Integrität: Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie [2., überarbeitete Auflage] 9783839436417

What does it mean to possess integrity? In the late-modern era of capitalism it is becoming increasingly difficult to re

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German Pages 408 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben einer Pathognostik des Sozialen
2. Bedeutungsdimensionen der Integrität: Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit
3. Selbstverständigung und Desintegration: Integrität als schwieriges Selbstverhältnis
Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehrtheit oder »Die Schwierigkeit zu sagen, was fehlt«
4. Interaktion und Invasion: Integrität als schwieriges Verhältnis zu anderen
5. Die nähere Verwandtschaft der Integrität: Würde und Ehre, Freiheit und Autonomie, Authentizität und Wahrhaftigkeit
6. Angewandte Sozialphilosophie als Psychopathognostik der Integrität
Literaturverzeichnis
Sachregister
Ausführliches Inhaltsverzeichnis
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Integrität: Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie [2., überarbeitete Auflage]
 9783839436417

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Arnd Pollmann Integrität

Edition Moderne Postmoderne

Arnd Pollmann (Prof. Dr. phil.) lehrt und forscht auf den Gebieten der Politischen Philosophie, insbesondere der Menschenrechte, der Sozialphilosophie, der Ethik und der Moralphilosophie. Er ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice Salomon Hochschule Berlin und u.a. leitender Redakteur des philosophischen Online-Magazins www.slippery-slopes.de.

Arnd Pollmann

Integrität Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Arnd Pollmann Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Print-ISBN 978-3-8376-3641-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3641-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

 Inhalt 

Einleitung 9 1. Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben einer Pathognostik des Sozialen 23 2. Bedeutungsdimensionen der Integrität: Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit 77 3. Selbstverständigung und Desintegration: Integrität als schwieriges Selbstverhältnis 127 Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehrtheit oder »Die Schwierigkeit zu sagen, was fehlt« 183 4. Interaktion und Invasion: Integrität als schwieriges Verhältnis zu anderen 239 5. Die nähere Verwandtschaft der Integrität: Würde und Ehre, Freiheit und Autonomie, Authentizität und Wahrhaftigkeit 291 6. Angewandte Sozialphilosophie als Psychopathognostik der Integrität 335 Literaturverzeichnis 379 Sachregister 399 Ausführliches Inhaltsverzeichnis 403

»And they all pretend they’re orphans and their memory’s like a train you can see it getting smaller as it pulls away and the things you can’t remember tell the things you can’t forget that history puts a saint in every dream« Tom Waits: »Time«

E inleitung Im amerikanischen New Jersey, unweit der Stadt New York, liegt tief im Wa­ shington Valley eine Ausbildungsstätte mit dem Namen The Seeing Eye. Es handelt sich dabei um keine herkömmliche Lehranstalt. Nicht etwa Menschen drücken dort die Schulbank, sondern Hunde. The Seeing Eye ist ein Ort, an dem junge Labradore und Schäferhunde eine Ausbildung als Blindenführer er­ halten. In einem mehrmonatigen Trainingsprogramm bringt man ihnen bei, einen Menschen ohne Sehvermögen durch die Tücken des Alltags zu lotsen. Wochen später dann werden die Vierbeiner ihren zukünftigen Weggefährten an die Hand gegeben, und zwar in einem buchstäblichen Sinn: Beide, die blin­ de Person und ihr eigens dafür ausgebildeter Hund, müssen nun lernen, Seite an Seite durch das Leben zu gehen. Sind sie erst einmal aufeinander einge­ spielt, werden sie fortan nicht mehr zu trennen sein. Wie gefahrenvoll der Alltag einer blinden Person sein kann und wie sehr sie dabei auf die Hilfe ihres Hundes angewiesen ist, vermag ein einfaches Beispiel zu verdeutlichen. Man stelle sich vor, das ungleiche Paar nähere sich einer vielbefahrenen Kreuzung. Da der blinde Mensch gelernt hat, das Ver­ kehrsaufkommen anhand des Straßenlärms einzuschätzen, hält er zunächst am Fahrbahnrand inne, und erst nachdem der Lärm abgeklungen ist, gibt er seinem Hund das Zeichen: »Vorwärts!« Aber nehmen wir an, auf der Kreu­ zung befände sich noch immer ein Auto. Es hat den Gegenverkehr abgewartet und will nun anfahren. Jetzt ist der Moment des Blindenhundes gekommen! Er wird die bedrohliche Situation erkennen und sich weigern, dem Befehl des Halters nachzukommen. Der Hund bleibt ganz einfach stehen. So bewahrt er sie beide vor einer großen Gefahr. Es ist dieses Verhalten des Hundes, von dem die Ausbilder von The Seeing Eye sagen, es handele sich um »intelligent disobedience«, um klugen Unge­ horsam. Angesichts einer akuten Gefahr kann der von ihnen angelernte Hund seinem Halter die Gefolgschaft verweigern, um ihn dadurch vor drohendem Unheil zu bewahren. Dabei ist das, was den Hund zum Stehenbleiben zwingt, eine Mischung aus Übung und Instinkt. Die Ausbildung hat ein intuitives Frühwarnsystem aktiviert und habituell überformt, wodurch eine antrainierte Protesthaltung möglich wurde, die nun in Gestalt einer »zweiten Natur« in

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den Dienst der gemeinsamen Sache tritt. Somit ist intelligent disobedience nur vermeintlich ein Akt des Ungehorsams. Der zugleich instinktive und trainier­ te Widerstand des alarmierenden Hundes ist vielmehr Ausdruck einer tief sit­ zenden Verbundenheit und Solidarität. Die Verweigerung erfolgt zum Schutze derer, denen für einen Moment die Gefolgschaft aufgekündigt wird. Und da­ mit verlassen wir dann auch schon das Schulgelände von The Seeing Eye… In dem vorliegenden Buch wird von den Aufgaben der Sozialphilosophie zu reden sein, und es dürfte sich bereits der Verdacht eingeschlichen haben, dass die an diesem Geschäft beteiligten Akteure im Folgenden mit Blindenhun­ den verglichen werden sollen. Dies wird tatsächlich geschehen, doch obgleich die dadurch nahegelegte Analogie einen leicht romantischen oder gar patheti­ schen Beigeschmack haben dürfte, werden wir auch im Zusammenhang des­ sen, was hier unter Sozialphilosophie verstanden werden soll, von »klugem Ungehorsam« sprechen können. Dabei wird sich jedoch herausstellen, dass die Metapher des Blindenhundes nicht nur eine pathetische, sondern zudem auch eine spezifisch pathologische Bedeutung besitzt, die für das Unternehmen der Sozialphilosophie charakteristisch ist. Zunächst einmal ist die Vermutung kaum von der Hand zu weisen, dass nicht nur einzelne Menschen sich gelegentlich »verrennen«, auch Gesell­ schaften als Ganze können in Orientierungsnot geraten, worüber etwa die seit den Tagen Max Webers geläufige und periodisch aufgefrischte Diagnose von einem kulturellen »Sinn- und Orientierungsverlust« Auskunft gibt. Zieht man hier Blindheit als Metapher heran, so lässt sich eine Sehstörung entspre­ chend auch in größerem Maßstab diagnostizieren, das heißt im Hinblick auf Gemeinschaften, wenn man bedenkt, dass diese bisweilen in Krisen geraten, die das Resultat einer versäumten Risikoabschätzung oder eines Mangels an Weitblick sind.1 An den Kreuzungen des sozialen, politischen, kulturellen oder auch ökonomischen Getümmels bedarf es nicht selten einer Art renitenten Rast, einer vorausschauenden Verweigerungshaltung, mit der die Zeit gewon­ nen wird, den Verkehr als Ganzen in den Blick zu bekommen und dabei eine der Gesellschaft drohende Fehlentwicklung abzuschätzen bzw. einen bereits herrschenden Notstand festzustellen. Es versteht sich von selbst, dass gesellschaftliche Desintegrationen, wie ­Orientierungskrisen dieser Art in den Sozialwissenschaften häufig genannt werden, allein dann abzuwenden sind, wenn sie für die davon Betroffenen rechtzeitig erkennbar werden. Herrschende Missstände müssen zunächst auf

1 | Michael Walzer zählt ein »gutes Auge« zu den grundlegenden Charaktereigenschaften des Sozialkritikers. Siehe ders. (2000): »Mut, Mitleid und ein gutes Auge«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 5/2000.

Einleitung

einer breiten Basis augenscheinlich und bewusst werden oder besser noch zur Sprache kommen, bevor es zu einschneidenden gesellschaftlichen Ver­ änderungen kommen kann. Dazu bedarf es einer hinreichend deutlich ar­ tikulierten Kritik. Erblickt man in solchen Klagen mehr als nur das übliche Lamento einiger weniger ewig Unzufriedener, dürfte das regelmäßige Auf­ kommen eines »Unbehagens in der Kultur« (Sigmund Freud) nicht so sehr lästig oder beunruhigend wirken als vielmehr erfrischend bis ermutigend. Proteste dieser Art lassen sich nämlich als unverzichtbare Triebkräfte der ge­ sellschaftlichen Fortentwicklung deuten, durch die so mancher fällige Wan­ del überhaupt erst möglich wird. Eine Gesellschaft drohte zweifelsohne an ih­ rem Status Quo zu ersticken, fände der in ihr herrschende Unmut kein Ventil. So ist es kaum verwunderlich, dass wir vor allem im Zusammenhang dessen, was gemeinhin auf die einfache Formel intellektueller »Sozial-«, »Kultur-« oder »Gesellschaftskritik«2 gebracht wird, auf vielfältige Beispiele von intelligent disobedience stoßen. Angesichts einer beinahe chronischen Krisenanfälligkeit des gesellschaft­ lichen Lebens zeigt es sich, dass jede Gemeinschaft auf selbstinduzierten Stress angewiesen ist. Damit ist der sich periodisch ansammelnde, zeitskeptische Druck gemeint, der in der Regel nicht einfach »von außen« auf die herrschen­ den Verhältnisse einwirkt, sondern vielmehr aus deren eigener Mitte kommt oder, um im obigen Bilde zu bleiben, von ihrer Seite. Die Artikulation gesell­ schaftlicher Verdrossenheit hat vornehmlich die Gestalt einer internen Revi­ sion. Die Kritikerinnen und Kritiker sind parteilich. Sie beteiligen sich mit einem gleichsam intuitiven wie trainierten Gespür für negative soziale Stim­ mungslagen an einem kollektiven Prozess der Selbstverständigung, bei dem es um die Zukunft ihrer eigenen Gemeinschaft geht.3 Sozialphilosophische Kritik ist demzufolge ein genuiner Bestandteil des gesamtgesellschaftlichen Ensembles und Ausdruck einer dort frei flottierenden Nervosität, die zum nor­ mativen Fluchtpunkt die Veränderung oder gar die Aufhebung unannehmba­ rer Zustände hat. Nun zeigt jedoch ein genauerer Blick auf den sozial- und kulturkritischen Diskurs unserer Tage, dass eben dieser normative Fluchtpunkt äußerst um­ stritten ist.4 Angesichts zeitgenössischer sozialphilosophischer Diskussionen mag einen vielmehr die Befürchtung beschleichen, dass die Frage, anhand 2 | Ich gebrauche diese Ausdrücke zunächst synonym mit ähnlichen Termini wie »Zeit-« und »Kulturdiagnose« oder »Gegenwarts-« bzw. »Zeitkritik«. 3 | Zu dieser Mischung aus kognitivem, normativem und emotionalem Eingebundensein siehe Georg Lohmann (1993): »Zur Rolle von Stimmungen in Zeitdiagnosen«, in: Hinrich Fink-Eitel/Georg Lohmann (Hg.) (1993): Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 4 | Wir werden auf das Folgende ausführlicher in Kapitel 1 zu sprechen kommen.

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welcher Maßstäbe Gesellschaftskritik geübt werden soll, weitgehend ungeklärt ist. Das Geschäft der kritischen Gegenwartsdiagnose, das lange Zeit, nahezu unproblematisch, entweder von »links« oder von »rechts« betrieben werden konnte, versteht sich heute längst nicht mehr von selbst. Wer an einer Diag­ nose gesellschaftlicher Missstände und Fehlentwicklungen interessiert ist, hat im Zuge seiner Kritik deutlich werden zu lassen, wem die festgestellten sozi­ alen Desintegrationen zum Nachteil gereichen. Um hier nur einige mögliche Antworten auf das damit umrissene sozialphilosophische Begründungsproblem anzudeuten: Geht es der Kritik um einen Mangel an Freiheit, Menschenwürde oder Glück, um ein Fehlen an Sicherheit, Ordnung oder Frieden, um Defizite an Gerechtigkeit, Gemeinwohl oder Solidarität, um das Schwinden von Tole­ ranz, Achtung oder Anerkennung? Es sieht so aus, als habe sich die Sozialphilosophie, wollte sie das Unter­ nehmen einer kritischen Zeitdiagnostik vorantreiben, zunächst mit der gewis­ sermaßen metakritischen Frage auseinander zu setzen, in wessen Namen die Gesellschaft kritisiert werden soll. Die vorliegende Untersuchung wird mit ei­ nem Überblick über die prominentesten sozialphilosophischen Begründungs­ ansätze der Gegenwart einsetzen. Dabei werden wir feststellen, dass, so ver­ schiedenartig das derzeitige Angebot an normativen Leitbegriffen auch sein mag, letztlich doch ein kleinster gemeinsamer Nenner der Kritik erkennbar ist: Die zeitgenössische Sozialphilosophie, so wird ein erstes Ergebnis lauten, kreist um einen in konzeptioneller Hinsicht »dünnen«, d.h. inhaltlich beschei­ denen Begriff vom menschlichen Wohlergehen, der auch heute, d.h. unter den Bedingungen des weltanschaulichen Pluralismus, Anspruch auf normative Generalisierbarkeit anmelden darf. Aber um welchen genaueren Begriff des Wohlergehens handelt es sich? Schon Georg Simmel hatte im Rahmen seiner zeitkritischen Analysen den Verdacht geäußert, dass spezifisch moderne Desintegrationserfahrungen ein menschliches Bedürfnis nach »Ganzheit« wachrütteln. Den zentrifugalen Kräften der Moderne korrespondiere eine Fragmentierung und »Zersplitte­ rung« des Subjekts.5 Es ist genau dieser schlichte Gedanke eines in der Mo­ derne mit besonderer Dringlichkeit hervortretenden Begehrens nach Intaktheit oder auch Unversehrtheit menschlicher Selbst- und Weltverhältnisse, der bis heute eine normative Einheit in der Vielheit sozialkritischer Bemühungen stiftet. Dahinter, so ist zu vermuten, verbirgt sich die Vorstellung von einer existenziellen Selbstbeziehung des Menschen, die allein dann als gelungen bezeichnet werden kann, wenn die betroffene Person es vermag, von äußeren und inneren Zwängen weitgehend unbehelligt, in Einklang mit dem zu leben,

5 | Georg Simmel (1970): Grundfragen der Soziologie, Berlin: de Gruyter, bes. S. 69; ders. (1987): Das individuelle Gesetz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Einleitung

was ihr selbst wichtig ist. Von diesem menschlichen Grundbedürfnis heißt es entsprechend, dass es durch gesellschaftliche Fehlentwicklungen dauerhaft frustriert werden kann. Zumeist aber bleibt diese Idee noch so diffus, dass kaum erkennbar wird, was explizit damit gemeint sein soll. Mit dem bloßen Hinweis auf ein menschliches Streben nach Ganzheit und Unversehrtheit ist zweifellos noch nicht sehr viel gewonnen. Weitgehend im Dunkeln muss bleiben, in welchen Hinsichten sich die Sozialphilosophie den Menschen als »verletzlich« vorzustellen hat. Ist damit mehr als bloß die Versehrbarkeit des menschlichen Körpers gemeint? Geht es auch um die Verletzlichkeit seiner Seele, seiner Freiheit, seines Willens oder gar seines gesamten ethisch-existen­ ziellen Lebenszusammenhangs? Genau an diesem Punkt, an dem in der gegenwärtigen Debatte die Verle­ genheit spürbar wird, die Idee der Intaktheit menschlicher Existenz mit Le­ ben füllen zu müssen, wird immer häufiger der äußerst suggestive Begriff »Inte­grität« herbeizitiert. Auf seine Verwendung trifft man in sozialphiloso­ phischen Kontexten zumeist dort, wo auf die Schwierigkeiten vergesellschaf­ teter Individuen hingewiesen werden soll, das eigene ethisch-existenzielle Selbst- und Weltverhältnis gegenüber Angriffen von außen zu schützen. Da­ mit übernimmt der Integritätsbegriff die Rolle einer Art Deckkategorie: Mit deren Nennung scheint sich die problematische Aufgabe, die Versehrbarkeit des Menschen einmal deutlicher zu explizieren, umgehend zu erledigen. Der Inhalt der Integritätsidee wird in der Regel für derart unproblematisch und selbstverständlich gehalten, dass es gänzlich unnötig erscheint, sich philoso­ phisch eingehender damit zu beschäftigen.6 Doch so vielversprechend die Wahl des Integritätsbegriffs in diesen sozi­ alphilosophischen Zusammenhängen auch sein mag, seine derzeit überwie­ gend oberflächliche Verwendung weckt den Verdacht, man wolle dem damit verknüpften sozialphilosophischen Begründungsproblem ausweichen. Das konzeptionelle Problem einer genaueren Bestimmung dessen, was es bedeu­ ten würde, ein intaktes oder auch unversehrtes Selbst- und Weltverhältnis zu besitzen, wird damit eher zugedeckt als in Angriff genommen. Daher wird es das Ziel des vorliegenden Buches sein, dem kritischen Sinn und Gehalt des Integritätsbegriffs umfassend nachzuspüren. Es soll erkennbar werden, was genau die Sozialphilosophie im Visier hat, wenn es heißt, dass ganz bestimmte gesellschaftliche Missstände und Fehlentwicklungen die Integrität einzelner Gesellschaftsmitglieder bedrohen.

6 | Manchmal gewinnt man den Eindruck, dass eine gewisse Scheu vorliegt, den Begriff genauer zu analysieren, so als könne er vor den Augen des Betrachters zerrieseln. Mehr dazu in Abschnitt 2.4.

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Wenn wir im Folgenden den Blick über die Grenzen der Sozialphiloso­ phie hinaus auch auf das Gebiet benachbarter philosophischer Disziplinen, vor allem der zeitgenössischen Ethik und Moralphilosophie, schweifen las­ sen, und zwar in der Hoffnung, dort bereits auf ausgereiftere Integritätskon­ zepte zu stoßen, so werden wir dabei eine doppelte Ernüchterung erfahren: Zum einen ist in Bezug auf die Integritätsproblematik so etwas wie eine phi­ losophische Tradition noch gar nicht vorhanden. Der Integritätsbegriff mag zwar ehrwürdig und auch ein wenig altertümlich anmuten, bislang jedoch ist er eine auffallend vernachlässigte philosophische Kategorie. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen 7, taucht der Terminus in der philosophi­ schen Debatte überhaupt erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts auf. Zum anderen wird sich bei der Sichtung des vorhandenen Materials zeigen, dass die Verwirrung mit Blick auf die Bedeutung des Integritätsbegriffs weit größer ist, als ohnehin schon vermutet. Zu der sozialphilosophischen Ver­ wendung des Begriffs im Sinne der Ganzheit und Unversehrtheit gesellt sich sofort ein zweiter Be­g riffsgebrauch, von dem auf Anhieb unklar sein dürfte, ob er sich mit dem ersten überhaupt verträgt. Diese zweite Bedeutung des Integritätsbegriffs klingt immer dann an, wenn wir – auch in alltagssprach­ lichen Zusammenhängen  – von einem Menschen sprechen, der »integer« ist.8 In der Regel haben wird dabei Personen vor Augen, von denen es heißt, sie seien »unbestechlich«, sie hätten »feste Werte«, zu denen sie stehen, und von denen sie sich nicht abbringen lassen. Während der Integritätsbegriff in seiner sozialphilosophischen Verwendung eine eher defensiv gehaltene Kate­ gorie ist, mit deren Gebrauch wir darauf hinweisen, dass das menschliche Leben ein zerbrechliches Gut ist, attestieren wir einer Person in der zwei­ ten Verwendung des Wortes eine besondere Charaktereigenschaft, die besagt, dass sie sich selbst »treu« ist.9 7 | Zum Beispiel: Marcus Tullius Cicero (45 v. Chr./1992): De officiis – Vom pflichtgemäßen Handeln, Stuttgart: Reclam; Thomas v. Aquin (1485/1985): Summa theologiae – Summe der Theologie, 3 Bände, Stuttgart: Kröner. 8 | Dazu eine wichtige terminologische Vorbemerkung: Das Adjektiv »integer« ist alltagssprachlich auf die nun folgende zweite Bedeutung festgelegt. Da aber in diesem Buch der Versuch unternommen wird, einen komplexen Integritätsbe­g riff zu umreißen, der diverse Verwendungsweisen integriert, wird der Gebrauch des Adjektivs hier auch auf andere Bedeutungsdimensionen ausgeweitet. 9 | Vorab sei angemerkt, dass sich bei der Verwendung der Integritätskategorie kulturabhängige Akzentsetzungen bemerkbar machen. Während z.B. im anglo-amerikanischen Sprachraum zumeist die zweite Bedeutung mitschwingt, wenn von »integrity« die Rede ist, wobei ein entsprechendes Adjektiv fehlt, zielt im Deutschen die Verwendung des Substantivs zumeist auf jene erste Begriffsbedeutung, das entsprechende Adjektiv meint fast ausschließlich die zweite.

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Wir werden jedoch sehen, dass das Bedeutungsspektrum des Integritäts­ begriffes mit diesen beiden Verwendungen noch immer nicht abgedeckt ist. Die Durchsicht der Debatte wird mindestens noch zwei weitere zentrale Be­ griffsdimensionen freilegen  – namentlich moralische »Rechtschaffenheit« und psychischen »Integriertheit« –, die sich auf erstere nicht einfach redu­ zieren lassen. Damit tritt ein Gewirr unterschiedlichster Bedeutungsaspekte hervor, von denen bislang weitgehend ungeklärt ist, ob und, wenn ja, wie sie miteinander verknüpft sind. Zwar ist in der Integritätsdebatte verschie­ dentlich der Versuch unternommen worden, einzelne dieser Verwendungs­ weisen gegeneinander abzugrenzen, insgesamt aber hinterlässt die Diskus­ sion bis dato den Eindruck, als habe man es weniger mit unterschiedlichen Bedeutungen als vielmehr mit gänzlich unterschiedlichen Begriffen zu tun. Damit ist bis auf Weiteres nicht nur fraglich, wie es kommt, dass im Zuge der Darstellung vermeintlich unterschiedlicher Sachverhalte dennoch dersel­ be Terminus Verwendung findet. Auch die zentrale Frage, was es denn nun heißt, Integrität zu besitzen bzw. ein Leben in Integrität zu führen, bleibt unbeantwortet. Mit der vorliegenden Untersuchung ist das Vorhaben verknüpft, mög­ lichst viele Bedeutungen des Integritätsbegriffs nicht nur aufzuweisen und hinreichend zu unterscheiden, sondern zudem auch unter dem Dach einer einzigen Integritätskonzeption zusammenzufassen. Das konzeptionelle Ar­ gument wird wie folgt lauten: Es lassen sich zunächst vier zentrale Bedeu­ tungsdimensionen des Integritätsbegriffs unterscheiden, die sich aus unter­ schiedlichen Kontextualisierungen der Integritätsidee ergeben. Dabei können wir einen ethischen, einen moralischen, einen eher psychologischen und ei­ nen sozialphilosophischen Begriffsgebrauch unterscheiden. Zugleich jedoch wird zu berücksichtigen sein, dass diese unterschiedlichen Wortverwendun­ gen ersichtlich nicht auf der gleichen begrifflichen Ebene liegen, auch wenn sie aufeinander verweisen: »Selbsttreue« meint die Übereinstimmung von Lebensvollzug und ethisch-existenziellem Selbstbild. »Rechtschaffenheit«, d.h. moralische Integrität, wird sich als ein Bestandteil der Selbsttreue er­ weisen, der dieser Grenzen im Hinblick auf die moralische Zulässigkeit des jeweiligen Lebensvollzugs setzt. Der Aspekt der »Integriertheit« dagegen wird kategorial anders geartet sein. Er benennt die kohärente Einheit in der Vielheit divergierender Lebensvollzüge, und zwar sowohl in der horizontalen Dimension des eigentlichen Lebensvollzugs als auch in der vertikalen Di­ mension einer nicht selten disparaten Lebensgeschichte. »Ganzheit« schließ­ lich wird als seelisch-körperliche Stimmung interpretiert werden, die sich al­ lein dann einstellen kann, wenn Integrität in jeder der drei zuvor genannten Hinsichten vorhanden ist. So soll sich insgesamt herausstellen, dass die genannten vier Bedeutungs­ dimensionen, trotz ihrer Divergenz, letztlich Aspekte ein und derselben Sache

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sind. Für die hier dargebotene systematische Begriffsanalyse hat demnach von Beginn an ein methodischer Verdacht als motivationaler Ansporn gedient, der in einem der wenigen vorhandenen philosophischen Lexikonartikel zum Inte­ gritätsbegriff wie folgt gefasst worden ist: »All of the accounts of integrity […] have a certain intuitive appeal and capture some important feature of our concept of integrity. There is, however, no philosophical consensus on the best account. It may be that the concept of integrity does not lend itself to a single coherent description. Integrity may be a cluster concept, tying together different, overlapping qualities of character under the one term. On the other hand, it may be that a fully adequate account of integrity is simply yet to emerge.«10

Verlassen wir für einen kurzen Moment das Gefilde der im engeren Sinne philosophischen Debatte und wenden uns Zusammenhängen der Alltagsspra­ che zu, so wird deutlich, dass der Integritätsbegriff dort nicht nur, wie in der philosophischen Diskussion auch, in unterschiedlichen Bedeutungen kursiert, sondern zudem auf gänzlich ungleiche Entitäten Anwendung findet: So be­ klagt die Ökologiebewegung eine Zerstörung der »Integrität der Natur«, so­ zialwissenschaftliche Studien warnen vor dem Zerfall der »Integrität der Fa­ milie«, der gewerbliche Rechtsschutz untersucht die »Integrität von Marken und Waren«, Staatsgebiete haben Grenzen und deshalb eine »territoriale Inte­ grität«, das Virenschutz-Programm manches Computers vollzieht beim Start einen »integrity-check« und in medizinisch-technologischen Labors wird die »Integrität von Kondomen« getestet. In diesem Buch hingegen soll der Integritätsbegriff allein als ein Attribut gehandhabt werden, das wir Personen zu- oder absprechen.11 Dabei wird der Personenbegriff zunächst in einem recht unspezifischen Sinn gebraucht wer­ den, d.h. ohne dass damit bereits vorab das Plädoyer zugunsten einer ganz bestimmten philosophischen Theorie der Person verbunden wäre. Vorerst soll lediglich behauptet werden, dass nicht schon alle Angehörigen der mensch­ lichen Spezies umfassend Integrität besitzen, sondern allenfalls jene, die eine Reihe von Merkmalen aufweisen, die in der Philosophie für gewöhnlich mit dem Personsein assoziiert werden.12 Erst im Verlauf des Buches wird deutlich werden können, um welche Merkmale genau es sich dabei handelt. Im Zuge ihrer Erörterung wird sich ein Ansatz abzeichnen, der in normativer Hinsicht 10 | Damian Cox/Marguerite La Caze/Michael Levine (2001): »Integrity«, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy, auf: http://plato.stanford.edu/entries/integrity/ (Stand: 21. Januar 2018). 11 | Ich danke Rahel Jaeggi für enorm hilfreiche Hinweise zu den nun folgenden methodologischen Klärungen. 12 | Dazu etwa Dieter Sturma (Hg.) (2001): Person, Paderborn: Mentis.

Einleitung

zweistufig angelegt ist: Zum einen kann und wird bestritten werden, dass wirk­ lich alle Mitglieder der Menschengemeinschaft – von der befruchteten Eizelle bis zur Leiche – in vollem Umfang Integrität besitzen können. Der Rückgriff auf Charakteristika des Personseins lässt vielmehr deutlich werden, dass Men­ schen, die keine Personen sind, nur unzureichend zur Integrität prädisponiert sind. Zum anderen kann und wird angezweifelt werden, dass alle Menschen, die zur Integrität fähig sind, darum auch schon in gleichem Maße Integrität besitzen. Um umfassend Integrität vorweisen zu können, so die These, bedarf es nicht nur einer Reihe von Voraussetzungen, Eigenschaften und Fähigkei­ ten. Personen müssen in der Lage sein, diese auch tatsächlich realisieren zu können. Personale Integrität wird demnach als eine Chance zu begreifen sein, die sich nicht von vornherein allen Menschen gleichermaßen bietet und die zudem, falls vorhanden, erst noch genutzt werden muss. Insofern das norma­ tive Begründungsproblem der zeitgenössischen Sozialphilosophie den Kontext dieser Begriffsklärungen abgibt, handelt es sich bei dieser Untersuchung dem­ nach, wie schon ihr Untertitel sagt, um die »Aufnahme einer sozialphilosophi­ schen Personalie«. Nun mag aber diese vorab angedeutete Einschränkung der Integritätspro­ blematik auf den Adressatenkreis von Personen vorschnell zu dem Verdacht verleiten, hier solle einer elitären Theorie das Wort geredet werden, die ganz bestimmte Gruppen von Menschen, etwa Kinder, geistig Behinderte oder Al­ tersdemente, von den Vorzügen der Integrität fernhalten will. Wenn dem so wäre, läge aus sozialphilosophischer Sicht die zweifellos unerwünschte, ja, absurde Konsequenz nahe, dass allein jene Menschen, die bereits in vollem Umfang Integrität besitzen, entsprechend auch ein Recht auf Schutz ihrer Inte­ grität genießen dürfen. Wie dieser Verdacht bereits auf konzeptioneller Ebene zu vermeiden ist, wird erst im Verlauf des Buches deutlich werden können. Die wichtigste Prämisse, die dabei plausibel werden soll, ist die folgende: Nicht alle Menschen besitzen gleichermaßen Integrität, aber alle Menschen besitzen das gleiche Recht auf Schutz eines Freiraums, in dem allein sich ein integres Leben zu entfalten vermag. Am Ende dieser Abhandlung wird ein eigener sozialphi­ losophischer Begründungsansatz umrissen werden, der zunächst davon abse­ hen kann, ob und inwieweit Individuen de facto Integrität vorzuweisen haben. Er wird lediglich ein allgemeines Recht auf die sozialen »Ermöglichungsbe­ dingungen« von Integrität einklagen. Im Zuge dieser Begriffsklärung ist die Frage, was es heißen würde, ein Leben in Integrität zu führen, zuvorderst aus der Betroffenenperspektive zu stellen. Obgleich hier nicht behaupten werden wird, dass Personen sich im Alltag faktisch genau so verstehen, wie es im Folgenden in philosophischer Begrifflichkeit entwickelt wird, sollen in dieser Untersuchung doch, gewis­ sermaßen in Stellvertretung, verallgemeinerbare Aussagen über alltägliche Sachverhalte der ethisch-existenziellen Lebensführung gesammelt werden.

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Anhand oftmals recht trivialer Beispiele werden vertraute Phänomene erhellt und deren Strukturähnlichkeiten systematisiert werden. Philosophische The­ oriezusammenhänge und alltagspraktische Phänomenbeschreibungen sollen sich wechselseitig erläutern.13 Eine zentrale Prämisse ist dabei schlicht als un­ strittig gesetzt: Personen haben ein Bedürfnis nach Integrität, ganz gleich ob sie damit nun auf Ganzheit, Selbsttreue oder einen der übrigen Bedeutungsas­ pekte abzielen. Wer am Gelingen des eigenen ethisch-existenziellen Lebens­ vollzugs interessiert ist, wird Orientierungen aufweisen müssen, die anhand des Integritätsvokabulars begrifflich strukturiert und anschaulich gemacht werden können. An dieser Stelle soll vorab zwei naheliegenden Bedenken begegnet werden: Zum einen dürfte angesichts des konzeptionellen Zuschnitts der Integritäts­ idee auf Aspekte des Personseins fraglich sein und bis zuletzt auch fraglich bleiben, wie »universalistisch« die hier vorgelegte Integritätskonzeption be­ schaffen ist. Der transkulturelle und ahistorische Nachweis, dass tatsächlich alle Menschen nach Integrität streben, würde den Rahmen einer systemati­ schen Begriffsanalyse sprengen, da er eine detaillierte kulturhistorische und ethnologische Forschung erforderlich machte. Daher werde ich hier zunächst schlicht unterstellen müssen, auch wenn diese Unterstellung später an Plau­ sibilität gewinnen wird, dass zumindest für Menschen, die sich als Personen verstehen, Integrität ein wichtiges, ja, unverzichtbares Gut darstellt. Ob das Personsein selbst ein universelles Gut ist, mag umstritten sein, kann aber hier nicht weiter erörtert werden. Die folgenden Überlegungen sind daher primär als Selbstverständigung innerhalb des Bezugsrahmens philosophischer Theo­ rien des Personseins zu verstehen. Zum anderen werden sich Unterstellungen dieser Art kaum mit Parolen des postmodernen Zeitgeistes zur Deckung bringen lassen, denen zufolge es weit eher die »Brüche« und »Diskontinuitäten« des Selbst und seiner Geschich­ te sind, d.h. die mehr schlecht als recht verarbeiteten Nähte der sogenannten patchwork-identity, die das Leben lebenswert machen. Postmoderne Menschen, so die Überzeugung, seien gar nicht an Einheit, sondern an Vielheit interes­ siert, nicht an Ganzheit, sondern an einer Auflösung von Grenzen, nicht an Selbsttreue, sondern an einer permanenten Neuerschaffung des Subjekts.14 Aus dieser Sicht auf die Lebensverhältnisse unseres westlichen Kulturkreises muss es beinahe so scheinen, als sei das Plädoyer für personale Integrität bloß 13 | Dramatische Beispiele – und auch solche werden hier zur Sprache kommen – markieren jene Bruchstellen im Leben, an denen Integrität scheitert. Banale Beispiele hingegen illustrieren die »normale« Praxis, in denen das Leben in Integrität zumeist gelingt. 14 | Dazu nur ein Beispiel direkt aus der Integritätsdebatte: Victoria M. Davion (1991): »Integrity and Radical Change«, in: Claudia Card (Hg.) (1991): Feminist Ethics, Lawrence: Kansas UP.

