380-391 (mit weiteren Hinweisen).

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sichert die Plazenta dem Kind eine zumindest relative immunologische Individualität und Unabhängigkeit1 9 Kurz vor der Geburt beginnt die Plazenta ihre Arbeit allmählich einzustellen. Sie hat ausgedient und wird im Zuge der buchstäblichen Abnabelung des Kindes als "Nachgeburt" ausgestoßen und entsorgt. Damit löst sich die biologische Zwei-in-Einheit von Mutter und Kind auf, deren vorgeburtliche Schnittstelle durch Plazenta und Nabelschnur markiert war. Bis heute ist medizinisch umstritten, ob die Plazenta ein Organ der Mutter ist oder ob sie organisch zum Kind gehört, da sie sowohl mütterliche als auch fetale Gewebeanteile aufweist. Aufgrund der relativen Unabhängigkeit, die sie dem Kind, aber auch der Mutter einräumt, erscheint es angemessen, die Plazenta tatsächlich als etwas Drittes oder besser noch als "Zwischen" zu verhandeln. Sie ist der vorgeburtliche Vermittler zwischen Hier und Dort, aber auch das hormonelle, immunologische und toxikologische Einfallstor in der versorgenden Mitte von Mutter und Kind: das "stoffliche Medium zwischen zwei Individuen", wie Sloterdijk sagt, "die eines Tages- wenn sie moderne Menschen sind -miteinander telefonieren werden".Ro Medizinische Ultraschalluntersuchungen zeigen, dass Feten während der Schwangerschaft nicht nur passiv, sondern auch aktiv, etwa durch intensives Lecken, mit der Plazenta in Kontakt stehen.R 1 Sicherlich ist fraglich, ob man so weit gehen sollte, in der Plazenta den "ersten Lebenspartner"82 des Babys ausmachen zu wollen. Ultraschallbilder dieser Art sprechen jedoch für die Annahme, dass der heranwachsende Embryo die Anwesenheit jenes ersten Mediums zumindest spürt, und zwar als intime Nähe eines überwiegend schützenden, versorgenden "Mit" oder auch als Zwilling bzw. Doppelgänger. Auf eine flüchtige Vorahnung in Bezug auf diese Annahme stoßen wir, das mag überraschen, bereits bei Freud. In einem Brief an Carl Gustav Jung aus dem Jahre 1911 äußert er die Vermutung, dass in der so genannten Nachgeburt der Ursprung aller weitverbreiteten Mythologien und Geschichten über Zwillinge und Doppelgänger auszumachen sei. 83 Zu denken ist hier etwa an

79 So zeigen neueste Untersuchungen von Babys HlV-infizierter Mütter, dass die Übertragungsrate der Viruserkrankung hierzulande durch geeignete präventive Maßnahmen auf unter 2 % gesenkt werden konnte. Die meisten der betroffenen Babys infizieren sich erst beim eigentlichen Geburtsvorgang oder später beim Stillen. Dazu Bernd Buchholz u.a. (2002): "HlV-Therapie in der Schwangerschaft", in: Deutsches Ä.rzteblatt, 24/2002. 80 Sloterdijk (1998), S. 301. 81 Alessandra Piontelli, zitiert nach Janus (1997b ), S. 45f. 82 Terence Dowling/Dirk Leinweber (2001): "Die Plazenta als erster Lebenspartner", in: Deutsche Hebammen Zeitschrift, 12/2001. 83 Sigmund Freud/Carl Gustav Jung (1974): Briefwechsel, Frankfurt/Main: Fischer, S. 274f. 214

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Romulus und Remus, Don Quixote und Sancho Panza, Robinson Crusoe und seinen Diener Freitag und nicht zuletzt wohl auch an Dick und Doof. Menschen, die das vermeintliche Glück haben, einen echten Zwillingsbruder oder eine echte Zwillingsschwester zu besitzen, werden Überlegungen dieser Art vermutlich für weniger abstrus halten als andere. Im Fall von Zwillingsschwangerschaften haben medizinische Ultraschallbilder frühe Formen fetaler Interaktivität belegen können. Die Enge des gemeinsam bewohnten Uterus führt zwischen den Geschwistern zu teilweise kämpferischen, buchstäblich mit Fäusten ausgetragenen Auseinandersetzungen, aber auch zu überaus zärtlich und liebevoll anmutenden Annäherungen. 84 Es kann daher kaum ausgeschlossen werden, dass sich aufähnlich elementare Weise auch der ohne echten Zwilling heranwachsende Embryo mit seinem intimen Alliierten, der Plazenta, austauscht, was im Seelenleben des Kindes, Spuren eines primordialen Miteinanders hinterlassen wird. In gewisser Weise zieht demnach jeder Mensch, nicht nur der echte Zwilling, das Los, von Anfang an im Nahfeld eines mal mehr, mal weniger schützenden Gegenübers aufzuwachsen, so dass wir werden sagen müssen: "Die hinreichend gute Mutter ist selbst nicht die unmittelbar Zweite, sondern die Dritte im Bunde der Zwillinge, von denen das lch der manifeste und der Urbegleiter der latente Teil sind. Mutter-und-Kind bilden immer schon ein Trio, in dem der unsichtbare Partner des Kindes mitspielt."R 5 Doch wird dieser unsichtbare Dritte, jener Zeuge der pränatalen Situation, bis auf weiteres unsichtbar bleiben, weil, wie Sloterdijk treffend feststellt, die "gynäkologische Inquisition" der bürgerlich-individualistischen Welt den Glauben an das Alleingeborenwerden durchsetzt, indem sie den Zwilling des Embryos diskret beiseite schafft. 86 Damit gerät bereits kurz nach der Geburt die für das Seelenleben maßgebliche Tatsache aus den Augen, dass menschliches Leben in einer Art Dreifaltigkeit beginnt: die Zwei-in-Einheit von Mutter und Kind ist durch ein liiertes Medium vermittelt. Wollte man die religiöse und zugleich patriarchale Verschiebung dieser Tatsache, wie sie in der trinitarischen Formel "Vater, Sohn und heiliger Geist" zum Ausdruck kommt, rückgängig machen und auf deren psychophysische Wurzeln zurückführen, so käme man offenbar zu der revolutionär neuen Formel: "Mutter, Baby und Plazenta". Auch wenn man diese- im Idealfall nahtlos ineinander-

84 Chamberlain (1997), S. 32f. Die Hebamme meines Patenkindes deutete dessen typische nachgeburtliche Schlafposition - die Stirn, nach wildem Kampf, unter einem Stofftier begraben - als Reminiszenz an dessen vorgeburtliche Lage an der Seite der Plazenta. 85 Sloterdijk (1998), S. 450. 86 Ebd., S. 388. 215

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greifende - Interaktion nicht als eine entwickelte Subjekt-Objekt-Beziehung oder gar als Subjekt-Subjekt-Beziehung missverstehen darf, so erweist sich damit doch die weitverbreitete Annahme eines omnipotenten oder primären Narzissmus auch schon auf pränataler Ebene als unangebracht. Bereits hier existieren Vorboten eines späteren Ich und jenes Anderen, auf das es durch ein Medium bezogen ist und bleiben wird. Zwar sollte entwickelte, d.h. vor allem sprachlich vermittelte Intersubjektivität weiterhin, wie es in den heute gängigen Sozialisationstheorien geschieht, als Resultat und Kompensation eines Verlustgeschehens interpretiert werden, das erst nachgeburtlich zu einem vorläufigen Ende kommt. Doch sind ganz bestimmte primordiale Vorformen medialisierter Intersubjektivität dem im Zuge frühkindlicher Traumatisierungen zurückbleibenden Phantasma von Beginn an eingeschrieben: als Spur eines beschützenden und versorgenden, aber eben manchmal auch nachlässigen bis feindlichen Miteinanders. Erst der Schnitt der buchstäblichen Abnabelung ist es dann, der Individualität im engeren Sinne konstituiert, worüber im Übrigen der metaphorische Ausdruck "Nabelschau" Auskunft gibt. Der sich mit den ersten Atemzügen entfaltende, autonome Blutkreislauf des Neugeborenen komplettiert das biologische Sinnbild dieses ersten "Lebensabschnitts". Wollte man Nietzsche imitieren: Das Individuum ist eine Narbe. Individualität bedeutet Abgetrenntsein-vom-Anderen. Und das im Zuge dieser schmerzhaften Vereinzelung Gestalt annehmende Phantasma der Unversehrtheit ist demnach, retrospektiv gesehen, stets als Wunsch nach Unversehrtheit im Verbund mit dem Anderen zu verstehen. Das zurückbleibende Phantasma weist somit deutlich eine regressive Tendenz in Richtung soziale Wiedervereinigung auf. Hier ist kein "Omnipotenzwahn" am Werke, sondern, wie Castoriadis es prägnant ausdrückt, ein regelrechter "Vereinigungswahn": "Was auf dem Feld des Unbewußten alle darin auftauchenden Vorstellungen auf seine Kraftlinien ausrichtet, ist eben dieser über alle Wünsche herrschende Wunsch nach vollkommender Vereinigung, Abschaffung aller Unterschiede und Entfemungen."s7 Wie schon Freud zu Recht vermutet hat, hält unsere Kultur für die hier freigelegten Früherinnerungen eine Vielzahl symbolischer Ersatzbildungen parat. Drei besonders berühmte Beispiele für das kulturgeschichtliche Echo auf jenes erste medialisierte Miteinander sollen hier kurz in Erinnerung gerufen werden. Blicken wir zunächst auf einen der erfolgreichsten Kino-Filme aller Zeiten: E. T -Der Außerirdische ( 1982, Regie: Steven Spielberg). 88 Zur Erinnerung: Der Vater des sechsjährigen Elliot hat nach Ehekonflikten die Familie 87 Castoriadis (1984), S. 494. 88 Dazu auch Janus (1997b), S. 163.

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verlassen. Die dadurch hervorgerufenen Verlusterfahrungen und -ängste des Jungen werden im Laufe des Filmes durch die Begegnung und Freundschaft mit einem seltsam embryonal anmutenden Außerirdischen, genannt "E.T.", aufgefangen, der zum Begleiter und Alliierten des irdischen Halbwaisen wird. 89 Das weitere Geschehen lässt sich ohne große Umschweife so deuten, dass der als angstvoll erlebte Verlust des Vaters das Trauma der Geburt reaktiviert und den regressiven, phantasmatischeil Wunsch des Jungen nach Wiedervereinigung mit seinem Urbegleiter wachrüttelt, wobei dieser Wunsch dann in der Freundschaft zu E.T. seine kompensatorische Erfüllung findet. "Nach Hause telefonieren!"- in dieser sich im Film wieder und wieder artikulierenden Sehnsucht des ja ebenfalls von seiner Heimat "abgeschnittenen" Außerirdischen kommt jene buchstäblich angeborene Melancholie zum Ausdruck, die in der mobilfunkarmen Zeit der 1980er Jahre noch eines realendie Nabelschnur repräsentierenden- Telefonkabels bedurfte, um wenigstens momenthaft gestillt zu werden. Das Geburtstrauma und die Trennung vom Zwilling ereignet sich erneut, als der inzwischen von Polizei und medizinischen(!) Forschern verfolgte E.T. unter dramatischen Umständen von einem UFO heimgeholt wird. Elliot muss nun, gestärkt durch Erinnerung, Wiederholung und Durcharbeitung des ursprünglichen Zur-Welt-Kommens, lernen, selbständig und "erwachsen" zu werden, was für ihn vor allem bedeuten wird, dem unbewältigten Familienkonflikt ins Auge zu sehen. So verwundert es kaum, dass in den Schlussszenen ein potenzieller neuer Vater ins Bild rückt. Das zweite berühmte Beispiel betrifft das biblische Bild der Vertreibung aus dem Paradies. 90 Zunächst ist das Augenmerk vor allem auf den Umstand zu richten, dass das Exil, das Gott dem Menschen auferlegt, von Beginn an zu zweit angetreten wird. Adam und Eva werden gemeinsam für die Anmaßung des göttlichen Privilegs, in den Besitz der Erkenntnis gelangen zu wollen, abgestraft: Eva als erste, und zwar - kaum zufällig - mit den Leiden des Gebärens ("Ich will dir viel Schmerzen schaffen, wenn du schwanger wirst"). Anschließend Adam, dem die Mühen der Subsistenzwirtschaft auferlegt werden ("Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen"). 91 Zudem endet bekanntlich ihre Aufenthaltsgenehmigung, so dass sie mit sofortiger Wirkung abgeschoben werden. Es sei daran erinnert, dass Eva ein Zwilling von Adam ist, da sie aus dessen Rippe geschnitzt wurde, damit sie stets "um

89 Auch das Erzählmuster Waisenkind lässt sich in zahlreichen Mythen, Märchen und Filmen aufspüren. Das hohe Identifikationspotenzial, das diese Erzählungen selbst für jene Menschen mit sich bringt, die keine echten Waisenkinder sind, scheint für die Valenz des hier angestellten Interpretationszusammenhangs zu sprechen. Diesen Hinweis verdanke ich Alexandra Deak. 90 Für einen einschlägigen Kommentar siehe Claus Westermann (1974): Biblischer Kommentar Altes Testament: Genesis 1-11, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener. 91 1. Mose 3 (Luther-Übersetzung).

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ihn wäre". Im Zuge dieses doppelten Schöpfungsaktes, der sogleich auch als Teilung zu verstehen ist, wurde der Leser bereits mit einer folgenreichen Prognose konfrontiert: "Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen, und sie werden sein ein Fleisch."92 Wichtig an dieser göttlichen Prognose ist nicht nur, dass darin die spätere Vertreibung des paradiesischen Paares bereits vorausgesagt wurde ("Vater und Mutter verlassen"), sondern vor allem, dass hier eine zentrale Eigenheit menschlicher Intersubjektivität zur Andeutung kommt, von der nun ausdrücklich die Rede sein soll. Gemeint ist die kompensatorische Kraft der Liebe. Mit der alttestamentarischen "Teilung" des Menschen in Adam und Eva ist der Bogen zu unserem dritten Beispiel gespannt, und zwar zu einem berühmten Trinkgelage, von dem uns Platon bericht. In dessen Symposion (dt. Das Gastmahl) haben sich gelehrte Gäste um den Philosophen Sokrates versammelt, um gemeinsam die Natur und das Wesen der Liebe zu ergründen. 93 Einer der Gäste, Aristophanes, weiß von der urzeitliehen Existenz seltsamer, kreisrunder Lebewesen zu berichten, die sich - Rad schlagend- auf vier Armen und vier Beinen fortbewegt haben sollen. Diese possierlichen Tierchen besaßen die Eigenart, sowohl Männchen als auch Weibchen zu sein. In geschlechtlicher Hinsicht waren sie demnach doppelt ausgestattet. Ihre Lebensweise war heiter und ausgelassen. Es kam jedoch der Tag, da Zeus es für angebracht hielt, die seltsamen Zwitterwesen zu bestrafen. Ihm war zu Ohren gekommen, sie wollten sich - wie Adam und Eva- Zugang zum Himmel der Götter verschaffen. Da entschied Zeus, die Doppelwesen in zwei Hälften zu zerschneiden und sie überdies mit aufrechtem Gang zu versehen. Man wird kaum umhinkommen, die Beschreibung der medizinischen "Nachsorge" als Metapher für Menschwerdung im Allgemeinen, für Geburt und Abnabelung im Besonderen zu deuten: "Sobald er aber einen zerschnitten hatte befahl er dem Appolon ihm das Gesicht und den halben Hals herumzudrehen nach dem Schnitte hin, damit der Mensch seine Zerrissenheit vor Augen sittsamer würde, und das übrige befahl er ihm auch zu teilen. Dieser also drehte ihm das Gesicht herum, zog ihm die Haut von allen Seiten über das was wir jetzt den Bauch nennen herüber, und wie wenn man einen Beutel zusammenzieht faßte er es in eine Mündung zusammen, und band sie mitten auf dem Bauche ab, was wir jetzt den Nabel nennen. Die übrigen Runzeln glättete er meistenteils aus [... ] und nur wenige ließ er stehen um den Bauch und Nabel zum Denkzeichen des alten Unfalls". 94

92 I. Mose 2. 93 Dazu Stanley Rosen (1968): Plato "s Symposium, New Haven u. London: Yale UP; Kenneth J. Dover (1966): "Aristophanes' Speech in Plato's Symposium", in: Journal ofHellenie Studies, 8611966. 94 Platon: Das Gastmahl, Werke, Bd. 11.2, Berlin 1986: Akademie, S. 287 (190f.).

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Schon bald nach dieser gewaltsamen Operation setzt, laut Aristophanes, das ein, was Castoriadis Vereinigungswahn nennen wird: Die getrennten Hälften irren hilflos und ängstlich umher, so lange bis sie ihre bessere Hälfte wiedergefunden haben, um sich sehnsüchtig in die Arme zu sinken. So verharren sie reglos in engster Umarmung, bis sie am Ende verhungern und sterben, "weil sie nichts voneinander getrennt tun wollen". 95 Da hat Zeus Erbarmen mit den armen Hälften-Tierchen. Zudem sieht er ein, dass er auf die menschliche Opferbereitschaft zu verzichten hätte. Er ordnet erneut eine anatomische Reorganisation ihrer Körperteile an. Von nun an sind die Geschlechtsteile so am Körper angebracht, dass beide Hälften sich sexuell vereinigen und für Nachkommen sorgen können. Daraus zieht Aristophanes den Schluss: "Von so langem her ist also die Liebe zu einander den Menschen angeboren, um die ursprüngliche Natur wiederherzustellen, und versucht aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen. Jeder von uns ist also ein Stück von einem Menschen, da wir ja zerschnitten, wie die Schollen, aus einem zwei geworden sind. Also sucht nun immer jedes sein anderes Stück."96 In der hier von Platon dokumentierten Deutung einer anthropologisch tief sitzenden Melancholie, die im Verlust früherer Verbundenheit verwurzelt ist und uns Menschen unaufhörlich nach Liebe streben lässt, scheinen Erinnerungen an pränatale Allianzen anzuklingen, von denen, bei oberflächlicher Betrachtung, allenfalls noch jene am Körper verbliebenen "Denkzeichen des alten Unfalls" Zeugnis ablegen. Fassen wir alle drei Beispiele zusammen, so kann in der kulturgeschichtlichen Rückschau ein interpretatorischer Rahmen abgesteckt werden, der das Wesen der menschlichen Liebe auf früheste Erinnerungen an ein intrauterines Miteinander zurückführt: Ausgehend von der in E. T zum Ausdruck kommenden Früherinnerung an einen plazentalen Urbegleiter kann der Mythos der gemeinsamen Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies bis hin zu den Zwei-Hälften-Tierchen in Platons Symposion zurückverfolgt werden. Mythische Vermutungen dieser Art über den motivationalen Ursprung der Liebe blieben jedoch blumig und metaphorisch, wenn sie sich nicht, wie alle anderen der oben angestellten Spekulationen auch, anhand von medizinisch-psychologischem Forschungsmaterial belegen ließen. Verfolgen wir ein letztes Mal den Weg zurück vom Postnatalen über das Perinatale bis ins Pränatale.

95 In dieser sexuell konnotierten Sehnsucht nach totaler Regression in Zweisamkeit ist der Ursprung des von der Psychoanalyse behaupteten "Todestriebes" zu vermuten. Man denke hier auch an die französische Metapher "Je petit mort" für den Orgasmus. 96 Platon: Das Gastmahl, a.a.O., S. 287f. (191 ).

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Aus Sicht der Objektbeziehungstheorie steht für das nachgeburtliche Versorgungsverhältnis außer Zweifel, dass alle späteren Liebesbeziehungen "von der unbewußten Rückerinnerung an jenes ursprüngliche Verschmelzungserlebnis angetrieben werden, das die ersten Lebensmonate von Mutter und Kind geprägt hatte". 97 Wenn der dort ausgetragene Kampf um Anerkennung, d.h. das spannungsreiche Wechselspiel von Abhängigkeit und Selbständigkeit, derart befriedet worden ist, dass es dem Kind mit Hilfe der Mutter möglich wurde, ein Miteinander einzugehen und auszuhalten, in dem Einssein und Getrenntsein zur Versöhnung kamen, so hat das Kindjene seelischen Voraussetzungen erworben, die auch für das erwachsene Liebesleben maßgeblich sein werden. Inwieweit der erwachsene Mensch in seinen romantischen und erotischen Abenteuern jene anspruchsvolle Form wechselseitiger Anerkennung erleben wird, in der beide Partner sich ineinander verlieren, ohne sich selbst zu verlieren- was Regel seinerzeit mit dem großen Wort "Seinselbstsein in einem Fremden"98 belegt hat -, wird maßgeblich davon abhängen, ob der Mensch in frühester Kindheit entsprechende Erfahrungen einer wechselseitigen Liebe gemacht hat, in der die Gegensätze zwischen mächtig und hilflos, aktiv und passiv überwunden waren. Ist dies der Fall, so kann den Menschen sein gesamtes späteres Leben hindurch ein entsprechender restaurativer Verschmelzungswunsch umtreiben. Allerdings muss die Objektbeziehungstheorie zugleich davon ausgehen, dass von wechselseitiger Liebe erst dann gesprochen werden kann, wenn sich die postnatale Auflösung der Mutter-Kind-Symbiose so weit erkennbar vollzogen hat, dass sich nunmehr zwei voneinander getrennte Subjekte gegenüberstehen, die sich als abhängig und unabhängig, verfügbar und unverfügbar zugleich erfahren. Nun haben aber die Tiefenpsychologen des Perinatalen darauf hingewiesen, dass der vermutlich gravierendste und schmerzhafteste Trennungsschritt bereits durch den Geburtsakt vollzogen wird. Entsprechend wäre dann auch der motivationale Ursprung der Liebe zurückzudatieren: "lm Erleiden der Entbindung fällt das zur Welt gebrachte Kind flir sich nirgendwo anders hin als in die Schwere der Freiheit und in die Arme einer Gegenschwerkraft, die umgangssprachlich Liebe heißt". 99 Der sich in der Liebessehnsucht ausdrückende Verschmelzungswunsch setzt demzufolge bereits in dem Moment ein, in dem es, medizinisch gesehen, zur Abnabelung des Kindes von der Mutter kommt. Der libidinöse Trieb des er97 Honneth (1992), S. 169. 98 Georg Wilhelm Friedrich Hege!: System der Sittlichkeit, in: Gerhard Göhler (Hg.) (1974): Georg Wilhelm Friedrich Hege!. Frühe Politische Systeme, Berlin: Ullstein, S. 25. 99 Sloterdijk (1998), S. 111.

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wachsenen Menschen ist nichts anderes als jene mit der Urtrennung und dem damit verbundenen Trauma ausbrechende Sehnsucht nach Rücldcehr in einen ehemals als beschützend empfundenen primordialen Lustzustand. Das zurückbleibende Phantasma prädramatischer Innigkeit treibt den späteren Menschen dazu, diesen Urzustand durch innigste Kontakte und durch "Einverleibung" geliebter Subjekte wiedererlangen zu wollen. Dazu Rank lapidar: "Die einzige reale Möglichkeit für die annähernde Wiederherstellung der Urlust bietet die geschlechtliche Vereinigung, das partielle rein körperliche Zurückgehen in den Mutterleib". 100 Auch wenn selbst noch die in innigsten Liebesbeziehungen erlangte Befriedigung stets Ersatzbefriedigung bleiben wird, so ist doch allein im Rückgriff auf Überlegungen, die pränatal ansetzen, deutlich zu machen, warum der spätere Liebeswahn ein Wahn "zu zweit" ist. Ginge man, wie die Objektbeziehungstheorie, von der Vorbildfunktion einer narzisstischen, strikt ungeschiedenen Erfahrungswelt des Neugeborenen aus, so wäre alle spätere Liebe im Grunde auf früheste Selbstliebe zurückzuführen. Der Sprung aus dem omnipotenten Einheitswahn eines alles verschlingenden "Ich" in die wechselseitige Liebesbeziehung eines beschützenden "Wir" wäre gar nicht erklärbar. Wenn aber das Phantasma ursprünglicher Unversehrtheit von vornherein die Spur der Intersubjektivität aufweist, dann sollte im mediatisierten Austauschverhältnis der Triade Mutter-Baby-Plazenta das phantasmatischeVorbild aller späteren libidinösen Verknüpfungen vermutet werden. Die zunächst kindliche, dann erwachsene Liebeswahl folgt, tiefenpsychologisch gesehen, einer Übertragung von Früherinnerungen, die zeitlich vor allen entwickelten Mutter-Kind-Beziehungen anzusetzen sind. Zwar wird das Seelenleben des Kleinkindes zweifellos auch durch die postnatale Verbundenheit mit der fürsorglichen Mutter geprägt und so für manches perinatales Leiden entschädigt, dennoch ist zu vermuten, dass die in der späteren Liebe zum Zuge kommende Projektion von schönsten Hoffnungen und schlimmsten Befürchtungen auch, wenn nicht wesentlich, eine Projektion intrauterinen Erlebens ist: "Die erotische Angst deutet auf ein Anderswo, von dem das Subjekt ursprünglich herkommt und das ihn nach dem Wiedersehen mit dem Schönen in eine schmerzliche Heimwehspannung versetzt. Wo diese Sehnsucht sich Rechenschaft gibt über ihre Natur, dort erweist sie sich als Spur der Erinnerung an vorgeburtliche Visionen'".lol

100 Rank (1924), S. 180. Diese zweifellos chauvinistisch anmutende Ansicht meint Rank durch den Hinweis abmildern zu können, dass Frauen gegenüber Männern die innige Erfahrung des Gebärens voraus haben. 101 Sloterdijk (1998), S. 144.

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In diesem - etwas schummrigen - Lichte verwandelt sich die großartige Idee Hegels von der Liebe als einem Seinselbstsein in einem Fremden oder auch Bei-sich-selbst-Sein im Anderen in eine Erinnerung an eben jene Frühphasen des Lebens, in der bereits vor aller Begegnung mit "echten" anderen Subjekten ein erstes schützendes und ergänzendes Gegenüber gespürt worden ist, in dessen Gegenwart, wenn es denn gut lief, der berühmte Kampf um Anerkennung gar nicht wirklich auflmmmen konnte. Das Phantasma ursprünglicher Intaktheit, das in diesem Abschnitt bereits auf pränataler Ebene als ein ursprüngliches Miteinander enttarnt werden konnte, wird im späteren Leben in intimen Liebesbeziehungen erinnert, wiederholt, restituiert und aufgehoben. Die Liebe vermittelt zwischen der latenten Erinnerung an eine intrauterine Unversehrtheit und der harten Realität extrauteriner Geworfenheit. Die regressive Sehnsucht nach einer bereits vorgeburtlich vermittelten Zwei-inEinheit gibt das Vorbild für alle späteren sehnsuchtsvollen Liebesakte des Sich-im-Anderen-Verlierensundzugleich Sich-und-den-Anderen-Findens ab, in deren Zuge nunmehr auch sprachlich fassbar wird, was im lebensgeschichtlichen Nebel versunken schien: das Wir.

4. Trennungsgerüchte und soziale Institutionen Wie das Beispiel der Liebe zeigt, wird der Mensch im späteren Leben durch eine restaurative Sehnsucht nach vollkommener Wiedervereinigung fortwährend in soziale Ersatzbildungen getrieben. 102 Aber, so mag man sich nun fragen, soll damit behauptet werden, dass dies am Ende nicht nur für die Liebe, sondern für sämtliche soziale Beziehungsformen gilt? Was z.B. ist mit Freundschaften, der so genannten Peergroup, dem Sportverein oder gar dem Staat? Sind dies denn alles bloß Kompensationen frühkindlicher Verlusterfahrungen? Spätestens an dieser Stelle der Argumentation gelangen wir zu einer Einsicht, die alle bisherigen Überlegungen massiv in Frage stellen wird, und es soll bereits vorab das Eingeständnis erfolgen, dass die Auflösung der dadurch hervorgerufenen Widersprüche hier auch nicht mehr vollständig gelingen wird. 103 Doch nähern wir uns diesem heiklen Punkt behutsam, indem wir uns zunächst der empirisch kaum zu bestreitenden Tatsache zuwenden, dass, so wichtig erfüllte Liebesbeziehungen auch sein mögen, diese doch, nach gängiger Meinung, nicht schon ausreichen, um ein im Ganzen gutes, gelingendes oder glückliches Leben zu führen. Ja, nahezu ebenso unstrittig dürfte sein, dass mit dem regressiv anmutenden Wunsch nach Restaurierung eines intrauterinen Miteinanders stets auch ein diametral entgegengesetztes Streben 102 Vgl. in diesem Zusammenhang Roland Barthes (1984): Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt/Main: Suhrkamp, bes. S. 27ff. 103 Für das Folgende waren Einwände von Horst Hanke wegweisend.

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konkurriert, das uns zweifellos nicht weniger wichtig erscheint. Im Zusammenhang des intersubjektiv vermittelten Vorgangs der Individuierung durch Vergesellschaft, aber auch im Rahmen der bisherigen Andeutungen zum Kampf um Anerkennung ist dieses Streben hier zwar schon verschiedentlich angeklungen, ohne aber eigens expliziert zu werden. Gemeint ist das Verlangen nach Autonomie und Selbstbestimmung oder besser noch nach völliger Autarkie und Unabhängigkeit. 104 Wie aber passt diese Bestrebung zur Sehnsucht nach Verschmelzung und Vereinigung? Die regressive Sehnsucht nach Ganzheit und Unversehrtheit ist bislang als motivational derart wirkmächtig eingestuft worden, dass anzunehmen wäre, Menschen müssten in ihrem Leben stets alles auf die Karte kompensatorischer Intimbeziehungen setzen, wie etwa Platons in innigster Umarmung verharrende Zwei-Hälften-Tierchen. Doch wir brauchen uns eine solche symbiotische Verschmelzungzweier Liebespartner, d.h. eine intime Klausur, die nicht etwa nur ein paar Stunden oder Tage, sondern Wochen oder gar Monate dauerte, nur einmal vorzustellen. Das ist schwer vorstellbar, weil selbst die verliebtesten Menschen früher oder später von eine gewissen Unruhe, einem Bedürfnis nach Ablösung, ja, "Abnabelung" und nach Wiederaufnahme andersgearteter Aktivitäten gepackt werden. Woher aber stammt diese Unruhe? Man mag nach den bisherigen Überlegungen zu der Annahme gelangen, dass das sich hier in ersten Ansätzen zeigende Drängen auf Autarkie als enttäuschte, trotzige oder auch neurotische Reaktion auf die sich früh einstellende Einsicht gedeutet werden muss, dass nichts im Leben die intrauterine Allianz wird ersetzen können. Und wenn das ursprüngliche Miteinander nicht restituiert werden kann, dann, so könnte man die entsprechende "antisoziale Tendenz" zusammenfassen, will man in Zukunft besser von überhaupt niemandem mehr abhängig sein. 105 Nach dieser Interpretation wäre selbst noch das menschliche Streben nach Unabhängigkeit am Ende von frühkindlichen Verlusterfahrungen abkünftig. Auch wenn diese Deutung im Bereich des Möglichen liegt, braucht man doch so weit nicht zu gehen. 106 Wenden wir uns zunächst einer in empirischer Hinsicht weniger spekulativen Erklärung zu und kommen wir auf jene Klausur zurück, die ungefahr neun Monate dauerte. Die oben angestellten Überlegungen zur pränatalen Mutter-Kind-Beziehung haben bislang, das sei zugegeben, weitgehend unberücksichtigt gelassen, dass sich spätestens in den letzten Wo104 Andeutungen zum Unterschied von Autonomie und Autarkie folgen am Ende dieses Kapitels. Mit der Annahme eines gleichgewichtigen zweiten Strebens weiche ich ersichtlich von Rank, Sloterdijk u.a. ab, die die Tendenz zur Rückkehr absolut setzen. 105 Vgl. Axel Honneth (2002b): "Grounding Recognition", in: Inquiry, 4/2002. 106 Für erste psychoanalytische Anhaltspunkte siehe Barbara Friedrich (1997): "Riß in der Beziehung", in: Janus/Haibach (1997).

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chen der Schwangerschaft ein dem Wunsch nach Verbleib im Mutterleib spürbar entgegenwirkendes Streben des Babys bemerkbar machen wird: das Bedürfnis, geboren zu werden. Zumindest die letzten beiden Monate der Schwangerschaft dürften vom Kind nicht immer nur als behaglich empfunden werden, da es im Uterus zunehmend eng wird. Der Mutter wird dies mal auf schmerzhafte, mal auf beglückende Weise dadurch bewusst, dass das Kind sein anschwellendes expansives Begehren durch heftiges Strampeln ankündigt. Mediziner gehen heute sogar davon aus, dass das sich hier allmählich bemerkbar machende Unabhängigkeitsbedürfnis des Babys, je nach dem, wie die Mutter auf diese intrauterine Unruhe reagiert - ob verstört oder gar beängstigt, ob durch Steigerung der freudigen Erwartung -, gehemmt oder aber verstärkt wird. 107 Nun bleibt an dieser Stelle freilich nicht mehr die Gelegenheit, auch noch das menschliche Streben nach Unabhängigkeit plausibel auf pränatale Früherinnerungen zurückzuführen. Das ist auch deshalb nicht nötig, weil es in diesem Rekurs lediglich um den motivationalen Ursprung der Sehnsucht nach Intaktheit gehen sollte. Dennoch sind wir an einem Punkt angelangt, wo ein solches gegenteiliges Streben, d.h. eine Sehnsucht nach Autarkie und Ungebundenheit, behauptet werden muss, damit deutlich werden kann, warum es den Menschen, trotz seiner Sehnsucht nach Wiedervereinigung, in symbiotischen Beziehungen nicht immer nur hält. Wichtig ist hierbei jedoch die Annahme, dass die Sehnsucht nach intakter Zwei-in-Einheit durch das konkurrierende Bedürfnis nach Unabhängigkeit nicht etwa verdrängt oder gar ersetzt wird. Vielmehr treten beide Bestrebungen fortan gleichzeitig auf- wie in der späteren Liebe auch -, so dass das Baby zunehmend eine echte Ambivalenz empfindet: Es möchte heraus, es will aber auch verbleiben. 108 Damit sind wir bei der heute vielerorts konstatierten "Dialektik" von Selbständigkeit und Abhängigkeit angelangt, die in entwicklungspsychologischen 109 , sozialisationstheoretischen 110 und auch sozialphilosophischen 111 Debatten wieder und wieder behauptet wird, ohne einmal konsequent auf ihre biographischen Ursprünge zurückgeführt zu werden. Bevor wir jedoch die Konsequenzen dieser Dialektik für die Frage nach der Herausbildung sozialer Institutionen unter die Lupe nehmen können, sei zunächst noch einmal an das Schicksal von Platons Zwitterwesen erinnert. Deren Geschichte vermag uns nicht nur über das Wesen der Liebe Auskunft zu geben, sondern zudem auch 107 Hertl(1994). 108 In diesem Zusammenhang siehe auch Rupert Linder (1997): "Psychosomatische Aspekte der Frühgeburt"; in: Janus/Haibach (1997). 109 Vgl. Benjamin (1993), Kap. 1. 110 Dazu die Beiträge in: Leu/Krappmann (1999). 111 Man denke hier z.B. an die so genannte Kommunitarismus-Debatte oder auch an Diskussionen um eine Philosophie der Anerkennung.

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über eine überaus zentrale Konstitutionsbedingung des Gesellschaftlichen schlechthin. Noch einmal: Zeus sieht ein, dass mit den beiden in regloser Umarmung verhungernden Hälften nichts Rechtes anzufangen ist, so dass er sie anatomisch reorganisiert, um die Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens, aber auch die Opferbereitschaft der Menschen wiederherzustellen. Ähnliches galt für die alttestamentarische Kunde von der Bestrafung Adams und Evas mit den Mühen der Subsistenzwirtschaft einerseits, des Gebärens anderseits. Was in beiden Allegorien zunächst sinnbildlich vor Augen tritt, ist folgender Umstand: Die Gesellschaft muss das Individuum regelrecht dazu nötigen, seine regressiven Zustände aufzugeben, denn sonst wäre gesellschaftliches Leben überhaupt nicht möglich: "Aber es wird immer notwendig sein, das Neugeborene auch ohne sein Einverständnis, das es gar nicht geben kann, aus seiner Welt zu reißen undes-bei Strafe der Psychose - zum Verzicht auf seine imaginäre Allmacht sowie zur Anerkennung der Tatsache zu zwingen, daß das Begehren des anderen nicht minder berechtigt ist als das eigene. [... ] Man hat das Recht, seiner Phantasie freien Lauf zu lassen, wenn es darum geht, sich Veränderungen der gesellschaftlichen Institutionen vorzustellen; nichts berechtigt jedoch zu der fiktiven und in sich widersprüchlichen Annahme, die Psyche könnte jemals ganz ohne Eintrittsgebühr in die Gesellschaft aufgenommen werden. Das Individuum ist keine Frucht der Natur, auch keine tropische; es ist gesellschaftliche Schöpfung und lnstitution." 112 Hier klingt die Klage über die primordiale "Ungerechtigkeit" eines ursprünglichen Initiationsrituals an, das mit dem unausweichlichen Nachteil identisch ist, geboren zu werden. Solange wir jedoch auf gesellschaftliches Leben als solches nicht verzichten wollen, was ja ohnehin undenkbar ist, wird der Mensch an jenem Eingang des Lebens, der zugleich ein Ausgang ist, eine Art Maut zu entrichten haben, die ihn für immer in Unkosten stürzt. Im Gegenzug wird die Gesellschaft ihn dafür entschädigen müssen. Ansonsten mag er sich weigern- "bei Strafe der Psychose" - in ihr mitzuwirken. Das Netz von mehr oder minder intakten Anerkennungsbeziehungen, in das der Mensch fortan hineinwächst, muss stets auch eine beschwichtigende Antwort auf die Grundfrage einer Art Anthropodizee parat haben, die von der deutschen Rockgruppe Ton, Steine, Scherben einst in folgende Worte gefasst worden ist: "Mama, Mama, warum hast Du mich geborn' oder hat mich der Esel im Galopp verlorn'?" 113

112 Castoriadis (1984), S. 514f. 113 Der Song heißt wohl nicht zufällig "Jenseits von Eden".

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Blenden wir nun diese drei Aspekte ineinander - die Sehnsucht nach einer ursprünglichen Unversehrtheit in Zweisamkeit zum einen, das mit dieser Sehnsucht konkurrierende und hier ebenfalls als triebhaft angenommene Streben nach Unabhängigkeit zum zweiten sowie die sich gesellschaftlich als notwendig erweisende, schmerzhafte Initiation der Individuen zum dritten -, so gelangen wir zu dem folgenreichen Verdacht, dass gesellschaftliche Institutionen einen mindestens dreifachen Zweck zu erfüllen haben: Sie übernehmen erstens eine kompensatorische Auffangfunktion, indem sie die Wiederherstellung einer ursprünglichen "Sphärensicherheit" in Aussicht stellen. 114 Sie müssen zweitens so beschaffen sein, dass sie neben den kompensierten Sicherheitsbedürfnissen zugleich auch den erwachten Unabhängigkeitsbestrebungen der für immer getrennten Subjekte Rechnung tragen, indem sie individuelle Spielräume schaffen für ein selbstbestimmtes, kreatives Eingreifen in die Welt. 115 Drittens schließlich haben sie so eingerichtet zu sein, dass sie den offenkundigen Widerstreit der beiden gegensätzlichen Tendenzen- regressive Neigungen zum gemeinsamen Rückzug einerseits, "überschüssige" Kräfte kreativer Neugestaltung anderseits - derart in geordnete soziale Bahnen lenken können, dass der Fortbestand des gesellschaftlichen Lebens insgesamt sichergestellt ist. 116 Folglich wohnt so unterschiedlichen sozialen Institutionen wie Freundschaften und Fußballvereinen, Moralordnungen und Märkten, Solidargemeinschaften und Staaten nicht nur ein komplexer Kompromiss, sondern immer auch eine geradezu überschwängliche Utopie inne. Sie sollen (a) als weltliche Kompensationsform dienen, mit der die seinerzeit verloren gegangene Sorglosigkeit ansatzweise und trotz aller verbleibenden Melancholie wiederhergestellt wird. Sie funktionieren (b) als Bewegungsform, die dem vergesellschafteten Subjekt Freiräume verschaffen soll, mit seinen Verlusten, aber auch den überschüssigen Triebpotenzialen eigenständig, sinnstiftend und kreativ umzugehen. Schließlich dienen soziale Institutionen (c) als übergeordnete Kanalisationsform, durch die gesellschaftliches Leben überhaupt erst möglich wird, indem die beiden widersprüchlichen Tendenzen im klassischen Sinne "aufgehoben" werden. Man rufe sich in diesem Zusammenhang die Schlussworte aus Ernst Blochs Prinzip Hoffnung in Erinnerung:

114 Dazu Sloterdijk (1989): "Die großtechnische Zivilisation, der Wohlfahrtsstaat, der Weltmarkt, die Mediasphäre: All diese Großprojekte zielen in schalenloser Zeit auf Nachahmung der unmöglich gewordenen imaginären Sphärensicherheit Nun sollen Netze und Versicherungspolicen an die Stelle der himmlischen Schalen treten." (S. 25). 115 Castoriadis (1984), S. 519ff. 116 Ebd., S. 528f.

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"Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat." 117 Bloch scheint gar nicht recht zu ahnen, wie sehr der Mensch tatsächlich noch in seiner "Vorgeschichte" lebt, d.h. in seiner nicht bloß archaisch-mythischen, sondern eben auch lebensgeschichtlichen Erinnerung. Man hätte Blochs utopische Philosophie des Noch-Nicht zu radikalisieren, d.h. an ihrer Wurzel zu fassen, und in ein Nicht-Mehr zurückzuübersetzen, denn dann würde deutlich werden, worauf das Prinzip Hoffnung zielt und inwiefern das gesellschaftlichutopische Denken von einem Gedächtnis zehrt, das zwar verschüttet ist, aber dennoch entsprechende Tagträume ermöglicht. Der Ort, an dem angeblich "noch niemand war", wäre so als jene buchstäblich in die Kindheit scheinende "Heimat" zu identifizieren, die, scheinbar für immer verloren, in der gesellschaftspolitischen Utopie, dem Phantasma einer durch Menschenhand geschaffenen, aus nicht-entfremdenden Institutionen bestehenden Demokratie bis auf weiteres der Restaurierung harrt. Auf ganz ähnliche Weise ließe sich dann auch die untergründige Metaphysik des politischen Denkens Hegels in Metapsychologie transformieren, wodurch sich die von ihm angestoßene Philosophie der Anerkennung motivationstheoretisch unterfüttern ließeY 8 Im frühkindlichen Urzustand, so würde Castoriadis sagen, ist die Monade selbst noch in persona oder besser in personis der Prototyp alljener Verknüpfungen, die der Mensch zukünftig in unterschiedlichste Richtungen einzugehen bestrebt sein wird. 119 Die spätestens postnatal einsetzende Sehnsucht nach intersubjektiv verfasster Intaktheit wird im Verbund mit dem etwa zur selben Zeit erwachenden Autarkiestreben in einem nicht selten verzweifelten Wunsch nach unverzerrten Anerkennungsverhältnissen ihr Echo finden und in entsprechenden zwischenmenschlichen Beziehungstypen, etwa in der Liebe, in der Rechtsgemeinschaft oder auch in

117 Ernst Bloch (1959/1985): Das Prinzip Hoffnung, 3 Bände, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 1628. 118 Selbst noch fiir die logische Struktur von Hegels Phänomenologie des Geistes wäre dies lohnenswert, die bekanntlich von einer ursprünglichen und zunächst undifferenzierten Einheit ausgeht, die aus innerer Notwendigkeit zerbricht, um dann in schmerzhaften Prozessen und auf immer höherer Stufe wiederhergestellt zu werden. 119 Castoriadis (1984), S. 495.

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Solidarbeziehungen, Befriedigung suchen. 12 ° Folglich ist die dreifache Funktion von Beziehungen wechselseitiger Anerkennung - Kompensationsform, Bewegungsform, Kanalisationsform - als konstitutiv sowohl für die Entstehung als auch für die Aufrechterhaltung eines zugleich intakten und selbständigen Lebenszusammenhangs einzustufen. Somit entspringt der Kampf um Anerkennung einerseits jener strukturbedingten und auf Wiedervereinigung hoffenden Melancholie des Menschen, andererseits dessen vermutlich ebenso starker Sehnsucht nach Autarkie, und er steht im Bann eines phantasmatischen Wunschbildes sozialer Beziehungen, in denen diese beiden Bestrebungen annähernd zur "Versöhnung" kämen. Nicht zuletzt deren Widerstreit setzt eine soziale Dynamik in Gang, die zur Herausbildung immer neuer, immer passenderer Institutionen führt. Da zudem viele Formen von Anerkennungsbeziehungen einen zunächst fragilen Charakter aufweisen - z.B. Partnerschaften, moralische Gemeinschaften oder auch Solidarbeziehungen -, wird der Mensch nach einer zunehmenden Stabilisierung und Institutionalisierung dieser Beziehungen streben- in diesem Fall nach der Ehe, der Rechtsgemeinschaft und dem Wohlfahrtsstaat - und Stufen "höherer Sittlichkeit" zu erklimmen versuchen. Folglich darf ein direkter schädlicher Zusammenhang zwischen dem dauerhaften Scheitern von sozialen Anerkennungsbeziehungen und dem Verlust menschlicher Intaktheit und Selbständigkeit behauptet werden. 121 Hier schlägt die kompensatorische, bewegungsstiftende und zugleich kanalisierende Wirkung fehl, die von intakten sozialen Formationen auszugehen vermag. In diesem Lichte sind soziale Missstände und Fehlentwicklungen auf die Abwesenheit eines funktionierenden Netzes von sozialen Anerkennungsbeziehungen zurückzuführen, in denen der Mensch für tragische, frühkindliche Trennungserfahrungen entschädigt wäre, aber zugleich auch Freiräume kreativer Selbstbestimmung eingeräumt bekäme. Sollten diesen Spekulationen nicht völlig abwegig sein, so hätten wir am Ende dieses Abschnitts zu einem folgenreichen sozialpathognostischen Schluss zu kommen: Eine Gesellschaft ist dann als pathologisch einzustufen, wenn sie in ihrer dreifachen Funktion als Kompensations-, Bewegungs- und Kanalisationsform versagt. Sie darf es (a) nicht versäumen, ihren Mitgliedern Sicherheit und Schutz zu garantieren. Sie hat (b) für genügend Spielräume zu sorgen, in denen Individuen ihre Selbständigkeit ausspielen können. Sie muss (c) beide dieser Bestrebungen auf möglichst gewaltlose Weise miteinander vereinbaren können. Dieser noch vorläufigen sozialpathognostischen Positionsbestimmung sei sogleich ein defensiver Kommentar angefügt: Wenn die Sozialphilosophie dem Ideal einer "höheren Sittlichkeit" die Kraft zutrauen will, für primordiale 120 Diese Dreiteilung stützt sich auf Honneth (1992). Wir werden in Abschnitt 4.2 ausführlicher darauf zu sprechen kommen. 121 Siehe Honneth (1990c ).

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Verlusterfahrungen zu entschädigen und zugleich für Spielräume kreativer Selbstbestimmung zu sorgen, so wird sie sich rasch mit dem Vorwurf konfrontiert sehen, sie wolle das Individuum mit der Gesellschaft "zwangsversöhnen". Für gewöhnlich soll dieser Vorwurf faschistische oder auch stalinistische Vergangenheiten wachrufen. Dazu sei angemerkt, dass selbstredend weder der Faschismus noch der so genannte real existierende Sozialismus auch nur annähernd als gelungene Realisierung jenes Mit-Seins gedeutet werden können, welches hier im Raume steht. Faschismus und real existierender Sozialismus müssen vielmehr als Verlust der Intersubjektivität durch Preisgabe des Subjekts gedeutet werden, während man im Übrigen deren ebenso wahnhaften Gegenpol, den neuzeitlichen Besitzindividualismus oder auch "real existierenden Neoliberalismus" als Verlust der Intersubjektivität durch Preisgabe des Anderen zu beschreiben hätte. Was jedoch am fernen Horizont unserer Überlegungen aufscheinen sollte, das ist das wie immer utopische Ideal einer kollektiven, solidarischen Lebensform, in der sich das Subjekt und die Anderen in Intersubjektivität zu verwirklichen vermochten. Eine nichtpathologische Gesellschaft würde es möglich werden lassen, um es mit Regel zu sagen, Mit-den-Anderen-bei-uns-selbst zu sein. Diese normativ hoch anspruchsvolle und überaus schwer zu greifende Vision von einem Gemeinschaftsleben in Abhängigkeit und Selbständigkeit hätte als positive Kontrastfolie für ein sozialpathognostisches Deutungsunternehmen zu dienen, das unser doppeltes Bedürfnis nach Unversehrtheit und Unabhängigkeit auf dessen psychophysische Wurzeln zurückführte. In Anlehnung an Sloterdijk könnte ein solches Unternehmen "kritische Gynäkologie" der Gesellschaft heißen.