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als eine anachronistische, konservative Reaktion auf den vermeintlich allge­ meinen Wertezerfall zu interpretieren.15 Insbesondere gegen Ende dieses Buches wird sich jedoch herausstellen, dass die zeitkritischen Verdachtsmomente, von denen die hier vorgelegte In­ tegritätskonzeption geleitet ist, weder mit dem modischen Trend zum »Leben als Kunstwerk« noch mit dem konservativen Klagelied über einen allgemeinen »Tugendverlust« verträglich sind. Zu Beginn jedoch soll lediglich, ganz allge­ mein, von einem erhöhten Bedürfnis nach Integrität  – und wohl auch nach einer Theorie der Integrität – ausgegangen werden, für das als erstes Indiz die folgende Anekdote herhalten mag: »A couple of years ago I began a university commencement address by telling the audience that I was going to talk about integrity. The crowd broke into applause. Applause! Just because they had heard the word integrity.«16

Die sechs Kapitel dieses Buches sind konzentrisch angelegt. Konzeptionelle Probleme der Sozialphilosophie bilden die äußere Klammer (Kapitel 1 u. 6). Die mittlere umfasst Fragen des Gebrauchs der Integritätskategorie innerhalb der philosophischen Diskussion (Kapitel 2  u.  5). Die innere Klammer dient der Erläuterung ihres systematischen Gehalts (Kapitel 3 u. 4). Den Kern der Un­ tersuchung bildet eine entwicklungspsychologische Spekulation über die le­ bensgeschichtlichen Ursprünge der Integrität (Rekurs). Dabei werden sich, der Reihe nach, die folgenden Argumentationsschritte ergeben: Kapitel 1 soll einen Überblick über die derzeitige Lage der Sozialphilosophie verschaffen. Im Mit­ telpunkt dieser Sondierung des gesellschaftskritischen Terrains wird die meta­ kritische Frage nach den normativen Maßstäben gegenwärtiger Zeitdiagnostik stehen, wobei sogleich ein kleinster gemeinsamer Nenner der Kritik erkennbar werden wird: das intakte Selbst- und Weltverhältnis. An die medizinische Me­ taphorik heutiger Sozialphilosophie anknüpfend, soll dabei das Unternehmen einer »Pathognostik des Sozialen« erste Konturen gewinnen, das um einen normativ gehaltvollen Begriff personaler Integrität bereichert werden wird. Das primär begriffsklärende Kapitel 2 sammelt und sortiert dann die vor­ handenen philosophischen Beiträge zur Integritätsproblematik. Wie bereits angedeutet, werden genau vier zentrale Bedeutungsdimensionen des Integri­ tätsbegriffes unterschieden werden, von denen zunächst unklar sein muss, wie 15 | Solche Diagnosen gibt es durchaus. Ein Beispiel aus religiöser Sicht: J. Daniel Hess (1978): Integrity. Let your Yea be Yea, Scottdale: Herald. Dort wird der allgemeine Integritätsverlust wie folgt beklagt: »A small box of cereal is relabeled Large. Plastic is grained to look like wood. Pringles are made to crunch like potato chips. Rubber pads are shaped into a size D breast« (S. 20). 16 | Stephen L. Carter (1997): Integrity, New York: Harper Perennial, S. 5.

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sie miteinander verknüpft sind: Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit. Erste Verdachtsmomente werden für die Rechtmäßigkeit des im weiteren Verlauf der Untersuchung unternommenen Versuchs sprechen, die­ se unterschiedlichen Kontextualisierungen der Integritätsidee in eine einzige Konzeption zu integrieren. Anschließend wird sich das begriffssystematische Kapitel 3 zunächst der Frage zuwenden, inwiefern personale Integrität als ein »schwieriges Selbstverhältnis« beschrieben werden muss. Hier soll der verant­ wortliche Eigenbeitrag geklärt werden, den jede Person zum Erhalt ihrer Inte­ grität beizusteuern hat. Das Ergebnis wird sein, dass jeder Mensch zumindest insofern für seine Integrität selbst verantwortlich ist, als er mindestens drei prototypische Integritätsmängel zu vermeiden hat: »Konfliktscheue«, »Selbst­ täuschung« und »Willensschwäche«. Diese ersten drei Defizite an Integrität werden uns auf eine wichtige existenzielle »Aporie« des integren Lebens auf­ merksam machen: Wir streben nach Integrität, obwohl wir wissen, das sie nie­ mals vollständig zu erreichen sein wird. An diesem Punkt angelangt, wird es sich als notwendig erweisen, Spekula­ tionen darüber anzustellen, woher das in diesem Buch unterstellte Bedürfnis, ja, die »Sehnsucht« nach Integrität stammen mag. Diese Erwägungen werden in einen entwicklungspsychologischen Exkurs gekleidet sein, der aufgrund seiner buchstäblichen Rückwärtsgewandtheit Rekurs heißen soll. Dieser Ein­ schub wird die argumentative Stoßrichtung der Untersuchung in mindestens zwei Hinsichten fundamental verändern: Zum einen markiert der Rekurs ei­ nen Übergang zwischen den im ersten Teil konzeptionalisierten Formen einer integren Subjektivität zu den im zweiten Teil untersuchten Mustern intakter Intersubjektivität. Zum anderen wird das Buch dabei an einen ontogenetischen Kipppunkt gelangen, der diskursiv kaum mehr einholbar zu sein scheint. Die entwicklungspsychologischen Spekulationen des Rekurses sollen in das argu­ mentativ nur schwer zugängliche Terrain lebensgeschichtlicher Früherfah­ rungen vorstoßen, um eben dort nach den Ursprüngen des Bedürfnisses nach Integrität zu fahnden. Wenn wir die Sehnsucht nach Integrität nur weit genug zurückverfolgen, so die These, die im Rückgriff auf inzwischen reichhaltiges klinisches Forschungsmaterial entwickelt wird, vermag deutlich zu werden, dass das Streben nach Integrität einem überaus früh erworbenen »Phantas­ ma« gelingender Intimität folgt, dessen Explikation auf philosophischem Wege bislang kaum möglich schien. Auf dem lebensgeschichtlichen Grund der In­ tegritätsidee stoßen wir auf eine Sehnsucht nach Wiederherstellung frühester intimer Allianzen, die es der Analyse im weiteren Verlauf unmöglich machen werden, Integrität weiterhin in den eher konventionellen Bahnen von Begriffen wie »Autonomie« und »Selbstbestimmung« primär als ein Selbstverhältnis zu deuten. Freilich wird der Rekurs aufgrund seines tiefenpsychologischen und überaus spekulativen Charakters auf geneigte Leserinnen und Leser hoffen müssen.

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Damit wird das Feld einer immer schon gebrochenen Intersubjektivität so­ wohl als Bedingung der Möglichkeit integren Lebens wie auch als Schauplatz gravierender Verletzungserfahrungen ausgewiesen sein. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich werden, dass es sich bei personaler Integrität um eine zen­ trale Modalität des gelingenden Lebens handelt, die uns zugleich »verfügbar« und »unverfügbar« ist. Parallel zu Kapitel 3 wird Kapitel 4 dann folgerichtig der Frage nachgehen, inwieweit personale Integrität stets auch als ein »schwieri­ ges Verhältnis zu anderen« gedeutet werden muss. Hier nun wird das Ergebnis lauten: Jeder Mensch ist insofern nicht für seine Integrität verantwortlich, als diese immer auch vom Wohlverhalten anderer abhängt. Fragen der Moralphi­ losophie und einer Theorie sozialer Anerkennungsbeziehungen werden not­ wendige soziale Ermöglichungsbedingungen der Integrität vor Augen treten lassen. Die Skizze einer Phänomenologie »invasiver Eingriffe« in das integre Leben soll typische soziale Verletzungserfahrungen zusammentragen. Zu Beginn von Kapitel 5 wird die in diesem Buch umrissene Integritäts­ konzeption zunächst ausführlich zusammengefasst17, um anschließend eine Abgrenzung zu ähnlichen normativen Begriffen vornehmen zu können. Die Begriffe »Würde und Ehre«, »Freiheit und Autonomie« sowie »Authentizität und Wahrhaftigkeit« werden als nächste Verwandte des Integritätsbegriffes vorgestellt. Auch wenn es geboten bleibt, diese Begriffe auseinander zu hal­ ten, da sie jeweils auf unterschiedliche Modi gelingenden Lebens aufmerksam machen, erweist sich ein komplexer Begriff von Integrität den anderen den­ noch als überlegen, indem er jeweils viel von deren Bedeutungsgehalt in sich aufzunehmen vermag. Das Schlusskapitel 6 besitzt dann wesentlich program­ matischen Ausblickscharakter. Es umfasst erste Überlegungen zu einer am In­ tegritätsbegriff orientierten Sozialpathognostik, die das medizinische Begriff­ sinstrumentarium der zeitgenössischen Sozialphilosophie ernster nimmt, als es zunächst wünschenswert erscheinen mag. In Andeutung eines disziplinä­ ren Brückenschlags zwischen sozialphilosophischer Gegenwartsanalyse und klinischer Psychopathologie werden Krankheitsbilder, von denen es heißt, sie seien für die heutige Zeit typisch – namentlich »Depression«, »Narzissmus« und »Borderline« – in das Integritätsvokabular übersetzt, d.h. als fundamenta­ le Integritätsstörungen gedeutet, und somit für die Sozialphilosophie konzep­ tionell fruchtbar gemacht. Das vorliegende Buch ist eine leicht überarbeitete Fassung meiner Disserta­ tion, die ich im Sommer 2003 am Fachbereich Philosophie und Geschichts­ wissenschaften der Goethe-Universität in Frankfurt a.M. eingereicht habe.

17 | Wer sich einen ersten Überblick über die Ergebnisse dieses Buches verschaffen möchte, lese vorab die Einleitung zu Kapitel 5.

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Geübte Leserinnen und Leser mögen auf Danksagungen verzichten können, der Verfasser einer Abhandlung über das Wesen personaler Integrität dagegen nicht. Verschiedentlich wird in dieser Untersuchung davon zu sprechen sein, dass Integrität notwendig auf intakte Sozialbeziehungen angewiesen ist. Fol­ gende Personen und Institutionen sind der Beweis dafür, dass nicht einmal ein Buch über den Integritätsbegriff ohne das Wohlwollen anderer möglich wäre. Zunächst danke ich der Stiftung der Deutschen Wirtschaft für ein drei­ jähriges Stipendium, ohne das ich meine Dissertation kaum hätte schreiben können. Ein Zuschuss von Fritz Steinberg half bei der Drucklegung. Axel Honneth hat mir seinerzeit den Freiraum geschenkt, ein ganz eigenes Projekt in Angriff zu nehmen. Christoph Menke hat am Ende für den nötigen Druck gesorgt, dass es zu einem Abschluss kam. Erinnern möchte ich an Dietmar Kamper, von dem ich viel, auch über die Unverfügbarkeit der Integrität, gelernt habe. Ich vermisse ihn – als guten Leh­ rer und Menschen. Dann ein Dank aus »primordialen« Gründen. Meine Familie gab mir das Vertrauen, einen eigenen Weg einzuschlagen, auf dem sie mich jederzeit be­ dingungslos unterstützt hat. Unserem Mittwochskolloquium – zunächst Serge Embacher, Mattias Iser, Bernd Ladwig, David Strecker und Klaus Roth – danke ich für wichtige Hin­ weise und Kritik, vor allem aber für die vielen spannenden Diskussionen in den letzten Jahren. Robin Celikates hat darüber hinaus für den letzten Schliff an der Endfassung gesorgt. Die in New York begonnenen Gespräche mit Rahel Jaeggi haben mir vor allem zu Beginn, bei den grundlegenden Weichenstellun­ gen, weitergeholfen. Deniz Sertcan, der verlässliche Freund, hat das gesamte Manuskript, und nicht nur dieses, gelesen. Ich danke ihm für viele gute Ratschläge, aber auch dafür, dass er nur wenige fundamentale Einwände hatte. Wir haben uns an einem schönen Sommertag auf die folgende Sprachregelung geeinigt: Ich wünschte, ich könnte die verbliebenen Probleme auf ihn schieben. Ein ganz besonderer Dank geht an Alexandra Deak. Mit unablässiger Neu­ gierde, aber auch mit größter Gelassenheit hat sie den langen Prozess der Fer­ tigstellung dieses Buches begleitet und begutachtet. Vom Tag unserer ersten Begegnung an, hat sie mich spüren lassen, worauf es in »intakter Intersubjek­ tivität« ankommt. Horst Hanke war es, der mir, wie kein anderer, gezeigt hat, was es bedeuten würde, ein Leben in Integrität zu führen. Ihm verdanke ich viel: Freundschaft und, nicht zuletzt, eine bestimmte Art des Nachhakens, vor allem aber die Ein­ sicht in die Dringlichkeit jenes Strebens, um das es im Folgenden gehen soll.

1. Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben einer Pathognostik des Sozialen Auf dem Gebiet der Geistes- und Sozialwissenschaften hat der Vorgang einer auf die Defizite gesellschaftlichen Lebens abzielenden internen Revision im Laufe der Zeit eine zunehmend institutionelle und professionelle Gestalt an­ genommen.1 Dabei kann, wer heute an einer Benennung sozialer Krisensymp­ tome interessiert ist, inzwischen auf eine reichhaltige Tradition zurückgreifen. Denkt man an die großen klassischen Gesellschaftstheoretiker von Platon und Aristoteles über Hobbes, Locke, Rousseau, Hegel, Marx und Weber bis hin zur sogenannten Frankfurter Schule, so haben diese ihre Erkundigungen auf dem Feld des Sozialen nie bloß als nüchterne Bestandsaufnahmen verstan­ den, sondern immer auch als kritisch-normative Reaktionen auf die Wirren ihrer Zeit. Damit sich jedoch das Unternehmen der Sozialkritik zu einer ei­ genständigen Disziplin hat entwickeln können, musste im Rahmen der geis­ tes- und sozialwissenschaftlichen Theorieentwicklung zunächst einige Zeit verstreichen. Erst als sich etwa ab dem frühen 19. Jahrhundert, und zwar in Folge des sich mit der Neuzeit ausbreitenden szientistischen Wissenschafts­ verständnisses, die »positivistische« oder »empirische Soziologie« zu formie­ ren und gegenüber der klassischen Lehre von der Politik abzustoßen begann, war diesbezüglich ein erster theoriegeschichtlicher Schritt vollzogen. Mit dem seinerzeit wachsenden Anspruch auf Objektivität aller wissenschaftlichen Er­ kenntnis, auch der sozialwissenschaftlichen, und dem daraus resultierenden Bemühen um eine möglichst realistische und vorurteilsfreie Beschreibung 1 | Das beweist allein schon die Vielzahl zeitdiagnostisch ausgerichteter Sammelbände: z.B. Hans Ludwig Ollig (Hg.) (1991): Philosophie als Zeitdiagnose, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft; Rudolf Maresch (Hg.) (1993): Zukunft oder Ende, München: Boer; Axel Honneth (Hg.) (1994a): Pathologien des Sozialen, Frankfurt a.M.: Fischer; Christoph Görg (Hg.) (1994): Gesellschaft im Übergang, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft; Axel Honneth (Hg.) (2002a): Befreiung aus der Mündigkeit, Frankfurt a.M.: Campus.

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gesellschaftlicher Tatbestände, schien der Versuch einer konkreten Bewertung sozialer Zusammenhänge nicht länger vereinbar. Vielmehr wurde das Einbringen von Werturteilen in die soziologische Analyse zunehmend als unzulässige »Parteilichkeit« gebrandmarkt, sodass es allmählich auch zu ei­ ner disziplinären Abkapselung der empirisch-deskriptiven Funktionen gesell­ schaftstheoretischer Betrachtung von ihren spezifisch normativen Aufgaben kommen musste.2 Damit sich jedoch eine akademische Spezialisierung auf das Geschäft der Kritik vollziehen konnte, war noch ein zweiter Schritt vonnöten, und zwar eine Differenzierung innerhalb der normativen Perspektive selbst. Hier musste sich zunächst das Amalgam zweier zentraler Fragestellungen aufzulösen be­ ginnen, von denen die eine theoriegeschichtlich lange Zeit dominant gewesen war. Zu dem – bis heute freilich unabgeschlossenen – Prozess der Herausbil­ dung einer überwiegend mit Sozialkritik befassten Teildisziplin konnte es erst in dem Moment kommen, als sich der den unterschiedlichsten sozialtheore­ tischen Ansätzen inhärente Argwohn gegenüber den herrschenden Lebens­ verhältnissen systematisch zu emanzipieren begann von der seit der Antike für die Politische Philosophie konstitutiven Frage, wie statt der vorhandenen eine »wohlgeordnete« oder »gerechte Gesellschaft« auszusehen hätte.3 Erst als die unter normativen Gesichtspunkten dekonstruktive4 oder gar destruktive Aufgabe einer kritischen Erfassung der Gegenwart eindeutiger als zuvor un­ terscheidbar wurde von der vornehmlich konstruktiven und in die Zukunft weisenden Frage der Politischen Philosophie nach dem Wesen, der Legitimität und den Institutionen einer besseren Gesellschaft, konnte schließlich jenes sozialwissenschaftliche Vorhaben charakteristische Züge annehmen, für das sich heute das Etikett »Sozialphilosophie« anzubieten und gegen alternative Wortverwendungen durchzusetzen scheint.5 2 | Dazu Jürgen Habermas (1963): »Die klassische Lehre von der Politik in ihrem Verhältnis zur Sozialphilosophie«, in: ders. (1963/1971): Theorie und Praxis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp; vgl. Ernst Topitsch (1961a): »Begriff und Funktion der Ideologie«, in: ders. (1961b): Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, Berlin: Luchterhand, bes. S. 31f. 3 | Vgl. Wolfgang Kersting (1998): »Politische Philosophie«, in: Annemarie Pieper (Hg.) (1998): Philosophische Disziplinen, Leipzig: Reclam. 4 | Ich benutze den Terminus »dekonstruktiv« als Gegenbegriff zu »konstruktiv«. Eine theoretische Vorentscheidung zugunsten des sogenannten Dekonstruktivismus liegt mir jedoch aus Gründen, die noch deutlich werden dürften, fern. 5 | Ich beziehe mich hier und im Folgenden auf Axel Honneth (1994b): »Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie«, in: ders. (1994a). Die Unterscheidung zwischen den Disziplinen Politische Philosophie und Sozialphilosophie ist allerdings in erster Linie analytisch gemeint. Die Werke der betreffenden Autorinnen

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Soll hier und im Folgenden unter Sozialphilosophie jenes primär zeitdia­ gnostisch ausgerichtetes Deutungsunternehmen verstanden werden, das sich auf eine kritische Begutachtung sozialer Missstände und die Frage nach den schädlichen Einflüssen aktueller gesellschaftlicher Krisen und Fehlent­ wicklungen auf die Lebensumstände einzelner Gesellschaftsmitglieder spe­ zialisiert hat, so ist der Begriff heute freilich auch in davon abweichenden Varianten in Gebrauch.6 Mal wird die Sozialphilosophie den empirischen So­ zialwissenschaften in Gestalt einer gesellschaftlichen Normenlehre bzw. eines Werte beschaffenden Juniorpartners zur Seite gestellt.7 Ein anderes Mal soll sie als grundbegrifflicher Taktgeber für sämtliche sozial orientierten Einzelwis­ senschaften – Soziologie, Politische Philosophie, Politische Wissenschaft oder auch Rechtstheorie – fungieren.8 An wieder anderer Stelle, und das gilt insbe­ sondere für die angelsächsische Literatur, wird der Begriff bis zur Unkennt­ lichkeit demjenigen angeglichen, den wir uns gewöhnlich von der Politischen Philosophie als einer Lehre von der gerechten Gesellschaft machen.9 Daher ist es notwendig, die Konturen einer im Gegensatz dazu ausdrücklich zeitdiagnos­ tisch und zeitkritisch verfahrenden Sozialphilosophie hier erst noch ein wenig deutlicher hervortreten zu lassen. Das vorliegende erste Kapitel dieses Buches soll eben jenes Terrain der Geistes- und Sozialwissenschaften zu sondieren versuchen, auf dem das hier umrissene Geschäft der Zeit- und Kulturkritik eine gewisse Professionalisie­ rung erfahren hat. Im ersten Schritt wird an eine inzwischen als klassisch geltende Begriffsbestimmung der Sozialphilosophie erinnert, die uns deren spezifisches Aufgabenprofil noch einmal genauer vor Augen führt (1.1). Greift die Sozialphilosophie in ihren kritischen Analysen immer dann, wenn sie von und Autoren beinhalten zumeist sowohl zeitkritische als auch konstruktive Theorieelemente. 6 | Siehe dazu neben Honneth (1994b) auch Heinz Maus (1958): »Sozialphilosophie«, in: Alwin Diemer/Ivo Frenzel (Hg.) (1958/1977): Fischer-Lexikon: Philosophie, Frankfurt a.M.: Fischer. 7 | So verstehe ich z.B. Ernst Topitsch (1961b). 8 | Dazu etwa Kurt Röttgers (2002): Kategorien der Sozialphilosophie, Magdeburg: Scriptum. Vgl. zudem den Artikel »Sozialphilosophie«, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.) (1980): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart: Metzler. Auch Mischformen finden sich: Alessandro Ferrara (2002): »The Idea of a Social Philosophy«, in: Constellations, 3/2002. 9 | Siehe dazu exemplarisch David Archard (1996): »Political and Social Philosophy«, in: Nicholas Bunnin/E.P. Tsui-James (Hg.) (1996): The Blackwell Companion to Philosophy, Oxford: Blackwell. Auch die umgekehrte Strategie ist möglich: James Tully (2003): »Politische Philosophie als kritisches Handeln«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1/2003.

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sozialen »Krisen« oder gar »Krankheiten« sowie von »Diagnosen« spricht, auf eine eindeutig medizinische Metaphorik zurück, legt sie damit die Möglich­ keit einer Analogiebildung zwischen der Gesellschaft und dem menschlichen Körper nahe, so als könnten beide gleichermaßen als krankheitsanfällige Symptomträger betrachtet und untersucht werden. Das wird ihr in diesem Buch den Beinamen einer »Pathognostik des Sozialen« einbringen, wobei jedoch zunächst die Zulässigkeit einer solchen Übertragung klinischen Vo­ kabulars auf sozialkritische Zusammenhänge zu prüfen ist (1.2). Dabei wird deutlich werden, dass die Sozialphilosophie derzeit in der misslichen Lage ist, die metakritische Frage nicht länger unberücksichtigt lassen zu können, wo­ her genau die normativen Maßstäbe ihrer Invektiven stammen. Damit ist das »Begründungsproblem« der gegenwärtigen Sozialphilosophie umrissen. Ich werde die derzeit prominentesten Versuche, auf eben dieses Problem zu re­ agieren, anhand einer Unterscheidung zwischen »kulturalistischen« (1.3) und »ethisch-moralischen« Kritikansätzen (1.4) zu sortieren versuchen. Im letzten Abschnitt wird dann erstmals deutlich werden, inwiefern das uns im gesam­ ten Rest des Buches beschäftigende Problem der Integrität mit dem sozialphi­ losophischen Begründungsproblem verknüpft ist (1.5).

1.1 Z ur I dee einer kritischen S ozialphilosophie Als Max Horkheimer im Jahre 1931 seine berühmte Antrittsvorlesung als Di­ rektor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung hielt, in deren Rahmen er sich eine Bestandsaufnahme der »gegenwärtigen Lage der Sozialphilosophie« vorgenommen hatte, diente ihm die schon damals auffällige Unbestimmtheit dessen, was konkret unter Sozialphilosophie zu verstehen sei, als thematischer Ausgangspunkt.10 Zwar vermochte Horkheimer trotz der unterschiedlichsten sozialphilosophischen Bestrebungen seiner Zeit das gemeinsame Ziel einer »philosophische[n] Deutung des Schicksals der Menschen, insofern sie nicht bloß Individuen, sondern Glieder einer Gemeinschaft sind« auszumachen, doch war bis dato jeder genauere Bestimmungsversuch begrifflich unverbind­ lich geblieben. Die eigene Auffassung von Sozialphilosophie, die Horkheimer dann an genannter Stelle programmatisch zu skizzieren versucht hat und die später  – wenn auch in wiederholt leicht modifizierter Form11  – als einer der

10 | Max Horkheimer (1931): »Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung«, in: ders. (1981): Sozialphilosophische Studien, Frankfurt a.M.: Fischer. 11 | Siehe dazu die nicht weniger berühmten Schriften: Max Horkheimer (1937): »Traditionelle und kritische Theorie«, in: ders. (1992): Traditionelle und kritische Theorie,

Die gegenwär tige Lage der Sozialphilosophie

tragenden Theoriestränge des Forschungsprogramms der »Kritischen Theo­ rie« oder auch »Frankfurter Schule« in die Theoriegeschichte eingehen sollte, zeichnet sich vor allem durch drei wesentliche Charakteristika aus. Das erste richtungsweisende Merkmal der Sozialphilosophie liegt bereits auf der Hand und hätte von Horkheimer dann auch bloß aufgegriffen werden müssen, wenn es nicht dessen programmatische Schriften selbst gewesen wä­ ren, die den damit verbundenen Anspruch erstmals prägnant herausgearbeitet und dadurch theoriegeschichtlich festgeschrieben hätten. Gemeint sind die nicht bloß deskriptiven, sondern in erster Linie eben kritischen oder dekon­ struktiven Ambitionen der Sozialphilosophie. Wenn Horkheimer hinsichtlich der hier bereits zitierten Gemeinsamkeit sozialphilosophischer Bemühungen von einem »Schicksal« des gesellschaftlichen Menschen spricht und dieses für besonders interpretationsbedürftig hält, dann schwingt in dieser etwas pathe­ tisch klingenden Formulierung bereits der Befund mit, dass es um die konkret vorgefundene Lage des Menschen gerade nicht zum Besten stehe. Vielmehr ist für die Sozialphilosophie, so Horkheimer, der Wille um Einsicht in drohendes oder bereits eingetretenes Unheil konstitutiv und mit ihm das erkenntnisleiten­ de Interesse »an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts«.12 Mit Blick auf alternative Definitionen von Sozialphilosophie ist festzuhal­ ten, dass diese damit nicht schon auf die Funktion eines bloßen Wertebeschaf­ fers zu reduzieren ist, nur weil sie der normativen Richtschnur einer »Auf­ hebung gesellschaftlichen Unrechts« folgt. Zwar habe die Sozialphilosophie, so Horkheimer, das sozialwissenschaftliche Unternehmen der umfassenden Gegenwartsdiagnose mit normativem Elan zu versorgen, doch lasse sich dieser Auftrag gar nicht isoliert von ihren spezifisch diagnostischen, d.h. beschrei­ benden und realitätserfassenden Funktionen erledigen.13 Freilich bleibt dabei die Frage offen, in welchem genaueren Verhältnis die Sozialphilosophie zu den übrigen Sozialwissenschaften steht, womit wir bei ihrem zweiten Charakteris­ tikum angelangt wären. Als das wohl größte Defizit der Sozialphilosophie seiner Zeit bemängel­ te Horkheimer die Empiriefeindlichkeit seiner philosophischen Kollegen. Da es die bisherige Sozialphilosophie offenbar nicht für nötig hielt, ihre idealisti­ schen Glaubensakte am »harten« Material der einzelwissenschaftlichen For­ schung zu überprüfen, musste sie, so Horkheimer, zu einer realitätsfremden Einschätzung der vorhandenen Lage, zur bloßen Weltanschauung verkommen. Frankfurt a.M.: Fischer; ders. (1967): Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt a.M.: Fischer, bes. Abschnitt 5. 12 | Horkheimer (1937), S. 259. Zu diesem Verständnis von Kritischer Theorie siehe auch Jürgen Habermas (1968/1973): Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, bes. Abschnitt III. 13 | Horkheimer (1937) u. ders. (1967).

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Die konzeptionelle Alternative, die Horkheimer dann an genannter Stelle selbst zu umreißen versucht hat, sollte allerdings weit über eine bloße Rücken­ deckung der Sozialphilosophie durch die empirischen Einzelwissenschaften hinausgehen. Sozialphilosophie, so Horkheimer, wäre vielmehr erst dann ein ernst zu nehmendes Unterfangen, wenn sie zu den empirischen Nachbardis­ ziplinen in ein prinzipiell revisionsoffenes Wechselverhältnis träte, d.h. in ein Bündnis gegenseitiger Korrektur oder, wie Horkheimer selbst es ausdrückte, der »fortwährenden dialektischen Durchdringung von philosophischer Theo­ rie und einzelwissenschaftlicher Praxis«.14 Demzufolge würde eine Sozialphilosophie der von Horkheimer vorge­ schlagenen Art, und eben das ist ihr zweites Wesensmerkmal, nicht bloß Anschluss an die empirischen Einzelwissenschaften suchen, sie hoffte vielmehr ausdrücklich auf deren korrektive Kraft. Orientiert an einem fächerübergrei­ fenden Forschungsverbund, der im Fall der Frankfurter Schule alsbald den Namen »interdisziplinärer Materialismus«15 erhielt, hätte sie ihren Beitrag zu einer umfassend fundierten Gegenwartsdiagnose zu leisten und dabei gegen­ über den Erkenntnissen und Revisionsvorschlägen benachbarter Disziplinen aufgeschlossen zu bleiben. Dabei hätte die Sozialphilosophie, so Horkhei­ mer, zunächst die eher grundsätzlichen Fragen nach der Struktur und der Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens aufzuwerfen und diesbezüglich zu ersten, vorläufigen Diagnosen zu kommen, bevor diese dann im Rahmen von ökonomischen, kulturtheoretischen oder auch sozialpsychologischen Un­ tersuchungen zu konkretisieren und zu überprüfen wären. Zwar besitzt die Sozialphilosophie damit eine für alle übrigen gesellschaftstheoretisch orien­ tierten Disziplinen taktgebende Funktion, indem sie »eine aufs Allgemeine, »Wesentliche« gerichtete Intention« verfolgt und einzelnen Forschungsvor­ haben damit »beseelende Impulse« zu geben versucht, doch erschließt sich ihr eigentümlicher Sinn eben erst in einem disziplinären Nebeneinander von sozialphilosophischer Grundlagenforschung und einzelwissenschaftlicher Forschungspraxis.16 Damit kommen wir zum dritten Kennzeichen kritischer Sozialphilosophie. Im soeben skizzierten Nachbarschaftsverhältnis zwischen der Sozialphiloso­ phie auf der einen und den übrigen sozialwissenschaftlichen Disziplinen auf der anderen Seite kommt der zuerst genannten zwar eine klare Aufgabe zu – die Rolle eines grundbegrifflichen Wegbereiters und Wegbegleiters –, doch hat sie es deshalb nicht schon mit einem ebenso fest umrissenen Objektbereich 14 | Horkheimer (1931), S. 38ff. 15 | Dazu Wolfgang Bonß/Norbert Schindler (1982): »Kritische Theorie als interdisziplinärer Materialismus«, in: Wolfgang Bonß/Axel Honneth (Hg.) (1982): Sozialforschung als Kritik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 16 | Horkheimer (1931), S. 40f.

Die gegenwär tige Lage der Sozialphilosophie

zu tun. Folgen wir Horkheimer, so ist es ein charakteristisches Merkmal von Sozialphilosophie, dass ihr diagnostischer Blick keinen thematischen Ein­ schränkungen unterliegt, wodurch sie sich von ihren Nachbardisziplinen, etwa der Ökonomie, der Kulturtheorie oder auch der Sozialpsychologie, merklich unterscheidet. Es muss ihr vielmehr ein ureigenes Anliegen sein, angesichts der Vielzahl gesellschaftstheoretischer Problemstellungen den Überblick zu bewahren. Demnach findet sich der Themenbereich der Sozialphilosophie in­ sofern entschränkt, als diese zu der von ihr kritisierten Gemeinschaft in einem Totalitätsbezug zu stehen hat: Ihr kritischer Blick soll das gesellschaftliche Le­ ben in möglichst ganzer Bandbreite streifen, ganz gleich, ob dabei nun ökono­ mische, kulturelle, sozialpsychologische oder auch andere gesellschaftstheore­ tisch relevante Phänomene ins Sichtfeld geraten.17 Hält man nun in Anknüpfung an Horkheimer an genau diesen drei Cha­ rakteristika der Sozialphilosophie fest, so handelt es sich dabei, kurz gefasst, um ein zeitdiagnostisch und zeitkritisch verfahrendes Deutungsunterneh­ men, das auf produktive Auseinandersetzungen mit ihren Nachbardisziplinen angewiesenes ist und mit Blick auf das gesellschaftliche Leben in seiner Ge­ samtstruktur bei Konzentration auf eher grundsätzliche Problemstellungen nach den schädlichen Einflüssen gesellschaftlicher Missstände und Fehlent­ wicklungen fragt. Die Sozialphilosophie vollzieht somit in Stellvertretung, d.h. ausgehend von den vorherrschenden gesellschaftlichen Stimmungslagen, Pro­ zesse einer autokollektiven Selbstdiagnose und Selbstkritik. Allerdings sind dabei sogleich mindestens zwei konzeptionelle Grenzziehungen zu beachten: Erstens folgt aus dem erhofften disziplinären Wechselverhältnis nicht schon, dass Sozialphilosophie empirische Forschung ist. Sie hat mit dieser zwar in einen produktiven Dialog zu treten, doch wird sich ein solches Komplemen­ tärverhältnis allein dann als fruchtbar erweisen, wenn die Disziplinen nicht von vornherein ineinander aufgehen. Zweitens darf das Projekt der Sozialphi­ losophie im engeren Sinn nicht mit dem weit umfassenderen Programm einer »Kritischen Theorie der Gesellschaft« verwechselt werden.18 Ohnehin ist an­ gesichts der heute sowohl thematisch wie auch institutionell weit verzweigten Debatten fraglich, ob der Wunsch, komplementäre sozialwissenschaftliche Forschungsvorhaben noch einmal unter nur einem »Dach« zu versammeln, aus wissenschaftsorganisatorischen Gründen realistisch ist. Im Hinblick auf 17 | Horkheimer (1931), S. 43. Mit »Totalitätsbezug« ist hier ausdrücklich nicht die von vielen Kritikern ebenfalls mit der frühen Kritischen Theorie assoziierte Bemühung gemeint, das gesamte gesellschaftliche Leben aus nur einem singulären Prinzip, etwa dem der »Naturbeherrschung«, ableiten zu wollen. 18 | Nicht zu vergessen: Horkheimer hielt neben der Sozialphilosophie und den empirischen Einzelwissenschaften mit einer Theorie der historischen Entwicklung noch einen dritten Strang der Kritischen Theorie für unentbehrlich.

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den Anspruch des vorliegenden Buches ergeben sich daraus zwei wichtige Konsequenzen: Erstens sind die hier vorgetragenen Überlegungen insofern in einem vorempirischen Sinn zu verstehen, als mit ihnen nicht schon der An­ spruch verknüpft ist, sie im gleichen Zuge am Forschungsmaterial der Nach­ bardisziplinen ausweisen zu können. Zweitens wird hier ausdrücklich nicht das weitaus ambitioniertere Ziel verfolgt werden, den umfassenden Anspruch Kritischer Theorie zu restituieren.