5. Zurück zur Integrität Wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir die tiefenpsychologischen Überlegungen dieses Rekurses noch etwas deutlicher als bisher mit dem in den ersten drei Kapiteln umrissenen Integritätsbegriff vermitteln sollten, damit klar werden kann, worum es im zweiten Teil dieses Buches gehen wird. Während der erste Teil zu einer Antwort auf die Frage führen sollte, inwieweit personale Integrität als ein schwieriges Selbstverhältnis beschrieben werden muss, wird es in den nächsten drei Kapiteln um die für das Geschäft der Sozialphilosophie mindestens ebenso bedeutsame Frage gehen, inwiefern Integrität zugleich auch als ein schwieriges Verhältnis zu anderen zu beschreiben ist. Der Rekurs sollte diesbezüglich eine Brücke bilden, die von der integren Subjektivität zur "integren Intersubjektivität" hinüberführt. Doch bevor wir diese Brücke verlassen und das Ufer des zweiten Teils betreten können, müssen wir zunächst in doppelter Hinsicht "zurück" zur Integrität: Erstens haben

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wir die hier angestellten Vermutungen über den entwicklungspsychologischen Ursprung der Sehnsucht nach Ganzheit und Unversehrtheit so auf den Begriff der Integrität zurückzubeziehen, dass erkennbar wird, wie sich diese Spekulationen zur Gesamtheit der in den vorangegangenen Kapiteln aufgefächerten Begriffsdimensionen verhalten. Der Aspekt der Ganzheit und Unversehrtheit deckte bislang ja nur eine, wenn auch wichtige Bedeutungsschicht ab. Zweitens muss sich dabei die Vermutung plausibel machen lassen, dass der tiefenpsychologische Rückgriff auf ein phantasmatisches Begehren für das integre Leben insgesamt das zentrale biographische Paradigma darstellt. Der Integritätsbegriff hat sich demnach in seiner ganzen Komplexität als restaurativ und intersubjektiv strukturiert zu erweisen. Zunächst jedoch ist ein Einschub in methodologischer Absicht vonnöten: Wenn von der Integrität einer Person die Rede ist, dann ist eine komplexe Modalität gelingenden Lebens gemeint, über die der Mensch - das sollte hier deutlich werden - zugleich verfugen und nicht verfügen kann. Damit ist die thematische Ausrichtung, aber auch die methodische Schwierigkeit des Rekurses benannt. Zuvor schien die Explikation des Integritätsbegriffes weitgehend im Rückgriff auf ein eher herkömmliches Vokabular personaler Selbstbestimmung möglich. Inzwischen ist aber bereits auf vorgeburtlicher Ebene eine intersubjektive Spur der Sehnsucht nach Ganzheit und Unversehrtheit nachgewiesen. Daher wird der Integritätsbegriff von nun an auch solche Aspekte des gelingenden Lebens in sich aufnehmen müssen, die den Rahmen einer Analyse anhand des Selbstbestimmungsvokabulars sprengen. Dabei ist vor allem zu bedenken, dass der Aspekt der Unverfligbarkeit personaler Integrität nicht allein den jeweils konkreten Vollzug integren Lebens betrifft, sondern stets auch den Versuch, eben diesen Aspekt in philosophische Begriffe zu kleiden. Für das, was an der Integrität nicht auf Selbstbestimmung beruht, fehlen der Philosophie noch weitgehend die Worte. Damit kommen wir zu einer methodischen Spannung dieses Buches, die an so mancher Stelle des Rekurses in Prosa aufgelöst wurde, weil sie philosophisch noch nicht tilgbar schien. Die grobe Richtung einer an primordialen Allianzen sowie an vorsprachliehen Erinnerungen orientierten Integritätsanalyse ist jedoch klar: Es ginge dabei um eine Art philosophische Tiefenhermeneutik, die das Wirkungsfeld psychoanalytischen Denkens auf das Gebiet diskursiver philosophischer Sprachspiele ausdehnt. Ich selbst habe mich in diesem Rekurs darum bemüht, das philosophische Sprachspiel und die Grenzen des expressiv Möglichen in das Unvordenkliche vorgeburtlicher Zwei-inEinheit auszudehnen. Wollte man die Betrachtung der Integritätskategorie als Erzählung fortschreiben, so wäre von nun an nicht mehr das autonome und souveräne Individuum der Held, sondern das Paar in seiner Verbundenheit und Trennungsarbeit Im Rahmen einer dezidiert philosophischen Analyse verbleibt jedoch ein gravierendes Darstellungsproblem Der Sprachzuwachs,

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den besonders die pränatale Tiefenpsychologie der philosophischen Theoriebildung beschert, sieht sich umgehend mit dem positivistischen Vorwurf konfrontiert, hier würden empirische Behauptungen über empirisch nicht weiter zu belegende Tatsachen aufgestellt. Ich würde es mir an dieser Stelle nur zu gerne einfach machen und feststellen, dass der philosophische Rückgriff auf das vorgeburtliche Leben grundsätzlich nicht viel spekulativer geartet ist als so manches andere philosophische Gedankenexperiment; man denke hier nur an den berühmten "Urzustand" eines Schleiers des Nichtwissens bei John Rawls. Im Gegensatz dazu, so würde man meinen, haben wir den intrauterinen Zustand wenigstens erlebt. Gleichwohl wird sich das philosophische Publikum mit einem solchen Hinweis kaum begnügen. Die Überlegungen dieses Rekurses müssen daher bis auf weiteres auf geneigte Leserinnen und Leser hoffen. Fahren wir fort: Wir haben den Integritätsaspekt der Ganzheit und Unversehrtheit am Ende von Kapitel 2 als jene Begriffsdimension interpretiert, die den psychophysischen Gefühlscharakter integren Lebens hervorhebt und den Umstand der Verletzbarkeit personaler Integrität in den drei zuvor diskutierten Hinsichten der Selbsttreue, der Rechtschaffenheit und der Integriertheit akzentuiert. Am Ende des Rekurses müssen wir diese Deutung nun insofern korrigieren, als wir anzuerkennen haben, dass die Stimmung der Ganzheit und Unversehrtheit in genetischer bzw. entwicklungspsychologischer Hinsicht nicht nur Resultat, sondern zugleich auch Grund ist: Die Verwendung des Integritätsbegriffes im Sinne der Ganzheit und Unversehrtheit ist von den übrigen Begriffsdimensionen zwar insofern "abkünftig", als damit eine anfallige existenzielle Grundstimmung gemeint ist, die das Resultat einer Lebensführung sein soll, in der die Bedingungen der Integrität umfassend erfüllt wären. Die Idee der Intaktheit ist aber zugleich auch in dem Sinne als "ursprünglich" zu verstehen, dass sie der Kern einer überaus früh einsetzenden Sehnsucht ist, durch die der Prozess einer auf die Wiederherstellung primordialer Ganzheit zielenden Lebensführung - nach Art einer utopischen Initialzündung- überhaupt erst in Gang gerät. Erst an dieser Stelle kann der bereits in Abschnitt 2.4 angedeutete konzeptionelle Widerspruch der Ganzheitsidee zur Auflösung kommen: Als phantasmatisch erinnerte, d.h. ehemalige Unversehrtheit ist die Ganzheitsidee Bedingung eines entsprechenden Strebens im späteren Leben. Als wiederherzustellende Unversehrtheit ist sie zugleich aber auch dessen Ergebnis. Da dieses Streben, wie zuletzt gezeigt wurde, von Beginn an eine markante Spur der Zweisamkeit aufweist, ist der so genannte Andere denmach in doppelter Hinsicht als konstitutiver Bestandteil personaler Integrität aufzufassen. Das Leben in Integrität zehrt nicht nur von der Erinnerung an frühere Allianzen, es bleibt darüber hinaus zeitlebens notwendig auf intakte Sozialbeziehungen angewiesen. Erläutern wir diesen letzten Punkt unter Einbeziehung jedes einzelnen der vier zentralen Integritätsaspekte, da231

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mit die Einheit in der Vielheit der unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen erkennbar wird. Blicken wir zunächst noch einmal auf das Streben nach Ganzheit. Es dürfte deutlich geworden sein, dass darin eben jene Sehnsucht aufgehoben ist, die zurückbleibt, wenn der Mensch den mindestens dreistufigen Prozess seines Zur-Welt-Kommens psychophysisch überstanden hat. Das Begehren nach Ganzheit ist dem Menschen buchstäblich "angeboren". Er kommt damit zur Welt. Ein späteres Leben in Integrität wäre ein solches, in dem die ursprünglich fraglos gegebene Vertrautheit mit sich und dem Anderen ersatzweise wiederhergestellt wäre und zudem von außen möglichst unbeschadet bliebe. Im Rückgriff auf die psychophysischen Urszenarien, die für das Integritätsbedürfnis relevant sind, wird zudem deutlich, warum es sich bei der Integrität um eine als körperlich erfahrene "Gespürssache" handelt: Der Infant bringt aus seinen frühesten Entwicklungsstadien eine "Unzahl von Erfahrungen über sich selbst und seine Integrität oder Zersetzung im gespürten Austausch mit seiner Mutter" mit, die im späteren Integritätsstreben wiederhallen. Dadurch nimmt ein psychophysischer, d.h. "ganzheitlicher Empfindungskomplex" Gestalt an, der auf die Wiederherstellung ursprünglicher Ganzheit und Unversehrtheit zielt. 122 An dieser Stelle offenbart sich der Bezug zum Integritätsaspekt der Selbsttreue. Die frühkindlichen Trennungserlebnisse zwingen das heranwachsende Subjekt, seine Umwelt, d.h. äußere Objekte und insbesondere andere Subjekte, mit seinen Sehnsüchten zu "besetzen". Das Kleinkind wird die Chance auf eine Befriedigung seiner ursprünglichen Lust von nun an vor allem in den sozialen und institutionalisierten Gegebenheiten seiner Umgebung wittern. Zugleich aber muss es zunehmend auch eine Diskrepanz erfahren zwischen dem phantasmatisch eingefärbten Wunsch nach totaler Wiedervereinigung und der Art und Weise, wie es mit diesem utopischen Wunsch in seiner Umwelt Anklang findet. Gelingt es dem Heranwachsenden, ein hinreichendes Maß an Ich-Stärke auszubilden, werden diese sich schmerzlich wiederholenden Kontrasterfahrungen das Bedürfnis in ihm wach halten, trotz der sozialen Widerstände "standhaft" zu bleiben, d.h. an seinem sehnsuchtsvollen Wunschbild festzuhalten und Gelegenheiten zu suchen, auf die bestehenden Lebensbedingungen verändernd einzuwirken - so lange, um es mit Bloch zusagen, bis diese zur "Heimat" werden. Hier nimmt das Integritätsstreben nach Selbsttreue und Unbestechlichkeit Gestalt an. Der Andere ist in diesem Streben immer schon aufgehoben, wenn auch auf Anhieb nicht immer gleich wiederzuerkennen:

122 Sloterdijk (1998), S. 454.

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"Die bedingungslose Besetzung der geschlossenen Selbstvorstellung der ursprünglichen psychischen Monade findet sich in der grenzenlosen Wichtigkeit, die das Individuum der Integrität seines Bildes beimißt - in der Selbstvorstellung als dem letzten Träger alles Sinns und aller Bedeutung - zugleich gerettet und doch radikal verändert." 123 Der sich ebenfalls sehr früh entfaltende Begriffszusammenhang der Aspekte Ganzheit und Rechtschaffenheit ist genauso unschwer einsehbar: Der Wunsch nach Rückkehr in intime Allianzen führt zu der Einsicht, dass die Aufrechterhaltung intakter Austauschverhältnisse mit anderen Subjekten, die als ebenso autonom und manchmal auch widerständig erfahren werden, notwendig auf Spielregeln angewiesen ist. Die an kompensatorischen Wechselbeziehungen Beteiligten tragen reziproke Verhaltenserwartungen an sich heran, die jeweils zu ihrem Recht kommen müssen, damit von intakten Sozialbeziehungen die Rede sein kann. Vor allem moralische Regeln sollen dies sicherstellen. Die Beteiligten fühlen sich an solche Regeln nicht allein deshalb gebunden, weil sie im Fall der Devianz schmerzhafte Sanktionen zu befürchten hätten. Der intersubjektive Kern der Integrität, der in diesem Rekurs aus tiefenpsychologischer Sicht herausgeschält wurde, muss als derart tief in das menschliche Selbstverständnis eingelassen verstanden werden, dass er aus dem nach Ganzheit strebenden Selbstverständnis der Subjekte gar nicht wegzudenken ist. Der Standpunkt der Moral, so wurde in Kapitel 2 behauptet, liegt nicht irgendwo "außerhalb" des mit konkreten sozialen Anforderungen konfrontierten Individuums, er ist vielmehr konstitutiver Bestandteil jedes ethischen Selbstbildes. Am Ende des Rekurses lässt sich diese Behauptung entwicklungspsychologisch unterfüttern: Die moralische Sicht des Anderen und auf den Anderen bleibt nach der ursprünglichen Trennung imaginär als Wunsch nach Wiedervereinigung präsent, und erst die dadurch bewirkten Spiegelungsprozesse generieren das ethisch-existenzielle Selbstbild der in Zukunft nach Integrität strebenden Person. Demnach verwickelt sich der unmoralische Mensch nicht bloß in Widersprüche zu den Erwartungen anderer, sondern immer auch in Selbstwidersprüche. 124 Zwar wird er sich bisweilen dazu gezwungen sehen, die Grenzen der Moral zu überschreiten. Da ihm aber die Aufrechterhaltung kompensatorischer Sozialbeziehungen ein nahezu strukturell notwendiges Anliegen ist, werden ihn diese Selbstwidersprüche häufig genug dazu anhalten, ein in moralischer Hinsicht möglichst rechtschaffenes und von anderen als unbescholten eingestuftes Leben zu führen. Die Unumgänglichkeit derartiger ethisch-existenzieller Selbstwidersprüche lässt dann auch den genetischen Zusammenhang von Ganzheit und Integriertheit hervortreten. Um psychophysisch "überleben" zu können, d.h. um 123 Castoriadis (1984), S. 522. 124 Dazu mehr in Abschnitt 4.1.

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Situationen einer ursprünglichen Zwei-in-Einheit - zumindest ansatzweise wiederherstellen zu können, muss sich das Kind nicht nur auf die Regeln der Moral, sondern stets auch auf einen Kampf um Anerkennung einlassen, in dessen Verlauf sich die vorhandenen sozialen Spielräume gemäß des eigenen phantasmatischen Wunschbildes erweitern lassen. Dieser Kampf stellt sich nicht nur als ein rein äußerlicher Kampf zwischen Subjekten dar, sondern immer auch als ein gravierender intrapsychischer Konflikt: Die Dialektik von Abhängigkeit und Unabhängigkeit konstituiert eine bereits anthropologisch gegebene "Zerrissenheit" der Person, die von nun an, und zwar vor allem auf dem Wege ethisch-existentieller Selbstverständigung, verständlich und handhabbar gemacht werden muss. Die Desintegrationen, die sich im Zuge frühkindlicher Erfahrungsbrüche ereignen, lassen die Notwendigkeit, "die Dinge zusammenzuhalten", zum ersten Mal aufkommen. Demnach ist personale Integrität schon aus entwicklungspsychologischer Perspektive auf die Herausbildung autobionarrativer Kompetenzen angewiesen, die auf Integriertheit und Kohärenz zielen, indem sie den Verlusterfahrungen und Ambivalenzkonflikten des Kindes einen ersten Sinn abzutrotzen versuchen. Insgesamt lassen diese kursorischen Überlegungen zum genetischen Zusammenhang der unterschiedlichen Integritätsaspekte deutlich werden, dass wir es bei der philosophischen Suche nach den lebensgeschichtlichen Ursprüngen personaler Integrität mit einer doppelten Zumutung zu tun haben: Zum einen muss das integre Leben in seiner ganzen Komplexität von der fetalen Situation im uteralen Strom her gedacht werden. Zum anderen ist dabei die Einsicht zu berücksichtigen, dass aufgrund der psychophysischen Nachwirkungen pränataler Allianz ein "integres Alleinzurückbleiben" 125 stets ein Ding der Unmöglichkeit sein wird. Das Leben in Integrität, so die antiliberalistische Überzeugung, wird sich niemals allein in Begriffen von Autonomie und Selbstbestimmung adäquat fassen lassen, weil dieses Leben sich, seinem ganzen Wesen nach, als ein konfliktreiches Wechselspiel von Bestrebungen nach Selbständigkeit und Abhängigkeit darstellt. Biographisches Vorbild ist jene einst für Ganzheit und Sicherheit sorgende integre Dual form, die früh verloren gegangen ist und die den Menschen Zeit seines Lebens auf integrierende und ergänzende andere Personen angewiesen sein lassen: "Das werdende Subjekt kann sich als es selbst, wie es scheint, nur integer entfalten, wenn der Bezug auf den Fundus eines intim liierten Parallel-Lebens möglich ist, aus dem ihm nährende, stützende, prophetische Zeichen zufließen, die ihm ein Gedeihen in Verbundenheit und Freiheit versprechen. " 126

125 Sloterdijk (1998), S. 473. 126 Ebd., S. 402. 234

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Entsprechend wird man aus psychopathalogischer Sicht feststellen können, dass die soziale Beziehungsfähigkeit des Menschen notwendig zum Fundament jeder intakten Gesamtperson gehört und dass die Beeinträchtigung oder gar Abwesenheit einer solchen "authentischen" Kontaktfreude zur Konstituierung einer vielgestaltigen Klasse von Persönlichkeitsstörungen beiträgt. Doch werden wir auf derartige psychopathalogische Integritätsstörungen erst im Schlusskapitel ausführlicher zu sprechen kommen. Zunächst ist hier allein von Belang, dass integres Leben sowohl in genetischer Hinsicht als auch auf der Ebene des späteren Vollzugs notwendig auf gelingende Sozialbeziehungen angewiesen ist, da der Erfahrungsgehalt jenes frühkindlich erworbenen Phantasmas, das den Menschen zeitlebens nach Integrität streben lässt, immer schon eine intersubjektive Spur aufweist. Menschliches Leben ist von Anfang an ein soziales Miteinander, aus dem das Kind im Zuge seines Zur-WeltKommens gewaltsam gerissen wird, dessen Verlust ihm aber lebenslang, wenigstens unterbewusst, präsent bleibt. Der vermittelt durch diesen Verlust einsetzende Individuierungsprozess ruft zeitgleich ein Streben nach Integrität auf den Plan, das auf eine Wiederherstellung der ursprünglichen Zwei-in-Einheit zielt. Das wahrhaft integre Leben wäre demnach als der Ausgleich eines existenziellen Defizits sowie als Besänftigung einer anthropologisch tiefsitzenden Melancholie zu verstehen, von der wir seit jeher gezeichnet sind und die wir im Leben auf menschenmögliche Weise zu besänftigen versuchen. Auch wenn wir uns auf der Konzertbühne des Lebens immer schon als "unfreiwillige Solisten" vorfinden, so werden wir doch einsehen müssen, dass die erste Geige niemals ohne Mitspieler auskommt. 127 Kommen wir zum Schluss dieses Rekurses noch einmal auf die philosophiegeschichtlichen Überlegungen zurück, mit denen wir begonnen haben. Längst dürfte deutlich geworden sein, wie die zu Beginn aufgeworfene, doppelt modernitätskritische These zu verstehen ist, das dezentriefte Subjekt gehe aus den Wirren des Unbewussten (Psychoanalyse) sowie aus den Netzen des Sozialen (Sprachphilosophie) allererst hervor. Der postmetaphysische Versuch, dem idealistischen Prinzip autonomer Selbstdurchsichtigkeit die Vorstellung eines in eher undurchsichtige Beziehungen zu anderen und anderem eingelassenen Selbst entgegenzustellen, lässt sich nunmehr auf einen biographischen Urzustand zurückbeziehen, in dem ein primordiales Miteinander spürbar war, dessen Verlust im Leben unbewusste Spuren hinterlassen hat. Der Individuierungsprozess und die mit ihm aufbrechende Sehnsucht nach Integrität sind aus entwicklungspsychologischer Sicht als Reaktion auf ein frühkindliches Drama zu deuten, mit dem eine frühe Einheit zerbricht, die ursprünglich Zweiheit war und die im Gedächtnis subliminal als Phantasma aktiv bleibt. Daraus folgt: Im Lichte der Sehnsucht nach Intaktheit sind große 127 Sloterdijk (1998), S. 473f.

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Teile des Unbewussten selbst als verdrängte Erinnerung an jene frühe, weitgehend unversehrte Zwei-in-Einheit zu deuten, von der gezeigt wurde, dass in ihr der autobionarrativ vermittelte Erlebnisvollzug des späteren Lebens sein sprachloses Vorbild hat. Die heute vor allem aus interaktionistischer Sicht behauptete Gleichursprünglichkeit von Subjektivität und Intersubjektivität, lässt sich daher, bedenkt man den biographischen Richtungsindex solcher Mutmaßungen über ursprüngliche Fusionen, als Gleicheisprünglichkeit enttarnen. Mit einem Vorschlag zur weiteren Begriffsverwendung soll dieser Rekurs beschlossen werden: War hier verschiedentlich von zwei entgegengesetzten anthropologischen Bestrebungen - nach Wiedervereinigung und Autarkie die Rede, so wäre für ein entsprechendes subjektives Vermögen, beide dieser Bestrebungen in Einklang zu bringen, der Begriff "Autonomie" zu reservieren. Autonomie muss als zentrale Meta-Kompetenz personalen und integren Lebens verstanden werden, die darin zum Ausdruck kommt, dass die Person nicht trotz, sondern auf Grundlage ihrer sie unbewusst dirigierenden Regungen einerseits, ihrer Verflechtungen in soziale Abhängigkeiten anderseits ein alles in allem selbstbestimmtes Leben in Einklang mit dem eigenen ethischexistenziellen Wollen zu fuhren vermag. Die im Leben autonom erwirkten Handlungsspielräume sind demzufolge sowohl als renovierte Gedenkstätten einer ursprünglichen Allianz wie auch als selbstbezogene Spielräume der menschlichen Selbständigkeit zu verstehen, die für den Preis entschädigen sollen, der beim frühkindlichen Eintritt in das gesellschaftliche Platzkonzert gezahlt wurde. Nur wer das spätere Echo auf den kakophonischen Verlust eines vorgeburtlich weitgehend harmonischen Miteinanders zu vernehmen und richtig zu deuten vermag, wird ahnen können, wie sehr autonome Integrität von der unbewussten Erinnerung an eine frühere Ganzheit im "Mit" zehrt. Zwar hatte es am Ende von Kapitel 1 mit sozialpathognostischem Blick auf das gesellschaftliche Leben insgesamt geheißen, dass "die Integration seiner Teilnehmer nicht auf Kosten der Integrität dieser Teilnehmer" gehen dürfe, doch haben wir im Verlauf dieses Rekurses einsehen müssen, dass bei der ursprünglichen Aufnahme des Menschen in die Gesellschaft gravierende Folgekosten unausweichlich sind. Ohne den Verlust jener wahrhaft intakten Interaktivität frühkindlicher Zwei-in-Einheit kann von Gesellschaft keine Rede sein. Entsprechend hat aber auch für das Streben nach Integrität zu gelten, dass der Mensch erst durch die mit seinem Zur-Welt-Kommen verbundenen Desintegrationserfahrungen in jene Defensive gelockt wird, die auf die Wiederherstellung einer verlorenen Einheit und auf die lebenspraktische "Verneinung der Verneinung" zielt, die etymologisch im Wortstamm "integ" verborgen liegt. Wir haben Folgendes festzustellen: Vor der erzwungenen, wenn auch notwendigen Subjektwerdung des Menschen ist das Problem der Integrität noch keines. Erst die im Zuge der Individuierung anfallenden Verluste lassen die Sehnsucht nach Integrität aufkommen.

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4. Interaktion und Invasion: Integrität als schwieriges Verhältnis zu anderen

Die mit dem Integritätsbegriff verknüpfte Idee einer intakten Einheit des ethisch-existenziellen Lebenszusammenhangs beruhte bis gegen Ende von Kapitel 3 noch weitgehend auf der Voraussetzung von psychophysisch klar unterscheidbaren Individuen, die selbstbewusst und selbstbestimmt, d.h. als unvertretbare Einzelne, ihr je eigenes Leben zu fuhren haben. Im Verlauf des Rekurses jedoch ist deutlich geworden, dass die vermeintlich markanten Grenzen der Integrität sehr viel durchlässiger sind als zuvor gedacht. Zwar existiert zwischen einzelnen Individuen insofern ein unüberbrückbarer psychophysischer Graben, als jedes für sich eine ganz eigene seelische und leibliche Erfahrungswelt darstellt. Daher mag durchaus der Eindruck singulärer Einheiten entstanden sein. Doch dieser Eindruck sollte den Umstand nicht verwischen, dass von Person zu Person immer auch vielfältige Abhängigkeiten bestehen. Die mutmaßliche Außengrenze der Integrität darf nicht als eine lückenlose Umzäunung aufgefasst werden, die jedem Ansturm trotzt. Sie muss vielmehr als eine Pforte begriffen werden, die niemals gänzlich zu schließen ist. Die Scheidelinie zwischen Personen ist Schauplatz eines unentwegten Austauschs, der sich sowohl positiv als auch negativ auf die Integrität einzelner auswirken kann. Die immer bloß relative Separation von Personen ist zugleich auch relative Offenheit sowohl für förderliche Hilfsmaßnahmen der Zuwendung, Unterstützung und Anerkennung als auch für bedrohliche Akte der Trennung, Aggression und Missachtung. Eine Theorie der Integrität wird ihren Gegenstand demnach nicht bloß als eine "innere" Angelegenheit konzipieren können, wie es vor dem Rekurs vielleicht noch möglich schien. Dazu sind Menschen als einzelne, selbst wenn sie selbstbestimmt und integer sind, viel zu sehr auf andere angewiesen. Nun berücksichtigen zwar viele Beiträge zur Integritätsdebatte den Umstand, dass die existenzielle "Sorge um sich" immer auch die moralische "Sorge um an-

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dere" einschließt, doch wird daraus nur selten die überaus naheliegende Konsequenz gezogen, dass personale Integrität das Resultat einer Sorge ist, die uns von anderen zuteil wird. Bereits der Rekurs hat zeigen sollen, dass allein diejenige Person, die das Echo auf eine sehr frühe Zweisamkeit zu vernehmen vermag, spüren wird, wie tief die Integrität ihres Selbst in Intersubjektivität eingelassen ist. Das nun folgende Kapitel wird die sich daraus ergebende Abhängigkeit personaler Integrität von integren Sozialbeziehungen noch etwas deutlicher hervorheben. Zunächstjedoch muss daraufhingewiesen werden, dass die Überzeugung, Menschen seien voneinander "abhängig", mindestens acht verschiedene Auslegungen zulässt: (1) In erkenntnistheoretischer Hinsicht darf als unstrittig angesehen werden, dass Individuen zu einem Bewusstsein ihrer selbst überhaupt nur dann gelangen können, wenn sie sich im Rahmen einer intersubjektiv geteilten Alltagspraxis, d.h. in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung von konkreten anderen Subjekten, als jeweils eigene psychophysische Entitäten erfahren. (2) Aus entwicklungspsychologischer Perspektive ist der Umstand zu berücksichtigen, dass es des Schutzes, der Fürsorge und auch der Achtung seitens enger Bezugspersonen bedarf, damit sich eine weitgehend stabile Ich-Identität herausbilden kann. (3) Auf der ethisch-existenziellen Ebene des späteren Lebensvollzugs sind und bleiben Individuen auf den Schutz, die Zuwendung und den Respekt ihrer Mitmenschen angewiesen. (4) Damit eng verwandt ist der Umstand, dass zu den integralen Selbstverpflichtungen eines jeden Menschen stets auch spezifisch soziale Lebensvollzüge, z.B. gewachsene Bindungen oder auch gemeinsame Gruppenzugehörigkeiten, gehören. (5) In autobionarrativer Hinsicht ist zu bedenken, dass der ethischexistenzielle Selbstverständigungsprozess nicht rein "monologisch" abläuft, sondern auch auf den Dialog mit einem konkreten Gegenüber angewiesen ist. (6) Damit ist zugleich die sprachtheoretische Einsicht berührt, dass uns das wichtigste Instrumentarium der autobionarrativen Selbstverständigung, die Sprache, nur insoweit zur freien Verfügung steht, als wir diese von anderen erlernen und mit ihnen teilen. (7) Aus kulturalistischer Perspektive darf dabei die Tatsache nicht vergessen werden, dass die ethisch-existenziellen W ertbindungen, die unserem Selbstbild jeweils konkrete Umrisse verleihen, einem gemeinsamen Wertehorizont entnommen werden. (8) In gesellschaftstheoretischen Zusammenhängen schließlich ist der Umstand von Belang, dass die Reproduktion der gemeinsam geteilten Lebenswelt dauerhaft auf gelingende Kooperationsverhältnisse angewiesen ist. Auch wenn diese lockere Auflistung unterschiedlicher formaler Aspekte sozialer Abhängigkeit noch immer unvollständig sein dürfte und nicht alle diese Bestimmungen für die Frage der Integrität gleichermaßen von Bedeutung sein werden, so treten damit doch bereits die Grundrisse einer Art "transzendentalen Sozialität", also unhintergehbare soziale Voraussetzungen

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INTERAKTION UND INVASION

existenziellen Selbstseinkönnens hervor, angesichts derer man, in Anlehnung an Heidegger, von "Interexistenzialen" sprechen könnte. 1 Erst vor dem Hintergrund der unumgänglichen Einbindung in vielfältige gesellschaftliche Strukturzusammenhänge kann das Phänomen ethisch-existenzieller Singularität hervortreten und verständlich werden. Demzufolge wird im Zusammenhang der Integritätsproblematik von besonderem Interesse sein, dass der ethisch-existenzielle Lebenszusammenhang einer Person allein insofern als eine auf Ganzheit zielende Einheit aufgefasst werden kann, als diese in intersubjektivem Austausch zugleich hervorgebracht wird und bewahrt werden muss, so dass dabei stets schon von einer durchaus prekären Zwei- oder gar Mehrheit zu sprechen wäre. Ist personale Integrität in Kapitel 3 primär als ein schwieriges Selbstverhältnis gedeutet worden, so muss die Analyse ihrer Konstitutionsbedingungen nunmehr in eine Erörterung ihrer spezifisch sozialen Voraussetzungen übergehen, damit deutlich werden kann, inwiefern Integrität zugleich auch als schwieriges Verhältnis zu anderen zu verstehen ist. Die entscheidende Frage lautet also: "Wie ist erfüllte Ganzheit im gemeinsamen Leben möglich?" 2 Im Zuge der Erörterung dieser Frage muss der bereits im Rekurs angeschnittene Aspekt der "Unverfligbarkeit" integren Lebens mit besonderer Wucht hervortreten: Personale Integrität, so wird die These lauten, ist durch eine intersubjektiv bedingte Fragilität und Anfälligkeit gekennzeichnet, die nicht nur Resultat, sondern stets auch Bedingung zwischenmenschlicher Interaktionen ist. Individuen sind generell, selbstredend nicht nur als integre Personen, in ein Netz sozialer Beziehungen eingebunden, in denen sie Schutz und Anerkennung benötigen und auch suchen. Sie werden in intersubjektiven Verhältnissen nicht nur als Individuen konstituiert, sie können in diesen auch ernsthaft Schaden nehmen. Auch wenn konkrete Antworten auf die Frage, was als adäquater Schutz bzw. als hinreichende Form der Anerkennung zu zählen hätte und welche Handlungen und sozialen Praktiken entsprechend als Verletzungen zu werten wären, von Kultur zu Kultur variieren werden, lässt sich mit Blick auf den Umstand, dass Menschen Schutz und Anerkennung benötigen, wohl zweifellos von einer anthropologische Konstante sprechen, die im Folgenden nun näher beleuchtet werden soll? Im ersten Schritt soll sich zeigen, dass wir eben jene gesellschaftliche Sicherheitsvorkehrung, die den elementaren Schutz der psychischen und physischen Unversehrtheit des Menschen gewährleisten soll, "Moral der Unparteilichkeit" nennen, wobei jedoch erneut, wie schon in Kapitel 2, fraglich werden wird, in welchem genaueren Verhältnis Integrität und Moral zueinanIn diesem Abschnitt folge ich wesentlich Thomas Rentsch (1990), Die Konstitution der Moralität, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

2 3

Rentsch (1990), S. 140. Vgl. Habermas (2001 ), bes. S. 62f.

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INTERAKTION UND INVASION

der stehen (4.1 ). Im zweiten Schritt wird zu demonstrieren sein, dass - über diesen elementaren moralischen Schutz hinaus- unterschiedliche Formen sozialer Anerkennung auf eine UIJ?(assende Konsolidierung personaler Integrität zielen, wobei aber auch hier erst noch zu klären sein wird, wie weit integre Personen tatsächlich auf soziale Anerkennung angewiesen sind (4.2). Gleichwohl ergibt sich daraus eine doppelte Abhängigkeit des Menschen, und zwar von moralischem Schutz und sozialer Anerkennung, aus der zahlreiche Integritätsgefährdungen resultieren, die im Rahmen einer phänomenologisch ausgerichteten Skizze typischer "invasiver" Übergriffe, gemeint sind zwischenmenschliche Verletzungsakte, anschaulich gemacht und systematisiert werden sollen (4.3). Im Schlussabschnitt wird dann, ähnlich wie schon gegen Ende von Kapitel 3, ein Blick auf jene zentralen Gefühlslagen im Leben geworfen, die einer Person anzuzeigen vermögen, dass ihre Integrität, und zwar diesmal von außen, in Gefahr gerät. Dabei werden Erfahrungen von "Scham" und "Schuld" im Mittelpunkt stehen (4.4).

4.1

Moralbewusstsein und Moralverletzung: Geschützt werden wollen

Bereits in Kapitel 2 sind wir mit der Frage konfrontiert gewesen, welchen Platz moralische Erwägungen und Restriktionen im Rahmen des integren Lebens einzunehmen haben. Die vorläufig der Integritätsdebatte entnommene Antwort lautete: Um einer Person Integrität im Sinne der Rechtschaffenheit und Unbescholtenheit attestieren zu können, muss diese Person einer doppelten moralischen Mindestanforderung genügen: Sie hat sich erstens zu einer Praxis ethisch-existenzieller Selbstrechtfertigung bereit zu zeigen. Und zweitens müssen ihre Lebensvollzüge und Selbstverpflichtungen innerhalb der Toleranzgrenzen herrschender Sittlichkeitsvorstellungen liegen. Wenn im Folgenden jedoch umfassender deutlich werden soll, welchen Stellenwert die Moral im Rahmen personaler Integrität besitzt, müssen wir die Innenperspektive der moralischen Akteure um die Rücksicht auf die Erfahrungswelt derjenigen Personen erweitern, die von moralischen oder eben unmoralischen Handlungen betroffen sind. Da mit der Integritätsanforderung der Rechtschaffenheit offenkundig das Gebot der Rücksicht auf den schutzbedürftigen ethisch-existenziellen Lebenszusammenhang anderer Menschen einhergeht, erweist sich der durch Normen geregelte intersubjektive Lebenszusammenhang als Quelle moralischer Verletzungen. 4 Eben darum sollten wir die Frage, wie genau sich unmoralische Handlungen auf die Integrität derjenigen auswirken, die unmoralisch agieren, für einen Moment zurückstellen, um mit der 4

Dazu Wingert (1993), Kap. 5.

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MORALBEWUSSTSEIN UND MORALVERLETZUNG

Klärung des Problems zu beginnen, welche Konsequenzen unmoralische Akte für die Integrität jener Personen haben, die unter solchen Handlungen leiden. Erst wenn mit dem Streben nach Integrität nicht nur der motivationale Ausgangspunkt der Moral, sondern zugleich auch deren begründungstheoretische "Hinsicht" angedeutet ist, d.h. das schützenswerte Gut, werden wir uns erneut dem Problem zuwenden können, ob und wie personale Integrität moralisch zu restringieren ist. Kurzum: Die Frage nach dem Moralisch-Sein erfordert Vorklärungen in Bezug auf die Frage nach dem von Unmoral Betroffen-Sein. Wenn hier bereits verschiedentlich die scheinbar triviale Annahme angeklungen ist, Moral habe etwas mit dem Umstand zu tun, dass der intersubjektive Lebenszusammenhang "Quelle moralischer Verletzungen" sei, dann ist damit bereits unmerklich eine bestimmte philosophische Begründungsrichtung eingeschlagen, die im Rahmen der längst unüberschaubar gewordenen Debatte über das Wesen und die Reichweite des moralischen Standpunktes der Unparteilichkeit keineswegs unumstritten ist. 5 Der Hinweis auf die seelische und leibliche Verletzungsanfalligkeit des Menschen zielt nämlich auf eine insofern "materialistisch" angehauchte Rechtfertigung der Moral, als es dabei primär um die sich aus der anthropologischen Grundsituation ergebenden Kreatürlichkeit des Menschen ginge, d.h. um dessen Versehrbarkeit, Abhängigkeit, Gebrechlichkeit und Leidensfähigkeit. 6 Zu verstehen ist die Moral demnach "als konstruktive Antwort auf Abhängigkeiten und Angewiesenheiten, die in der Unvollkommenheit der organischen Ausstattung und der fortbestehenden Hinfälligkeit der leiblichen Existenz (besonders deutlich in Phasen von Kindheit, Krankheit und Alter) begründet sind. Die normative Regelung interpersonaler Beziehungen lässt sich als poröse Schutzhülle gegen Kontingenzen verstehen, denen der versehrbare Leib und die darin verkörperte Person ausgesetzt sind. Moralische Ordnungen sind zerbrechliche Konstruktionen, die beides in einem schützen, die Physis gegen körperliche und die Person gegen innere und symbolische Verletzungen. [... ] Die Abhängigkeit vom Anderen erklärt die Verletzbarkeit des Einen durch den Anderen. Die Person ist Verwundungen in den Beziehungen am schutzlosesten ausgesetzt, auf die sie zur Entfaltung ihrer Identität und zur Wahrung ihrer Integrität am meisten angewiesen ist." 7

5

6 7

Für einen ersten Überblick siehe Konrad Ott (2001 ): Moralbegründungen zur Einführung, Hamburg: Junius. Eine Klärung der Frage, was überhaupt "Begründung" von Moral heißt, unternimmt Rainer Forst (1999): "Praktische Vernunft und rechtfertigende Gründe", in: Gosepath (1999). Einen solchen Ansatz vertritt heute z.B. Alasdair Macintyre (2001): Die Anerkennung der Abhängigkeit, Hamburg: EVA/Rotbuch. Habermas (2001 ), S. 62f.

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INTERAKTION UND INVASION

Ganz ähnlich wie manch andere moraltheoretische Begründungsfigur, man denke hier etwa an utilitaristische oder auch an strikt kantianische Ansätze, will auch diese Auffassung vom Wesen der Moral der unumstrittenen Tatsache gerecht werden, dass sich Menschen bei dem Versuch, ihre jeweiligen Interessen und Lebenspläne zu verfolgen, so sehr in die Quere kommen können, dass es ihnen schwer oder gar unmöglich wird, ihren Selbstverpflichtungen und Wertbindungen noch nachzukommen. Besondere Betonung erhält in diesem Fall jedoch die anthropologisch tief ansetzende Einsicht, dass die psychophysische Intaktheit ethisch-existenzieller Lebenszusammenhänge derart leicht zu erschüttern ist, dass sich die Moral als Erstes und hauptsächlich um deren elementaren Schutz zu kümmern hat, bevor dann, wenn überhaupt, anspruchsvollere moralische Forderungen formuliert werden können. Folglich operiert eine sich derart auf die Verletzungsanfälligkeit und Leidensfähigkeit menschlicher Wesen konzentrierende Moraltheorie zunächst mit einer relativ bescheidenen Prämisse: Dass der Mensch vor nicht zu rechtfertigenden Angriffen auf seine psychische und physische Intaktheit und Unversehrtheit bewahrt werden muss, dürfte selbst unter Moralphilosophen kaum strittig sein.R Ziehen wir genau an dieser Stelle den Begriff der Integrität heran, wie er in der ersten Hälfte dieses Buches in seine unterschiedlichen Dimensionen zerlegt wurde, dann gerät jedoch ein in normativer Hinsicht entsprechend differenzierter Standpunkt der moralischen Rücksichtnahme ins Blickfeld. 9 Dieser hätte von der zweifellos elementaren und maßgeblichen Forderung nach psychischer und physischer Unversehrtheit seinen Ausgang zu nehmen, um dann aber zu nuancierteren Ansprüchen fortzuschreiten, die sich aus den drei übrigen Integritätsanforderungen der Selbsttreue, Rechtschaffenheit und Integriertheit ergeben. Zwar kann ein solcher moraltheoretischer Begründungsversuch hier nicht schon in aller Breite unternommen werden, doch wäre dabei von Beginn an das folgenschwere Missverständnis zu vermeiden, dass dabei der Moral die sie letztlich überfordernde Aufgabe zugewiesen wird, das integre Leben insgesamt zu garantieren. Wie bereits in Kapitel 3 deutlich geworden sein dürfte, kann personale Integrität niemals gänzlich, sondern allenfalls in einem noch näher zu bestimmenden Ausmaß vom Wohlverhalten anderer Menschen und damit dann auch von der Moral abhängig sein. Schließlich haben Personen immer auch selbst darauf zu achten, dass sie ihre Integrität nicht kompromittieren, so dass ihnen aus Sicht der Moraltheorie eine gewisse Eigenverantwortung bei der Bewahrung ihrer Integrität zugeschrieben werden muss. Insofern ist die "ethische" Idee personaler Integrität als normativ anspruchsvoller aufzufassen als die sich daraus möglicherweise 8 9

In Kapitel I war diesbezüglich bereits von einem "minimalistischen" Begründungsansatz die Rede, wie man ihn heute z.B. bei Judith Shklar, Richard Rorty und Avishai Margalit findet. Vgl. Seel (1996a).

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ergebenden spezifisch "moralischen" Forderungen. Die Moral muss sich nicht mehr mehr, aber auch nicht weniger - um den Schutz der sozialen Bedingungen integren Lebens kümmern. Damit hat die Idee der Integrität zwar als zentrale "Hinsicht" der Moral zu gelten, aber nicht schon als ein von dieser bereitzustellendes "Gut", auf das Personen insgesamt einen legitimen Anspruch anzumelden hätten. 10 Des Weiteren wird sich folgende Unterscheidung als unerlässlich erweisen: Als "Verletzungen" der Integrität haben, ganz allgemein, alljene Angriffe auf eine Person zu gelten, durch die deren Bemühen um einen insgesamt intakten Lebensvollzug zumindest zeitweise erschwert oder blockiert wird. Dagegen sind als spezifisch "moralische" Verletzungen allein solche Eingriffe in den ethisch-existenziellen Lebenszusammenhang einer Person zu werten, die sich ihr gegenüber nicht mit hinreichend guten Gründen rech(fertigen lassen.11 Die Notwendigkeit dieser Unterscheidung mag zwar nicht unmittelbar einsichtig sein, doch muss hier auf den Umstand aufmerksam gemacht werden, dass nicht jede Verletzung der Integrität einer Person zwangsläufig als unmoralisch einzustufen ist. In Fällen medizinisch-chirurgischer Eingriffe etwa oder auch im Rahmen des Strafvollzuges kommt es auf je verschiedene Weise zu Verletzungen der Integrität der von diesen Handlungen Betroffenen. Dennoch mögen derartige Verletzungen im konkreten Einzelfall moralisch zu rechtfertigen sein. Auch wenn die Überzeugungskraft der dabei angeführten Argumente stets von den jeweiligen Umständen und auch von der konkreten Sittlichkeit der jeweiligen Gesellschaft abhängen wird, ist die Annahme, dass es kein unbedingtes Recht auf Schutz der Integrität geben kann, kaum von der Hand zu weisen. Diese konzeptionelle Einschränkung bedeutet lediglich, dass es Fälle geben mag - wie eben im Rahmen einer medizinischen Operation, wo es schlicht notwendig ist, die Integrität des Patienten zeitweilig anzutasten, nur um sie mittelfristig wiederherzustellen -, in denen eine Person ihr moralisches Recht auf Schutz der Integrität partiell abgibt. Vollständig darf ihr dieses Recht natürlich niemals abgesprochen werden. 12 Zudem sollte ausdrücklich das Missverständnis vermieden werden, dass nur wahrhaft integre Personen oder auch nur Personen im Allgemeinen einen Anspruch auf Schutz ihrer Integrität hätten. Denkt man an Menschen, von denen die Bedingungen integren Personseins, ja, nicht einmal die Kriterien des Personseins vollständig erfüllt werden, z.B. an Kinder, Schwerbehinderte oder auch Altersdemente, so haben selbstredend auch sie ein Recht auf Schutz der sozialen Bedingungen integren Lebens, auch wenn diese Menschen personale Integrität in einem umfassenden Sinne "noch nicht", "nicht vollständig" oder auch "nicht mehr" vorzuweiI 0 Wir werden später, in den Kapiteln 5 und 6, auf diesen Punkt zurückkommen. II Vgl. Wingert (1993), bes. S. 173. 12 Siehe dazu und für das Folgende auch Rinderle (1994).

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sen haben. Moralischer Schutz zielt lediglich auf Freiräume zu einem Leben in Integrität - ganz gleich, ob diese faktisch genutzt werden können oder nicht. 13 Demnach sind unmoralische Angriffe auf die Integrität einer Person durch eine nicht weiter zu rechtfertigende Rücksichtslosigkeit gegenüber den ethisch-existenziellen Bedürfnissen der Betroffenen charakterisiert. Sie werden sich als eine Verschlechterung der Aussichten, das eigene Leben "bejahen" zu können, bemerkbar machen. Wenn man es genau nimmt, müsste man allerdings sagen, dass sie sich als eine solche Verschlechterung bemerkbar machen können, denn es gilt: Der Versuch ist strafbar. Wer z.B. einen anderen Menschen belügt, ohne dass dieser sich von der Lüge ernsthaft tangiert fühlt, handelt unmoralisch, auch wenn dabei kein ernsthafter Schaden eintritt. Ein unmoralischer "Angriff' auf die Integrität einer Person liegt bereits dort vor, wo ein solcher Schaden gewollt ist oder doch zumindest in Kauf genommen wird. Zu einer moralischen "Verletzung" kommt es hingegen erst dann, wenn dieser Schaden tatsächlich eintritt. Das moralische Regelwerk einer Gemeinschaft soll dieser Unterscheidung gerecht werden, indem es sowohl in präventiver als auch in reparativer Hinsicht auf beides zielt: Mit Blick auf potenzielle Täter sind solche unmoralischen Angriffe zu verhindern, zu ahnden und zu sanktionieren, mit Blick auf deren potenzielle Opfer müssen hingegen Verletzungen versorgt, kompensiert oder gar wiedergutgemacht werden. Fassen wir die bisherigen Überlegungen zusammen, so zielt die aus philosophischer Sicht gemeinhin mit der Moral assoziierte Idee der "Unparteilichkeit'' auf eine anthropologisch tief und unterschiedslos ansetzende Gleichstellung aller versehrbaren Menschen durch ein "gleiches Recht auf Schutz der Integrität unvertretbarer Einzelner". 14 Demnach gibt das Bedürfnis des Menschen nach einem Leben in Integrität den materialen Bezugspunkt moralischen Handeins ab, und entsprechend hätte ein komplexer Integritätsbegriff als Kernstück einer Moraltheorie der Unparteilichkeit zu fungieren. Die damit angedeutete moraltheoretische Begründungsfigur würde wie folgt lauten: Insofern jedem Menschen ein Bedürfnis nach Integrität unterstellt werden kann, ist zugleich auch ein allgemeines Interesse an deren sozialen Ermöglichungsbedingungen zu konstatieren. Weil sich dieses Interesse jedoch allein in Wechselseitigkeit wird realisieren lassen, da jeder die für seine Integrität erforderlichen Sozialleistungen- z.B. den Verzicht aufverletzende Übergriffe-

13 Die Integrität eines Menschen kann paradoxerweise selbst dann noch verletzt werden, wenn sie (momentan) gar nicht vorhanden ist, und zwar dadurch, dass sich die bloßen Möglichkeiten zu einem integren Leben verschlechtern. Wäre dem nicht so, würde man einem Menschen ohne Integrität beliebig schaden können, ohne sich dabei eines Vergehens schuldig zu machen- was zweifellos eine absurde Konsequenz wäre. Mehr dazu in Kapitel 5. 14 Wingert (1993), S. 253.

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nur unter der Bedingung entsprechender Gegenleistungen wird erwarten können, lässt sich ein universelles und wechselseitiges Recht auf Schutz eben dieser sozialen Ermöglichungsbedingungen integren Lebens konstatieren. 15 Wenn hier allerdings behauptet werden soll, personale Integrität sei als das Worumwillen der Moral aufzufassen, so ist damit eine hitzige und traditionsreiche philosophische Debatte berührt, die sich um die Frage rankt, wem im Konfliktfall der "Vorrang" einzuräumen sei: der Moral oder dem guten Leben. 16 Zu Beginn von Kapitel 2 ist darauf hingewiesen worden, dass sich der Ausbruch der im Anschluss an Williams geführten Integritätsdebatte einer Unzufriedenheit mit der damaligen Moralphilosophie verdankte, die rigoros zu fordern schien, dass im Zweifelsfall immer moralische Unparteilichkeitserwägungen über partikulare Bedürfnisse und Interessen zu obsiegen hätten. Dabei setzte die Kritik an diesem moraltheoretischen Rigorismus auf die nahezu alltägliche und wohl auch verallgemeinerbare Erfahrung, dass die Einhaltung moralischer Gebote nicht selten auf Kosten individuellen Glücks geht, während das Streben nach einem subjektiv gelingenden Leben manchmal dazu verleitet, sich über die Moral hinwegzusetzen. 17 Wenn man nun, wie das in dieser Arbeit geschieht, personale Integrität als eine der zentralen Bedingungen und Vollzugsweisen guten Lebens auffasst, so ist die so genannte Vorrangfrage zweifellos auch hier von Interesse. Nicht nur die Moralphilosophie, auch eine Theorie der Integrität ist mit der Notwendigkeit konfrontiert, angeben zu müssen, wem im Konflikt das Primat einzuräumen ist: Wie verträgt sich der Wunsch, ein möglichst integres Leben zu führen, mit dem Wissen, dass uns andere Menschen bei dem Versuch, jeweils ihre Integrität zu bewahren, in die Quere kommen können? Besitzt das Streben nach Integrität Vorrang vor moralischen Normen oder verhält es sich gerade umgekehrt? Ja, lässt sich dieser Streit am Ende überhaupt eindeutig entscheiden? Will man diese Fragen klären, dann wird man eindeutiger, als es bislang in der besagten Diskussion geschehen ist, mindestens vier Aspekte jener philosophischen Beziehungskrise von Moral und gutem Leben auseinanderhalten müssen: Erstens muss der Moral solange ein geeigneter Bezugspunkt fehlen, wie das Wohlergehen Einzelner nicht als eben jene Hinsicht erkannt wird, die es moralisch zu protegieren gilt. Demnach geht das integre und gute Leben "vor" in dem Sinne, dass die Idee moralischer Gerechtigkeit genau hier ihren materialen Kern entdeckt. 18 Zu bedenken ist zweitens, dass es aus der ethischexistenziellen Sicht der vielen unvertretbaren Einzelnen letztlich diesen selbst obliegt, inwieweit sie in ihre Selbstverständigungsprozesse spezifisch morali15 Vgl. Höffe (2002), Kap. 3.3.1. 16 Dazu auch Poilmann (1999). 17 Für eine kurze Philosophiegeschichte dieses "skandalösen Verhältnisses" siehe See! (1995), Kap. 1. 18 Vgl. Spaemann (1989); Nussbaum (1999); m.E. auch See! (1995).

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sehe Bedenken einfließen lassen. Da Personen primär ein integres bzw. gutes Leben führen wollen, erweist sich, wie oben bereits gezeigt, die ihnen gebotene Rücksicht auf andere Personen als nur eine, wenn auch zentrale Selbstverpflichtung neben anderen. 19 Mag es in diesen beiden Hinsichten so scheinen, als sei die Idee der Moral vom Streben nach Integrität abkünftig, lässt sich aus den folgenden beiden Gründen genau das Gegenteil behaupten: Meint man drittens mit Moral eine Art Schutzvorrichtung, mit deren Hilfe die sozialen Voraussetzungen personaler Integrität überhaupt erst geschaffen und zudem sichergestellt werden, kommt ihr im Alltag offenkundig eine wichtige präventive Kraft und damit eben auch Priorität zu. Das Gelingen eines bestimmten Lebens bedarf des Beistands, der Schonung und daher der Aufrechterhaltung einer durch Normen geregelten Gemeinschaft. 20 Daraus ergibt sich viertens direkt auch die geltungstheoretische Forderung, dass sich der Standpunkt der Moral, wenn dieser der unparteilichen Berücksichtigung aller Betroffenen verschrieben sein soll, auch dann noch als begründet erweisen muss, wenn eine oder mehrere Personen dessen Allgemeingültigkeit gar nicht anerkennen wollen. Die Verbindlichkeit moralischer Rechte und Pflichten hat sich unabhängig von den tatsächlichen Motivationen Einzelner und deren konkreten Vorstellungen von einem guten Leben zu erweisen. Auch insofern muss die Moral dem letzteren also übergeordnet sein. 21 Lässt man die Hoffnung fahren, dass Unterscheidungen dieser Art auf Dauer zu vertuschen sind 22 , so wird man der Einsicht zu folgen haben, dass erstens "materiale" und zweitens "ethisch-existenzielle" Gründe für den Vorrang des Guten und der Integrität plädieren, während drittens "präventive" und viertens "geltungstheoretische" Argumente für das Primat der Moral sprechen. Daraus ergäbe sich die zunächst vermutlich paradox anmutende These von einem wechselseitigen Vorrang. Wie aber sollte diese These sich halten lassen? Bedenken wir zunächst, dass es uns im Zusammenhang der Integritätsproblematik nicht primär um eine hiureichende Rechtfertigung des moralischen Standpunktes ging, sondern lediglich um die Identifizierung eines moralischen "Minimums", d.h. um die Frage, warum und inwieweit integre Personen den moralischen Standpunkt einzunehmen bereit sein müssen. Damit gerät die Moral nicht als Begründungsproblem, sondern in erster Linie als Motivationsproblem in den Blick: "Warum überhaupt moralisch sein?", lautet die entscheidende Frage. 23 Zunächst wäre an dieser Stelle noch einmal an die bereits mehrfach umrissene Einsicht zu erinnern, dass das Streben nach 19 20 21 22

Vgl. James Griffin (1996): Value Judgement, New York: Oxford UP; Joas 1997. So die Ansicht z.B. von Rawls (1992b ); Taylor (1993). Dazu Habermas (1991 ); Forst (1999). Manche Autoren neigen dazu, das gute Leben mit der Moral zwanghaft versöhnen zu wollen. Siehe z.B. Maclntyre (1990); Korsgaard (1996). 23 Siehe Kurt Bayertz (Hg.) (2002): Warum moralisch sein?, Stuttgart: UTB.

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Integrität nicht selten anderen Gesetzen folgt als denen der Moral, auch wenn die prinzipielle Bereitschaft zur Reflexion moralischer Sachverhalte notwendig dazugehören mag. Während jedoch personale Integrität eine zumindest sporadische Nichtbeachtung gesellschaftlicher Normen nicht von vomherein ausschließt, sind wir bei der Moral gerade um einen friedenstiftenden Ausgleich divergierender Vorstellungen vom guten Leben bemüht, so dass Abweichungen von geltenden Normen gar nicht zugelassen werden können. Insofern, so müssen wir feststellen, ist der präferenzielle Standpunkt der Integrität nicht schon identisch mit der personenübergreifenden Prüfinstanz des moralisch Richtigen. Zu einem Konflikt zwischen dem Wunsch nach einem Leben in Integrität und den Forderungen der Moral kann es nun allein deshalb kommen, weil die nach Integrität strebende Person das jeweilige Eigenrecht beider dieser Standpunkte - das Recht auf ein eigenes Leben, aber auch das Recht der Moral - implizit immer schon anerkennt, was zugleich bedeutet, dass sie jeweils auch die vier soeben benannten Vorrangthesen akzeptieren kann. Wie ist das möglich? Aufgrund der intersubjektiven Konstituiertheit menschlicher Subjektivität und der folglich perspektivisch dezentrieften Struktur jeder reflektierten ethisch-existenziellen Selbstbeziehung vermag der Mensch beide Einstellungen simultan einzunehmen: die Haltung einer an seinem individuellen Wohlergehen interessierten ersten Person, aus der heraus der hier gemeinte Konflikt als ein präferenzieller zu beschreiben ist, sowie die hypothetisch zu beziehende Warte einer beliebigen zweiten Person, von der aus gesehen es sich um eine moralisch zu entscheidende Angelegenheit handelt. Aus eben diesem Grund lässt sich die naheliegende Frage, ob ein integrer Mensch ein moralischer "Trittbrettfahrer", ein "rationaler Egoist" oder gar eine unmoralische Bestie sein kann, sinnvoll allein im Rückgriff auf den Rekurs und die Annahme einer von vornherein dialogischen Grundstruktur menschlicher Subjektivität klären. Mit der frühkindlich verinnerlichten Perspektive erster enger Bezugspersonen ist die Prüfinstanz des moralischen Richtigen, d.h. das Gebot der Rücksichtnahme auf andere Menschen, immer schon gesetzt; wobei sich diese moralische Prüfinstanz, wie schon Georg H. Mead in seinen bahnbrechenden Studien zur Ich-Identitätsentwicklung hat zeigen können, mit wachsendem Abstand von den ersten Bezugspersonen und dem Auftreten zahlreicher weiterer Personen allmählich zur Perspektive des generalisierten Anderen und eben damit zum Standpunkt der Unparteilichkeit erweitert. 24 Solange Personen sozialisierte Wesen sind, kann es ein völliges "Außerhalb" der Moral schlichtweg nicht geben; nimmt man Fälle pathologischer Amoralität einmal aus. 25 Die Stimme des Gewissens, d.h. die Stimme des ge24 George H. Mead (1968): Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp. 25 Die klinische Psychopathologie spricht hier vom "Soziopathen".

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neralisierten Anderen, ist immer schon hörbar. Allerdings kann die Prüfinstanz des moralisch Richtigen an einem lauten Sprechen gehindert werden. Demnach wird sich ein ethisch-existenzielles Selbstverhältnis allein dann in einem starken Sinne als unmoralisch erweisen, wenn der innere Dialogpartner wiederholt und dauerhaft unterdrückt wird, etwa nach Art einer Selbsttäuschung, so als sei dieser Dialogpartner gar nicht vorhanden. 26 Der damit zwar nicht vollständig, aber gleichwohl nachhaltig unmoralische Mensch erinnert sei an Eichmann, der von einer "Abspaltung" seines Wissens um die grauenhaften Konsequenzen seines Handeins sprach - verstrickt sich aufgrund der dialogischen Grundstruktur seines Selbstverhältnisses, mehr oder weniger bewusst, in Widersprüche, denn er ist gezwungen, die Stimme seines moralischen Gewissens dauerhaft zu überhören. Ein solcher Selbstbetrug lässt sich in jenen vier Hinsichten unterscheiden, in denen soeben ein wechselseitiger Vorrang von Moral und gutem Leben behauptet wurde. So wird erkennbar, warum eine integre Person unmöglich eine im starken, nachhaltigen Sinne unmoralische Person sein kann: Wer erstens nicht hinreichend zu erkennen vermag, dass die Schaffung der sozialen Bedingungen integren Lebens die Pointe der Moral ausmacht, wird nicht einsehen können, warum er ihr überhaupt folgen soll. Wenn ein Mensch zweitens den Sinn der Moral zwar begreift, aber dennoch dauerhaft unmoralisch handelt, wird er jene früh verinnerlichte existenzielle Selbstverpflichtung kompromittieren, der zufolge er immer auch, zumindest in Maßen, als ein moralischer Mensch gelten möchte. Wer drittens partout nicht anerkennen will, dass die Moral den Schutz guten und integren Lebens gewährleisten soll, wird durch nachhaltig unmoralisches Handeln zu einer Erosion sozialer Lebenszusammenhänge beitragen, die der integre Mensch nicht wollen kann. Wer schließlich viertens den Umstand übersieht oder dauerhaft missachtet, dass die Gebote der Moral selbst dann Geltung besitzen, wenn er ihnen momentan nicht folgt - was vermutlich dazu führen wird, dass er sein Handeln rechtfertigen muss-, wird verlernen, was es überhaupt heißt, den eigenen Lebensvollzug vor anderen mit guten Gründen verteidigen zu können. Zunächst ist damit allerdings nur geklärt, dass personale Integrität weder mit einem vollkommen amoralischen noch mit einem nachhaltig unmoralischen Leben kompatibel ist. Doch stand dies beides hier gar nicht ernsthaft zur Debatte. Bereits in Kapitel 2 war deutlich geworden, dass Trittbrettfahrer, rationale Egoisten und Bestien keine Integrität besitzen können, zumindest dann nicht, wenn sie das oben spezifizierte moralische Minimum vermissen lassen. Im Übrigen galt dort Ähnliches auch für den Counterpart des Amaralisten: Personen, die in völliger moralischer und sittlicher Konformität leben,

26 Vgl. Maeve Cooke (1994): "Postkonventionelle Selbstverwirklichung", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1/1994.

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werden ebenfalls keine Integrität vorweisen können, da ihnen spezifisch eigene Selbstverpflichtungen und Wertbindungen gänzlich abgehen. Im Anschluss an die soeben entwickelte These eines wechselseitigen Vorrangs von Moral und integrem Leben müssen wir an dieser Stelle erneut einsehen, dass der integre Mensch keineswegs zu einer kategorischen, sondern allenfalls zu einer weitgehenden Befolgung moralischer Normen verpflichtet ist. Ausnahmen bleiben möglich, solange sich diese hinreichend gut begründen lassen. Entsprechend muss mit Blick auf die Integritätsproblematik aber auch das moralphilosophische Motivationsproblem noch einmal genauer spezifiziert werden. Die entscheidende Frage lautet nicht: "Warum überhaupt moralisch sein?" Denn wer es rein gar nicht ist, gehört in die Klinik oder ins Gefangnis. Der moralphilosophischeheikle Punkt ist: "Warum immer moralisch sein?" Der nach Integrität strebende Mensch wird von vornherein verneinen müssen, dass ihm eine unbedingte Motivation zur Moral abverlangt werden kann. Wenn sein legitimes Bedürfnis nach personaler Integrität nicht schon a priori kompromittiert werden soll, muss entsprechend auch der Versuch einer Rekonstruktion des moralischen Standpunktes die Einsicht integrieren können, dass Moral und Integrität weder deckungsgleich sind noch jemals sein sollen. Daraus ergibt sich eine Neubeschreibung der bereits in Kapitel 2 angedeuteten Spannung zwischen präferenziellen und moralischen Erwägungen: Die Forderung, dass eine nach Integrität strebende Person die Interessen anderer in ihre Überlegungen einzubeziehen habe, ist moralischer Natur. Die Frage aber, inwieweit sie diese anderen in konkreten Handlungssituationen tatsächlich berücksichtigen will, besitzt präferenziellen Charakter. Da jede Person jeweils beide dieser Einstellungen wahlweise einzunehmen vermag, lässt sie sich bei jedem dieser Perspektivenwechsel auf Gründe prinzipiell verschiedener Art ein, deren materiale, ethisch-existenzielle, präventive und geltungstheoretische Implikationen sich zwar auseinanderhalten, aber nicht schon wechselseitig widerlegen lassen. Im Konfliktfall können präferenzielle und moralische Gründe zwar gegeneinander abgewogen werden, letztlich bedarf es jedoch einer Entscheidung zwischen ihnen. Das ist die Grundeinsicht einer "agonalen" Theorie der Integrität, die den Wettstreit zwischen den genannten Orientierungen nicht schon von vornherein entscheiden will. 27 Weder darf also die Moral bereits auf theoretischer Ebene den Sieg über die Integrität davontragen, noch sollte umgekehrt die Integrität gegenüber der Moral als prinzipiell vorrangig eingestuft werden. 28 Wir haben hier vielmehr von einem konfliktreichen, manchmal aber auch fruchtbaren Wechselverhält27 Ich lehne mich hier an See! (1995) an. Vgl. aber auch Joas (1997), Kap. 10. 28 Es mag durchaus Momente im Leben geben, in denen man sich gezwungen sieht, der eigenen Integrität Schaden zuzufügen, weil man einsieht, dass die Moral es von einem verlangt. Ein Beispiel: Eine Frau mittleren Alters "opfert" Jahre ihres Lebens, um den schwer kranken, kaum geliebten Vater zu pflegen.

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nis auszugehen: Die Moral der Unparteilichkeit setzt der Integrität Grenzen, doch vermag letztere die zuerst genannte in ihrer rigoristischen Grundhaltung zu korrigieren. An dieser Stelle wird vielleicht der Vorwurf laut werden, dass eine Person, die derart zwischen präferenziellen und moralischen Erwägungen pendelt, am Ende eine eher "desintegrierte" Person sein muss. Dieser Vorwurf ist dann berechtigt, wenn die betreffende Person nach dem lediglich schwach evaluierenden Motto lebt: "Heute hier, morgen dort!" Wer sein Leben jedoch an starken Wertungen ausrichtet, der wird sich solche Entscheidungen nicht leicht machen. Bleibt die Person sich dabei treu und, das ist wichtig, der jeweils unterlegenen Entscheidungsoptionen eingedenk, dann kann ein derartiges Pendeln durchaus mit einem Leben in Integrität vereinbar sein. Personale Integrität ist stets auch als das Vermögen zu kennzeichnen, zu sich und seinen Präferenzen auf moralische Distanz zu gehen, um sich mit den Augen anderer als eine Person unter diesen anderen zu sehen. Das integre Personsein beruht demnach auf einem regelmäßig überprüften intrapersonalen Selbstverhältnis. Anhand dieser Überlegungen lässt sich dann auch der bereits in Kapitel 2 angedeutete Widerspruch aufklären, dass die Integritätsaspekte Selbsttreue und Rechtschaffenheit zugleich abhängig und unabhängig voneinander sind. Rechtschaffenheit ist insofern begrifflich in Selbsttreue impliziert, als der integre Mensch den Standpunkt moralischer und sittlicher Rücksichtnahme immer schon einnimmt. Rechtschaffenheit ist aber insofern von Selbsttreue begrifflich unabhängig, als dieser dem moralischen bzw. sittlichen Standpunkt nicht immer schon folgt. Die nach Integrität strebende Person weiß oder spürt, dass ihre tief verankerten und parteiischen Selbstverpflichtungen integritätsstiftend sind. Sie weiß oder spürt zugleich, dass die spezifisch moralischen Verpflichtungen, die an sie herangetragen werden, auf die Gewährleistung eben jener sozialen Bedingungen zielen, die den Besitz integritätsstiftender Selbstverpflichtungen auchfür andere möglich machen sollen. Nicht immer, aber eben manchmal muss sie sich zwischen diesen beiden Orientierungen entscheiden. In konzeptioneller Hinsicht verschärft sich das Problem, wie im Folgenden deutlich werden soll, wenn wir bedenken, dass der Ausdruck "für andere" sowohl einige als auch alle anderen meinen kann.

4.2 Anerkennungsbedürfnis und Anerkennungsverlust: Geschätzt werden wollen Wenden wir uns zunächst noch einmal der bereits zu Beginn von Kapitel 2 diagnostizierten Mehrdeutigkeit des Moralbegriffs zu. In dem soeben durchschrittenen Abschnitt ist primär die Frage verhandelt worden, wie sich das ethisch-existenzielle Integritätsstreben mit der heute vor allem im Anschluss an Kant vorgetragenen Überzeugung verträgt, dass moralische Fragen auf

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eine unparteiliche Berücksichtung der Interessen beliebiger anderer zielen. Daraus ergab sich zunächst das für die Integrität zentrale Spannungsverhältnis zwischen "präferenziellen" Selbstverpflichtungen und "moralischen" Verpflichtungen gegenüber der Allgemeinheit. In der jüngeren Vergangenheit ist jedoch im Rahmen einer inzwischen weitverzweigten Kritik an der zeitgenössischen Moralphilosophie wiederholt der Verdacht geäußert worden, dass die Annahme, der Mensch wisse, was Moral sei, weil er sich auf den neutralen Standpunkt der Unparteilichkeit zu stellen vermag, revidiert werden muss. Feministisch inspirierte Debatten um eine Moralphilosophie der "Fürsorge"29 , aber auch das wieder erwachte Interesse an einer Theorie der "Liebe"30 haben deutlich werden lassen, dass ein Großteil ganz alltäglicher moralischer Intuitionen und Erfahrungen gar nicht angemessen vom Standpunkt des view from nowhere31 zu erfassen ist. So gilt unser fürsorglicher oder eben auch liebender Blick schwerlich irgendeiner abstrakten Allgemeinheit, sondern stets den individuellen Eigenarten jeweils enger Bezugspersonen, denen wir in bestimmten Hinsichten unseres Lebens jederzeit den Vorzug vor anderen geben würden. Ja, im Rahmen derart affektiver moralischer Bindungen muss sich der unparteiische Standpunkt einer Moral der "Gerechtigkeit" nur zu oft als gänzlich unangebracht erweisen? 2 Da intersubjektive Bindungen, in denen partikulare Neigungen und Gefühle im Spiel sind, nicht von vomherein in den Bereich des Außermoralischen verbannt werden können, muss entgegen der kantianischen Tendenz, moralische Fragen immer schon als Probleme der Unparteilichkeit zu diskutieren, die moralische Perspektive selbst noch einmal aufgefächert werden. Wir haben zu unterscheiden zwischen unparteiischen moralischen Verpflichtungen, wie sie z.B. in Fragen der Gerechtigkeit, des Rechts oder des moralischen Respekts zur Debatte stehen, und genuin parteiischen moralischen Verpflichtungen, wie sie etwa in Fürsorge- und Liebesbeziehungen, aber auch in Freundschaftsverhältnissen zum Tragen kommen. Dadurch gestaltet sich der Konflikt zwischen präferenziellen und moralischen Erwägungen aus Sicht der Integrität freilich noch etwas komplizierter, da nunmehr auch noch unterschiedliche Arten von moralischen Forderungen miteinander konkurrieren. Betrachten wir zunächst ein Beispiel und erinnern uns an jene im Anschluss an Williams viel diskutierte Geschichte eines tragischen Schiffsunglücks. Nehmen wir einmal Folgendes an: Der Schiffbrüchige, der seine Frau und andere Passagiere über Bord gehen sieht, spielt für einen kurzen Moment mit 29 Dazu exemplarisch die Beiträge in: Herta Nagl-Docekal/Herlinde Pauer-Studer (Hg.) (1993): Jenseits der Geschlechtermoral, Frankfurt/Main: Fischer. 30 Siehe z.B. Robert E. Lamb (Hg.) (1997): Love Analyzed, Bou1der: Westview. 31 So die berühmte Formulierung bei Thomas Nagel. Siehe ders. (1992): Der Blick von Nirgendwo, Frankfurt/Main: Suhrkamp. 32 Honneth (2000c), bes. Abschnitt TI. 251

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dem Gedanken, dass er erleichtert oder gar froh wäre, wenn ihm seine Ehefrau abhanden käme (präferenzielle Erwägung). Selbstredend reißt er sich umgehend wieder zusammen, und ihm wird klar, dass er sie zu retten hat, und zwar, eben weil sie seine Frau ist, als Erstes (parteiische moralische Erwägung). Sodann mag ihm aber in den Sinn kommen, und er zögert, dass ja auch die anderen Passagiere ein Recht, und zwar ein gleiches Recht, auf Rettung haben (unparteiische moralische Erwägung). Wie würden Sie entscheiden? In den zweifellos meisten Fällen dürfte es ohne jedes weitere Zögern zu einer Rettung des Ehepartners kommen. Für gewöhnlich werden Fälle dieser Art dann so interpretiert, dass partikulare Bindungen im Sinne ethischer Präferenzen den Vorzug erhalten. Auch eine Umdeutung des Problems in eine letztlich dann doch unparteiische Erwägung, nach der ein jeder das gleiche Recht habe, seinen Ehepartner als erstes zu retten, wäre möglich. Beide Deutungen konzipieren den Konflikt als eine Entscheidung zwischen präferenziellen und moralischen Erwägungen. Dagegen ist es jedoch angemessener, von einem Streit innerhalb der Moral zu sprechen: Hier tragen parteiische über unparteiische moralische Erwägungen den Sieg davon. Die Moral parteiischer, partikularer Bindungen ("Ich muss meine Frau natürlich als Erstes retten") muss sich demnach weder mit den Geboten der Unparteilichkeit ("Alle haben das gleiche Recht auf Rettung") noch - was im Zusammenhang der Integritätsproblematik ebenso wichtig ist - mit den eigenen momentanen Präferenzen ("Ich würde meine Frau ganz gerne loswerden") decken. Damit sind wir innerhalb der moralischen Perspektive mit einem Anderen der Gerechtigkeit konfrontiert, dessen Berücksichtigung zu einer spannungsreichen Wechselbeziehung zwischen moralischen Ansprüchen der "Gleichheit" einerseits und der "Differenz" anderseits fuhrt: Ein erweiterter moralischer Standpunkt hätte auf der Einsicht aufzubauen, dass Menschen nicht nur als Gleiche unter Gleichen, sondern immer auch als Besondere moralische Rücksicht und Wertschätzung erfahren wollen, ja, müssen, um ein insgesamt gelingendes Leben fuhren zu können. 33 In zahlreichen sozialen Konstellationen, z.B. in Familienbeziehungen, Rechtsordnungen oder auch Solidargemeinschaften, sind moralische Ansprüche auf Gleichbehandlung mit ebenso moralischen Ansprüchen auf Ungleichbehandlung in Einklang zu bringen. 34 Die nach Integrität strebende Person dürfte Erfahrungen, in denen auch sie zwischen parteiischen und unparteiischen moralischen Überlegungen hin und her gerissen ist, gut kennen. Ihre Mitmenschen tragen stets beides an sie heran: die Forderung nach fairer Gleichbehandlung - man nehme das Beispiel einer Arbeitgeberin, die angesichts einer zu vergebenden Stelle eine gerechte Entscheidung zwischen un-

33 Honneth (2000c) 34 Dazu Wingert (1993).

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terschiedlichen Bewerberinnen zu treffen hat -, aber auch das Ansinnen besonderen Bevorzugung- man bedenke den Fall, dass eine der Bewerberinnen die Tochter einer guten Freundin ist. Spätestens angesichts von Konfliktsituationen dieser Art verwandelt sich die zunächst allgemeine Frage nach dem Standpunkt der Moral in die spezifischere Erwägung, was genau Personen an anderen zu respektieren oder auch wertzuschätzen haben, wenn sie sich diesen gegenüber moralisch korrekt verhalten wollen. Worauf genau zielen Akte der Fairness, des Respekts und der Gleichbehandlung einerseits, der Fürsorge, Liebe und Freundschaft anderseits? Und inwiefern sind Personen, auch die integren, darauf angewiesen, dass sie in bestimmten Hinsichten des Lebens gleich, in anderen hingegen ungleich behandeln und behandelt werden? Damit sind wir bei Fragen einer Philosophie der Anerkennung angelangt. 35 Deren traditionsreiche Prämisse lautet bekanntlich wie folgt: Menschliche Subjekte können zu einem angemessenen Bewusstsein ihrer selbst allein in Auseinandersetzung mit konkreten anderen Subjekten gelangen, indem sie lernen, sich in deren reaktiven Blicken, Gesten, Äußerungen und Handlungen zugleich zu erkennen und anzuerkennen. Wer einen anderen Menschen anerkennt, gibt diesem zu verstehen, dass er ihn nicht bloß zur Kenntnis nimmt, sondern auch respektiert. Der Tendenz nach zielt intersubjektive Anerkennung auf Reziprozität. Sie ist allein dann vollwertig gegeben, wenn die jeweils anerkannte Person die jeweils anerkennende Person ebenfalls für hinreichend anerkennungswürdig hält. Damit ist ein interaktionistischer, mal Freiheit verbürgender, mal Freiheit bedrohender Abhängigkeitszusammenhang von kognitiven Wahrnehmungen und normativen Wertungen behauptet, aus denen Subjekte, wie es im Rekurs hieß, gleichursprünglich hervorgehen sollen. Da der Prozess wechselseitiger Individuierung und Vergesellschaftung in ein verwickeltes Geflecht unterschiedlichster Interaktionsbeziehungen eingelassen ist, die nicht immer nur intakt, sondern oftmals auch gestört sind, kann, wie es in der berühmten Formulierung Hegels heißt, von einem "Kampf um Anerkennung" die Rede sein, dessen sowohl kognitive als auch normative Implikationen im Rahmen von Ethik, Moralphilosophie, Politischer Philosophie und Sozialphilosophie heute auf sehr unterschiedliche Weise fruchtbar gemacht werden. 36 Mit Blick auf die Integritätsproblematik wäre zunächst mit der überaus grundsätzlichen Frage zu beginnen, was genau anerkannt werden soll, wenn Menschen um Anerkennung ringen. Im Zuge des sozialpathognostischen 35 Zum derzeitigen Stand der Debatte: Mattias Iser (2004): "Anerkennung", in: Gerhard Göhler/Mattias Iser/Ina Kerner (Hg.) (2004): Politische Theorie, Wiesbaden: VS/UTB. 36 Dazu mehr in: Amd Poilmann (2005), "Anerkennung", in: Stefan Gosepath/ Wilfried Hinsch/Beate Rössler (Hg.) (2005): Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Berlin u. New York: de Gruyter (in Vorbereitung).

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Kapitels 1 war von der derzeit profihertesten Theorie der Anerkennung bereits die Rede, und zwar von der Sozialphilosophie Axel Honneths, der im Anschluss an den jungen Regel drei Stufen von Anerkennung unterschieden hat, aus denen wir entsprechende Hinsichten der Anerkennung herauslesen können? 7 Von der in ontogenetischer Hinsicht basalsten Form der Anerkennung ist eben bereits die Rede gewesen. Gemeint ist die Liebe oder auch Fürsorge, die in frühkindlichen Primärbeziehungen und später auch in entwickelten Partner- und Freundschaften zum Tragen kommt. Die emotionale Zuwendung, die einem Menschen in Liebes- und Fürsorgebeziehungen zufließt, ist vor allem leiblich vermittelt. Es geht um den wechselseitigen Austausch von Zärtlichkeiten und Gefühlen sowie um Akte einer insofern besonderen Verbindlichkeit, als diese Handlungen auf die Einzigartigkeit der ethisch-existenziellen Bedürfnisse der jeweils geliebten Person zugeschnitten sind. Im intimen Nahfeld einer solchen, weithin bedingungslosen Zuwendung, lernt der Mensch, sich derart positiv auf sich selbst zurückzubeziehen, dass es zur Herausbildung und Bewahrung existenziellen Selbstvertrauens kommt. Diese "ontologische Sicherheit"3R kann durch gravierende Erfahrungen der Missachtung, in denen die seelische und leibliche Unversehrtheit eines Menschen auf dem Spiel steht, tiefgreifend verletzt oder gar zerstört werden; z.B. im Zuge von Missbrauch, Misshandlung oder Vergewaltigung. Auch die zweite Grundform der Anerkennung ist oben bereits angerissen worden. Es ist der in moralischen Unparteilichkeitserwägungen zum Ausdruck kommende und in den Strukturen des modernen Rechts verbürgte Anspruch eines jeden Menschen auf "Achtung". Gegenüber Liebe und Fürsorge, die auf die Anerkennung von Differenz zielen, betont der in rechtlicher und moralischer Hinsicht wechselseitig zu zollende Respekt, der mit Achtung einhergeht, den Aspekt menschlicher Gleichheit. 39 Nicht dass Menschen gleich sind, soll hier behauptet werden, sondern lediglich, dass sie gleiche Rechte haben. Und indem der Mensch in Moral- und Rechtssysteme hineinwächst, die auf diesem reziproken Achtungsanspruch aufbauen, lernt er mehr und mehr, sich im Lichte universeller Normen als ein prinzipiell gleichberechtigtes Mitglied seiner Gemeinschaft zu verstehen. Wenn er sich von anderen Personen hinreichend respektiert und geachtet sieht, nimmt sein Selbstverhältnis die Form der Selbstachtung an, die für das Gelingen eines Lebens ebenso unerlässlich ist wie das ontogenetisch gleichwohl basalere Selbstvertrauen. Im Fall von gravierenden rechtlichen und moralischen Benachteiligungen kann auch diese Form der ethisch-existenziellen Selbstbeziehung in sich zusammenbrechen; z.B. im Zuge von Übervorteilung, Diskriminierung oder gar Entrechtung. 37 Zum Folgenden siehe Honneth (1992). 38 Der Ausdruck stammt von Laing (1972). 39 Vgl. auch Margalit (1997).

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Der dritte Anerkennungstypus stellt insofern eine Mischform der beiden ersten Formen von Anerkennung dar, als es dabei um die Berücksichtigung der Tatsache geht, dass Personen in der jeweiligen Gemeinschaft, der sie angehören, für gewöhnlich nicht nur als Gleiche bzw. Gleichberechtigte, sondern immer auch in ihrer Besonderheit, d.h. mit ihren besonderen Leistungen Beachtung und Akzeptanz erfahren wollen. Dieser dritte Typus von Anerkennung setzt ein kooperatives Gemeinschaftsleben voraus, in dem jedes Mitglied seinen individuellen Beitrag zum Gelingen des großen Ganzen beisteuert. Gemeint sind gesellschaftliche "Solidarverhältnisse" die sich, wie es heute oft heißt, durch Gemeinwohlorientierung oder auch Gemeinschaftssinn auszeichnen. Das einzelne Gesellschaftsmitglied will in diesen Solidargemeinschaften mit seinen besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten, also in seiner spezifischen Individualität Wertschätzung erfahren. Wenn ihm diese soziale Wertschätzung zufließt und er lernt, sich selbst als ein wertvolles Mitglied der eigenen Gemeinschaft wiederzuerkennen, nimmt seine ethischexistenzielle Selbstbeziehung die Gestalt der Selbstwertschätzung an. Diese Gewissheit, ein geschätzter gesellschaftlicher Kooperationspartner zu sein, kann getrübt werden oder geht verloren, wenn es zu Akten der Demütigung, der Stigmatisierung oder gar zum Ausschluss kommt. Im Zusammenhang der Integritätsproblematik ist nun vor allem von Interesse, dass die genannten drei Anerkennungstypen - Zuwendung durch Liebe und Fürsorge, Achtung durch Moral und Recht sowie Wertschätzung durch gemeinwohlorientierte Solidarität - zusammen die soziale Infrastruktur bilden, vor deren Hintergrund Individuen ein unverzerrtes Selbstverhältnis und damit ihre Integrität zu erwerben und zu bewahren versuchen. 40 Demnach übernimmt das hier in formaler Hinsicht gesponnene Netz unverzerrter Anerkennungsverhältnisse eine für das gelingende Leben notwendige Sicherungsund Auffangfunktion: Ein Mensch wird sich nur dann zu einer reifen und selbstbestimmten Persönlichkeit entwickeln können, wenn er sich zugleich auch von anderen umfassend als solche geachtet weiß. Hier wird ein Bild personaler Integrität gezeichnet, dem zufolge das integre Leben intern auf ein Zusammenspiel von Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstwertschätzung angewiesen ist. In diesem anerkennungstheoretischen Sinne sind Menschen demnach dreifach voneinander abhängig, so dass es einer Person bereits dann schwer fallen oder gar unmöglich werden kann, ein positives Selbstbild und damit Integrität zu bewahren, wenn ihr in einer der drei genannten Hinsichten Anerkennung versagt bleibt. 41 Nun kann auch eine Antwort auf die Frage formuliert werden, was anerkannt werden soll, wenn Menschen um Anerkennung ringen. Hegelianisch

40 Dazu Honneth (1990c ). 41 Vgl. Harris (1999), bes. S. 6-9.

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formuliert: Jeder Mensch muss in den drei Hinsichten der "Einzelheit", der "Allgemeinheit" und der "Besonderheit" Beachtung und Akzeptanz erfahren, um Integrität besitzen zu können. Während Liebe und Fürsorge auf die Anerkennung der Einzigartigkeit des je individuellen Lebens zielen, gilt der moralische Respekt dem Status jeder Person als Gleicher unter Gleichen, während soziale Wertschätzung auf den Status von Gesellschaftsmitgliedern zielt, unter diesen Gleichen noch einmal Besondere zu sein. Wenn man im nächsten Schritt bedenkt, dass Menschen in diesen drei Hinsichten zweifellos nicht nur Erwartungen und Ansprüche hegen, sondern gegenüber anderen Subjekten, die sich ebenfalls nach Anerkennung sehnen, entsprechend auch Verpflichtungen verspüren, so gerät ein Nebeneinander von nunmehr drei moralischen Einstellungen in den Blick, die mit jeweils eigenen Ansprüchen, Verbindlichkeiten, positiven Selbstverhältnissen sowie entsprechenden Verletzungsgefahren verknüpft sind. 42 Damit ist ein dreigeteilter moralischer Standpunkt markiert, der die engen Grenzen der kantianischen Unparteilichkeitsmoral sprengt, indem er auf eine umfassendere Konsolidierung personaler Integrität abzielt: Weder Liebe und Fürsorge noch Formen gemeinwohlorientierter, solidarischer Wertschätzung können auf den view from nowhere reduziert werden. Vielmehr korrigieren sie dessen "Differenzblindheit", indem sie am Menschen die Aspekte des Einzigartigen (Liebe und Fürsorge) und Besonderen (Solidarität und Gemeinschaftssinn) hervorheben, von denen hier deutlich werden sollte, dass sie nicht weniger moralische Relevanz besitzen als der Aspekt des menschlichen Allgemeinen (Moral und Recht). Um in der eigenen Integrität umfassend Anerkennung erfahren zu können, bedarf es also mehr als nur des moralischen Schutzes elementarer menschlicher Ansprüche auf ein gleichberechtigtes Leben frei von tiefgreifenden moralischen Verletzungen. Das Leben in Integrität fußt immer auch auf dem Anspruch und dem Recht auf ein ganz eigenes, zugleich einzigartiges und besonderes Leben in selbstgewählter Übereinstimmung mit dem, was der betreffenden Person existenziell wichtig und dringlich erscheint. Gleichwohl ist bei genauerem Hinsehen fraglich, ob auch für fürsorgliche und solidarische Sozialbeziehungen der mit Blick auf die Unparteilichkeitsmoral überaus signifikante Zusammenhang von "Rechten" und "Pflichten" maßgeblich ist. 43 Fraglos haben die meisten Menschen ein Bedürfnis nach Liebe und Solidarität, aber besitzen sie deshalb auch schon einen legitimen 42 Axel Honneth (2000e): "Zwischen Aristoteles und Kant", in: ders. (2000c). 43 Der Kürze wegen lasse ich den Umstand außen vor, dass diese wechselseitige Durchdringung von Rechten und Pflichten allein für den Kreis von Personen gilt. Kinder, Schwerbehinderte, Altersdemente oder auch Tiere haben zwar moralische Rechte, aber allenfalls eingeschränkt korrespondierende Pflichten. Dazu Haberrnas (1991 ), Kap. 6; See I (1995), Kap. 3.

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Anspruch darauf, geliebt und solidarisch unterstützt zu werden, so wie sie Anspruch auf die Einhaltung der Unparteilichkeitsmoral oder auch des Rechts haben? Kann von einer "Pflicht" zu liebevoller Zuwendung oder zu solidarischer Wertschätzung die Rede sein, so wie es üblich ist, von Pflichten gegenüber dem Gesetz zu sprechen? Nur damit hier kein Missverständnis entsteht: Auch Verpflichtungen der Liebe und der Solidarität können von denjenigen, die sie verspüren, als volitionale Notwendigkeit im Sinne Harry Frankfurts verstanden und empfunden werden. Deren Nichterfüllung kann sowohl bei denen, die das Versäumnis zu verantworten haben, als auch bei jenen, die davon betroffen sind, äußerste Bestürzung hervorrufen. Doch sind solche Verpflichtungen deshalb schon als derart strikt verbindlich anzusehen, dass ihre Erfüllung allgemein erwartet werden kann? Führen wir uns dazu ein durchaus heikles Beispiel vor Augen: Eine Mutter hat die Pflicht, so würde man sagen, angemessen für ihr Kind zu sorgen und ihm die für seine Entwicklung notwendige emotionale Zuwendung zukommen zulassen. Aber hat sie diese Pflicht wirklich immer und ausnahmslos? Bedenken wir den dramatischen Fall, dass wir es mit dem Kind eines Vergewaltigers zu tun haben. Die Mutter hat aus christlichen Motiven von einem Schwangerschaftsabbruch abgesehen. Ist von dieser Mutter in einem starken Sinne zu verlangen, dass sie ihr Kind liebt? Selbst wenn wir die Frage mit "ja" beantworten würden, weil wir meinen, davon ausgehen zu können, dass die Mutter in dem Moment, in dem sie sich für und nicht gegen ihr Kind entschieden hat, ganz konkrete Fürsorgeverpflichtungen eingegangen ist, so können wir doch die Mutterliebe als solche, wenn sie einmal nicht vorhanden ist, weder einfordern noch einklagen. Wir wissen, auch aufgrund weit weniger drastischer Erfahrungen: Entweder wir lieben einen Menschen oder wir lieben ihn nicht. Entweder wir hegen einem Menschen gegenüber solidarische Gefühle oder wir tun es nicht. Zwar können sich aus zwischenmenschlichen Beziehungen, sobald wir diese eingehen, Fürsorge- oder auch Solidaritätspflichten ergeben, deren Erfüllung andere dann auch von uns erwarten dürfen; dennoch können wir uns nicht schon "zu" Liebe und Solidarität verpflichten. Menschen können sich zwar so verhalten, als ob sie Liebe und Solidarität verspüren - sie können hingebungsvolle Eltern mimen oder jeden Morgen ihrem Lieblingsbettler in der U-Bahn ein paar Cents zuwerfen-, aber inwieweit sie wirklich liebevoll und solidarisch sind, d.h. inwieweit ihr Verhalten emotional und ethischexistenziell verankert ist, wird vielleicht fraglich sein. Wer nicht wirklich liebt oder nicht wirklich solidarisch ist, der mag zwar, objektiv gesehen, einzelne Fürsorge- oder Solidaritätspflichten erfüllen, aber er erfüllt sie nicht aus Liebe und Solidarität. Im Zusammenhang der Integrität ist dies vor allem deshalb von Interesse, weil es aus Sicht derjenigen, die sich nach Liebe und Solidarität sehnen, einen psychologisch schwerwiegenden Unterschied macht, ob die Er-

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füllung konkreter Fürsorge- bzw. Solidaritätspflichten wahrhaftig auf Liebe bzw. Solidarität beruht oder nicht. Ein Kind wird vermutlich leiden, falls es spürt, dass die Liebe der Eltern nicht "echt" ist. Und einer hilfsbedürftigen Person dürfte es keineswegs egal sein, ob ihr Wohltäter aus aufrichtigem Mitgefühl oder bloß aus Eitelkeit spendet. Aus anerkennungstheoretischer Sicht muss mehr als fraglich sein, ob sich im Fall lediglich simulierter Liebe bzw. geheuchelter Solidarität überhaupt ein angemessenes Selbstvertrauen bzw. ein ausreichendes Selbstwertgefühl wird einstellen können. 44 So wichtig konkrete Verpflichtungen, die sich aus Liebesbeziehungen und Solidaritätsverhältnissen ergeben, für eine jede gelingende Persönlichkeitsentwicklung auch sein mögen, sie besitzen die Eigenart, dass ihre wahrhaftige Erfüllung auf Seiten jener, die sich verpflichtet fühlen, von "günstigen" inneren Umständen abhängt. Die emotionalen und motivationalen Grundlagen von Liebes- und Solidaritätspflichten stehen niemals gänzlich in der Macht der Betroffenen, so dass sie sich die wechselseitige Erfüllung dieser Pflichten nicht schon auf ähnliche Weise garantieren können wie etwa die Befolgung der Gebote von Unparteilichkeitsmoral und Recht. Verpflichtungen der Liebe und der Solidarität sträuben sich gegen eine Festschreibung in Vertragsform, und zwar deshalb, weil ihre wahrhaftige Erfüllung von motivationalen Faktoren abhängt, die uns als moralisch Handelnden auf besondere Weise unverfügbar sind. Aus Sicht des Rechts und der Unparteilichkeitsmoral dürfte es eher gleichgültig sein, ob Rechtssubjekte die Gebote aus tiefgreifenden Überzeugungen oder aus opportunistischen Erwägungen heraus befolgen. Aus Sicht der Liebe und der Solidarität ist dies jedoch alles andere als egal. Sind Liebe und Solidarität nicht schon vorhanden, helfen weder hehre Versprechungen noch simulierte Akte der Anerkennung. Auch das Einklagen einer entsprechenden Pflichterfüllung käme uns zugleich verständlich und doch sinnlos vor. Die Fragen: "Warum liebst du mich nicht?" oder "Warum bist du nicht solidarisch?" lassen den Befragten ratlos zurück. Die Einhaltung des Rechts können wir uns gegenseitig garantieren, auf Liebe und Solidarität hingegen muss der Mensch hoffen. Dass uns Liebe und Solidarität auf besondere Weise unverfügbar sind, weil wir sie nicht voneinander verlangen können, bedeutet selbstredend nicht, dass sie nicht dennoch in einem ethischen Sinne allgemein wünschenswert sind. Ganz im Gegenteil: Die anerkennungstheoretische Diskussion hat gezeigt, dass personale Integrität nicht nur auf Moral und Recht, sondern stets 44 Man mag der Ansicht sein, dass simulierte Liebe bzw. Solidarität immer noch besser ist als gar keine, doch das ist ein Irrtum. Die nachträgliche Einsicht, derart gravierend von einem anderen Menschen getäuscht worden zu sein, kann sich auf das eigene Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl weit zerstörerischer auswirken, als wenn der Anschein von Liebe und Solidarität gar nicht erst aufgekommen wäre.

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auch auf Liebe und Solidarität angewiesen ist. Dennoch führt kein direkter Weg vom Sein menschlicher Bedürftigkeit zum Sollen einer umfassenden Wertschätzung, die Liebe und Solidarität einschließen würde. Zwar müssen Menschen auf weitgehend intakte Anerkennungsverhältnisse bauen können, doch haben sie mit Blick auf die Moral und den Verantwortungsbereich der Gesellschaft nicht schon ein legitimes Recht auf Erbringung aller entsprechenden Leistungen. Somit ist im Hinblick auf die sozialen Bedingungen der Integrität ein moraltheoretischer Perspektivenwechsel angezeigt, der besonders deutlich werden lässt, warum und inwieweit das integre Leben als "schwieriges Verhältnis zu anderen" zu beschreiben ist: Die Abhängigkeit der Integrität vom Wohlverhalten anderer ist als gravierender einzustufen, als man es zunächst vermuten würde, da Menschen sich zu ganz bestimmten Formen der von ihnen als notwendig erachteten Anerkennung weder verpflichten noch entschließen können. Menschen sind nicht bloß wechselseitig aufeinander angewiesen, sie sind sich zugleich auch "wechselseitig entzogen".45 Mit der menschlichen Anerkennungsbedürftigkeit geht stets auch die Gefahr eines unfreiwilligen Verzichts auf letztlich unverfügbare Bindungen der Liebe und Solidarität einher, für deren Fehlen oder auch Verlust niemand zur Rechtschaffenheit gezogen werden kann, selbst wenn es dabei zu tiefgreifenden und desintegrierenden Schmerzerfahrungen kommt. 46 Damit stehen im Hinblick auf die Integritätsproblematik mindestens zwei massive Fragen im Raum: Zunächst wäre zu fragen, ob nicht die Integrität Einzelner - gewissermaßen aus Konsistenzerwägungen heraus - immer schon aktiv Liebe und Solidarität vorweisen können muss, wenn diese doch umgekehrt als soziale Bedingungen integren Lebens zu gelten haben. Dies ist zu verneinen. Es wäre zwar wünschenswert, wenn ein Mensch die Liebe und Solidarität, die ihm gegebenenfalls zufließt, stets auch zu erwidern vermochte. Dennoch sollten entsprechende Fürsorge- und Solidaritätspflichten nicht schon als notwendiger Bestandteil jenes moralischen Minimums aufgefasst werden, das wir in Kapitel 2 als integrales Charakteristikum der Integrität identifiziert haben. Vielmehr ist ein Paradox zu formulieren: Eine Person muss nicht lieben oder solidarisch sein, um Integrität besitzen zu können, auch wenn es so aussieht, als müsse im Gegenzug sie geliebt und solidarisch behandelt werden. Die emotionalen Grundlagen von Liebe und Solidarität jedoch sind und bleiben- auch dem integren Menschen- unverfligbar.

45 Rentsch (1990), S. 187ff. 46 An dieser Stelle wird die bereits im Rekurs angedeutete Annahme verständlich, dass uns die Liebe aufbesondere Weise für Verletzungen anfällig macht. In der intimen, wechselseitigen Zuneigung fühlt sich der Mensch dazu ermutigt, sich dem anderen gegenüber bis in seine tiefsten Persönlichkeitsschichten zu entäußern. Der drohende Verlust der geliebten Person mag da das Schlimmste befürchten lassen: den völligen Verlust auch noch der eigenen Person.

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Die zweite Frage betrifft das in der philosophischen Anerkennungsdebatte nur selten einmal ausdrücklich untersuchte Problem, ob der nach Integrität strebende Mensch denn nun wirklich umfassend oder auch nur weitgehend auf die Anerkennung seiner Mitmenschen, d.h. auf Zuwendung, Achtung und Wertschätzung, angewiesen ist oder ob sich am Ende nicht doch auch entsprechende Anerkennungsdefizite mit einem Leben in Integrität vereinbaren lassen. Auf ontogenetischer Ebene wird ein überaus enger und konstitutiver Zusammenhang von Anerkennung und Integrität nicht ernsthaft bezweifelt werden können. Dafür sprechen nicht zuletzt die Erkenntnisse der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie, die den Verdacht erhärtet haben, dass ein Mensch in seinem Leben nur schwerlich Integrität wird ausbilden können, wenn er im Zuge seiner frühen Persönlichkeitsentwicklung nicht ein ausreichendes Maß an Anerkennung genossen hat. Doch auf der Ebene der späteren Verteidigung von Integrität sind wir mit einem fast gegenteiligen Phänomen konfrontiert, auf das schon Mead in seinen berühmten Studien zur IchIdentitätsentwicklung hingewiesen hat. Es kann das Schicksal herausragender Persönlichkeiten sein- Mead denkt hier z.B. an große Künstler oder visionäre Staatsmänner-, ihrer Zeit insofern "voraus" zu sein, als ihnen der gebührende Ruhm leider erst posthum zufließen wird. In ihrer eigenen Gesellschaft bleibt ihnen eine angemessene Anerkennung zu Lebzeiten verwehrt. Dieser Umstand mag zu Frustration und Verzweiflung oder gar zu einem völligen Rückzug der Betroffenen aus dem sozialen Leben führen. Doch in anderen Fällen kann ein derart akuter Anerkennungsmangel direkt auch als Ansporn dienen, mit ganzer Kraft und jetzt erst recht an dem festzuhalten, wovon man überzeugt ist. 47 An eben diesem Punkt, so müssen wir im Anschluss an Mead vermuten, kann sich das Bedürfnis nach Integrität mit ganz besonderer Vehemenz melden, und zwar als der an das eigene Selbst gerichtete Appell, sich gegen alle Widerstände der Gesellschaft treu zu bleiben, auf den eigenen Selbstverpflichtungen und Grundvorhaben zu beharren und diese buchstäblich ins Werk zu setzen. Manch großer Künstler, z.B. Robert Musil, hatte nicht einmal genug Leser, um überhaupt von seiner Kunst leben zu können, doch war ihm sein "Schreiben eine unbedingte, absolute, innere und unteilbare Tätigkeit: Das Werk musste die Integrität seines Ich ausdrücken". 48 Hier zeigt sich erneut das weiter oben bereits mehrfach angeschnittene Problem, dass personale Integrität sich nicht selten erst im Aufprall aufkonkrete Widerstände erweisen muss. Mead hatte das Problem auf konzeptioneller Ebene durch den Hinweis zu lösen versucht, dass sich Personen, die unter einem akuten Anerkennungsdefizit leiden, dazu gezwungen sehen werden, sich in Richtung einer zukünf47 Mead (1968), Teil III. 48 Wilhelm Genazino (2002): "Eine Gabe, die fehlgeht. Über literarische Erfolglosigkeit", in: Neue Zürcher Zeitung, 9./10. November 2002.

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tigen, besseren Gemeinschaft von Gleichgesinnten zu entwerfen, in denen sie für ihr Schaffen Anerkennung finden würden: "Die einzige Methode, durch die wir die Mißbilligung der ganzen Gemeinschaft umgehen können, liegt darin, daß wir eine höhere Gemeinschaft errichten, die in gewissem Sinn die von uns vorgefundene Gemeinschaft überstimmt. Eine Person kann den Punkt erreichen, wo sie sich der ganzen Umwelt in den Weg stellt." 49 Gleichwohl ist damit nicht schon das mit dem Integritätsbegriff benannte Problem standhaltenden Wollens vom Tisch. Wenn sich, so wie Mead das hier anzunehmen scheint, ein faktischer Anerkennungsmangel durch eine bloß antizipierte, imaginäre Anerkennung kompensieren ließe, und zwar restlos, stünde das Problem ethisch-existenzieller Selbsttreue hier gar nicht zur Debatte. Es würde eine Person, die gesellschaftliche Widerstände verspürt, kaum Mühe kosten, die eigene Integrität zu bewahren, wenn sie jederzeit in das Wunschbild unverzerrter Anerkennungsverhältnisse fliehen und sich einreden könnte, dass die hiesige Welt noch nicht für sie "bereit" sei. Dass solche Ausflüchte langfristig zu einer erheblichen Desintegration fuhren können, wissen Menschen nicht nur aus den mitunter tragischen Geschichten und Selbstzeugnissen großer Persönlichkeiten, sondern auch aus ihrem jeweiligen Alltagsleben. Wenn es in schwierigen, festgefahrenen oder gar aussichtslos erscheinenden Lebenssituationen nicht immer wieder dazu käme, dass die Betroffenen mit großer Beherztheit und Konsequenz gegen diese Widerstände aufbegehrten, würden sich die eigenen Lebensumstände niemals oder allenfalls zufällig zum Besseren kehren. Der Kampf um Anerkennung, in dem um eigene Integritätsansprüche gestritten wird, wäre gar kein Kampf, wenn es nicht immer wieder zu schmerzlichen Verlusten an Anerkennung käme, die man nicht hinzunehmen gewillt ist. Wir können daher Folgendes festhalten: Zwar ist für ein Leben in Integrität, zumindest aus entwicklungspsychologischer Sicht, ein ausreichendes Maß an Zuwendung, Achtung und Wertschätzung wichtige Voraussetzung, dennoch verbleibt im Leben der integren Person ein echtes Spannungsverhältnis: Nur zu oft muss das integre Leben gegen versagte Anerkennung verteidigt werden, ja, häufig wird dieses Leben überhaupt erst im Verlaufe dieses Kampfes deutlicher an Konturen gewinnen. Auch hier stoßen wir also auf ein Paradox der Integrität: Die integre Person muss im Laufe ihrer Entwicklung genügend Anerkennung "getankt" haben, um für die Durstrecken eines Leben gewappnet zu sein, das nicht immer ein ausreichendes Maß an Zuwendung, Achtung und Wertschätzung für sie bereit halten wird. Allein wer diesen ver49 Mead (1968), S. 210. In vielen Fällen mag auch die Anerkennung einiger weniger Freunde und "Gönner" im unmittelbaren Nahfeld der Person bzw. in deren Peergroup für die sonst ausbleibende Anerkennung entschädigen.

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meintliehen Widerspruch in sich aufzunehmen vermag, wird einen Gedanken verständlich und erträglich finden, der von Karl Kraus einmal wie folgt notiert wurde: "Man könnte größenwahnsinnig werden: so wenig wird man anerkannt!"

4.3 Zur Phänomenologie invasiver Übergriffe: Geschont werden wollen Die zu Beginn dieses Kapitels formulierte anthropologische Grundannahme einer unvermeidlichen Schutz- und Anerkennungsbedürftigkeit des Menschen sollte im Durchgang durch moralphilosophische Standortbestimmungen und anerkennungstheoretische Bedürfniserhebungen konzeptionell ausreichend unterfüttert worden sein. Wenn Moral und Anerkennung als zentrale soziale Bedingungen personaler Integrität zu verstehen sind, so müssen die in Kapitel 2 diskutierten Integritätsaspekte der Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit rückblickend als allgemeine Vollzugsmodi integren Lebens verstanden werden, die in moralisch schützenden und Anerkennung vermittelnden Interaktionsverhältnissen überhaupt erst möglich werden. Der mit der Integrität notwendig verknüpfte Wunsch nach existenzieller Schonung kann allerdings erst dann wirklich einsichtig werden, wenn wir uns genauer der Frage zuwenden, welche konkreten Verunsicherungen und Verletzungen das Leben in Integrität bedrohen, erschweren oder gar zerstören. Da dieses Kapitel von der Integrität als einem schwierigen Verhältnis zu anderen handelt, muss nun von jenen Angriffen auf den ethisch-existenziellen Lebenszusammenhang einer Person die Rede sein, die diesen von außen antasten. Von "invasiven"50 Eingriffen in den ethisch-existenziellen Lebenszusammenhang von Personen wird im Folgenden immer dann die Rede ein, wenn es tatsächlich zu gravierenden Verletzungen kommt. Im Zuge der Erläuterung entsprechender Versehrtheitserfahrungen sollten wir aber stets jene Einsicht im Hinterkopf behalten, die uns bereits im Zusammenhang des Kampfes um Anerkennung gedämmert ist: Ganz ohne soziale Konflikte und entsprechende Verletzungserfahrungen wird personale Integrität wohl nicht zu haben sein. Diese Erfahrungen sind auf Dauer nicht nur unausweichlich, sie müssen geradezu als Bedingung der Möglichkeit einer jeden gelingenden Persönlichkeitsentwicklung verstanden werden. Die Sehnsucht nach Integrität, d.h. der Wunsch nach einem intakten Lebensvollzug, kann einem überhaupt erst in solchen Momenten zu Bewusstsein kommen, in denen konkrete Versehrtheiten drohen. Solange der Boden, auf dem wir stehen, nicht bebt, so lautete der 50 Mit dem Begriff "invasiv" soll die buchstäbliche Eindringlichkeit derartiger Verletzungen hervorgehoben werden. Das Rache Lexikon Medizin versteht darunter Eingriffe "unter Verletzung der Körperintegrität".

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SKIZZE EINER PHÄNOMENOLOGIE INVASIVER ÜBERGRIFFE

in Kapitel 3 formulierte pragmatistische Vorbehalt, kann von dem Aufbrechen einer Sehnsucht nach Integrität und dem Bemühen um ihre Wiederherstellung keine Rede sein. Integrität zeigt sich nicht als völliges Unberührtsein von jeglicher Art invasiver Übergriffe, sondern als die Art und Weise, wie die Betroffenen ihre lebensgeschichtlich unvermeidlichen Versehrtheiten durchstehen, überleben und ausheilen. Daher ist mit Blick auf das mit personaler Integrität assoziierte Intaktheitsbedürfnis eine Dialektik von Besitz, Verlust und Wiedergewinnung zu konstatieren. Gleichwohl müssen Grenzfalle markierbar sein, an denen die Integrität einer Person derart gravierend gefährdet ist, dass ihr völliger Verlust droht. Auch wenn an dieser Stelle keine umfassende Gesamtschau aller nur erdenklichen Versehrtheitserfahrungen geleistet werden kann, sollen dennoch einige typische invasive Eingriffe zur Darstellung kommen, deren Auflistung in der Reihenfolge der vier zentralen Integritätsaspekte und mit ansteigendem Schweregrad erfolgen wird. 51 Wenn ich dabei wiederholt auf das deutsche Strafgesetzbuch (StGB) zurückgreife, so folge ich der Annahme, dass die mit einer langen Tradition versehene Strafrechtsdogmatik eine immer wieder mit der Zeit gehende Typologie schwerwiegender zwischenmenschlicher Verletzungsakte zusammengetragen hat, die sich anhand des Integritätsvokabulars reformulieren und philosophisch anschlussfähig halten lässt. Ähnlich wie schon in Kapitel 2 sei meine eigene Systematik, der besseren Übersicht wegen, auch hier vorab in einem Schaubild dargestellt.

Abb. 2 Typische Integritätsverletzungen

Selbsttreue

Rechtschaffenheit

Integriertheil

Ganzheit

Bestechung

üble Nachrede

Täuschung

Körperverletzung

Nötigung

Verleumdung

Lüge

Missbrauch

Erpressung

falsche Verdächtigung

Hinterhältigkeit

Vergewaltigung

Zwang

falsche Verurteilung

Indoktrination

Folter

51 Ich überspringe die Ebene der Bedingungen integren Lebens, d.h. die Ebene von Moral und Anerkennung, und gehe sogleich zu der Frage über, welche Verletzungen den Vollzug eines Lebens in Integrität gefährden.

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INTERAKTION UND INVASION

Wenden wir uns zunächst dem Integritätsaspekt der Selbsttreue zu. Hier treten uns vornehmlich solche Übergriffe auf den ethisch-existenziellen Lebensvollzug vor Augen, durch die eine Person davon abgehalten wird, in Übereinstimmung mit ihren integralen Selbstverpflichtungen und Grundvorhaben zu leben. Als eher harmloser, wenn auch typischer Fall darf der Vorgang der "Bestechung" gelten, wie er in § 334 StGB geregelt ist und in Kapitel 2 bereits zur Erwähnung kam. Durch die Offerte von Geld oder sonstigen Vergünstigungen soll eine Person so weit von ihrem ethisch-existenziellen Kurs abgebracht werden, dass sie ihr Verhalten zugunsten desjenigen ändert, der den Bestechungsversuch unternimmt. Erinnern wir uns an den verschuldeten Beamten im Tiefbauamt, der einer Baufirma gegen Bares lukrative städtische Aufträge zuschanzt. Der Fall der Bestechung ist mit Blick auf die Integritätsproblematik deshalb als eher harmloser Angriff einzustufen, weil er der betroffenen Person in der Regel die Freiheit lässt, das "unmoralische Angebot" abzulehnen, ohne dass sie dadurch einen ethisch-existenziellen Verlust erleiden würde - von der ihr dabei angebotenen Vergünstigung einmal abgesehen. Massivere Akte der Willensmanipulation kommen dann in den Blick, wenn man sich einen berühmten Mafia-Filmklassiker ins Gedächtnis ruft und bedenkt, dass es Angebote gibt, die man "nicht ablehnen kann". 52 Geht mit dem Versuch einer Einflussnahme die "Drohung mit einem empfindlichen Übel" einher, wie es in § 240 StGB heißt, so haben wir es mit einem Fall der "Nötigung" zu tun. Hier soll die betroffene Person nicht durch das Angebot von Geld oder sonstigen Verlockungen, sondern schlicht durch Androhung von Gewalt zu einer "Handlung, Duldung oder Unterlassung" gedrängt werden. Wenn dem Beamten im Tiefbauamt vorausgesagt wird, sein eben erst erbautes Haus oder gar Teile seiner Familie würden ernsthaft Schaden nehmen, wenn er sich nicht gefügig zeige, so mag der Mann sich gezwungen sehen, von seinen sonst festen Prinzipien zurückzutreten, nur um das drohende Unheil von sich und seiner Familie abzuwenden. Ähnlich geartet ist auch der dritte Typ von Integritätsverletzung, und zwar die in § 253 StGB geregelte "Erpressung". Auch hier wird dem Opfer mit Gewalt oder einem ähnlichen Übel gedroht, um die Person zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu drängen. Von Fällen der Nötigung unterscheidet sich die Erpressung aber dahingehend, dass der Täter mit dem Vorsatz handelt, sich an dem Besitztum seines Erpressungsopfers zu bereichern. Hat eine Kollegin und Büronachbarin des verschuldeten Beamten rein zufällig mitbekommen, dass dieser sich von der Bauindustrie "schmieren" lässt, mag sie selbst eine Chance zur Aufbesserung ihrer finanziellen Lage wittern. Sie wird dem Kollegen dann unter Um-

52 Don Vito Corleone, genannt Der Pate (1971, Regie: Francis Ford Coppola), verspricht: "Ich mache ihm ein Angebot, das er nicht ablehnen kann!"