1.2 D as klinische I nstrumentarium einer Pathognostik des S ozialen Bringt die Sozialphilosophie Begriffe wie »Krise«, »Diagnose«, »Symptom«, »Missstand«, »Fehlentwicklung« oder auch »Störung« ins Spiel, so ist der Ge­ brauch eines Vokabulars angezeigt, das ersichtlich dem Bereich der Medizin entstammt.19 Offenbar soll die Gesellschaft hier in einem mehr oder weniger metaphorischen Sinn als ein lebendiger Organismus vorgestellt und dabei auf solche Funktionsstörungen hin »abgeklopft« werden, die als Abweichung von einem wie auch immer gearteten Soll- oder Gesundheitszustand beschrieben werden müssen. In dieser Perspektive geraten die diagnostizierten Missstände und Fehlentwicklungen dann folgerichtig als gesellschaftliche »Anomalien«, »Deformationen« oder gar »Krankheiten« in den Blick. Besonders augenfäl­ lig wird der Import klinischer Termini in die Praxis zeitdiagnostischer Ge­ sellschaftskritik heute vor allem dort, wo von »Pathologien des Sozialen« die Rede ist.20 Allerdings liegt damit sogleich die Frage auf der Hand, inwiefern überhaupt in einem von individuellen Krankheitszuständen abstrahierenden Sinn auch von so etwas wie »gesellschaftlichen Leiden« oder »Krankheiten« die Rede sein kann. In medizinischen Zusammenhängen hat der Terminus Pathologie, und zwar ausgehend vom ursprünglichen Wortsinn einer »Lehre vom Leiden«, zu­ nächst die Bedeutung einer »Wissenschaft von den Krankheiten« angenom­ men. Erst später findet der Begriff dann in der Pluralform »Pathologien« seine Verwendung als klinische Bezeichnung für die als krank bezeichneten Ano­ malien und Funktionsstörungen selbst. Um die Wende zum 20. Jahrhundert herum wandert dieser klinische Sprachgebrauch dann in die Soziologie ein. 19 | Dazu Lohmann (1993), S. 272ff.; Honneth (1994b), 49ff. 20 | Ich beziehe mich vor allem auf folgende Autoren: Hans Peter Dreitzel (1972): Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft, München: dtv; Jürgen Habermas (1981a): Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, Frankfurt a.M.: Suhrkamp; Klaus Eder (1985): Geschichte als Lernprozeß?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp; Axel Honneth (1994b).

Die gegenwär tige Lage der Sozialphilosophie

Paul von Lilienfeld und auch Franz Müller-Lyer stellten erstmals ausdrücklich eine »allgemeine Pathologie« und »größere Medizin« in Aussicht, im Rahmen derer sie »Leiden und Übel, denen die menschliche Gesellschaft und das Indi­ viduum unterworfen sind«, einer sozialwissenschaftlichen Betrachtung oder gar Behandlung zugänglich machen wollten.21 Zwar war die dadurch nahege­ legte Analogie zwischen dem menschlichen Körper, der anfällig für Krank­ heiten und Funktionsstörungen ist, und einem großformatigen Gesellschafts­ körper, der damit gleichermaßen als labil und versehrbar zu gelten hätte, keineswegs neuartig.22 Dennoch muss der Wissenschaftsoptimismus, der in diesem Anspruch einer quasi-medizinischen Sozialdiagnostik zum Ausdruck kam, zu Zeiten von Lilienfelds und Müller-Lyers, in denen sich die eben erst aufkommende »moderne« Soziologie ohnehin implizit als therapeutische Kri­ senwissenschaft zu verstehen begann23, geradezu ansteckend gewirkt haben. Auch noch Karl Mannheim schien von der unmittelbaren Plausibilität klini­ scher Analogien überzeugt zu sein und davon einen eher unproblematischen Gebrauch machen zu können, als er in seiner 1951 erschienenen Diagnose unserer Zeit den folgenden Vorschlag unterbreitete: »Nehmen wir die Haltung eines Arztes an, der versucht, eine wissenschaftliche Diagnose der Krankheit zu geben, an der wir alle leiden. Daß die menschliche Gesellschaft krank ist, steht außer Zweifel.« 24

Doch bereits zwei Jahrzehnte zuvor hatte ein bedeutender Kulturkritiker gänzlich anderer Prägung ernst zu nehmende Bedenken gegen einen derart vorschnellen Abgleich von individuellen und kollektiven Krankheitsbildern angemeldet. Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse, sah in seinem berühmtem Essay über »Das Unbehagen in der Kultur« zwar ausdrücklich die Möglichkeit einer »Pathologie der kulturellen Gemeinschaften« am kul­ turkritischen Horizont heraufziehen, doch nahm er dort zugleich auch die bis heute gewichtigsten Einwände gegen den sozialwissenschaftlichen Gebrauch

21 | Paul von Lilienfeld (1896): La pathologie sociale, Paris: Giard; Franz Müller-Lyer (1914): Soziologie der Leiden, München: Langen. Die Zitate finden sich beim Letzteren, S. 2. 22 | Man findet einen solchen quasi-medizinischen Blick des Zeitdiagnostikers bereits bei Thukydides oder auch in Platons Politeia. 23 | Vgl. Dreitzel (1972), S. 2; Honneth (1994b), S. 28ff. 24 | Karl Mannheim (1951): Diagnose unserer Zeit, Zürich u.a.: Europa. Wenig später glaubt auch der Historiker Reinhart Koselleck, ein solches Vorgehen bedürfe »keiner weiteren Erklärung«. Siehe ders. (1959/1973): Kritik und Krise, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. XI.

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klinischer Termini vorweg.25 Ein erster methodologischer Vorbehalt Freuds betraf dabei die eben bereits aufgeworfene Frage, ob denn von Gesellschaften überhaupt im Sinne eines Subjekts in Großformat die Rede sein kann. Obgleich kulturelle Gemeinschaften aus einzelnen Mitgliedern zusammengesetzt sind, die jeweils mit einem Körper und einem psychischen Apparat ausgestattet sind, lassen diese sich doch nicht zu einem großen Ganzen, einem eigenen lebendigen Organismus aggregieren. Allein deshalb, so Freud, muss sich der Versuch, medizinische Begriffe »aus der Sphäre zu reißen, in der sie entstan­ den und entwickelt worden sind«, als problematisch erweisen.26 Aber selbst dann, wenn eine solche Übertragung grundsätzlich legitim wäre, ergäbe sich daraus doch sogleich ein zweites und besonders gravierendes Problem: Die Rede von sozialen Krankheiten oder gar Pathologien setzt, wie im individuellen Krankheitsfall auch, als Meßlatte eine genauere Vorstellung von einem Zustand der »Gesundheit« oder auch »Normalität« voraus, und zu­ nächst ist überhaupt nicht klar, woher der Sozialdiagnostiker einen solchen Maßstab nehmen soll. Da es bekanntlich bereits auf individueller Ebene äu­ ßerst schwer fällt, eine genauere Bestimmung der Begriffe Krankheit und Ge­ sundheit vorzunehmen27, dürfte sich dieses konzeptionelle Problem auf der Stufe von Sozialdiagnosen nur noch verschärfen. Wenn einmal zugestanden wird, dass eine Gesellschaft gar nicht buchstäblich, sondern allenfalls in ei­ nem übertragenen Sinn mit einem lebendigen Organismus verglichen wer­ den kann, inwieweit kann dann also überhaupt noch von Sozialpathologien die Rede sein? Der dritte Einwand Freuds bezieht sich schließlich auf die eigentümliche Rolle des Kulturkritikers. Man nehme einmal an, soziale Pathologiediagnosen seien tatsächlich methodisch sinnvoll möglich: Würde sich der Sozialarzt im Anschluss an seine Diagnose dann nicht sofort mit dem Problem konfrontiert sehen, seinen Patienten auch behandeln zu müssen, d.h. ihm ein Rezept aus­ zustellen oder eine Therapie vorzuschlagen? Wie aber hätte man sich dies mit Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge vorzustellen? Und zudem: Wer überhaupt hört auf den Sozialkritiker? So fragt Freud: »[W]as hülfe die zutref­ fendste Analyse der sozialen Neurose, da niemand die Autorität besitzt, der Masse die Therapie aufzudrängen?«28

25 | Sigmund Freud (1930/2000): »Das Unbehagen in der Kultur«, Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt a.M.: Fischer. Im Anschluss an Freud: Erich Fromm (1960/1981): Wege aus einer kranken Gesellschaft, Frankfurt a.M. u. Berlin: Ullstein. 26 | Freud (1930/2000), S. 269. 27 | Dazu etwa Thomas Schramme (2000): Patienten und Personen. Zum Begriff der psychischen Krankheit, Frankfurt a.M.: Fischer. 28 | Freud (1930/2000), S. 269. Vgl. Lohmann (1993), S. 273.

Die gegenwär tige Lage der Sozialphilosophie

Im Anschluss an diese drei konzeptionellen Vorbehalte Freuds, lässt sich der zunächst eben bloß metaphorische Charakter einer sozialphilosophischen Adaption klinischer Termini erhellen. Wenn auch im Folgenden ausdrücklich an diesen quasi-medizinischen Sprachgebrauch angeknüpft werden soll, so darf dabei an keiner Stelle außer Acht gelassen werden, dass von Pathologien des Sozialen in mindestens dreifacher Hinsicht bloß sinnbildlich die Rede sein kann: Erstens ist das physiologische Missverständnis zu vermeiden, dass sich eine Gesellschaft genau wie ein menschlicher Organismus untersuchen lässt. Gesellschaften »leiden« offensichtlich nicht auf dieselbe Weise wie menschli­ che Individuen. Da sie weder einen Körper noch eine Psyche im strikten Sinn besitzen, muss die Sozialkritik bis auf Weiteres davon ausgehen, dass sich individuelle und kollektive Krankheits- und Gesundheitszustände wesenhaft voneinander unterscheiden.29 Folgerichtig kann zweitens der für Sozialkritik notwendige Maßstab eines gesellschaftlichen Sollzustandes nicht einfach aus der schon in individuellen Zusammenhängen problematischen Verwendung der Begriffe Krankheit und Gesundheit abgeleitet werden. Zu vermeiden ist hier also das anamnesische Missverständnis, dass die an empirischem Forschungsmaterial ausgewiesenen Krankheits- und Gesundheitskonzepte klinischer Mediziner und Psychologen von gleicher Beschaffenheit seien wie die kritischen Beobachtungen der So­ zial­philosophen. Ganz gleich, ob man unter gesellschaftlicher Gesundheit ein Stadium der bloßen »Abwesenheit von Krankheit« verstehen will, ob man den Begriff der »Normalität« vor Augen hat, einen Zustand bloßer »Funktions­ tüchtigkeit« oder gar eine Art kollektives »Wohlergehen«: Sozialdiagnostische Maßstäbe dieser Art sind auf ganz eigene Weise erklärungsbedürftig.30 Drittens schließlich ist zu bedenken, dass mit einer quasi-medizinischen Sozialdiagnostik nicht schon von vornherein der Anspruch verbunden sein kann, der Erhebung sozialphilosophischer Krankengeschichten stets auch konkrete Therapiemaßnahmen folgen zu lassen. Weder ist die Gesellschaft ein Patient in Großformat, noch ist der Diagnostiker für deren Wohlergehen verantwortlich. Zu vermeiden ist demnach das therapeutische Missverständnis, die Sozialphilosophie habe auch in Behandlungsfragen »Sprechstunde«. Zwar haben Sozialkritikerinnen und -kritiker die Möglichkeit, die von ihnen erstell­ ten Diagnosen in öffentliche Diskurse einzubringen, doch darf der damit be­ tretene gesellschaftspolitische Raum nicht schon mit dem Behandlungszim­ mer einer ärztlichen oder therapeutischen Praxis verwechselt werden. Nicht 29 | Dreitzel (1972), S. 2; Eder (1985), S. 32ff.; Lohmann (1993), S. 272. Freud selbst deutet a.a.O. darauf hin, dass nicht zuletzt der aussagekräftige Kontrast entfallen muss, durch den sich für gewöhnlich der einzelne Kranke von seiner als gesund oder normal eingestuften Umgebung abhebt. 30 | Vgl. Dreitzel (1972), S. 9; Lohmann (1993), 272f.; Honneth (1994b), S. 50.

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zuletzt aus Gründen der Logik demokratischer Entscheidungsprozesse ist dem Sozialdiagnostiker das – im engeren Sinn – therapeutische Instrumentarium entzogen. Inwieweit an sozialphilosophische Untersuchungen die Vergabe von Patentrezepten oder gar eine Art Therapie anschließen kann oder auch nur soll, ist Gegenstand von Diskussionen, auf die Kritikerinnen und Kritiker als Einzelne nur noch wenig Einfluss haben.31 Mit diesen drei Bedenken dürften die derzeit wichtigsten methodologi­ schen Beschwerden der zeitgenössischen Sozialphilosophie auf dem metakriti­ schen Behandlungstisch liegen. Sie betreffen erstens die Frage nach der Kons­ titution ihres Untersuchungsgegenstandes, der sich offenbar bloß sinnbildlich mit dem menschlichen Organismus vergleichen lässt, zweitens die Suche nach den geeigneten Maßstäben von Sozialkritik, die eine ganz eigene, eben kollek­ tive Art von Gesundheit auszuzeichnen hätten, und drittens die Forderung, dass sich die Sozialphilosophie auf ihre spezifisch diagnostischen Aufgaben konzentrieren soll. Man mag nun einwenden, es sei daher aus Gründen termi­ nologischer Vorsicht angeraten, auf den sozialphilosophischen Gebrauch klini­ schen Vokabulars ganz zu verzichten. Ein solcher Schluss wäre jedoch verfehlt. Zwar sollte die Sozialphilosophie gewillt sein, die hier reformulierten Einwän­ de ernst zu nehmen, doch müssen sich Gesellschaften als Ganze deshalb nicht schon von vornherein jeder quasi-medizinischen Untersuchung entziehen. Wo aber genau hätte die Sozialphilosophie hier anzusetzen? Dieser methodische Anknüpfungspunkt vermag kenntlich zu werden, wenn sich zwei alternative und durchaus geläufige Untersuchungsvorhaben als defizitär erweisen, die heute ebenfalls auf einen sozialen Pathologiebe­ griff rekurrieren: eine individualistisch zugespitzte Sozialdiagnostik auf der einen Seite und eine rein funktionalistisch ausgerichtete Gesellschaftskritik auf der anderen. Folgt man zunächst dem oben zuerst genannten Einwand, eine Gesellschaft lasse sich keineswegs im buchstäblichen Sinn nach Art ei­ nes menschlichen Körpers untersuchen, so mag man zu dem Versuch verlei­ tet werden, einen strikt mikroskopischen Blickwinkel einzunehmen und zu­ nächst ausschließlich nach Symptomen individueller Krankheiten Ausschau zu halten. Wenn sich dann herausstellt, dass sich tatsächlich bei auffallend vielen Gesellschaftsmitgliedern ähnlich gravierende Krankheiten, Persönlich­ keitsstörungen und Leiden feststellen lassen, so ließe sich anschließend ohne Umschweife auf eine grassierende Epidemie schließen.32 Dies jedoch wäre ein

31 | Dass kritische Intellektuelle gar nicht erst den Wunsch haben sollten, sich zu politisch aktiven »Philosophenkönigen« aufzuschwingen, versteht sich heute beinahe von selbst. 32 | So z.B. bei Michael Theunissen (1981): Selbstverwirklichung und Allgemeinheit, Berlin u. New York: de Gruyter; Alasdair MacIntyre (1995): Verlust der Tugend, Frankfurt

Die gegenwär tige Lage der Sozialphilosophie

Kurzschluss. Bedenkt man den Umstand, dass als mögliche Krankheitsfak­ toren zweifellos nicht allein soziale Lebensumstände in Frage kommen, man denke hier nur an etwaige genetische Dispositionen der Individuen, so kann die sozialphilosophische Diagnostik erst dann ihre Beobachtungen individu­ eller Störungen auf den Verdacht einer allgemeinen Krankheit bringen, wenn sie zuvor den Beitrag der Gesellschaft oder auch der Kultur für das Auftreten dieser als leidvoll erfahrenen Störungen herausgearbeitet hat. Wenn man es genau nimmt, beinhaltet die übereilte Folgerung, eine Gesellschaft sei krank, weil einige ihrer Mitglieder es seien, überhaupt keine spezifisch sozialphilo­ sophische Urteilsbildung. Allein aus konzeptionellen Gründen wäre die Mög­ lichkeit ausgeblendet, dass sich Individuen und ihr soziales bzw. kulturelles Umfeld in einem mal produktiven, mal destruktiven Wechselverhältnis befin­ den.33 Ein rein mikroskopischer Blick muss sich daher für die Sozialphiloso­ phie als zu kurzsichtig erweisen. Man könnte nun stattdessen dem oben an zweiter Stelle genannten Ein­ wand bezüglich einer fehlenden Kommensurabilität individueller und kollek­ tiver Gesundheitsbegriffe folgen und gänzlich von individuellen Krankheits­ zuständen zu abstrahieren versuchen. In einer konsequent makroskopischen Perspektive wären allein solche gesellschaftlichen Fehlentwicklungen als Pathologien zu bezeichnen, die als Störungen einer inneren Systemlogik be­ schrieben werden müssen.34 Gemeint sind etwa solche Krisen, in denen es in gesellschaftlichen Teilbereichen, man nehme den kapitalistischen Markt oder auch den bürokratischen Verwaltungsapparat, zu einem Versagen der dort angesiedelten Institutionen und zu einer Einbuße ihrer sonstigen Funktions­ tüchtigkeit kommt. Auf den ersten Blick hätte eine derart funktionalistische Diagnosetechnik den Vorteil, dass der Diagnostiker unter Berufung auf die innere Funktionslogik der jeweils inspizierten Subsysteme scheinbar gänzlich von individuellen Befindlichkeiten und Gesundheitszuständen absehen und damit ohne Umschweife auf die Begriffsebene sozialer Krankheiten wechseln dürfte. Allerdings wird angesichts einer derart technisch ansetzenden Zeitdia­ gnose fraglich, warum Systemkrisen dieser Art überhaupt als Pathologien und nicht bloß als Störungen von eher mechanischen Abläufen beschrieben wer­ den. Bedenkt man, dass auch Teilbereiche der Gesellschaft keine Organismen darstellen und die Ebene des Individuellen kategorial ausgeblendet ist, bleibt a.M.: Suhrkamp; m.E. auch Axel Honneth (2000a): Leiden an Unbestimmtheit, Stuttgart: Reclam. 33 | Das gilt im Übrigen auch für den ohnehin unhaltbaren Umkehrschluss, alle Individuen seien krank, weil die Gesellschaft es sei. 34 | Ein solcher Pathologiebegriff findet sich heute z.B. in systemtheoretisch ausgerichteten Zeitdiagnosen à la Niklas Luhmann. Man denke hier aber auch an den strukturalistischen Marxismus in der Tradition von Louis Althusser.

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niemand übrig, dem man so etwas wie ein »Leiden« zubilligen könnte. Da­ her würde der klinische Sprachgebrauch der Sozialkritik seinen Sinn gänzlich verfehlen, wenn er von individuellen Krankheitszuständen abstrahieren zu können glaubte. Warum sollte eine gesellschaftliche Funktionsstörung oder Fehlentwicklung, von der am Ende gar nicht erwiesen ist und nicht einmal erwiesen werden soll, dass sie tatsächlich individuelles Leid verursacht, selbst schon als Krankheit eingestuft werden? So erweist sich auch der rein makro­ skopische Blick auf die Gesellschaft zwar nicht als gänzlich falsch, in diesem Fall jedoch als zu weitsichtig.35 Daher kommt es auf einen methodischen Kompromissvorschlag an: Wenn man sowohl der Gesellschaft als auch den Individuen ein gewisses Eigenleben, d.h. eine jeweils eigene Entwicklungslogik, zubilligen möchte, so wird sich die Rede von Pathologien des Sozialen dann – und nur dann – als gerechtfertigt er­ weisen, wenn der mikroskopische Blick auf das Individuum mit der makrosko­ pischen Perspektive auf gesellschaftliche Strukturzusammenhänge insoweit verschränkt wird, dass die jeweiligen Korrelationen zwischen individuellen Störungen und sozialen Missständen ins Blickfeld geraten können. Erst dann nämlich kann offenkundig werden, dass Gesellschaften zwar nicht buchstäb­ lich erkranken, dass es in diesen aber zu Missständen und Fehlentwicklungen kommen kann, die einen das Wohlergehen ihrer Mitglieder beeinträchtigen­ den oder gar tendenziell krankheitserregenden Einfluss besitzen. Der klini­ sche Sprachgebrauch der Sozialkritik folgt damit der nahezu unabweisbaren Tatsache, dass die Strukturen einer Gesellschaft bisweilen Leid produzieren und dass deren Mitglieder von den herrschenden Lebensumständen nicht bloß formiert, sondern eben auch deformiert werden; ob nun in körperlicher, in psy­ chischer oder auch in psychosomatischer Hinsicht. Um diesem Zusammenhang auch terminologisch Rechnung zu tragen und um Verwechselungen mit alternativen Definitionen von Sozialphilosophie zu vermeiden, werden im Folgenden die Termini »Pathologie« und »Diagnostik« zusammengezogen. Von Sozialphilosophie wird von nun an im Sinne einer »Pathognostik des Sozialen« oder kurz »Sozialpathognostik« die Rede sein.36 Denn selbst noch dort, wo die Sozialphilosophie heute nicht eindeutig kli­ nisch etikettiert ist, lassen sich, wie sich am Ende dieses Kapitels zeigen wird, deutliche Anzeichen einer quasi-medizinischen Gutachtertätigkeit erkennen, die das gesellschaftliche Leben daran messen soll, inwieweit es leidvolle und 35 | Hier ist bereits ausdrücklich auf den methodisch höchst problematischen Umstand hinzuweisen, dass individuelles Leiden nicht immer offen zutage tritt. Es kann verschüttet und den Betroffenen unbewusst sein oder sich auf abwegige Weise äußern. Dazu mehr in Kapitel 6. 36 | Pathognostik ist laut Duden die »Erkennung einer Krankheit aus charakteristischen Symptomen«.

Die gegenwär tige Lage der Sozialphilosophie

schädliche Auswirkungen auf das Wohlergehen einzelner Gesellschaftsmit­ glieder mit sich bringt. Dabei wäre freilich zuvor zu klären, was genau hier unter dem »Wohler­ gehen« Einzelner verstanden werden soll. Ein Blick in die sozialphilosophi­ schen Debatten unserer Tage betätigt die Vermutung, dass die Beschäftigung mit den methodologischen Vorbehalten gegenüber einer Pathognostik des Sozialen heute überwiegend auf eine offene Konfrontation mit eben jener konzeptionellen Schwierigkeit hinausläuft, die man das Begründungsproblem der gegenwärtigen Sozialphilosophie nennen kann: Sollen die vorhandenen Lebensumstände nicht nur beschrieben, sondern hinterfragt und bewertet werden, wird man überzeugende Maßstäbe und Kriterien angeben müssen, anhand derer sich ganz konkrete Gesellschaftsentwicklungen gerechtfertigt als Störungen oder eben als Pathologien des Sozialen im Sinne einer Beein­ trächtigung menschlichen Wohlergehens diagnostizieren lassen. Wer heute, wie es in der Einleitung zu diesem Buch hieß, intelligent disobedience üben und sich an einer Generaldiagnose des Gesellschaftlichen versuchen will, gerät so­ gleich in die konzeptionelle Verlegenheit, den Horizont der Werte explizieren zu müssen, vor dessen Hintergrund die jeweilige Kritik Sinn und Triftigkeit erhalten soll. Da es jedem sozialpathognostischen Befund solange an Überzeu­ gungskraft mangeln muss, bis nicht genauer der positive Bezugspunkt geklärt ist, in dessen Namen Kritik geübt wird, hat die Sozialphilosophie die metakri­ tische Aufgabe, sich zunächst der normativen Werkzeuge zu vergewissern, mit denen sie an ihre Arbeit geht. Das bedeutet letztlich aber auch, dass sich der zunächst als typisch erwie­ sene »dekonstruktive« Charakter der Sozialphilosophie nicht vollständig wird durchhalten lassen. Das normative Fundament der Sozialkritik kann nicht selbst schon durchweg von Skepsis befallen sein. Auch wenn die entsprechen­ den Diagnosekriterien keineswegs für alle Zeit feststehen müssen und im Zuge der Analyse ab und an einer Überprüfung oder auch Revision unterzogen wer­ den sollten, so ist doch nur schwer eine Form von Gesellschaftskritik denkbar, die gänzlich ohne eine zumindest annähernde Vorstellung von einer »besse­ ren« Sozialordnung operierte, die dem individuellen Streben nach Wohlerge­ hen gerechter werden würde. So lassen sich dann auch beinahe alle der derzeit einflussreichen sozialphilosophischen Theorieentwürfe als Versuche deuten, auf diese bislang offen gebliebene Begründungsfrage zu reagieren. Der nun folgende Überblick soll unterschiedliche Typen von Sozialkritik hervortreten lassen, deren Charakteristik durch den jeweiligen Weg bestimmt sein wird, auf dem sich die betreffenden Autorinnen und Autoren der normativen Maßstäbe ihrer Kritik zu versichern versuchen. Als mögliche Kandidaten kritischer Sozi­ alphilosophie konkurrieren heute zwei grundsätzliche Modelle: »kulturalisti­ sche« Ansätze zum einen, »ethisch-moralische« Modelle zum anderen, wobei im Folgenden jeweils vier Versionen auseinandergehalten werden.

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1.3 K ultur alistische F ormen der G esellschaf tskritik Ist intelligent disobedience weiter oben als »renitente Rast« umschrieben wor­ den, die auf eine nur vermeintlich widersprüchliche Weise zugunsten der dabei kritisierten Gesellschaft eingelegt wird, so hatte sich damit bereits der Verdacht erhärtet, dass die Bande zwischen dem Sozialkritiker und seiner Ge­ meinschaft enger geknüpft sind, als man es zunächst vermuten mag. Die im Rahmen von Zeitdiagnosen stellvertretend vorgenommenen Prozesse einer kollektiven Selbstrevision vollziehen sich in deren eigenen Reihen und sollen der Auf­deckung jener Hindernisse dienen, die der Realisierung gemeinsamer Werte im Wege stehen. Weil nun aber zunächst unklar sein muss, um welche Prinzipien genau es sich dabei handelt und für wie allgemeinverbindlich man diese halten darf, liegt der Versuch nahe, den sozialphilosophischen Blick über den bereits vorhandenen kulturellen Wertehorizont schweifen zu lassen, in der Hoffnung, dort auf wichtige Anhaltspunkte zu stoßen. Sozialkritische Ansätze dieser Art werden im Folgenden kulturalistisch genannt, da sie an gesellschaft­ lich bereits eingespielte Wertorientierungen anzuknüpfen versuchen; wobei hier noch einmal zwischen »immanenten«, »ideologiekritischen«, »kultur­ hermeneutischen« und »hyperbolischen« Varianten unterschieden werden sollte.37 Es ist der Sozialphilosoph Michael Walzer, der dem hier umrissenen metho­ dologischen Problemzusammenhang eine besondere metakritische Aufmerk­ samkeit gewidmet hat. Walzer steht für jene Variante der Sozialphilosophie, die mit dem Label immanente Kritik versehen werden kann. Ganz gleich, ob man dabei auf seine  – im engeren Sinn  – methodologischen Arbeiten schaut, mit denen er den Standpunkt des Sozialkritikers auf sehr grundsätzliche Weise markiert38, oder ob man dessen ideengeschichtliche Studien heranzieht, in denen er die von ihm favorisierte Praxis der Gesellschaftskritik am Beispiel einiger berühmter kritischer Intellektueller illustriert39, stets dient ihm die Un­ gelöstheit des folgenden konzeptionellen Problems als Motivationsgrund: Wie allgemein dürfen die Maßstäbe und Wertüberzeugungen sein, auf die sich der Sozialkritiker bei seinen zeitdiagnostischen Interventionen beruft? Und woher stammen sie? 37 | Die in diesem und auch im nächsten Abschnitt genannten Autorinnen und Autoren lassen sich den aufgelisteten Typen von Sozialkritik nicht immer eindeutig zuordnen, da sich in deren Werken oftmals unterschiedliche sozialphilosophische Ansätze gleichzeitig andeuten. Wesentliche Einsichten in die folgenden Unterscheidungen verdanke ich Diskussionen mit Rainer Forst. 38 | Michael Walzer (1993): Kritik und Gemeinsinn, Frankfurt a.M.: Fischer; ders. (1994): Thick and Thin, Notre Dame: Notre Dame UP. 39 | Michael Walzer (1991): Zweifel und Einmischung, Frankfurt a.M.: Fischer.

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Zunächst, so Walzer, drohen zwei Gefahren, die der Kritiker vermeiden muss. Da ist zum einen das im Zuge von intelligent disobedience nahezu greif­ bare Risiko, die skeptische Distanz zwischen dem Beobachter und seinem Untersuchungsgegenstand so sehr anwachsen zu lassen, dass der emotionale und intellektuelle Kontakt abbricht, durch den sich der Kritiker mit seiner Ge­ meinschaft verbunden fühlt. Die zweite Gefahr besteht darin, dass die Beurtei­ lungsmaßstäbe, die der Diagnostiker an seine Gemeinschaft heranträgt, derart abstrakt ausfallen, dass er kein Gehör mehr findet. Walzer hat hier vor allem jene »universalistisch« orientierte Moralkritik à la John Rawls und Jürgen Ha­ bermas vor Augen, deren Kontexttranszendenz von ihren Autoren ja gerade als besondere Stärke behauptet wird. Für Walzer hingegen steht außer Frage, dass der abstrakte Universalismus keine Anbindung an faktisch kursierende Moral­ vorstellungen aufweist und daher insofern zur Asozialität verurteilt ist, als er in politischer Konsequenz zu Manipulation und Zwang drängt.40 Beide Gefahren will Walzer dadurch umgehen, dass er den Kritiker unwi­ derruflich in dessen konkreter Lebenswelt verankert und zu einem »internen Dissidenten« macht: Unter Verzicht auf radikale Traditionsbrüche, übertriebe­ ne Skepsis, inquisitorische Kritik und prophetische Heilsverkündigungen soll sich der Zeitdiagnostiker in die tatsächlichen Wertedebatten seiner Tage ein­ mischen, anstatt, berauscht von der eigenen Selbstherrlichkeit, einem weltan­ schaulichen Wolkenkuckucksheim das Wort zu reden.41 Dabei kann und soll der Kritiker allein auf solche Wertkonzepte zurückgreifen, die bereits greif­ bar sind. Die Maßstäbe der Gesellschaftskritik müssen, so Walzer, nicht erst von einem göttlichen oder naturrechtlichen Himmel geholt oder gar eigens auf dem Reißbrett entworfen werden. Sie sind vielmehr immer schon in die konkrete Alltagspraxis der eigenen Gemeinschaft eingelassen und damit einer »immanent« ansetzenden Kulturanalyse zugänglich. Sie müssen dort ledig­ lich aufgestöbert und einer beständigen Reinterpretation und Neuanpassung an die sich historisch wandelnden Begebenheiten unterzogen werden. In dieser Hinsicht weisen die Schriften Walzers eine auffallende Ähnlich­ keit mit den Arbeiten von Alasdair MacIntyre auf. Auch dessen Werk trägt deutliche Züge einer immanent ansetzenden Zeitdiagnose, allerdings in ei­ ner eigentümlich zugespitzten Form: Bei MacIntyre ist es die von Walzer zu­ nächst nur metakritisch diagnostizierte Schwierigkeit der Werte-Ermittlung 40 | Siehe dazu Walzer (1993), S. 18-27 u. 77. Der Affekt gegen universalistische Prinzipien geht bei Walzer so weit, dass jene schon mal unter Inquisitions- bzw. Bolschewismus-Verdacht geraten. Siehe ders. (1994), S. 48. 41 | Vgl. dazu Raymond Aron (1957): Opium für Intellektuelle oder Die Sucht nach Weltanschauung, Köln u. Berlin: Kiepenheuer & Witsch. Bei Walzer (1993) heißt es: »Ein wenig abseits, aber keine Außenseiter: kritische Distanz ist eine Frage von Zentimetern« (S. 74).

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selbst, die zugleich das derzeit gravierendste sozialpathognostische Symptom darstellen soll, an dem moderne Gesellschaften als Ganze kranken.42 Auch für MacIntyre sind die moralischen Welten, in denen wir leben, das Ergebnis von historisch sich wandelnden Interpretationsprozessen, die von den Mitgliedern einer Gesellschaft gemeinsam in der Öffentlichkeit ausgetragen werden und an denen sich der Sozialkritiker lediglich beteiligen kann. Entsprechend ist auch MacIntyre davon überzeugt, dass sich die Maßstäbe der Sozialkritik an eben diesen öffentlichen Wertstreitigkeiten ablesen lassen müssen. Nun sei jedoch mit der Moderne eine Form von Liberalismus zur ideologischen und institutionellen Vorherrschaft gelangt, der zwar bemüht sei, die Regeln eines friedfertigen sozialen Miteinanders festzulegen, der sich jedoch aus Rücksicht auf die neuzeitliche Pluralität individueller Lebensformen sowie angesichts der Gefahr eines politischen Paternalismus zur strikten »Neutralität« in ethi­ schen Fragen nach dem »guten Leben« verpflichtet sehe. Dies hat zur Konsequenz, so MacIntyre, dass die Beschäftigung mit der Frage nach dem guten Leben in das Private zurückgedrängt worden ist und der öffentliche Raum der ethischen Verwaisung anheim fällt. Wo aber Werte nicht mehr gemeinsam artikuliert und debattiert werden, da kann sich niemand mehr von ihrem Gewicht überzeugen oder gar von ihnen anstecken lassen. Dies, so lautet die pointierte Zeitdiagnose MacIntyres, habe eine »Verwässe­ rung« der soziomoralischen Lebenspraxis sowie eine allgemeine Sinn- und Orientierungskrise zur Folge, die einem sich egoistisch missverstehenden, nahezu krankhaften Besitzindividualismus Tür und Tor öffne und zu einem Verlust wichtiger traditioneller »Tugenden« führen müsse.43 Nach Art einer konzertierten Aktion sei der öffentliche Raum wiederzubeleben, indem die Mitglieder unserer ethisch verwahrlosten Gemeinschaften erneut in eine ge­ meinsame Diskussion kollektiver Werte eintreten. Allerdings bleibt aus MacIntyres Sicht fraglich, ob wir uns angesichts der individuellen wie kulturellen Unterschiede im Hinblick auf unsere individu­ ellen Vorstellungen vom menschlich Guten tatsächlich auf so etwas wie all­ gemeinverbindliche Standards würden einigen können, auf die dann auch der Sozialkritiker zurückzugreifen vermochte. Auch wenn MacIntyre selbst eine solche Einigung nicht ausschließen will44, so muss doch, wenn wir im Anschluss an dessen zeitdiagnostische Überlegungen auf die metakritische 42 | Dazu vor allem MacIntyre (1994): »Die Privatisierung des Guten«, in: Honneth (1994a); MacIntyre (1995). 43 | Siehe MacIntyre (1994), bes. S. 174-177; ders. (1995). 44 | Haben frühere seiner Arbeiten den Verdacht nahegelegt, MacIntyre vertrete die relativistische Position, dass die prinzipielle Inkommensurabilität ethisch-moralischer Wertstandpunkte anerkannt werden müsse, so hat er nachträglich klarzustellen versucht, dass es sich dabei um einen empirischen Befund und nicht um eine prinzipielle

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Ebene zurückwechseln, fraglich bleiben, ob eine in dieser Weise immanent ansetzende Sozialkritik überhaupt zu allgemeingültigen Kriterien kommen kann. Wenn doch der Kritiker auf einen öffentlichen Diskurs verwiesen bleibt, dessen Ausgang ungewiss ist, so fehlen ihm weiterhin die kritischen Werkzeu­ ge, mit denen er an seine Arbeit gehen könnte. Wie dieses Problem zu lösen oder besser zu umgehen ist, wird deutlich, wenn wir uns noch einmal Walzer zuwenden, um die eigentliche Pointe in­ terner Dissidenz in den Blick zu bekommen. Dem immanenten Kritiker, so Walzer, soll es gar nicht um die Gewinnung unverrückbarer Wertmaßstäbe gehen – das verbietet ihm schon die Vorsicht vor einem kulturell entwurzel­ ten Universalismus. Wenn die Kritik das Gehör auf die ethisch-moralischen Debatten unserer Tage richtet, dann deshalb, weil sie die innerhalb der jewei­ ligen Gemeinschaft bereits anerkannten Werte und Prinzipien auf ein Tableau bekommen will, um dieses der Gemeinschaft dann anschließend wie einen Spiegel vorzuhalten.45 Der immanente Kritiker fragt nach eben jenen Werten und Regeln einer Gemeinschaft, die in deren soziale, kulturelle, religiöse, po­ litische oder auch ökonomische Praktiken eingelassen sind, freilich ohne dass sie deshalb schon hinreichend realisiert wären. Der Kritiker trägt keine frem­ den Ansprüche an seine Gemeinschaft heran, vielmehr will er zeigen, dass seine Gemeinschaft ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird. Es ist diese Art der Immanenz, die dem Diagnostiker die Möglichkeit verschafft, nicht nur auf universalistische Wertmaßstäbe verzichten zu können, sondern auch den Abstand zur eigenen Gemeinschaft gering zu halten.46 Bei genauerem Hinsehen erweist sich ein solcher Kritikansatz dennoch als problematisch. Seine in Opposition zum Universalismus stehende, kontextua­ listische Grundhaltung läuft ständig Gefahr, in moralische Beliebigkeit abzu­ kippen. Ganz offenkundig kursieren innerhalb einer konkreten Gemeinschaft immer schon gänzlich unterschiedliche Auffassungen von einem individuel­ len oder auch kollektiven Guten. Daher muss unklar bleiben, nach welchen – wenn nicht am Ende eben doch universalistischen – Kriterien der immanente Kritiker bessere von schlechteren Wertmaßstäben unterscheiden kann und soll. Darüber hinaus hätte sich die immanente Kritik darauf zu verlassen, dass epistemologische Aussage handeln sollte. Siehe dazu das Vorwort zur Neuausgabe von ders. (1966/1998): A Short History of Ethics, London: Routledge. 45 | Dazu Walzer (1993): »Wir wissen, daß wir nicht auf der Höhe der Maßstäbe leben, die uns rechtfertigen könnten. Und wenn wir dieses Wissen einmal vergessen sollten, dann taucht der Gesellschaftskritiker auf, um uns daran zu erinnern« (S. 59). 46 | In diesem Sinne lässt sich der berühmte Ausspruch des jungen Karl Marx verstehen, der meinte, man müsse die »versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt«. Siehe ders. (1844/1956a): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW, Bd. 1, Berlin: Dietz, S. 381.

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sich die Mitglieder einer Gemeinschaft weitestgehend darüber klar sind, was sie je für sich und ihre Gemeinschaft als gut erachten. Kann aber die Sozial­ philosophie ernsthaft darauf vertrauen, dass die Menschen bereits wissen und auch artikulieren können, was sie »wirklich« wollen? Es ist eben diese methodologische Skepsis gegenüber einem nur unzurei­ chend erschlossenen Werte- und Bedürfnishorizont47, durch die eine zweite Sorte von Sozialphilosophie auf den Plan gerufen wird. Sie wird gemeinhin Ideologiekritik genannt und ist bis heute zumeist in marxistischer Tradition be­ heimatet.48 Ähnlich wie der immanente Ansatz richtet auch sie ihren Blick auf die bereits vorfindlichen Diskursformationen der Gegenwart. Allerdings geht es ihr dabei gerade nicht um die Aufdeckung und Auszeichnung positiver Wer­ te, sondern allein um die Diskreditierung solcher hegemonialer Überzeugun­ gen und Denkweisen, die der Realisierung eines »wahrhaft« Guten im Wege stehen. Getragen ist diese Kritik von der durchweg pejorativ gehaltenen Grun­ düberzeugung, dass die Weltanschauungen und Wertvorstellungen, die in un­ seren westlichen kapitalistischen Gesellschaften vorherrschend sind, nicht als Einstellungen verstanden werden dürfen, die von den Betroffenen frei gewählt sind, sondern als historisch bzw. kulturell kontingente Produkte bewusstseins­ formierender Sozialpraktiken, in denen illegitime Machtbeziehungen und gravierende Ungerechtigkeiten zum Ausdruck kommen. Aus Sicht der Ideo­ logiekritik bietet die Lebenswelt den Anblick einer in den Dunst diskursiver Nebelkerzen eingehüllten Gemeinschaft, deren Zwangsstrukturen darin bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen und gerade dadurch eine gewisse Stabili­ tät erfahren. Somit tritt die Ideologiekritik in nahezu klassisch-aufklärerischer Manier an, die »Schleier der Verblendung« zu lüften, durch die hindurch das ganze Ausmaß an gesellschaftlichen Missständen und Fehlentwicklungen bis­ lang noch gar nicht angemessen in den Blick hat kommen können. Dabei steht der Begriff »Ideologie« für die Unterstellung, dass Menschen sich aufgrund ihrer Verstrickung in soziale, kulturelle, politische und ökono­ mische Lebensumstände über das, was sie »wirklich« wollen, zu täuschen ver­ mögen, ja, dass sie einem »falschen Bewusstsein« unterliegen und von ihrer eigentlichen Bedürfnisstruktur »entfremdet« sein können. Nun hat allerdings die Ideologiekritik von Beginn an unter dem Verdacht gestanden – und die An­ häufung der Anführungszeichen im letzten Satz dürfte dafür ein Indiz sein –, einem tendenziell totalitären Paternalismus Vorschub zu leisten. Wer ein Be­ wusstsein als »falsch« oder »entfremdet« brandmarken will, so die Gegenkri­ 47 | Zum Problemgehalt siehe James Bohman (1993): »Welterschließung und radikale Kritik«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 3/1993. 48 | Dazu insgesamt Karl-Otto Apel u.a. (1971): Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp; Kurt Lenk (Hg.) (1984): Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. u. New York: Campus.

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tik, müsse sich unweigerlich auf eine Theorie »wahrer« oder »authentischer« Interessen und Bedürfnisse berufen und dadurch mit prinzipiell unhaltbaren anthropologischen Prämissen ausrüsten. In der jüngeren Vergangenheit je­ doch haben Autoren wie Raymond Geuss und Cornelius Castoriadis sehr wohl die Möglichkeit einer nicht-paternalistischen Ideologiekritik in das sozialphilo­ sophische Blickfeld rücken lassen.49 Diesen Autoren ist die Annahme gemein, dass die Sozialphilosophie zwar weiterhin auf eine Diffamierung falschen Be­ wusstseins und entfremdeter Lebensverhältnisse zu bestehen habe, dass sie dabei aber auf eine Auszeichnung wahrer Bedürfnisse und nicht-entfremdeter Lebensvollzüge verzichten könne. Wie sollen sich diese beiden Prämissen ver­ einbaren lassen? Im Anschluss an die Kritische Theorie des frühen Habermas vertritt Ray­ mond Geuss die Überzeugung, dass die Interessen und Wertüberzeugungen eines Menschen allein dann als »wirklich« oder »wahrhaftig« angesehen wer­ den dürfen, wenn sie das Resultat eines Meinungsbildungsprozesses sind, der zwei Bedingungen erfüllt: Er muss sich zum einen unter Berücksichtigung al­ ler Informationen vollziehen, die für die betreffende Person von Relevanz sind. Und er hat zum anderen unter »moralisch akzeptablen« Bedingungen statt­ zufinden, d.h. im Rahmen zwangloser, nicht-unterdrückender Lebensumstän­ de.50 Angesichts dieser Forderungen, so Geuss, habe die Sozialphilosophie mit Blick auf die Realität spätkapitalistischer Gesellschaften nüchtern festzustel­ len, dass weder von der Voraussetzung transparenter Informationsflüsse noch von dem Vorhandensein von solchen kommunikativen Strukturen ausgegan­ gen werden kann, in denen sich eine Praxis unverzerrter ethisch-existenzieller Selbstverständigung vollzieht. Vielmehr seien sämtliche Meinungsbildungs­ prozesse aufgrund der vorherrschenden gesellschaftlichen Reproduktions­ zwänge immer schon ideologisch prädeformiert.51 Der Philosoph und Psychoanalytiker Cornelius Castoriadis kommt zu einer ganz ähnlichen Diagnose, deren Eigentümlichkeit jedoch an ihrer ausdrück­ lich tiefenpsychologischen Ausrichtung festzumachen ist.52 Castoriadis will die ideologische Verblendung und Entfremdung des Menschen als Herrschaft »eines anderen in mir« entlarven. Hierbei macht er sich im Anschluss an Sig­ mund Freud und Jacques Lacan zunächst eine entwicklungspsychologische Annahme zunutze, die in ganz anderen Zusammenhängen auch von George 49 | Raymond Geuss (1981): The Idea of a Critical Theory, Cambridge: Cambridge UP; Cornelius Castoriadis (1984): Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 50 | Siehe Geuss (1981), Kap 2. 51 | Vgl. André Gorz (1989): Kritik der ökonomischen Vernunft, Berlin: Rotbuch. 52 | Siehe dazu neben Castoriadis (1984), bes. Kap. II.3, auch ders. (1997): World in Fragments, Stanford: Stanford UP, bes. Abschnitt III.

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H. Mead53 entwickelt worden ist: Das mit dem Begriff »Subjekt« bezeichnete Verhältnis des Menschen zu sich selbst ist lebensgeschichtlich als das Resultat einer frühkindlichen Verinnerlichung der Perspektive und Verhaltenserwar­ tungen anderer aufzufassen; womit vor allem die ersten engen Bezugsperso­ nen des Kindes gemeint sein sollen. Diese Anderen nisten sich im Innern des Heranwachsenden unmerklich als ständige imaginäre Gesprächspartner ein. Das Subjekt, so folgert Castoriadis, ist diesen Anderen nicht einfach entge­ gengesetzt, es ist das Verhältnis zu und die Auseinandersetzung mit diesen Anderen.54 Die »innere Stimme« des Subjekts repräsentiert nun aber imaginär nicht nur dessen konkrete Bezugspersonen, sondern die Gesellschaft insgesamt, und zwar mit all ihren Regeln, Praktiken und Institutionen: Die prägenden Be­ zugspersonen eines Kindes tragen nicht allein ihre individuellen Ansprüche in dessen Sozialisation hinein, sie geben immer auch den Druck der gesellschaft­ lichen Verhältnisse weiter, der auf ihnen selbst lastet. Folgerichtig muss das zugleich individuierte und vergesellschaftete Subjekt von Beginn an auch für soziale Störungen und Anomalien anfällig sein. Wenn das gesellschaftliche Ensemble bereits in frühester Sozialisation in die menschliche Psyche hinein­ reicht und dabei wie ein »System der Einflüsterung« wirkt, dann müssen sich dort auch dessen institutionelle Verhärtungen und Deformationen bemerkbar machen. So kann sich der deformierte »Diskurs des Anderen« im Innern des Subjekts dauerhaft festsetzen und dort eine derartige Übermacht erlangen, dass der Mensch im späteren Leben unter dem ständigen Druck dieser nicht mehr nur als äußerlich erfahrenen Ansprüche unweigerlich der Entfremdung anheim fällt.55 Der ideologische Schleier, der sich über die kapitalistische Welt ausgebrei­ tet hat und den Castoriadis, ähnlich wie auch Geuss, lüften möchte, verursacht Blockierungen des menschlichen Vermögens, sich ethisch-existenziell über sich selbst zu verständigen und dabei zu autonomen Entscheidungen sowie kreativen Lebensprojekten zu gelangen. Allein bei Abwesenheit von Zwängen dieser Art wäre von einem Leben in wahrhafter Autonomie zu sprechen. Das im Innern des Subjekts waltende »gesellschaftliche Imaginäre« dünkt diesem jedoch so real, dass es zu keiner angemessenen Klärung der Genese und des Sinns dieser ihm als fremd gegenübertretenden Ansichten und Bedürfnisse kommen kann. Das falsche Bewusstsein unterwirft sich seiner Fremdbestim­ mung weitestgehend blind und unkritisch. Klärende Einsichten in die Mög­ 53 | Dazu Jürgen Habermas (1988a): »Individuierung durch Vergesellschaftung. Zu G. H. Meads Theorie der Subjektivität«, in: ders. (1988b): Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 54 | Castoriadis (1984), S. 179. 55 | Castoriadis (1984), S. 185.

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lichkeit einer kreativen Neugestaltung des Sozialen werden dadurch unmög­ lich. Fragt man nun nach der von Castoriadis und auch Geuss geforderten Be­ freiung des Menschen von derartiger Heteronomie, so wäre diese weder als bloße Bewusstwerdung herrschender Verblendungszusammenhänge noch als völlige Beseitigung jenes Diskurses »der Anderen in mir« zu denken. Es ginge dabei vielmehr um eine grundlegende und wiederholte Überprüfung jener zu­ nächst bloß überlieferten und internalisierten Ansichten und Ansprüche, im Zuge derer es zu einer gezielten Ablehnung dieser Ansichten, aber durchaus auch zu deren begründeter Billigung kommen kann.56 Betrachten wir diese ideologiekritischen Überlegungen von einem metakritischen Standpunkt aus, so kann festgehalten werden, dass weder Castoriadis noch Geuss inhaltliche Antworten auf die Frage zu geben versuchen, was gegenüber einer entfrem­ deten Bedürfnisstruktur »echte« oder »wahre« Interessen wären. Aus der tief­ sitzenden Überzeugung heraus, dass die Wahl ethisch-existenzieller Leben­ sorientierungen nicht nur individuell, sondern auch historisch und kulturell variiert und den Betroffenen daher selbst überlassen bleiben sollte, findet sich die unvertretbar zu leistende Aufgabe einer Suche nach konkreten Inhalten autonomen Lebens bei beiden Autoren auf eigentümliche Weise eingeklam­ mert: Ein nicht-entfremdetes Bewusstsein würde allein solche wertbehafteten Überzeugungen beinhalten, die den Betroffenen unter Bedingungen einer wahrhaft freien Meinungsbildung zu Bewusstsein kämen. Die Ideologiekritik beansprucht aber nicht selbst schon den konkreten Aufweis authentischer Be­ dürfnisse. Sie zielt lediglich auf eine Diskreditierung jener Lebensumstände, unter denen die Menschen eine unreflektierte, dogmatisch verblendete Exis­ tenz führen. Als normativer Fluchtpunkt der Ideologiekritik bzw. als deren formaler Maßstab zeichnet sich damit eine Idee unverzerrter Kommunikati­ onsverhältnisse ab, in denen autonome Individuen ihre wahrhaftigen Interes­ sen selbständig zu ergründen vermochten.57 Indem sie jene gesellschaftlichen Missstände zu diskreditieren verspricht, durch die ethisch-existenzielle Selbstverständigungsverhältnisse blockiert werden, kann die Ideologiekritik zwar dem gegen die immanente Sozialphilo­ sophie gerichteten Einwand entgegentreten, dass Menschen sich im konkreten Einzelfall nicht immer darüber im Klaren sind, was in ihrem ureigensten Inte­ resse liegt. Der oben ebenfalls angedeuteten Gefahr, in normative Beliebigkeit zu verfallen, vermag jedoch auch sie nicht auszuweichen. Vielmehr kehrt der Vorwurf in verschärfter Form wieder: Die immanente Kritik war lediglich mit dem Problem konfrontiert, die Kriterien angeben zu müssen, nach denen sie 56 | So folgert Castoriadis (1984): »Autonom ist ein Subjekt, das mit Grund schließen kann: Das ist wahr, und: Das ist mein Begehren« (S. 178). 57 | Geuss (1981), S. 54; Castoriadis (1984), S. 182ff.

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zwischen gesellschaftlich konkurrierenden Werten eine Auswahl zu treffen gedenkt.58 Die Ideologiekritik hingegen weist aufgrund ihres Verzichts auf jede Art der Auszeichnung wünschenswerter Lebensinhalte einen derart formalen Charakter auf, dass sie normativ fast vollständig leer läuft.59 Wenn aber die Etablierung unverzerrter Kommunikationsverhältnisse, in denen allein sich wahrhaftige Wertauffassungen bilden könnten, auf absehbare Zeit unrealis­ tisch bleibt, stellt sich dann nicht die Frage, ob sich die Sozialphilosophie offen halten sollte gegenüber dem Bedarf der erst langsam »zu sich« kommenden Individuen nach einer konkreten, inhaltlichen Lebensorientierung? Möglicherweise vermag an diesem strittigen Punkt eine dritte Form der Gesellschaftskritik einzuhaken, die im Folgenden als kulturhermeneutische Va­ riante der Sozialphilosophie präsentiert wird. Auch sie richtet ihren Blick auf das undurchsichtige Geflecht der Wertvorstellungen und sozialen Praktiken, die im eigenen Kulturkreis maßgeblich sind, doch ist sie dabei vor allem an der kulturellen Genese unseres Selbstverständnisses als spezifisch moderne Subjekte interessiert. Der von der kulturhermeneutischen Kritik angezielte Aufweis einer unhintergehbaren »Historizität« vorherrschender Wertorien­ tierungen soll dazu dienen, weitverbreitete und folgenschwere Selbstmissver­ ständnisse auszuräumen, die den Blick darauf verstellen, wer wir als moderne Individuen »wirklich« sind und – vor allem – wie wir zu dem geworden sind. Demnach steht im Mittelpunkt der kulturhermeneutischen Sozialpathognos­ tik der Versuch einer Rekonstruktion unserer kulturellen Vergangenheit, und zwar aus der Perspektive gegenwärtiger Problemlagen. Zweifellos war es Michel Foucault, der die Idee einer unvermeidlichen His­ torizität moderner Subjektvorstellungen wie kein anderer in den humanwis­ senschaftlichen Diskurs eingebracht hat. Mit nahezu detektivischem Gespür hat Foucault ein bemerkenswert vielgestaltiges Theorieprojekt vorangetrieben, dem er in Anknüpfung an Friedrich Nietzsche den Namen »Genealogie« gege­ ben hat.60 Wollte man hier die pathognostische Begrifflichkeit zeitgenössischer Sozialphilosophie zur Anwendung bringen, so ließe sich das von Foucault mit kulturhistorischer Akribie betriebene Unterfangen als eine umfassende Krankengeschichte charakterisieren. Auch wenn das Werk Foucaults auf den ersten Blick eher unüberschaubar und in seinen systematischen wie normativen 58 | Würde man die immanente Kritik einer ideologiekritischen Bewertung unterziehen, geriete deren Konzentration auf den eigenen kulturellen Wertehorizont zum Symptom. Die viel beschworene Immanenz dieser Ansätze hätte als Zeichen einer kulturellen Ignoranz zu gelten. 59 | Sieht man einmal ab von ihrem Plädoyer für »Autonomie«. Ich komme im letzten Abschnitt dieses Kapitels darauf zurück. 60 | Michel Foucault (1987a): »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: ders. (1987b): Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a.M.: Fischer.

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Ansprüchen nebulös erscheint, so fügen sich seine umfangreichen histori­ schen Studien doch in ihrer Gesamtschau zu einer weitverzweigten Anamne­ se, mit deren Hilfe die Konstitution des unter vielfältigen Deformationen lei­ denden modernen Subjekts aus dessen Entstehungsgeschichte heraus erklärt werden soll.61 Foucault selbst hat gegen Ende seines Lebens – für viele seiner Leserinnen und Leser eher unerwartet – einen internen Zusammenhang seiner zunächst disparat wirkenden Arbeiten behauptet: Stets habe er in all seinen Untersu­ chungen das eine Ziel vor Augen gehabt, »eine Geschichte der verschiedenen Verfahren zu entwerfen, durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjek­ ten gemacht werden«.62 Diesem genealogischen Anspruch, die verborgenen und zum Teil unheilvollen Aspekte jener modernen »Erfolgsgeschichte« zu enthüllen, ist Foucault auf insgesamt drei Achsen seines Werkes gefolgt. Im Mittelpunkt stand zunächst eine Analyse hegemonialer Wahrheits- und Wissensformationen innerhalb der subjektformierenden Diskurse der Hu­ manwissenschaften. Es folgte eine breite Untersuchung institutionalisierter Machtordnungen, für die, nach Foucault, das Gefängnis als prototypische »Disziplinaranstalt« steht. Gegen Ende seines Schaffens war Foucault dann vor allem mit dem Aufweis von »Selbsttechniken« beschäftigt, man denke hier an kulturelle Phänomene wie Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Geständnisse und vor allem auch an den Bereich der Sexualität, durch die ein Prozess um­ fassender Selbstdisziplinierung in Gang gekommen sein soll.63 Diesen drei Achsen seines Werkes – von Foucault kurz »Diskurs«, »Macht« und »Ethik« genannt – entsprechen nun drei historisch eher kontingente Ord­ nungen oder »Dispositive«, die das moderne Subjekt formiert haben sollen und die es bis heute dazu verführen, die eigene, historisch äußerst spezifische Existenzform fälschlicherweise als Inbegriff des menschlichen Daseins aufzu­ fassen. Dabei bleibe der sonderbar willkürliche Zucht- und Dressurcharakter der modernen Subjektwerdung den prädeformierten Individuen weitgehend 61 | Es ist in dieser pathognostischen Hinsicht bezeichnend, dass Foucault mit einem Buch über die Geschichte des Wahnsinns und der Psychiatrie berühmt geworden ist. Siehe ders. (1969): Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 62 | Michel Foucault (1987c): »Warum ich Macht untersuche: Die Frage des Subjekts«, in: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow (1994): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim: Beltz Athenäum. Siehe aber auch die Einleitung zu ders. (1986a): Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit, Bd. II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 63 | Für die erste dieser Phasen siehe ders. (1971): Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp; für die zweite ders. (1976): Überwachen und Strafen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp; für die dritte ders. (1986a) u. ders. (1986b): Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit, Bd. III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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unbewusst. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass, auch wenn Foucault selbst für seine historisch detaillierten Analysen einen rein deskriptiven Cha­ rakter beansprucht, diese doch alles andere als normativ neutral ausgerichtet sind. Inzwischen haben zahlreiche Interpreten Foucaults zeigen können, dass dessen Untersuchungen von wertbehafteten Grundüberzeugungen zehren, ohne die ihnen jeder kritische Stachel gezogen wäre.64 Zwar sucht man inner­ halb des Werkes von Foucault vergeblich nach expliziten Kritikmaßstäben  – etwa der Idee einer nonkonformen Subjektivität, die ihren modernen Zurich­ tungen zu trotzen vermochte –, doch hat diese Leerstelle einen ganz anderen Grund. Foucault ist davon überzeugt, dass die Befreiung des modernen Sub­ jekts weit weniger eine Sache der theoretischen Konstruktion als vielmehr das Resultat sozialer Kämpfe zu sein hätte. Gleichwohl sind seine Analysen gar nicht anders zu verstehen denn als Versuche, »freieren« Formen von Subjek­ tivität den Weg zu bahnen.65 Das Werk Foucaults ist in quasi-therapeutischer Absicht verfasst: Die Bewusstwerdung einer Verlustgeschichte des modernen Subjekts soll zugleich dessen geschwächte Widerstandskräfte stärken. Somit verfährt die Sozialphilosophie Foucaults weitestgehend dekon­ struktiv66, während eine zweite Spielart kulturhermeneutischer Sozialpatho­ gnostik stark affirmative Züge aufweist. Im Gegensatz zu Foucault, der die negative Kehrseite des modernen Subjektseins freilegen will, um sie als ver­ änderbar zu entlarven, geht es dieser vielmehr darum, den positiven Kern unserer heutigen Subjektvorstellungen herausschälen, um ihn zu bewahren. In diese »anti-genealogische« Stoßrichtung weisen heute vor allem die kul­ turhistorisch fundierten Zeitdiagnosen von Charles Taylor.67 Den normativen Bezugspunkt seiner Gesellschaftskritik entnimmt dieser der von ihm zugleich beanstandeten kulturellen Alltagspraxis selbst. Mit der Moderne, so Taylor, ist eine Idee »guten Lebens« zur Vorherrschaft gelangt, der zufolge das Gelingen 64 | Dazu exemplarisch Charles Taylor (1988a): »Foucault über Freiheit und Wahrheit«, in: ders. (1988b): Negative Freiheit?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 65 | Siehe Michel Foucault (1978): Dispositive der Macht, Berlin: Merve, bes. S. 32 u. 65; ders. (1987c). 66 | Auch der sogenannte Dekonstruktivismus weist, insofern er ausdrücklich sozialkritisch ausgerichtet ist, in die von Foucault vorgegebene genealogische Richtung. Aus diesem Grund habe ich darauf verzichtet, den Dekonstruktivismus, etwa in seinen feministischen Spielarten, als eine eigenständige Form von Sozialphilosophie zu präsentieren. Siehe aber exemplarisch die Beiträge in: Seyla Benhabib/Drucilla Cornell (Hg.) (1987): Feminism as Critique, Minneapolis: Minnesota UP. 67 | Das direkt auf Taylor gemünzte Etikett »Anti-Genealogie« stammt von Martin Seel (1991a): »Die Wiederkehr der Ethik des guten Lebens«, in: Merkur, 502/1991. Das Präfix »Anti« soll keine völlige Abkehr von der historischen Betrachtungsweise anzeigen, sondern lediglich eine Umkehrung der normativen Perspektive.

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der menschlichen Existenz auf der Möglichkeit und Fähigkeit beruht, relativ frei von inneren und äußeren Zwängen, das je eigene Leben »authentisch« verwirklichen zu können.68 Allerdings lasse das Ausmaß, in dem sich diese zweifellos hehre Idee in unserer kapitalistischen Lebenswirklichkeit tatsäch­ lich realisiert findet, sehr zu Wünschen übrig; und zwar insbesondere dort, wo heute die Hegemonie einer »technisch-instrumentellen« Weltsicht mit den »romantisch-expressiven« Quellen unseres modernen Selbstverständnisses kollidiere. Das Ideal der Authentizität sei vielmehr längst zu einer sinnent­ leerten, sich egoistisch oder gar narzisstisch missverstehenden Lebensorien­ tierung verkommen, zu einer »Malaise of Modernity«69, die ein inzwischen breites kulturelles Unbehagen hervorgerufen habe. Entsprechend, so Taylor, müssen die Legitimationskrisen, von denen unsere kapitalistischen Gesell­ schaften periodisch heimgesucht werden, auf eben diese Enttäuschung zu­ rückgeführt werden, dass sich das spezifisch moderne Versprechen von einem guten Leben noch immer nur unzureichend eingelöst findet. Wenn die Darstellung von Taylors sozialphilosophischem Ansatz hier auch äußerst knapp ausfallen muss, so wird dennoch deutlich, welche Strategie er bei der Gewinnung seiner normativen Prämissen wählt: Aus dem eher un­ durchsichtigen Gemenge moderner Wertorientierungen will Taylor genau jenes noch immer kostbare, aber offenbar flüchtige Substrat zeitgenössischer Authentizitätsvorstellungen extrahieren, das angesichts der ideologischen Vor­ herrschaft eines zum »Atomismus« tendierenden Liberalismus unter Arten­ schutz zu stellen wäre.70 Im Zuge der Auszeichnung einer in soziale, kulturelle und historische Kontexte eingelassenen und dort zugleich entstellten Idee au­ thentischer Identität versorgt Taylor sein kulturhermeneutisches Projekt aus­ drücklich mit eben jenen kritischen Maßstäben, die man bei Foucault, seinem genealogischen Pendant, vermisst haben mag. Folgt man Taylor, so muss die normative Leitidee der Authentizität nicht erst erkämpft werden. Sie wäre le­ diglich wiederzuentdecken und endlich unverkürzt zur Geltung zu bringen. Doch ganz gleich, ob man nun die genealogische oder aber die anti-ge­ nealogische Richtung kulturhermeneutischer Kritik einschlagen möchte, in beiden Fällen führt die Anerkennung der Kontextualität und Historizität sozialphilosophischer Maßstäbe zu eben jenem methodologischen Problem normativer Beliebigkeit zurück, auf das wir bereits bei der Diskussion der ers­ ten beiden sozialpathognostischen Ansätze gestoßen sind. Bedenkt man, dass sich auch in historisierender Perspektive eine letztlich breite Konkurrenz an 68 | Dazu vor allem Charles Taylor (1994): Quellen des Selbst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp; ders. (1995): Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 69 | So der englische Originaltitel von Taylor (1995). 70 | Dazu auch Charles Taylor (1993): Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a.M.: Fischer.

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normativen Idealen abzeichnen muss, wird fraglich, anhand welcher Kriteri­ en zu entscheiden wäre, welche dieser Wertvorstellungen den jeweils anderen vorzuziehen sind. Sowohl Taylors Überzeugung, dass das Ideal der Authentizi­ tät der hegemonialen Weltsicht instrumenteller Rationalität überlegen sei, als auch Foucaults implizite Ansicht, dass sich freiere Formen der Subjektivität den herrschenden Disziplinierungsmechanismen entgegen zu stemmen hät­ ten, verweisen am Ende selbst wieder auf stärkere, d.h. kontexttranszendie­ rende Prinzipien, die nötig wären, um historische Wertekonflikte dieser Art bereits auf theoretischer Ebene vorzuentscheiden.71 Bevor wir nun zur Darstellung solcher sozialpathognostischer Ansätze übergehen, die der Gefahr normativer Beliebigkeit sehr viel offensiver begeg­ nen, indem sie ausdrücklich eine Auszeichnung allgemeinverbindlicher Stan­ dards anzielen, sei hier aber zunächst noch ein vierter kulturalistischer Ansatz erwähnt. Dieser fällt vor allem deshalb ein wenig aus dem Rahmen, weil er sich um die Möglichkeit einer positiven Auszeichnung normativer Kriterien gar nicht erst kümmern will. Ja, wie sich zeigen wird, sind die gemeinten Sozi­ alpathognostiker nicht einmal mehr an einer adäquaten Beschreibung unserer Gegenwart interessiert. Denkt man an die Werke von so unterschiedlichen Au­ toren wie z.B. Jean Baudrillard, Giorgio Agamben, Dietmar Kamper oder auch Peter Sloterdijk, so mag dem Leser der Verdacht kommen, dass es sich bei de­ ren Kulturkritik eher um eine gezielte Übertreibung vorfindlicher gesellschaft­ licher Notstände handelt.72 Diese Autoren überzeichnen die gegenwärtige ge­ sellschaftliche Lage in einer provokativen Schärfe, die den Leser offenkundig zu einer ganz besonderen Form der Bewusstwerdung verleiten soll. Ich möchte diese Beiträge unter dem Stichwort einer hyperbolischen Sozialpathognostik zu­ sammenfassen. Wir haben es dabei mit philosophischer Science Fiction zu tun. Wenn etwa Baudrillard das völlige »Absterben der realen Welt« und deren Auflösung in »totale mediale Simulation« konstatiert oder Agamben von einer biopolitisch induzierten, allgemeinen Reduzierung des Menschen auf das »nackte Leben« nach dem Vorbild des »Lagers« spricht, wenn Kamper die massenmedial ge­ nerierte »Zerstückelung« der Menschen »in geistlose Körper und körperlosen Geist« registriert oder Sloterdijk die sogenannte Globalisierung als ein »Syn­ chronstreßsystem im Weltmaßstab« deutet, das für moderne Menschen kata­ 71 | Vgl. Onora O’Neill (2000): »Starke und schwache Gesellschaftskritik in einer globalisierten Welt«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 5/2000. 72 | Ich weise im Hinblick auf diese vier Autoren lediglich auf jeweils ein wichtiges Werk hin: Jean Baudrillard (1978): Agonie des Realen, Berlin: Merve; Giorgio Agamben (2002): Homo Sacer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp; Dietmar Kamper (1995): Unmögliche Gegenwart, München: Fink; Peter Sloterdijk (1998ff.): Sphären I-III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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strophale »Immunschwächen« mit sich bringt, dann ist rhetorisch, aber auch der Sache nach angezeigt, dass hier gezielt zeitdiagnostische Übertreibungen vorgenommen werden. Die hyperbolische Science Fiction soll offenbar eine Art self destroying prophecy bewirken  – in der Hoffnung, dass das Vorhergesagte gerade nicht eintreten möge. Eine Karikatur der gesellschaftlichen Verhält­ nisse und Entwicklungstendenzen dient dazu, im Leser eine Verstimmung hervorzurufen oder gar einen Schrecken auszulösen, durch den ein längst überfälliges Umdenken in Gang kommen soll. In der Regel schlägt der Hy­ perboliker dazu einen nahezu apokalyptischen Ton an, dem der »Charme des Endgültigen« anhaftet.73 Nur zu oft wird auf den ersten Blick nicht einmal sichtbar, ob dessen Überlegungen tatsächlich kritisch gemeint sind oder ob er das vermeintliche Unheil lediglich nüchtern registriert. Der bisweilen sogar af­ firmative Gestus hyperbolischer Reflexionen ist freilich selbst nur rhetorisches Ausdrucksmittel. Das vermeintliche Einverständnis des Autors mit dem von ihm diagnostizierten Verhängnis soll den bewirkten Verfremdungseffekt nur noch verstärken, damit sich in der ohnehin schon aufgewühlten Leserschaft noch stärkerer Widerstand regt. Bereits im Zusammenhang der Ideologiekritik sind wir auf den Umstand aufmerksam geworden, dass die in einer kulturellen Gemeinschaft herrschen­ den Wertvorstellungen derart verkrustet und dogmatisch verblendet sein kön­ nen, dass Chancen auf davon abweichende, kritische Einsichten von vornher­ ein vereitelt sind. Das kulturelle Selbstverständnis einer Gemeinschaft mag dann auf eine Weise eingespielt sein, in der es dauerhaft gegen Kritik sowohl von innen wie auch von außen abgeschottet ist. In Fällen dieser Art kann eine radikale Form »welterschließender Kritik« notwendig werden, die den patho­ logisch erstarrten Wissenshorizont rhetorisch aufzubrechen versucht, um den verblendeten Individuen veränderte oder noch unbekannte Denkperspektiven zu eröffnen.74 Eben dies soll hyperbolische Kritik leisten. Deren Verpflichtung zu einer, wenn man so will, wahrheitsgetreuen oder adäquaten Beschreibung der Wirklichkeit fällt eher unverbindlich oder besser indirekt aus: Der welter­ schließende oder eben hyperbolische Kritiker verknüpft mit seinen zumeist in Essay-Form vorgetragenen Überlegungen gar keinen Wahrheitsanspruch in dem Sinne, dass er sich von seiner Leserschaft gegen Ende der Lektüre Zu­ stimmung versprechen würde. Stattdessen ist an diesen Essays geradezu der Wunsch ablesbar, der Leser möge dem Autor eben nicht beipflichten, sondern an ihm Anstoß nehmen und in der dadurch bewirkten Konfrontation und Ver­ wirrung zu neuen, eigenen Wahrheiten kommen. Demnach ist hyperbolische 73 | Nicht selten meint man gar ein gewisses Augurenlächeln zu vernehmen, aus dem der Triumph der Verkündung spricht. Dazu Hans Magnus Enzensberger (2000): »Das digitale Evangelium«, in: Der Spiegel, 2/2000. 74 | James Bohman (1993).