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ständen drohen, ihn bei der Polizei anzuzeigen, wenn er ihr nicht pünktlich jeden Monat eine fest verabredete Summe zu zahlen bereit ist. Während es die Erpressung und auch die Nötigung zunächst bei der Androhung von Gewalt bewenden lassen, so nimmt der damit verknüpfte Versuch der Willensmanipulation seine direkteste Form an, wenn es tatsächlich zur Anwendung unmittelbarer Gewalt kommt, d.h. wenn das zuvor angedrohte "empfindliche Übel" eintritt; z.B. der Brand des Neubaus oder gar die Entführung eines der Kinder des Beamten. In Fällen dieser Art gehen mit Bestechung, Nötigung und Erpressung weitere Einzelstraftaten einher, die sich unter dem Stichwort direkten "Zwangs" zusammenfassen lassen: z.B. Sachbeschädigung (§ 303), Diebstahl (§ 242), Freiheitsberaubung (§ 239), Körperverletzung(§ 223) und unter Umständen sogar Mord(§ 211) und Totschlag (§ 212). In letzteren Fällen wird die Verletzung oder gar Vernichtung der Integrität zweifellos in einem ganz basalen Sinne offenkundig (s.u.). Bereits mehrfach ist in dieser Arbeit als notwendige Bedingung der Selbsttreue das Vermögen ausgezeichnet worden, einen freien Willen zu formieren und in Übereinstimmung mit diesem Willen zu leben. Der mal eher verdeckte, mal offene Zwang, der in Akten der Bestechung, Nötigung, Erpressung oder gar der direkten Gewaltanwendung ausgeübt wird, wirkt sich doppelt schädlich auf die Integrität des Menschen aus. Dieser Zwang verhindert nicht nur die freie Übereinstimmung von ethisch-existenziellem Selbstbild und praktischem Lebensvollzug, sondern setzt tiefer an: "Angriffe gegen die freie Willensbildung", wie es in den einschlägigen Kommentaren zum StGB oft heißt, sabotieren bereits jene Selbstverständigungsprozesse, in denen sich ein eigenes ethisch-existenzielles Selbstbild erst noch herausbilden muss. Wird eine Person bestochen, genötigt, erpresst oder mit Gewalt gezwungen, so kann von einem wahrhaft freien Willen kaum mehr die Rede sein. Dabei muss es sich nicht einmal um vorsätzliche, d.h. gezielt unternommene Repressionsversuche von Seiten konkreter einzelner Mitmenschen handeln. Wenn man die strafrechtliche und moralische Problematik invasiver Integritätsverletzungen sozialpathognostisch wendet, so geraten neben Formen direkter, interpersonaler Gewaltausübung sofort auch "strukturelle" Zwänge des gesellschaftlichen Lebens in den Blick, deren Mechanismen eher indirekt und hinter dem Rücken der beteiligten Akteure wirken, als dass stets ein klarer Aggressor auszumachen wäre. 53 Dass es dabei zu ähnlichen Integritätsschäden kommen kann, machen einfache Beispiele deutlich, in denen die Zwangsmechanismen, die die Selbsttreue unterminieren, nur schwer verantwortlich zuschreibbar sind: Eine kritische Intellektuelle mag sich angesichts des Wissens um die ökologischen 53 Die Unterscheidung "personale" und "strukturelle Gewalt" hat Johan Galtung populär gemacht. Siehe ders. (1975): Strukturelle Gewalt, Reinbek bei Harnburg: Rowohlt.

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Folgekosten des westlichen Lebensstandards von dessen Annehmlichkeiten bestochen fühlen. Mancher Langzeitarbeitslose sieht zunehmend weniger Sinn in einem Leben, dessen sozioökonomische Umstände ihn dazu nötigen, tatenlos herumzusitzen, statt einer nützlichen Betätigung nachzugehen. Ein chronisch Kranker, dessen Krankendaten elektronisch gespeichert und weitergereicht werden - der so genannte gläserne Patient -, kann sich durch den Umstand, dass Unbefugte, z.B. sein Arbeitgeber, in den Besitz dieser intimen Kenntnisse gelangen könnten, erpressbar fühlen. Die so genannte Apparatemedizin, die sich ökonomisch rentieren muss, mag einer Patientin nahezu gewaltsam eine Therapie aufzwingen, die sie im Grunde ablehnt. Beispiele wie diese, so willkürlich sie auf den ersten Blick auch anmuten mögen, stärken den V erdacht, dass die Erfahrung, sich massiv bestochen, genötigt, erpresst oder auch gezwungen zu fühlen, im Alltagsleben vieler Menschen ein vertrautes Phänomen darstellt. Auch wenn es sich dabei nicht immer gleich um strafrechtlich relevante Fälle, ja, nicht einmal um direkte interpersonale Akte handeln muss, so kann eine Person sich doch in ein Zwangskorsett sozialer, ökonomischer, kultureller, religiöser, geschlechtsspezifischer, politischer oder auch beruflicher Verhaltensorientierungen eingepfercht und von ihren Lebensumständen derart korrumpiert fühlen, dass sie mit Blick auf das Bedürfnis nach einem integren Leben gar nicht mehr die Möglichkeit zu haben scheint, einen freien Willen auszubilden und sich entsprechend treu zu bleiben. Hier kommt vielmehr eine bis in die Strukturen der Lebenswelt eingelassene Entmündigung zum Vorschein, deren Auswüchse sich ähnlich depersonalisierend auf die Integrität Einzelner auswirken können wie direkte zwischenmenschliche Manipulationsversuche. Auch lebensweltliche Strukturzwänge können moralische Ansprüche auf ein selbstbestimmtes Leben missachten, Prozesse der Willensbildung blockieren und ethischexistenzielle Kursabweichungen erzwingen. Dieser strukturbedingte Patemalismus kann vom "sanften" Zwang demokratischer Wohlfahrtsstaaten über die "normative Kraft" spätkapitalistischer Fakten bis hin zur offenen Gewalt autoritärer Regime reichen. Auch für den zweiten Integritätsaspekt, den der Rechtschaffenheit, lässt sich ein solcher Zusammenhang von strukturbedingten Zwängen einerseits und ethisch-existenziellen Integritätsverlusten andererseits behaupten. Beginnen wir jedoch auch hier mit direkten, d.h. interpersonalen Verletzungen. Rechtschaffenheit ist in Kapitel 2 als das Streben nach einem Leben in Übereinstimmung mit moralischen Mindeststandards gedeutet worden. Dieses Leben hatte sich in der deliberativen Rücksicht auf die Interessen des jeweiligen sozialen Umfelds sowie in der vernünftigen Selbstbeschränkung auf solche Lebensvollzüge zu erweisen, die innerhalb der eigenen Gemeinschaft als sittlich tolerabel gelten. Entsprechend müssen invasive Eingriffe in die moralische Integrität einer Person ein eben solches Leben schwer oder gar unmög-

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lieh machen. Sie stellen die moralische und sittliche Verträglichkeit des betreffenden Lebenszusammenhangs massiv in Frage und nehmen der Person damit die Möglichkeit, sich weiterhin als ein rechtschaffenes und unbescholtenes Mitglied der Gemeinschaft erfahren zu können. Von Angriffen auf die Rechtschaffenheit und Unbescholtenheit einer Person kann immer dann die Rede sein, wenn der sittliche Leumund eines moralischen Akteurs auf ungerechtfertigte Weise beschädigt oder beschmutzt wird, d.h. wenn es zur Verunglimpfung des Ansehens einer Person kommt. Ziel einer solchen Rufschädigung ist es zumeist, die Person dauerhaft zu stigmatisieren, sie an den Rand der sittlichen Gemeinschaft zu drängen oder gar aus dieser auszuschließen. Zum "Gelingen" einer moralischen Verunglimpfung bedarf es freilich der Aufmerksamkeit eines Publikums. Eine ungerechtfertigte Schuldzuweisung, die lediglich "unter vier Augen" vorgetragen wird, mag die beschuldigte Person zwar empören, aber nicht schon um ihr moralisches Ansehen bringen, solange der Vorwurf nicht nach außen dringt. Wenn der gesellschaftliche Ruf einer Person geschädigt werden soll, muss dieser Ruf von anderen öffentlich vernommen werden können. Den ersten typischen Fall markieren Akte "übler Nachrede" nach § 186 StGB. Hier geht es um die Behauptung oder Verbreitung von unbewiesenen Tatsachen, die darauf abzielen, eine Person "verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen". Nehmen wir das folgende Beispiel: Der Urologe H. äußert in Kollegenkreisen wiederholt den Verdacht, in der Praxis der Intemistin M. gehe es "nicht mit rechten Dingen zu". Dort werde unsauber abgerechnet. Zudem bekämen Patienten zu Testzwecken ein noch nicht zugelassenes Medikament verabreicht. Nehmen wir an, H. äußere diesen Verdacht aufgrund bloß schwacher Indizien, d.h. ohne echte Beweise zu haben. Das Gerücht sei ihm selbst nur durch eine seiner Patientinnen zugetragen worden. Dann wäre zweifellos auf einen Fall von übler Nachrede zu entscheiden, denn H. bringt die Kollegin M. auf unverantwortliche Weise öffentlich in Misskredit. Schwerer noch wiegt der Fall der "Verleumdung", mit dem wir es laut § 187 StGB dann zu tun haben, wenn H. willentlich und "wider besseres Wissen" handelt, d.h. wenn er vorsätzlich eine falsche Anschuldigung ausspricht, obgleich er weiß, dass diese gar nicht zutreffend ist. Nehmen wir an, H. selbst ist von der Lauterkeit seiner Kollegin überzeugt, nimmt es ihr aber noch immer sehr übel, dass sie damals, zur Zeit des gemeinsamen Studiums, sein charmantes Werben kalt zurückgewiesen hat. Wenn der Urologe sich also bloß rächt, indem er M. verächtlich zu machen versucht, handelt er absichtsvoll aus niederen Beweggründen und begeht eine Straftat. Der Schaden, den er der moralischen Integrität seines Opfers zufügt, mag unter Umständen schwer zu beheben sein. Er kann umso gravierender ausfallen, wenn die Verleumdung die Form einer "falschen Verdächtigung" nach § 164 StGB an-

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nimmt. 54 In Fällen dieser Art wird eine Person wegen eines bloß vermeintlichen Vergehens und wider besseres Wissen bei einer dafür zuständigen Behörde angezeigt; z.B. bei der Polizei, beim Staatsanwalt oder auch, wie in unserem Fall denkbar, bei der Ärztekammer. Im strafrechtlichen Sinne verfolgt eine falsche Verdächtigung das Ziel, ein "Verfahren oder andere behördliche Maßnahmen gegen [die Person] herbeizufuhren oder fortdauern zu lassen". Aus der Verleumdung wird damit eine als moralisch verwerflich einzustufende Denunziation, die zur Folge haben kann, dass Ermittlungen gegen das unschuldige Opfer eingeleitet werden und es zu einem Verfahren kommt, bei dem der Leumund der in Wahrheit rechtschaffenen Person selbst dann noch bleibende Schäden zurückbehält, wenn längst gerichtlich oder amtlich deren Unschuld erwiesen worden ist. 55 Während die drei bislang genannten Angriffe auf die Rechtschaffenheit einer Person- üble Nachrede, Verleumdung und falsche Verdächtigung- auf der Ebene von Vorverurteilungen verbleiben, selbst wenn sie juristische Ermittlungen nach sich ziehen mögen56 , wird es zu der vermutlich verhängnisvollsten Schädigung moralischer Integrität dann kommen, wenn sich ein so genannter Justizirrtum ereignet, d.h. wenn es tatsächlich zu einer "falschen Verurteilung" kommt. Dann nämlich wird ein Menschaufgrund falscher Anschuldigungen, vorgetäuschter Sachverhalte oder bloß schwacher Indizien rechtskräftig verurteilt und bestraft. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich die Reputation einer Ärztin, die aufgrund zweifelhafter Anhaltspunkte und Zeugenaussagen eine Bewährungsstrafe erhält und daraufhin ihre Zulassung verliert, anschließend nicht mehr wiederherstellen lässt. Da die Rufschädigung in dem Sinne "amtlich" geworden ist, dass das vermeintliche Vergehen aktenkundig ist und bleibt, nimmt der gewaltsam und zu Unrecht erlittene Integritätsverlust eine neue Qualität an: Aus der falschen Verdächtigung wird ein verbriefter Urteilsspruch, der auf Seiten des unschuldigen Justizopfers zu 54 Fraglich ist, ob auch im Zuge einer gerechtfertigten Schuldzuweisung, z.B. im Fall der strafrechtlichen Verfolgung eines überfiihrten Verbrechers, von einer Verletzung moralischer Integrität zu reden ist. Ich denke, man muss dies bejahen. Im Anschluss an die oben getroffene Unterscheidung zwischen "Verletzungen" und spezifisch "moralischen Verletzungen" ist festzustellen, dass nicht alle invasiven Eingriffeper se verwerflich sind. 55 Das seit einigen Jahren unter dem Stichwort "Missbrauch mit dem Missbrauch" diskutierte Phänomen falscher Verdächtigungen im Bereich des Kindesmissbrauchs bietet reichlich Anschauungsmaterial fiir die Vermutung, dass sich die Integrität einer zu Unrecht mit derart gravierenden moralischen Vorwürfen belasteten Person kaum mehr regenerieren wird. 56 Dass der strafrechtlich faire Grundsatz, ein Mensch habe solange als unschuldig zu gelten, wie er nicht rechtskräftig verurteilt ist, im Zusammenhang moralischer Integritätsverletzungen keine Berücksichtigung findet, liegt schlicht daran, dass es das Ziel von Akten der Verunglimpfung ist, einen anderen Menschen vorzuverurtei I en.

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einem Strukturelement seines biographischen Lebenszusammenhangs gefriert, aus dem zu entfliehen ihm kaum noch möglich sein wird. Da die zuständigen Richter bzw. die verantwortlichen Amtspersonen nicht als private Einzelpersonen, sondern als Vertreter des Staates agieren, in dessen Namen sie ihre Entscheidungen treffen, nimmt die umechtmäßige Rufschädigung eine institutionelle Gestalt und Gewalt an, durch die jeder Versuch eines völligen "Neuanfangs" von vornherein zunichte gemacht ist. 5 7 Damit sind wir bei öffentlich institutionalisierten Diskreditierungsformen angelangt, denen freilich nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Kollektive zum Opfer fallen können, ohne dass dies stets mit rechtlichen Konsequenzen verbunden wäre. Denkt man an gesellschaftlich marginalisierte Gruppen wie Homosexuelle, Ausländer, Juden oder auch Frauen, so geht die öffentliche Unterstellung ganz bestimmter negativer, identitätsstiftender Merkmale regelmäßig mit der moralischen Stigmatisierung dieser Gruppen einher. So werden Homosexuelle leicht mit pädophilen Neigungen in Verbindung gebracht, Ausländer als potenzielle Straftäter behandelt, Juden für die Ermordung Christi und Frauen für den Sündenfall verantwortlich gemacht. Das wirkmächtige Ressentiment, man habe es mit einer ethisch minderwertigen Lebensform zu tun, scheint beinahe unentwirrbar mit der moralischen Vorverurteilung verknüpft zu sein, die betroffene Gruppe habe eine Art Erbschuld auf sich geladen, die es zu sühnen gilt. 5R Derart lebensweltlich verankerte Diskreditierungsmechanismen erweisen sich immer dann als besonders perfide, wenn Menschen durch die ihnen auferlegten Lebensumstände nicht nur vorverurteilt, sondern beinahe schon dazu gedrängt werden, moralische Verfehlungen zu begehen. Hier kommt ein subtiler negativer Anpassungsdruck zum Vorschein, der die Mitglieder diskriminierter Gruppen zu Handlungsweisen zwingt, mit denen sich die ihnen entgegengebrachten Vorurteile nachträglich zu bewahrheiten scheinen. Hier kann man z.B. an das Los so manches Asylbewerbers denken, der keiner ordentlichen Beschäftigung nachgehen darf, solange er nicht amtlich als politisch verfolgter Flüchtling anerkannt ist, so dass er auf die fatale Idee kommen mag, seinen minimalen Lebensstandard auf illegale Weise aufzubessern. 59 Selbstredend darf hier kein kausaler Zusammenhang zwischen strukturellem Zwang und moralischen Vergehen behauptet werden, der die betroffenen Akteure gänzlich aus der Verantwortung

57 Besonders gravierend dürfte sich eine falsche Verurteilung dann auswirken, wenn sie auf nicht-rechtsstaatlichem Boden erfolgt. Man denke hier etwa an willkürliche Inhaftierungen politischer Gefangener in diktatorischen Regimen. 58 Die beste philosophische Analyse des moralischen "Ressentiments" findet sich noch immer bei Max Scheler (1912/1978): Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, Frankfurt/Main: Klostermann. 59 Mit Blick auf das antisemitische Ressentiment siehe die literarische Verarbeitung des Themas bei Max Frisch (1961 ): Andorra, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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entlassen würde. Es geht hier lediglich um die nicht gänzlich von der Hand zu weisende Vermutung, dass lebensweltliche Strukturzwänge zu unmoralischen Delikten verleiten können, wodurch sich der ursprüngliche Verdacht, man habe es mit moralisch anrüchigen Menschen zu tun, auf zynische Weise zu erhärten scheint. 60 Einem derart strukturbedingten Verlust moralischer Integrität muss nicht einmal eine konkret feststellbare Diskriminierung vorausgehen. Auch Personen, die weithin als unbescholten angesehen werden, können sich ganz plötzlich mit veränderten Lebensumständen konfrontiert sehen, durch die sie sich zu unmoralischen Handlungen genötigt fühlen; man erinnere sich an Heinz, den fürsorglichen Ehemann im gleichnamigen Dilemma, der aus finanzieller Not und weil seine Frau schwer krank ist, in eine Apotheke einbricht. Beispiele dieser Art lassen erneut typische Rechtschaffenheitsverluste hervortreten, die bereits in Kapitel 2 erwähnt wurden und die von den eben erwähnten noch einmal zu unterscheiden sind. Unter dem Druck lebensweltlicher Strukturzwänge kann eine Person in die verfangliche Situation geraten, sich die Hände "schmutzig" machen, also unmoralische Taten regelrecht begehen zu müssen. Demnach kann ein gesellschaftlich induzierter Verlust moralischer Integrität auf zweifachem Wege erfolgen: Entweder sieht sich eine Person so lange mit unberechtigten Anschuldigungen konfrontiert, bis ihre Verteidigungshaltung innerlich zusammenbricht und sie sich nicht einmal mehr selbst als rechtschaffen erfahrt. Dieser Konflikt verbleibt zunächst auf der Ebene von Einstellungen. Oder aber die Person wird durch lebensweltliche Repressalien in moralische Zwangssituationen manövriert, in denen sie sich dazu gedrängt sieht, ihre moralische Integrität eigenhändig durch entsprechende Handlungen anzutasten. Im ersten Fall ist der Verlust der Rechtschaffenheit als weitgehend unverschuldet einzustufen, im zweiten hingegen als zumindest "mitverschuldet", insofern selbstverantwortlich handelnde moralische Akteure nur selten im strikten Sinne zu unmoralischen Handlungen gezwungen sind. Während man sich gegen unberechtigte Anschuldigungen und Akte des Rufmords, sobald diese ein öffentlichkeitswirksames Eigenleben zu führen beginnen, nur noch schwer wehren kann, verbleibt in Handlungskonflikten der gemeinten Art zumeist ein - wenn auch schmaler - Entscheidungsspielraum, innerhalb dessen sich die moralische Integrität gegen äußersten Druck beweisen muss. 61

60 Slavoj Zizek spricht in ähnlichem Zusammenhang sehr treffend von einem "Gefangensein" des diskriminierten Opfers im angst- und neidbesetzten "Traum des Anderen". Siehe ders. (1992): "Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Böse", in: Lettre International, 18/1992. 61 Sieht man einmal ab von Fällen, in denen der Verlust der Rechtschaffenheit direkt interpersonal, z.B. durch Akte der Erpressung oder Nötigung, erzwungen wird; wie etwa in dem von Williams diskutierten Beispiel des Gefangenen Jim.

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Wenden wir uns nun der dritten Kategorie von Integritätsverletzungen zu, und zwar jenen, die es Personen schwer bis unmöglich machen, autobionarrative Integriertheit zu erlangen. Invasive Übergriffe dieser Art zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre Opfer gezielt in die "Irre" führen, indem sie unter Vortäuschung falscher Tatsachen massive Konfusionen verursachen. Sie bewirken Störungen einer adäquaten Wirklichkeitsanpassung und treiben die Betroffenen in die Desintegration. 62 Führen wir uns dazu noch einmal das in Kapitel 3 im Zusammenhang der Selbsttäuschungsproblematik diskutierte Beispiel des Ehebruchs vor Augen: Eine verheiratete Frau um die vierzig kommt des Abends immer häufiger ungewohnt spät nach Hause. Dass sie in letzter Zeit auch sonst einige eher merkwürdige Verhaltensweisen an den Tag legt, scheint ihr Mann, der momentan mit schwerwiegenden beruflichen Problemen zu kämpfen hat, gar nicht recht wahrzunehmen. Bislang schöpft er keinen Verdacht, ja, vielmehr wähnt er sich ungebrochen in einer relativ intakten Ehe und glaubt, seiner Frau vertrauen zu können. Er wundert sich allenfalls geringfügig darüber, dass sie an seinen derzeitigen Sorgen nur wenig Anteil nimmt. 63 Im Zusammenhang der Selbsttäuschungsproblematik stand die Frage im Mittelpunkt, ob der Ehemann unbewusst Gründe haben mag, seiner Frau erst gar nicht auf die Schliche kommen zu wollen; an dieser Stelle jedoch muss es darum gehen, mit welchen Maßnahmen die Ehebrecherin ihre Liaison geheim zu halten versucht. Von Strategien einfacher "Täuschung" kann sie Gebrauch machen, solange ihr Mann tatsächlich keinen Verdacht hegt. Im Rahmen einer Täuschung werden der betroffenen Person durch Vermeidung verdächtiger Situationen, durch Ablenkung und Ausflüchte, durch mimisches oder gestisches Ausdrucksverhalten oder auch durch simples Schweigen bestimmte Wahrheiten schlicht vorenthalten. 64 Die Ehefrau führt Telefonate mit ihrem Liebhaber allein in Abwesenheit ihres Mannes. Sie wechselt rasch das Thema, wenn sich der Ehemann nach den Qualitäten ihres Tennislehrers erkundigt. Auf diese Weise wiegt sie ihren Mann in falscher Sicherheit, indem sie ihm zunächst wortlos, da ja ein echter Rechtfertigungsdruck noch gar nicht entstanden ist - die irrefuhrende Botschaft vermittelt: "Es ist alles ist in Ordnung, mein Schatz!" 62 Vgl. Paul Watzlawick (1976): Wie wirklich ist die Wirklichkeit?, München: Piper. 63 Im Hinblick auf die vier nun folgenden Integritätsverletzungen lässt uns das Strafrecht weitgehend im Stich. Es fällt auf, dass Akte des "Betrugs" oder der "Untreue" (§§ 263ff.) nur dann strafrechtlich relevant sind, wenn es dabei um Geld geht; d.h. wenn dem Opfer durch Vortäuschung falscher Tatsachen wirtschaftlicher Schaden zugefügt wird. Nicht-monetäre Integritätsverletzungen, die auf Irreführung beruhen, sind als solche (bislang) nicht strafbar, auch wenn sie im juristischen Streitfall Relevanz erlangen mögen; z.B. als Scheidungsgrund. 64 Bok (1979); Alison Leigh Brown (1998): The Subjects of Deceit, Albany: State University ofNew York Press.

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Wenn der Ehemann aber bereits einen ersten Verdacht schöpft und wenn die Frau befürchten muss, dass sie sich durch die Bejahung eines mit ihrem süßen Geheimnis verknüpften Sachverhalts entlarven könnte, kommt es zu einer besonderen Form der Täuschung: der "Lüge". 65 Nehmen wir an, derberuflich gestresste Ehemann fragt seine gut gelaunte Frau bei deren später Heimkehr, wo sie so lange gewesen sei, und sie antwortet: "Ich war beim Tennis." Nun, sie mag am frühen Abend zwar tatsächlich beim Tennis gewesen sein, doch hat sie sich anschließend mit ihrem jugendlichen Liebhaber zum Schäferstündchen zurückgezogen. Demnach sagt sie zwar nicht die Unwahrheit, aber von der "ganzen Wahrheit" kann ebenso wenig die Rede sein. In Fällen dieser Art wird die Frage, ob es sich um eine Lüge handelt, zumindest zwischen den Beteiligten umstritten sein: Die Ehefrau mag anschließend behaupten, sie habe nicht gelogen, während ihr Mann das wohl bestreiten wird. 66 Zu einer dezidierten Lüge kommt es immer dann, wenn Tatsachen, die zur Aufdeckung eines unangenehmen Sachverhalts fuhren können, ausdrücklich verneint oder wenn gezielt gegenteilige Sachverhalte behauptet werden. Die Lüge unterscheidet sich von einfachen Formen der Täuschung dadurch, dass die lügende Person ausdrücklich eine Unwahrheit konstatiert, während es zum Gelingen einer Täuschung ausreicht, dass die Täuschende die Wahrheit zurückhält. 67 Lässt sich der Argwohn des Ehemanns selbst durch wiederhohes Lügen nicht dauerhaft beschwichtigen, kann sich die Täuschungspraxis bis zur "Hinterhältigkeit" steigern. In der Hoffnung, den auch für sie gefährlichen Verdacht des Ehemannes ausräumen zu können, wird sich die Ehefrau dazu gezwungen sehen, und zwar über das notwendige Maß an Täuschung und Lüge hinaus, Maßnahmen zu ergreifen, mit deren Hilfe die gemeinsamen Lebens umstände so inszeniert werden, als habe der Ehemann gute Gründe, von seinem Verdacht abzurücken. Die Frau bittet ihre beste Freundin um ein falsches Alibi, sie widmet ihrem besorgten Mann plötzlich wieder erhöhte Aufmerksamkeit im Alltag oder hat gar weiterhin mit ihm Geschlechtsverkehr. Anders als bei Lügen kommt es im Fall hinterhältiger Verhaltensweisen nicht nur darauf an, wirklichkeitswidrige Tatsachen zu behaupten. Vielmehr geht es um das planvolle Unterfangen, das jeweilige Opfer durch geschickte Manipulation seiner Lebensumstände von jeglichen Sachverhalten abzu65 Siehe auch Sirnone Dietz (2002): Der Wert der Lüge, Paderbom: Mentis. 66 Es ist kaum zu bezweifeln, dass es manchmal einer "Notlüge" bedarf, um die Integrität eines anderen Menschen nicht unnötig zu verletzen. Dennoch möchte ich an dem inhärent desintegrierenden Charakter der Lüge festhalten. Selbst noch diejenige Person, die durch eine Lüge verschont wurde, wird im Nachhinein die wie immer schwache Enttäuschung verspüren, dereinst belogen worden zu sein. 67 Wie Bok treffend feststellt, kann eine Lüge auch mit Morse- oder Rauchzeichen verbreitet werden. Siehe dies. (1979), S. 14.

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schatten, die erneut V erdacht erregen könnten. Die Hinterhältigkeit operiert weniger auf der Ebene direkter Kommunikation, sie manipuliert vielmehr die Bedingungen der Wahrheitsfindung, und zwar so, dass es auf der Seite des Opfers schlicht zu irreführenden Fehlschlüssen kommen muss. Wenn selbst noch Strategien einer derart hinterhältigen Tatsachenmanipulation fehlschlagen, kann es zu Formen der Irreführung kommen, in denen Wahrheiten nicht nur vorenthalten bzw. verdreht und die Bedingungen der Wahrheitsfindung insgesamt unterminiert werden, sondern gegenteilige Überzeugungen und Ansichten regelrecht "eingetrichtert" werden, solange bis das Opfer zwischen dem, was wahr, und dem, was unwahr ist, gar nicht mehr angemessen unterscheiden kann. Hier geschieht das, was man in ideologiekritischer Perspektive "Indoktrination" nennt: eine umfassende und tiefgreifende Beeinflussung von Bewusstseinsvorgängen und Meinungsbildungsprozessen, in deren Zuge das Denken der Betroffenen derart fundamental eingeschüchtert und deformiert wird, dass diese die Frage nach der Wahrheit am Ende gar nicht mehr zu stellen wagen. 6R Von einem eher subtilen Fall derartiger Indoktrination könnte man z.B. dann sprechen, wenn die Ehefrau im Beisein ihres Mannes von einem romantischen Urlaub oder gar von einem Kind zu träumen beginnt, und es ihr gelingt, den Ehemann glauben zu machen, dass er deljenige sei, mit dem sie diese Sehnsüchte teilt. Ihr Mann wird sich dann vermutlich bereits nach kurzer Zeit beschämt fragen müssen, wie er zu dem ungeheuerlichen Verdacht hat kommen können, dass seine Frau fremdgeht. Praktiken der Indoktrination können sich bis zur so genannten Gehirnwäsche steigern, wenn dabei nicht nur einzelne Überzeugungen des Opfers in Frage gestellt und abweichende Ansichten eingeflüstert werden, sondern wenn dessen Wirklichkeitswahrnehmung insgesamt ins Schwimmen gerät. 69 Nehmen wir an, dass die mehr und mehr unter Rechtfertigungsdruck stehende Ehefrau in jedem eifersüchtigen Moment ihres Mannes sogleich furchtbar aufbrausend wird, sich an ihr Psychologie-Studium erinnert und ihm ihrerseits den wütenden Vorwurf entgegenschleudert, seine "wahnhafte" Eifersucht sei am Ende bloß als Symptom seines eigenen verdrängten Wunsches zu deuten, aus der Ehe auszuscheren. Gesetzt den Fall, es gelänge ihr, den Ehemann mit derart irreführenden Suggestionen dauerhaft zu bearbeiten, so wird dieser vielleicht an seinem Verstand zu zweifeln beginnen und die Konfusion seines Selbst- und Weltbildes auf die vermeintliche Tatsache zurückfuhren, die gemeinsame Ehe habe tatsächlich wieder einmal Urlaub nötig. Fälle einer sol68 Vgl. Thomas Zschaber (1993): Manipulation und Indoktrination durch Sprache, Bem u.a.: Haupt. 69 Noch immer illustrativ sind die Überlegungen von Watzlawick (1976). Einen "Leitfaden" zur gezielten Manipulation von Wirklichkeitsauffassungen entwickelt Hans Geißlinger (1992): Die Imagination der Wirklichkeit, Frankfurt/Main u. New York: Campus.

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chen Gehirnwäsche, die durchaus bis hin zur psychischen Folter reichen können- von der allerdings erst später die Rede sein wird -, zielen darauf ab, einer Person einzureden, "zwei und zwei sei fünf'. 70 Sie können einen Menschen derart fundamental in seinem gesamten Denken, Fühlen und Handeln erschüttern, dass dieser Gefahr läuft, daran zu zerbrechen. 71 Gleichwohl ist zusammenfassend festzustellen, dass in der Annahme einer pathologischen Dynamik der hier genannten Verwirrungstaktiken - Täuschung, Lüge, Hinterhältigkeit und Indoktrination - auch ein konzeptionelles Paradoxon verborgen liegt: Je besser die interpersonale Täuschung gelingt, desto weniger wird sie Verunsicherung und Desintegration stiften. Daher ist fraglich, inwiefern manipulative Strategien dieser Art als Verletzungen der Integrität beschrieben werden müssen. Solange sich die betrogene Person in Sicherheit wiegt, weil die Simulation annähernd perfekt ist, kann von einer Verletzung ihrer Integrität augenscheinlich deshalb nicht die Rede sein, weil eine entsprechende Desintegration gar nicht verspürt wird. Warum ist man jedoch trotzdem geneigt, Phänomene der Täuschung, Lüge, Hinterhältigkeit und Indoktrination stets als Angriffe auf die Integrität der betroffenen Personen aufzufassen? Offenbar deshalb, weil der außenstehendeBeobachtereines wie auch immer perfekten Betrugsszenarios damit rechnet, dass die betrogene Person eines Tages aus ihren Illusionen "erwachen" könnte. Er antizipiert schmerzvolle Momente des Geständnisses oder der Entlarvung, in denen jene Verwirrung auch subjektiv spürbar werden wird, die im Zuge des einstigen Täuschungsmanövers bloß objektiv vorhanden war. Diese Ent-Täuschung, so müsste man sagen, wurde seinerzeit lediglich vertagt. Demnach besitzen Integritätsverluste, die durch Täuschung, Lüge, Hinterhältigkeit oder Indoktrination bewirkt werden, die Eigenart, zeitversetzt aufzutreten, also erst dann, wenn der Betrug auffliegt. 72 Selbst wenn oder gerade wenn das ursprüngliche Vergehen eine Weile zurückliegt, mag gravierendes Leiden angesichts einer Tat spürbar werden, von der das Opfer lange Zeit keine Kenntnis hatte. Zusätzlich zur Wut oder Trauer über das damalige Vergehen stellt sich die Enttäuschung ein, gezielt und dauerhaft hinters Licht geführt worden zu sein. Der dadurch bewirkte Verlust der Integriertheit ist wie folgt zu beschreiben: Nach dem Geständnis der Ehefrau oder ihrer Überführung erwacht der Ehemann rüde aus dem Irrglauben, er habe ihr vertrauen 70 Rorty (1989), Kap. 8, hier S. 288. 71 Die hier vorausgesetzte Annahme eines engen Zusammenhangs von psychischer Krankheit und "unwahrhaftiger" Kommunikation wird durch klinische Forschung vielfach belegt. Siehe z.B. Gregory Bateson u.a. (1969): Schizophrenie und Familie, Frankfurt/Main: Suhrkamp; Alfred Lorenzer (1973): Sprachzerstörung und Rekonstruktion, Frankfurt/Main: Suhrkamp. 72 Man kann der Ansicht sein, dass die Integritätsverletzung vermieden wird, wenn die verletzende Tat am Ende doch geheim gehalten wird. Leider kann ich diesen letztlich verfehlten Gedanken hier nicht weiter behandeln. 274

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können. Er wird sich bewusst, dass er lange Zeit von falschen Tatsachen ausgegangen, dass er getäuscht, belogen, hintergangen oder gar indoktriniert worden ist. Wenn sich herausstellt, dass der Mann die für ihn plötzliche Einsicht, einem Betrug zum Opfer gefallen zu sein, retrospektiv nicht in sein ethisch-existenzielles Selbstverständnis einzufügen vermag, kommt es zu desintegrierenden Fragen wie: Warum hat sie mir das angetan? Wie konnte sie mir derart offen ins Gesicht lügen? Und wieso war ich so dumm, die ganze Zeit nichts zu bemerken? Der erst im Rückblick bewirkte Integritätsverlust variiert mit dem Schweregrad des Betruges, der, wie gezeigt, von bloßem Schweigen bis hin zur Gehirnwäsche reichen kann. Eine bloße Täuschung mag das Opfer schnell verkraften, eine gezielte Lüge weniger, dauerhafte Hinterhältigkeit kann eine Person in deren Grundfesten erschüttern, Indoktrinationsversuche schließlich bergen die Gefahr eines völligen Selbstverlustes. Übrigens gilt dies für interpersonale Akte einer geziehen Vortäuschung falscher Tatsachen ebenso wie für damit verwandte Phänomene einer eher strukturbedingten Desintegration. In Kapitel 1 war bereits in ideologiekritischen Zusammenhängen die Überzeugung geäußert worden, dass ein ökonomisches, politisches, religiöses, kulturelles und auch massenmediales "System der Einflüsterung" die subjektiven Weltanschauungen und Wertvorstellungen der Mitglieder einer Gesellschaft derart deformieren kann, dass diese einem falschen Bewusstsein und der Entfremdung anheimfallen müssen. Auch wenn im Einzelfall genau zu prüfen ist, ob tatsächlich von einer systemisch bedingten Manipulation lebensweltlicher Meinungs- und Willensbildungsprozesse die Rede sein kann, so geben die hier diskutierten Integritätsverletzungen doch Leitbegriffe an die Hand, an denen sich eine Kritik struktureller "Verblendungszusammenhänge" zu orientieren vermag. 73 Institutionalisierte Manipulationsmechanismen knüpfen einen ideologischen Schleier, der sich derart flächendeckend über die Lebenswelt und ihre Bewohner legt, dass sich zusammen mit deren Vermögen, angemessen zwischen Wirklichkeit und Schein zu unterscheiden, allmählich die Wirklichkeit selbst aufzulösen beginnt, um allerorts psychotische Gemütszustände zurückzulassen. 74 Während wir es hier bei diesen eher spekulativen Verdachtsmomenten belassen müssen, so ist doch mit dem Hinweis auf pathogene Integritätsschä-

73 So ließe sich z.B. die Werbebranche der systematischen Täuschung bezichtigen,

manche regierungsamtlich kontrollierte Kriegsberichterstattung der planmäßigen Lüge, die unsoziale Standortpolitik der Arbeitgebervertreter der organisierten Hinterhältigkeit und die Gesinnungsethik erzkonservativer Religionsgemeinschaften der anhaltenden Indoktrination. 74 Zu dieser hyperbolischen These siehe z.B. Manfred Zaumseil/Klaus Leferink (Hg.) (1997): Schizophrenie in der Moderne- Modernisierung der Schizophrenie, Bonn: Das Narrenschiff.

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den bereits der Übergang zur vierten und letzten Kategorie von typischen Angriffen geschaffen, die auf fundamentalster Integritätsebene das psychophysische Bedürfnis nach Ganzheit affizieren. Wenn wir zunächst nach jener wohl greifbarsten Form invasiver Eingriffe in den ethisch-existenziellen Lebenszusammenhang von Personen fragen und dabei erneut das Strafrecht zur Hand nehmen, so stoßen wir im Abschnitt über "Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit" unweigerlich auf das Delikt der "Körperverletzung". 75 Nach § 223 StGB kommt es zu einer Körperverletzung, wenn der Täter sein Opfer vorsätzlich körperlich schädigt oder anderweitig dessen Gesundheit beeinträchtigt. Als "gefährlich" gilt die Körperverletzung laut StGB dann, wenn sie mit Hilfe einer Waffe oder durch Gift, im Zuge eines heimtückischen Überfalls oder gemeinsam mit weiteren Tätern begangen wird. Als "schwer" ist sie dann einzustufen, wenn das Opfer lebensgefährlich verletzt wird oder wenn es ein wichtiges Körperteil bzw. eine wichtige Körperfunktion einbüßt. Bekommt also ein Barbesucher einen gezielten Faustschlag ins Gesicht, werden einer verhassten Nebenbuhlerin halluzinogene Drogen ins Getränk gemischt, verliert der Konkurrent am Arbeitsplatz seine rechte Hand, weil eine Maschine manipuliert worden ist, so haben wir es mit unterschiedlich schwer wiegenden Fällen direkter Körperverletzung zu tun, die bereits deshalb gravierende Integritätsverletzungen darstellen, weil mit der körperlichen "Hülle" integren Lebens zugleich dessen biologisch-existenzielle Grundlage angetastet wird. Wenn der Integritätsaspekt der Ganzheit hier bereits verschiedentlich mit einer fundamentalen Schutzbedürftigkeit des Menschen assoziiert worden ist, dann wurde dabei auf das Vorhandensein einer existenziellen Minimalgrenze angespielt, deren psychophysische Wahrnehmung für die Integrität eines Menschen von herausragender Bedeutung ist. Personen müssen sich als weitgehend unversehrte Einheiten erfahren können, und zwar nicht zuletzt in Abgrenzung zu anderen. Menschen, die einer körperlichen Gewalttat zum Opfer fallen, machen die Erfahrung, dass mit der physischen Verletzung nahezu unablösbar auch ein spezifisch psychisches Leiden einhergeht. Der tätliche Angriff eines feindlich gesinnten Menschen wird als ein gewaltsamer und zumeist auch demütigender Kontrollverlust erfahren, der einen Bruch mit der sozialen und auch objektiven Realität bewirkt, von dem das "Urvertrauen" in die Welt erschüttert wird. 76 Für die vorsätzliche Körperverletzung ist demnach

75 Zweifelsohne setzen "Straftaten gegen das Leben"(§§ 211-222 StGB) auf einer noch tieferen Ebene an als die im Folgenden diskutierten Fälle, weil sie, man denke hier nur an Mord und Totschlag, die Chancen auf ein integres Leben nicht nur verschlechtern, sondern zunichte machen. An dieser Stelle wird jedoch allein von solchen Integritätsverletzungen die Rede sein, mit denen das Opfer buchstäblich "leben" muss. 76 Elaine Scarry (1992): Der Körper im Schmerz, Frankfurt/Main: Fischer.

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ein überaus enger Zusammenhang von physischer Einwirkung und psychischer Schädigung charakteristisch. 77 Ähnlich verhält es sich auch bei einem zweiten Typus leib-seelischer Versehrung: in Fällen des in den §§ 174ff. StGB geregelten "Missbrauchs". Unter diesen Straftatbestand werden gemeinhin solche Delikte subsumiert, in denen einwilligungsunfähige Schutzbefohlene, z.B. Kinder oder geistig Behinderte, von Erwachsenen bzw. Älteren unter Ausnutzung eines bestehenden Abhängigkeitsverhältnisses sowie unter Einsatz körperlicher und geistiger Überlegenheit zu sexuellen Handlungen "verführt" oder gedrängt werden. Kaum jemand wird heute noch ernsthaft bestreiten wollen, dass der psychophysische Schaden, den Missbrauchsopfer davon tragen, immens sein kann. Er reicht von akuten körperlichen Symptomen, z.B. Geschlechtskrankheiten oder ungewollter Schwangerschaft, über psychische Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsstörungen, z.B. Zwanghaftigkeit, Lernunwilligkeit oder gar Suizidalität, bis hin zu lebensgeschichtlich nicht selten ungeklärt bleibenden psychosomatischen Erkrankungen, z.B. schweren Allergien oder auch Essstörungen.n So unbestritten diese Erkenntnisse auch sind, mit Blick auf die Integritätsproblematik erscheint es angebracht, die strafrechtliche Fokussierung der Missbrauchsproblematik auf das Feld von Sexualdelikten aufzuheben und einem breiter gefassten Begriff leib-seelischer Misshandlung zu folgen: Versteht man unter Missbrauchjegliche Form der Bedrängung und Verführung, bei der es unter Ausnutzung eines Liebes-, Vertrauens-, Erziehungs-, Betreuungs-, Ausbildungs-, Arbeits-, Amts- oder sonstigen Abhängigkeitsverhältnisses zu Akten einer psychophysischen Instrumentalisierung und Schädigung kommt, die allein dem Ziel der Lustbefriedigung des Täters dient, so wird deutlich, dass entsprechende Verletzungserfahrungen nicht nur auf die Erfahrungswelt sexuell misshandelter Menschen beschränkt sind. Nicht allein der Trieb zur sexuellen Befriedigung, sondern auch sadistische Aggressionsschübe, brennender Hass, pathologischer Geltungsdrang, krankhafter Machtwahn oder ökonomische Habgier können Ursache für moralisch relevante Missbrauchsdelikte sein. Diese zeichnen sich allesamt dadurch aus, dass die auf der Opferseite bewirkte Integritätsverletzung als ein komplexes psychophysisches Erfahrungsgemisch aus Angst und Ohnmacht, Vertrauensverlust und 77 Hiervon sind Fälle "fahrlässiger" Körperverletzung zu unterscheiden (§ 229

StGB). Der körperliche Schmerz wird bei vergleichbarem physischem Schaden zwar derselbe sein, die psychische Verletzung jedoch wird geringer ausfallen, wenn der Aspekt gewaltsamer Erniedrigung ausbleibt. Gleiches gilt für Verletzungen, an denen keine Personen, sondern ungünstige Umstände schuld sind. Vgl. Elisabeth List (1999): "Schmerz- Manifestationen des Lebendigen und ihre kulturellen Transformationen", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 5/1999. 78 Einführend zur Problematik: Dirk Bange/Wilhelm Körner (Hg.) (2002): Handwörterbuch sexueller Mißbrauch, Göttingen u.a.: Hogrefe. 277

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Hilflosigkeit, Entfremdung und Unterwerfung, Erniedrigung und Schändung, Wut und Verzweiflung, Scham und sogar Schuld durchlitten werden. Erfahrungen von Missbrauch führen zu einem Bruch im Selbst- und Weltverhältnis des Opfers, der so gravierend sein kann, dass ihm sowohl die Fähigkeit zu intimen und vertrauensvollen Sozialbeziehungen als auch das Vermögen zu einem ungestörten Selbstsein dauerhaft abhanden kommen. Damit ist dem Leben in Integrität der ethisch-existenzielle Boden entzogen. Besonders offenkundig wird dieser auf elementarster psychophysischer Ebene bewirkte Entzug ontologischer Sicherheit in Akten der "Vergewaltigung". Aus strafrechtlicher Sicht fügen Vergewaltigungsdelikte dem Tatbestand des sexuellen Missbrauchs den Aspekt "gewaltsamer Nötigung" hinzu. Laut§ 178 StGB liegt ein Fall von Vergewaltigung dann vor, wenn der Täter durch Androhung oder Anwendung von Gewalt sein Opfer gegen dessen Willen zu sexuellen Handlungen zwingt. 79 Wer in der kalkulierten Unsichtbarkeit des nächtlichen Stadtparks oder auch des heimischen Wohnzimmers vergewaltigt wurde, hat erfahren müssen, dass die intime körperliche Invasion, neben den rein physischen Schmerzen, als ein ganzheitlicher Verlust an Selbstbestimmung und Selbstkontrolle durchlitten wird, der mit einer tiefgreifenden Einbuße an Selbst- und Weltvertrauen einhergeht. 80 Auch noch im Nachhinein erwächst diese schmerzvolle Verunsicherung aus der Erinnerung, schutz- und wehrlos dem niederträchtigen Trieb und Willen eines anderen Menschen ausgeliefert gewesen zu sein: "Rape with profound brutality had initiated a maturational journey whereby sexual identity, sexual relations and social independence would have to be integrated again. This journey she approached tentatively, reservedly and with wounds. The rape threatened to destroy her relationships interpersonally and intrapsychically. [... ] lt was not only a violation of her physical integrity, but also intrinsically of her inner integrity." 81

79 Hier soll nicht ausnahmslos von Männern als Tätern und Frauen als Opfern die

Rede sein, obgleich diese Konstellation zweifellos die häufigste ist. Man darf sich jedoch fragen, wie es kommt, dass dieselben Gewaltakte, wenn sie an Männern vollzogen werden (etwa Vergewaltigungen in Gefängnissen) aus gesellschaftlicher Sicht - strafrechtlich ist das inzwischen geändert worden - nicht gleichermaßen als Vergewaltigung anerkannt sind. Dies mag daran liegen, dass Männer sich in der öffentlichen Wahrnehmung schon deshalb nicht als Opfer "eignen", weil sie normalerweise eben die Täter sind. Dazu auch Hans Peter Duerr (1993): Obszönität und Gewalt, Frankfurt/Main: Suhrkamp, § 17. 80 Dazu Keith Burgess-Jackson (Hg.) (1999): A Most Detestable Crime: New Philosophical Essays on Rape, N ew York u. Oxford: Oxford UP. 81 Rose Hughes (1998): "Rape! The Violation ofintegrity and Will", in: Mair Reese (1998) (Hg.): Drawing on Difference, London/New York: Routledge, S. 122.

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In genau dieser Hinsicht weisen Vergewaltigungsfälle zahlreiche Ähnlichkeiten zur vierten und letzten der hier zu nennenden Integritätsverletzungen auf, und zwar zu Akten der "Folter". Auch im Zuge einer Folterung soll ein Mensch mit äußerster Gewalt dazu gebracht werden, etwas zu tun, was er ansonsten niemals tun würde, wobei das Opfer auch hier an einem zugleich körperlichen wie seelischen Übergriff zu zerbrechen droht. Von den zuletzt genannten Typen von Integritätsverletzungen und vermutlich selbst noch von der Vergewaltigung unterscheidet sich diese vielleicht grausamste und destruktivste Invasion dadurch, dass gerade ihre sich langfristig auswirkende "Brechungsfunktion" im Zentrum der Täterintentionen steht.R 2 Das Folteropfer soll nicht nur gequält und so dazu gebracht werden, einen ganz bestimmten Sachverhalt zu gestehen oder einer Überzeugung abzuschwören, es soll vielmehr so fundamental verletzt, ja, ruiniert werden, dass es auch lange nach dem Martyrium nicht mehr zu sich selbst zurückzufinden vermag. Wenn es dem Folterer allein um das erzwungene Geständnis ginge, so wäre zweifellos fraglich, warum Folteropfer in der Regel eben nicht getötet werden, sobald sie getan haben, wozu sie gezwungen werden sollten. 83 Zwar mag das vorkommen, und oft werden sich Folteropfer im Nachhinein geradezu wünschen, dass sie lieber gestorben wären, doch wird die Tatsache, dass es zahlreiche Überlebende der Folter gibt, kaum auf einen Restbestand an humanistischer Moral seitens der Täters zurückzuführen sein. Im Zentrum steht vielmehr deren sadistische Intention, ihr Opfer mit der Erinnerung an die vernichtende Qual erneut in die Welt zu entlassen, wo sie sich dann kaum mehr zurechtfinden werden. Beispiele von Folter machen deutlich, "daß es noch Schlimmeres gibt, als Menschen so zu peinigen, daß sie vor Qual schreien: man kann die Qual so ausnutzen, daß die Gepeinigten auch dann, wenn die Qual vorbei ist, nicht wieder zu sich finden können. Man erreicht das dadurch, daß man sie dazu bringt, Dinge von einer Art zu tun oder zu sagen - möglichst auch zu glauben, zu wünschen, zu denken -, die es den Gequälten unmöglich macht, sich jemals damit abzufinden, daß sie dazu fähig waren."R 4 Fassen wir die vier hier erläuterten fundamentalen Verluste psychophysischer Ganzheit zusammen - Körperverletzung, Missbrauch, Vergewaltigung und Folter-, dann mag es auf den ersten Blick so scheinen, als sei die in diesen Integritätsverletzungen zum Ausbruch kommende Gewalt als derart unmittel82 Dazu Rorty (1989), Kap. 8; Scarry (1992), Kap. I. Siehe aber auch die Beiträge in: Sepp Graessner/Norbert Gurris/Christian Prass (Hg.) (1996): Folter, München: Beck. 83 Angesichts der Brutalität, die sich in der Folter durchsetzt, wird man sich mit der durchaus furchteinflößenden These abfinden müssen, dass die Gewalt umso stärker sein wird, je höher das Maß an Integrität auf Seiten des Opfers ist. 84 Rorty (1989), S. 287f.

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bar und notwendig interpersonal aufzufassen, dass die Möglichkeit, auch hier von Phänomenen "struktureller Gewalt" zu sprechen, von vomherein ausscheidet. Gleichwohl sind Gewaltakte zu verzeichnen, die sich von vorsätzlichen.face to face-Delikten dahingehend unterscheiden, dass sie "im Namen" einer eher anonymen Institution oder auch eines Staates verübt werden. Politische Gefangene, die von einem Umechtsregime dazu verurteilt werden, in einem Arbeitslager zu schuften, windige Unternehmen, die ihre Niedriglohnarbeiter systematisch ausbeuten, Frauen, die im Krieg von feindlichen Soldaten vergewaltigt werden, mutmaßliche Straftäter, die von Polizisten durch Folter zu Geständnissen gezwungen werden: Für sie alle mag der Täter eine eher anonyme "Fratze" haben und die Verletzung dennoch gleich schwer wiegen. Dementsprechend kann auch hier, im Fall von Übergriffen auf die Ganzheit und Unversehrtheit von Personen, von strukturbedingten Integritätsverletzungen die Rede sein. Insbesondere am letzten Beispiel, dem der Folter, wird deutlich, was zum Ende dieser phänomenologischen Skizze für alle der insgesamt sechzehn typischen Integritätsverletzungen behauptet werden muss: Sie sollten keineswegs als völlig voneinander zu trennende Phänomene aufgefasst werden. Zunächst ist zu bedenken, dass invasive Eingriffe in die Integrität häufig nicht auf nur einen der vier zentralen Integritätsaspekte beschränkt bleiben. Das Beispiel der Folter zeigt, dass ein Verlust an psychophysischer Ganzheit mit einer Einbuße sowohl an Selbsttreue wie auch an Rechtschaffenheit und Integriertheit einhergehen kann. Das Folteropfer magangesichtsder körperlichen Qual mit dem Verlust seiner Ganzheit zugleich auch einen vehementen Kontrollverlust erleiden, der seine Selbsttreue untergräbt. Der Gefolterte mag zudem das Gefühl der Rechtschaffenheit einbüßen, wenn er zu einem folgemeichen Verrat an sich selbst oder einem Mitmenschen gezwungen wird. Er mag sich überdies, und zwar im Nachhinein, außerstande sehen, die erlittenen Qualen und den begangenen Verrat retrospektiv in sein Selbstbild einzupassen, wodurch ihm auch noch seine Integriertheit abhanden kommt. 85 Darüber hinaus ist festzustellen, dass die Integrität von Personen zur selben Zeit gleich mehrere typische Verletzungen erleiden kann. Folter kann mit Vergewaltigung einhergehen, falsche Verdächtigung mit Hinterhältigkeit, Erpressung mit Körperverletzung, Missbrauch mit Lüge, Bestechung mit Verleumdung etc. Daher sind die hier aufgeführten sechzehn Integritätsverletzungen als analytische "Typen" zu betrachten, die sich jeweils primär auf eine der vier Integritätsdimensionen auswirken, die in der "Praxis" aber keineswegs unabhängig voneinander auftreten müssen. Fassen wir zusammen: Angriffe auf die Selbsttreue einer Person- Bestechung, Nötigung, Erpressung

85 Aus Platzgründen bleibt mir hier lediglich die Behauptung, dass sich ähnliche Kombinationen für alle genannten Integritätsverletzungen konstruieren lassen.