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Kritik als ein »unversöhnliches Schreiben« zu charakterisieren, das auf Wi­ derrede hofft.75 Folglich wäre mit Blick auf unser metakritisches Grundproblem zu sagen: Die Idee einer Welt, die von der diagnostizierten Katastrophe unbeschadet wäre, muss vom Hyperboliker gar nicht eigens ausgezeichnet oder gerecht­ fertigt werden. Sie soll auf Seiten der Leserschaft durch eine radikale Verän­ derung der Realitätssicht regelrecht evoziert werden. Indem von den tatsäch­ lichen Lebensbedingungen eine ungewöhnliche und bisweilen schockierende Neubeschreibung vorgenommen wird, nimmt »schlagartig alles die neue Be­ deutung eines pathologischen Zustandes« an, sodass die bisher gehegten Wertüberzeugungen der Leserschaft kaum unverändert bleiben können.76 Demnach wird man der rhetorischen Emphase, von der die hyperbolische Kri­ tik getragen wird, kaum gerecht werden, wollte man das Fehlen normativer Maßstäbe bemängeln. Zweifellos ist aus den Werken der genannten Autoren häufig nur schwer herauszulesen, wie gegenüber dem diagnostizierten worst case eine nicht-pathologische Gesellschaft auszusehen hätte. Auch hier bleibt der Leser letztlich allein gelassen. Doch auch wenn ihm keine konkreten nor­ mativen Kriterien an die Hand gegeben werden, lässt sich eines mit Sicherheit festhalten: Eine nicht-pathologische Gemeinschaft zeichnete sich dadurch aus, dass all jene beängstigenden Symptome eben nicht auftreten würden, die der Hyperboliker an die Wand malt, als sei es der Teufel, den es zu vertreiben gilt.77 Fassen wir zusammen: Auf die eine oder andere Weise sind alle vier der hier »kulturalistisch« genannten Ansätze mit dem Vorwurf konfrontiert, in normative Beliebigkeit zu verfallen. War die immanente Kritik davon ausge­ gangen, dass die Maßstäbe der Sozialpathognostik immer schon in die sittli­ che Diskurswelt der eigenen Gemeinschaft eingelassen sind und dort lediglich wiederentdeckt zu werden brauchen, so war doch auf metakritischer Ebene unklar geblieben, wie der lokale Kritiker bessere von schlechteren Wertvor­ stellungen unterscheiden kann. Hatte sich die neuere Ideologiekritik aus an­ ti-paternalistischer Vorsicht heraus jeglicher Konstatierung von »wahren« Be­ dürfnissen verweigert, so konnte den unter Verblendungsverdacht stehenden Individuen am Ende überhaupt keine konkrete Orientierungshilfe mehr an­ geboten werden. Zielte die kulturhermeneutische Sozialpathognostik auf eine historische Rekonstruktion spezifisch moderner Lebensideale, so blieb auch hier unklar, anhand welcher »höherer« Werte sich die Dekonstruktion, aber 75 | Dietmar Kamper (1996): Abgang vom Kreuz, München: Fink, S. 180f. 76 | So Axel Honneth mit Blick auf das vielleicht prominenteste Vorbild hyperbolischer Kritik. Siehe ders. (2000b): »Über die Möglichkeit einer erschließenden Kritik. »Die Dialektik der Aufklärung« im Horizont gegenwärtiger Debatten über Sozialkritik«, in: ders. (2000c): Das Andere der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 81. 77 | Insofern kann auch von einer diabolischen Sozialkritik die Rede sein.

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auch die Affirmation dieser Ideale sollte rechtfertigen lassen. Musste schließ­ lich die hyperbolische Kritik zugunsten des von ihr erzielten rhetorischen Ef­ fekts in deskriptiver wie normativer Hinsicht missverständlich bleiben, lief sie Gefahr, eine verwirrte Leserschaft zurückzulassen, deren Wertvorstellungen sich gänzlich aufzulösen drohten. Man mag nun in der normativen Enthaltsamkeit dieser kulturalistischen Ansätze deren eigentliche Stärke begründet sehen. Der Sozialkritiker, so heißt es häufig, dürfe all denjenigen, die unter den Folgen von gesellschaftlichen Missständen leiden, nicht einfach seine eigenen partikularen Wertvorstellun­ gen überstülpen. Er habe sich vielmehr an deren Idealen zu orientieren. Auch wenn man diese Kritik ernst nehmen möchte, kann man ihr Folgendes entge­ genhalten: Wenn die konzeptionelle Dringlichkeit des oben aufgeworfenen Be­ gründungsproblems erst einmal erkannt ist, wird man diesem nicht dadurch beikommen können, dass man ihm ausweicht. Solange die Sozialphilosophie keine hinreichend klaren und verallgemeinerbaren Kritikmaßstäbe zu setzen vermag, wird jene zentrale Frage nach ihrer Überzeugungskraft unbeantwor­ tet bleiben, die da lautet: Wie hätte gegenüber den jeweils diagnostizierten So­ zialpathologien eine »gesunde« Gesellschaft auszusehen?

1.4 E thisch - mor alische A nsät ze der G esellschaf tskritik Wenden wir uns nun solchen sozialphilosophischen Begründungsstrategien zu, die dem Vorwurf normativer Beliebigkeit dadurch begegnen, dass sie sich explizit um eine Rechtfertigung verallgemeinerbarer Standards bemühen. Die im Folgenden zu skizzierenden Ansätze sollen den pluralistischen Kontext der jeweiligen Gesellschaft, deren Missstände sie festhalten, zumindest insoweit transzendieren, dass eine Auszeichnung von Grundwerten und Grundgütern möglich wird, deren Gültigkeit und Wichtigkeit zumindest für alle der von den diagnostizierten Pathologien Betroffenen außer Frage steht. Kritikansätze dieser Art werden hier ethisch-moralisch genannt, weil die von ihnen in norma­ tiver Hinsicht geleistete Begründungsarbeit von der Idee eines individuellen oder auch kollektiven »Guten« geleitet ist, dessen Realisierung angesichts der vorhandenen Lebensumstände in Gefahr sein soll. Man kann hier zwischen einer »gerechtigkeitsorientierten«, einer »minimalistischen«, einer »intersub­ jektivistischen« und einer »neoeudaimonistischen« Version von Sozialkritik unterscheiden. Die Perspektive einer gerechtigkeitsorientierten Sozialkritik stellt sich dann ein, wenn sich der Sozialpathognostiker dazu entschließt, zunächst auf die Ergebnisse der zeitgenössischen Politischen Philosophie zurückzugreifen, die es, wie zu Beginn dieses Kapitels angedeutet, mit der primär konstruktiv ge­ meinten Frage nach den Strukturen und Institutionen einer »wohlgeordneten

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Gemeinschaft« zu tun hat. Zu einer kritischen Diagnose der Gesellschaft kann es dann freilich erst durch Umkehrung der normativer Perspektive kommen: Ist die Idee einer »guten« oder auch »gerechten« Gesellschaft erst einmal ent­ worfen, so mag es nahe liegen, dieses Ideal mit der gegebenen Faktenlage ab­ zugleichen, um zu ergründen, inwieweit die vorhandene Gesellschaft von der zuvor konzeptionalisierten Idee einer wahrhaft guten Gesellschaft abweicht. Betrachten wir dazu jene seit gut dreißig Jahren anhaltende Diskussion um eine Theorie der Gerechtigkeit, wie sie seinerzeit durch das gleichnamige Werk von John Rawls in Gang gebracht worden ist.78 Rawls hat darin der überaus grundsätzlichen Frage nachzugehen versucht, welche moralischen Grundin­ tuitionen Menschen zum Ausdruck bringen, wenn sie über Gerechtigkeit re­ den. Im Anschluss an die vertragstheoretische Tradition der Politischen Philo­ sophie gerät auch bei Rawls das Gedankenexperiment eines gesellschaftlichen »Urzustandes« zum Dreh- und Angelpunkt der Theorie, wenngleich auf über­ aus originelle Weise: Rawls lässt die Teilnehmer seiner fiktiven Übereinkunft hinter einem »Schleier des Nichtwissens« verschwinden, der sie all das ver­ gessen lässt, was sie zu besonderen Individuen macht  – ihre Herkunft, ihre Abstammung, ihr Geschlecht, ihr Alter, ihren Status, ihre Klasse, ihre konkre­ ten Lebensziele, ihre besonderen Talente etc. Angesichts dieser Unwissenheit können die Personen nicht voraussehen, an welchem Platz der Gesellschaft sie sich wiederfinden werden, wenn sich der Schleier des Nichtwissens lüftet. Nun fragt Rawls: Worauf würden sich die Vertragspartner einigen, wenn man sie bitten würde, die Grundsätze einer wohlgeordneten, gerechten Gesellschaft festzulegen?79 Die berühmte Antwort lautet: Sie werden zuallererst zwei fundamentale Gerechtigkeitsprinzipien festlegen. Während der erste Grundsatz, das »Gleich­ heitsprinzip«, den Anspruch eines jeden Bürgers auf institutionelle Gleichbe­ handlung und Gleichverteilung festschreibt, fungiert der zweite Grundsatz, das »Differenzprinzip«, als Leitlinie für verteilungspolitische Ausnahmen. Demzufolge haben gesellschaftliche Ungleichheiten bzw. Ungleichverteilun­ gen allein dann als legitim zu gelten, wenn sie den am schlechtesten Situierten zum Vorteil gereichen. Rawls ist nicht daran interessiert, alle nur erdenklichen Verteilungsunterschiede zu beseitigen, sondern allein jene, durch die einzelne 78 | John Rawls (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Zur Diskussion insgesamt siehe Rainer Forst (1994): Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp; Will Kymlicka (1997): Politische Philosophie heute, Frankfurt a.M. u. New York: Campus; Wolfgang Kersting (2000): Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart: Metzler. 79 | Rawls (1975), Kapitel 3. Für eine kürzere Fassung des gesamten Arguments siehe ders. (1992a): »Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch«, in: ders. (1992b): Die Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Personen benachteiligt werden. Damit ist im Hinblick auf die gesellschaftlich zu verteilenden sozialen Chancen und Grundgüter eine Art Quotenregelung benannt: Die Bevorzugung weniger begünstigter Gesellschaftsmitglieder wird solange befürwortet, bis die als ungerecht einzustufenden Unterschiede aus­ geglichen sind. Nun ist aber mit Blick auf die normative Tragweite der Rawlsschen Begrün­ dungsfigur sowie hinsichtlich der daraus abgeleiteten Liste sozialer Grundgü­ ter80 zunächst unklar geblieben, ob diese Überlegungen tatsächlich als eine »umfassende«, d.h. universalistische Konzeption der Moral gemeint sein soll­ ten. In späteren Arbeiten hat Rawls auf entsprechende Kritik reagiert und deut­ lich zu machen versucht, dass seine Theorie als eine »politische« Konzeption der Gerechtigkeit aufgefasst werden müsse, die auf den spezifischen Kontext westlicher, demokratischer Rechtsstaaten zugeschnitten sei. Sie könne daher nicht schon für alle nur erdenklichen Gesellschaften und Kulturen Geltung beanspruchen.81 Im Zuge dieser zunächst klärenden Einschränkung ist es jedoch zu einer Verlagerung des normativen Schwerpunktes seines Werkes gekommen. In den Vordergrund seiner späteren Arbeiten rückte zusehends die äußerst formal gehaltene Idee einer von »öffentlicher Vernunft« geleiteten, konsensualen Einigung zwischen demokratischen Staatsbürgern. Die zuvor durchaus substanziell gefasste Forderung nach einer sozialen Gleichvertei­ lung notwendiger Grundgüter verblasste, sodass man bei der Suche nach den sozialkritischen Maßstäben seines Werkes nunmehr auf eine im Grunde kul­ turalistische Begründungsfigur à la Michael Walzer zurückverwiesen ist. Den Anspruch auf universelle Geltung seiner Theorie büßt Rawls erklärtermaßen ein, um die konkrete Ausgestaltung der Gerechtigkeitsidee den betroffenen Staatsbürgern selbst zu überlassen. Selbstredend ist aber auch schon gegenüber dem ursprünglichen Gerech­ tigkeitsmodell vielfältige Kritik geäußert worden.82 An dieser Stelle soll ledig­ lich ein zentraler Punkt Erwähnung finden, der vor allem von Ronald Dworkin in die Diskussion eingebracht worden ist und uns zu dessen Auffassung von Gerechtigkeit hinüberleiten soll.83 Rawls, so lautet der Vorwurf, habe sich in seiner Gerechtigkeitstheorie zu sehr auf die Ungleichverteilung sozialer Güter konzentriert und dabei dem Umstand zu wenig Beachtung geschenkt, dass 80 | Rawls (1975), Abschnitt 15. 81 | Siehe neben Rawls (1992b), z.B. S. 365ff., vor allem ders. (1998): Politischer Liberalismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 82 | Dazu exemplarisch: Norman Daniels (Hg.) (1989): Reading Rawls, Stanford: Stanford UP. 83 | Dazu vor allem Ronald Dworkin (1981a): »What is Equality? Part 1: Equality of Welfare«, in: Philosophy and Public Affairs, 3/1981; ders. (1981b): »What is Equality? Part 2: Equality of Resources«, in: Philosophy and Public Affairs, 4/1981.

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Menschen auch aufgrund ihrer »natürlichen« Ausstattung unverdient benach­ teiligt sein können; man denke hier etwa an genetische Prädispositionen, In­ telligenz, Talente etc. Zwar sorgten die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze von Rawls dafür, dass die Verteilung sozialer Grundgüter nicht von natürlichen Gaben abhängig sein dürfe. Aber ob und wie diese natürlichen Ungerechtigkei­ ten als solche aufgehoben werden können, bleibe unklar.84 Tatsächlich will Dworkin der Ansicht folgen, dass mit unserem alltäglichen Gerechtigkeitsverständnis die Hoffnung verknüpft sei, dass in einer wahrhaft gerechten Gesellschaft auch etwaig unverschuldete Nachtteile zum Ausgleich kämen. Dann erst hätten wirklich alle Menschen, trotz gegebener Unterschie­ de im Einzelnen, die gleiche Chance, erfolgreich die Herausforderungen des Lebens zu meistern.85 Man solle daher, so Dworkin, die gut gemeinte egalitäre Forderung, jeden Menschen »als Gleichen« zu behandeln, nicht mit der abwegigen egalisierenden Forderung verwechseln, ihn strikt »gleich« zu be­ handeln.86 Denn natürliche Unterschiede können durchaus eine Ungleichver­ teilung zugunsten der schlechter Gestellten notwendig werden lassen. Aber können solche schicksalhaften Nachteile dadurch tatsächlich ausgeglichen werden? Dworkin favorisiert in seinem Gerechtigkeitsmodell einen modifizierten »Schleier des Nichtwissens« und stellt sich die ursprüngliche Verteilung der Grundgüter als eine große Auktion vor, deren Teilnehmer nicht wissen, ob sie natürliche Benachteiligungen aufweisen. Jeder Auktionsteilnehmer erhält die gleiche Kaufkraft, zugleich aber auch die Möglichkeit, einen Teil seines Gel­ des in eine Versicherung gegen unverschuldete Ungleichheiten zu investieren. Nach Ende der Auktion sollen die tatsächlich Benachteiligten aus dem sich dabei ansammelnden Fonds entschädigt werden. Mit diesem »Versicherungs­ modell« will Dworkin einen konzeptionellen Mittelweg beschreiten zwischen der kategorialen Vernachlässigung unverschuldeter Nachteile bei Rawls und der letztlich wohl unrealistischen Hoffnung, dass sich diese Nachteile jemals vollkommen ausgleichen lassen werden. Will eine Theorie der Verteilungsge­ rechtigkeit auch auf praktische Umsetzbarkeit bedacht sein, so Dworkin, kann sie daher letztlich immer nur eine zweitbeste Lösung anbieten.87

84 | Bei Rawls (1975), S. 123, heißt es: »Die natürliche Verteilung ist weder gerecht noch ungerecht.« Dazu etwa Amartya Sen (1993a): Inequality Reexamined, New York u. Cambridge: Harvard UP, S. 81ff. 85 | Dazu Ronald Dworkin (1990): Foundations of Liberal Equality. The Tanner Lectures on Human Values, XI, Salt Lake City: Utah UP. 86 | Vgl. Ronald Dworkin (1985a): »Liberalism«, in: ders. (1985b): A Matter of Principle, Cambridge: Harvard UP. 87 | Dworkin (1981b).

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Mit »praktischer Umsetzbarkeit« ist dann auch das Stichwort zu einer Überprüfung der sozialphilosophischen Relevanz derartiger Gerechtigkeits­ theorien gefallen. Zu Beginn dieses Abschnitts war etwas vorschnell behaup­ tet worden, es sei naheliegend, die im Rahmen der Politischen Philosophie erarbeiteten Gerechtigkeitsmodelle mit der konkret vorfindlichen Faktenlage abgleichen zu wollen, um Phänomene sozialer Ungerechtigkeit in den Blick zu bekommen. Allerdings muss festgestellt werden, dass die konzeptionelle Chance einer gerechtigkeitsorientierten Sozialphilosophie bislang weitgehend ungenützt geblieben ist, so viel auch in den letzten Jahren normativ-konstruk­ tiv über Gerechtigkeit diskutiert wurde.88 Das mag an der Abstraktheit der ver­ fügbaren Gerechtigkeitstheorien liegen, vielleicht aber auch an deren hohen Ansprüchen. Angesichts von zum Teil eklatanten sozialen und ökonomischen Ungerechtigkeiten auch in der westlichen Welt müssen derart unbescheidene Vorstellungen von distributiver Gerechtigkeit wie ein utopisches Wolkenku­ ckucksheim anmuten, dessen Realisierung vermutlich eher mit einer sozia­ listischen Planwirtschaft als mit dem Bestand des kapitalistische Wohlfahrts­ staates kompatibel wäre.89 Daher mag man sich dazu genötigt sehen, sich auf eine Art »Grundsatzliberalismus« zurückzuziehen und aus der Diskussion praktischer Anwendungsfragen weitgehend herauszuhalten.90 Dieser Missstand hat in den letzten Jahren manchen Autor auf den Plan ge­ rufen, der sich aufgrund der letztlich unrealistischen Gerechtigkeitstheorien zu einem vergleichsweise bescheidenen Plädoyer veranlasst sah. So lässt sich heute etwa den Arbeiten von Avishai Margalit und Richard Rorty die sozialpa­ thognostische Grundüberzeugung entnehmen, dass eine Kritik gesellschaftli­ cher Fehlentwicklungen bereits völlig ausreichend untermauert sei, wenn sich diese auf einen Begriff nicht der gerechten, sondern der bloß »anständigen« Gesellschaft berufen könne. Die heutigen Gesellschaftssysteme mögen zwar tatsächlich zahlreiche Ungerechtigkeiten aufweisen, doch dürfe die hehre Ge­ rechtigkeitsdebatte nicht den Blick darauf verstellen, dass mancherorts nicht einmal die Minimalstandards eines zivilisierten, »menschenwürdigen« Mitei­ nanders erfüllt seien.91

88 | Ausnahmen sind Arbeiten von Gerald A. Cohen, Amartya Sen, Rodney G. Peffer oder auch Nancy Fraser. 89 | Kymlicka (1997), S. 93. 90 | Dazu William Connolly (1984a): »The Dilemma of Legitimacy«, in: ders. (Hg.) (1984b): Legitimacy and the State, New York: New York UP. 91 | Avishai Margalit (1997): Politik der Würde, Berlin: Alexander Fest; Richard Rorty (1989): Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Auf je eigene Weise knüpfen Margalit und Rorty dabei an Judith N. Shklars Motto »Putting Cruelty First«92 an, wenn sie das negativ gehaltene Prinzip der Vermeidung von Grausamkeit zum normativen Ausgangspunkt ihrer gesell­ schaftskritischen Überlegungen machen. Von Grausamkeit könne vor allem dort gesprochen werden, wo Menschen von anderen »gedemütigt« werden, d.h. wo ihnen das Recht auf Behandlung als Gleiche unter Gleichen streitig gemacht werde. Während Margalit den demütigenden Charakter sozialer und institutioneller Praktiken daran bemessen will, ob der Mensch »als Mensch« geachtet oder stattdessen wie ein Ding, eine Maschine oder ein Tier behandelt wird, hat Rorty vor allem den paradigmatischen Fall der Folter vor Augen.93 Mit Überlegungen dieser Art ist eine minimalistische Form der Sozialpathognostik in Aussicht gestellt, die auf elementare Umgangsformen einer zivilisierten Ge­ sellschaft zielt. Fragt man bei Margalit und Rorty nach dem positiven Maßstab ihrer Kritik, d.h. nach eben jenem Prinzip, das durch grausame oder demütigende Akte verletzt wird, so ist dieses Kriterium nur unschwer aus ihren Schriften heraus­ zulesen. Es ist das Ideal eines aufrechten Lebens in »Würde« und »Selbstach­ tung«, von dem abhängt, ob eine Gesellschaft das Prädikat »human« verdient. Allerdings hegen beide Autoren Zweifel an der Möglichkeit, Überlegungen die­ ser Art in die Form einer philosophischen Theorie gießen zu können. Der als Relativist geltende Rorty geht davon aus, dass selbst noch die Forderung nach Grausamkeitsvermeidung einer Setzung gleichkomme, die sich bei genaue­ rem Hinsehen als willkürlich und philosophisch nicht weiter begründbar er­ weise, sodass selbst noch der universalistische Gehalt der Menschenwürdeidee bestritten werden könne.94 Margalit hingegen befürchtet, dass sich der im Würdebegriff versteckte »Empfindungsgehalt« gänzlich aufzulösen beginnt, wenn man ihn genauer philosophisch zu analysieren versucht.95 Dennoch, d.h. trotz dieser Bedenken, sind die Überlegungen beider Autoren als ein engagier­ tes Plädoyer für menschenwürdige Lebensverhältnisse zu deuten, womit ein »dünner« Begriff der Moral skizziert wäre, der den Minimalstandard eines von Grausamkeit unberührten Lebens in Würde und Selbstachtung festschreibt.96 Damit ist der entscheidende Unterschied zwischen einer »bloß« men­ schenwürdigen Gesellschaft und der zuvor diskutierten gerechten Gesell­ schaft markiert. In einer menschenwürdigen Gesellschaft käme es zu keinen Grausamkeiten. Sie wäre frei von jeder Art der institutionellen Demütigung. 92 | Judith N. Shklar (1984): Ordinary Vices, Cambridge: Harvard UP. 93 | Margalit (1997), Kap. 6.; Rorty (1998), Kap. 8. 94 | Rorty (1998), S. 14f. 95 | Margalit (1997), S. 331f. 96 | Das bringt beide Autoren in die Nähe der metakritischen Überlegungen von Walzer (1994).

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Die gerechte Gesellschaft hingegen wäre nicht nur, in diesem Sinne, »anstän­ dig«, sie sorgte darüber hinaus für eine umfassend faire Verteilung materi­ eller wie ideeller Ressourcen. Je nach Perspektive ist damit eine umgekehrte Rangfolge beider Prinzipien benannt: In normativer Hinsicht hat das Ideal der Gerechtigkeit gegenüber dem der Menschenwürde als das anspruchsvollere Prinzip zu gelten, da es das letztere bereits umfasst. In politischer Hinsicht hin­ gegen kann die Realisierung einer menschenwürdigen Gesellschaft weitaus dringlicher und zunächst wohl auch aussichtsreicher erscheinen als die Etab­ lierung wahrhaft gerechter Gesellschaftsstrukturen.97 Aus der metakritischen Sicht der Sozialphilosophie mag man sich daher in der Verlegenheit sehen, entscheiden zu müssen, ob man das anspruchsvollere Ideal der Gerechtigkeit aufgreifen will, und zwar auf die Gefahr hin, dass die Theorie unrealistische Züge annimmt, oder ob man stattdessen dem momentan dringlicheren Inte­ resse an einer menschenwürdigen Gesellschaft folgen möchte; in diesem Fall allerdings mit dem Risiko, kritischen Spielraum zur Diagnose solcher Miss­ stände zu verschenken, die zwar Ungerechtigkeiten darstellen, darum aber nicht schon als menschenunwürdig gelten müssen.98 Von ganz besonderer Relevanz ist jedoch der folgende Umstand: Greift die Idee der anständigen Gesellschaft auf das Motiv des »bloß« menschenwürdi­ gen Lebens zurück, so muss das normativ höher gestufte Gesellschaftsideal der Gerechtigkeit entsprechend einen anspruchsvolleren Begriff vom mensch­ lichen Wohlergehen lancieren. Sobald ein sozialkritisches Unternehmen den Horizont der menschenwürdigen Gesellschaft übersteigt, wird es ein Leben­ sideal propagieren müssen, dessen Realisierung noch wünschenswerter wäre als das menschenwürdige.99 Damit liegt sogleich das Problem auf dem Tisch, ob die sozialphilosophische Frage nach einer nicht-pathologischen Gesell­ schaft überhaupt noch länger abzukoppeln ist von der spezifisch »ethischen« Frage nach dem individuell guten Leben.100 Dies soll uns zu zwei weiteren ethisch-moralischen Kritikansätzen führen, die an der Idee einer wohlgeord­ neten Gesellschaft ausdrücklich deshalb interessiert sind, weil es sich dabei um die »sozialen Bedingungen« individuellen Wohlergehens handelt. Dabei wird der erste dieser beiden Ansätze bestreiten, dass sich die Idee guten Lebens auf philosophischem Wege konkret füllen lässt, sodass er sich auf notwendige Voraussetzungen des Guten konzentrieren wird. Der zweite Ansatz hingegen

97 | Vgl. Margalit (1997), S. 310-325. 98 | Man nehme das Beispiel ungleicher Bildungschancen. 99 | Siehe die Beiträge in R. Bruce Douglass/Gerald M. Mara/Henry S. Richardson (Hg.) (1990): Liberalism and the Good, New York u. London: Routledge. 100 | Vgl. Martin Seel (1996a): »Wohlergehen. Über einen Grundbegriff der praktischen Philosophie«, in: ders (1996b): Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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verzichtet selbst noch auf diese ethisch-philosophische Bescheidenheit, indem er der Idee des guten Lebens auch einen substanziellen Gehalt gibt. Wenden wir uns zunächst jenen Kritikansätzen zu, die im Folgenden intersubjektivistisch genannt werden, weil es darin um die Benennung jener zentra­ len Interaktionsmodi geht, von denen es heißt, sie seien notwendige Vorausset­ zungen für eine gelingende »Ich-Identitätsentwicklung«. Überlegungen dieser Art sind in der jüngeren Vergangenheit vor allem im direkten Einzugsbereich der Kritischen Theorie vorgetragen worden. Es ist insbesondere Jürgen Haber­ mas und dessen Theorie des kommunikativen Handelns101 zu verdanken, dass die Sozialphilosophie zunehmend den Blick auf die Bedingungen gelingenden Le­ bens richtete. Nun mag es manchem seiner Leser auf den ersten Blick gewagt erscheinen, die Arbeiten von Habermas mit einer Konzeptionalisierung guten Lebens in Verbindung zu bringen, hat Habermas selbst sich doch häufig aus­ drücklich gegen die Möglichkeit einer philosophischen Explikation spezifisch ethisch-existenzieller Angelegenheiten ausgesprochen.102 Bei genauerem Hin­ sehen jedoch bezog sich diese Skepsis stets ausschließlich auf den Versuch, allgemeingültige Aussagen über den Inhalt guten Lebens treffen zu wollen. Die Möglichkeit aber, philosophische Überlegungen eher »formaler« Art über allgemeine Bedingungen menschlichen Wohlergehens zu formulieren, sollte damit nicht schon ausgeschlossen werden.103 Selbst noch am Horizont seiner überaus formal gehaltenen Arbeiten zur Diskursethik zeichnete sich das nor­ mative Fernziel ab, mit der »Schutzvorrichtung« der Moral die zentralen Vor­ aussetzungen individuell gelingenden Lebens ausfindig zu machen.104 Mit der bereits 1981 erschienenen Theorie des kommunikativen Handelns war hingegen primär das ernorm anspruchsvolle Unterfangen einer Reaktualisie­ rung der Kritischen Theorie verbunden. Der aufwendige Argumentationsgang des Werkes, mit dem eine Synthese aus mikrosoziologischer Handlungstheo­ rie, makrosoziologischer Entwicklungstheorie sowie zeitdiagnostischer Kritik angezielt war, kann hier selbstredend nur im Hinblick auf dessen sozialpatho­ gnostische Implikationen zur Darstellung kommen. Wenden wir uns daher 101 | Habermas (1981a). 102 | Siehe vor allem die Beiträge in: Habermas (1991), Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, bes. S. 184f. 103 | Nach einer inzwischen breit geführten Debatte um die Aktualität und Dringlichkeit ethisch-philosophischer Theoriebildung – siehe Arnd Pollmann (1999): »Gut in Form. Die neuere Debatte um eine Philosophie des »guten Lebens« im Überblick«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 4/1999 – hält inzwischen nicht einmal Habermas selbst mehr eine derartige Enthaltsamkeit für angebracht. Siehe ders. (2001): Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, bes. S. 17. 104 | Habermas (1991), besonders S. 15f.

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der zentralen Pathologiediagnose des Buches zu, die schon bald nach dessen Erscheinen größte Popularität erlangen sollte. Habermas stellt fest, dass die »Lebenswelt« – gemeint ist hier das Reservoir kulturell eingespielter Hinter­ grundgewissheiten, aus dem sich kommunikativ handelnde Menschen im Rahmen ihrer Alltagspraxis mit dem nötigen Wissen zur Bewältigung ihrer Probleme versorgen105 – in der Moderne einem Prozess der »Rationalisierung« unterworfen worden ist. Die Säkularisierung, d.h. das Verblassen religiös ge­ prägter Weltbilder, und auch die modernen Wissenschaften haben den Men­ schen gegenüber seinen bloß tradierten Gewissheiten misstrauisch werden lassen. War der kulturell verfügbare Wissensfundus lange Zeit durch die Au­ torität der staatlichen und kirchlichen Obrigkeiten sowie durch die Starrheit der traditionellen Gesellschaftsordnung garantiert, geriet er mit deren Macht­ verlust zunehmend zur Verhandlungssache. Die Bewohner der Lebens­welt, so Habermas, haben nunmehr selbst und gemeinsam über die Geltungsansprü­ che des kulturell verfügbaren Wissens zu debattieren. Die kritische Zeitdiagnose von Habermas knüpft unmittelbar an diese Re­ konstruktion einer Rationalisierung der Lebenswelt an. Es sei zu beobachten, so Habermas, dass die moderne Lebenswelt bloß »einseitig« rationalisiert wor­ den ist. Die wachsenden Zwänge der materiellen Reproduktion verursachen Problemlagen, die der Lebenswelt auf Dauer an die »Substanz« gehen. Die ge­ sellschaftlichen Systemimperative, vor allem in Ökonomie und Verwaltung, dringen selbst in solche Bereiche der Lebenswelt ein, die zuvor wesenhaft kommunikativ integriert waren, deren Reproduktion also maßgeblich auf Ver­ ständigung beruhte. Habermas ist der Ansicht, dass sich die Imperative der materiellen Reproduktion wie Parasiten in den »Poren« der kommunikativen Alltagspraxis einnisten, um die dort kommunikativ Handelnden einseitig auf den Gebrauch ihrer »instrumentellen Vernunft« einzuschwören. Dabei treten alternative Formen von Rationalität in den Hintergrund, die sich, wie etwa die »moralisch-praktische« oder auch die »ästhetische« Vernunft, dem rein objektivierenden Zugang zur Welt widersetzen. Die gesellschaftlichen Struk­ turzwänge reduzieren den Menschen auf einen bloß unvollständigen bzw. einseitigen Gebrauch seiner verfügbaren Rationalitätspotenziale und damit auf eine eingeengte »Verständigungsform«. Nach Maßgabe einer nahezu wild­ wüchsigen, rein instrumentellen Rationalität wird das kommunikative Leben der Gesellschaft zunehmend anonymen Systemanforderungen geopfert. Es ist diese Entwicklung, von der Habermas sagt, sie könne als eine systemisch be­ dingte »Kolonialisierung der Lebenswelt« beschrieben werden.106 Im objektivierenden Brennglas einer hegemonialen funktionalistischen Vernunft kann die gesamte Welt allein noch unter dem Gesichtspunkt der 105 | Habermas (1981a), Band 2, Kapitel VI. 106 | Habermas (1981a), Band 2, S. 293.

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instrumentellen Verfügbarkeit in den Blick geraten. In der Moderne ist da­ her ein »fragmentiertes Alltagsbewußtsein« zur Vorherrschaft gelangt, das im Rahmen alltäglicher Interaktionen wie ein Einfallstor wirkt, durch das die nunmehr naturwüchsig erscheinenden Systemimperative der materiellen Reproduktion einmarschieren können wie »Kolonialherren in eine Stammes­ gesellschaft«.107 Genau an dieser Stelle zeigt sich, dass Habermas auf einen formalen Begriff des Guten rekurrieren muss: Es sind nicht primär die Verzer­ rungen der Kommunikation zwischen den Bewohnern der Lebenswelt, die dem Diagnostiker ins Auge fallen, diese Verzerrungen werden erst dann als gravie­ rende Störungen verständlich und kritikwürdig, wenn man sie auf ihre patho­ logischen Auswirkungen auf das Innenleben der Individuen hin untersucht. Schon an früherer Stelle hatte Habermas zu zeigen versucht, und zwar in enger Zusammenarbeit mit dem Psychoanalytiker Alfred Lorenzer, dass psychische Persönlichkeitsstörungen maßgeblich als Verzerrungen individu­ eller Selbstverständigung zu deuten sind, die in den gestörten oder blockierten Kommunikationsverhältnissen der Umwelt ihre Wurzel haben.108 Wenn das ethisch-existenzielle Selbstverhältnis des Menschen als eine Art Selbstgespräch zu deuten ist, das wir im Umgang mit unseren ersten engen Bezugsperso­ nen erlernen, so Habermas im Anschluss an Sigmund Freud und George H. Mead, dann ist anzunehmen, dass sich Verzerrungen oder gar pathologische Störungen dieser frühen sozialen Kommunikationsverhältnisse im Innern des Individuums niederschlagen. Erst wenn man diese psychoanalytisch ge­ prägte Einsicht auf den Zusammenhang der späteren Kolonialisierungsthese überträgt, vermag die kritische Stoßrichtung der Theorie des kommunikativen Handelns deutlich zu werden. Indem der Umgang der modernen Menschen untereinander aufgrund systemischer Strukturzwänge zunehmend der »Ver­ dinglichung« anheim fällt, kann der in diesen Verhältnissen vergesellschaf­ tete Einzelne dauerhaft kaum der Gefahr entrinnen, am Ende auch sich selbst instrumentell misszuverstehen. Trotz des hohen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsniveaus findet sich das Individuum in ein ihm kulturell ange­ sonnenes Zwangskorsett unvollständig ausgeprägter Rationalitätsstrukturen eingepfercht, das so eng geschnürt ist, dass es pathologische Verformungen der Person und ihres Weltverhältnisses mit sich bringen muss. In methodolo­ gischer Hinsicht wird die Sozialpathognostik demnach durch das Feld sozialer Interaktionen hindurchgreifen und sich Phänomenen individueller Patholo­

107 | Ebd., S. 522. 108 | Habermas (1973); ders. (1984a): »Überlegungen zur Kommunikationspathologie«, in: ders. (1984b), Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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gien zuwenden müssen.109 Was auf dem Spiel steht, das ist das in möglichst unverzerrten Kommunikationsverhältnissen zu erwerbende Vermögen gelin­ gender ethisch-existenzieller Selbstverständigung. In dieser Diagnose klingt bereits die Überzeugung an, dass es die idea­ lisierenden Voraussetzungen der intersubjektiven Alltagspraxis sind, d.h. die in dieser zum Ausdruck kommenden ethisch-moralischen Ansprüche, denen sich die Sozialphilosophie zuzuwenden hätte, weil allein hier emanzipatori­ sche Potenziale zu vermuten wären. Diese Ansicht teilt Habermas mit dem ebenfalls in der Tradition Kritischer Theorie stehenden Sozialphilosophen Axel Honneth.110 Dessen eigene methodische Ausgangsüberlegung steht in direkter Erbfolge des Linkshegelianismus: Die sozialphilosophische Theorie muss genauer über die »vorwissenschaftliche« Instanz Auskunft geben kön­ nen, in der ihre kritischen Bewertungsmaßstäbe als tiefgreifende ethisch-mo­ ralische Erfahrungen außertheoretisch verankert sind. Zum Schlüsselproblem der Sozialpathognostik gerät daher der Aufweis einer, so Honneth, »inner­ weltlichen Transzendenz« von alltäglichen ethisch-moralischen Bedürfnissen, die kritisch über die bestehenden Verhältnisse hinaus auf deren Veränderung zielen.111 Nun hat aber die Art und Weise, in der Habermas den Ansatz seiner Theorie des kommunikativen Handelns in Richtung der Diskursethik ausbaute, Hon­ neth nie wirklich überzeugen können. Das kommunikationstheoretische Mo­ ralkonzept von Habermas setze auf einer derart hohen Abstraktionsebene an, dass diese allenfalls noch von gebildeten Trägerschichten erklommen werden könne. Dagegen, so Honneth, sind in die gesellschaftliche Realität der aller­ meisten Menschen weitgehend intuitive und sich zumeist spontan äußernde Moralempfindungen und Unrechtsvorstellungen eingelassen, die oftmals gar nicht erst zur Sprache kommen, weil sie durch die spätkapitalistischen Herr­ schaftsverhältnisse blockiert, verschüttet oder gar integriert sind. Einem kom­ munikationstheoretischen Ansatz müssen sie daher aus dem Blick geraten. Es sind vielmehr leidvolle Erfahrungen einer oftmals sprachlos bleibenden Verlet­ zung von »Anerkennungsbedürfnissen«, die sich aus den sozialen Konflikten unserer Zeit herauslesen lassen sollen. Damit wandelt sich der zeitdiagnosti­ sche Charakter linkshegelianischer Sozialkritik: In deren Mittelpunkt kann nun nicht mehr der scheinbar anonym verlaufende Prozess einer »Koloniali­ sierung der Lebenswelt« stehen, der ein »fragmentiertes Alltagsbewußtsein« 109 | Vgl. Habermas (1981a), Band 2, S. 520ff. 110 | Siehe vor allem Axel Honneth (1992): Kampf um Anerkennung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 111 | Axel Honneth (1990a): »Moralbewußtsein und soziale Klassenherrschaft«, in: ders. (1990b): Die zerrissene Welt des Sozialen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp; ders. (1994c), »Die soziale Dynamik von Mißachtung«, in: Leviathan, 1/1994.

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bewirkt. Nun muss es vor allem um eine Diagnose derjenigen gesellschaftli­ chen Ursachen gehen, die für systematische Verzerrungen sozialer Anerken­ nungsbeziehungen verantwortlich sind und die dadurch einer gelingenden Persönlichkeitsentwicklung der jeweils betroffenen Individuen im Wege ste­ hen. Beim jungen Hegel entleiht Honneth die für ihn zentrale Vorstellung, dass der Verlauf einer jeden Persönlichkeitsentwicklung als ein individueller Reifungsprozeß zu verstehen ist, der zugleich das Potenzial sozialer Evoluti­ on und Emanzipation in sich birgt.112 Das Bedürfnis nach Anerkennung in­ dividueller Identitätsansprüche und dessen wiederholte Frustration führt zu sozialen Konflikten, die langfristig auf immer anspruchsvollere Formen des gemeinschaftlichen Lebens drängen, in denen die wichtigsten Anerkennungs­ bedürfnisse der Menschen gestillt wären. Am normativen Horizont der sozia­ len Kampfarena zeichnet sich somit eine Vision »posttraditionaler Sittlichkeit« ab, die nichts anderes bedeuten würde als ein weitverzweigtes Netz unverzerr­ ter Anerkennungsverhältnisse, in dessen Maschen der Vollzug eines wahrhaft gelingenden und erfüllten Lebens möglich wäre. Fragt man bei Honneth nach eben jenen Formen von Anerkennung, die Menschen sich wechselseitig zu­ kommen lassen müssen, um gesunde Ich-Identitäten ausbilden zu können, so sind die folgenden drei zu nennen: zum einen Liebe seitens unserer primären Bezugspersonen, zum zweiten die im modernen Recht zum Ausdruck kom­ mende Moral gleicher Achtung und zum dritten die Solidarität derjenigen, die sich in ein gemeinsames gesellschaftliches Unternehmen eingebunden wissen. Diese drei elementaren Anerkennungsformen haben nach Honneth als Voraussetzungen für ein gelingendes Leben zu gelten, weil ein Mensch erst durch sie – in dieser Reihenfolge – zu »Selbstvertrauen«, »Selbstachtung« und »Selbstwertgefühl« kommen kann. Entsprechend wird die Sozialphiloso­ phie von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen oder Pathologien genau dann sprechen können, wenn die vorhandenen gesellschaftlichen Interaktionsver­ hältnisse nicht das Maß an Anerkennung bereitstellen, auf das Individuen im Rahmen ihrer Persönlichkeitsentwicklung notwendig angewiesen sind.113 Wie schon bei Habermas sind diese normativen Überlegungen insofern formal gehalten, als es bei Liebe, Recht und Solidarität um allgemeine Bedingungen eines jeden gelingenden Lebens geht, ohne dass damit bereits Genau­ eres über dessen konkreten Inhalt ausgesagt wäre.114 Auch wenn sich der in­ tersubjektivistische Ansatz in dieser Hinsicht ethisch recht enthaltsam zeigt, 112 | Dazu und für das Folgende siehe Honneth (1992). 113 | Honneth (1994b). 114 | Zur Unterscheidung allgemeiner »Bedingungen« und »Inhalte« guten Lebens siehe Martin Seel (1995): Versuch über die Form des Glücks, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, bes. Kapitel 2.2.

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so rückt dennoch mit den normativen Leitideen unverzerrter Kommunikationsverhältnisse (Habermas) sowie unverzerrter Anerkennungsverhältnisse (Honneth) die Idee des guten Lebens in den Mittelpunkt der Sozialpathognostik. Hier werden notwendige gesellschaftliche Voraussetzungen des menschlichen Wohlergehens benannt, deren Fehlen von der Sozialkritik als sozialpatholo­ gisch zu diagnostizieren wäre. Gleichwohl mag man sich fragen, warum man es bei der Klärung formaler Bedingungen des Wohlergehens belassen muss. Lassen sich vielleicht nicht doch, trotz aller gebotenen anti-paternalistischen Vorsicht, auch einige universelle Inhalte gelingenden Lebens auszeichnen? In diese ethisch offensive Richtung weisen heute vor allem jene sozialphilo­ sophisch motivierten Überlegungen, die in enger Zusammenarbeit von Amar­ tya Sen und Martha C. Nussbaum unter dem Stichwort »capabilities approach« erarbeitet worden sind.115 Der von Sen und Nussbaum entwickelte Ansatz wird an dieser Stelle neoeudaimonistisch genannt, weil er sich ausdrücklich an einer Wiederbelebung der aristotelischen Glücksethik interessiert zeigt. Das Gerüst dieses Theorieansatzes hat der Ökonom und Philosoph Sen im Zuge einer langjährigen Auseinandersetzung mit Rawls einerseits, mit dem zeitgenös­ sischen Utilitarismus anderseits errichtet. Dabei ist er zu der Überzeugung gelangt, dass jede Kritik gesellschaftlicher Missstände auf einer annähernden Vorstellung vom menschlichen Wohlergehen oder genauer: von spezifisch menschlichen »Fähigkeiten« zu fußen habe. Wenn sich die Kritik allein an der Idee einer gerechten Verteilung von Grundgütern orientieren würde, so wie Rawls, dann müsse sie die Tatsache übersehen, dass unter Menschen massive Unterschiede im Hinblick auf deren Fähigkeiten existieren, aus den vorhan­ denen Grundgütern auch tatsächlich einen Nutzen zu ziehen. Wenn sich die Kritik hingegen allein auf die Frage des outcome, d.h. der faktischen Nutzen­ realisierung kapriziert, so wie der Utilitarismus das vorschlägt, so macht sie den Betroffenen bereits auf kategorialer Ebene den »intrinsischen Wert« jener Freiheit streitig, die darin besteht, selbst darüber zu entscheiden, welche der vielgestaltigen Möglichkeiten des Lebens sie ergreifen wollen.116 Demnach geht es dem Kritikansatz Sens weniger um die konkreten Mittel, über die eine Person verfügen muss, damit sie ein gutes Leben zu führen ver­ mag, noch um den speziellen Nutzen, den sie jeweils aus der Verwendung die­ ser Mittel zieht, sondern um die Gewinnung eines Spielraums von »Möglich­ keiten und Fähigkeiten«, in denen sich individuelle Handlungsvollzüge und 115 | Amartya Sen (1987): The Standard of Living, Cambridge: Cambridge UP; ders. (1993a); Martha C. Nussbaum (1986): The Fragility of Goodness, Cambridge: Cambridge UP; dies. (1999a): Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Siehe aber auch Martha C. Nussbaum/Amartya Sen (Hg.) (1993): The Quality of Life, Oxford: Clarendon. 116 | Vgl. ders. (1993b): »Capabilities and Well-Being«, in: Nussbaum/Sen (1993).

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Funktionsweisen erst noch entwickeln müssen, damit die betreffende Person zu einer selbstbestimmten Realisierung eigener Lebenspläne fähig wird. Mit der damit angezeigten grundbegrifflichen Konzentration auf menschliche Fä­ higkeiten lenkt Sen den Blick der Sozialphilosophie in Richtung einer positiver Auszeichnung von solchen konkreten menschlichen Bedürfnissen, mit denen nicht allein notwendige Bedingungen, sondern auch erste Inhalte des mensch­ lichen Wohlergehens oder, wie Sen selbst es ausdrückt, eines hinreichenden »Lebensstandards« markiert wären.117 Leider wird man aber im Anschluss an die Lektüre Sens ein wenig ernüchtert feststellen müssen, dass die von Sen gelieferte Liste von konkreten Fähigkeiten, die für ein gutes Leben typisch sein sollen, große Lücken aufweist. Zwar finden darauf bereits einige zentrale Aspekte des gelingenden Lebens Erwähnung, z.B. ein adäquater Ernährungsund Gesundheitszustand oder auch die gleichberechtigte Teilnahme am ge­ sellschaftlichen Leben, doch fehlt bei Sen ein systematisches Kriterium, mit dessen Hilfe sich eine detailliertere Auffassung vom menschlichen Wohlerge­ hen erarbeiten ließe. Genau an diesem Punkt kommt ihm Martha Nussbaum zu Hilfe, die Sens Fähigkeiten-Ansatz in Richtung einer sozialphilosophisch motivierten Auffas­ sung von der menschlichen »Natur« ausbauen will.118 Dabei hat Nussbaum, wie im Übrigen auch Sen, stets die aristotelische Überzeugung vor Augen, dass ein politisches Gemeinwesen primär den Lebensmöglichkeiten seiner Mitglieder gegenüber in der Verantwortung steht. Um genau diesen Verant­ wortungsbereich abzustecken, zielt Nussbaum auf eine »dicke vage Konzep­ tion des Guten«.119 Dick soll die Theorie insofern sein, als die darin gelisteten Bestimmungen weder auf einzelne Aspekte noch auf einen bestimmten Be­ reich des menschlich Guten eingeschränkt sind. Sie sollen vielmehr die Ge­ samtgestalt der menschlichen Existenz mit deren wesentlichsten Zwecken und Inhalten erfassen. Gleichwohl, so Nussbaum, muss die Theorie hinreichend vage bleiben, um letztlich doch dem Faktum des Pluralismus gerecht werden zu können. Nussbaum führt ihre Liste des Guten in einer Kombination aus anthropo­ logischer und ethischer Argumentation ein. Zunächst erfährt man, was das 117 | Sen (1987). 118 | Martha C. Nussbaum (1999b): »Die Natur des Menschen, seine Fähigkeiten und Tätigkeiten: Aristoteles über die distributive Aufgabe des Staates«, in: dies. (1999a). Sen selbst ist angesichts der weltweiten Pluralität des Guten in anthropologischer Hinsicht skeptischer als Nussbaum. Daher spricht er vorzugsweise von letztlich kulturabhängigen Lebensstandards. 119 | Dazu und für das Folgende Martha C. Nussbaum (1993): »Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit«, in: Micha Brumlik/Hauke Brunkhorst (Hg.) (1993): Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt a.M.: Fischer.

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Leben zu einem menschlichen Leben macht, danach soll geklärt werden, was das menschliche Leben darüber hinaus zu einem guten menschlichen Leben macht. Folgende menschliche »Fähigkeiten« sollen es dem Menschen mög­ lich machen, mit den existenziellen Grunderfahrungen des Lebens auf eine insgesamt gelungene Weise umzugehen: das Vermögen, die eigene Existenz langfristig als lebenswert auszukosten; körperliche Gesundheit; die Abwe­ senheit von unnötigem Schmerz sowie die Offenheit gegenüber lustvollen Erfahrungen; die Fähigkeit, Verstand und Sinne zu gebrauchen; ein vertrau­ ensvolles Selbst- und Weltverhältnis; das Vermögen, rationale Lebenspläne zu schmieden und auch zu verfolgen; die Fähigkeit zu tiefen sozialen Bindun­ gen; die Fähigkeit zur Anteilnahme auch an der nicht-menschlichen Umwelt; Freiräume, um lachen, spielen und sich erholen zu können; die Fähigkeit, ein nicht-entfremdetes Leben zu führen, sowie nicht zuletzt die Chance, dies alles in selbstgewählten sozialen Kontexten zu tun.120 Lässt man einmal die nahe liegende Frage beiseite, ob Nussbaums Katalog des guten Lebens nicht doch einige wichtige Punkte vermissen lässt  – man denke hier nur an den Aspekt einer als sinnvoll erfahrenen Arbeit –, so besteht die bestechende Leistung von Nussbaum wohl auch weniger in der noch immer etwas unsystematisch wirkenden Auflistung menschlicher Grundfertigkeiten als vielmehr in der Unermüdlichkeit, mit der sie relativistische Tendenzen innerhalb des philosophischen Mainstreams attackiert. Auch wenn sie ihren universalistischen Ansatz ausdrücklich gegenüber individuellen, kulturellen und auch historischen Differenzen offen halten möchte und der konkrete Ein­ zelnachweis, dass es sich bei den von ihr genannten Aspekten tatsächlich um allgemeine Charakteristika guten menschlichen Lebens handelt, einen enor­ men empirischen Überprüfungsaufwand erforderte, so macht Nussbaum sich dennoch zur radikalen Fürsprecherin einer sozialphilosophisch inspirierten Konzeption des Guten, die von der Überlegung geleitet ist, dass ein univer­ seller Inhalt dieses Guten auszumachen ist, aus dem sich dann auch ein spe­ zifischer Verantwortungsbereich der Politik ergibt. Der Staat, so Nussbaum, hat seinen Mitgliedern nicht nur ein menschliches oder menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, sondern ein gutes menschliches Leben.121 Aber so ehrenwert die politischen Intentionen von Nussbaum auch sein mögen, am Ende schießt ihre Liste doch ein wenig über das Ziel hinaus. Nicht zuletzt bleibt fraglich, wie weitreichend die öffentliche Hand zum Eingriff in das Leben der Menschen ermächtigt werden soll. Die Arbeiten Nussbaums hinterlassen verschiedentlich den Eindruck, als habe der – im aristotelischen 120 | Nussbaum (1993), S. 339f. 121 | Allerdings verbleibt ein Rest an anti-paternalistischer Vorsicht: Ob und inwieweit der Mensch die sich ihm bietenden Möglichkeiten tatsächlich ausschöpft, muss ihm selbst überlassen bleiben. Dazu Nussbaum (1993).

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Sinn – gute Staat tatsächlich für sämtliche auf ihrer Liste befindlichen Güter, d.h. umfassend für das gute Leben zu sorgen. Nun haben wir es im Alltag auf­ fallend häufig auch mit solchen Aspekten des menschlichen Wohlergehens zu tun, die überhaupt gar nicht in den Verantwortungsbereich politischer Pla­ nung und Verteilung fallen können oder auch nur sollen. Nehmen wir das Beispiel tiefer sozialen Beziehungen, etwa Freundschaft oder Liebe, oder auch das Leben in Lust und Humor: Dies sind Bestandteile des menschlichen Wohl­ ergehens, deren Realität der Staat schlichtweg nicht sichern kann oder von denen er gar die Finger lassen sollte, da sie in den Bereich der Privatsphäre gehören.122 Ein Staat, der auch solche Aspekte des Guten zu verteilen hätte, käme einer furchteinflößenden Utopie gleich, so sehr er sich dabei auch um das Wohlergehen seiner Bürgerinnen und Bürger bemühte.123 Diese Einsicht hat metakritische Konsequenzen für eine ethisch-moralisch ausgerichtete Sozialphilosophie, die an einer Diagnose gesellschaftlicher Be­ einträchtigungen des menschlichen Wohlergehens interessiert ist. Zwar sollte sich die Sozialpathognostik ein genaueres Bild von den allgemeinen Bedin­ gungen und Inhalten des menschlichen Wohlergehens machen, da ihr ohne ein solches Bild der positive Bezugspunkt der Kritik fehlen muss. Sie sollte sich jedoch zugleich davor hüten, ein überhöhtes Anspruchsdenken im Hin­ blick auch auf solche Aspekte des Guten auszubilden, deren Verteilung gar nicht Aufgabe der Gesellschaft und damit auch nicht Gegenstand der Sozial­ kritik sein kann. Genau dies ist dann auch das wichtigste Ergebnis, zu dem der Durchgang durch die ethisch-moralischen Ansätze zeitgenössischer So­ zialpathognostik führen sollte: War der gerechtigkeitsorientierte Ansatz der anti-paternalistischen Skepsis jener zuvor diskutierten vier kulturalistischen Ansätze mit dem Anspruch entgegengetreten, die Strukturen fairer sozialer Kooperation auszuzeichnen, so erwies er sich doch am Ende in seiner Idea­ lität als sozialpathognostisch kaum noch operationalisierbar. Stellte sich im Gegensatz dazu der in normativer Hinsicht bescheidenere minimalistische An­ satz als anwendungsfreundlicher und zudem politisch vordringlicher heraus, so musste dieser doch aufgrund seiner kategorialen Beschränkung auf die Idee der Menschenwürde sozialphilosophisches Potenzial zur Kritik auch solcher 122 | Vgl. Paul Seabright (1993): »Pluralism and the Standard of Living«, in: Nussbaum/Sen (1993). 123 | Im Hinblick auf den Verantwortungsbereich der Gesellschaft muss zwischen »Grundgütern« und »Hinsichten« staatlicher Verteilungspolitik unterschieden werden. Grundgüter sind jene, die der Staat tatsächlich bereitzustellen hätte. Hinsichten benennen jene Aspekte des Guten, die zwar nicht schon verteilbar sind (z.B. soziale Beziehungen, Humor etc.), deren Wichtigkeit bei der Distribution von Gütern aber dennoch zu berücksichtigen wäre (z.B. durch die Verteilung von ausreichend Freizeit). Dazu Pollmann (1999); Seabright (1993).

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Missstände verschenken, die zwar dem Wohlergehen Einzelner abträglich sind, ohne damit aber bereits als elementare Verletzungen der Menschenwür­ de gelten zu müssen. War damit ausdrücklich die Idee menschlichen Wohlergehens in den Blick­ punkt der Sozialphilosophie gerückt, wollte sich der intersubjektivistische An­ satz mit einer Kritik allgemeiner Bedingungen des Wohlergehens bescheiden, d.h. auf eine inhaltliche Ausbuchstabierung des Guten verzichten. Kündigte der neoeudaimoistische Ansatz auch noch diese Bescheidenheit auf, indem er ausdrücklich auf substanzielle Angaben über das menschliche Wohlergehen zielte, überfrachtete er das normative Fundament der Sozialkritik doch derart, dass er auf nicht mehr zu rechtfertigende Weise das gute Leben insgesamt in den Verantwortungsbereich der Gesellschaft rückte. Damit sind wir am Ende dieses Kapitels mit der Frage konfrontiert, wie ein geeigneter sozialpathognos­ tischer Maßstab auszusehen hätte, der in ethisch-moralischer Hinsicht aus­ reichend substanziell gefasst ist, um nicht, wie die kulturalistischen Ansätze, in normative Beliebigkeit abzudriften, der sich aber dennoch einen Rest an­ ti-paternalistische Skepsis bewahrt, der zufolge eine Gesellschaft nicht schon insgesamt für das Wohlergehen ihrer Mitglieder verantwortlich sein kann.

1.5 S ozialpathognostik : E ine F r age der I ntegrität Die programmatischen Erwägungen zu Beginn dieses Kapitels hatten die An­ nahme gefestigt, dass die Sozialphilosophie dann gerechtfertigt auf einen Maß­ stab gesellschaftlicher Krankheit und Gesundheit rekurrieren kann, wenn es ihr dabei um eine Diagnose von Missständen und Fehlentwicklungen geht, die einen schädlichen oder gar krankheitserregenden Einfluss auf das Wohlerge­ hen der Individuen haben. Doch steht ein solcher verbindlicher Kritikmaßstab nicht fraglos zur Verfügung. Er wäre erst noch näher zu bestimmen. Wie, so lautet am Ende dieses Kapitels die sozialpathognostische Begründungsfrage, lässt sich der Begriff individuellen Wohlergehens substanziell so fassen – in diesem Fall: verallgemeinerbar und doch nicht paternalistisch –, dass die Me­ tapher gesellschaftlicher Gesundheit und Krankheit sinnvoll darauf bezogen werden kann? Die eben geleistete Bestandsaufnahme der gegenwärtig in der Sozialphi­ losophie konkurrierenden Begründungsansätze mag den Eindruck erweckt haben, als seien allein die beiden letzten der insgesamt acht Ansätze aus­ drücklich auf einen verallgemeinerbaren Begriff guten Lebens bezogen, hatten alle anderen Ansätze doch ernsthafte Bedenken gegen ein Begründungspro­ gramm mit einer philosophischen Konzeption des Wohlergehens erhoben. Insofern mag diese Bestandsaufnahme im Hinblick auf die sozialphiloso­ phische Begründungsfrage zunächst ernüchternd wirken. Doch ändert sich

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diese Einschätzung rasch, wenn wir von der Ebene selbstkritischer normativer Absichtserklärungen auf die Ebene der von den hier präsentierten Theorie­ ansätzen stillschweigend vorausgesetzten Prämissen hinüberwechseln. Dann nämlich wird deutlich, dass tatsächlich alle der eben diskutierten Formen von Sozialphilosophie von wie auch immer »dünnen« Annahmen substanzieller Art über ethisch-existenzielle Grundbedürfnisse des Menschen zehren. Von diesen Grundbedürfnissen müssen selbst die in normativer Hinsicht skep­ tischen kulturalistischen Theorieansätze annehmen, dass sie nicht auf be­ stimmte Kulturkreise beschränkt sein können, da ihre Kritik am Ende sonst nicht einmal mehr in ihrer eigenen pluralistischen Gesellschaft zu rechtferti­ gen wäre.124 Wenn etwa die Vertreter der immanenten Kritik, Walzer und MacIntyre, ihren kritischen Blick über den verschütteten Horizont kulturell verfügbarer Werte schweifen lassen, so hoffen sie dabei doch auf eine Gesellschaft, die in­ sofern als nicht-pathologisch einzustufen wäre, als es darin zu einer unverstell­ ten Aufdeckung und Wiederaneignung gemeinschaftlicher und Orientierung stiftender Werte käme. Für das individuelle Wohlergehen hätte dies zweifellos nichts anderes zu bedeuten, als dass die Betroffenen selbst in die Lage versetzt werden müssten, ihr Leben in Orientierung an diesen gemeinsam interpretier­ ten Werten als gleichwohl autonome ethisch-existenzielle Einheiten zu gestal­ ten. Die Vertreter der neueren Ideologiekritik setzen ganz ähnliche normative Erwägungen voraus. Trotz ihrer Bedenken gegen eine Theorie »wahrer« Be­ dürfnisse haben Geuss und Castoriadis das Ideal eines von dogmatischen Ver­ blendungen befreiten, d.h. selbstbestimmten Lebensvollzugs vor Augen. Folg­ lich hätte eine Gesellschaft genau dann als gesund zu gelten, wenn in ihr die Ausbildung solcher autonomer, nicht-entfremdeter Selbstverhältnisse möglich oder gar selbstverständlich wäre. Auch ein genauerer Blick auf die kulturhermeneutische Variante von Sozi­ alpathognostik lässt deutlich werden, dass die gesellschaftlichen Missstände, die auf historisierendem Wege diagnostiziert werden, letztlich als Beeinträch­ tigungen ethisch-existenzieller Lebenszusammenhänge entlarvt werden sol­ len. Foucault hat »freiere« Formen von Subjektivität vor Augen, die sich gegen­ über den herrschenden Disziplinierungen und Deformationen widerständig zeigten. Taylor hingegen unterstellt ein allgemeines Interesse an einer von in­ neren und äußeren Zwängen befreiten, »authentischen« Identität. Die hyper­ bolischen Sozialpathognostiker lassen zwar ihre normative Überzeugungen

124 | Man bedenke, dass es heute keine größere Gesellschaft mehr gibt, in denen nicht unterschiedliche Kulturen aufeinanderprallen. Die Sozialkritik wird daher stets einen kulturübergreifenden Maßstab anlegen müssen, solange sie kein Plädoyer für eine bestimmte »Leitkultur« abgeben möchte.

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zugunsten des rhetorischen Effekts weitgehend im Dunkeln, mit etwas Mühe jedoch können auch aus ihren Arbeiten normative Leitideen individueller und kollektiver Gesundheit herausgelesen werden: Bei Baudrillard ist es die Hoff­ nung auf eine Gesellschaft, deren Mitglieder die allgegenwärtige »Simulation« zu durchbrechen vermochten, bei Agamben das Bild eines dem »Lager« ent­ flohenen, mehr als bloß »nackten« Menschseins, bei Kamper die Aussicht auf eine Form von Subjektivität, die mit ihrer unhintergehbaren »Zerstückelung« souverän umzugehen vermochte, bei Sloterdijk schließlich die Idee eines in solidarischen Nahbeziehungen aufgehobenen, »stressresistenten« Selbstsein­ könnens. Bei den ethisch-moralischen Kritikansätzen wird die Anknüpfung an ethisch-existenzielle Bedürfnislagen dann weitaus greif barer. Legt die gerech­ tigkeitsorientierte Sozialphilosophie ihr Hauptaugenmerk auf die Strukturen fairer Chancengleichheit, so dient ihr dabei entweder, wie bei Rawls, die Idee einer selbstbestimmten Verwirklichung »rationaler Lebenspläne« oder aber, wie bei Dworkin, die Aussicht auf eine »erfolgreiche Meisterung« der Heraus­ forderungen des Lebens als normative Grundlage. Demgegenüber ist die mini­ malistische Sozialkritik von Rorty und Margalit in ihren normativen Ansprü­ chen zwar bescheidener, doch will auch sie an einer Tiefenschicht des guten Lebens, und zwar an der »Menschenwürde«, festhalten. Demnach hätte eine Gesellschaft allein dann als gesund oder »anständig« zu gelten, wenn sie ein Leben ohne institutionelle Demütigungen und Grausamkeiten zu garantieren vermochte. Die intersubjektivistische Sozialpathognostik von Habermas und Honneth zielt in einem weit umfassenderen Sinn auf die sozialen Voraussetzungen menschlichen Wohlergehens. In einer Gesellschaft, die ihre Pathologien aus­ zukurieren begänne, käme es zu einer Entstörung verzerrter »Kommunika­ tions-« bzw. »Anerkennungsverhältnisse«. Dann erst würden sich die Umrisse einer posttraditionellen Sittlichkeit abzuzeichnen beginnen, im Rahmen de­ rer die Herausbildung nicht-pathologischer, d.h. ungezwungener Selbst- und Weltverhältnisse möglich wäre. Der neoeudaimonistische Ansatz von Sen und Nussbaum schließlich geht über diese zunächst formalen Bestimmungen des Guten noch einen Schritt hinaus, indem er die Idee menschlichen Wohlerge­ hens mit substanziellem Gehalt zu füllen beginnt. In Konzentration auf eine Liste spezifisch menschlicher »Fähigkeiten«, die es dem einzelnen Individu­ um ermöglichen sollen, aus den gesellschaftlich verfügbaren Ressourcen auch tatsächlich einen befriedigenden Nutzen zu ziehen, gewinnt das Ideal einer an Lebensmöglichkeiten reichen Existenz Konturen, deren Realisierung dem Verantwortungsbereich staatlicher Verteilungspolitik zugeschlagen wird. Die Ergebnisse dieses Berichts zur gegenwärtigen Lage der Sozialphilo­ sophie lassen zweierlei besonders deutlich werden: Erstens sind sich nahe­ zu alle der hier diskutierten Sozialpathognostiker jener anfangs skizzierten

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Begründungsproblematik bewusst, der zufolge die Sozialphilosophie auf po­ sitive Kritikmaßstäbe rekurrieren können muss. Zweitens verweist am Ende, und zwar mancherorts dem eigenen exoterischen Anspruch zum Trotz, jeder dieser zunächst sehr heterogenen Fundierungsversuche auf einen zwar klei­ nen, aber dennoch gemeinsamen normativen Nenner: Ganz gleich welchem der insgesamt acht Ansätze man sich zuwendet, stets greift die sozialphiloso­ phische Kritik durch die Diagnose der kranken Gesellschaft hindurch und auf einen wie immer dünnen oder gar trivialen Begriff vom individuellen Wohl­ ergehen zurück, der einerseits für hinreichend verallgemeinerbar gehalten wird, um breite Geltung beanspruchen zu dürfen, der aber andererseits ge­ nügend vage gehalten ist, um für kulturelle und historische Differenzen offen zu sein.125 Demnach kann das, worum es in all diesen Theorieansätzen geht, als eine Sozialphilosophie ad hominem bezeichnet werden: Erst aus Sicht der potenziell Betroffenen, so die gemeinsame Annahme, wird tatsächlich geklärt werden können, was in gesellschaftlichen Störfällen auf dem Spiel steht. So wie die medizinische Einzelfalldiagnostik von einem Begriff der Gesundheit abhän­ gig ist, muss sich die Sozialpathognostik auf einen wie immer bescheidenen Begriff vom menschlichen Wohlergehen stützen können. Folglich kreisen alle acht der hier diskutierten Kritikansätze um eine mal mehr, mal weniger dif­ fuse Vorstellung von den versehrbaren Strukturen der menschlichen Existenz, an der sich jede Kritik sozialer Pathologien letztlich wird messen lassen müs­ sen. Für die Sozialphilosophie insgesamt lässt sich daher behaupten: »Positiv gewertet wird nämlich das, was für eine zu erreichende Einheit oder Ganzheit des individuellen Lebens förderlich ist, als negativ wird das verstanden, was dem abträglich ist oder es verhindert.«126

Will man den hier benannten Maßstab der »Ganzheit« individuellen Lebens inhaltlich noch etwas genauer fassen, so lässt sich die normative Schnittmen­ ge der hier skizzierten Ansätze durchaus noch etwas erweitern. Gemein ist den hier skizzierten Kritikansätzen der Bezug auf eine ethisch-existenzielle Grundbefindlichkeit des Menschen, die man als den Wunsch nach Ganzheit im Sinne eines intakten und unversehrten Selbst- und Weltverhältnisses zu be­ schreiben hätte. In dieser Hinsicht ist häufig auch von einer »unverzerrten Form der Selbstverwirklichung« oder einem »ungestörten Selbstsein« die Re­ de.127 Wollte man diesbezüglich einen ersten metakritischen Verdacht äußern, so würde dieser lauten: In jedem dieser Fälle handelt es sich um die Idee einer 125 | Seel (1996a). Vgl. Honneth (1994b); m.E. Lohmann (1993). 126 | Lohmann (1993), S. 283. 127 | Zum Beispiel bei Honneth (1994b), S. 51; Habermas (2001), S. 16f.