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und Zwang - forcieren Kursabweichungen des Handelns, bis sich die Betroffenen am Ende nicht länger mit einem "eigenen" ethisch-existenziellen Lebensvollzug identifizieren können. Anschläge auf die Rechtschaffenheit einer Person - üble Nachrede, Verleumdung, falsche Verdächtigung und falsche Verurteilung - machen es einer Person dauerhaft unmöglich, sich als ein moralisch bzw. sittlich tolerables Mitglied der Gemeinschaft wertschätzen zu können. Attacken auf die Integriertheit einer Person - Täuschung, Lüge, Hinterhältigkeit und Indoktrination - bewirken den Verlust eines kohärenten autobionarrativen Selbstbildes. Gewalttätige Akte gegen die Ganzheit einer Person- Körperverletzung, Missbrauch, Vergewaltigung und Folter- greifen derart tief in den ethisch-existenziellen Lebenszusammenhang ein, dass die für personale Integrität so wichtige "Bejahung" des eigenen Leben selbst auf elementarster Ebene in Frage steht.

4.4 Scham und Schuld: Die emotionale Kehrseite der Außenansicht Als besonders grausam und schwer heilbar werden sich insbesondere die zuletzt genannten Integritätsverletzungen immer dann erweisen, wenn retrospektiv, also in der Erinnerung an erlittene psychische und körperliche Qualen, Gefühlzustände der Scham und Schuld auftreten, in denen sich das Opfer auf seltsame Weise als "Mittäter" erfährt. So wird etwa aus der therapeutischen Praxis der Behandlung von Vergewaltigungsopfern von nicht selten beklemmenden Selbstvorwürfen berichtet, die von dem Verdacht, in der fraglichen Situation des Überfalls zu leichtsinnig gewesen zu sein, über das demütigende Gefühl, in den Augen Eingeweihter von nun als "armes Opfer" zu gelten, bis hin zu dem brutalen Eingeständnis reichen können, trotz aller Grausamkeit des Verbrechens dennoch auch sexuelle Erregung verspürt zu haben.R 6 Vergleichbares gilt für Folteropfer, die noch lange nach dem grausamen Erlebnis mit dem schmerzvollen Wissen zu kämpfen haben, dass sie, wenn auch unter Zwang, zu unverzeihlichen Geständnissen "fähig" waren. Als bestialisch wird von den Betroffenen nicht zuletzt auch die Erinnerung an jene Momente geschildert, in denen sie angesichts äußerster körperlicher und seelischer Entwürdigung und Selbstaufgabe schmachvoll den amüsierten Blicken der Täter ausgesetzt waren. 87 Diese ohnehin schon dramatischen Schamund Schuldgefühle der Opfer werden häufig durch das fehlende Verständnis oder gar das Misstrauen ihres sozialen Umfeldes nur noch verstärkt und kön86 Ich stütze mich auf Bettina S. Reher (1995): Schamgefühle von sexuell mißbrauchten Mädchen und Frauen, Frankfurt/Main u.a.: Lang. 87 Ich verzichte auf ekelerregende Details. Siehe aber Wolfgang Sofsky (1996): Traktat über die Gewalt, Frankfurt/Main: Fischer, Kap. 5.

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nen sich so zu martialischen Seelenqualen und Desintegrationen steigern, die es dem unter Selbstvorwürfen leidenden Vergewaltigungs- bzw. Folteropfer dauerhaft unmöglich machen, überhaupt noch zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Nicht selten werden die schrecklichen Ereignisse dann so grundlegend psychisch verdrängt, dass die Betroffenen sich nach einer gewissen Zeit nicht einmal mehr selbst ganz sicher sein können, ob sie tatsächlich Opfer sind.R 8 Doch müssen wir nicht erst zu derart extremen Beispielen greifen, damit deutlich wird, inwiefern Gefühlszustände der Scham und Schuld für Integritätsverluste, die das interpersonale Außenverhältnis betreffen, typisch sind. Schon in weit weniger gravierenden Situationen, so wird sich nun zeigen, durchlebt der Mensch Gefühle der Scham und Schuld als sozial induzierte Störungen seiner Integrität. Anders jedoch als die in Kapitel 3 diskutierten Gefühlskomplexe Angst und Selbstfremdheit ergeben sich Scham- und Schuldgefühle weniger aus der unmittelbaren introspektiven Selbstansicht, sondern vielmehr erst dann, wenn sich die Betroffenen mit den Augen anderer, d.h. aus der Außenansicht, betrachten. Scham und Schuld, so die heute gängige Überzeugung, sind genuin "soziale" Gefühle, denn sie entstehen gewissermaßen "zwischen" den Individuen. 89 Es bedarf dazu auf Seiten der jeweiligen Scham- bzw. Schuldsubjekte eines dezentrierenden Perspektivenwechsels, der durch die reale oder doch zumindest vorgestellte Beobachtung und Beurteilung durch ein Publikum eingeleitet wird. Es sind stets konkrete oder wenigstens imaginierte Andere, vor denen wir uns schämen oder eben schuldig fühlen. 90 Allerdings erschöpft sich der spezifisch soziale Charakter von Scham- und Schuldgefühlen nicht schon in einem für die Betroffenen als quälend empfundenen Sich-ertappt-Fühlen. Die Blicke anderer, ob wirklich oder bloß imaginiert, machen uns auf einen unangenehmen Sachverhalt mit möglicherweise weitreichenden sozialen Konsequenzen aufmerksam: Scham und Schuld fühlt der Mensch dann, wenn er befürchten muss, einen schwerwiegenden Fehler begangen zu haben, indem er gegen eine als gültig anerkannte Verhaltenserwartung verstoßen hat. Es ist stets die Verletzung gemeinsam anerkannter Verhaltensstandards bzw. Normen, für die wir uns schämen bzw. schuldig fühlen, und entsprechende Gefühlsregungen vernehmen wir in solchen Momenten, in denen wir furchten, in den Blicken der mutmaßlich erbosten oder gar empörten Anderen die Ankündigung sozialer Sanktionen ausmachen zu

88 Vgl. Graessner/Gurris/Pross (1996). 89 Vgl. Taylor (1985). 90 Dass man Scham und Schuld selbst dann empfinden kann, wenn (noch) niemand von jenen Umständen weiß, aufgrundderer man sich schämt oder schuldig fühlt, spricht für die Annahme, dass die Antizipation des Entdeckt-Werdens ausreicht.

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können. 91 Betrachten wir ein Beispiel und fragen uns, von welcher Art die Standards und Normen sind, deren Verletzung Scham- und Schuldgefühle auslösen kann. Dabei werden die Ähnlichkeiten, vor allem aber auch die Unterschiede zwischen beiden Gefühlen hervortreten. Man erinnere sich an unseren verschuldeten Beamten im Tiefbauamt und stelle sich vor, dass der Bestechungsskandal, in den er sich hat verwickeln lassen, aufgeflogen ist. Eines Morgens betreten uniformierte Polizisten das Großraumbüro im siebten Stock des Rathauses, erkundigen sich nach Herrn K., steuern seinen Schreibtisch an und teilen ihm mit, dass er festgenommen sei. Vor den Augen seiner entsetzten Kolleginnen und Kollegen wird der bis dato als gewissenhafter Mitarbeiter und unbescholtener Familienvater geltende K. in Handschellen abgeführt. Mit gesenktem Haupt wird er zum Fahrstuhl geleitet. Da K. lange Zeit durchaus zu Recht als ein guter Beamter galt, der anständig und verlässlich seine Arbeit verrichtete, bis er sich beim eigenen Hausbau finanziell übernahm, ist davon ausgehen, dass ihm seine Festnahme vor den versammelten Kollegen mehr als nur peinlich ist. Er wird sich vielmehr bodenlos schämen. 92 Für was aber genau? K. ist in der Vergangenheit stets darum bemüht gewesen, als ein gewissenhafter Mitarbeiter anerkannt und geschätzt zu sein. Er hat also einen guten Ruf zu verlieren, so dass ihn der Gedanke, seine Kollegen könnten eben dieses Bild in Erinnerung behalten K. in Handschellen, abgeführt von der Polizei -, quälen wird. Alles in ihm sträubt sich gegen die schmerzhafte Vorstellung, von diesem schwarzen Tag an auf das Image eines scheinheiligen und kriminellen kleinen Beamten festgelegt zu sein. Die Scham des Herrn K. ist demnach offenkundig das Resultat eben dieser drohenden Festlegung und "Objektivierung": Angesichts des Umstandes, ertappt worden zu sein oder auch nur eines Tages ertappt werden zu können, muss das Schamsubjekt befürchten, dass ein ungewollt entstehendes Fremdbild von der eigenen Person plötzlich unbeeinflussbar und unrevidierbar wird. 93 Deshalb richtet K., als man ihn abfuhrt, seinen Blick zu Boden. Schamsubjekte tun dies in der nahezu kindlichen Hoffnung, den Augen der Zuschauer, die dieses Bild zu memorieren beginnen, dadurch ausweichen zu können. 94 Aber folgen wir K. und den Polizisten weiter bis zum Fahrstuhl. Den konsternierten Blicken seiner Kollegen entronnen, beginnt K. mehr und

91 Zur Scham siehe den Literaturüberblick von Matthias Schloßherger (2000): "Philosophie der Scham", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 5/2000. Zur Schuld siehe Paul Ricreur (1994): Phänomenologie der Schuld, 2 Bände, Freiburg: Alber. 92 Peinlichkeit kann als schwache Form der Scham verstanden werden. 93 Dazu das berühmte "Schlüsselloch"-Beispiel bei Sartre (1952/1991 ), S. 467ff. 94 Das typische Körperverhalten der Scham wird betont in: Hilge Landweer (1999): Scham und Macht, Tübingen: Mohr.

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mehr zu realisieren, was mit ihm geschieht. Vermutlich wird seine noch ahnungslose Familie bereits in wenigen Stunden erfahren, was für ein verantwortungsloser Ehemann und Vater er gewesen ist. Er wird sie alle ins Unglück stürzen. Spätestens in diesem Moment wird ein zweites heftiges Gefühl aufkommen, das von der Scham substanziell zu unterscheiden ist: Schuld. Herr K. realisiert erst jetzt, dass er nicht nur gegen das Gesetz verstoßen, sondern dadurch vermutlich auch noch seine Familie ruiniert hat. Zuvor mag er deshalb bereits erste Gewissensbisse verspürt haben, nun aber verwandeln sich diese in heftige Schuldgefühle. 95 Es ist nicht so sehr, wie bei der Scham, das beschmutztes Fremdbild, dessen Unrevidierbarkeit K. beunruhigt, es scheint vielmehr die Tat selbst zu sein, die nicht mehr rückgängig zu machen ist und eben darum Schuldgefühle auslöst. Die Gewissheit, dass K. kausal für eine gravierende Schädigung seiner Mitmenschen - und zwar selbst noch jener, die er liebt- verantwortlich ist, peinigt ihn so sehr, dass er sich "ohrfeigen" könnte oder gar am liebsten "tot sehen" würde. 96 Setzen wir voraus, dass sich diese hier in aller Kürze vorgenommenen Charakterisierungen tatsächlich verallgemeinem lassen, so ist zunächst festzustellen, dass ein und dasselbe Ereignis sowohl Scham- als auch Schuldgefühle auslösen kann. Wie aber genau muss zwischen ihnen unterschieden werden? Die Antwort lautet: In Situationen der Scham geht es darum, dass die betreffende Person durch ihr Verhalten ungewollt das Bild schädigt, das andere Personen von ihr haben, während Schuldgefühle sie darauf aufmerksam machen, dass sie unmittelbar diese anderen Personen verletzt. Scham ist jenes Gefühl, mit dem der Mensch auf schwerwiegende und nicht selten selbstverschuldete Trübungen jenes Bildes reagiert, von dem er hofft, dass andere es von ihm haben. Scham kratzt an dem, was man das "ideale soziale Selbst" nennen kann. Hier geht es um die nach Außen verkörperte, soziale Identität einer Person. Wer Scham empfindet, spürt, dass sich sein ideales soziales Selbst anderen gegenüber nicht weiter aufrechterhalten lässt. Schuld hingegen muss als jene schmerzhafte Empfindung verstanden werden, die auf die Einsicht folgt, dass wir mit unserem Verhalten nicht nur uns selbst, sondern vor allem anderen Personen gravierend zum Nachteil gereichen. Wir sind moralisch oder rechtlich dafür verantwortlich zu machen, dass sich deren Chancen, ein gutes Leben zu führen, aufgrundunserer Verfehlungen verschlechtert haben. Handlungen, mit denen wir Schuld auf uns laden, indem wir uns an der Moral oder auch am Recht vergehen, beschmutzen unser "ideales moralisches Selbst" und hinterlassen Flecken aufunserer "weißen Weste". 97 95 Gewissensbisse sind als schwache Form der Schuld aufzufassen. 96 Vgl. Max Scheler (1924/1954): "Reue und Wiedergeburt", in: ders. (1954): Vom Ewigen des Menschen, Bem: Francke. 97 Zu diesen Unterscheidungen siehe auch Amd Poilmann (2001b): "Scham, Norm, Selbst", in: Ethik und Sozialwissenschaften, 3/2001.

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Demnach müssen beide Gefühle, Scham nicht weniger als Schuld, auf die Enttäuschung von sozialen Verhaltenserwartungen zurückgeführt werden, wenngleich auf je spezifische Weise: Mit Scham reagiert der Mensch auf den Umstand, seinem Ansehen in den Augen jener geschadet zu haben, die bislang davon ausgehen durften, dass er diesem Ansehen gerecht werden würde. Schuldgefühle hingegen resultieren aus der Verletzung von moralischen und rechtlichen Normen, von denen die anderen erwarten konnten, dass der betreffende Mensch sie einhalten würde. Psychoanalytisch ausgedrückt und zugleich auch in das Integritätsvokabular übersetzt: Mit Scham reagiert eine Person auf eine nach außen hin sichtbar werdende Abweichung vom eigenen "Ich-Ideal", d.h. auf ein Abschweifen von ethisch-existenziellen Selbstverpflichtungen. Hier ist vor allem der Integritätsmodus der Selbsttreue berührt. Demgegenüber beruht Schuld auf einer Diskrepanz zum "Über-Ich", d.h. auf Abweichungen vom moralisch Gebotenen. Dabei steht primär der Integritätsmodus der Rechtschaffenheit in Frage. Bedenken wir aber, dass ein Mensch sich in der Scham deshalb als minderwertig erlebt, weil er nicht so ist, wie er zu sein hofft, und er sich in der Schuld insofern fremd vorkommt, als er nicht glauben kann, dass er derjenige ist, der die betreffende Tat begangen hat, so dürfte offenkundig sein, dass in Scham- und Schuldsituationen die Integrität insgesamt, d.h. samt der Modi Integriertheit und Ganzheit, ins Wanken gerät. Ein Mensch, der tiefgreifende Erfahrungen von Scham und Schuld durchleidet, fühlt sich, wie es oft heißt, nicht mehr wohl in seiner "Haut". Dies kann als deutliches Symptom für einen Integritätsverlust gedeutet werden, der mal kürzer, mallänger andauern kann. Beide Gefühle bewirken spürbar einen Riss im ethisch-existentiellen Selbstbild: Auf der einen Seite sehen wir uns einem idealen Selbst gegenüber, das wir gerne sein möchten und als das wir von anderen wahrgenommen werden wollen, auf der anderen Seite sind wir jedoch stets auch mit einem realen Selbst konfrontiert, das sich selbst und anderen Schaden zufügen kann. Damit sind Scham- und Schuldgefühle zwar grundsätzlich als Anzeichen einer fundamentalen Integritätsbedrohung aufzufassen, doch sind sie aus Sicht der Integritätsanalyse darum nicht schon per se als negativ einzustufen. Ähnlich wie die Gefühle der Angst und der Selbstfremdheit können auch Scham und Schuld eine wichtige Warnfunktion übernehmen: Angesichts der stets gegebenen Gefahr, dass die Kluft zwischen idealem und realem Selbst so groß wird, dass die Integrität der betreffenden Person auseinander bricht, kann die von außen bewirkte, zunächst zweifellos als unangenehm erfahrene Perspektivenverschiebung einen gleichwohl positiven Reintegrations- und Revisionsdruck ausüben. Personen, die Scham und Schuld empfinden, ahnen bereits, dass sie der Desintegration anheim zu fallen drohen und zudem das Wohlwollen ihrer Mitmenschen aufs Spiel setzen. Scham und Schuld halten uns dazu an, Entgleisungen im Umgang mit anderen Menschen in Grenzen zu halten

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und möglichst zu vermeiden. Die Scham weist uns darauf hin, dass der Mensch mit seinem Selbstbild stets auch einen sozialen Ruf zu verlieren hat. Schuldgefühle informieren uns darüber, dass wir durch abstrakte Normen hindurch immer auch konkrete andere Menschen verletzen können. Dazu noch eine wichtige Unterscheidung: Mit Blick auf jene Menschen, von denen sich Scham- und Schuldsubjekte ertappt fühlen, wird sich die Scham "Vergessen" wünschen, während die Schuld um "Vergebung" bitten muss. 98 Da diese doppelte Nachsicht dem Scham- und Schuldsubjekt aber allenfalls dann zuteil werden wird, wenn es selbst diesen anderen gegenüber Einsicht zu demonstrieren vermag, muss eine bewusste Konfrontation mit diesen so unangenehmen wie aufschlussreichen Gefühlen aus Sicht personaler Integrität weit eher angebracht erscheinen als der Versuch, sie zu verdrängen. Eine Person, so ist zu vermuten, wird überhaupt erst dann zu gelingenden Sozialbeziehungen fähig sein, wenn sie diese soziale Gefühle zu verspüren und richtig zu deuten vermag. Sie zeigen uns die Grenzen der eigenen Selbstkontrolle auf. Das Leben in Integrität wird daher auf die prinzipielle Offenheit gegenüber scham- und schuldauslösenden anderen Personen, d.h. auf die Gefahr eines nicht selten "höllischen" Eindringens fremder Blicke99 , kaum verzichten können. Auch in dieser Hinsicht muss also die oben bereits mehrfach korrigierte Annahme eines vermeintlichen Strebens nach vollkommener Ganzheit revidiert werden. Erst starke, verstörende Emotionen dieser Art lassen die Umrisse eines von anderen Personen psychophysisch abgrenzbaren "Behälters" erkennen, "dessen Wände vor der Außenwelt schützen, aber zugleich für die Suche nach deren Unterstützung durchlässig sind. Natürlich ist das Selbst niemals autark, und die Bilder, die Stoiker gern verwenden - Bilder von Geschlossenheit, Festigkeit, Undurchdringlichkeit- sind nicht nur ungenau, sondern ziemlich gefährlich für jemanden, dessen Leben sich in einer Welt abspielt, die voller wirklicher Gefahren und dringlicher Bedürfnisse nach äußeren Gütern ist." 100

98

Richard Wollheim (1999): On the Emotions, New Haven: Yale UP, S. 156. Im Hinblick auf die Rolle konkreter anderer Personen sollten zudem auslösende und vermeidende Verhaltensweisen unterschieden werden: Während Akte der Bloßstellung, Schmähung oder Erniedrigung Scham auslösen, kann dies in brenzligen Situation durch Takt, Mitgefühl und Toleranz vermieden werden. Während Akte der Empörung, Inkriminierung und Denunziation zu Schuldgefühlen führen, werden diese durch Großzügigkeit, Vergebung oder Freispruch abgewendet. 99 Dieser feindliche Blick wird in Sartres Stück Geschlossene Gesellschaft bekanntlich mit folgenden Worten bedacht: "Die Hölle, das sind die anderen". I 00 Nussbaum (2000), S. I Olf.

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5. Die nähere Verwandtschaft der Integrität: Würde und Ehre, Freiheit und Autonomie, Authentizität und Wahrhaftigkeit

Bevor wir uns dem Problem zuwenden werden, wie das Verhältnis des Begriffs personaler Integrität zu verwandten, wenngleich traditionsreicheren Idealen der Praktischen Philosophie beschaffen ist, sollten wir die bisherigen Ergebnisse dieses Buches Revue passieren lassen. Kapitel 1 begann mit einer Skizze des normativen Begründungsproblems zeitgenössischer Sozialphilosophie, durch die wir zu der Annahme geführt worden sind, dass die Sozialpathognostik unserer Tage fast ausnahmslos auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einer formalen Idee ungestörten Selbstseins rekurriert. Für eben diese Idee bot sich der Terminus "Integrität" als passendes Etikett an. Daraufhin diente das begriffsklärende Kapitel 2 dem Aufweis unterschiedlicher philosophischer Verwendungsweisen des Integritätsbegriffs, von denen behauptet wurde, dass sie je nach disziplinärem Kontext variieren. Aus ethischer, moralischer, psychologischer und sozialphilosophischer Sicht wurden der Integritätsdebatte genau vier zentrale Bedeutungsdimensionen entnommen: das Prinzip der "Selbsttreue und Unbestechlichkeit" als der Übereinstimmung von ethisch-existenziellem Selbstbild und individuellem Lebensvollzug; das Gebot der "Rechtschaffenheit und Unbescholtenheit" im Sinne einer moralischen Mindestanforderung, die auf die deliberative Berücksichtigung berechtigter Interessen anderer sowie auf die sittliche Tolerierbarkeit des je eigenen Lebensvollzuges pocht; das Ideal der "Integriertheit und Kohärenz", mit dem ein auf autobionarrativem Wege gewonnenes, möglichst einheitliches Selbstbild angesteuert wird; schließlich das psychophysisch erfahrene Streben nach "Ganzheit und Unversehrtheit", dem an der Intaktheit des je eigenen existenziellen Lebenszusammenhangs gelegen ist.

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DIE NÄHERE VERWANDTSCHAFT DER INTEGRITÄT

Entgegen der zunächst naheliegenden Vermutung, es handele sich dabei um differierende Begriffe von Integrität, sollten deren unterschiedliche Kontextualisierungen von Beginn an als Aufweis verschiedener Aspekte oder besser Modi ein und derselben Sache begriffen werden. Damit konnte im Folgenden Schritt für Schritt ein komplexerer Integritätsbegriff Gestalt annehmen, für den genau vier zentrale Merkmale kennzeichnend sind: Personen besitzen Integrität in einem umfassenden Sinne nur dann, wenn es ihnen möglich ist, von inneren und äußeren Zwängen relativ unbehelligt, (a) ein Leben in Einklang mit dem eigenen standhaltenden Wollen, (b) in den Grenzen des sittlich Tolerablen sowie (c) auf Basis eines integrierten ethisch-existenziellen Selbstverständnisses zu führen, wobei sich insgesamt (d) eine Stimmung der Ganzheit einstellen muss, als deren Minimalbedingung seelische und körperliche Unversehrtheit zu gelten hat. Anders gesagt: Personale Integrität geht mit einer psychophysischen Gemütslage der Intaktheit einher, die auf der Gewissheit beruht, dass die betreffende Person weitgehend so lebt, wie sie leben will, was nicht nur voraussetzt, dass sie tatsächlich weiß, wie sie leben will, sondern auch, dass sie sich annähernd im Klaren darüber ist, ob sie mit Rücksicht auf andere Menschen auch so leben wollen kann. Mit diesen Unterscheidungen war angezeigt, dass die unterschiedlichen Verwendungen der Integritätskategorie bzw. deren unterschiedliche Modi ersichtlich nicht auf gleicher begrifflicher Ebene liegen, obwohl sie notwendig aufeinander verweisen: Selbsttreue meint die Übereinstimmung des Lebensvollzuges mit dem ethisch-existenziellen Selbstbild einer Person. Rechtschaffenheit, d.h. moralische Integrität, ist als internes Korrektiv der Selbsttreue aufzufassen, von dem der ethisch-existenzielle Lebensvollzug insgesamt in die Grenzen moralischer Zulässigkeit verwiesen wird. Der Aspekt der Integriertheit ist kategorial ganz anders geartet. Ihm ist an einer kohärenten Einheit in der Vielheit divergierender Lebensvollzüge gelegen, und zwar sowohl in der horizontalen Dimension des eigentlichen Lebensvollzuges als auch in der vertikalen Dimension einer nicht selten in sich disparaten Lebensgeschichte. Der Aspekt der Ganzheit schließlich ist den drei übrigen Integritätsdimensionen insofern übergeordnet, als er eben jene psychophysische Stimmung meint, die sich einstellen kann, wenn - und nur wenn - Integrität in jeder der drei zuvor genannten Hinsichten vorhanden ist. Vorerst musste der Aspekt der Ganzheit daher als "Resultat" der drei übrigen Integritätsmodi aufgefasst werden. Kapitel 3 vertiefte diesen begriffssystematischen Zusammenhang dann zunächst anhand der Frage, inwieweit personale Integrität als ein schwieriges "Selbstverhältnis" beschrieben werden muss. Im ersten Schritt führte der Versuch einer Klärung dessen, was es heißt, Werte zu haben, zur Einsicht in einen ersten prototypischen IntegritätsmangeI: Wer der unhintergehbaren, aus dem Widerstreit von divergenten Wertbindungen resultierenden Konflikthaftigkeit

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DIE NÄHERE VERWANDTSCHAFT DER INTEGRITÄT

des Lebens durch Verdrängung, Vertagung oder ähnliche Strategien dauerhaft ausweicht, legt "Konfliktscheue" an den Tag. Er widersetzt sich Lernprozessen, tritt auf der Stelle und kommt daher als Kandidat für die Zuschreibung von Integrität kaum mehr in Frage. Im zweiten Schritt sollte verständlich werden, was es heißt zu wissen, wie man leben will. Dabei stießen wir auf ein zweites erhebliches Integritätsdefizit das Phänomen der "Selbsttäuschung". Es kommt dort vor, wo sich Personen aus - zumeist nachvollziehbaren, wenngleich letztlich irrationalen - Gründen sträuben, Informationen adäquat zur Kenntnis zu nehmen, die für sie relevant, aber zugleich auch unangenehm sind. Im dritten Schritt ging es dann um die Frage, was es bedeutet, tatsächlich so zu leben, wie man leben will. Hier kam als dritter typischer Integritätsmangel das philosophisch altehrwürdige Problem der "Willensschwäche" zum Vorschein. Personen, so lautete das Ergebnis, haben als willensschwach und daher auch als nicht integer zu gelten, wenn sie sich in ethischexistenziellen Konfliktsituationen, ohne dass sie durch innere oder äußere Umstände dazu gezwungen werden, zugunsten jener Gründe entscheiden, die sie letztlich auch selbst für die schlechteren halten. Noch im selben Kapitel ergab sich dann die Notwendigkeit der Klärung, inwieweit es angesichts der drei diskutierten typischen Integritätsdefizite notwendig zu einem Leben in Integrität gehören muss, die eigene Existenz "bejahen" zu können. Aus der Einsicht, dass mit den Phänomenen Konfliktscheue, Selbsttäuschung und Willensschwäche existenzielle "Aporien" markiert sind - einerseits können wir diese ethisch-existenziellen Schwachpunkte im Leben "nicht wirklich wollen", andererseits können wir jedochgenauso wenig auf sie verzichtenergab sich erstmals die vorsichtige Affirmation der vielleicht grundlegenden Aporie integren Lebens: Die im Bedürfnis nach Integrität zum Ausdruck kommende Sehnsucht nach "vollständiger" Ganzheit im Sinne der Abwesenheit von Konflikt, Unklarheit oder auch Scheitern wird niemals gänzlich zu befriedigen sein. Bevor diese Einsicht in Kapitel 4 auf das Problem übertragen werden konnte, inwieweit personale Integrität immer auch als ein schwieriges Verhältnis zu anderen beschrieben werden muss, sollte uns der Rekurs zu den biographischen Wurzeln der Integritätssehnsucht zurückführen und mit der Frage konfrontieren, welchen genaueren Inhalt dieses "Heimweh" hat. Im Rückgriff auf neueste entwicklungspsychologische Forschungsergebnisse wurde für die Annahme argumentiert, dass sich das Streben nach Integrität einem biographisch früh und auf schmerzliche Weise erworbenen Phantasma primordialer Interaktivität verdankt. Die verschüttete Erinnerung an faktisch erfahrene, pränatale Behaglichkeitszustände im Beisein eines beschützenden "Anderen" bleibt lebensgeschichtlich als phantasmatische Kontrastfolie bedeutsam, vor deren Hintergrund alle im späteren Leben erlittenen Integritätsverletzungen nur einen früheren Verlust intakter "Zwei-in-Einheit" widerhal-

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len lassen. An dieser Stelle wurde deutlich, dass der Integritätsmodus der Ganzheit und Unversehrtheit, wie schon gegen Ende von Kapitel 2 vermutet, nicht nur als Resultat gelingender Lebensführung gedeutet werden muss, sondern immer auch, und zwar in Gestalt einer phantasmatisch erinnerten früheren Einheit, als Voraussetzung für ein entsprechendes Streben im späteren Leben. Demnach war der ominöse Andere fortan in doppelter Hinsicht als konstitutiver Bestandteil personaler Integrität aufzufassen: Das integre Leben zehrt von der Erinnerung an frühere Allianzen und bleibt daher zeitlebens notwendig auf integre Sozialbeziehungen angewiesen. Damit war die Brücke zu Kapitel 4 geschlagen, in dem das Feld einer immer schon gebrochenen Intersubjektivität sowohl als Ort der Möglichkeit integren Lebens wie auch als Schauplatz gravierender Verletzungserfahrungen ausgewiesen wurde. Ausgehend von der anthropologischen Prämisse, dass der Mensch ein schutz- und anerkennungsbedürftiges Wesen ist, wurde zunächst die elementare Sicherungsfunktion einer Moral der Unparteilichkeit bestätigt. Sie soll den Schutz der elementaren Grundbedingungen integren Lebens gewährleisten. Damit war erneut das Problem eines moralischen Minimums der Integrität berührt: Zwar kann personale Integrität im Ausnahmefall mit unmoralischen Handlungen vereinbar sein, nicht aber mit Unmoral als solcher. Anschließend konnte geklärt werden, inwieweit uns das menschliche Grundbedürfnis nach Anerkennung zu wechselseitigen Erwartungen der Liebe und der Solidarität verleitet, die zwar den Rahmen einer reziproken Moral der Unparteilichkeit sprengen, auf deren Erfüllung das Leben in Integrität jedoch ebenfalls notwendig angewiesen ist. Daraufhin ließen sich mit Blick auf die vier Grundmodi der Integrität - Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit - zahlreiche prototypische Verletzungserfahrungen benennen, phänomenologisch erhellen und ihrem Schweregrad nach ordnen. Angesichts aggressiver Akte, die bis hin zu gewalttätigem Zwang, falscher Verurteilung, Gehirnwäsche oder gar Folter reichten, wurde anschaulich, wie nachhaltig destruktiv sich "invasive" Eingriffe in das integre Leben auf die betroffenen Personen auswirken können und wie entscheidend deren Integrität aufintakte Sozialbeziehungen und intersubjektive Schonung angewiesen ist. Soweit also die bisherigen Ergebnisse. Bevor wir uns in Kürze einer genaueren Abgrenzung dieses nunmehr komplexen Integritätsbegriffes zu verwandten philosophischen Termini zuwenden werden, müssenjedoch zunächst noch einmal ausdrücklich genau sechs konzeptionelle Einschränkungen der Integritätsanalyse vorgenommen werden, die bereits an verschiedenen Stellen dieses Buches angeklungen sind, ohne jedoch zusammenhängend festgeschrieben worden zu sein: ( 1) Es kann dem hier umrissenen Integritätsbegriff nicht schon gelingen, konkrete Meßmethoden zu liefern, anhand derer sich im Einzelfall exakt bestimmen ließe, ob angesichts einer durch Selbst- bzw. Fremdverschulden

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bewirkten Integritätsverletzung von einer graduellen Einbuße oder aber von einem völligen Verlust der Integrität die Rede zu sein hat. Manchmal summieren sich viele kleinere Integritätsmängel sukzessive zu einem Totalverlust, in anderen Fällen kann dazu eine einzige durchschlagende Verletzung ausreichen. Zuweilen ist die Integrität einer Person derart stabil, dass sie einen heftigen Schlag gut wegsteckt, ein anderes Mal jedoch derart brüchig, dass die Person schon bei kleineren Verletzungen aus der Bahn ihrer Integrität geworfen wird. Von außen lässt sich jedenfalls nur schwer beurteilen, inwieweit ein Mensch de facto Integrität besitzt. Gleichwohl gibt uns die Integritätsanalyse Begriffe und Kategorien an die Hand, mit deren Hilfe zumindest die Betroffenen selbst einzuschätzen vermögen, ob und inwieweit ihre Integrität gesichert oder aber durch Selbst- bzw. Fremdverschulden bedroht ist. (2) Aus der Differenz von partieller Einbuße und vollständigem Verlust ergibt sich konzeptionell die Notwendigkeit, zwischen einem bloß situativen und einem kontextübergreifenden Gebrauch der Integritätskategorie zu unterscheiden. Es mag Momente geben, in denen eine Person aufnahezu vorbildliche Weise Integrität zu demonstrieren scheint, ohne dass sich jedoch mit Blick auf ihre gesamte Lebensführung tatsächlich von einer integren Person sprechen ließe. Auf der anderen Seite legen Personen bisweilen temporäre Integritätsdefizite an den Tag, obwohl sie im Großen und Ganzen Integrität aufweisen. Auch hier kann nicht schon vorab und aus theoretischer Sicht vorentschieden werden, wie viele situative Integritätsbeweise uns dazu berechtigen, auch von einem kontextübergreifenden Besitz der Integrität ausgehen zu können. Ebenso wenig ist bereits im Vorhinein abzuschätzen, wie oft sich eine langfristig stabile Integrität momentane "Ausnahmen" gönnen darf. Ein einziger Fehltritt kann die Integrität einer Person zerstören, in anderen Fällen jedoch mögen uns schon einige wenige vorbildliche Verhaltensweisen dieser Person dazu anhalten, auch umfassend Integrität zu attestieren. (3) Mit eben dieser Unterscheidung zwischen situativer und kontextübergreifender Begriffsverwendung geht die Einsicht einher, dass personale Integrität zwar als zentrale Bedingung guten Lebens aufzufassen ist, dass diese Bedingung aber nicht stets schon in vollem Umfang erfüllt sein muss, damit wir von einem guten Leben reden können. Die Integrität einer Person hat keineswegs auf lückenlose Weise Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit aufzuweisen. Sie muss nicht vollkommen frei von Integritätsmängeln der Konfliktscheue, Selbsttäuschung und Willensschwäche sein. Sie braucht auch nicht schon umfassend durch die Moral geschützt und durch Anerkennung nachhaltig abgesichert zu sein. Vielmehr reicht es aus, wenn all diese Voraussetzungen weitestgehend erfüllt sind. Die hier präsentierte Idee der Integrität ist lediglich als ein - wenn auch anspruchsvolles "Leitbild" zu verstehen. Es muss durchaus graduelle Abstufungen zulassen, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil seine vollständige Verwirklichung auf-

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grund so mancher aporetischen Implikation dieses Ideals in diesem Leben ohnehin nicht erwartet werden kann. Nicht alle Menschen haben Integrität, aber alle haben das Bedürfnis nach Integrität. Man sollte sich die Idee der Integrität daher weniger - klassifizierend - als eine Eigenschaft vorstellen, die man entweder hat oder aber vermissen lässt, sondern - eher prozesshaft - als einen in Realisierung begriffenen "Anspruch" an sich selbst und an andere. (4) Aus den zahlreichen Einzelbestimmungen der Integrität ergibt sich zweifellos ein insgesamt komplexes Abhängigkeitsverhältnis zwischen den jeweiligen Charakteristika. Auch in lebenspraktischer Perspektive können die unterschiedlichen Integritätsaspekte kaum isoliert voneinander betrachtet werden, da Einbußen und Defizite in einzelnen dieser Hinsichten auf andere durchgreifen: Ein Verlust an Selbsttreue kann zu einem Verlust der Integriertheit führen, eine Einbuße an Rechtschaffenheit zu einem Verlust der Ganzheit. Konfliktscheue kann Willensschwäche mit sich bringen, Willensschwäche wiederum mag Selbsttäuschungen provozieren. Moralische Verletzungen können mit Anerkennungsverlusten einhergehen, unterschiedliche invasive Übergriffe mögen miteinander verzahnt sein. Der Versuch einer evaluativen Skalierung all dieser Integritätsmerkmale wäre daher unangebracht. Sie alle benennen notwendige Bedingungen der Integrität. Im Einzelnen brauchen sie zwar keineswegs zu jeder Zeit vollständig erfüllt zu sein, ihre völlige NichtErfüllung kann jedoch durch keinen der jeweils anderen Aspekte kompensiert werden. (5) Die hier bereits verschiedentlich umrissene Forderung, die Integrität habe mit ihren eigenen "Schwächen" zu rechnen, muss mit der nicht weniger zwingenden Erkenntnis einhergehen, dass sie zugleich auch zu übertriebenen "Stärken" neigen kann. Wenn Selbsttreue in ideologischen Rigorismus ausartet, Rechtschaffenheit in sittliche Konformität, Integriertheit in psychische Zwanghaftigkeit oder Ganzheit in psychophysische Steifheit, dann schlägt der Besitz von Integrität in deren Verlust um. Eine Person, die sich niemals Ausnahmen und Illusionen gönnt, die sich von anderen Menschen nie irritieren lässt, ja, diesen anderen gegenüber nicht einmal die geringste Angriffsfläche bietet, eine solche Person zwängt ihre Integrität in ein Korsett, das ihr jegliche Vitalität und Spontaneität abschnürt. (6) Zu guter Letzt sollten mit Blick auf die anthropologischen Implikationen des hier umrissenen Integritätskonzeptes drei zentrale Problemstellungen unterschieden werden: (a) die Annahme eines menschlichen Bedürfnisses nach Integrität, (b) die Frage nach einem menschlichen Vermögen zur Integrität sowie (c) ihr spezifischer Besitz. Nur in der ersten Hinsicht, d.h. im Zuge der Annahme eines buchstäblich angeborenen Bedürfnisses, handelt es sich um eine anthropologische Prämisse im starken Sinne. Dagegen ist die Unterstellung, Menschen hätten prinzipiell auch ein Vermögen zur Integrität, allenfalls in einem schwachen Sinne als anthropologisch aufzufassen, da wir davon

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ausgehen müssen, dass nicht alle Menschen, sondern in erster Linie eben nur Personen die "volle" Chance auf Integrität besitzen. Folgerichtig kann auch ihr Besitz nicht schon als anthropologische Konstante gesetzt werden. Nicht alle Menschen und nicht einmal alle Personen haben umfassend Integrität. Um ein Leben in Integrität führen zu können, müssen zahlreiche Bedingungen erfüllt sein, die wir nicht schon als von "Natur" aus gegeben betrachten können. Vielmehr lässt sich aus der hier sechsten und vorerst letzten Einschränkung der Integritätsproblematik der folgende Schluss ziehen: Die normative Dringlichkeit der Integritätsidee wächst proportional zum Abnehmen anthropologischer Garantien. Aber kommen wir nun endlich zu jenem bereits mehrfach angekündigten Spaziergang durch die unmittelbare Nachbarschaft des Integritätsbegriffes. Wir werden uns dabei auf lediglich drei besonders traditionsreiche Begriffspaare konzentrieren müssen. Zunächst wird der Zusammenhang von "Würde und Ehre" erläutert werden. Hier werden sich vor allem mit Blick auf den Aspekt menschlicher Verletzbarkeit große Ähnlichkeiten mit dem Integritätsbegriff aufweisen lassen (5.1). Anschließend wird es um das Verhältnis von "Freiheit und Autonomie" gehen, wobei der Gesichtspunkt willentlicher Selbstbestimmung im Vordergrund steht (5.2). Daraufhin werden wir uns dem Begriffspaar "Authentizität und Wahrhaftigkeit" zuwenden. Dabei wird der Aspekt des Einklangs von Lebensvollzug und ethisch-existenziellem Selbstbild als Bezugspunkt zur Integritätsidee hervortreten (5.3). Allerdings sollen die systematischen Berührungspunkte zwischen dem Integritätsbegriff und den drei verwandten Begriffspaaren erst abschließend ausdrücklich und ausführlich herausgearbeitet werden (5.4). Dass wir uns diesen Vergleich für den Schlussteil des Kapitels aufheben, geschieht in der Absicht, die konkurrierenden Termini nicht schon von vomherein durch die Brille der Integritätsanalyse zu lesen. Die nähere Verwandtschaft des Integritätsbegriffes soll zunächst in ihrem jeweiligen normativen Eigenrecht zur Geltung kommen. Damit soll nicht zuletzt der Eindruck vermieden werden, eine noch so komplexe Integritätskonzeption könne sämtliche konkurrierenden Begriffe in sich "aufheben".

5.1

Würde und Ehre

Wenden wir uns zunächst dem Begriff "Würde" zu, dem in den Moral- und Rechtsvorstellungen der Modeme ein zweifellos fundamentaler Stellenwert zukommt. So beginnt Artikel 1 des wohl symbolträchtigsten Dokuments der modernen Moral- und Rechtsentwicklung- gemeint ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948- mit den Worten: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren", und zwar, so fügt Artikel 2 hinzu, "ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Ge-

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schlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand". Aber auch das etwa zur selben Zeit verfasste Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nimmt seinen Ausgang von der Idee einer Würde, von der es heißt, sie komme dem Menschen unterschiedslos als solchem zu. So lautet Artikel 1, Absatz 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." So sehr der Würdebegriff aber nach dem zweiten Weltkrieg mehr und mehr in den Rang einer Fundamentalnorm gehoben worden ist, so unklar ist bei genauerem Hinsehen doch bis heute, was exakt darunter zu verstehen sein soll. Wer die Aussage "Die Würde des Menschen ist unantastbar" einmal genauer unter die Lupe nimmt, wird sogleich feststellen, dass, wie vertraut uns der Wortlaut des Satzes auch immer erscheinen mag, im Alltag durchaus auch gegenteilige Ansichten geläufig sind, ja, vielmehr kann überhaupt gar nicht bestritten werden, dass die Würde des Menschen faktisch antastbar ist. 1 So verbleiben hinsichtlich der in Artikel 1 festgeschriebenen Unantastbarkeit der Menschenwürde mindestens drei Interpretationsmöglichkeiten: (1) Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten Recht, stattdessen irren unsere Alltagsintuitionen, denn die Würde des Menschen ist tatsächlich unantastbar. (2) Die Väter und Mütter des Grundgesetzes sind im Irrtum gewesen, stattdessen stimmen unsere Alltagsintuitionen, denn die Würde des Menschen ist buchstäblich antastbar. (3) Beide haben Recht und Unrecht zugleich, da Artikel 1 lediglich eine gezielt eingebaute grammatikalische Ungenauigkeit beinhaltet. Die Indikativform "ist unantastbar" soll das Bestehen eines Sachverhaltes bloß suggerieren. Wäre die Würde tatsächlich unantastbar, müsste sie nicht eigens unter Schutz gestellt werden. In Wirklichkeit ist keine Tatsache im strikten Sinne gemeint, sondern lediglich eine besonders starke Forderung, nach der die Würde des Menschen unter gar keinen Umständen angetastet werden darf. Diese vermittelnde Position ist denn auch die in rechtsdogmatischer Hinsicht noch immer geläufigste. 2

2

Siehe Franz Josef Wetz (1998): Die Würde des Menschen ist antastbar, Stuttgart: Klett-Cotta. Es gibt ein älteres Buch mit demselben Titel: Ulrike Meinhof (1994): Die Würde des Menschen ist antastbar, Berlin: Wagenbach. Trotz der heftig umstrittenen Neukommentierung des Artikel 1 durch Matthias Herdegen im prominentesten aller Grundgesetzkommentare: Theodor Maunz/ Günter Dürig u.a. (Hg.) (1958/2003): Grundgesetz. Kommentar, München: Beck (42. Ergänzungslieferung). Einschlägig war bislang der Vorläufer-Kommentar von Günter Dürig. Siehe aber auch ders. (1956): "Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde", in: Archiv des öffentlichen Rechts, 81/1956.

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Verbleibt aber vielleicht dennoch die Möglichkeit, dass der Indikativ in Artikel 1 nicht bloß moralische und rechtliche Sollgeltung besitzt, sondern auch einen spezifischen kognitiven Wahrheitsgehalt? Was aber genau hätte er dann zu bedeuten? Eine Antwort auf diese Frage lässt sich vermutlich erst dann formulieren, wenn zuvor geklärt ist, was überhaupt den Inhalt der Würdeidee ausmacht. Blickt man zunächst auf die historischen Quellen, aus denen sich die heutige Verwendung des Würdebegriffs speist, so offenbart sich ein Bedeutungswandel, der sich, grob sehen, in drei Phasen vollzogen hat. 3 In der römischen Antike zielte der Würdebegriff (lat. dignitas) auf die herausgehobene Stellung einer besonderen Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Staatsmänner und Politiker genossen aufgrund der verantwortlichen Ämter, die sie innerhalb ihres Gemeinwesens bekleideten, einen besonderen Ruf, der ihre Würde begründete. Im Rahmen der mittelalterlichen Theologie jedoch wurde jene die privilegierte Stellung einer einzelnen Persönlichkeit betreffende Bedeutung des Würdebegriffs auf die herausgehobene Stellung des Menschen übertragen, die dieser innerhalb der göttlichen Gesamtordnung einnehmen soll. Von nun an kam dem Menschen als solchem, d.h. ungeachtet all seiner Unterschiede, eine besondere Dignität zu, weil ihm als dem "Ebenbild Gottes" eine gegenüber allen übrigen Lebewesen bevorzugte Rolle im göttlichen Schöpfungsplan zuerkannt worden war. Im Zuge von Renaissance und Aufklärung schließlich, und zwar zunächst durch Pico della Mirandola und später dann durch Immanuel Kant, wird dieser universalistisch gewendete Würdebegriff säkularisiert, d.h. von theologischen Begründungslasten "befreit". Der Mensch besitzt Würde fortan nicht mehr deshalb, weil aus dem Jenseits ein göttlicher Glanz aufihn fallt, sondern weil er sich im Diesseits als ein Erdenbürger wie jeder andere erweist, der ein durch Vernunft geleitetes, selbstbestimmtes Leben zu bestreiten hat. Wenn in unseren Tagen von Würde die Rede ist, dann ist zumeist einer der beiden zuletzt genannten Bedeutungshorizonte, der theologische oder aber der säkulare, im Spiel. 4 Glauben die einen Interpreten, bei der Bestimmung des Würdebegriffs gar nicht ohne Bezug auf eine göttliche Instanz auskommen zu können, die allein die Autorität besitzen soll, dem Menschen Würde einzuhauchen, so gehen andere davon aus, dass eine plausible Begründung der Würdeidee auch ohne theologische Argumente gelingen muss, wenn sie in der modernen, pluralistischen Welt überzeugen können soll. 5 Aber ganz

3 4 5

Vgl. Kurt Bayertz (1995): "Die Idee der Menschenwürde: Probleme und Paradoxien", in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 4/1995. Aber auch die erste Bedeutung hat überlebt; z.B. in der Wendung "in Amt und Würden". Für die erste Position: Robert Spaemann (1987a): "Über den Begriff der Menschenwürde", in: ders. (1987b ): Das Natürliche und das Vernünftige, München:

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gleich, wie man sich hier entscheiden mag, unter den verschiedensten Interpreten des Würdebegriffs herrscht heute doch weitgehend Einigkeit darüber, dass ein universalistischer Gattungsbegriff der Menschenwürde auf spezifisch anthropologische Charakteristika verweisen muss, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, eine besondere Dignität der eigenen Lebensform zu behaupten. Um welche Eigenschaften aber handelt es sich? Als philosophiegeschichtlich bedeutendster Kronzeuge eines solchen universalistischen Würdeverständnisses gilt Immanuel Kant. Dieser hatte den Würdebegriff in einen notwendigen Zusammenhang mit dem spezifisch menschlichen Vermögen zur moralischen Selbstbestimmung gebracht. Nach Kant kommt dem Menschen deshalb Würde zu, weil dieser sich zum Herrscher über die eigenen Triebe, Affekte und Neigungen oder, um es mit Freud zu sagen, zum Herrn im "eigenen Haus" aufzuschwingen vermag. Das Vermögen zur moralischen Selbstgesetzgebung, d.h. zur Einsicht in den kategorischen Imperativ, begründet die Würde des Menschen: "Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur." 6 Während bis heute zahlreiche Interpreten an dieses kantianische Würdeverständnis anknüpfen, ist es doch von anderen verschiedentlich für die darin vorgenommene Engführung auf Fragen der Moral kritisiert worden. 7 Vielmehr lasse sich die Würde des Menschen an der Art und Weise ablesen, ob und wie der Mensch seine unterschiedlichsten, d.h. nicht nur moralischen Interessen und Lebenseinstellungen miteinander in Einklang zu bringen vermag, ohne gegebene Konflikte zwischen ihnen von vomherein zugunsten des Sittengesetzes zu entscheiden.R Ganz gleich jedoch, ob man hier Kant oder seinen Kritikern folgen will, in beiden Fällen zielt der Würdebegriff auf eine Art menschliches Minimum, an dem eine Person partizipieren können muss, wenn sie ein wahrhaft menschenwürdiges Leben führen will. Wie aber genau ist der Inhalt dieses Minimums beschaffen? Wenn man sich zunächst fragt, wie es zu der heutigen Prominenz des Würdebegriffs hat kommen können, so ist dessen Boom von langer Hand vorbereitet worden, und zwar durch den historischen Niedergang eines verwandten und einst wohl nicht weniger bedeutsamen normativen Leitbegriffs. Gemeint ist der Begriff "Ehre", der seine Blütezeit in den traditionellen, d.h. hierarchisch und ständisch gegliederten Gesellschaften des 18. und frühen 19.

6 7 8

Piper. Für die zweite: Otfried Höffe (2001 ): "Wessen Menschenwürde?", in: Christian Geyer (Hg.) (2001): Biopolitik, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Immanuel Kant (1786/1984): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Stuttgart: Reclam, S. 89 (Ak. 436). Der erste war Friedrich Schiller (1793/o.J.): Über Anmut und Würde, in: Werke, Bd. 12, Berlin u. Leipzig: Bong & Co. Dazu Brad Stetson (1998): Human Dignity and Contemporary Liberalism, Westport Praeger.

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Jahrhunderts gehabt haben dürfte. Erst mit dem im 20. Jahrhundert vollzogenen Übergang zu stärker egalitären Sozialordnungen scheint der Ehrbegriff allmählich dem Würdebegriff Platz zu machen. 9 Wodurch aber unterscheiden sich diese beiden Begriffe und in welcher Beziehung stehen sie zueinander? Um ihre jeweiligen Charakteristika etwas genauer hervortreten zu lassen, lohnt eine Differenzierung anhand der folgenden fünf Fragen: (a) Welches "Spezifikum" des Menschen bildet jeweils die Grundlage dafür, dass wir ihm Ehre bzw. Würde zusprechen? (b) Welche Form der "Anerkennung" lassen wir der Person dabei jeweils zukommen? (c) Welches spezifische "Selbstverhältnis" wird ihr dadurch vermittelt? (d) Wie genau kommt dieses Selbstverhältnis zum "Ausdruck"? (e) Welcher Art von "Übergriffen" sind Personen, die nach Ehre bzw. Würde streben, ausgesetzt? (a) Es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass sich der Würdestatus eines Menschen ungeachtet all seiner spezifischen Eigenarten zu erweisen hat, d.h. allein aufgrund der Tatsache, dass er, wie jeder andere Mensch auch, ein prinzipiell gleichwertiges Mitglied der Menschengemeinschaft ist. Es ist demnach schlicht das Menschsein als solches, welches den Bezugspunkt der Würde abgibt. Demgegenüber stand und steht der Begriff Ehre - heute würde man wohl eher von "Ansehen", "Prestige" oder auch "Ruf' sprechen- für den nicht selten umstrittenen, ja, umkämpften Status eines jeweils bestimmten Individuums im Rahmen einer ebenso bestimmten Gemeinschaftsordnung. 10 Während dem Menschen Würde unterschiedslos als einem Gleichen unter Gleichen zukommt, beansprucht er Ehre, insofern er unter diesen Gleichen immer auch eine besondere Person ist, die sich vor dem Hintergrund der Wertvorstellungen ihrer Gemeinschaft jeweils ganz spezielle Verdienste zu erwerben versucht. Während also Würde ein prinzipiell unveräußerliches Gut darstellt- Menschen sind und bleiben eben Menschen- fragen der Ehrbegriff und seine modernen Pendants nach dem verantwortungsvollen Beitrag, den jeder Einzelne zum Bestand und Gelingen des "großen Ganzen" leistet. 11 (b) Fragt man nach dem eigentümlichen Charakter einer spezifischen Ehrerweisung- man denke z.B. an ein Lob, an die Verleihung einer Verdienstmedaille oder auch an eine feierliche Grabrede-, so wäre von "sozialer Wertschätzung" zu sprechen, die einer Person aufgrund von gesellschaftlichem Ansehen oder Prestige entgegengebracht wird. Ein ehrenhafter Mensch hat 9

Hier soll kein völliges Verschwinden des Begriffs, sondern lediglich dessen Aus-der-Mode-Kommen behauptet werden. Siehe dazu den einschlägigen Exkurs in: Peter L. Berger/Brigitte Berger/Hansfried Kellner (1975): Das Unbehagen in der Modernität, Frankfurt/Main u. New York: Campus. Vgl. auch die Beiträge in: Ludgera Vogt/Amold Zingerle (1994): Ehre, Frankfurt/Main: Suhrkamp. I 0 Zum "Kampf um Ehre" siehe die ethnologischen Abschnitte in: Pierre Bourdieu (1976): Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt/Main: Suhrkamp. 11 Vgl. dazu und für dass Folgende Honneth (1992); Margalit (1997).