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von inneren und äußeren Zwängen möglichst unbeeinträchtigten Selbst- und Weltbeziehung, mit der die Vorstellung von einem ethisch-existenziellen Le­ benszusammenhang einhergeht, der allein dann als »intakt« zu bezeichnen wäre, wenn die betreffende Person in Einklang mit einer ihr möglichst trans­ parenten Bedürfnisstruktur ein überwiegend selbstbestimmtes Leben zu füh­ ren vermochte und dabei von den schädlichen Einflüssen gesellschaftlicher Pathologien weitgehend unbehelligt bliebe. Dieser zunächst »dünne« Begriff des menschlichen Wohlergehens begreift das nicht-pathologische gesellschaft­ liche Leben »als poröse Schutzhülle gegen Kontingenzen […], denen der versehrbare Leib und die darin verkörperte Person ausgesetzt sind. Moralische Ordnungen sind zerbrechliche Konstruktionen, die beides in einem schützen, die Physis gegen körperliche und die Person gegen innere oder symbolische Verletzungen. […] Die Abhängigkeit vom Anderen erklärt die Verletzbarkeit des Einen durch den Anderen. Die Person ist Verwundungen in den Beziehungen am schutzlosesten ausgesetzt, auf die sie zur Entfaltung ihrer Identität und zur Wahrung ihrer Integrität am meisten angewiesen ist.«128

Damit ist dann auch jener Begriff gefallen, um den es im Rest dieses Buches gehen wird. Nicht selten ist es nämlich, so wie hier, ein recht schillernder Begriff der Integrität, der in der Sozialphilosophie eine Art Stellvertreterrol­ le übernimmt. Auf seine Verwendung trifft man zumeist dort, wo auf die Schwierigkeiten vergesellschafteter Individuen hingewiesen werden soll, das eigene ethisch-existenzielle Selbst- und Weltverhältnis gegenüber Angriffen von außen zu schützen.129 Demnach wird dem Integritätsbegriff in sozialpa­ thognostischer Hinsicht eine eher defensive Funktion zugewiesen. Sein Ge­ brauch rekurriert auf den zweifellos verallgemeinerbaren Umstand, dass »die Integrität der Einzelnen in besonderer Weise von dem schonenden Charakter ihres Umgangs miteinander«130 abhängt, so dass vergesellschaftete Individu­ en ihre jeweiligen Lebensvollzüge nur zu oft gegen die Übermacht oder gar Gewalt gesellschaftlicher Missstände werden verteidigen müssen. Mit dem Be­ griff der Integrität wird demnach auf eben jenen Wunsch nach einem »intak­ ten« oder »einheitlichen« Lebenszusammenhang Bezug genommen, der auf die eine oder andere Weise allen der hier präsentierten Ansätze als normativer Maßstab zugrunde liegt; auch wenn der Integritätsbegriff selbst dabei nicht immer explizit Erwähnung findet. Doch so vielversprechend die Wahl des Integritätsbegriffs in diesen Zu­ sammenhängen auch sein mag, sein derzeit überwiegend unspezifischer 128 | Habermas (2001), S. 63. Dort geht es allerdings primär um »Moral«. 129 | Etwa bei den Autoren Habermas, Honneth, Rorty und Margalit. 130 | Habermas (2001), S. 96.

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Gebrauch erweckt den Anschein eines Ausweichmanövers. Da die Verwen­ dung des Begriffs, wie sich noch zeigen wird, in der sozialphilosophischen Literatur kaum einmal über äußerst kursorisch bleibende Begriffsbestimmun­ gen hinausgeht, werden die begründungstheoretischen Schwierigkeiten einer genaueren Bestimmung dessen, was es bedeuten würde, ein intaktes oder auch unversehrtes Selbst- und Weltverhältnis zu besitzen, bislang eher ver­ schleiert als angegangen. Diese black box des Integritätsbegriffs wäre zunächst zu öffnen, damit deutlich werden kann, inwiefern man der Sozialphilosophie als deren kleinsten gemeinsamen Nenner eine Idee des menschlichen Wohl­ ergehens unterstellen darf, die genügend konkret, aber dennoch hinreichend verallgemeinerbar ist, um dem Geschäft der Sozialpathognostik als kritischer Bezugspunkt zu dienen.131 Dabei werden die im Folgenden präsentierten Be­ stimmungen der Integrität konzeptionell auf den ethisch-moralischen Bereich genau zwischen »minimalen« und »substanziellen« Ideen des Guten zielen: Personale Integrität wird hier als ein zentraler »Modus« des menschlichen Wohlergehens, als eine spezifische Seins- und Vollzugsweise gelingenden Le­ bens vorgeführt werden. Dies wird einerseits bedeuten, dass ein Leben, wel­ ches nicht in ausreichendem Maße Integrität aufweist, darum auch kein im ethisch-moralischen Sinn gutes Leben genannt zu werden verdient. Anderer­ seits darf dabei jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass mit dem Mo­ dus der Integrität zunächst nur ein – wenngleich zentrales – Merkmal guten Lebens benannt wird. Ein Leben ist nicht schon deshalb ein gutes Leben, weil es in ausreichendem Maße Integrität aufweist. Dazu bedarf es einer ganzen Reihe zusätzlicher Faktoren, die nicht schon insgesamt unter den Begriff der Integrität zu bringen sind.132 Die hier vorgelegten Reflexionen betreffen somit lediglich einen wichtigen Ausschnitt dessen, was man als allgemeine Bedingungen und Vollzugswei­ sen eines insgesamt guten Lebens bezeichnen kann. Insofern wäre nicht bloß von einer formalen133, sondern vielmehr von einer modalen Theorie des Guten oder besser noch: des Wohlergehens die Rede. Mit dem Integritäts­begriff wer­ den wir einen verallgemeinerbaren Inhalt des menschlichen Wohlergehens zu fassen bekommen, obwohl es dabei nur um einen bestimmten Modus guten Lebens unter anderen gehen wird. Zudem ist gleich zu Beginn eine wichtige konzeptionelle Einschränkung der sozialphilosophischen Reichweite des Inte­ gritätsbegriffes angezeigt: Angesichts einer begründeten Skepsis gegenüber 131 | Der in diesem Buch offerierte Integritätsbegriff soll der Sozialpathognostik als Pendant zum medizinischen Begriff der Gesundheit dienen. Im Schlusskapitel werden wir ausdrücklich auf die Frage zu sprechen kommen, inwiefern dieser sozialphilosophische Begriff des Wohlergehens an die Klinik zurückverwiesen werden muss. 132 | Pollmann (1999). 133 | Zur Idee einer formalen Theorie des Guten siehe Seel (1995).

Die gegenwär tige Lage der Sozialphilosophie

jeder Art von überhöhtem Anspruchsdenken, so wie wir es z.B. beim neoeu­ daimonistischen Kritikansatz angetroffen haben, sollten wir mit Blick auf die hier präsentierte Theorie des Wohlergehens stets im Hinterkopf behalten, dass auch die vergleichsweise bescheidene Idee der Integrität nicht als Ganze in den Zuständigkeitsbereich der Gesellschaft fällt. Personen, so wird sich her­ ausstellen, sind in zentralen Hinsichten des Lebens immer auch selbst für ihre Integrität verantwortlich. Gleichwohl vermag die Integrität von Personen insgesamt eine geeignete Hinsicht abzugeben, an der sich gesellschaftliche Verhältnisse werden messen lassen müssen. Auch wenn der konkrete Vollzug integren Lebens den Betrof­ fenen selbst überlassen bleiben muss, sollte die Gesellschaft alles, was in ihrer Macht steht, tun, um ihren Mitgliedern den Zugang zu den Möglichkeiten, ein Leben in Integrität zu führen, offen zu halten. Im Schlusskapitel des Buches soll eben dieser Gedanke aufgegriffen und verdeutlicht werden. Freilich kann über die sozialpathognostische Frage, inwiefern die Gesellschaft Integritäts­ spielräume beschränkt, erst dann debattiert werden, wenn zuvor geklärt wor­ den ist, was es heißen würde, umfassend Integrität zu besitzen. Der Grundge­ danke, der den Rest dieser Untersuchung leiten wird, lässt sich demnach, mit Martin Seel, wie folgt fassen: »Versteht man Sozialphilosophie als einen Beitrag zur normativen Selbstverständigung moderner Gesellschaften, so handelt sie nicht allein davon, wie soziales Leben in Geschichte und Gegenwart möglich ist. Ihr Thema lautet vielmehr: Wie ist soziales Leben so möglich, daß die Integration seiner Teilnehmer nicht auf Kosten der Integrität dieser Teilnehmer geht? Wie ist eine Gesellschaft möglich, die auf allen ihren Ebenen – der Ökonomie, des Rechts, der Politik, der Verwaltung – die Inte­g rität ihrer Mitglieder wahrt? Diese Fragen sind freilich nur dann aufschlussreich, wenn geklärt werden kann, was unter der Integrität vergesellschafteter Individuen zu verstehen ist.«134

134 | Seel (1996a), S. 254.

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2 . Bedeutungsdimensionen der Integrität: Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit Nur ein einziges Mal sah es so aus, als rückte der Integritätsbegriff in das Zentrum praktisch-philosophischer Aufmerksamkeit. Bernard Williams war es, der ab Mitte der 1970er-Jahre in einer Reihe von Artikeln, die rasch be­ rühmt werden sollten, den Versuch unternahm, den seinerzeit in der ang­ lo-amerikanischen Moralphilosophie vorherrschenden Denkströmungen des Utilitarismus und des Kantianismus die ethisch-existenzielle Gegenrechnung zu präsentieren.1 Beiden Denkrichtungen warf Williams vor, in ihren nor­ mativen Prämissen und Folgerungen derart abstrakt und zudem rigoros zu sein, dass sie vollkommen außer Acht lassen müssten, wie ganz gewöhnliche Menschen in eher alltäglichen moralischen Konfliktsituationen tatsächlich zu Entscheidungen gelangen. Wollte man von diesen Menschen verlangen, stets der Moral – ob nun in Gestalt des utilitaristischen Prinzips kollektiver Nutzen­ maximierung oder aber in Form des kategorischen Imperativs – den Vorzug vor etwaigen anderen Neigungen zu geben, so müsse ihnen vieles von dem abhanden kommen, was sie zu unverwechselbaren Individuen macht. Utili­ tarismus und Kantianismus, so Williams, attackieren und »entfremden« die individuelle Persönlichkeit des Menschen, weil dieser in seinem Alltagsleben nur zu oft zwischen partikularen Lebensvollzügen einerseits, spezifisch mo­ ralischen Überlegungen anderseits abzuwägen hat. Eine kategorische Vorent­ scheidung zugunsten der Moral, käme einer kategorischen Vorentscheidung gegen das eigene Selbst gleich. Kurzum: Die Moralphilosophie missachtet, so Williams, das ethisch-existenzielle Bedürfnis einer jeden Person nach einem selbstbestimmten Leben in »Integrität«. Um etwaigen Missverständnissen von Beginn an vorzubeugen, sei hier zunächst geklärt, was genau im Folgenden mit den Begriffen »Ethik« und »Moral« gemeint sein soll, denn beide Begriffe tauchen in der philosophischen 1 | Bernard Williams (1979): Kritik des Utilitarismus, Frankfurt a.M.: Klostermann; ders. (1984a): Moralischer Zufall, Königstein/Ts.: Hain.

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Diskussion in mindestens drei Verwendungen auf. Betrachten wir zunächst den Terminus Ethik. Häufig steht der Begriff der Ethik für die philosophische Beschäftigung mit Fragen der Moral, so wie diese uns alltäglich als gesell­ schaftlich eingespieltes Reglement des sittlichen Zusammenlebens begegnet. Demzufolge wäre Ethik als eben jene philosophische Disziplin zu verstehen, die auf alltagsmoralische Zusammenhänge systematisch reflektiert.2 Nun hat aber diese Unterscheidung den offenkundigen Nachteil, dass sich die von Wil­ liams angedeutete Differenz zwischen einer ethisch-existenziellen und einer spezifisch moralischen Lebensperspektive darin gar nicht wiederfinden lässt. Eben diesem Umstand soll eine zweite Differenzierung gerecht werden, die in den letzten Jahren vor allem durch das diskursethische Werk von Jürgen Habermas an Popularität gewonnen hat.3 Nach dieser Unterscheidung steht der Begriff der Ethik für die Beschäftigung mit der Frage nach dem »guten Leben«, während der Moralbegriff für universalistische Theorien der »Gerech­ tigkeit« reserviert wird. Auf eine Faustformel gebracht: Im Zuge ethischer Re­ flexion fragt sich die Person, was gut für sie ist, im Zuge moralischer Reflexion hingegen erkundigt sie sich nach dem, was gerecht für alle wäre. Bei genauerem Hinsehen hat jedoch auch diese Begriffsbestimmung einen entscheidenden Haken. Die Gegenüberstellung von gutem Leben und gerech­ ter Moral fällt darin derart strikt aus, dass der von Williams angesprochene Konflikt bereits auf theoretischer Ebene unmöglich wird. Angesichts der plu­ ralistischen Vielfalt möglicher Lebensorientierungen geht Habermas davon aus, dass die Beantwortung der Frage nach dem guten Leben jedem Betrof­ fenen selbst überlassen bleiben müsse und sich die Philosophie daher allein noch mit Problemen einer Moral der Gerechtigkeit, d.h. mit Regeln friedli­ cher Koexistenz, beschäftigen könne. Ein genuin philosophischer Standpunkt, der den nicht selten problematischen Zusammenhang von gutem Leben und Moral zu erhellen versuchte, wird damit bereits auf der Ebene der Theoriebil­ dung ausgeschlossen. Von Williams selbst stammt daher eine dritte Begriffs­ bestimmung, der auch wir uns im Folgenden anschließen werden.4 Demnach soll sich die philosophische Ethik mit der bereits von Sokrates aufgeworfenen Frage befassen, »wie man leben soll, um gut zu leben«. Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als sei diese dritte Verwendung des Ethikbegriffs von der zweiten kaum zu unterscheiden, geht es doch bei beiden um Fragen nach dem guten Leben. Bei genauerem Hinsehen jedoch markiert die Verwendung des zunächst unpersönlichen Wörtchens man in der Frage, »wie man leben soll, 2 | Dazu exemplarisch Ernst Tugendhat (1993a): Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 3 | Habermas (1991). 4 | Siehe vor allem Bernard Williams (1985): Ethics and the Limits of Philosophy, London: Fontana.

Bedeutungsdimensionen der Integrität

um gut zu leben«, einen philosophisch entscheidenden Unterschied. Die Frage nach dem guten Leben wird hier nicht, wie bei Habermas, aus der Betroffenen­ perspektive eines nach individuellem Glück strebenden Individuums gestellt, sondern aus der verallgemeinernden Sicht des nach dem Guten im menschli­ chen Leben schlechthin fragenden Theoretikers. Ethiker, so Williams, fahnden angesichts der pluralistischen Vielfalt möglicher Lebensvollzüge nach univer­ sellen Bedingungen »des« Guten. In eben dieser Perspektive umfasst die phi­ losophische Ethik sowohl Fragen nach dem individuell oder auch »präferenzi­ ell«5 Guten als auch Fragen nach dem für alle Gerechten, ja, sie hat es immer schon mit der Möglichkeit von Konflikten zu tun, die aus dem Widerstreit von subjektiv gutem Leben und intersubjektiver Moral resultieren können. Nun ist damit zunächst aber allein die Verwendung des Ethikbegriffs ge­ klärt. Auch der Begriff Moral ist philosophisch mehrdeutig. Folgt man der kantischen Tradition, so meint Moral die Menge all jener Verpflichtungen, die sich für uns aus einer Perspektive normativer Unparteilichkeit gegenüber al­ len anderen ergeben. Demnach zielt die Moral auf das mit Rücksicht auf alle Menschen gleichermaßen Gebotene bzw. auf das für alle Gerechte.6 Davon zu unterscheiden ist eine zweite Verwendung des Moralbegriffs, mit der nicht bloß, wie bei Kant, universelle, sondern sämtliche Verpflichtungen von Mit­ menschen untereinander ausgezeichnet werden. Dieser Begriffsgebrauch soll den Umstand berücksichtigen, dass sich eine Person in der Regel nicht bloß auf unparteiliche Weise gegenüber der Allgemeinheit verpflichtet sieht, son­ dern in durchaus zentralen Hinsichten ihres Lebens, man denke hier etwa an Fürsorge-, Liebes- oder Solidarbeziehungen, immer auch parteilich gegenüber einzelnen, d.h. je besonderen Mitmenschen.7 Eine dritte, eher alltagssprachli­ che Verwendung des Moralbegriffs zielt schließlich auf die empirisch vorfind­ lichen Regeln des normenkonformen Zusammenlebens innerhalb einer kon­ kreten sittlichen Gemeinschaft. Wer in diesem Sinne von moralischen Regeln spricht, meint eben jene Verhaltenserwartungen, die Menschen, weitgehend unabhängig von Bemühungen philosophischer Theoriebildung, im Alltag faktisch aneinander herantragen.8 Anders als beim Terminus Ethik wird im Folgenden auf alle drei dieser Verwendungsweisen des Moralbegriffs zurückgegriffen werden, wenngleich auf jeweils ganz spezifische Weise: Der kantische Begriff von Moral wird zwar verschiedentlich Erwähnung finden, allerdings immer nur dann, wenn der Be­ griff der Integrität, wie von Williams vorgezeichnet, kritisch dagegen in Stel­ lung gebracht wird. Aus Sicht personaler Integrität, so wird sich zeigen, kann 5 | Dazu Seel (1995). 6 | Habermas (1991). 7 | Vgl. Honneth (2000c). 8 | Vgl. Tugendhat (1993a).

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sich der kantische Moralbegriff tatsächlich als Zumutung erweisen. Daher wird in dieser Untersuchung jener oben an zweiter Stelle genannte, umfas­ sendere Moralbegriff favorisiert, dem zufolge nicht nur die im engeren Sinne unparteilichen, sondern alle soziale Verpflichtungen des Menschen zur Moral gehören. Gleichwohl wird an verschiedenen Stellen auch die dritte Bedeutung von Moral im Sinne normenkonformer Sittlichkeit anklingen. Mit Blick auf die Frage, was genau es heißt, ein Leben in Integrität zu führen, wird sich her­ ausstellen, dass allein im Rückgriff auf die konkreten Wertvorstellungen eben jener Gemeinschaft, in der eine Person ihre Integrität zu bewahren versucht, spezifisch moralische »Grenzen« der Integrität erkennbar werden. Doch kommen wir zunächst zu der von Williams angestoßenen Integritäts­ debatte zurück. Zwar ist im Anschluss an Williams’ wegweisende Moralkritik eine zunächst heftige Diskussion über die Frage entbrannt, was überhaupt un­ ter der Integrität eines Menschen zu verstehen ist und ob wir tatsächlich davon auszugehen haben, dass diese durch die moraltheoretischen Überlegungen des Utilitarismus und des Kantianismus gefährdet ist, doch ist diese Debatte schon bald wieder im Sande verlaufen.9 Auch wenn bis heute vereinzelt noch ein Echo auf die damalige Diskussion zu vernehmen ist10, so ist in der Folgezeit nur noch sporadisch der Versuch unternommen worden, dem Integritätsbe­ griff einmal eine genauere Fassung zu geben.11 Eine Sondierung der vorhande­ nen Literaturlage offenbart zudem den zweifellos problematischen Umstand, dass die Verwendung des Integritätsbegriffs insgesamt äußerst uneinheitlich ausfällt und überdies auffallend häufig von jener am Ende von Kapitel 1 bereits umrissenen sozialphilosophischen Wortbedeutung abweicht, der zufolge Inte­ grität als ein von äußerlichen Übergriffen »unversehrtes Selbst- und Weltver­ hältnis« zu beschreiben sei. Wenn Williams selbst an zentraler Stelle davon spricht, »daß jemand, der Integrität an den Tag legt, aus den Dispositionen

9 | Siehe vor allem Samuel Scheffler (1982): The Rejection of Consequentialism, Oxford: Oxford UP; Barbara Herman (1983): »Integrity and Impartiality«, in: The Monist, 66/1983. 10 | Owen Flanagan (1991): Varieties of Moral Personality, Cambridge u. London: Harvard UP, Kap. 3 u. 4; Elisabeth Ashford (2000): »Utilitarianism, Integrity and Partiality«, in: Journal of Philosophy, 8/2000. 11 | Marc Halfon (1989): Integrity, Philadelphia: Temple UP; Hayden Ramsay (1997): Beyond Virtue. Integrity and Morality, New York: St. Martin’s; Damian Cox/Marguerite La Caze/Michael P. Levine (2003): Integrity and the Fragile Self, Ashgate: Aldershot. Auch Einträge in philosophische Fachlexika sind selten: Cora Diamond (1992): »Integrity«, in: Encyclopedia of Ethics, New York u. London: Garland; Cox/La Caze/Levine (2001).

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und Motiven handelt, die in tiefstgreifender Weise die seinigen sind«12, dann ist mit personaler Integrität offenkundig etwas ganz anderes gemeint als das von der Sozialphilosophie diagnostizierte und durch gesellschaftliche Fehlent­ wicklungen bedrohte Bedürfnis nach »Ganzheit« oder auch »Intaktheit«. Hier scheint es vielmehr um den jeweils an sich selbst adressierten Wunsch von Personen zu gehen, sich in den eigenen Lebensvollzügen »treu« zu sein und auch zu bleiben, d.h. in Übereinstimmung mit dem zu leben, was einem wirk­ lich wertvoll ist. Zum Ausdruck kommt dies häufig auch in der alltagssprach­ lich vertrauten Verwendung des Adjektivs integer. Doch damit nicht genug: Die weitere Durchsicht der vorhandenen philo­ sophischen Beiträge zur Integritätsproblematik wird eine Reihe zusätzlicher Bedeutungsdimensionen des Begriffs offenbaren, die von den beiden bereits erwähnten Verwendungen allenfalls tangiert werden. Überdies wird zu beob­ achten sein, dass der Gebrauch des Integritätsvokabulars zumeist nahtlos von einer Begriffsverwendung in die nächste übergeht, ohne dass den jeweiligen Autorinnen und Autoren begriffliche und phänomenologische Unterschiede auffallen würden. Daher müssen diese Differenzen hier zunächst genauer he­ rausgearbeitet werden. Wir beginnen mit der Idee der »Selbsttreue«, auf die wir vor allem bei Williams und seinen Interpreten stoßen. Dabei wird es zu­ nächst insbesondere darum gehen, den Integritätsbegriff in einem »vormora­ lischen«13, d.h. ethisch-existenziellen Sinne zu klären (2.1). Während jedoch Williams vor allem darauf aus war, die Integrität der von moralischen Konflik­ ten Betroffenen gegenüber überzogenen normativen Restriktionen in Schutz zu nehmen, hat mancher seiner Kritiker den Einwand geltend machen wol­ len, dass personale Integrität ohne den Bezug auf eine kantische Moral der Unparteilichkeit überhaupt nicht zu haben sei. Verschiedentlich ist daher der Versuch unternommen worden, personale Integrität an überaus strikte norma­ tive Forderungen zurückzubinden, womit die Idee einer spezifisch moralischen Integrität Gestalt angenommen hat, die hier unter dem Begriff »Rechtschaf­ fenheit« firmieren wird (2.2). Nicht zuletzt aus der sich daraus ergebenden Spannung zwischen präferenziellen und moralischen Lebensorientierungen wird sich die Notwendigkeit einer dritten Verwendung des Inte­gritätsbegriffes ergeben, die Platz für die existenzielle Konfrontation mit derartigen Konflikten lässt. Da diese dritte Bedeutung vor allem in solchen Debattenbeiträgen an­ klingt, die an eher innerpsychischen Vorgängen interessiert sind, wird von der 12 | Bernard Williams (1984b): »Utilitarismus und moralische Selbstgefälligkeit«, in: ders. (1984a), S. 59. 13 | Es soll nicht behauptet werden, der Gegenstand sei gänzlich ohne moralische Bedeutung. Die moralische Dimension der Integrität wird zunächst lediglich methodisch eingeklammert, damit die Betrachtung ethisch-existenzieller Sachverhalte nicht von vornherein durch eine bestimmte moralische Sichtweise eingeschränkt wird.

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Idee psychischer »Integriertheit« die Rede sein (2.3). Anschließend werden wir zu jener Bedeutung der Integrität im Sinne der »Ganzheit« zurückkehren, auf die wir bereits im Rahmen der Erörterungen zur Sozialphilosophie gestoßen sind. Allerdings wird diese vierte Bedeutungsdimension – angereichert durch die drei zuvor erläuterten Verwendungsweisen – nunmehr in einem klareren Licht erscheinen (2.4). Da erst in den darauf folgenden Kapiteln der Versuch unternommen werden kann, diese vier bis dahin weitgehend unvermittelten Bedeutungsdimensionen in ein gemeinsames und komplexes Verständnis von Integrität einzubeziehen, wird das vorliegende Kapitel zunächst mit einer etymologischen Spurenlese schließen, auf der lediglich erste Indizien dafür gesammelt werden sollen, dass die vier unterschiedlichen Bedeutungsdimen­ sionen miteinander verknüpft sind (2.5). Folgende Unterscheidungen müssen diesem Kapitel vorangeschickt wer­ den: Auf die Gefahr grober Vereinfachung hin wird entsprechend der vier er­ läuterten Begriffsdimensionen von einer »ethischen«, einer »moralischen«, einer eher »psychologischen« und einer »sozialphilosophischen« Bedeutung von Integrität die Rede sein können. Das heißt jedoch nicht, dass es sich dabei um vier verschiedene Begriffe von Integrität handelt. Gemeint sind zunächst lediglich vier unterschiedliche Zugangsweisen zu ein und demselben Problem, die sich aus unterschiedlichen Kontextualisierungen des Integritätsbegriffes ergeben. Dabei werden zwei weitere wichtige kategoriale Differenzierungen für alle vier Bedeutungsdimensionen maßgeblich sein: Erstens werden wir im Hinblick auf die Frage, ob und inwieweit eine Person Integrität besitzt, zwischen einer Innenperspektive der »Selbstzuschreibung« und einer Außen­ perspektive der »Fremdzuschreibung« unterscheiden müssen. Ob eine Person selbst glaubt, Integrität zu besitzen, ist von der Frage, ob auch andere ihr dies attestieren würden, relativ unabhängig.14 Zweitens werden die vier grundlegen­ den Begriffsdimensionen zusätzlich in »positive« und »negative« Selbst- und Fremdzuschreibungen aufgefächert werden. Die Frage nämlich, ob Personen Integrität besitzen, wird nur dann adäquat beantwortet werden können, wenn zugleich auch deutlich wird, an welchem Punkt sie ihre Integrität einbüßen. Daraus werden sich insgesamt 16 Verwendungen des Integritätsbegriffes erge­ ben. Der besseren Orientierung wegen, seien diese vorweg in einem Schaubild dargestellt.15 14 | Die Unterscheidung Selbst-/Fremdzuschreibung soll nicht zuletzt dem Umstand gerecht werden, dass dieselbe Person sich in der Regel sowohl von innen als auch von außen, d.h. mit den Augen anderer, als mehr oder weniger integer zu erkennen vermag. 15 | Auf eine dritte kategoriale Unterscheidung soll an dieser Stelle lediglich hingewiesen werden: Jede der 16 Begriffsverwendungen weist sowohl deskriptive wie auch evaluative Aspekte auf – deskriptiv im Sinne von Selbst- bzw. Fremdzuschreibungen, evaluativ im Sinne von Wertungen, Bedürfnissen und Erwartungen.

Bedeutungsdimensionen der Integrität

Abb. 1 Bedeutungsdimensionen der Integrität (eigene Tabelle) Innenperspektive/ Selbstzuschreibung

Aussenperspektive/ Fremdzuschreibung

positiv

negativ

positiv

negativ

ethisch

Selbsttreue

Depersonalisation

Unbestechlichkeit

Bestechlichkeit

moralisch

Rechtschaffenheit

„Schmutzige Hände“

Unbescholtenheit

Scheinheiligkeit

psychologisch

Integriertheit

Desintegration

Kohärenz

Inkohärenz

sozialphil.

Ganzheit

Entzweiung

Unversehrtheit

Verletztheit

2.1 S elbst treue und U nbestechlichkeit Die bahnbrechenden Arbeiten von Williams, mit denen er vor nunmehr knapp dreißig Jahren den Begriff personaler Integrität gegen die Zumutungen der vorherrschenden Moralphilosophie in Schutz zu nehmen beabsichtigte, haben der Integritätsdebatte eine Reihe von illustrativen Beispielen beschert, denen eine glanzvolle Karriere in der Moralphilosophie beschieden war: Man nehme die Geschichte des arbeitslosen Chemikers George, der eine Familie zu ernäh­ ren hat und sich deshalb zu der Entscheidung gedrängt sieht, eine Job-Offerte der biochemischen Rüstungsindustrie anzunehmen. Man erinnere sich an Jim, den Expeditionsteilnehmer irgendwo in Südamerika, der von einer mili­ tärischen Einheit gefangen genommen wird, deren sadistischer Anführer ihn vor die Wahl stellt, entweder eigenhändig einen seiner zwanzig Mitgefange­ nen zu erschießen, um für die anderen und auch ihn selbst die Freilassung zu erwirken, oder aber mit ihnen allen in den Tod zu gehen. An anderer Stelle wird von einem Schiff bruch berichtet, in dessen dramatischem Verlauf sich ein Ehemann vor die Alternative gestellt sieht, entweder seine Frau oder aber einen x-beliebigen anderen Passagier zu retten. Schließlich wird vom Maler Gauguin erzählt, der mit der Entscheidung ringt, seine Familie zu verlassen, um sich auf einer fernen Südsee-Insel als Künstler verwirklichen zu können.16

16 | George und Jim tauchen in: Williams (1979) auf; die Schiffbrüchigen in: ders. (1984c): »Personen, Charakter und Moralität«; Gauguin in: ders. (1984d): »Moralischer Zufall«, beide in: ders. (1984a).

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Kaum jemand, der sich heute mit Praktischer Philosophie befasst, dürf­ te um diese seither viel diskutierten Beispiele herumkommen. Worum es Williams, dem Moralkritiker, in allen diesen gezielt als schwerwiegend kon­ struierten Konfliktsituationen geht, ist der Umstand, dass in existenziellen Entscheidungssituationen partikulare, d.h. parteiische Verpflichtungen mit moralischen, d.h. unparteiischen Verpflichtungen kollidieren können. Den Betroffenen kann hier eine bereits auf theoretischer Ebene vorweggenomme­ ne Entscheidung zugunsten der Unparteilichkeitsmoral nicht ohne Weiteres abverlangt werden. Dies hätte dramatische Auswirkungen auf ihr Leben: Der Chemiker George wird seine Familie der Armut preisgeben, wenn er aufgrund seiner Bedenken gegen die biochemische Kriegsführung weiterhin arbeitslos bleibt. Der Forschungsreisende Jim wird nie wieder ruhig schlafen können, wenn man ihm eine Tötung zumutet, um die gemeinsame Freilassung zu er­ wirken. Der schiff brüchige Ehemann wird zum Witwer, wenn er statt seiner Frau irgendeine andere Person rettet. Der Künstler Gauguin schließlich wird in Depressionen verfallen, wenn er seiner Berufung nicht angemessen folgen kann. Anhand dieser schicksalhaften Beispiele entwirft Williams ein Charak­ termodell, dem zufolge die Identität bzw. das ethisch-existenzielle Selbstbild einer Person aus wertbehafteten »Grundvorhaben« und »Selbstverpflichtun­ gen« zusammensetzt ist.17 Dabei handelt es sich um tief im Selbstverständnis einer jeden Person verwurzelte Hauptanliegen und Projekte, die für das Indi­ viduum in dem Sinne als identitätsstiftend und kategorisch bindend angese­ hen werden können, dass die Sinnhaltigkeit seines Lebens insgesamt bedroht wäre, wenn ihm diese Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen abhanden kämen. Von eher »trivialen« Präferenzen und Bedürfnissen unterscheiden sich Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen durch ihre existenzielle Wich­ tigkeit und Dringlichkeit: Während man auf die Befriedigung so mancher seiner alltäglichen Wünsche durchaus verzichten kann, würde eine Person aufhören, diejenige zu sein, für die sie sich hält, wenn sie auf ihre zentralen Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen verzichten müsste. Ihr käme die ethisch-existenzielle Grundorientierung abhanden und damit eben zugleich auch, so Williams, ihre Integrität als Person. Mit identitätsstiftenden Hauptanliegen und Selbstverpflichtungen sowie mit den jeweiligen Werten, Prinzipien und Idealen, die diesen fundamentalen Lebensorientierungen zugrunde liegen, nimmt das substanzielle Selbstbild ei­ ner Person Gestalt an, mit dem zugleich auch die Grenzen markiert sind, die 17 | Im Original spricht Williams von »ground projects« und »commitments«. Letztere sind in der deutschen Fassung mit »Bindungen« übersetzt, wodurch von vornherein eher moralische Assoziationen geweckt werden. Um aber deren spezifisch ethischen Charakter zu betonen, weiche ich von dieser Übersetzung ab.

Bedeutungsdimensionen der Integrität

unter keinen Umständen verletzt werden dürfen, wenn die Person ihren indi­ viduellen Persönlichkeitskern nicht einbüßen soll. Folgt man Williams oder ganz ähnlichen Überlegungen von Harry G. Frankfurt18, sind Selbstverpflich­ tungen und Grundvorhaben nicht bloß als wichtiger Bestandteil der Integrität zu deuten, sondern zugleich auch als Mahnung, dass ein Betrug dieser Ideale einer Verletzung der unhintergehbaren Grenzen der eigenen Persönlichkeit gleichkäme. Werden diese Grenzen überschritten, so hat dies unweigerlich zur Folge, dass eine Person sich und ihrem ethisch-existenziellen Selbstverständ­ nis untreu wird. Christine Korsgaard fasst dies  – in unmittelbarer Nähe zu Williams und Frankfurt – wie folgt zusammen: »It is the conceptions of ourselves that are most important to us that give rise to unconditional obligations. For to violate them is to lose your integrity and so your identity, and to no longer be who you are. That is, it is to no longer be able to think of yourself under the description under which you value yourself and find your life to be worth living and your actions to be worth undertaking.«19

Demnach ist es der Wunsch nach Integrität im Sinne einer Treue zu sich selbst, d.h. nach einem Leben in Einklang mit den je eigenen Werten und Idealen, der uns solche »unbedingten Verpflichtungen« gegenüber uns selbst erken­ nen lässt.20 Würden wir diese Grundüberzeugungen mutwillig korrumpie­ ren, wären wir nicht länger das, was wir zu sein wünschen. Insofern ist mit Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen eine Art »volitionale Notwendig­ keit« verknüpft: Aus der Binnenperspektive einer mit existenziellen Entschei­ dungssituationen konfrontierten Person geht von diesen Grundüberzeugun­ gen ein seltsam zwangloser Zwang aus, der von der betroffenen Person weniger als Unfreiheit denn als Freiheit empfunden wird.21 Eine Person, die Integrität besitzt, sieht sich außerstande, entgegen ihren festen Überzeugungen zu han­ deln und damit ihre Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen zu verraten, und sie ist ebenso unfähig, eine solche Unfähigkeit nicht zu wollen. Die le­ benspraktische Grundorientierung an einem Kurs in Übereinstimmung mit dem, was der Person wichtig ist, wird als ein »Müssen« erkannt, d.h. als not­ wendige Bedingung des gelingenden Lebens. Deshalb wird sich die Person 18 | Harry G. Frankfurt (1999a): »On the Necessity of Ideals«, in: ders. (1999b): Necessity, Volition and Love, Cambridge: Cambridge UP. 19 | Christine M. Korsgaard (1996): The Sources of Normativity, Cambridge: Cambridge UP, S. 102. 20 | Siehe neben Williams vor allem: Joseph Raz (1986): The Morality of Freedom, Oxford: Clarendon; Lynne McFall (1987): »Integrity«, in: Ethics, 98/1987; Halfon (1989). 21 | Harry G. Frankfurt (1988a): »The Importance of What We Care About«, in: ders. (1988b): The Importance of What We Care About, Cambridge: Cambridge UP.