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den Wunsch oder gar Anspruch, in seinen je besonderen Leistungen bestätigt und anerkannt zu werden. Dagegen nennen wir die dem Würdebegriff korrespondierende Form der Anerkennung für gewöhnlich "Achtung". Wenn sich eine Person in dem Sinne menschenwürdig behandelt fühlt, dass sie von anderen als ein ebenbürtiges Wesen "aus Fleisch und Blut", und nicht als Tier, Ding oder als Maschine, wahrgenommen wird, dann mag sie spüren, dass sie als Gleiche unter Gleichen Bestätigung findet, also geachtet wird. (c) Diese beiden Formen der Anerkennung- erinnert sei an Kapitel 4 sind unabdingbare Voraussetzung dafür, dass Individuen ein unverzerrtes Selbst- und Weltverhältnis ausbilden können. Sie müssen sich zugleich geachtet und wertgeschätzt wissen, um mit anderen reziproke Wechselverhältnisse der Selbständigkeit und Abhängigkeit unterhalten zu können. Dabei nennen wir jene Form der existentiellen Selbstbeziehung, die durch Ehrerweisungen bzw. durch soziale Wertschätzung vermittelt wird, "Selbstwertgefühl" oder auch "Selbstwertschätzung". Werden wir hingegen menschenwürdig behandelt, d.h. als gleichwertige Menschen geachtet und respektiert, stellt sich das Gefühl der "Selbstachtung" ein. (d) Müssen Selbstachtung und Selbstwertschätzung zunächst als "innere" Einstellungen beschrieben werden, die das eigene Selbstverhältnis charakterisieren, so können diese Einstellungen zum Ausdruck kommen, wenn eine Person sie auch anderen gegenüber glaubhaft zu "verkörpern" vermag. Gemeint ist hier das äußere Erscheinungsbild bzw. das soziale Auftreten einer Person, welches der inneren Überzeugung, achtens- und schätzenswert zu sein, mal mehr, mal weniger adäquat sein kann. Im Fall von Würde und Selbstachtung loben wir dann gegebenenfalls die "würdevolle Haltung", die ein Mensch annimmt, wir attestieren ihm "Rückgrat" oder einen "aufrechten Gang". 12 In Fällen von verkörperter Ehre und Selbstwertschätzung spricht man hingegen gern von "Stolz"; man denke hier z.B. an das zufriedene Lächeln, das einem Schulterklopfen folgt, oder auch an das selbstbewusste Tragen der oben verliehenen Verdienstmedaille. (e) Der Umstand, dass Menschen ihre Würde und Ehre nach außen hin verkörpern wollen, macht sie anfällig für Angriffe und Verletzungen. Dort, wo eine Person "menschenunwürdige" Lebensbedingungen vorfindet, stellt sich unweigerlich die Frage, wie Selbstachtung aufrechterhalten werden kann, wenn die Person nicht zugleich auch den sozialen Freiraum besitzt, ihr gemäß leben und agieren zu können. Ähnliches gilt für die Ehre: Wie soll ein Mensch sein Selbstwertgefühl bewahren, wenn er gar nicht erst die Möglichkeit eingeräumt bekommt, zum Gelingen der Solidargemeinschaft beitragen zu dürfen? Angriffe auf jenen Freiraum, den die Würde braucht, werden

12 So die zentrale Metapher bei Ernst Bloch (1961 ): Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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"Demütigung", "Erniedrigung" oder auch "Diskriminierung" genannt. Sie machen dem Menschen den gleichen Wert als Mensch streitig. Verletzungen von Ehre und Prestige heißen hingegen "Kränkung", "Beleidigung" oder auch "Verunglimpfung". Sie schaden dem Ansehen eines Menschen, der stolz auf seine besonderen Leistungen und Eigenschaften ist. Kehren wir im Anschluss an diesen knappen Begriffsvergleich zunächst zu unserer Ausgangsfrage nach dem genaueren Inhalt der Würdeidee zurück. 13 Wenn wir die genannten fünf Definitionsmerkmale zusammenziehen, ergibt sich ein auf den ersten Blick eher befremdliches Bild: Auch wenn die Menschenwürde (a) einen universellen Wert darstellt, an dem jedes Individuum bereits qua Menschsein partizipiert und der uns (b) in der Achtung durch andere zuteil wird, so ist dieser Wert doch nur dann wirklich vollständig realisiert, wenn (c) die betroffene Person von einem entsprechenden Gefühl der Selbstachtung getragen ist, wenn sie (d) dieses Gefühl nach außen hin zu verkörpern vermag und dabei (e) adäquate Lebensumstände vorfindet, in denen ihr ein "aufrechter Gang" möglich ist. Diese komplexe Begriffsbestimmung mag deshalb auf Anhieb strittig anmuten, weil sie die Annahme zu beinhalten scheint, dass die Würde des Menschen nicht zuletzt eine auf Selbstachtung basierende "Haltung" darstellt. 14 Folglich könnte eine konkrete Einbuße an Würde von einer sozialen Missachtungserfahrung zwar angestoßen werden, letztlich aber müsste sie wohl als das Ergebnis eines Mangels an Selbstachtung gedeutet werden. 15 Zunächst ein Beispiel: Eine ehemaligen KZ-Insassin antwortet in einem Fernsehinterview auf die Frage, wie sie das Grauen des Konzentrationslagers hat überleben können, mit den Worten: "Weil ich niemals meine Würde verloren habe." Diese Äußerung mag zunächst irritieren, denn es sind doch schlichtweg keine schlimmeren, eben "unwürdigeren" Lebensbedingungen denkbar als jene innerhalb der nationalsozialistischen Todeslager. Gehen wir aber davon aus, dass die Frau den Sinn des Würdebegriffes nicht verfehlt hat, so deutet ihr ohne Zweifel extremes Beispiel auf die Möglichkeit hin, dass ein Mensch äußersten Gräueltaten ausgesetzt sein kann, diese am Ende aber dennoch mit "erhobenem Haupt", d.h. ohne vollständigen Verlust der Selbstachtung, zu überleben vermag. Auch wenn die Wahrung der Würde in solchen Situationen nahezu unmöglich sein muss, so kann sie sich schließlich doch als nicht vollkommen unmöglich erweisen. Wenn dies aber richtig ist, dann wären dem ohnehin schon komplexen Begriffsbild noch zwei weitere wichtige definitorische Würdemerkmale hin13 Man braucht das Folgende bloß anhand des Begriffs der Selbstwertschätzung zu variieren, um zu entsprechenden Bestimmungen des Ehrbegriffs zu gelangen. 14 Bereits Schiller sprach in diesem Zusammenhang von Würde als "Ausdruck". 15 Dazu vor allem Nildas Luhmann (1965): Grundrechte als Institution, Berlin: Duncker & Humblot, Kap. 4; Spaemann (1987a).

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zuzufügen. Dramatische Beispiele 16 dieser Art zeigen, dass (f) die Bewahrung der eigenen Würde immer zumindest auch von den Betroffenen selbst abhängt und es eben darum (g) keinen direkten Automatismus geben kann zwischen dem Angriff auf die Würde eines Menschen und ihrem tatsächlichen Verlust. Damit deutet sich auf überraschende Weise die Möglichkeit an, dass die Würde des Menschen tatsächlich in einem ganz bestimmten Sinne unantastbar "ist". Zwar sind Menschen nicht selten massiven Übergriffen ausgesetzt. Dadurch können sie Gefahr laufen, aufgrund der ihnen versagten Anerkennung schließlich auch ihre Selbstachtung einzubüßen. Aber ihre Würde kann ihnen nicht schon gänzlich von außen genommen werden, weil ihre Selbstachtung einen Rest an Unzugänglichkeit aufweist. So hart es klingen mag, letztlich sind sie es, die angesichts ihrer sozialen Lebensumstände Würde bewahren müssen. 17 Allerdings muss an dieser Stelle sogleich das Missverständnis vermieden werden, dass eine entsprechende Einbuße an Selbstachtung bereits so etwas wie eine Teilschuld am Verlust der eigenen Würde bewirken würde. Aus Gründen, die überwiegend nicht in ihrer Macht liegen, besitzen manche Menschen schlicht mehr Kraft als andere, ihre Selbstachtung zu bewahren. Behauptet werden soll an dieser Stelle lediglich: Es gibt keinen Verlust der Würde ohne Verlust der Selbstachtung. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Betroffenen darum schon allein oder auch nur weitgehend für die Bewahrung ihrer Würde verantwortlich wären. Es gilt durchaus: Ein Mensch kann Würde dann- und nur dann- besitzen, wenn er von nichts und niemandem in seinen Lebensvollzügen derart beeinträchtigt wird, dass er seine Selbstachtung einbüßen muss. Missachtung, Demütigung oder Diskriminierung sind und bleiben eine Gefahr für die Menschenwürde, eben weil sie dem Betroffenen jenen sozialen Freiraum streitig machen wollen, innerhalb dessen er seine Selbstachtung aufrecht zu erhalten und zu verkörpern versucht. Demnach liegt eine menschenunwürdige "Behandlung" überall dort vor, wo dem Menschen dieser Freiraum genommen werden soll; z.B. in Form von körperlicher Gewalt oder auch durch den Entzug der Privat- bzw. Intimsphäre. Von einer faktischen "Verletzung" der Würde können wir immer dann sprechen, wenn, bedingt durch soziale Umstände, das Leben in Selbstachtung unwahrscheinlicher wird. Ein vollständiger "Verlust" der Würde kann jedoch erst dann eintreten, wenn die betroffene Person ihre Selbstachtung verliert. Das bedeutet auch, dass es ein spezifisches Grund- oder Menschemecht allein auf "Schutz" der Würde geben kann, und zwar im Sinne eines Schutzes des Freiraums der Würdedarstellung, nicht aber ein Recht "auf' Würde. Der wie auch 16 Man denke hier auch an die zahlreichen Darstellungen des ans Kreuz geschlagenen Jesus Christus, dessen Antlitz, trotzdes Leidens, nur zu oft als "würdevoll" beschrieben wird. 17 Vgl. Spaemann (1987a).

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immer geringe Eigenanteil bei der Bewahrung der Würde macht es den Menschen unmöglich, sich die Menschenwürde als solche gegenseitig zu garantieren. Sie werden sich allenfalls deren bestmöglichen Schutz zusichern können.18 Eben dieser letzte Rest an Unvertretbarkeit scheint mitzuschwingen, wenn es heißt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Aufgabe aller stattlichen Gewalt." Angesichts dieses Würdebegriffes - Würde als eine durch soziale Anerkennung vermittelte Haltung verkörperter Selbstachtung - stellt sich allerdings sogleich die Frage, wie sich diese Begriffsbestimmung in die aktuelle Würdedebatte eintragen lassen soll, die derzeit vor allem im Bereich der "Bioethik" geführt wird. 19 Zum Problem müssen die obigen Definitionsmerkmale spätestens in dem Moment werden, wo wir es mit menschlichen Lebensformen zu tun haben, denen es gewissermaßen "von Natur aus" an Selbstachtung und der Möglichkeit einer adäquaten Würdedarstellung mangelt. So haben die biomedizinischen Debatten um Abtreibung, Sterbehilfe, InVitra-Fertilisation, Stammzellforschung, Klonen, Präimplantationsdiagnostik, Gentherapie etc. unweigerlich die Frage nach dem Umfang des Adressatenkreises aufgeworfen, dem wir Würde und Würdeschutz zuzuerkennen haben. Wenn Würde auf verkörperter Selbstachtung beruht und uns diese durch Anerkennung überhaupt erst vermittelt wird, müssen dann nicht menschliche Embryonen, aber auch geistig Behinderte oder so genannte Wachkomapatienten, von vomherein aus dem Adressantenkreis der Menschenwürde herausfallen? Zum Abschluss werden wir uns - in gebotener Kürze und in Form eines Statements- genau diesem Problem zuwenden. 20 Aus den definitorischen Bestimmungen (a) bis (g) ergibt sich folgende Fassung des Problems: Der Mensch, und zwar jeder Mensch, hat an der Würde teil, insofern er qua Menschsein an einem Potenzial partizipiert, welches sich typischerweise oder besser idealiter durch den Besitz eines Selbstachtung generierenden Freiraums auszeichnet. Allerdings kann es sein - deshalb "idealiter" - dass die Nutzung dieses Freiraums im konkreten Einzelfall entweder "noch nicht", wie bei Embryonen, "nicht vollständig", wie z.B. bei geistig Behinderten, oder auch "nicht mehr", wie etwa bei Wachkomapatienten, möglich ist. 21 All diese Mitglieder der menschlichen Spezies partizipieren an der Würde, auch ohne sie bereits bzw. zurzeit bzw. in vollem Ausmaß

18 Vgl. Ronald Dworkin (1994): Die Grenzen des Lebens, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, bes. S. 324, Fn. 56. 19 Dazu exemplarisch Otfried Höffe u.a. (2002): Gentechnik und Menschenwürde,

Köln: Dumont; Gregor Damschen/Dieter Schönecker (Hg.): Der moralische Status menschlicher Embryonen, Berlin u. New York: de Gruyter. 20 Das Folgende habe ich ausgeführt in: Amd Poilmann (2004), "Menschenwürde", in: Göhler/Iser/Kemer (2004). 21 Vgl. Dworkin (1994). 301

DIE NÄHERE VERWANDTSCHAFT DER INTEGRITÄT

realisieren zu können. Nicht jeder Mensch hat die volle Würde, aber jeder Mensch hat an der Würde teil. Deren Idee ist somit nicht auf ein faktisch vorhandenes, aktualisiertes Vermögen verkörperter Selbstachtung bezogen, sie lebt vielmehr von der Unterstellung eines Lebensideals, dem auch jene oben genannten Menschen folgen würden, wenn und insoweit sie es könnten. Die Tatsache, dass die Verantwortlichen in Recht und Medizin sich häufig doch dafür entscheiden, auch diesen menschlichen Lebensformen, trotz ihrer natürlichen Einschränkungen, Würdeschutz zuzusprechen und sie entsprechend zu behandeln, lässt zwei Dinge deutlich werden: Erstens sollten wir auch in solchen Grenzfällen noch von der prinzipiell gegebenen Möglichkeit zu einem Leben in Selbstachtung und Würde ausgehen, ohne dass dieses Leben jedoch Wirklichkeit zu sein hat, damit wir entsprechend respektvoll mit ihm umgehen. Zweitens geben derart schwerwiegende Beeinträchtigungen der individuellen Chance auf ein Leben in Würde den philosophischen Prüfstein ab, an dem zwar fraglich wird, aber nicht schon ausgeschlossen ist, ob es sich noch um ein im Ganzen menschenwürdiges Leben handelt oder nicht. Demnach sind alle menschlichen Lebensformen insofern als gleich zu achten, als wir a priori unterstellen können, dass ihnen allen an einem Leben in Würde und Selbstachtung gelegen ist bzw. wäre. Menschen sind jedoch graduell verschieden in dem Ausmaß, in dem sie Würde und Selbstachtung faktisch ausbilden und verkörpern. In der bioethischen Debatte wäre stärker als bisher die Einsicht zu berücksichtigen, dass bei der Frage nach dem Umfang des Adressatenkreises der Menschenwürde zwei Probleme unbedingt auseinandergehalten werden müssen: die Frage, ob und in welchem Maße ein Mensch Würde besitzt, und die davon grundverschiedene, ob ihm ein gleiches Recht auf Schutz der Würde zusteht. Es hätte unmissverständlich deutlich zu werden, dass jede menschliche Lebensform an der Würde teilhat, wenngleich auf unterschiedliche Weise, und dass daher das Grund- und Menschenrecht auf Würdeschutz tatsächlich allgemein und uneingeschränkt gilt, ganz gleich, ob das menschenwürdige Leben im Einzelfall vollständig realisiert ist oder bloß eingeschränkt. Die Menschenwürde ist ein zerbrechliches Gut - eben deshalb ist sie aufrechtliche Sicherung angewiesen. Wir brauchen ein solches unbedingtes Recht auf Würdeschutz, gerade weil Menschen nicht schon alle im selben Maße Würde besitzen. Die grund- und menschenrechtliche Würdeschutzgarantie soll Freiräume schaffen, in denen möglichst alle Menschen ein ungehindertes Leben in Selbstachtung zu führen vermögen. Die medizinischtechnischen Entwicklungen unserer Zeit bringen diese Freiräume in Gefahr. Insbesondere dort, wo der reproduktionsmedizinische Fortschritt heute sogar einen "verbrauchenden" Zugriff auf das frühe menschliche Leben fordert, droht er dem werdenden Leben schlichtweg alles zu nehmen, was der Mensch zu einer würdevollen Existenz benötigen würde.

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FREIHEIT UND AUTONOMIE

5.2 Freiheit und Autonomie Ob in der Politik oder im Recht, ob in Debatten über Ethik und Moral, ob in Wirtschaft, Werbung oder Kunst, wohl kaum ein Terminus wird heute derart strapaziert wie der Begriff "Freiheit". Von der Warte postmetaphysischen Denkens aus mag man den Eindruck gewinnen, als habe man es hier mit einer der wenigen geschichtsphilosophischen Residualkategorien zu tun, die das von der so genannten Postmodeme ausgerufene Ende der "großen Erzählungen" haben überleben können. Dass der Mensch frei sein will und frei sein soll, scheint auch nach der historischen Diskreditierung heilsversprechender Utopien unumstritten zu sein. Auch wenn heute kaum noch jemand gewillt ist, von Emanzipation zu sprechen, deren Bezugspunkt, menschliche Freiheit oder auch "Autonomie", wie es oft gleichbedeutend heißt, ist im Visier der Gesellschaftskritik geblieben. Doch so grundlegend und überdies traditionsreich beide Begriffe auch sein mögen, philosophische Antworten auf die Frage nach ihrem genauen Inhalt fallen denkbar abwechslungsreich aus. Sie reichen von der als "individualistisch" oder gar als "libertinär" verpönten Auffassung, der Mensch sei allein dann wahrhaft frei und autonom, wenn er tun und lassen könne, was er wolle, bis zu der mit den Etiketten "kollektivistisch" oder auch "kommunitaristisch" versehenen und mancherorts nicht weniger verschmähten Überzeugung, echte Freiheit und Autonomie finde der Mensch lediglich dann, wenn er ganz in den Wertvorstellungen und Interessenlagen seiner Gemeinschaft aufgehe. 22 Innerhalb der im engeren Sinne philosophischen Diskussionen ist es inzwischen zum Standard geworden, an eine terminologische Unterscheidung anzuknüpfen, die Isaiah Berlin in seinem berühmten Essay "Two Concepts of Liberty" aus dem Jahre 1958 etabliert hat. Gemeint ist die Differenzierung zwischen "negativen" und "positiven" Freiheitsbegriffen. 23 Diese so populäre wie bis heute unscharf gebliebene Kontrastierung kann, so soll hier vorgeschlagen werden, auf mindestens zweifache Weise interpretiert werden. Berlin selbst hatte sie hauptsächlich auf politische Zusammenhänge gemünzt und dabei als Gegensatz zwischen "privater" und "öffentlicher" Freiheit verstanden. Diesbezüglich darf Benjamin Constant als wichtigster Vorläufer dieses dualistischen Freiheitsverständnisses gelten. 24 Inzwischen hat aber die gemeinte Unterscheidung eine ethisch-existenzielle Bedeutungserweiterung

22 Einen ersten Einblick in die traditionsreiche Debatte erhält man bei David Miller (1991) (Hg.): Liberty, Oxford: Oxford UP. 23 Dt. Isaiah Berlin (1995a): "Zwei Freiheitsbegriffe", in: ders. (1995b ): Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt/Main: Fischer. 24 Benjamin Constant (1819/1972): "Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen", in: ders. (1972): Politische Schriften, Werke IV, Berlin: Propyläen.

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erfahren. Dabei ist der Unterschied zwischen "Handlungs-" und "Willensfreiheit" in den Vordergrund gerückt, was wohl vor allem einer entsprechenden Kritik von Charles Taylor zu verdanken sein dürfte. 25 Wir werden uns der Reihe nach diesen drei Autoren zuwenden. Zuvor jedoch ein kurzes Wort zur Terminologie: In der nun folgenden Darstellung werden die Begriffe Freiheit und Autonomie zunächst weitgehend synonym verwendet, so wie das in der philosophischen Diskussion zumeist geschieht. Am Ende dieses Abschnitts wird jedoch eine Akzentsetzung vorgeschlagen werden, die einen differenzierteren Wortgebrauch nahe legt. 26 Wie bereits angedeutet: Es war Isaiah Berlin, der die schier unüberschaubar gewordene Vielzahl philosophischer Freiheitskonzeptionen seinerzeit nach einem verblüffend einfachen Begriffsmuster zu sortieren versucht hat. Philosophische Theorien der Freiheit, so Berlin, geben Antworten auf eine der beiden folgenden Fragen: Wie groß und von welcher Art ist der Spielraum, der dem Mensch eingeräumt werden muss, damit dieser, von anderen ungehindert, tun und lassen kann, was er will? Und von wem oder was geht die Kontrolle über sein Leben und Handeln aus? Der zunächst kaum augenfällige Unterschied beider Fragestellungen tritt erst dann hervor, wenn man die Art der Antworten vergleicht, die möglich sind. In der Regel haben wir es im ersten Fall, so Berlin, mit der zumeist gegenüber dem Staat und seinen Institutionen vertretenen Forderung nach Nicht-Einmischung zu tun. Die Frage nach einem Spielraum menschlichen Handeins zielt auf den Schutz vor staatlichen Übergriffen und auf die Abwesenheit äußeren Zwangs, und zwar vor allem in jenen Bereichen des Lebens, die unter dem Stichwort "Privatsphäre" zusammengefasst werden. Diese Ansätze sind, wie Berlin es ausdrückt, "negativ" gehalten, womit lediglich gemeint sein soll: Negative Freiheitsbegriffe kreisen um die Idee eines zunächst defensiv gefassten Freiseins von etwas. Ihr Ziel ist die Abwehr und Beseitigung all jener gesellschaftlichen Hindernisse und Schranken, die für das Individuum und seine freie Entwicklung schädlich sind. 27 Was aber genau es bedeuten würde, diese Freiräume dann auch offensiv zu nutzen, das wird von negativen Freiheitskonzeptionen traditionsgemäß offen gelassen. Ihnen gemein ist die anti-patemalistische Grundüberzeugung, dass jedes einzelne Individuum selbst zu entscheiden habe, ob und wie es seine Freiheit ausgestalten will. Wichtig ist solchen Ansätzen nur, dass überhaupt derartige Spielräume existieren und dass diese dann auch rechtlich 25 Charles Taylor (1988d): "Der Irrtum der negativen Freiheit", in: ders. (1988b ). 26 Vorab soll der Hinweis erfolgen, dass ich dabei insgesamt von der mir bis heute unerklärlich gebliebenen kantianischen Zuspitzung des Autonomiebegriffes auf spezifisch moralische Angelegenheiten absehen werde. Autonomie wird durchweg im Sinne ethisch-existenzieller Selbstbestimmung verstanden werden. 27 Berlin (1995a), S. 201 ff. 304

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garantiert sind. An der hier gleichwohl verbleibenden Leerstelle haken "positive" Freiheitskonzeptionen ein. Auch sie setzten ein individuelles Recht auf Selbstbestimmung voraus, doch geht es ihnen weniger darum, äußere Hindernisse der Freiheit zu erkunden. Sie sind vielmehr daran interessiert, den genaueren Vollzug der Freiheit zu charakterisieren. Ihr Hauptaugenmerk gilt nicht der Abwesenheit äußeren Zwangs, sondern der aktiven Ausgestaltung, d.h. der Praxis menschlicher Autonomie. Damit antworten positive Freiheitsbegriffe, im Gegensatz zu negativen, auf die zweite der beiden oben genannten Grundsatzfragen, indem sie dem Subjekt der Kontrolle über das Leben nachspüren. Ihnen gemein ist die Forderung, dass der Mensch "sein eigener Herr" zu sein habe. Seine Entscheidungen dürfen nicht fremdbestimmt sein, d.h. von anderen gefallt werden. Ziel ist vielmehr die selbstbestimmte Umsetzung eigenhändig gewählter Motive und die Realisierung eines autonom verfassten Lebensplans. Indem sie auf ein Leben in eigener Regie zielen, betonen positive Freiheitsbegriffe demnach das Freisein zu etwas. 28 Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als nähmen beide Typen von Freiheitskonzeptionen lediglich unterschiedliche Akzentsetzungen im Rahmen ein und derselben Freiheitsidee vor. So hat Gerald MacCallum29 in einer frühen Replik auf Berlin darauf aufmerksam machen wollen, dass eine komplexe Theorie der Freiheit ohnehin stets beide Aspekte aufzuweisen habe: den negativen Aspekt des Freiseins von etwas sowie den positiven eines Freiseins zu etwas. Sich konzeptionell auf die eine oder andere Seite zu schlagen, könne kaum angebracht sein, so MacCallum. Eine angemessene Freiheitsformel müsse vielmehr immer schon die folgende umfassendere Struktur aufweisen: X ist frei von Y, um Z zu tun, wobei der erste Halbsatz ersichtlich die negative, der zweite dagegen die positive Dimension der Freiheit betonen soll. Berlin selbst versteht sich freilich in erster Linie als ein glühender Anhänger negativer Freiheitstheorien, da diese dem Wertepluralismus der modernen Welt weit eher gerecht zu werden versprechen als positive Freiheitskonzeptionen, doch will er nicht schon bestreiten, dass auch letztere einem zentralen menschlichen Bedürfnis entgegenkommen. 30 Die These von einem "Gegensatz" zwischen negativen und positiven Freiheitsideen ist von Berlin dann auch nicht in erster Linie begrifflich gemeint, sondern ideengeschichtlich und politisch. Berlin glaubt nicht, dass zwischen positiven und negativen Freiheitsbegriffen notwendig eine Spannung bestehen muss, er geht vielmehr davon aus, dass sich eine solche Spannung historisch ergeben und zu einem Konflikt von weltpolitischer Bedeutung ausgeweitet hat. Was aber meint er damit? Berlin ist der Auffassung, dass beide Freiheitskonzeptionen ursprünglich eng miteinander verwoben waren, sich aber im historischen und politischen 28 Berlin (1995a), S. 211 ff. 29 Gera1d MacCallum (1967): "Negative and Positive Freedom", in: Miller (1991 ). 30 Dazu auch die Einleitung zu Berlin (1995b ), bes. Abschnitt TI.

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Prozess zunehmend verselbständigt haben, bis sie zuletzt direkt in ideologischen Widerstreit geraten sind, als aus ihnen nämlich konkurrierende Gesellschaftssysteme im Weltmaßstab erwuchsen. Damit liefert Berlin eine ideengeschichtliche Interpretation des "Kalten Krieges": Während die negativ gehaltene Forderung nach Abwesenheit äußeren Zwangs zum Grundrepertoire liberaler Rechtsstaatsauffassungen gehört, wie sie- bis heute - für die westliche kapitalistische Welt typisch sind, soll sich die positiv ausgerichtete Idee autonomer Selbstherrschaft in all jenen politischen und gesellschaftstheoretischen Überzeugungen niedergeschlagen haben, die sich einst, so wie Sozialismus und Kommunismus, den hehren Anspruch auf Volksouveränität, d.h. auf kollektive Selbstregierung, auf die Fahnen schrieben? 1 Spätestens im Zuge des nach dem Zweiten Weltkrieg ausbrechenden ideologischen Kampfes zwischen Ost und West sei insbesondere die positive Freiheitsidee auf eigentümliche und fatale Weise pervertiert worden. Berlin, der als Kind in Lettland die kollektivistische Freiheitsauffassung des Kommunismus am eigenen Leibe erfahren hae 2, nimmt hier die staatssozialistische Utopie kollektiver Brüderlichkeit und Einhelligkeit ins Visier, die zu Unrecht die Aussicht auf eine tatsächlich von allen gemeinsam ausgeübte Freiheit erweckt habe. Als emphatischer Pluralist, der von der Unausweichlichkeit, ja, Wünschbarkeit von Wertkonflikten überzeugt ist, muss Berlin davon ausgehen, dass die Idee einer Volkssouveränität im strikten Sinne, d.h. einer wahrhaft konsensuellen Regelung aller politischen Streitfragen, ein in dieser Welt uneirrlösbares und deshalb gespenstisches Versprechen bleibt. Zur politischen Propaganda verkommen, müsse der Freiheitsdrang, der sich in dieser Utopie ausdrückt, am Ende nahezu notwendig in neue Formen der Despotie umschlagen. Im Dienste einer höheren Wahrheit könne nunmehr jede Form von staatlichem Zwang als Erziehung zu künftiger Einsicht gerechtfertigt werden. 33 Dieser Tyrannei staatlich verordneter Homogenität sei der ideologische Counterpart des liberalen Nachtwächterstaates selbstredend vorzuziehen. Er mache Schluss mit der Idee "letzter Wahrheiten" und dem frommen Wunsch nach einer durch und durch rational eingerichteten Gesellschaftsordnung. Stattdessen schaffe er private Spielräume für die wertpluralistische Einsicht, dass die Frage, was gut und schlecht ist, niemals endgültig, für alle verbindlich und schon gar nicht in Stellvertretung entschieden werden kann. Bereits aus dieser kurzen Darstellung seiner Überlegungen dürfte hervorgehen, dass die verschiedentlich an Berlin geübte Kritik, dass auch er letztlich den Freiheitsbegriff verstümmele, indem er einseitig dessen positive Konno-

31 Berlin (1995a), bes. S. 210. 32 Michael Ignatieff (1999): Lwiah Berlin, München: Bertelsmann. 33 Vgl. auch Ferenc Tallar (1996): "Zwang zur Freiheit?", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 211996.

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tationen diskreditiere, am Kern seiner Überlegungen vorbeigeht. 34 Berlin wendet sich nicht etwa per se gegen die positive Freiheitsforderung nach Selbstbestimmung, sondern lediglich gegen deren historische Verabsolutierung zu Ungunsten komplementärer negativer Freiheitsrechte. Gleichwohl schenkt Berlin, damit ganz in liberaler Tradition stehend, der positiven Freiheitsidee inhaltlich keine weitere Aufmerksamkeit. Wie ein "dünner" Begriff positiver Freiheit beschaffen sein müsste, um mit negativen Freiheitskonzeptionen vereinbar zu sein, bleibt auch bei Berlin im Dunkeln. Mit dieser Leerstelle in seinen Überlegungen ist unmittelbar noch eine zweite Interpretationsschwierigkeit verbunden, die Frage nämlich, ob Berlins Unterscheidung ausschließlich für politische Kontexte Gültigkeit beanspruchen soll oder ob er sie auch in ethisch-existenzieller Hinsicht für fruchtbar hält. Was ist der Unterschied? Berufen wir uns noch einmal auf jene Formel, nach der Freiheit bedeutet: X ist frei von Y, um Z zu tun. Die hier vorliegende Verschachtelung negativer und positiver Freiheit kann selbst auf zweifache Weise verstanden werden: Entweder sie betrifft die gesellschaftspolitische Frage, ob der Staat seinen Bürger eine von institutionellen Übergriffen freie Privatsphäre lässt (negativ), ihnen zugleich aber auch einen rechtlich garantierten Anspruch auf kollektive Selbst- bzw. Mitbestimmung eimäumt (positiv). Die Politische Philosophie nennt dies für gewöhnlich das Zusammenwirken von "privater" und "öffentlicher" Autonomie. Oder aber die Formel ist auf eher individuelle, d.h. ethisch-existentielle Lebenszusammenhänge gemünzt und soll den in philosophischer Hinsicht nicht weniger traditionsreichen Unterschied von "Handlungs-" und "Willensfreiheit" hervortreten lassen. Hier steht die Frage im Vordergrund, ob eine Person durch äußeren Zwang oder ähnliche Hindernisse davon abgehalten wird (negativ), Handlungen auszuführen, die in ihrem freien Willen liegen, was allerdings die weitere Ermittlung notwendig macht, ob dieser Wille selbst als das Ergebnis zwangloser Meinungs- und Willensbildungsprozesseaufgefasst werden kann (positiv). Wenden wir uns zunächst genauer der ersten Unterscheidung zu. Im Jahre 1819 hält der Literat und Politiker Benjamin Constant eine Rede vor dem Pariser Athemie Royal, in der er, spürbar unter dem Eindruck von Revolution und Restauration stehend, Bilanz zu ziehen versucht: Die in Frankreich herrschende innenpolitische Situation, so Constant, sei das letztlich zwar wünschenswerte Ergebnis einer in ihren Auswüchsen jedoch weit weniger begrüßenswerten Entwicklung. 35 Constant hat hier die noch junge konstitutionelle Monarchie vor Augen. Hervorgegangen aus den Wirren einer nicht zuletzt durch den jakobinischen Terror geprägten Revolutions- und Reaktionszeit, stelle das neue Herrschaftssystem einen blutigen Kompromiss 34 Vgl. Rainer Forst (1996): "Politische Freiheit", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 2/1996. 35 Dazu und für das Folgende Constant (1819/1972).

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dar, für den, so der Kern von Constants These, eine unzulässige Vermengung zweier sich direkt widerstreitender politischer Freiheitsideen verantwortlich zu machen sei: einer "alten", d.h. antiken, und einer "neuen", d.h. modernen, Freiheitsauffassung. Was aber ist spezifisch neu an der zu Constants Zeiten aufblühenden modernen Freiheitsidee? Erst mit dem neuzeitlichen Staatsdenken, so Constant, ist die Idee "individueller Rechte" zum Durchbruch gekommen, nach der schlicht alle Staatsbürger den gleichen Anspruch auf einen gesetzlich garantierten Spielraum anmelden dürfen, in dem jeder Einzelne sein ganz privates Glück verfolgen darf, ohne von anderen oder dem Staat daran gehindert zu werden. Diese Freiheitsidee richtet sich vor allem gegen die Gefahr staatlicher Willkürakte, durch die ein gleiches Recht auf ethische Selbstbestimmung sowie der legitime Anspruch, niemand anderem als sich selbst und den geltenden Gesetzen unterworfen zu sein, massiv in Frage gestellt werden würden. Demnach bedeutet moderne Freiheit vorwiegend "private" Autonomie im Sinne persönlicher Freiheit. 36 Demgegenüber sei das Freiheitsverständnis der Antike von einer völlig anderen Überzeugung geleitet gewesen. Den "Alten", wie Constant sagt, ging es nicht etwa darum, das private Individuum aus den Angelegenheiten seiner politischen Gemeinschaft herauszuhalten, sondern schlicht um das genaue Gegenteil: Die politischen Systeme Spartas, Roms oder auch Athens fußten auf dem Recht, ja, der Pflicht ihrer Mitglieder, sich so aktiv wie möglich an den öffentlichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Die antike Idee von Freiheit und Autonomie zielte nicht, wie es die moderne Auffassung zu fordern scheint, auf eine Befreiung von staatlichen und institutionellen Vorgängen, sondern auf die direkte Partizipation an solchen Prozessen. Alte Freiheit meinte demnach "öffentliche" Autonomie im Sinne einer kollektiven Selbstregierung. Aus der resümierenden Sicht Constants weisen jedoch beide Freiheitsideen jeweils einen entscheidenden Nachteil auf: Die Alten stuften den Anspruch auf kollektive Selbstregierung als derart wertvoll ein, dass sie für dessen Realisierung Einbußen an privatem Glück in Kauf zu nehmen bereit waren. Die Menschen der Modeme hingegen bezahlen ihre auf die Verfolgung egoistischer Privatinteressen ausgerichtete Freiheit mit einem fast vollständigen Verzicht auf das Recht der Teilhabe an öffentlichen Entscheidungsprozessen.37 Damit, so Constant, ist eine erste gravierende Unvereinbarkeit der beiden Freiheitsideale angedeutet. Der Mensch kann sich in der Regel nicht zugleich in die Privatsphäre individueller Interessensverfolgung zurückziehen und auf vielfältige Weise an kollektiven Entscheidungsprozessen partizipieren. Auf den ersten Blick scheint daher eine Entscheidung zwischen 36 Das ist das inzwischen klassisch liberale Freiheitsverständnis im Anschluss an Autoren wie Thomas Hobbes, John Locke und John Stuart Mill. 37 Constant (1819/1972), S. 368f. u. 392f.

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diesen beiden Freiheitsideen notwendig zu sein. Nach Constant jedoch hat sich diese Entscheidung - historisch gesehen - längst erledigt. Auch wenn Constant nicht ohne Wehmut auf das kommunale Leben der Antike zurückblickt38, so lässt er doch keinen Zweifel daran, dass er das Freiheitsverständnis der Alten für anachronistisch hält. Zum einen hat sich die antike Freiheitsidee historisch nur so lange halten können, wie sich die Zahl der politischen Entscheidungsträger noch überblicken ließ. Verglichen mit den Stadtstaaten der Antike, sind die modernen Staatengebilde viel zu groß, als dass die demokratische Einbindung wirklich aller Bürger überhaupt noch sinnvoll möglich wäre. Zweitens, so Constant, ist der Bevölkerung längst jene Zeit und Muße genommen, und zwar vor allem durch die Abschaffung der Sklaverei, die notwendig wäre, um sich, freigesetzt von den Mühen alltäglicher Verrichtungen, vollständig auf die Angelegenheiten des öffentlichen Lebens konzentrieren zu können. Drittens schließlich hat die Ausweitung des nationalen und internationalen Handelsverkehrs eine Pluralisierung privater Bedürfnislagen mit sich gebracht, die der aufkommende Kapitalismus nicht bloß zu wecken, sondern darüber hinaus auch noch zu decken verspricht. 39 Obgleich das antike Freiheitsideal mit dieser dreifachen Entwicklung einstweilen erledigt zu sein schien, so ist es doch für einen kurzen historischen Moment noch einmal zu fragwürdiger, ja, fataler Prominenz gelangt. Die kritische Zeitdiagnose von Constant lautet wie folgt: Einflussreiche Revolutionäre, allen voran Jean-Jacques Rousseau, haben der irrsinnigen Überzeugung angehangen, dass sich die antike Idee der Volkssouveränität ohne Umstände in die Modeme retten lasse. Damit haben sie "unendliche Übel" über das Land gebracht. Ähnlich wie schon Regel wenige Jahre zuvor geht auch Constant davon aus, dass sich die Grande Terreur der jakobinischen Schreckensherrschaft als nahezu logische Konsequenz aus einer kollektivistischen Freiheitsauffassung ergeben musste, die sich mit der Zeit zur Wahnidee verselbständigt hatte: Wer den absoluten Freiheitsanspruch auf konsensuelle Volkssouveränität ungeschmälert wahren will, wirdalljene Gesellschaftsmitglieder, die nicht zu partizipieren bereit sind, zu ihrem Glück zwingen oder am Ende gar beseitigen müssen. 40 Gleichwohl will Constant, obgleich er selbst ein emphatischer Anhänger des modernen Freiheitsideals ist, nicht vollends auf Anleihen beim antiken Gedankengut verzichten. Er sieht durchaus, dass die Rechtmäßigkeit einer politischen Ordnung, will diese einen starken Anspruch auf private Selbstbe38 Heute gilt dies z.B. für republikanisch gesinnte "Kommunitaristen" wie Michael

Sandei und Alasdair Maclntyre. 39 Constant (1819/1972), S. 373f. 40 Georg Wilhelm Friedrich Regel (1807 /1986): Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. 3, Frankfurt/Main: Suhrkamp, bes. S. 431ff. Dazu auch Charles Taylor (1978): Hege!, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 528-545.

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stimmung proklamieren, von einer zumindest symbolischen Ausübung auch öffentlicher Freiheitsrechte abhängig ist. Die Adressaten einer politischen Rechtsordnung, so heißt es heute, müssen sich immer zugleich auch als Autoren dieser Rechtsordnung begreifen können, damit von einer zugleich legalen und legitimen Gesellschaftsformation die Rede sein kann. 41 Für Constant folgt daraus ein Lob der Errungenschaft konstitutioneller Monarchie. Deren repräsentativer Parlamentarismus soll dem individuellen Anspruch auf private Autonomie gerecht werden, ohne die Idee kollektiver Mitbestimmung gänzlich unter den Tisch fallen zu lassen. 42 So zeigt sich Constant am Ende seiner Rede weitaus optimistischer als Berlin, etwa 150 Jahre später, wenn es um die Frage nach einer möglichen Versöhnung beider Freiheitsideale geht. 43 Beide Autoren diagnostizieren eine fatale historische Verstrickung. Während Berlin jedoch von einer letztlich unausweichlichen Rivalität überzeugt bleibt, vermutet Constant eine historisch-dialektische Stufenfolge, an deren Ende die jeweils wünschenswerten Aspekte beider Freiheitsideale in der konstitutionellen Monarchie zusammenwirken. Dennoch ist festzuhalten, dass Constants Unterscheidung zwischen einer antiken und einer modernen Freiheitsidee in Berlins Differenzierung zwischen positiven und negativen Freiheitsbegriffen ihr Echo findet. Beide Autoren meinen den politischen Gegensatz von öffentlicher und privater Autonomie. 44 Doch es ist, wie oben angedeutet, keineswegs notwendig, Berlins Gegenüberstellung von positiven und negativen Freiheitskonzeptionen allein in diesem Constantschen Sinne zu deuten. In einer viel beachteten Kritik an Berlin hat Charles Taylor den blinden Fleck liberalistischer Freiheitsauffassungen kenntlich zu machen versucht, die sich heute nur zu oft auf Berlin berufen. 45 Taylor hat hier vor allem solche Positionen im Visier, die sich der von Berlin vorgegeben Diskreditierung positiver Freiheitsbegriffe direkt anschließen, um sich mit einem Plädoyer für negative Freiheit zufrieden zu geben. Das Motiv für diese liberale Bescheidenheit liegt für Taylor auf der Hand. Zu groß sei die Gefahr, im Zuge einer affirmativen Erläuterung positiver Freiheitsbegriffe vorschnell in den Verdacht zu geraten, der gewaltsamen Etablierung einer "klassenlosen Gesellschaft" und am Ende gar einem neuen Furor der Freiheit das Wort zu reden. Stattdessen zieht man sich auf die gemeinhin unproblema41 Habermas (1992). 42 Constant (1819/1972), S. 391 ff. 43 In der Zwischenzeit ist es vor allem Kar! Marx, der an der Idee einer Versöhnung von "Bourgeois" und "Citoyen" festhalten will. Dazu ders. (1844b/1956): Zur Judenfrage, in: MEW, Bd. 1, Berlin: Dietz. 44 Es ist anzumerken, dass diese Terminologie in der Freiheitsdebatte keineswegs einheitlich ausfallt. Manchmal wird das, was auch ich hier "private" Freiheit nenne, "bürgerliche" Freiheit genannt. An anderer Stelle wird "öffentliche" Freiheit mit "politischer" Freiheit gleichgesetzt. 45 Dazu und für das Folgende Taylor (1988d).

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tische Überzeugung zurück, dass wohlverstandene Freiheit in der Abwesenheit äußerer Hindernisse bestehe. Damit jedoch sitzen negative, liberale Freiheitstheorien einem mindestens dreifachen "Irrtum" auf: Erstens verfehlen sie die für freiheitsliebende Menschen durchaus zentrale Intuitionen, dass echte Autonomie mehr wäre als der bloß passive Besitz privater Spielräume, und zwar immer auch deren aktive Nutzung. Zweitens muss das negativ gehaltene Plädoyer für die Abwesenheit äußeren Zwangs den folgenschweren Umstand übersehen, dass Menschen häufig auch aufgrund innerer Hindernisse und Zwänge von der Realisierung ihrer Freiheitspotenziale abgehalten werden. Damit eng verknüpft ist drittens der Verdacht, liberale Freiheitstheorien neigten zu dem kaum haltbaren Optimismus, dass der Mensch sich über das, was er wirklich will, stets im Klaren sei, wo doch nur zu oft die Erfahrung zu machen ist, dass menschliches Wollen massiver Fremdbestimmung unterliegen kann. 46 Nach Taylors Interpretation verstehen liberale Ansätze unter Freiheit demnach (a 1) die passiv gegebene Möglichkeit, (b 1) von äußeren Zwängen ungehindert, (c 1) einen rationalen Lebensplan zu verfolgen. Diese Auffassungen sind durchaus nicht völlig falsch, so Taylor, sondern lediglich einseitig. Daher gilt es, die philosophiegeschichtlich verdrängten Grundintuitionen positiver Autonomievorstellungen zu rehabilitieren. Diesen gehe es (a2) um die aktive Verwirklichung einer (b 2) auch von inneren Hindernissen befreiten, (c 2) authentischen Bedürfnisstruktur. Mit dem Ziel, die Stärken beider Freiheitsverständnisse zu integrieren, wird Berlins Unterscheidung negativer und positiver Freiheitsbegriffe von der Ebene politischer Zusammenhänge auf den Kontext ethisch-existenzieller Lebensführung heruntergebrochen. Im Mittelpunkt steht bei Taylor somit nicht mehr die Frage, inwieweit Staaten ihren Bürgern Freiheiten zu garantieren haben, sondern das eher alltagspraktische Problem, was es heißen würde, ein wahrhaft freies Leben zuführen. Um die Komplexität von Taylors Freiheitskonzeption genauer nachvollziehen zu können, sei hier zunächst noch einmal an dessen Unterscheidung zwischen "schwachen" und "starken" Wertungen sowie an den ebenfalls im Anschluss an Harry Frankfurt thematisierten Zusammenhang von "Wunsch" und "Wille" erinnert. 47 Wendet man diese Begrifflichkeit direkt auf das Freiheitsthema an, so gelangt man zu einer folgenreichen Unterscheidung. Wir können nämlich nicht nur fragen, ob die willentlichen Handlungen einer Person frei sind, sondern auch, ob sich der Wille der handelnden Person überhaupt aus freien Stücken hat bilden können. Taylor selbst diskutiert den Fall eines Drogenabhängigen: Auch wenn niemand anderes seine Drogensucht verhindern will, mag sich der Abhängige doch von einem Willen angetrieben

46 Taylor (1988d), S. 119-125. 47 Taylor (1988c). 311

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fühlen, mit dem er sich nicht "identifizieren" kann. Er fühlt sich von einem Willen beherrscht, den er selbst nicht als den eigenen empfindet, sondern als irgendwie fremd und unfrei. 48 Beispiele dieser Art machen deutlich, dass Personen auf zweifache Weise unfrei sein können: Entweder sie sehen sich aufgrund äußerer oder innerer Zwänge daran gehindert, einen Wunsch, den sie im starken Sinne bejahen können, in entsprechende Handlungen umzusetzen, oder aber sie fühlen sich von Wünschen getrieben, die sie gar nicht als zu sich gehörig betrachten und deshalb gerade nicht im starken Sinne bejahen können. Handlungsfreiheit, so lässt sich Taylor deuten, bezieht sich auf die Frage, ob jemand davon abgehalten wird, jene Handlungen zu vollziehen, die er tatsächlich auch vollziehen will. Willensfreiheit hingegen hat mit der Frage zu tun, ob der den Menschen effektiv anleitende Wille tatsächlich auch jener ist, den er sich in einem starken Sinne wünscht. 49 Anders ausgedrückt: Entweder man fühlt sich unfrei, weil man sich einen Wunsch, den man sich erfüllen will, faktisch nicht erfüllen kann, oder aber man fühlt sich unfrei, weil man sich einen Wunsch erfüllen muss, den man im Grunde gar nicht haben will. 5° Erst mit positiven Freiheitsbegriffen, so Taylor, kommt die Möglichkeit von ethisch-existenziellen Selbstzwängen ins Spiel, von denen frei zu sein, zu unserem Verständnis von Autonomie nicht weniger gehört als die negativ gehaltene Idee äußerer Hindernisfreiheit Taylor zufolge bestünde menschliche Freiheit in einem von äußeren und inneren Zwängen befreiten Leben, in dessen Verlauf es zur aktiven Verwirklichung eines wahrhaft authentischen Willens kommt. Freilich bringt die hier zuletzt anklingende Idee der "Authentizität" eine ganz eigene philosophische Diskussion mit sich, zu der wir dann gleich auch überwechseln werden. Zuvor jedoch sei, wie zu Beginn angekündigt, noch ein Vorschlag zur Unterscheidung der Termini Freiheit und Autonomie vorgelegt. Da beide Begriffe nur zu oft synonym Verwendung finden, scheint eine klare Abgrenzung ihrer Wesensgehalte und Phänomenbereiche nur schwer möglich. 51 Wir sollten es daher bei einer Akzentsetzung belassen, die sich aus der Differenz von negativen und positiven Freiheitskonzeptionen ableiten lässt. Bereits ein Blick auf den Alltagssprachgebrauch legt die Vermutung nahe, dass der Begriff der Autonomie den Aspekt willentlicher "Selbstbestimmung" hervorheben soll. Nach der altgriechischen Herkunft des Begriffes geht es um das menschliche Vermögen, sich seine

48 Man denke hier auch an Menschen, die von einer irrationalen Furcht, z.B. vor Tunneln oder Fahrstühlen, terrorisiert werden. 49 Vgl. Bieri (2001 ). Dort findet sich auch eine ausführliche Behandlung des traditionsreichen Determinismusproblems, das derzeit unter neurobiologischen Vorzeichen neu diskutiert wird. Ich werde diese Debatte außen vor lassen müssen. 50 Vgl. Frankfurt (1988d), Abschnitt III. 51 Man vergleiche in diesem Zusammenhang die entsprechenden Einträge im Historischen Wörterbuch der Philosophie, die jede Abgrenzung vermissen lassen.

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FREIHEIT UND AUTONOMIE

"eigenen Gesetze" zu geben. Ein autonomer Mensch lässt sich von anderen nicht schon diktieren, was er zu denken, zu wollen oder zu tun hat - dies wäre Heteronomie. Er lebt vielmehr wohlüberlegt, rational prüfend und eigenverantwortlich. Demnach betont der Autonomiebegriff den aktivischen Charakter der Freiheit, wie er in positiven Freiheitskonzeptionen zum Ausdruck kommt. Es geht um das Subjekt der "Kontrolle", wie Berlin sagt. Wichtig ist, dass dies sowohl in politischer als auch in ethisch-existenzieller Hinsicht gilt. Politisch autonom sind Personen dann, wenn sie an Prozessen kollektiver Selbstgesetzgebung partizipieren. In einem ethisch-existenziellen Sinne autonom sind diese Personen außerdem, wenn ihr individuelles Leben auf einem wahrhaft eigenen Willen beruht. Demnach wäre der Autonomiebegriff für die positive Rede über öffentliche Freiheit zum einen, Willensfreiheit zum anderen zu reservieren. Als nur wenig hilfreich würde es sich indes erweisen, den Freiheitsbegriff entsprechend allein auf seine negativen Hinsichten festzulegen. Der Terminus Freiheit stellt vielmehr die übergeordnete Begriffskategorie dar, die sowohl negative als auch positive Aspekte umfasst, so dass der Autonomiebegriff als genuiner Bestandteil der Freiheitsidee zu gelten hätte.

5.3 Authentizität und Wahrhaftigkeit Im Rahmen der modernen Praktischen Philosophie hat das Freiheits- bzw. Autonomieideal lange Zeit als beinahe konkurrenzlos gelten dürfen, doch ist in jüngerer Vergangenheit verschiedentlich der Verdacht geäußert worden, dass mit der späten oder zeitgenössischen Modeme ein alternativer normativer Leitstern zu funkeln begonnen hat, der jenen ersten zunehmend in den Schatten stellt. Versteht man unter Autonomie, wie soeben geschehen, das Vermögen, gemäß eigener, rationaler Prinzipien ein Leben in Selbstbestimmung zu führen, so steht heute in direkter Konkurrenz zu dieser Idee das Wunschbild ethisch-existenzieller "Authentizität", dem zufolge sich das gelingende Leben als Selbstverwirklichung nach Maßgabe eines jeweils unverwechselbaren Persönlichkeitskerns zu beweisen hätte. 52 Freilich lässt sich ein echter Widerstreit zwischen diesen beiden Idealen nur dann behaupten, wenn man den Autonomiebegriff- entgegen der von uns im letzten Abschnitt vorgenommenen Begriffsklärungeil - von vomherein in kantischer Tradition liest, d.h. als eine Orientierung strikt an moralischen Normen. Dann lässt sich 52 Siehe dazu vor allem die drei folgenden Autoren: Taylor (1993, 1994 u. 1995); Christoph Menke (1996): Tragödie im Sittlichen, Frankfurt/Main: Suhrkamp; A1essandro Ferrara (1998): Reflective Authenticity, London u. New York: Rout1edge. Dazu insgesamt kritisch Beate Röss1er (2001 ): Der Wert des Privaten, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 109ff.

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leicht zeigen, so wie wir das hier auch verschiedentlich getan haben, dass eine authentische Realisierung originären Selbstseins mit den Geboten der Moral in Konflikt geraten kann. Gleichwohl ist die Diagnose, dass dem Authentizitätsideal in zeitgenössischen Diskussionen eine stetig wachsende Bedeutung zukommt, schwerlich von der Hand zu weisen, so dass wir uns nach dessen gerrauerem Inhalt erkundigen sollten. Hören wir dazu den amerikanischen Literaturkritiker Lionel Trilling, der die akademische Debatte um den Begriff der Authentizitäts angestoßen hat: "Wenn wir mit Bezug auf das menschliche Dasein von Authentizität, Echtheit sprechen, dann verwenden wir das Wort so wie im Museum Fachleute, die prüfen, ob Kunstwerke wirklich sind, was sie zu sein scheinen oder sein sollen, ob sie den für sie geforderten Preis wert sind oder ob sie, wenn der schon gezahlt ist, die Bewunderung verdienen, die man ihnen entgegenbringt. Daß das Wort in den Moraljargon unserer Tage Eingang gefunden hat, weist darauf hin, wie sehr wir unsere Existenz als problematisch empfinden und um die Glaubwürdigkeit unseres individuellen Lebens besorgt sind. Was uns dabei beunruhigt, hat ein Ästhetiker des achtzehnten Jahrhunderts bündig formuliert: »Wie kommt es«, sagtEdward Young, »daß wir als Originale geboren werden und als Kopien sterben?«'" 3 Insbesondere Charles Taylor hat Trillings Idee einer durch die Modeme zugleich hervorgebrachten und bedrohten "Originalität" menschlichen Daseins aufgegriffen und unter Bewahrung ihrer ursprünglich zeitkritischen Intentionen systematisch auszuarbeiten versucht. Mit der Modeme, so Taylor, ist in ideengeschichtlicher, aber auch in lebenspraktischer Hinsicht eine Auffassung vom Guten zur Vorherrschaft gelangt, der zufolge das gelingende Leben auf dem Vermögen beruht, sich frei von inneren und äußeren Zwängen auf seine je eigenen tiefsten Bedürfnisse und Selbstverpflichtungen zu besinnen, um diese authentisch verwirklichen zu können. Leider, so fährt Taylor fort, ist die nüchterne Realität unserer spätkapitalistischen Lebenswelt noch immer weit von der Verwirklichung dieses Ideals entfernt. Und nicht nur das: Insbesondere dort, wo heute die Vormachtstellung einer "instrumentellen" Weltsicht die Unterdrückung der "romantisch-expressiven" Quellen unseres modernen Selbstverständnisses bewirkt, droht das Ideal der Authentizität zu einem sinnentleerten und narzisstischen Credo zu verkommen. Daher muss es eine dringliche philosophische Aufgabe sein, das Authentizitätsideal noch einmal unverkürzt zur Darstellung zu bringen. 54 Aus ideengeschichtlicher Sicht verdankt sich die Idee authentischer Selbstverwirklichung einem allumfassenden, neuzeitlichen Subjektivierungsprozess, den Taylor als "Wende in die Innerlichkeit" begreift: Spätestens im 53 Lionel Trilling (1980): Das Ende der Aufrichtigkeit, München: Hauser, S. 91. 54 Dieses Ziel verfolgt die groß angelegte Studie: Taylor (1994). 314

AUTHENTIZITÄT UND WAHRHAFTIGKEIT

18. Jahrhundert kommt es in Literatur und Philosophie, z.B. bei Rousseau und Herder, zur Entdeckung einer "inneren Natur" des Menschen, die als unerschöpfliche Quelle belebender Impulsive und kreativer Intuitionen aufgefasst wird, von der es heißt, dass sie bislang völlig unzureichend angezapft worden sei. Die Menschen der Modeme, so Taylor, lernen erst langsam, dass sie Wesen von außergewöhnlicher Tiefe sind, ausgestattet mit einem ureigenen Empfinden für das, was im Leben zählt. Erst leise vernehmen sie jene noch zaghafte innere Stimme, die etwas Ursprüngliches über das "Wesen" der menschlichen Existenz zu berichten weiß. Mehr und mehr erwacht dabei der Wunsch nach Aufnahme einer möglichst unverzerrten Beziehung zu eben dieser inneren Natur- ein Wunsch, der zugleich tiefe Sehnsucht nach je einzigartiger "Selbsttreue" ist: "Sich selbst treu sein heißt nichts anderes als: der eigenen Originalität treu sein, und diese ist etwas, was nur ich selbst artikulieren und ausfindig machen kann. Indem ich sie artikuliere, definiere ich zugleich mich selbst. Damit verwirkliche ich eine Möglichkeit, die ganz eigentlich mir selbst gehört. Dies ist die Auffassung im Hintergrund des modernen Authentizitätsideals und der Ziele »Selbsterflillung« oder »Selbstverwirklichung«, in deren Sinne das Ideal normalerweise formuliert wird."55 Nach dieser ideengeschichtlichen Rekonstruktion des modernen Authentizitätsideals muss jede Person, die ein gutes Leben zu fuhren beabsichtigt, bestrebt sein, ihrer inneren Stimme zu lauschen und dieser Gehör zu verschaffen. Denn sonst wird sie niemals herausfinden können, was es heißt, sie selbst zu sein. Für gewöhnlich, so Taylor, vollziehen sich Prozesse einer solchen Selbstentdeckung in Akten der "Selbstartikulation": Wer ergründen möchte, welche Daseinsmöglichkeiten in ihm angelegt sind, muss sein Innerstes "nach außen" kehren und seiner Originalität sprachlich Ausdruck verleihen. 56 Allerdings sollte die expressive Freilegung ungenutzter Persönlichkeitspotenziale nicht bloß als Aufdeckung, sondern immer auch als kreative Neuschöpfung verstanden werden. Diejenigen, die ihr Innerstes zu artikulieren beginnen, werden von dessen Thematisierung kaum unberührt bleiben. Darin ist der Prozess der Selbstfindung dem nicht selten diffizilen Akt der Schaffung eines Kunstwerks ähnlich, bei dessen Herstellung die authentischen Intentionen des Künstlers ja auch in einem Zug ausgedrückt und modelliert werden. 57 Das Bemühen, sich von seiner inneren Stimme dazu "aufrufen" zu lassen, in äußerster Selbsttreue eine je eigene Art des Menschseins zu verwirklichen, muss daher als ein durchaus nicht immer glückender Schaffensprozess verstanden werden, bei dem für jeden Betroffenen viel auf dem Spiel steht: 55 Taylor (1995), S. 39. 56 Dies nennt Taylor die Idee des "Expressivismus". Siehe ders. (1994), Kap. 21. 57 Taylor (1995), S. 72f.

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DIE NÄHERE VERWANDTSCHAFT DER INTEGRITÄT

"Es gibt eine bestimmte Art, Person zu sein, die meine Art ist. Ich bin aufgerufen, mein Leben in dieser Art zu leben und nicht das Leben eines anderen nachzuahmen. Diese Vorstellung verstärkt den Grundsatz, sich selbst treu zu sein. Bin ich mir selbst nicht treu, so verfehle ich die Aufgabe meines Lebens; ich verfehle das, was Humanität flir mich bedeutet. [... ] Nicht nur, daß ich mein Leben nicht nach den Erfordernissen äußerlicher Konformität gestalten soll - außerhalb meiner selbst kann ich gar kein Modell dafür finden, wie ich mein Leben leben soll. Ich kann dieses Modell nur in mir selbst finden. Mir treu sein bedeutet: meiner eigenen Originalität treu sein, und sie kann nur ich allein artikulieren und entdecken. Indem ich sie artikuliere, definiere ich mich. Ich verwirkliche eine Möglichkeit, die ganz meine eigene ist." 58 Die hier von Taylor propagierte Idee einer Art Persönlichkeitssubstanz, die es auf je eigene authentische Weise zu verwirklichen gilt, mag rasch unter Metaphysikverdacht fallen, will man darunter die Annahme verstanden wissen, dass in jedem einzelnen Menschen, gewissermaßen von Natur aus, eine jeweils originäre Weise des Menschseins als Aufgabe angelegt sei. Dass Taylor selbst seine Überlegungen jedoch stets in kulturhermeneutische Kontexte einlässt, indem er davon ausgeht, dass sich ethisch-existenzielle Prozesse der Selbstartikulation niemals außerhalb eines kulturellen Raums bereits vorhandener Sinnangebote vollziehen können, ist bereits in Kapitel 1 deutlich geworden. Dennoch droht Taylors leicht romantisch verklärter Blick auf die ideengeschichtliche Tradition den Zugang zu einem eindeutig postmetaphysisch ansetzenden Authentizitätsbegriff zu verstellen. In geistiger Nähe zu Taylor hat Alessandro Ferrara, vor allem im Rückgriff aufpsychoanalytisches Forschungsmaterial, zentrale Charakteristika authentischen Menschseins auf noch formalere Weise auszuzeichnen versucht. 59 Demnach lasse sich der Grad der Authentizität eines personalen Lebenszusammenhangs an den folgenden vier Merkmalen ablesen: Gelingt es einer Person, ihre verschiedenartigen und sich zum Teil widerstreitenden Lebenserfahrungen narrativ in einen möglichst sinnvollen Gesamtzusammenhang zu bringen, so weist ihr Leben "Kohärenz" auf. Vermag die Person aus einem stabilen Selbstwertgefühl heraus spontan, euphorisch und genussvoll zu agieren, so ist ihr Leben von "Vitalität" getragen. Erweist sie sich als himeichend selbstreflexiv, autonom und selbstgenügsam, dann besitzt ihre Existenz "Tiefe". Ist die Person zudem genügend weltoffen, erträgt sie emotionale Ambivalenzkonflikte mit Gelassenheit sowie das Wissen um die eigene Endlichkeit mit Humor, so legt sie "Reife" an den Tag. So verschiedenartig die ideengeschichtlichen Reflexionen Taylors und die psychoanalytisch informierten Überlegungen Ferraras auf den ersten Blick 58 Taylor (1993), S. 19f. 59 Siehe für das Folgende neben Ferrara (1998) auch ders. (1992): "Postmodern Eudaimonia", in: Praxis International, 4/1992. 316

AUTHENTIZITÄT UND WAHRHAFTIGKEIT

auch sein mögen, so weisen sie doch große Gemeinsamkeiten dahingehend auf, dass mit personaler Authentizität eine möglichst dauerhafte und zwanglose, auf schöpferisch vitale Weise herzustellende Kongruenz von äußerem Erscheinungsbild und innerstem Persönlichkeitskern gemeint sein soll. Die Originalität bzw. "Echtheit" authentischen Lebens erweist sich daran, ob der Mensch auf unvertretbare und unverwechselbare Weise ein Leben fuhrt, das seinem "tiefsten Innern", dem "wahren Selbst" entspricht. So schwierig dies im Einzelnen auch festzustellen sein dürfte, der Authentizitätsbegriff erhält seine Emphase durch die Unterstellung einer dynamischen Übereinstimmung von Innen und Außen. Nicht nur muss der äußerlich erscheinende Lebensvollzug Rückschlüsse auf ein konvergierendes Innenleben zulassen. Die nach Authentizität strebende Person hat diese Kongruenz immer auch aktiv herzustellen, indem sie ihr Innenleben entsprechend in Sprache und Handlungen transformiert und nach außen dringen lässt. Kurzum: Der authentische Mensch muss im doppelten Sinne als "Urheber" seines Lebens wirken und erkennbar sein. 60 Nachdrücklicher noch als Ferrara, warnt Taylor nun aber vor der durchaus nahe liegenden Gefahr, die Idee der Authentizität narzisstisch oder "atomistisch" misszuverstehen, als sei die Entfaltung und Realisierung eines unverwechselbaren Wesenskerns die Angelegenheit sozial und kulturell isolierter Individuen, die dabei allein aus ihrem Innersten schöpfen. Stets, so Taylor, findet sich der Mensch in vielfältige gesellschaftliche Zusammenhänge eingebunden, deren weitgehende Intaktheit als Bedingung authentischen Lebens aufgefasst werden muss. 61 Die nach Authentizität strebenden Individuen sind bei der ethisch-existenziellen Selbstartikulation auf vielfältige Weise aufeinander angewiesen. Sie können sich dabei wechselseitig zur Seite stehen, befruchten und gegebenenfalls auch korrigieren. Das soziale Leben gibt den "unentrinnbaren Horizont" an geteilten Lebensvollzügen, Wertvorstellungen und Sinnangeboten ab, dessen Bandbreite einer Verflachung und Trivialisierung individueller Reifungsprozesse vorbeugt. Dennoch, so Taylor, befindet sich die westliche Kultur in der prekären Lage, dass die befürchtete Atomisierung der Lebenswelt längst eingetreten ist. Das liegt nicht etwa daran, dass die Menschen nunmehr anderen Idealen folgen. Vielmehr ist ein monologisch pervertiertes Authentizitätsideal zur Vorherrschaft gelangt, das ein egoistisches "Abgleiten" in narzisstische Selbstverwirklichungsideologien bewirkt hat: Der Wunsch nach authentischer Selbsterfüllung in Auseinandersetzung mit anderen ist in das egozentrische Bedürfnis nach völliger Unabhängigkeit nicht nur von diesen anderen, sondern auch von jeder Form transzendenter 60 Aus etymologischer Sicht bezeichnet das altgr. Wort authentes den "Mörder" oder "Urheber" einer Tat. In Abwandlung eines Ausspruchs von Erich Kästner könnte man sagen: "Es gibt nichts Wahres, außer man war es." 61 Taylor (1993). 317

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Hyper-Werte, wie "Gott" oder auch "Natur", umgeschlagen. Fatal ist daran, so Taylor, dass die überaus hehre Idee der Authentizität dabei als Ganze in Misskredit geraten ist, so dass ihre bislang unausgeschöpften Potenziale weiterhin verschüttet bleiben. 62 So eindringlich diese sozialpathognostischen Überlegungen auch klingen mögen, bei genauerem Hinsehen ist fraglich, und zwar sowohl in ideengeschichtlicher als auch in lebenspraktischer Perspektive, ob die von Taylor als vermisst gemeldete Kontextgebundenheit des authentischen Lebens begrifflich notwendig zum Authentizitätsideal dazu gehört. So hat Christoph Menke darauf hingewiesen, dass sich der Siegeszug des Authentizitätsideals doch gerade einem Rückzug aus den engen Konventionen traditionellen Gemeinschaftslebens zu verdanken hat. Das Recht auf ein je eigenes, eben "authentisches" Leben, so Menke, musste gegen gesellschaftliche Zwänge überhaupt erst noch erkämpft werden. Zwar ist damit nicht schon ausgeschlossen, dass sich das authentische Leben auf dem Wege der Realisierung gemeinschaftlicher Werte verwirklichen kann, doch es mag seine Ansprüche häufig auch gerade im Zuge sozialer Renitenz oder gar Indifferenz einlösen. Entsprechend wäre der ideologische Hauptkonflikt der zeitgenössischen Modeme weniger als eine abnorme Vereinseitigung des Authentizitätsprinzips zu deuten, sondern als fundamentaler Widerstreit zwischen dem tendenziell individualistischen Authentizitätsideals und jenem um sozialen Frieden besorgten Prinzip einer spezifisch moralischen Autonomie. 63 Diese Deutung hat den großen Vorteil, dass sie Einsichten eines alternativen Strangs der Authentizitätsdebatte berücksichtigen kann, dem zufolge das authentische Leben nicht durch ein "zu wenig", sondern ein "zu viel" an Sozialität bedroht ist. Seit Rousseaus mitreißenden Analysen des amour-propre, jener gesellschaftlich induzierten Eitelkeit, die erwacht, sobald der "wilde" Einzelgänger Mensch den Naturzustand verlässt und mit seinen Artgenossen wechselseitig um die Gunst des jeweils anderen zu konkurrieren beginnt, spätestens aber seit den bahnbrechenden soziologischen Studien Erving Goffmans über ganz alltägliche Interaktionsrituale wissen wir, dass das gesellschaftliche Leben eine Bühne ist, auf der gilt: "Wir alle spielen Theater." 64 Demnach muss die soziale Arena nicht nur als ein Ort der Verwirklichung authentischen Lebens, sondern immer auch als ein der Originalität abträglicher Schauplatz der Inauthentizität oder, wie es bei Heidegger heißt, der "Uneigentlichkeit"65 verstanden werden. Direkt im Anschluss an Heidegger war es Sartre, der mit einem überaus scharfsinnigen Beispiel anschaulich zu machen versucht hat, wie sich eine sozial induzierte Uneigentlichkeit bis tief 62 63 64 65

Taylor (1995), bes. Kap. 6. Menke (1996), S. 192-201. Erving Goffman (1969): Wir alle spielen Theater, München: Piper. Heidegger (1927/1993), § 38.

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hinein in das psychophysische Empfinden des Menschen auszuwirken vermag.66 Unter dem Titel "La mauvaise foi" schildert und interpretiert Sartre auf bloß oberflächlich chauvinistisch anmutende Weise - das Verhalten einer jungen Frau, die sich zu einer ersten Verabredung einfindet. Das Rendezvous hat noch gar nicht recht begonnen, da meint die junge Dame bereits zu ahnen, dass der attraktive Herr, der ihr gegenüber sitzt und ihr unentwegt Komplimente macht, Absichten hegt, die über diesen netten Plausch hinausgehen. Sie wird also früher oder später eine Entscheidung treffen müssen. Aber sie ist verwirrt: "Sie ahnt ja nicht, was sie wünscht: sie ist zutiefst empfänglich für die Begierde, die sie erregt, aber diese rohe und nackte Begierde würde sie erniedrigen und ihr Abscheu einflößen. " 67 Da die Frau das Begehren des Mannes durchaus genießt, möchte sie ihre Entscheidung noch ein wenig hinauszögern. Dies gelingt nur, wenn sie sowohl das Begehren des Mannes als auch die Einsicht in die Dringlichkeit ihres Entschlusses - nach Art einer temporären Selbsttäuschung - von sich fernhält Sie muss die Avancen, die der Mann ihr macht, rational "entschärfen". Ihre Scham, aber auch ihre Angst vor der eigenen Begierde, nötigen die Frau dazu, den sexuellen Subtext der Begegnung geflissentlich zu übersehen und stattdessen jedes Wort des Mannes, etwa sein Kompliment "Ich bewundere Sie sehr", so zu nehmen, wie es auf der Oberfläche erscheint: als eine bloße Respektbekundung. Und dennoch, so Sartre, würde die Frau "nichts Reizvolles an einem Respekt finden, der einzig und allein Respekt wäre". Damit der erregende Moment nicht seinen Reiz verliert, darf die Verdrängung der nunmehr offenbar gemeinsamen sexuellen Absichten keinesfalls vollständig sein. Die Frau muss das untergründige, nicht "gewusste" Gefühl, von ihrem Gegenüber körperlich begehrt zu werden, in ambivalenter Schwebe halten. Sie darf es nicht vertreiben, denn sie will ja darin verharren. Ganz plötzlich jedoch spitzt die Situation sich zu, da der Mann ihre Hand ergreift. Nun scheint die Frau abrupt und endgültig vor die Entscheidung gestellt zu sein, entweder dem Verführungsversuch des Mannes nachzugeben, indem sie ihre Hand preisgibt, oder aber ihre Hand zurückzuziehen und damit wohl unwiderruflich auch jene Wonneangst68 zu vertreiben, die sie in Erre-

66 Siehe für das Folgende Sartre (1952/1991 ), S. 132-137. Statt des so häufig dis-

kutierten Falls des den Kellner mimenden Kellners, wähle ich ein subtileres, aber aus naheliegenden Gründen weit weniger diskutiertes Beispiel. 67 Sartre (1952/1991), S. 133. 68 Als "Wonneangst" lässt sich jenes Gefühl beschreiben, mit dem ein Kind beim Versteckspielen in seinem Schlupfloch verharrt, darauf hoffend, gefunden und doch nicht gefunden zu werden.

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gung versetzt hat. Wie es ihr am Ende aber dennoch gelingt, selbst dieser Entscheidungssituation elegant auszuweichen, schildert Sartre auf wahrhaft unnachahmliche Weise: "Man weiß, was nun geschieht: die junge Frau gibt ihre Hand preis, aber sie merkt nicht, daß sie sie preisgibt. Sie merkt es nicht, weil es sich zufällig so fügt, daß sie in diesem Moment ganz Geist ist. Sie reißt ihren Gesprächspartner zu den höchsten Regionen der Gefühlsspekulation mit, sie spricht vom Leben, von ihrem Leben, sie zeigt sich unter ihrem wesentlichen Aspekt: eine Person, ein Bewußtsein. Und inzwischen ist die Scheidung von Körper und Seele vollbracht; die Hand ruht inert zwischen den warmen Händen ihres Partners: weder zustimmend noch widerstrebend - ein Ding. [... ] Kurz, während sie die Gegenwart ihres eigenen Körpers zutiefst spürt - vielleicht bis zur Erregung -, realisiert sie sich als jemand, der sein eigener Körper nicht ist, und sie betrachtet ihn von ihrer Höhe herab als einen passiven Gegenstand, dem Ereignisse zustoßen können, der sie aber weder hervorrufen noch vermeiden kann, weil alle seine Möglichkeiten außerhalb von ihm liegen." 69 Die auf Angst- und Schamgefühlen, sozialen Verhaltenserwartungen und gesellschaftlichen Zwängen beruhende Zerrissenheit der jungen Frau, dringt, für den Mann zunächst unmerklich, als Diskrepanz zwischen innerem Erleben und äußerem Erscheinungsbild nach außen. 70 Zweifelsohne lebt das Beispiel von der Evokation, dass sich die Frau deshalb inauthentisch verhält, weil sie sich gegen das Wissen, was tatsächlich mit ihr los ist, sträubt. Sie flüchtet sich in eine Selbsttäuschung, durch die ihr ein ambivalentes Pendeln zwischen Scham und Lust möglich wird. Wenn diese Interpretation zutreffend wäre, ergäbe sich daraus aber ein paradoxer Befund: Da das äußere Erscheinungsbild der Frau nunmehr mit dem propositionalen Gehalt der Selbsttäuschung übereinstimmt, d.h. mit dem, was die Frau in diesem Moment tatsächlich über sich denkt ("Ich bin eine reine, ehrenhafte junge Dame"), hätten wir, genau genommen, von einer authentischen Verwirklichung eben dieser Selbsttäuschung zu sprechen. Damit wäre ohne Zweifel gegen die wichtige Intuition verstoßen, dass Authentizität Selbsttäuschungen ausschließt. Authentisch ist ein Verhalten dann, und nur dann, wenn das äußere Erscheinungsbild der Person mit ihrem "wahren" Selbst konvergiert. Daher ist eine weitere wichtige

69 Sartre (1952/1991), S. 134. 70 Auf die sich hinter der Maske der Unwahrhaftigkeit verbergende "Spaltung" der Frau wird der Mann unbewusst dadurch reagieren, dass er in seinen Handlungen und Äußerungen fortan beide Seiten der Frau aufgreift; je nachdem, ob diese gerade mehr "Körper" oder mehr "Seele" ist. Damit zieht die junge Frau den sie begehrenden Mann in ihre eigene Spaltung hinein. Hier zeigt sich der furchteinflößende Umstand, dass tiefgreifende Desintegrationen "ansteckend" sein können. Ich werde in Kapitel 6 darauf zurückkommen.

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AUTHENTIZITÄT UND WAHRHAFTIGKEIT

Unterscheidung vonnöten, die dem Authentizitätsbegriff das Ideal der "Wahrhaftigkeit" zur Seite stellt. 71 Was mit Wahrhaftigkeit gemeint ist, kann man, mit Martin Walser, den "Karatgehalt" der Rede nennen. Hier geht es darum, "wie sehr oder wie wenig der Redner oder Schreiber in seiner Sprache enthalten ist". 72 Im Hinblick auf sprachliche Äußerungen, aber auch auf Handlungen oder sonstiges Verhalten tritt der Unterschied zwischen Authentizität und Wahrhaftigkeit immer dann hervor, wenn wir differenzieren zwischen (a) psychophysischen Regungen oder Zuständen im Innem einer Person, (b) Meinungen und Ansichten, die sie im Hinblick auf diese Regungen und Zustände ausbildet und (c) sprachlichen Äußerungen, Handlungen oder sonstigen Verhaltensweisen, in denen die psychophysischen Gemütsbewegungen aus (a) samt der ihnen korrespondierenden subjektiven Ansichten aus (b) hörbar bzw. sichtbar zum Ausdruck kommen. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: (a) Eine Person verspürt ganz plötzlich eine heftige Aggression gegenüber ihrem Lebenspartner. Sofort löst das Scham- und Schuldgefühle in ihr aus, so dass sie ihre Aggressionen zu verdrängen sucht. (b) Sie sagt sich immer wieder: "Ich habe überhaupt gar keinen Grund, so sauer zu sein!" Langsam wandelt sich ihre Stimmung dabei in eine diffuse, depressive Laune. (c) Von ihrem Lebenspartner gefragt "Ist was? Geht es dir nicht gut?", antwortet sie: "Es ist nichts. Mir geht es gut." Im Umgang mit anderen zeigt sich die Authentizität einer Person als Wahrhaftigkeit immer dann, wenn auf dem Weg von (b) nach (c) von einer adäquaten, d.h. Kongruenz herstellenden Transformation von Meinungen und Absichten in Äußerungen und Handlungen die Rede sein kann. Wahrhaftig verhält sich die Person, wenn sie tatsächlich meint und beabsichtigt, was sie sagt und tut. Folglich ist eine Person dann unwahrhaftig, wenn sie andere Menschen belügt oder ihnen etwas "vormacht". Damit jedoch von Authentizität im vollen Sinne die Rede sein kann, muss zur Wahrhaftigkeit ein wichtiger Aspekt hinzutreten. "Wahrhaft authentisch" verhält oder gibt sich eine Person allein in solchen Momenten, in denen ihre Äußerungen und Handlungen nicht nur ihren momentanen Meinungen und Ansichten, sondern auch ihren innersten psychophysischen Gemütszuständen entsprechen. Hier geht es also um den viel längeren Weg von (a) über (b) nach (c). Man kann sich offensichtlich täuschen, wenn man glaubt, keinen Grund zur Wut zu haben oder eine ehrenwerte junge Frau ohne schlüpfrige Hintergedanken zu sein. Die Frage der Authentizität bezieht sich demnach nicht nur auf die wahrhaftige Transformation subjektiver Meinungen und Ansichten in entsprechende Äußerungen und Handlungen, sondern auch, und zwar vorgängig, auf die 71 Die im Folgenden umrissene Auffassung von Wahrhaftigkeit entspricht in etwa der von Habermas (198la), Bd. I, z.B. S. 69. Siehe aber auch Bemard Williams (2003): Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp. 72 Martin Walser (2000): "Über das Selbstgespräch", in: Die Zeit, 3/2000.

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DIE NÄHERE VERWANDTSCHAFT DER INTEGRITÄT

aufrichtige Transformation innerer Erlebniswelten in eben jene subjektiven Meinungen und Ansichten, die es wahrhaftig zu äußern gilt. Um es auf eine kurze Formel zu bringen: Authentizität ist Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst plus Wahrhaftigkeit gegenüber anderen. Demnach kann man wahrhaftig sein, ohne zugleich authentisch sein zu müssen. Eine Person kann an das glauben, was sie sagt, ohne dass sie dabei in Einklang mit ihrer "wahren" Gemütslage steht. Ebenso denkbar ist es, dass eine Person aufrichtig zu sich selbst ist, ohne zugleich wahrhaftig zu anderen zu sein. Wir brauchen nicht immer gleich zu sagen oder zu tun, was wir wirklich meinen. Wahrhaftigkeit ist ein Anspruch auf Ehrlichkeit im Umgang mit anderen. Dagegen beinhaltet das umfassendere Ideal der Authentizität stets auch die Erfüllung des Anspruchs auf Ehrlichkeit gegenüber dem eigenen Selbst. Wahrhaft authentisch ist demnach allein jenes Leben, das frei von Täuschungen und Selbsttäuschungen ist. Allerdings ist mit Blick auf den normativen Status der Forderung nach Authentizität die eher ernüchternde Einsicht angeraten, dass authentisches Leben weit eher "geschieht", als dass es das Resultat einer Anstrengung, eines Bemühens wäre. Man kennt die buchstäblich utopische Anspruchshaltung, die in der Aufforderung zum Ausdruck kommt: "Sei authentisch!" Allein schon diese Aufforderung macht das augezielte Ergebnis unmöglich. Wer zu viel nachdenkt, zu lange zögert und sich selbst zu sehr beobachtet, der läuft sogar Gefahr, einer besonders grotesk wirkenden Form der Uneigentlichkeit zum Opfer zu fallen: einer inszenierten Authentizität. Hier ist die Authentizität dann selbst das Stück, das auf dem Theater gespielt wird.

5.4

Der Integritätsbegriff im Kreise seiner Verwandten

Man könnte mit der Aufzählung verwandter normativer Leitkategorien fortfahren, z.B. mit Begriffspaaren wie "Identität und Selbstverwirklichung" oder auch "Souveränität und Gelassenheit", doch es scheint, als seien wir ohnehin schon zu weit von unserem Kurs, d.h. von der Integritätsproblematik, abgekommen. Dass davon jedoch keine Rede sein kann, wird deutlich, wenn wir die Ideale der Würde und Ehre, Freiheit und Autonomie, Authentizität und Wahrhaftigkeit, deren Darstellung hier zunächst unabhängig von der Integritätsproblematik erfolgen sollte, damit sie in ihrem jeweiligen normativen Eigenrecht zur Geltung kommen konnten, nunmehr mit dem Integritätsbegriff zu vergleichen beginnen. Das in diesem Buch umrissene Integritätskonzept soll anhand jener insgesamt sechs verwandten Konzepte noch einmal nach besonders charakteristischen Merkmalen abgeklopft werden, um einer in der bisherigen Debatte versäumten Eingliederung der Integritätskategorie in das

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DER INTEGRITÄTSBEGRIFF IM KREISE SEINER VERWANDTEN

normative Begriffsfeld der Praktischen Philosophie den Weg zu bahnen. Wir werden uns dabei auf einige wenige zentrale Berührungspunkte, vor allem aber auf die Vorzüge des Integritätsbegriffes konzentrieren müssen. Die Frage lautet also: Was hat der Integritätsbegriff mit den Idealen Würde und Ehre, Freiheit und Autonomie, Authentizität und Wahrhaftigkeit gemein und was genau hat er ihnen voraus? Sehen wir zunächst, wie das Begriffspaar Würde und Ehre zur Integritätsproblematik passt. Würde war hier als eine durch soziale Anerkennung vermittelte Haltung der Selbstachtung definiert worden, während entsprechend Ehre als eine durch soziale Anerkennung vermittelte Haltung der Selbstwertschätzung aufzufassen war. Die insbesondere für die Würdeproblematik charakteristische Notwendigkeit einer "Verkörperung" entsprechender positiver Selbstverhältnisse war es, die den Menschen für Verletzungen und Verluste anfällig macht. Es wurde behauptet: Ein Mensch kann Würde nur dann besitzen, wenn er von nichts und niemandem in seinen Lebensvollzügen derart beeinträchtigt wird, dass er seine Selbstachtung einbüßt; wobei entsprechendes für den Zusammenhang von Ehre und Selbstwertschätzung zu konstatieren wäre. Nun war bereits in Kapitel 4, und zwar im Zusammenhang der phänomenologischen Skizze typischer Integritätsverletzungen, ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass auch das integre Leben auf einen vor fremden Übergriffen sicheren Spielraum angewiesen ist, in dem sich die Bedürfnisse nach Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit verkörpern können. Wird dieser Spielraum von anderen eingeengt oder angegriffen, wird der Vollzug personaler Integrität schwer oder gar unmöglich. Analog zur Würde- bzw. Ehrproblematik hat demnach auch für die Integritätsanalyse zu gelten: Eine Person wird ein Leben in Integrität dann, und nur dann, fuhren können, wenn sie von nichts und niemandem in ihren Lebensvollzügen derart beeinträchtigt wird, dass sie an Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit einbüßt. Demnach betonen alle drei Begriffe - Würde, Ehre und Integrität - die fundamentale Verletzbarkeit des Menschen. In ihrem defensiven Gebrauch sind sie sich daher überaus ähnlich. Damit sind wir sogleich auch bei einem zweiten wichtigen Berührungspunkt angelangt. Im Zusammenhang des als universell und doch graduierbar deklarierten Würdebegriffs war die Überzeugung geäußert worden, dass zwar nicht schon jeder Mensch im vollen Sinne Würde besitzen kann, dass Rechtsgemeinschaften aber dennoch dafür Sorge zu tragen haben, dass die gesellschaftlichen Ermöglichungsbedingungen der Würde möglichst.fiir alle sichergestellt werden. Der Mensch, und zwar jeder einzelne, hat an der Würde teil, weil er qua Mensch an einem Potenzial partizipiert, welches sich idealiter durch den Besitz und die Nutzbarmachung eines Selbstachtung generierenden Freiraums auszeichnet. Und eben dieser Freiraum ist menschenrechtlich zu garantieren. Gleiches gilt für die Integrität, von der hier ja ebenfalls behauptet

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werden sollte, dass sie in vollem Umfang nur Personen zukommen kann. Embryonen, geistig Behinderte oder auch Altersdemente besitzen zwar keine Integrität im normativ umfassenden Sinne, doch auch sie partizipieren an einem Potenzial zum menschlichen Wohlergehen, das idealiter durch den Besitz von Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit gekennzeichnet ist. Auch ihnen steht darum ein Recht auf "Schutz" jener sozialen Bedingungen zu, unter denen allein sich ein integres Leben entfalten kann, so weit dies eben möglich ist. Der Würdedebatte lässt sich demnach das folgendes Argument entleihen: Nicht nur Personen und schon gar nicht bloß jene Personen, die bereits integer sind, haben Anspruch auf Schonung. Vielmehr müssen gerade diejenigen, denen es an Integrität mangelt, mit den rechtlichen und sozialen Leistungen versorgt werden, deren Fehlen das ohnehin schon schwierige Leben für sie nur noch aussichtsloser erscheinen lassen würde. Allerdings ergeben sich trotz dieser Gemeinsamkeiten zwischen den Kategorien Integrität und Würde bzw. Ehre auch zwei entscheidende Unterschiede. Zunächst ist daran zu erinnern, dass Würde als Resultat sozialer "Achtung", Ehre als das Ergebnis sozialer "Wertschätzung" gedeutet wurde. Demgegenüber erweist sich der Integritätsbegriff insofern als normativ anspruchsvoller, als er immer schon beide, ja, drei Formen der Anerkennung voraussetzt: Achtung, Wertschätzung und, wie in Kapitel 4 und vor allem auch im Rekurs gesehen, Liebe bzw. Fürsorge. Hier zeigt sich also der erste entscheidende Unterschied zwischen den Begriffen Würde, Ehre und Integrität: Der Würdebegriff konzentriert sich auf den Aspekt der Achtung bzw. Selbstachtung, gerade weil er sich im Zuge der Auszeichnung eines universellen Prinzips von der Frage besonderer sozialer Wertschätzung unabhängig machen möchte. Beim Ehrbegriff verhält es sich gerade umgekehrt. Hier wird gezielt der Aspekt der Gleichheit ausgeblendet, gerade weil die je konkreten Leistungen eines besonderen Gesellschaftsmitglieds Wertschätzung erfahren sollen. Beide Begriffe sind darüber hinaus "politisch" in dem Sinne, dass sie die Kontexte einer jeden partikularen Binnenmoral intimer Beziehungsformen transzendieren. Personale Integrität hingegen benötigt alle drei Formen der Anerkennung, wenn sie gelingen soll: Achtung, durch Zuerkennung von Würde, Wertschätzung, durch Zuerkennung von Ehre, aber immer auch Liebe, wie sie dem Menschen allein von Seiten enger, "ergänzender" Bezugspersonen zufließen kann. Die normative Überlegenheit des Integritätsbegriffes ergibt sich aber nicht nur aus dieser Kombination dreier unterschiedlicher Anerkennungsbedingungen. Der zweite entscheidende Unterschied resultiert aus dem Umstand, dass das für den Vollzug integren Lebens charakteristische Geflecht aus ethischexistentiellen Ansprüchen der Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit aufweit mehr zielt als das, was für ein "bloß" würdevolles bzw. ehrenwertes Leben notwendig wäre. Integrität ist ein höherstufiger Modus 324

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"guten" Lebens. Ein himeichendes Maß an Würde und Selbstachtung bzw. Ehre und Selbstwertschätzung hat als elementare Voraussetzung für das integre Leben zu gelten. Anders ausgedrückt: Ein Mensch kann Würde bzw. Ehre besitzen, ohne dass ihm deshalb schon Integrität attestiert werden muss. 73 Dass aber umgekehrt ein Mensch Integrität besitzen könnte, ohne dass ihm zugleich auch Selbstachtung und Selbstwertschätzung zukämen, ist schwerlich vorstellbar. In welcher Beziehung jedoch stehen die Begriffe Freiheit und Autonomie zur Integritätsproblematik? Die negative und positive Freiheitsaspekte umfassende Kurzformel "X ist frei von Y, um Z zu tun" ist hier in politischer Perspektive als Gegensatz von privater und öffentlicher Freiheit, in ethischexistenzieller Hinsicht als Wechselspiel von Handlungs- und Willensfreiheit interpretiert worden. Dabei war "Freiheit" als die übergeordnete Kategorie verhandelt worden, die jeweils beide Komponenten umfasst, während der Begriff "Autonomie" den aktivischen Charakter der Freiheit, d.h. den positiven Aspekt willentlicher Selbstbestimmung im Zuge von öffentlicher Freiheit und Willensfreiheit hervorgehoben hat. Insgesamt war unter Freiheit die Chance verstanden worden, in Abwesenheit von inneren und äußeren Zwängen genau das Leben zu führen, zu dem man sich "aus freien Stücken" entschlossen hat. Hier wird die Nähe zum Integritätsbegriff offenkundig. Auch personale Integrität war zuvor verschiedentlich als das Vermögen charakterisiert worden, frei von inneren Zwängen und äußeren Übergriffen, in Einklang mit dem eigenen ethisch-existenziellen Wollen zu leben. Die in Kapitel 3 deklarierten Prototypen selbstinduzierter Integritätsmängel - Konfliktscheue, Selbsttäuschung, Willensschwäche- können als Störungen des Wechselspiels von Willens- und Handlungsfreiheit reinterpretiert werden, während die in Kapitel 4 diskutierten Prototypen sozial induzierter Integritätsverletzungen, und zwar insbesondere jene, die dort "strukturbedingt" genannt wurden, auf ein zerstörtes Verhältnis von privater und öffentlicher Freiheit schließen lassen.74 Kurzum: Die Ideen von Integrität einerseits, Freiheit und Autonomie andererseits überschneiden sich dort, wo es um die Frage nach einem von inneren und äußeren Widerständen möglichst unbehelligten, selbstbestimmten Lebensvollzug geht. Allerdings vermag der Integritätsbegriff auch den Kategorien Freiheit und Autonomie zwei entscheidende Gesichtspunkte hinzuzufügen. Zum einen ist in diesem Buch wiederholt darauf aufmerksam gemacht worden, dass sich die 73 Im ersten Fall wäre z.B. an ein Unfallopfer zu denken, das mit seiner Unver-

sehrtheit nicht schon die Menschenwürde verliert; im zweiten Fall an einen hochgeschätzten Mafiosi, der Ehre, aber keine Rechtschaffenheit aufweist. 74 Dies bedarf sicherlich noch der weiteren Erläuterung. Fraglich ist vor allem, ob das integre Leben notwendig auch auf öffentliche Autonomie im Sinne kollektiver Selbstregierung angewiesen ist. Ich denke, dies ist zu verneinen.

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Integrität einer Person oftmals eben gerade angesichts von Hindernissen oder äußerem Druck, d.h. angesichts von Unfreiheit beweisen muss. Als Kraft, auch gegen heftige Widerstände an dem festzuhalten, was man für richtig hält, ist Integrität, wie es in Kapitel 2 hieß, durch ein hohes Maß an "Beherztheit" charakterisiert. Demnach wird Integrität nicht nur erforderlich, wenn Freiheit fehlt, sondern oftmals gerade dann erst möglich. Ein Leben ohne jegliche Widerstände und Konflikte, so war vermutetet worden, würde eine integre Gegenwehr gar nicht erforderlich machen. Zum anderen ist im selbigen Kapitel festgestellt worden, dass personale Integrität neben dem Aspekt der Beherztheit immer auch ein hohes Maß an "Konsequenz" verlangt. Darunter war über die bloße Möglichkeit einer Realisierung ethisch-existenzieller Selbstverpflichtungen hinaus vor allem auch deren tatkräftige Realisierung verstanden worden. Die integre Person, so hieß es, verspürt die Metaverpflichtung, ihren Einzelverpflichtungen auch insoweit treu zu bleiben, dass sie deren Verwirklichung entschlossen anstreben muss. Dagegen müssen wir dem freien und autonomen Menschen, auch in konzeptioneller Hinsicht, die Freiheit einräumen, diese Realisierung freiwillig auch unterlassen zu können. Zwar sollten autonome Handlungen und Äußerungen stets auf autonomen Meinungsbildungsprozessen beruhen, doch erzwingen umgekehrt autonome Meinungsbildungsprozesse nicht schon konsequente Handlungen und Äußerungen. Freie Menschen haben die Freiheit, auf die Verwirklichung ihrer Freiheit zu verzichten, solange sie ihnen als Möglichkeit erhalten bleibt. Für integre Menschen gilt das hingegen nicht im gleichen Maße. Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit müssen im existenziellen Lebensvollzug performativ "zum Ausdruck" kommen. Ein Mensch, der Integrität besitzt, will nicht nur das, was er sagt und tut, er sagt und tut auch das, was er will. Bleibt die Realisierung eines freien Willens letztlich "freiwillig" aus, d.h. ohne dass innerer oder äußerer Zwang vorläge, mag das zwar nicht schon ein Problem für die Freiheit der betreffenden Person sein, für deren Integrität im Zweifel schon. 75 Damit ist der Übergang zum dritten und letzten Begriffspaar bereitet Authentizität und Wahrhaftigkeit -, von dem ja ebenfalls behauptet wurde, dass es ethisch-existentielle Konsequenzen "in beide Richtungen" impliziere. Es hieß, dass der authentische Mensch in einem doppelten Sinne als Urheber seines Lebens erkennbar sein muss. Einerseits sollten seine äußerlich wahrnehmbaren Handlungen, Äußerungen und sonstigen Verhaltensweisen Rückschlüsse auf ein konvergierendes Innenleben zulassen. Andererseits kann das Innenleben einer authentischen Person nicht bloß Innenleben bleiben, es muss sich "expressiv" in entsprechenden Äußerungen, Handlungen und sonstigen

75 Die These kann auch so formuliert werden: Die von der Integrität geforderte Konsequenz liegt außerhalb der Freiheitsidee. V gl. Raz (1986), S. 381-385.

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Verhaltensweisen niederschlagen. Der Begriff "Authentizität" wurde hier zur Kennzeichnung eben dieser möglichst zwanglosen doppelten Kongruenz von äußerem Erscheinungsbild und innerstem Persönlichkeitskern herangezogen, während "Wahrhaftigkeit" als systematischer Bestandteil des Authentizitätsideals aufzufassen war. Authentizität zeigt sich als Wahrhaftigkeit immer dann, wenn von einer adäquat nach außen dringenden Transformation von Meinungen und Absichten in entsprechende Äußerungen und Handlungen die Rede sein kann. Damit jedoch Authentizität im vollen Sinne vorliegt, muss ein entscheidender Aspekt zur Wahrhaftigkeit hinzutreten. Authentizität meint nicht nur die wahrhaftige Transformation subjektiver Meinungen und Absichten in entsprechende Äußerungen und Handlungen, sondern bereits vorab schon die aufrichtige, selbsttäuschungsfreie Transformation innerer Erlebniswelten in eben jene subjektiven Meinungen und Absichten, die es gegenüber anderen wahrhaftig zu äußern gilt. In genau dieser Hinsicht weist das Authentizitätsideal, verglichen mit all den anderen verwandten Begriffen, die größte Nähe zur Integritätsidee auf. Beide zielen auf den zwanglosen Einklang und die wechselseitige Durchdringung von ethisch-existenziellem Lebensvollzug und "innerstem" Selbstbild. Gleichwohl zeigen sich bei gerrauerem Hinsehen auch hier zwei wichtige Unterschiede. Während personale Integrität ein integriertes, d.h. ein rational begründbares und auf autobionarrativem Wege geordnetes Selbstverständnis voraussetzt, können Menschen nicht selten auch auf eher bewusstlose und inkohärente Weise authentisch bzw. wahrhaftig sein. Personen, die authentisch bzw. wahrhaftig sind, brauchen für ihr Reden und Tun gar keine Begründungen. Oftmals sind sie sogar aufüberaus authentische Weise "sprunghaft". Die bloße Feststellung einer temporären Kongruenz von äußerem Erscheinungsbild und innersten Motivlagen setzt nicht voraus, dass diese Motive selbst langfristig stabil oder gar ihrer Wichtigkeit nach geordnet sein müssen. Personale Integrität hingegen fordert sowohl die bloße Übereinstimmung von Lebensvollzug und innerstem Selbstverständnis als auch den Rückgriff auf ein hinreichend reflektiertes, d.h. horizontal und vertikal integriertes Selbstbild. Eine Person, die sich, sobald sie wegen ihrer Äußerungen und Handlungen unter Begründungsdruck gerät, regelmäßig mit dem schlichten Hinweis rechtfertigt: "So bin ich eben!", mag zwar authentisch und wahrhaftig sein, aber nicht integer. Vor allem aber ist zu bedenken, dass der Integritätsbegriff aufgrund seiner moralischen Mindestanforderungen einen Kreis um zulässige, d.h. sittlich tolerable Lebensvollzüge zieht, während dies für die Ideen der Authentizität und Wahrhaftigkeit nicht gilt. Letztere sind demnach in einem noch viel stärkeren Maße als die Integrität in einem vormorafischen Sinne zu verstehen: Zwar kann eine Person auf authentische Weise z.B. ein Priester sein, der wahrhaftig die Gebote Gottes verkündet. Doch ist nicht auszuschließen, dass

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ein anderer Mensch auf ebenso authentische Weise ein menschenverachtender Sektenilihrer ist, der wahrhaftig die Regeln des Teufels predigt. Die Ideen der Authentizität und der Wahrhaftigkeit sind derart formal gehalten, dass sie gänzlich beliebige Inhalte zulassen, solange der geforderte Einklang von innerem Persönlichkeitskern und äußerem Erscheinungsbild wahrnehmbar bleibt. Authentizität und Wahrhaftigkeit kennen keine moralischen Grenzen. Mit personaler Integrität hingegen sind nachhaltig unmoralische Lebensvollzüge unvereinbar: "Thus, there is no denying the closeness ofthe concepts ofintegrity and authenticity. Nevertheless, the concepts of integrity and authenticity do come apart. [... ] An authentic individual may be a moral monster, but a person of integrity may not. "76 Dieser zweifellos knappe Aufweis fundamentaler Berührungspunkte und Unterschiede zwischen dem Integritätsbegriff und seinen Verwandten mag den Eindruck erweckt haben, als solle der Sozialpathognostik im nun folgenden letzten Kapitel ein allzu anspruchsvolles und am Ende unrealistisches Ideal überantwortet werden. Reicht es denn nicht aus, so könnte man sich fragen, in aller Bescheidenheit auf Würde und Ehre zu pochen, wenn doch mit deren Schutz weit mehr gewonnen wäre als mit dem Scheitern eines utopischen Integritätsideals? Genügt denn nicht der kritische Bezug auf Freiheit und Autonomie, wenn man bedenkt, dass es den Individuen letztlich selbst überlassen bleiben muss, ob sie ihre Freiheit auch tatsächlich nutzen wollen? Fordern Authentizität und Wahrhaftigkeit nicht ohnehin schon viel zu viel, als dass auch noch die sozialen Bedingungen eines wahrhaft integrierten Selbstseinkönnens einzufordern wären? Dazu lässt sich abschließend das Folgende sagen: Zwar sollten in diesem Buch gute Gründe für eine komplexe Konzeption personaler Integrität versammelt werden, doch darf dies nicht schon als Plädoyer für ein völlig konkurrenzloses normatives Leitbild missverstanden werden. Sämtliche der hier diskutierten Begriffe haben theoretische, aber auch lebenspraktische Vor- und Nachteile. 77 Der Integritätsbegriffkann nicht schon all diese Konzepte in sich "aufheben", auch wenn einige Berührungspunkte und sogar Vorteile ausgemacht werden konnten. Dennoch ist und bleibt er ein kritischer Konkurrenzbegriff, der sich in ein konzeptionelles Nebeneinander divergierender normativer Leitbilder einzufügen hat, die sich wechselseitig zu ergänzen und zu korrigieren vermögen. Erst dieses Nebeneinander konstituiert einen wünschenswerten Pluralismus unterschiedlicher Perspektiven auf letztlich ein und dieselbe Sache: das menschliche Wohlergehen.

76 Cox/La Caze/Levine (2003), S. 12. 77 Ein differenzierter Vergleich würde deutlich werden lassen, dass die Konzepte inhaltlich immer näher zusammenrücken, je "dicker" sie verfasst sind.

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6. Angewandte Sozialphilosophie als Psychopathognostik der Integrität

Der Bericht zur gegenwärtigen Lage der Sozialphilosophie in Kapitel 1 schloss mit der Beobachtung, dass die zeitgenössische Sozialpathognostik in begründungstheoretischer Hinsicht durchgängig auf einen "dünnen" Begriff des menschlichen Wohlergehens rekurriert, für den sich die Integritätskategorie als passendes Etikett anbot. Der dort lediglich vorläufig skizzierte Kritikmaßstab des ungestörten Selbstseins wurde dann zwar gegen Ende des in Kapitel 2 folgenden Überblicks über unterschiedliche Verwendungsweisen des Integritätsbegriffes in dessen vierter Bedeutungsdimension - Ganzheit und Unversehrtheit - wiedergefunden. Spätestens im Verlauf von Kapitel 3 gewann jedoch ein derart komplexer und normativ anspruchsvoller Begriff der Integrität Konturen, dass der Eindruck entstehen musste, als sei der mit diesem Buch verlmüpfte Anspruch, eine kritische sozialpathognostische Richtschnur abzumessen, maßlos überzogen. Personale Integrität, so stellte sich heraus, ist immer auch von ganz bestimmten individuellen Faktoren und Fähigkeiten abhängig - man denke hier etwa an die Vermeidung der typischen Integritätsmängel Konfliktscheue, Selbsttäuschung und Willensschwäche -, die von der Gesellschaft und ihren Institutionen offenbar nicht schon bereitgestellt oder garantiert werden können. So ist man rückblickend zu der ernüchternden sozialphilosophischen Einsicht angehalten, dass die Integrität nicht schon als Ganze in den Verantwortungsbereich der Gesellschaft gestellt werden kann. Zwar haben wir im weiteren Verlauf der Untersuchung, zunächst im Rekurs und dann auch in Kapitel 4, mindestens ebenso zahlreiche Aspekte einer faktischen Abhängigkeit der Integrität von intakten Sozialbeziehungen zusammengetragen, dennoch dürfte hinreichend deutlich geworden sein, dass es vermessen wäre, der Gesellschaft ganz allein die Verantwortung für die Integrität ihrer Mitglieder aufzubürden.

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ÄNGEWANDTE SOZIALPHILOSOPHIE

Daraus ist folgender Schluss zu ziehen: Ganz gleich, wie anspruchsvoll man den Integritätsbegriff in ethisch-existenzieller Hinsicht ausstatten möchte, die legitimen moralischen Ansprüche, die aus sozialpathognostischer Sicht einzuklagen sind, können sich offenbar allein auf jene Güter, Leistungen, Verbindlichkeiten und Abwehrrechte erstrecken, deren Bereitstellung die Mitglieder einer Gesellschaft mittels politischer, sozialer, rechtlicher und ökonomischer Institutionen mit hinreichend guten Gründen wechselseitig voneinander erwarten dürfen. Die Sozialpathognostik kann sich nicht schon um die Integrität insgesamt kümmern. Ihr geht es einzig um deren soziale Ermöglichungsbedingungen, sofern diese im gerechtfertigten Interesse eines jeden Mitglieds der Gesellschaft liegen. Eine am Integritätsbegriff orientierte Sozialpathognostik hätte sich demnach primär an dessen spezifisch sozialen Aspekten auszurichten. Gleichwohl besteht kein Anlass dafür, all jene Integritätsaspekte, deren soziale Implikationen nicht gleich einsichtig sind, darum auch schon aus den Augen zu verlieren. Denkt man hier etwa an durchaus zentrale Charakteristika integren Lebens wie "Beherztheit", "Konsequenz" oder auch "Kohärenz", so mag zwar auf den ersten Blick nicht unmittelbar einleuchten, dass auch diese eine sozialphilosophische Relevanz besitzen. Auf den zweiten Blick kann sich jedoch schnell herausstellen, dass es sehr wohl, etwa aus entwicklungspsychologischer Perspektive, einer Vielzahl sozialer Bedingungen bedarf, damit sich ein solches Leben überhaupt entwickeln kann. Der in diesem Buch als normativ komplex ausgewiesene Integritätsbegriff sollte daher nicht schon als das "Gut" aufgefasst werden, das es gesellschaftlich zu verteilen gilt, sondern als zentrale "Hinsicht", an der soziale Verteilungspolitik sich auszurichten hätte. Entsprechend wird die Sozialpathognostik nicht schon Integrität als Ganze einklagen können, aber sie kann und sollte bei ihrer Kritik Integrität als Ganze berücksichtigen. In Erinnerung an die gegen Ende von Kapitel 5 vorgenommene Unterscheidung zwischen einem allgemeinen Recht "auf' Integrität, das es niemals geben kann, und einem universellen Recht auf "Schutz" der Integrität, von dem wir sehr wohl ausgehen dürfen, ergibt sich daher folgende allgemeine Fassung des sozialpathognostischen Grundproblems: Eine Gesellschaft wäre dann als pathologisch einzustufen, wenn es ihr nicht gelingt, die sozialen Voraussetzungen jenes Freiraums sicherzustellen, in dem allein sich ein Leben in Integrität zu entfalten vermag. Inwiefern, so lautet die entscheidende Frage, machen ganz bestimmte gesellschaftliche Missstände und Fehlentwicklungen ein Leben in Integrität schwer, wenn nicht sogar unmöglich? Diese Frage lässt sich offenbar nur dann sinnvoll behandeln, wenn die Darstellung und Analyse sozialer Ermöglichungsbedingungen von Integrität zu einer Diagnose und Kritik jener gesellschaftlich induzierten Bedrohungen fortschreitet, die das integre Leben heute erodieren lassen. Man mag sich zwar

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ÄNGEWANDTE SOZIALPHILOSOPHIE

schlicht damit begnügen, aus dem komplexen Integritätsbegriff, der hier erarbeitet worden ist, besonders schützenswerte soziale Bedingungen - etwa Moral und Anerkennung - formal herauszustreichen, doch bliebe ein solches Vorgehen weitgehend abstrakt und sozialpathognostisch unsituiert. Zum einen lassen sich zahlreiche konkrete Phänomene integren Lebens gar nicht unabhängig von den jeweils bestimmten Umständen, in denen sie auftreten, analysieren und bewerten; so können etwa extreme Formen couragierten Handelns, man denke an politische Attentate, in einer menschenverachtenden Diktatur Ausdruck von Integrität sein, während sie in einem vergleichsweise friedlichen Rechtsstaat als kriminell oder verrückt einzustufen sind. Zum anderen sollte die begriffliche Analyse personaler Integrität deshalb stets von einem empirischen Wissen um ihre momentanen Verwirklichungschancen geleitet sein, damit sie nicht über das Ziel hinausschießt und konkreten Alltagserfahrungen gegenüber den Anschluss verliert. Zur Analyse personaler Integrität gehört zwar einerseits die Phantasie, wie das integre Leben unter geeigneten Lebensumständen auszusehen hätte, andererseits aber auch eine Kritik jener Missstände, die einer Verwirklichung dieser anspruchsvollen Idee hier und jetzt im Wege stehen. Wer von den sozialen Chancen der Integrität spricht, darf von ihren gesellschaftlichen Risiken nicht schweigen. 1 Im vorliegenden Schlusskapitel soll daher, in Form eines Ausblicks, der Versuch unternommen werden, die hier gewonnene Integritätskonzeption eindeutiger als bisher in jenen größeren Zusammenhang zeitdiagnostischer Erwägungen einzubinden, mit denen wir begonnen hatten. Weil das Integritätsthema nicht allein in personaler Perspektive behandelt werden kann, wie in Kapitel 3 geschehen, weil dazu aber auch die direkt zwischenmenschliche Perspektive nicht ausreicht, die wir in Kapitel 4 eingenommen haben, bedarf es der Einbeziehung jener gesamtgesellschaftlichen Strukturzusammenhänge, die das einzelne Individuum samt seines Verhältnisses zum unmittelbar Nächsten übersteigen: "The problern with the accounts ofintegrity discussed so far has not been a failure to recognize the contingency of individual identities upon social structures or the compatibility of radical contingency with a notion of adequate selfhood; rather, it is a failure to recognize that some social structures are of the wrong sort altogether for some individuals to be able to pursue personal integrity and that questions about the moral nature of a society often need to be askedfirst before questions about personal integrity can properly be raised." 2

2

Vgl. Cox/La Caze/Levine (2003), bes. S. 148-153. Babbit (1996), S. 117. Vgl. William M. Sullivan (1995): Work and Integrity, New York: Rarper Collins, bes. S. 220.

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ÄNGEWANDTE SOZIALPHILOSOPHIE

Eine Sozialpathognostik, die sich am Integritätsbegriff auszurichten gedenkt, muss auf empirische Missstände, aber auch auf reale Missstimmungen zurückgreifen können, die ihr anzeigen, dass die sozialen Ermöglichungsbedingungen der Integrität auch tatsächlich in Frage stehen. Zunächst werden wir daher dem Problem nachspüren müssen, ob sich die Frage der Integrität heute überhaupt auf besonders dringliche Weise stellt; dabei werden wir das Integritätsproblem - vermutlich wenig überraschend - als Effekt spätmoderner Individualisierungsschübe deuten (6.1). Anschließend werden dann zunächst genau vier konzeptionelle Wege erörtert, die einer am Begriff der Integrität orientierten Sozialphilosophie grundsätzlich offen stehen (6.2). Das Plädoyer für jene vierte Form von Sozialpathognostik, die ihr medizinisch-klinisches Begriffsinstrumentarium beim Wort nehmen will, wird das Vorhaben einer "Psychopathologie" der Integrität einleiten. Im ersten Schritt werden klinische Persönlichkeitsstörungen, die für unsere Zeit als typisch gelten - namentlich "Depression", "Narzissmus" und "Borderline" - versuchsweise in das Integritätsvokabular übersetzt (6.3). Anschließend wird dann anhand des Integritätsbegriffs ein programmatischer Brückenschlag zwischen Fragen der Psychopathologie und Problemen der Sozialphilosophie versucht, mit dem die Idee einer "Wahlverwandtschaft" von spätmodernen Lebensmöglichkeiten und psychopathalogischen Lebenswirklichkeiten zur Diskussion gestellt wird (6.4).

6.1 Das spätmoderne Ringen um Integrität Soll mit Blick auf die Disziplin der Sozialphilosophie eine programmatische Relevanz des Integritätsbegriffes ausgewiesen werden, so hätte dies mit mindestens drei aufwendigen Nachweisen einherzugehen, die den Rahmen dieses Schlusskapitels sprengen würden. Wir werden es daher bei Andeutungen bewenden lassen müssen: Zunächst hätte deutlich zu werden, dass die in Kapitel 1 skizzierten begründungstheoretischen Bemühungen gegenwärtiger Sozialphilosophie sinnvoll auch noch unter jenen komplexen Begriff der Integrität zu bringen sind, der im Verlauf dieser Abhandlung entwickelt worden ist. Damit wäre die diskursstrategische Annahme einer Anschlussfähigkeit der hier umrissenen Integritätskonzeption plausibel gemacht. Zweitens müsste ersichtlich werden, dass die Sozialphilosophie mit Recht davon ausgehen kann, dass sich mit Blick auf spätmoderne Lebenswirklichkeiten tatsächlich von einer verschärften Integritätsproblematik sprechen lässt. Damit wäre die soziahistorische Vermutung belegt, dass das Bedürfnis nach Integrität erst in jüngerer Vergangenheit wirklich massenwirksam hervortritt, und zwar schlicht durch dessen umfassende und fortwährende Frustration. Drittens schließlich wäre der Verdacht zu erhärten, dass in den sozialen Auseinandersetzungen

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und Missmutsäußerungen unserer Tage tatsächlich ein enttäuschtes Verlangen nach Integrität zum Ausdruck kommt. Die Klärung dieses Problems diente dem empirischen Nachweis eines in das praktische Alltagsleben vieler einzelner Betroffener eingelassenen "utopischen Überschusses" an integritätsbezogenen Ansprüchen und Erwartungen. 3 Während wir auf den ersten Punkt der diskursstrategischen Anschlussfahigkeit erst ganz am Ende zu sprechen kommen werden, finden wir einen vielversprechenden Hinweis auf den Zusammenhang des soziahistorischen und des empirischen Arguments in einem Aufsatz des Soziologen Claus Offe. Gegen Mitte der 1980er Jahre hatte dieser in einer zwischen Modemisierungseuphorie und Modemitätsskepsis vermittelnden Zeitdiagnose die Annahme plausibel zu machen versucht, dass eine neue, seinerzeit noch weithin diffuse Protestbewegung auf den Plan getreten sei, die angesichts eines zunehmend in Kontingenz, Ineffizienz und Zerstörung ausartenden Spätkapitalismus einen für die Modeme ungeahnten Bedarf an "Selbstbeschränkungen" einzuklagen begonnen habe. 4 Offe hat hier augenscheinlich die ökologischen, pazifistischen und feministischen "sozialen Bewegungen" der damaligen Zeit vor Augen, deren Protest "neue Schmerzempfindlichkeiten und Unversehrtheitsansprüche" offenbare und auf eine "Modemisierung zweiter Ordnung" dränge, im Zuge derer es zu einer massiven Zügelung und vermehrten Steuerung entfesselter Reproduktionsverhältnisse kommen soll. In bislang unbekanntem Ausmaß, so Offe, konzentriert sich dieser Protest auf "das Thema des Schmerzes, der sich aus Übergriffen und der Bedrohung der physischen (oder im weitesten Sinne "ästhetischen") Integrität des Körpers, des Lebens oder einer Lebensweise ergibt". 5

Um verständlich zu machen, worum genau es bei diesem Protest geht und inwiefern es sich dabei um eine "neue" Form des Widerstandes handelt, greift Offe zu einer soziahistorischen Entwicklungsthese, nach der nicht bloß auf dem Gebiet professioneller Gesellschaftskritik, sondern auch in den Arenen des politischen Protestes selbst die normativen Maßstäbe gewechselt haben. Wenn die kritischen Sozialwissenschaften nunmehr, wie von Offe vorgeschlagen, die Begriffe "Schmerz" und "Integrität" ins Zentrum rücken, so reagieren sie damit unmittelbar auf eine veränderte politische Großkampftage. Blickt man zurück auf die Geschichte des modernen politischen Protestes, so richtete sich dieser zunächst vor allem gegen die Privilegien und die Willkür 3 4

5

Vgl. Honneth (1994c). C1aus Offe (1987): "Die Utopie der Null-Option", in: Peter Kos1owski/Robert Spaemann/Reinhard Löw (Hg.) (1987): Moderne oder Postmoderne?, Weinheim: VCH. Ebd., S. 156.

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vorbürgerlicher politischer Eliten. Erst mit den bürgerlichen Revolutionen des 18. Jahrhunderts und dem sukzessiven Übergang zu stärker egalitären und bald auch demokratischen Rechtsstaaten formierte sich dann im Schatten der kapitalistischen Industrialisierung eine Arbeiterbewegung, deren Protest vor allem gegen wirtschaftliche Armut und soziale Ungerechtigkeit gerichtet war. Als auch diese ökonomischen Probleme mit dem keynesianischen Wohlfahrtsstaat ab Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend eingedämmt schienen, kamen mehr und mehr auch empfindlichere Bedrohungen der Integrität zum Vorschein, die, auf die vorangegangenen Protestformen aufbauend, auf ein gesteigertes ethisch-existenzielles Bedürfnisniveau hindeuteten: "Die Protagonisten dieses Protestthemas stehen somit in einer Kontinuität mit Motiven und Errungenschaften der bürgerlich-demokratischen und der proletarischsozialistischen Bewegungen. Ohne deren akkumulierte Errungenschaften hätte es weder Anlässe noch Möglichkeiten gegeben, Verletzungen, Übergriffe und Schmerzerfahrung bzw. den Schutz von Leben und Lebensweise gegen solche Übergriffe zum erfolgreichen Mobilisierungsthema zu machen." 6 Diese soziahistorisch gestufte These Offes sollte keineswegs dahingehend missverstanden werden, dass die genannten neuen Schmerzempfindlichkeiten jene älteren Erfahrungen der politischer Ohnmacht einerseits, ökonomischer Ungerechtigkeit andererseits vollständig abgelöst hätten, so als habe man es bei der Forderung nach Schutz der Integrität mit einem "Luxusproblem" zu tun. Von einer restlosen Beseitigung staatlicher Willkür oder auch distributiver Ungerechtigkeiten kann zumeist offenkundig keine Rede sein. Dennoch sind die damit verknüpften gesellschaftlichen Probleme, zumindest zeitweise, in den Hintergrund getreten, so dass neue Schmerzempfindlichkeiten und Verlusterfahrungen zum Vorschein und auch zu Bewusstsein kommen konnten, die zu den älteren hinzutraten. Fragen der legitimen Machtverteilung und der distributiven Gerechtigkeit sind selbstredend auch für ein Leben in Integrität von fundamentaler Bedeutung, doch sind im Rahmen des Kampfes um dessen soziale Ermöglichungsbedingungen nunmehr weitere Ansprüche hinzugekommen.7 Folglich können die beiden älteren Stufen des gesellschaftspolitischen Protestes zwar als historisch notwendige Phasen einer umfassenden Bewusstwerdung komplexer Integritätsansprüche verstanden werden, auf denen jeweils neue Protestformen aufbauen können, doch sollte das Aufkommen anspruchsvollerer Identitätsbedürfnisse nicht als das Resultat einer

6 7

Ebd., S. 156. Die Frage, ob der Kampf um Verteilungsgerechtigkeit heute nicht längst wieder offen ausgebrochen ist, und zwar nicht zuletzt auch auf globaler Ebene, wird wohl bejaht werden müssen. Dennoch ist das Integritätsthema damit keineswegs vom Tisch.

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"Sättigung" verstanden werden, sondern als spätmoderne "Verfeinerung" des Gespürs für gesellschaftliche und kulturelle Problemlagen. Die Forderung nach Schutz der sozialen Bedingungen integren Lebens summiert politische Ohnmachtserfahrungen, ökonomische Unrechtsempfindungen sowie ein wachsendes Bewusstsein für darüber hinaus reichende Verletzungsrisiken zu einem insgesamt komplexen Anspruchsniveau, dass sich der Gefahr von invasiven Eingriffen in den ethisch-existenziellen Lebenszusammenhang von Personen auf ganzer Breite entgegenstemmt Wenn im Folgenden von der "Spätmoderne" die Rede sein wird, von der es heißt, sie habe das Bedürfnis nach Integrität in besonderem Maße wachgerüttelt, dann ist damit zunächst bloß ein vager Begriff für einen Epochenabschnitt angeboten, in dem sich ein Erschlaffen der vormals euphorisierenden Kräfte der kapitalistischen "Moderne" konstatieren lässt. Unter Moderne wiederum kann, ebenso vage, eine epochale Phase der K-R-I-S-E verstanden werden, d.h. ein weitreichender und durchgreifender Prozess der KAPITALISIERUNG, RATIONALISIERUNG, INDIVIDUALISIERUNG, SÄKULARISIERUNG und ENTTRADTTTONALTSIERUNG.R Aus Sicht der nach Integrität strebenden Individuen dürfte der gemeinte Ermüdungsvorgang, der es berechtigt erscheinen lässt, dem Begriff der Moderne das Präfix "Spät-" hinzuzufügen, nicht allein auf die sozialwissenschaftlich und sozialpsychologisch hinreichend diskutierte Beobachtung zurückzuführen sein, dass die Moderne mit dem hehren Versprechen einer Befreiung der Subjektivität angetreten ist, welches sich bis dato bloß unzureichend oder lediglich in pervertierter Form eingelöst findet. Vielmehr hat der fundamentale Strukturwandel der Moderne zu völlig neuen Formen der Unfreiheit geführt, die von den Betroffenen inzwischen kaum noch zu ertragen sind, so dass der durch Individualisierung vermeintlich bewirkte Autonomiegewinn für viele moderne Menschen lediglich fiktiv geblieben sein dürfte. 9 Wenn man bedenkt, dass "Individualisierung" ein überaus schillernder Begriff für einen komplexen soziahistorischen Prozess ist, der sowohl positive als auch negative Entwicklungsmomente umfasst- und zwar erstens Autonomisierung im Sinne einer Erweiterung selbstbestimmter Handlungsspielräume, zweitens Individuierung, also die VervieWiltigung existenzieller Lebensstiloptionen, sowie drittens Vereinzelung im Sinne des Zerfalls schüt-

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Die Frage, was die Modeme ausmacht, ist derart umstritten, dass ich es selbst bei einer subjektiven Aufzählung dieser zentralen Merkmale und jenem Abkürzungsversuch, der nicht zu ernst genommen werden sollte, belassen will. Wichtige Paten dieser Diskussion sind: Ulrich Beck (1986): Risikogesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp; Giddens (1991 ). Siehe zudem: Ulrich Beck/ Elisabeth Beck-Gemsheim (Hg.) (1994): Riskante Freiheiten, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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ÄNGEWANDTE SOZIALPHILOSOPHIE

zender Gemeinschaftsbindungen 10 - so ist längst unübersehbar, dass aus Sicht der zunehmend auf sich selbst gestellten spätmodernen Individuen das Selbst als solches zur riskanten Aufgabe geworden ist, die es nunmehr ohne festen sozialen Halt unvertretbar zu bewältigen gilt. Die Freisetzung aus "sozialintegrierten, aber durch Abhängigkeiten geprägten, gleichzeitig orientierenden und schützenden wie auch präjudizierenden und unterdrückenden Lebensverhältnissen" wird von den Betroffenen als überaus ambivalent und häufig auch als bedrückend erfahren. 11 Das aus gewachsenen Zusammenhängen herausgerissene Subjekt blickt mit einem beunruhigenden Gefühl emotionaler Heimatlosigkeit auf eine Gesellschaft, in der es fast alles erreichen könnte, wenn es nur nicht so alleine und ohnmächtig wäre. Einer maßlos gewachsenen Optionsvielfalt steht ein ebenso massiver Mangel an Rückhalt gegenüber, angesichts dessen die Chance auf Nutzbarmachung neuer Optionen und Handlungsspielräume nicht nur zu einer utopischen Wunschvorstellung verkommt, sondern zugleich auch in einen das Subjekt zunehmend überfordernden Individualisierungsdruck ausartet. Im Lichte des Rekurses kann diese Entwurzelung und Heimatlosigkeit als fortschreitendes Versagen moderner Gesellschaften gedeutet werden, ein früh erworbenes Phantasma intimer Solidarität zu kompensieren, deren Verlust im späteren Leben auf immer höherer sittlicher Stufe aufgefangen werden muss, damit sich personale Integrität einstellen und selbstbestimmt entwickeln kann. Demnach bringt die Spätmoderne einen stetig wachsenden Verlust an gesellschaftlicher Integration und damit eine strukturbedingte Erosion der intersubjektiven Bedingungen gelingender Persönlichkeitsentwicklung mit sich. Aus sozialpsychologischer Sicht verschärft sich mit dem vor allem sozioökonomisch bewirkten Mangel an langfristigen, intimen und auch solidarischen Nahbeziehungen das ohnehin als weit verbreitet anzunehmende Unvermögen, stabile Verhältnisse wechselseitiger Anerkennung und Unterstützung ausbilden zu können, in denen allein sich ein hinreichend widerstandsfähiges und zugleich für andere empfängliches Selbst zu formieren vermag. Es ist paradox: Je stärker das spätmoderne Individuum auf sich selbst zurückgeworfen ist, desto weniger gelingt ihm eine hinreichend klare und gesunde Abgrenzung zwischen Ich und Nicht-Ich, zwischen dem eigenen Selbst und dem der Anderen. Das spätmoderne Subjekt fühlt sich von fremden, anonymen Mächten aufgesogen. Je eindeutiger sich der Kampf um Anerkennung zu einem psychophysischen "Überlebenskampf' zurückbildet, desto stärker verblasst die eigene Demarkationslinie, angesichts derer der Andere noch "als" Anderer erkennbar ist. 12 10 Vgl. Axel Honneth (1994d): "Aspekte der Individualisierung", in: ders. (1994e): Desintegration, Frankfurt/Main: Fischer. 11 Habermas (1988a), S. 234. 12 Christopher Lash (1984): The Minimal Self, New York: Norton, bes. S. 15f.

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DAS SPÄTMODERNE RINGEN UM INTEGRITÄT

Bedenkt man darüber hinaus den bereits von Max Weber diagnostizierten Verlust traditioneller bzw. religiöser Sinnangebote sowie den nicht vollends von der Hand zu weisenden Verdacht, dass diese keineswegs ersatzlos weggefallen sind, sondern durch die quasi-religiöse Verheißungsideologie der kapitalistischen Reproduktionsverhältnisse lediglich abgelöst wurdenn, so lässt sich ein spätmodernes Desintegrationsszenario skizzieren, das für die mutmaßlich befreiten Subjekte längst zu einem neuen Gefängnis geworden ist. Dazu hier nur einige knappe, anhand der vier zentralen Integritätsmodi auszuführende Thesen: (a) Zwar mag die Pluralisierung ethisch-existenzieller Lebensstiloptionen neue Chancen auf eine zugleich autonomisierte und individuierte Selbsttreue in Aussicht stellen, doch kann der ernüchternde Blick auf die realen Zwänge des Alltagslebens und die zum Teil äußerst beschränkten Realisierungsmöglichkeiten, die sich dem spätmodernen Individuum bieten, verstörende und depersonalisierende Gefühle der Ohnmacht, Minderwertigkeit und Korrumpiertheit wachrufen. 14 (b) Zwar wandert mit der Autonomisierung ethisch-existenzieller Lebensvollzüge ein wichtiges Element der Freiwilligkeit in soziale Nahbeziehungen ein, man denke an Familien oder Partnerschaften, doch korrespondiert dieser Entwicklung auch ein allgemeiner Zuwachs an moralischer Unverbindlichkeit, der als Abkehr von der Orientierung an sittlichen Rechtschaffenheitsansprüchen interpretiert werden muss. 15 (c) Zwar bietet die spätmoderne Dezentrierung und Diversifizierung ethisch-existenzieller Lebensvollzüge reichlich Stoff für unverwechselbare autobionarrative Selbstbildungsprozesse, doch resultiert aus dem bereits festgestellten Defizit an "gesunden" gesellschaftlichen Integrationsmechanismen sowie aus der lebenspraktischen Überforderung entwurzelter Individuen auch ein direkter Verlust an lebensgeschichtlich integrierten Persönlichkeitsstrukturen.16 (d) Zwar tritt erst im Zuge der Spätmodeme ein spezifisches Recht auf Schutz der intersubjektiven Bedingungen des auf Ganzheit und Unversehrtheit zielenden Lebensvollzuges hervor, doch muss die Notwendigkeit der Proklamation eines solchen Rechts als unmittelbares Resultat jenes desintegrierenden Zerfalls intakter Sozialbeziehungen gedeutet werden, durch den

13 Dazu Alexander Rüstow (2001): Die Religion der Marktwirtschaft, Münster: Lit; Christoph Deutschmann (2001): Die Verheißung absoluten Reichtums, Frankfurt/Main u. New York: Campus. 14 Vgl. Richard Sennett (1998): Der flexible Mensch, Berlin: Berlin. 15 Viel zu optimistisch ist Anthony Giddens (1993): Wandel der Intimität, Frankfurt/Main: Fischer. 16 Vgl. Castoriadis (1984), bes. S. 164f.

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das seelische Selbst-Management spätmoderner Individuen allmählich in einen psychopsychischen Überlebenskampf ausgeartet ist. Nehmen wir einmal an, dass diese recht spekulativ gehaltenen sozialpathognostischen Thesen unmittelbar einleuchten: Muss sich nicht dennoch unweigerlich die Frage stellen, ob die Sozialphilosophie überhaupt derart umstandslos einen direkten Zusammenhang von soziahistorischen Fehlentwicklungen und individuellen Integritätsverlusten behaupten darf? Gerade dies soll im Folgenden bestritten werden, und zwar aus mindestens zwei Gründen: Zum einen ist gar nicht ausgemacht, dass tatsächlich ein kausaler Zusammenhang zwischen spätmodernen Lebenswirklichkeiten und beobachtbaren Integritätsverlusten rekonstruiert werden kann. Zum anderen sollte eine am Leitbegriff der Integrität orientierte Sozialpathognostik den Eindruck vermeiden, mit ihren Analysen - an sämtlichen sozialphilosophischen Debatten unserer Tage "vorbei" - gänzlich von vorne beginnen zu wollen. Sie hat sich zu eben diesen Diskussionen vielmehr konzeptionell und inhaltlich in Beziehung zu setzen, damit deutlich werden kann, dass sie tatsächlich mehr als bloß intuitive sozialkritische Mutmaßungen anzubieten hat, die das bereits etablierte sozialphilosophische Diskussionsniveau bloß unterlaufen. Daher sollen hier zunächst die denkbaren konzeptionellen Alternativen ausgelotet werden, die uns bei dem Versuch, den umrissenen Integritätsbegriff an zeitgenössische sozialpathognostische Debatten "anzuschließen", offen stehen.

6.2 Alternativen einer Sozialphilosophie der Integrität Einer "angewandten" Sozialphilosophie, die den Begriff der Integrität als sozialkritisches Diagnoseinstrument einsetzte, stehen mindestens vier Strategien zur Auswahl, wenn sie den Anschluss an bereits vorhandene zeitdiagnostische Diskussionen wahren will: (1) Insbesondere im anglo-amerikanischen Sprachraum ist in der Vergangenheit verschiedentlich die Überzeugung vertreten worden, dass die Charaktereigenschaft der Integrität eine jener zentralen "Tugenden" sei, deren tiefgreifenden Verlust die moderne westliche Welt zu beklagen und zu verkraften habe. 17 Zumeist kommt diese Kritik aus dem christlich-konservativen Lager. Beklagt wird ein Schwinden personaler Integrität in dem Sinne, dass Menschen immer seltener zu einem Leben in Selbsttreue und Rechtschaffenheit gewillt oder auch nur fähig seien. Dies müsse zu einer allgemeinen Orientierungskrise und zum Verfall verlässlicher Gemeinschaftsbindungen führen. Nicht nur sei das integre Leben im individuellen Einzelfall von intakten 17 Die These vom "Verlust der Tugend" hat Macintyre (1995) populär gemacht. Siehe zudem Hess (1978); Anita Louise Spencer (1996): A Crisis of Spirit, New York: Insight Books; Carter (1997).

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ÄLTERNATIVEN EINER SOZIALPHILOSOPHIE DER INTEGRITÄT

intersubjektiven Lebenszusammenhängen abhängig, auch umgekehrt gelte, dass Gemeinschaften und deren Institutionen, um funktionieren zu können, auf ein Reservoir an integren Charakterstrukturen zurückgreifen können müssen; man denke hier etwa an Familien und Nachbarschaften, Kindergärten und Schulen, Krankenhäuser und Banken, an den Staatsdienst oder auch an Polizei und Militär. Das Gelingen des gemeinschaftlichen Lebens, so heißt es, sei in vielfältiger Hinsicht auf verlässliche, loyale, patriotische, religiöse oder eben integre Mitbürger angewiesen. Was im Rahmen dieser christlich-konservativen Kulturkritik in den Blick gerät, ist eine Sozialphilosophie spätmoderner Dekadenz. Hier wird personale Integrität zur knappen sittlichen "Ressource" stilisiert. Ein solcher Kritikansatz hat zweifellos den Vorteil, überaus suggestiv zu sein und klare Verantwortlichkeiten abzustecken. Für den diagnostizierten gesamtgesellschaftlichen Mangel an Integrität werden letztlich die Betroffenen selbst haftbar gemacht, von denen es heißt, sie frönten aus rein egoistischen Nutzenerwägungen heraus einem das gesellschaftliche Zusammenleben erodierenden Lebensstil, von dem die Tugend der Integrität notwendig korrumpiert werde. Was aber ist von einem solchen Kritikansatz zu halten? Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass der als "Tugend" veranschlagte Integritätsbegriff offensichtlich nur einen Teil jenes umfassenden Bedeutungsspektrums abdeckt, das in diesem Buch aufgefächert worden ist, und zwar fast ausschließlich die Begriffsdimension der Rechtschaffenheit. Vor allem aber ist an solchen sozialpathognostischen Diagnosen irreführend, dass darin der eigentliche Befund zur Krankheitsursache erklärt und der Geschädigte dabei einseitig zum Täter gemacht werden soll. Der durchaus zu Recht konstatierte allgemeine Integritätsverlust wird hier nicht etwa als das Resultat spätmoderner Lebenswirklichkeiten, sondern stattdessen als der maßgebliche Grund der beklagten spätmodernen Misere gedeutet. Die egoistischen, korrumpierten und gottlosen Individuen selbst sind schuld am fortschreitenden Zerfall schützender Gemeinschaftsbindungen. (2) Nun könnte eine Sozialpathognostik der Integrität zweifellos auch umgekehrt verfahren, indem sie die Gesellschaft einseitig für individuelle Krankheitssymptome bzw. Integritätsverluste verantwortlich macht. Führt man sich zeitdiagnostische Befunde vor Augen, wie sie heute unter Überschriften wie "Kommerzialisierung", "Entfremdung", "Vereinzelung", "Entsolidarisierung", "Ungleichheit", "Ungerechtigkeit", "Missachtung" oder auch "Demütigung" ausgiebig diskutiert werden, so ließe sich fragen, ob und inwiefern es sich dabei jeweils um Verfallserscheinungen personaler Integrität handelt. Die in dieser Untersuchung entwickelten Integritätsbestimmungen könnten so als pathognostische Diagnosetools dienen, anhand derer das bereits vorhandene sozialphilosophische Forschungsmaterial noch einmal neu zu sichten wäre. Die zentrale Frage würden dann lauten: Wie genau ist der Schaden zu beschreiben, den die gemeinten Phänomene der Integrität von

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ÄNGEWANDTE SOZIALPHILOSOPHIE

Personen zufügen? Inwiefern handelt es sich um invasive Eingriffe in das integre Leben? Dieses Programm hätte augenscheinlich den enormen Vorteil, auf einen inzwischen reichhaltigen Fundus an sozialphilosophischen Phänomenbeschreibungen zurückgreifen zu können, die dann lediglich anhand des Integritätsvokabulars reformuliert zu werden brauchten. Mindestens die folgenden beiden Nachteile sollten jedoch auch berücksichtigt werden: Zum einen käme es dabei zu einer unzulässigen und unnötigen Engführung sozialphilosophischer Diagnostik auf die normativen Implikationen der Integritätsproblematik Gegen Ende von Kapitel 5 ist bereits die Überzeugung vertreten worden, dass eine Konkurrenz unterschiedlicher normativer Perspektiven auf das menschliche Wohlergehen durchaus wünschenswert ist. Es ist zu vermuten, dass jeweils bestimmte sozialphilosophische Zeitdiagnosen, etwa der Entfremdung, Ungleichheit oder Missachtung, so sehr auf verwandte normative Leitbegriffe zugeschnitten sind, und zwar in diesem Fall auf die Begriffe Authentizität, Autonomie und Würde, dass eine Übersetzung in die Integritätsproblematik nicht nur künstlich, sondern letztlich wohl auch kontraproduktiv wäre. Zum anderen wäre ein solches sozialpathognostisches Übersetzungsvorhaben ständig der Gefahr ausgesetzt, ein schwerwiegendes konzeptionelles Defizit zu reproduzieren, das heute unzähligen sozialphilosophischen Zeitdiagnosen anhaftet: Ganz gleich, ob nun im Einzelnen von Kommerzialisierung, Entfremdung, Individualisierung, Vereinzelung o.ä. die Rede ist, zumeist werden die betroffenen Subjekte einseitig und unkritisch zu "Opfern" stilisiert. Wer für die jeweils in Frage stehenden pathologischen Missstände letztlich die Verantwortung tragen soll, wird häufig ebenso wenig geklärt wie die Frage, ob die vermeintlichen Opfer am Ende nicht auch selbst eine Art "Mitschuld" an ihrer Misere tragen. (3) Man könnte daher auf eine dritte sozialphilosophische Strategie verfallen, die der Frage der Verantwortung dadurch auszuweichen versucht, dass sie von der Ebene der sozialphilosophischen Diagnostik ohne Umschweife zur Ebene geeigneter Therapievorschläge wechselt. Allerdings sind in der bisherigen Integritätsdebatte bloß vereinzelt konkrete politische Maßnahmen - etwa für die Bereiche Bildung, Entbürokratisierung und soziale Umverteilung - vorgeschlagen worden, von denen man sich die Schaffung und Verbesserung jener notwendigen gesellschaftlichen Bedingungen erhofft, unter denen das Leben in Integrität gelingen könnte. 18 Dabei geht es um die überaus 18 Siehe z.B. Donna H. Kerr (1984): Barriers to Integrity, Boulder: Westview; Albert W. Musschenga (2001 ): "Education forMoral Integrity", in: Journal for Philosophy of Education, 2/2001. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Ausdrücklich im Namen der Integrität führt die Nichtregierungsorganisation Transparency International einen weltweit organisierten Kampf gegen Korruption in Verwaltung, Politik und Wirtschaft. 340

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konkrete Frage, wie die vorhandenen gesellschaftlichen Institutionen- Familien, Kindergärten, Schulen, Verwaltungen, Arbeitsverhältnisse, Wirtschaftsunternehmen etc. - so umzugestalten sind, dass sie der Herausbildung und dem Erhalt personaler Integrität nicht länger im Wege stehen. Dieser sozialphilosophische Ansatz hätte zweifellos den Vorzug einer deutlichen Anwendungsbezogenheit. Allerdings ist bereits in Kapitel 1 die Sorge geäußert worden, dass sich die Sozialphilosophie vermutlich viel zu viel zutrauen würde, wenn sie glaubte, ihren "Patienten" nach dessen Anamnese auch noch behandeln zu können. Zwar mag sie einen konkreten Veränderungs- oder auch Regelungsbedarf feststellen, doch hätten entsprechende Reformprozesse das Resultat öffentlicher Auseinandersetzungen zu sein, an denen die Sozialphilosophie mit ihren Vorschlägen allenfalls beteiligt wäre. Aber selbst wenn sie es sich zutrauen würde, derart konkrete Vorschläge zur Verbesserung der gesamtgesellschaftlichen Integritätsbedingungen zu unterbreiten, wäre sie doch deshalb nicht schon von ihren - im engeren Sinne diagnostischen Pflichten entbunden. Bevor die Sozialkritik zu Therapievorschlägen fortschreiten kann, muss sie sich zunächst, und zwar nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit ihren empirischen Nachbardisziplinen, darüber aufklären, ob die von ihr ins Auge gefassten Pathologien überhaupt sinnvoll in das Integritätsvokabular übersetzt werden können. Das Diagnoseinstrument der Integrität sollte sich vorab an empirischen Fakten bewährt haben, wenn man daraus ein Behandlungsinstrument machen möchte. (4) Ein vielversprechender Mittelweg zwischen übereilter Anwendungsbezogenheit und empirischer Enthaltsamkeit, der überdies einseitige Schuldzuweisungen zu vermeiden sucht, gerät erst dann in den Blick, wenn sich die sozialpathognostische Integritätsanalyse dazu entschließt, ihre klinischen Metaphern beim Wort zu nehmen. Der im Folgenden zu erläuternde Vorschlag lautet: Eine Pathognostik der Integrität hat sich auf das Gebiet gravierender "Integritätskrankheiten" vorzuwagen. In Kapitel 1 sind wir zu der Überzeugung gelangt, dass eine kritische Sozialphilosophie sowohl dem Individuum als auch der Gesellschaft jeweils eine eigene Entwicklungslogik zubilligen muss. Die Rede von "Pathologien des Sozialen" erweist sich allein dann als gerechtfertigt, wenn der mikroskopische Blick auf das verletzbare Individuum mit der makroskopischen Perspektive auf die ebenso störanfälligen gesellschaftlichen Strukturzusammenhänge so verschränkt wird, dass wechselseitige Störungen vor Augen treten können. 19 Dann erst würde deutlich werden, dass Gesellschaften zwar nicht buchstäblich erkranken, dass es in diesen aber zu folgenreichen Fehlentwicklungen kommen kann, die einen das Wohlergehen ihrer Mitglieder beeinträchtigenden oder gar krankheitserregen-

19 Vgl. Alexander Mitscherlieh u.a (Hg.) (1972): Der Kranke in der modernen Gesellschaft, Köln: Kiepenheuer & Witsch.

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den Einfluss ausüben. Der klinische Sprachgebrauch der Sozialpathognostik folgt der Tatsache, dass Gesellschaften bisweilen Leid produzieren und ihre Mitglieder von den herrschenden Lebensumständen nicht bloß formiert, sondern eben auch deformiert werden. Wir haben außerdem festgestellt, dass sich der für die Sozialpathognostik sonst typische dekonstruktive Charakter im Hinblick auf deren normative Grundlagen nicht vollständig durchhalten lässt. Die kritische Gesellschaftsanalyse bedarf eines konstruktiven Fundaments, von dem aus gesellschaftliche Missstände gerechtfertigt als Pathologien diagnostiziert werden können. So wurde gegen Ende von Kapitel 1 eine philosophische Konzeption des menschlichen Wohlergehens in Aussicht gestellt, die anschließend unter dem Begriff der Integrität ausgearbeitet worden ist. Die richtungsweisende Grundfrage einer am Begriff der Integrität orientierten Sozialpathognostik lässt sich demnach wie folgt fassen: Inwiefern drohen ganz bestimmte gesellschaftliche Missstände und Fehlentwicklungen das Leben in Integrität schwer oder gar unmöglich zu machen? Demnach ist eine Gesellschaft dann als pathologisch einzustufen, wenn sie nicht jene sozialen Freiräume zu schaffen vermag, die für das integre Leben notwendig sind. Diese Prämisse setzt jedoch die Klärung der weiteren Frage voraus, ob überhaupt ein sinnvoller Zusammenhang zwischen der in diesem Buch entwickelten Integritätsproblematik und dem sozialphilosophischen Gebrauch klinischer Termini herzustellen ist. Will man das klinische Vokabular der Sozialpathognostik seiner bisherigen Metaphorik entkleiden, so bedarf es einer Forschungsperspektive, die anhand des Integritätsbegriffes zugleich pathogene Persönlichkeitsstrukturen und pathogene Sozialstrukturen sowie deren gemeinsame Wechselwirkungen sichtet. Wenden wir uns dazu zunächst dem individuellen bzw. mikroskopischen Pol dieses reziproken Bedingungsverhältnisses zu, bevor wir dann anschließend auf dessen strukturelle bzw. makroskopische Aspekte eingehen. Dabei werden wir zu dem Ergebnis gelangen, dass das Krankenverhältnis von Individuum und Gesellschaft auf merkwürdige Weise "parasitär-symbiotisch" eingerichtet ist.

6.3 Psychopathologie der Integrität: Depression, Narzissmus, Borderline In diesem Abschnitt soll auf Phänomene psychopathalogischer Persönlichkeitsstörungen eingegangen werden, von denen es heißt, sie seien "für unsere Zeit typisch". Im Zuge solcher Diagnostik ist in mehrfacher Hinsicht Vorsicht geboten. Wenn die Sozialphilosophie der Ansicht ist, auf unproblematische Weise an klinische Forschungsergebnisse anlmüpfen zu können, so ist sie rasch mit der Behauptung konfrontiert, dass das Vorhaben einer medizinischen Klassifikation, gesellschaftlichen "Organisation" und humanwissen342

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schaftliehen Explikation psychischer Störungen und Krankheiten, historisch gesehen, etwas Neues sei und daher selbst als integraler Bestandteil des Modemisierungsprozesses gedeutet werden müsse. 20 Einerdekonstruktivistischen Lesart dieser These zufolge ist die Modeme ein pathologisierendes Projekt, das auf die Diskriminierung und den Ausschluss devianter Lebensformen ziele. Demzufolge entstehe seelische Krankheit überhaupt erst in dem Moment, in dem das nicht zu integrierende oder zu "normalisierende" Leben als gestört oder krank bezeichnet werde. 21 Einer alternativen Lesart zufolge hätten wir es bei der Modeme an sich schon mit einem pathologischen Projekt zu tun, in dessen Verlauf Phänomene psychischer Krankheiten deshalb in den Blick von Medizin und Wissenschaft geraten sind, weil sie sich nunmehr in einer gesteigerten und nicht mehr zu verleugnenden Qualität und Dringlichkeit zeigten. 22 Inwieweit diese beiden Überlegungen eine jeweils eigene Berechtigung haben, braucht an dieser Stelle aber nicht geklärt zu werden, da im Folgenden lediglich die weniger anspruchsvolle These vorausgesetzt wird, dass es innerhalb der Modeme zu einem Wandel an zeittypischen Persönlichkeitsstörungen gekommen ist. Zunächst ist dazu allerdings eine genauere Abgrenzung der Begriffe "Krankheit" und "Persönlichkeitsstörung" vonnöten. Wenn von psychischer Krankheit die Rede ist, so ist damit ein erstes konzeptionelles Übersetzungsproblem berührt. Der Begriff der psychischen Krankheit verdankt sich einer Analogiebildung zur somatischen Krankheit, wobei bekanntlich bereits deren Konzeptionalisierbarkeit strittig ist. Wer in einem "objektiven" Sinne von Krankheit sprechen will, braucht offenbar ebenso objektive Kriterien menschlicher "Gesundheit". Letztere jedoch wird häufig schlicht als "Abwesenheit von Krankheit" interpretiert, wodurch man sich erst einmal in einem begrifflichen Zirkel verfängt. Dennoch haben die diesbezüglichen Debatten zu einem wichtigen Ergebnis geführt: Ganz gleich, ob nun somatische oder aber psychische Krankheit gemeint sein soll, in der konkreten Anwendung des Krankheitsbegriffes sollte stets zwischen einer "wissenschaftlichen" Beurteilung, die von außen vorgenommenen wird, und einer "lebensweltlichen" Diagnose, die aus der Binnenperspektive der Betroffenen heraus vollzogen wird, unterschieden werden. Aus der objektivierenden Perspektive des Arztes wird unter Krankheit gemeinhin eine schwerwiegende Beeinträchtigung "normaler" oder "typischer" Funktionsweisen des psychischen oder physischen Apparates verstanden. Aus der subjektiven Sicht des Patienten 20 Dazu vor allem Foucault (1969). Siehe aber auch die Beiträge in: Reiner Keupp/Manfred Zaumseil (Hg.) (1978): Die gesellschaftliche Organisierung psychischen Leidens, Frankfurt/Main: Suhrkamp. 21 Dazu der Überblick bei Schramme (2000), Kap. II. 22 Vgl. Volker Roelcke (1999): Krankheit und Kulturkritik, Frankfurt/Main u. New Y ork: Campus.

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hingegen geht es um als leidvoll erfahrene seelische und körperliche Beeinträchtigungen des individuellen Wohlergehens. 23 Da das Problem einer notwendigen Verzahnung dieser beiden Perspektiven eine ganz eigene, umfassende Erörterung notwendig machen würde, muss ich es an dieser Stelle bei einer zunächst vagen Definition belassen: Als "psychische Krankheit" soll hier eine seelisch bedingte, schwere Beeinträchtigung subjektiven Wohlergehens bezeichnet werden, die von außen als eine ebenso gravierende Abweichung von einem Zustand typischer Funktionstüchtigkeit beschrieben werden muss. Wenn dies als erste Hilfsdefinition ausreicht, so ist mit Blick auf die Frage, was demgegenüber als "psychische Persönlichkeitsstörung" zu bezeichnen wäre, anzunehmen, dass eine Persönlichkeitsstörung zwar nicht schon eine Krankheit ist, jedoch als "Tendenz" zur psychischen Krankheit beschrieben werden muss. Unter einer Persönlichkeitsstörung kann ein mit charakteristischen Symptomen behaftetes, relativ stabiles Erfahrungsund Verhaltensmuster verstanden werden, dessen typisches Erscheinungsbild immerhin so deutlich von dererwartbaren Norm abweicht, dass ein subjektiver Leidensdruck seitens der Betroffenen und ein nachteiliger Einfluss auf ihre soziale Umwelt angenommen werden müssen. 24 Da ein Abgleiten in Krankheit nicht ausgeschlossen werden kann und häufig sogar befürchtet werden muss, dürfen Persönlichkeitsstörungen daher als Dispositionen zur Krankheit verstanden werden. Von Krankheitszuständen im engeren Sinne unterscheiden sie sich dadurch, dass sie minder schwerwiegend sind und das Realitätsbewusstsein der betroffenen Personen weit weniger stark trüben. Die mit Persönlichkeitsstörungen einhergehende Beeinträchtigung der subjektiven Befindlichkeit ist keineswegs als derart gravierend einzustufen, dass von individuellem Wohlergehen überhaupt gar keine Rede mehr sein kann. Zugleich ist die von außen zu beobachtende Funktionstüchtigkeit des seelischen Apparates noch nicht so stark beschädigt, dass eine völlige Abwesenheit der psychischen Voraussetzungen "normalen" Lebens festzustellen wäre. Auf die Gefahr grober Vereinfachung hin, trennt Krankheit und Persönlichkeitsstörung in etwa das, was nach gängiger psychologischer Auffassung auch "Psychosen" und "Neurosen" voneinander unterscheidet: erhöhte Abnormität, Heftigkeit und Zerrüttung. Gleichwohl dürfte mit diesen unterschiedlichen Begriffsbestimmungen ein Kontinuum von Phänomenen angedeutet sein, das von eher harmlosen, noch gesund zu nennenden Fällen psychoneurotischer Störungen bis hin zu gravierenden und weit weniger häufig auftretenden psychotischen Krankheitsbildern reicht. Wenn die Annahme eines solchen Kontinuums nicht vollends von der Hand zu weisen ist, dürfte auch die Vermutung plausibel erscheinen, dass prinzipiell jeder menschliche 23 Dazu und für das Folgende siehe vor allem Schramme (2000). 24 Thomas Bronisch (2000): "Persönlichkeitsstörungen", in: Hans-Jürgen Möller u.a. (Hg.): Psychiatrie und Psychotherapie, Berlin u.a.: Springer.

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Charakter spezifische Elemente psychischer Persönlichkeitsstörungen aufweist, ohne dass diese darum auch schon bei jedem oder auch nur bei vielen ein krankhaftes Ausmaß anzunehmen bräuchten. 25 Soll dieses Kontinuum aber für die philosophische Integritätsproblematik fruchtbar gemacht werden, so sind wir sogleich mit einem zweiten konzeptionellen Übersetzungsproblem konfrontiert: Wer die Übersetzbarkeit medizinischer bzw. psychiatrischer Phänomene in das Vokabular einer philosophischen Idee des Wohlergehens behaupten will, der wird zugleich die Frage beantworten müssen, inwiefern der klinische Zugang zum kranken bzw. zum gesunden Patienten überhaupt mit dem spezifisch philosophischen Blick auf das menschliche Wohlergehen in Beziehung gesetzt werden kann. Hier offenbart sich nämlich das methodische Problem, dass die psychiatrische Diagnostik einem "szientistischen" Erkenntnisinteresse folgt, da sie maßgeblich an Fragen der Klassifikation von Krankheiten interessiert ist, während es im Rahmen einer Ethik bzw. Sozialphilosophie des Wohlergehens auf einen "hermeneutischen" Zugang zum Subjekt ankommt, bei dem aus der Binnensicht der Betroffenen die individuellen Schwierigkeiten, ein gelingendes Leben zu führen, erkennbar werden. Ich werde es hinsichtlich dieses methodischen Problems bei einigen wenigen Andeutungen bewenden lassen müssen. 26 An der Schnittstelle von psychiatrischer Begutachtung und philosophischer Diagnose hätte sich eine Art psychophilosophische Tiefenhermeneutik zu bewegen, die es sich zutrauen würde, unter Bezugnahme auf die Binnenperspektive von Betroffenen verallgemeinemde Hypothesen über das Wesen seelischer Krankheit und Gesundheit zu formulieren. Wenn wir uns daran erinnern, dass die in diesem Buch umrissene Integritätskonzeption von Beginn an als eine sozialphilosophisch inspirierte Theorie des "ungestörten Selbstseins" angelegt war, so wäre eine Sozialpathognostik der Integrität offenbar nichts anderes als der Versuch, eben jenes intuitive Verständnis der zentralen Merkmale und Bedingungen eines verfehlten bzw. gelingenden Lebens einzuholen, das in klinischen Zusammenhängen immer dann expliziert wird, wenn von Krankheit bzw. Gesundheit die Rede ist. Dass eine solche konzeptionelle Parallelisierung zulässig ist, dafür spricht der überaus aufschlussreiche Umstand, dass nicht nur Ärzte auf einen objektiven Krankheitsbegriff und Sozialphilosophen auf eine objektive Theorie des Wohlergehens zurückgreifen können müssen, um zu ihren Diagnosen zu gelangen. Auch die betroffenen Patienten selbst legen bei der Beurteilung ihrer Lage, wenn auch zumeist weitgehend unbewusst, allgemeine Annahmen über "das" gelingende Leben zugrunde, in deren Licht ihre eigene Existenz dann gegebenenfalls Defizite

25 König (1999). 26 Weiter Anregungen bei Evelyn Hanzig-Bätzing (1996): Selbstsein als Grenzerfahrung, Berlin: Akademie.

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offenbart. 27 An der gemeinsamen Schnittstelle von (a) ärztlicher Begutachtung, (b) sozialphilosophischer Diagnose und (c) der jeweiligen Selbsteinschätzung betroffener Individuen ist demnach die geteilte Unterstellung auszumachen, dass ein Leben, dem an W obiergehen gelegen ist, immer dann ein gravierendes Übel oder Defizit aufweist, wenn darin einzelne zentrale Aspekte des ungestörten, integren Selbstseins nicht mehr angemessen zu verwirklichen sind. Der Gebrauch der Konzepte Integrität und Gesundheit bzw. Integritätsverlust und Krankheit überschneidet sich immer dann, wenn es dabei um zentrale Aspekte des menschlichen Wohlergehens bzw. um gravierende Beeinträchtigungen geht. Wie schwierig es im Einzelnen auch immer erscheinen mag, wahrhaft verallgemeinerbare Aussagen über das menschliche Wohlergehen zu formulieren, es sind demnach die gemeinsamen Überzeugungen von Ärzten, Sozialphilosophen und Betroffenen, dass solche Aussagen möglich sind, welche die Übersetzbarkeit der gemeinten Konzepte garantieren. Kehren wir zunächst, mit diesen zweifellos noch unzureichenden methodischen und begrifflichen Bestimmungen im Gepäck, zur zeitdiagnostischen Ausgangsüberlegung dieses Abschnitts zurück. Wenn hier von Krankheitsbildern bzw. Persönlichkeitsstörungen die Rede sein soll, von denen es heißt, sie seien für unsere Zeit "typisch", dann ist damit offenbar die generelle Vermutung verknüpft, dass unterschiedliche historische Phasenjeweils unterschiedliche charakteristische Persönlichkeitsstörungen und Krankheitsbilder aufweisen. Und tatsächlich ist in den letzten Jahren von klinischer Seite aus ein solcher Wandel zeittypischer seelischer Erkrankungen vielfach behauptet worden; und zwar insbesondere für das 20. Jahrhundert. 28 Zu dessen Beginn, so heißt es, seien Krankheitsbilder der Hysterie und der so genannten Konversionsneurosen vorherrschend gewesen, von denen behauptet wird, sie hätten jene Charaktereigenschaften ins krankhafte Extrem gesteigert, die mit der damaligen Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft assoziiert werden müssen, wie Enthaltsamkeit, Arbeitsdisziplin und unterdrückte Sexualität. Die damit einhergehenden seelischen Störungsbilder wurden Gegenstand der klassischen Freudschen Psychoanalyse. Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts jedoch sei ein vermehrtes Aufkommen so genannter "Ich-Störungen" zu beobachten gewesen, die weniger als Resultat zivilisationsbedingter Repression denn als Ergebnis frühkindlich gestörter Interaktionen zu deuten sind. Mit Ich-Störungen sind depersonalisierende Selbstentfremdungstendenzen gemeint, die sich durch das bedrohliche Gefühl eines Verschwimmens klarer Grenzen zwischen Selbst und Nicht-Selbst sowie durch das desintegrierende 27 Auch hier folge ich Schramme (2000). 28 Ein früher Hinweis stammt von Allen Wheelis (1958): The Quest for Identity, New York: Norton, S. 40f. Zur Diskussion insgesamt siehe Christopher Lasch (1995): Das Zeitalter des Narzißmus, Hamburg: Hoffmann & Campe, S. 72ff.

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PSYCHOPATHOLOGIE DER INTEGRITÄT

Gefühl auszeichnen, anonymen Mächten unterworfen zu sein. 29 Der unter einer Ich-Störung leidende Mensch hat große Schwierigkeiten, die widersprüchlichen Gegebenheiten seines Lebens auf ein einheitliches integriertes Selbst zu beziehen. Wollte man die damit umrissene psychohistorische Diagnose in aller Kürze zusammenfassen, so wäre im Rahmen der psychischen Konfliktbewältigung von einer allgemeinen Tendenz zum unbewussten Strategiewechsel zu sprechen: weg vom Mechanismus der "Verdrängung", hin zu einer verstärkten "Abspaltung". 30 Bevor wir uns nun einigen dieser Ich-Störungen im Detail zuwenden, um erstens deren typische Symptome, zweitens deren lebensgeschichtliche Anamnese und drittens deren Übersetzbarkeit ins Integritätsvokabular zu klären, muss daraufhingewiesen werden, dass die These eines historischen Index psychopathalogischer Krankheitsbilder nicht dahingehend missverstanden werden sollte, als tauchten völlig neue Krankheitsbilder auf, während andere Persönlichkeitsstörungen von der Bildfläche verschwunden wären. Es ist lediglich davon auszugehen, dass zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Krankheitsbilder vorherrschend sind, so dass, absolut gesehen, durchaus eine relativ beständige Anzahl psychopathalogischer Störungstypen angenommen werden kann. Kulturelle Entwicklungen erzeugen keine Krankheiten, aber sie bestimmen die Formen ihrer Erscheinungen sowie das Ausmaß ihres Aufkommens.31 Die naheliegende Frage, ob in der Spätmodeme tatsächlich mehr Menschen psychisch krank sind als zu anderen Zeiten, muss an dieser Stelle freilich offen bleiben. Verlässliche Vergleichszahlen fehlen, und der Umstand, dass faktisch ein erhöhtes Ausmaß an psychischer Krankheit zu vermelden ist, muss immer auch auf die banale Tatsache zurückgeführt werden, dass heute sehr viel mehr Menschen als früher psychotherapeutische bzw. psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen (können). 32 Beginnen wir mit dem Krankheitsbild der Depression, von dem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sagt, es handele sich, weltweit gesehen und somatische Krankheiten eingeschlossen, um die "Volkskrankheit Nr. 1". 33 29 Vgl. Ulrich Streeck (1983): "Abweichungen vom »fiktiven Normal-Ich