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angesichts ethischer Konfliktsituationen gegenüber etwaigen Alternativen, die einen existenziellen Kurswechsel mit sich bringen würden, in der Regel ableh­ nend verhalten. Auf diesem Wege werden selbstverschuldete Verletzungen der elementaren Bestandteile des eigenen Selbstbildes vermieden, durch die das Selbst als solches in Gefahr geraten würde. Während uns diese integralen Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen auf einen festen ethischen Kurs einschwören, werden wir von korrespondie­ renden »Aversionen« ebenso kategorisch davor bewahrt, von diesem Kurs abzukommen.22 Man nehme den Fall eines gewissenhaften Politikers, der ei­ nen Ekel verspürt, wenn wirtschaftliche Interessenvertreter mit Einladungen und kleineren Geschenken locken. Es gibt Dinge im Leben einer Person, die diese nicht tun kann, ohne dass ihr ethisches Selbstverständnis zusammen­ bricht. Demnach nimmt jede Selbstverpflichtung immer auch die Form einer Abwehr gegenüber den Gefahren eines Integritätsverlustes an. Ein derart ent­ schiedenes Müssen bezieht sich auf eben jene unentbehrlichen oder integralen Bestandteile des ethisch-existenziellen Selbstbildes, die Bedingungen für ein Weiterleben als jene Persönlichkeit sind, mit der wir uns identifizieren: »[W]e are liable to be bound by necessities which have less to do with our adherence to the principles of morality than with integrity or consistency of a more personal kind. These necessities constrain us from betraying the things we care about most and with which, accordingly, we are most closely identified. In a sense which a strictly ethical analysis cannot make clear, what they keep us from violating are not our duties or our obligations but ourselves.« 23

Doch ginge es zu weit, darauf beharren zu wollen, dass für eine integre Person schlicht jede mögliche Alternative undenkbar ist. Ausnahmen müssen mög­ lich sein, solange dies dem Selbstverständnis der Person keinen gravierenden Schaden zufügt. Integre Menschen sind nicht, wie z.B. drogensüchtige oder auch zwangsneurotische Menschen, hilflos einem innerlichen Zwang ausge­ liefert. Die auf Integrität bedachte Person will. Sie hätte die Freiheit, anders zu handeln, als es ihr Selbstverständnis von ihr verlangt, doch zieht sie ein solches Handeln in der Regel gar nicht ernsthaft in Betracht, weil sie ihr mit 22 | Vgl. George W. Harris (1999): Agent-centred Morality, Berkeley: California UP. 23 | Frankfurt (1988a), S. 91. Es ist ratsam, hier noch einmal zwischen kategorischen und letzten Endes dann doch bedingten Selbstverpflichtungen zu unterscheiden. Ein Beispiel: Es mag einem berufstätigen jungen Mann überaus wichtig sein, von seinen Vorgesetzten und Kollegen als ein Mitarbeiter geschätzt zu werden, der stets zur Stelle ist, wenn man ihn ruft. Wenn ihm jedoch sein Selbstbild als ein guter Familienvater letztlich mehr am Herzen liegt, wird er im Konfliktfall – man denke an den Fall einer Erkrankung seiner Kinder – Schädigungen jenes guten Rufs in Kauf nehmen.

Bedeutungsdimensionen der Integrität

Werten behaftetes Selbstverständnis nicht leichtfertig opfert. Demnach wäre im Hinblick auf personale Integrität, insofern darunter Selbsttreue verstan­ den wird, treffender von einem kategorischen »Wollen« als von einem katego­ rischen »Müssen« zu sprechen.24 Darüber hinaus hat sich der integre Mensch revisionsoffen zu halten, denn eines Tages mögen andere gute Gründe ihn dazu bewegen, seine bisherigen Grundüberzeugungen kritisch zu hinterfra­ gen und gegebenenfalls auch zu verwerfen.25 Wer sich niemals irritieren lässt, wird niemals einen Irrtum einsehen können. Daher muss Selbsttreue sogleich von überzogenen Formen der Unbeugsamkeit abgegrenzt werden, die einem gelingenden Leben auf Dauer abträglich sind: Sturheit, Borniertheit, Dogma­ tismus und Fanatismus sind Eigenschaften, in denen eine geradezu zwang­ hafte Selbsttreue am Werke ist. Hier schlägt Integrität in Fundamentalismus um. Menschen, die stur, borniert, dogmatisch oder fanatisch sind, lassen defi­ nitionsgemäß die Bereitschaft vermissen, sich auf eine Praxis ethischer Deli­ beration einzulassen.26 Fraglich ist allerdings, ob überhaupt eine klare Grenze zwischen Selbsttreue und defizienten Formen zwanghafter Unbeirrbarkeit auszumachen ist oder ob diesbezüglich von eher fließenden Übergängen zu sprechen wäre. An dieser Stelle muss es vorerst genügen, mit der Charakter­ eigenschaft »resolut« eben jene Persönlichkeitsschwelle zu markieren, an der ein Zuviel an Selbsttreue in Übertreibung ausartet.27 Das Wesen existenzieller Selbstverpflichtungen wird aber auch dort er­ kennbar, wo wir es mit Individuen zu tun haben, die überhaupt gar keine un­ entbehrlichen Wertvorstellungen vorweisen können. Wendet man sich z.B. »depressiven« Personen zu, denen nichts in ihrem Leben wirklich wichtig zu sein scheint, so wird man feststellen, dass diese sich unter Umständen schon deshalb nicht treu sein können, weil sie gar kein substanzielles Selbstbild be­ sitzen. Sie erfahren sich oft als »leer« und dem persönlichen Zerfall ausge­ setzt. Schlägt man an dieser Stelle den Bogen zurück zu Williams’ Kritik an der zeitgenössischen Moralphilosophie, so wird deutlich, welche ethisch-exis­ tenzielle Tragweite seinen Einlassungen zukommt. Wenn man das von der Unparteilichkeitsmoral geforderte Primat kategorischer Normen konsequent zu Ende denkt, dann droht dem Menschen ein Leben, das stets zugunsten allgemeiner Normen von etwaig damit konfligierenden eigenen Neigungen 24 | Vgl. Blustein (1991): Care and Commitment, New York u. Oxford: Oxford UP. 25 | Halfon (1989); Neil Roughley (1996): »Selbstverständnis und Begründung«, in: Annette Barkhaus u.a. (Hg.) (1996): Identität, Leiblichkeit, Normativität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dazu mehr in Kapitel 3. 26 | Zur Unvereinbarkeit von Integrität und Fundamentalismus siehe Peter Rinderle (1994): »Liberale Integrität«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1/1994; Cheshire Calhoun (1995): »Standing for Something«, in: Journal of Philosophy, 5/1995. 27 | Dazu mehr in Kapitel 3.

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abzusehen hätte. Ein solches Leben mag »Heiligen«28 beschieden sein, für die meisten Menschen jedoch dürfte es zweifellos ein ödes Leben sein, in dessen Verlauf es, ähnlich wie im Rahmen einer depressiven Existenz auch, zu einer Verwirklichung eigener Wünsche gar nicht kommen kann. Der ausnahmslos moralkonforme Mensch lässt wie der depressive einen individuellen Persön­ lichkeitskern vermissen: »This means that he lacks a personal essence, which would comprise the necessary condition of his identity. For this reason, there is no such thing for him as genuine integrity. After all, he has no personal boundaries whose inviolability he might set himself to protect. There is nothing that he is essentially.« 29

Wenn hier von einer »Essenz« personaler Integrität die Rede ist, dann sollte dies nicht als philosophische Reminiszenz an metaphysische Vergangenheiten missverstanden werden. Gemeint ist lediglich die weithin unproblematische Annahme, dass jede Person ein eigenes evaluatives Selbstverständnis besitzt, das ihren individuellen Charakter prägt. Ein Mensch, der keinen solchen Per­ sönlichkeitskern aufzuweisen hat, kann deshalb auch nicht Integrität besitzen, weil er gar nicht weiß, wofür es sich, aus seiner Sicht, zu leben lohnt. Das Anliegen der Selbsttreue, d.h. einer Übereinstimmung von Selbstverpflich­ tungen und Lebensvollzügen, muss solchen Menschen fremd vorkommen. Gleichwohl sollte von feststellbaren Defiziten an Integrität nicht immer gleich auf das vollständige Fehlen eines ethisch-existenziellen Selbstverständnisses geschlossen werden. Schwerwiegende Abweichungen von einem vormals fest­ gesteckten Kurs reichen aus, um Integritätsmängel konstatieren zu können. Die bloße Möglichkeit, sich selbst treu zu sein, verweist auf den Umstand, dass sich eine Person schrittweise eben auch untreu werden, d.h. von sich selbst »entfremden« kann.30 Entfremdende Grenzerfahrungen können von kleineren Kratzern am ethischen Selbstbild bis hin zur völliger Unkenntlich­ machung dieses Selbstbildes reichen. Da der Begriff »Entfremdung« in der philosophischen Debatte vielfach belegt ist31, sollten wir im Folgenden mit Blick auf die negative Kehrseite der Selbsttreue besser von einer Tendenz zur Depersonalisation sprechen. In klinischen Zusammenhängen wird damit ge­ meinhin das als leidvoll erfahrene Gefühl eines Patienten beschrieben, ihm 28 | Susan Wolf (1982): »Moral Saints«, in: Journal of Philosophy, 8/1983. 29 | Frankfurt (1999b), S. 115. 30 | Williams (1979), S. 81. Dazu kritisch Adrienne Piper (1987): »Moral Theory and Moral Alienation«, in: Journal of Philosophy, 2/1987. 31 | Vgl. Rahel Jaeggi (2005): Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt a.M. u. New York: Campus. Mit Blick auf die Integritätsproblematik siehe Flanagan (1991).

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komme die Selbstverständlichkeit abhanden, zu dem, was er denkt und tut, »Ich« sagen zu können. Geht mit der Selbsttreue das Vermögen zu einer re­ flektierten Identifikation mit je eigenen Wünschen und Werten verloren, so verschwindet damit einer der nach gängiger philosophischer Auffassung wohl wesentlichsten Aspekte des Personseins. Der Begriff der Depersonalisation ist daher als Bezeichnung für eine negative Tendenz der Integrität zur Selbstun­ treue passender. Nur wer sich in diesem depersonalisierenden Sinne untreu und fremd werden kann, wird im Gegensatz dazu Integrität aufweisen kön­ nen. Mit dem Streben nach Selbsttreue geht daher stets auch eine existenzielle Fragilität der Person einher: »Both the strength and the fragility of an entity are features of its integrity […]. A stone is not a diamond unless it has the strength to resist fracture under a certain degree of stress. Diamonds, however, also have a point at which they loose the ca­p acity to retain the status as the wholes they are. […] The qualities a thing has in virtue of which we are willing to attribute integrity to it are its categorical qualities. By reaching the limits of its capacities to retain its categorical qualities under stress, integral breakdown occurs along the lines of the limitation threshold, and its integrity is lost.« 32

Mit Blick auf die Annahme, Selbsttreue müsse als Übereinstimmung von ethischem Selbstbild und existenziellem Lebensvollzug gedeutet werden, sind noch einige weitere begriffliche Spezifizierungen vorzunehmen. Es ist fest­ zustellen, dass es dreierlei bedeutet, in Übereinstimmung mit dem eigenen ethischen Selbstverständnis »zu leben«: Das Selbstbild einer Person muss ers­ tens in ihren Äußerungen, zweitens in ihren Handlungen und drittens auch in ihrem sonstigen Verhalten zum Ausdruck kommen.33 Abweichungen in allen drei Hinsichten können jeweils zu einem Verlust an Integrität führen. Je we­ niger sich die Prinzipien und Ideale einer Person in deren Auftreten nieder­ schlagen, desto stärker erhärtet sich der Verdacht, dass die gemeinten Über­ zeugungen gar nicht tief genug in ihrem Selbstverständnis verankert sind.34 Das Problem verschärft sich, wenn eine Person ohne elaboriertes Selbstbild in Gegenwart anderer Menschen lediglich »so redet«, »so tut« oder sich »so 32 | George W. Harris (1997): Dignity and Vulnerability, Berkeley: California UP, S. 7. 33 | Diese Unterscheidung treffe ich im Anschluss an Charles Taylor (1988c): »Was ist menschliches Handeln?«, in: ders. (1988b). Man denke bei »sonstigem Verhalten« z.B. an Mimik, Gestik, Statussymbole oder Kleidung. 34 | Gabriele Taylor (1985): Pride, Shame, and Guilt, Oxford: Oxford UP, Kap. 5. Beispiele sind der strikte Abtreibungsgegner, der seine Geliebte zum Schwangerschaftsabbruch ins Ausland begleitet; die bürgerliche Spießerin, die sich eine »flippige« Wohnungseinrichtung zulegt; die sonntägliche Kirchgängerin, die noch am Abend zuvor zu jeder Sünde bereit war.

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gibt«, als hätte sie bereits ein unumstößliches Selbst- und Weltbild. Menschen dieser Art wirken für gewöhnlich unreif oder auch anmaßend, in keinem Fall jedoch integer. Selbsttreue setzt nicht nur ein tief verwurzeltes Geflecht aus Grundüberzeugungen und Selbstverpflichtungen voraus, sondern zudem die Etablierung komplementärer Sprech-, Handlungs- und Verhaltensmuster. Dieser Zusammenhang lässt sich prüfen, wenn die betreffende Person unter ethischen Rechtfertigungsdruck gesetzt wird. Ihr Leben muss nicht nur rein äußerlich in Konkordanz zu dem stehen, was sie für sich als wichtig erach­ tet, es sollte zudem gut begründete Lebensvollzüge aufweisen. Auch wenn das evaluative Selbstbild eines Menschen im Alltag zumeist eine ganz unproble­ matische Umsetzung erfährt, sollte die betreffende Person doch auf Anfra­ ge einen stichhaltigen Begründungszusammenhang herstellen können, vor dessen Hinter­grund die jeweils in Frage stehende Äußerung, Handlung oder Verhaltensweise sinnvoll erscheint.35 Darüber hinaus ist zu bedenken, dass es dem Menschen immer dann leicht fallen wird, in Einklang mit dem zu leben, was ihm wichtig ist, wenn ohnehin nichts und niemand ihn davon abhalten will. Erst wenn echte Hindernisse im Wege stehen, z.B. neurotischer Zwang, körperlicher Schmerz, soziale Hem­ mungen, äußerer Druck oder gar direkte Gewalt, wird Selbsttreue zum ernst­ haften Problem.36 Die Integrität einer Person muss sich auch oder besser gerade angesichts von Widerständen erweisen. Personale Integrität ist durch ein hohes Maß an Beherztheit charakterisiert. Sie ist die Kraft, den Widrigkeiten des Lebens ohne charakterliche Verluste zu trotzen. Das bedeutet selbstredend nicht, dass stets Widerstände vorhanden sein müssen, damit von Integrität die Rede sein kann. Die integre Person verkörpert lediglich den festen Entschluss, an dem, was ihr wichtig ist, auch dann festzuhalten, wenn einmal schwerwie­ gende Hindernisse auftreten sollten. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die selbstgestellte Forderung nach einer Übereinstimmung von Selbstbild und Lebensvollzug keineswegs bloß in eine Richtung zielt. Nicht nur muss retrospektiv das Auftreten einer Person mit deren Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen übereinstimmen. Die Person muss ihr Selbstbild immer auch prospektiv zum Ausdruck bringen wol­ len. Ein integrer Mensch meint nicht nur das, was er sagt und tut, er sagt und tut auch das, was er meint. Wer mit seinen Wertvorstellungen dauerhaft »hin­ ter dem Berg« hält oder sich in sein privates Schneckenhaus zurückzieht, wird schwerlich eine integre Person sein können. Das grundsätzliche Vorhaben ei­ ner Transformation eigener Überzeugungen in Wort und Tat muss sozusagen 35 | Rinderle (1994), S. 80. Wir kommen wiederholt auf diesen Punkt zurück. 36 | Man kann hier zwischen internen und externen Hindernissen, d.h. zwischen Störungen des individuellen Selbstverhältnisses (siehe Kapitel 3) und der Beziehung zu anderen Menschen (siehe Kapitel 4) unterscheiden.

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auf dem ethisch-existenziellen »Masterplan« stehen. Insofern ist das integre Leben nicht nur beherzt, sondern auch durch ein großes Maß an Konsequenz gekennzeichnet. Eine integre Person gibt sich somit nicht nur das jeweils konkrete Verspre­ chen, auf einem ganz bestimmten Vorhaben zu beharren. Sie unterliegt da­ rüber hinaus dem »höheren« Schwur, an der Gesamtheit ihrer Versprechen festzuhalten. Diese doppelte Selbstverpflichtung, auch unter Druck und gegen Widerstände identitätsstiftende Selbstverpflichtungen einzugehen und zu re­ alisieren, macht aus Selbsttreue ein »standhaltendes Wollen«37. Dies mag zu­ nächst so klingen, als sei personale Integrität eine gewöhnliche Tugend neben anderen.38 Diese Deutung greift jedoch zu kurz. Versteht man gemeinhin un­ ter »Tugend« eine charakterliche Disposition zum Guten, so muss personale Integrität als eine Art Meta-Tugend gedeutet werden, die als doppelte Selbstver­ pflichtung der Ausübung konkreter Tugenden vorausliegt.39 Integrität ist eine Handlungsorientierung zweiter oder besser noch dritter Stufe: Existenzielle Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen sind das Ergebnis eines reflektier­ ten Willens zweiter Ordnung, der, im Sinne Frankfurts, einfache Wünsche erster Ordnung will, während er andere verneint. Personale Integrität hinge­ gen ist ein abermals übergeordnetes Wollen dritter Stufe, das Ordnung in den Willen zweiter Ordnung bringt, der wiederum Wünsche erster Ordnung will. Selbsttreue ist als eine dauerhafte Meta-Verpflichtung gegenüber jeweils gut begründeten Einzelverpflichtungen anzusehen: »Personal integrity requires that an agent (1) subscribe to some consistent set of principles or commitments and (2), in the face of temptation or challenge, (3) uphold these principles or commitments, (4) for what the agent takes to be the right reasons.« 40

Dass manche Menschen in besonders dramatischen Lebenssituationen für ganz bestimmte ihrer Selbstverpflichtungen sogar größte Risiken bis hin zum eigenen Tod in Kauf zu nehmen bereit sind, mag diese Selbstbindungen zwar nicht schon als solche objektiv wertvoll bzw. für jeden anderen Menschen nachahmenswert erscheinen lassen. Gleichwohl kann dieser Umstand als unt­ rügliches Zeichen für die Unentbehrlichkeit eben dieser Grundvorhaben und 37 | Diesen Ausdruck verwendet in anderem Zusammenhang Martin Seel (2002a): »Sich bestimmen lassen. Ein revidierter Begriff der Selbstbestimmung«, in: ders. (2002b): Sich bestimmen lassen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 38 | Dieser Auffassung sind z.B. Cox/La Caze/Levine (2003). 39 | Vgl. Williams (1984b), S. 58f. 40 | McFall (1987), S. 9. Vgl. Christine McKinnon (1991): »Hypocrisy, with a Note on Integrity«, in: American Philosophical Quarterly, 4/1991. John Beebe (1995): Integrity in Depth, New York: Fromm International.

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Selbstverpflichtungen in eben deren Leben gedeutet werden. Dazu ein Beispiel: Am 16. Januar 1969 verbrannte sich der Prager Student Jan Palach aus Protest gegen die russische Besatzungspolitik öffentlich selbst. Tragische Überzeu­ gungstaten dieser Art machen deutlich, wie weit der Wunsch nach Integrität gehen kann. Sie markieren zugleich aber auch deren natürliche »Grenze«. Eine Person mag zum Zwecke des Erhalts ihrer Integrität deren biologische Grund­ lage riskieren, wenn ihr die unwidersprochene Fortsetzung des Lebens un­ möglich erscheint.41 Dass im Fall Palachs tausende Menschen zum Begräbnis eines zuvor vollkommen unbekannten Mannes kamen, macht zudem deutlich, dass solche Taten, selbst wenn sie zu unwiederbringlichen Verlusten führen, größte Bewunderung hervorrufen können. Damit sind wir bei der Frage ange­ langt, wie Selbsttreue von außen, d.h. von anderen Menschen wahrgenommen wird. Hier geht es um die soziale Wünschbarkeit inte­grer Lebensformen. Personale Integrität wird gemeinhin als Grundlage von Vertrauens-, Soli­ daritäts-, Freundschafts-, Rechts- oder auch Geschäftsbeziehungen geschätzt. Eine integre Person »steht« zu dem, was sie denkt, sagt und tut. Sie ist verläss­ lich, hält ihre Verpflichtungen ein und kümmert sich um ihr »Geschwätz von gestern«. Wir attestieren ihr Unbestechlichkeit. Eine integre Person wird in den Grundfesten ihres Charakters für so stabil und standhaft gehalten, dass wir davon ausgehen, sie werde sich jederzeit gegenüber Verführungs- und Mani­ pulationsversuchen immun zeigen. Gleichwohl besteht die Möglichkeit, durch Verlockungen oder sonstige Anreize vom Kurs der Selbsttreue abgebracht zu werden. Dabei können unterschiedliche Schweregrade eines aus der Außen­ perspektive entsprechend als negativ einzustufenden Mangels an Inte­grität benannt werden. Zu differenzieren ist zwischen einer »bestechlichen«, einer »korrupten« und einer »verkommenen« Person: Bestechlich ist ein Mensch dann, wenn er zwar eigene Grundüberzeugungen und Wertvorstellungen hat, sich aber gelegentlich aus Opportunitätserwägungen zu Ausnahmen hin­ reißen läst. Man denke hier etwa an eine ansonsten verlässliche Amtsperson im Tief bauamt, die, weil sie sich bei ihrem eigenen Hauskauf übernommen hat, einer Baufirma gegen Bares lukrative Aufträge zuschanzt. Dieselbe Per­ son ist jedoch als korrupt einzustufen, wenn diese Ausnahme zur Regel wird. Korrupte Menschen haben ihre Wertbindungen derart gelockert, dass sie sich um deren Realisierung kaum mehr kümmern. Bei Vorlage eines geeigneten Angebots lassen sie sich rasch gänzlich von ihrem Schlingerkurs abbringen. Demgegenüber kann ein Menschen als ethisch verkommen gelten, wenn er, wie

41 | McFall (1987), S. 12f. Ein weiteres berühmtes Beispiel ist Sokrates, der den Schierlingsbecher der Verbannung vorzog. Dazu George Kateb (1998): »Socratic Integrity«, in: Ian Shapiro/Robert Adams (1998) (Hg.): Integrity and Conscience, New York u. London: New York UP.

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z.B. der sogenannte Wendehals, überhaupt gar keine festen Überzeugungen besitzt und stattdessen sein Fähnchen in jeden neuen Wind hängt, um stets auf der sicheren Seite zu sein.42 Der zunächst vergleichsweise harmlos erscheinende Integritätsmangel der Bestechlichkeit, ist für die Selbsttreue deshalb am gefährlichsten, weil er der »Abhang« ist, an dem die integre Lebensform ins Rutschen gerät. Wer sich angesichts einer entsprechenden Verlockung temporär zur Abweichung von seinen Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen hinreißen lässt, wird zu­ künftig vielleicht auch weitere Ausnahmen zu machen bereit sein, sodass der erste Bestechungsversuch in Konsequenz zur Erosion des gesamten Charak­ ters führt.43 Allerdings sollte auch hier nicht, ähnlich wie schon im Fall der in Fundamentalismus ausartenden Selbsttreue, einer sturen und bornierten Persönlichkeit das Wort geredet werden. Ein integrer Mensch darf sich nicht so weit unter Kontrolle haben, dass er sich in seinen Grundfesten durch nichts und niemanden mehr irritieren lässt. Auch hier muss eine Schwelle der Inte­ grität angenommen werden, an der Selbsttreue in eine Art Beratungsresistenz umschlägt. Diese  – zweifellos riskante  – Hemmschwelle kann mit der Cha­ raktereigenschaft »flexibel« markiert werden. Vor allem aber ist zu beachten, dass eine Fremdzuschreibung oder -aberkennung von Inte­grität keineswegs nur von den Grundüberzeugungen des jeweiligen Betrachters ausgehen darf, sondern in erster Linie jene Wertsetzungen in Betracht zu ziehen hat, die von der jeweils zu beurteilenden Person für sich selbst in Anspruch genommen werden. Ob eine Person Integrität besitzt und Unbestechlichkeit demonstriert, hängt zuallererst davon ab, ob sie in Einklang mit ihren Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen lebt: »The role of ethical integrity is very different in the third person, however. When I consider what life is best for someone else, I must take his settled convictions into account, just as facts, in my judgement about what kind of life he should lead.« 44

Gleichwohl ist die Fremdzuschreibung personaler Integrität von der Selbstein­ schätzung der zu beurteilenden Person zugleich abhängig und unabhängig. 42 | Eine geniale Darstellung der Komik und Tragik derartigen Lebens gibt Woody Allen in Zelig (1982). Der Film handelt von einem unter extremen Minderwertigkeitsgefühlen leidenden menschlichen Chamäleon, das sich äußerlich und habituell jeder sozialen Umgebung anzupassen vermag. 43 | Carter (1997), S. 11. Ähnliches gilt für die »Lüge«: Wer einen anderen Menschen in einer wichtigen Angelegenheit belügt, wird sich später unter Umständen dazu genötigt sehen, diese Lüge mit weiteren Lügen abzusichern, wodurch die eigene Integrität ins Schwimmen gerät. Dazu Sissela Bok (1979): Lying, New York: Random House, S. 25ff. 44 | Dworkin (1990), S. 81.

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Zwar haben wir zunächst deren eigene Grundüberzeugungen in Betracht zu ziehen, doch mag unser Urteil darüber, ob die Person tatsächlich Integrität besitzt, von deren eigener Einschätzung abweichen. Es ist denkbar, dass wir einem Menschen Integrität attestieren, ohne dass er selbst sich für besonders integer hält. Hier wäre z.B. an eine uns überaus fromm und verlässlich erschei­ nende Person zu denken, die in ihrem Innern jedoch von heftigen Selbstzwei­ feln geplagt ist, weil sie glaubt, dem Gebot christlicher Nächstenliebe nicht zu genügen. Es ist jedoch ebenso möglich, dass andere einem Menschen Integri­ tät absprechen, obwohl er selbst sich als besonders integer erlebt. Man nehme den bekannten Fall eines Fußballtrainers, der aufgrund einer Haarprobe des Kokain-Konsums und damit der wiederholten Lüge überführt wird, obgleich er kurz zuvor in einem Interview vorgegeben hatte: »Integrität ist das höchste Lebensmotto«. An dieser Stelle, wo das Wechselverhältnis zwischen der Selbst- und Fremdzuschreibung von Integrität thematisch wird, stellt sich erneut die Frage, inwieweit sich personale Integrität mit sittlicher Konformität verträgt. Wenn eine Person sich sehnlichst wünscht, in den Augen anderer als integer zu gelten, dann mag sie sich zu Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen hingezogen fühlen, für die sie aus der Außenperspektive eine sichere Zustim­ mung zu erwarten hat. Der Verdacht, dass ein durchweg normenkonformes Leben auf ethischem Ödland grast, ist hier bereits geäußert worden. Allerdings sollte dabei differenziert werden: zwischen dem Inhalt eines ethisch-existen­ ziellen Selbstbildes und der Beziehung, die der jeweilige Mensch zu seinen Selbstverpflichtungen unterhält. Der Integritätsbegriff ist insofern »formal« zu verstehen, als der konkrete Inhalt der in Frage stehenden Wertvorstellun­ gen zunächst relativ unbedeutend ist. Diese Wertvorstellungen dürfen inhalt­ lich von den Konventionen abweichen, sie können aber durchaus auch kon­ ventioneller Natur sein. Für die spezifische Beziehung, die eine Person zu ihren Überzeugungen unterhält, gilt das hingegen nicht. Eine integre Person darf ihre Grundüberzeugungen nicht einfach unkritisch von anderen über­ nommen haben. Sie muss sich diese im Laufe ihres Lebens zu eigen gemacht oder besser angeeignet haben, und zwar nach einer aus freien Stücken vorge­ nommenen, niemals gänzlich abgeschlossenen Selbstprüfung.45 Daraus er­ gibt sich eine überaus wichtige Konsequenz: Wer von personaler Integrität im Sinne von Selbsttreue und Unbestechlichkeit spricht, der beurteilt nicht so sehr spezifische Selbstverpflichtungen im Einzelnen. Vielmehr ist der Ge­ samtcharakter einer Person im Visier, d.h. die persönliche Haltung, die sie zu ihren Grundüberzeugungen einnimmt, und zwar ganz gleich, ob diese nun inhaltlich konventionell oder aber unkonventionell sind. Vielleicht lehnen wir

45 | Vgl. McFall (1987).

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seine konkreten Selbstverpflichtungen ab, »but we may admire him at least for having the courage of his convictions.«46 Kann demnach in den Augen eines Betrachters, der sich politisch eher auf einer kommunistischen Plattform wähnt, selbst noch ein strammer Konserva­ tiver Integrität besitzen und umgekehrt? Es entspricht offenbar einer starken und nahezu alltäglichen Intuition, dass der Begriff der Integrität offen zu sein hat für die pluralistische Divergenz vorhandener Lebensorientierungen. Die Zuschreibung von Integrität darf keineswegs davon abhängig gemacht werden, ob der Zuschreibende selbst den Lebenswandel der betreffenden Person für nachahmenswert hält. Zugleich jedoch mag uns der nicht weniger alltägliche Verdacht beschleichen, dass personale Selbsttreue nicht vollständig in morali­ sche Beliebigkeit abgleiten darf. Es ist uns für gewöhnlich nicht vollkommen egal, welche spezifischen Wertvorstellungen der nach Integrität strebende Mensch verfolgt. Kann er ein »Schurke« sein, ein überzeugter Krimineller oder gar eine moralische Bestie? Zweifellos gibt es moralische Grenzen dessen, was wir an substanziellen Wertvorstellungen zulassen, wenn wir von der Integrität einer Person spre­ chen. Es zeigt sich also, dass die Analyse des bislang weitgehend in einem vormoralischen Sinn gedeuteten Integritätsbegriffes nun doch um die Frage nach etwaigen moralischen Restriktionen erweitert werden muss. So werden wir innerhalb der Integritätsanalyse von Fragen der Moral eingeholt, die wir mit Williams und dessen moralkritischen Überlegungen zunächst hatten aus­ klammern wollen. Bevor wir uns genau diesem Problem, d.h. der Frage nach der moralischen Verträglichkeit personaler Integrität, zuwenden, lassen sich die bisherigen Ergebnisse wie folgt zusammenfassen: Personale Integrität hat sich aus der Innenperspektive der betroffenen Person als Selbsttreue zu erwei­ sen, während entsprechende Integritätsmängel als Tendenz zur Depersonalisation erfahren werden. Aus der Außenperspektive hingegen wird Selbsttreue als Unbestechlichkeit wahrgenommen, während sich entsprechende Defizite in einem unterschiedlichen Ausmaß an Bestechlichkeit bemerkbar machen.

2.2 R echtschaffenheit und U nbescholtenheit Der im letzten Abschnitt umrissene Integritätsbegriff ist insofern als formal und vormoralisch aufgefasst worden, als der Zusammenhang von Selbst­ bild und Lebensvollzug nur dann einer Überprüfung standzuhalten hatte, wenn deren Einklang explizit in Frage stand. Eine genauere Spezifizierung

46 | Gabriele Taylor (1981): »Integrity«, in: Proceedings of the Aristotelian Society, Supplement 55/1981, S. 30.

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substanzieller Inhalte schien bislang nicht geboten. Im letzten Abschnitt ist jedoch zugleich deutlich geworden, dass im Rahmen von ethischen Selbst­ verständigungsprozessen mindestens zwei Sorten von Grundvorhaben kolli­ dieren können: präferenzielle und moralische Orientierungen. Mit präferen­ ziellen Überlegungen zielt eine Person auf die Beantwortung der Frage, was zu tun für sie am besten wäre. Moralische Reflexionen hingegen kreisen um das Problem, was zu tun mit Rücksicht auf andere geboten ist. Diesbezüglich war im letzten Abschnitt der Verdacht geäußert worden, dass die Integrität einer Person zwar keineswegs gänzlich in den sittlichen Wertvorstellungen ihrer Gesellschaft aufgehen darf, ja, dass mit Integrität gar eine gewisse Devi­ anz verträglich ist. Dennoch stehen die Mitglieder einer Gemeinschaft nicht vollkommen gleichgültig der Frage gegenüber, mit welchen Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen sie es beim jeweils anderen zu tun haben. Zwar sprechen wir einem Menschen nicht allein dann Integrität zu, wenn er, wie ein Heiliger, in einem umfassenden Sinn moralische Tugenden aufweist. Ja, wir können ihm in vielen Fällen auch dann noch Integrität attestieren, wenn er Werte vertritt, die auf die meisten von uns eher befremdlich bis abstoßend wir­ ken. Dennoch gibt es Ausnahmen, in denen der Lebenswandel einer Person uns moralisch derart bedenklich erscheint  – man nehme das Beispiel eines Verkäufers von Kinderpornographie –, dass wir beinahe sicher sind, ausschlie­ ßen zu können, dass die Integritätskategorie hier überhaupt noch anwendbar ist. Dazwischen gibt es zahlreiche Grenzfälle der Moral, die zugleich Grenzfäl­ le der Integrität in dem Sinn sind, dass hier fraglich wird, ohne dass es damit bereits ausgeschlossen wäre, ob wir noch immer Integrität attestieren können oder nicht: »The person of Integrity need not be a Gandhi but also cannot be a person who blows up buildings to make a point.« 47

Aus dem Umstand, dass Menschen in alltäglichen Entscheidungssituationen zwischen präferenziellen und moralischen Erwägungen schwanken können, sowie aus der Tatsache, dass wir in der Beurteilung personaler Integrität nicht gänzlich frei von moralischen Vorbehalten sind, ergibt sich die Notwendigkeit, Grenzen der moralischen Verträglichkeit integren Lebens auszuloten. Die Dringlichkeit dieser Klärung zeigt sich vor allem dort, wo, wie im Fall des poli­ tisch oder religiös motivierten Bombenlegers, Wertüberzeugungen ins Extrem gesteigert werden. Fanatiker und Schwerverbrecher sind gewillt, unbeirrt und notfalls mit Gewalt ihre Pläne zu verwirklichen. Offenbar verstoßen sie damit gegen elementare Intuitionen, die mit dem Begriff der Integrität verknüpft sind.

47 | Carter (1997), S. 7. Vgl. G. Taylor (1985); Calhoun (1995).

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Um welche Intuitionen jedoch handelt es sich? Solange die Frage unbeantwor­ tet bleibt, ob und inwieweit das integre Leben spezifisch moralischen Restrikti­ onen unterliegt, muss es sich bei personaler Integrität, wie John Rawls kritisch angemerkt hat, um eine Ansammlung von Charaktereigenschaften handeln, die selbst der »Tyrann« vorweisen kann.48 Zunächst mag es nahe liegen, mit Blick auf die Spannung zwischen präfe­ renziellen und moralischen Erwägungen von einem grundsätzlichen Konflikt zwischen zwei Formen von Integrität – einer ethisch-existenziellen und einer spezifisch moralischen  – auszugehen. Die Alternative würde dann lauten: Entweder man ist sich selbst treu oder aber man ist moralisch integer.49 Die­ se Dichotomisierung ist jedoch verfehlt. Moralische Integrität darf nicht, wie sich nun zeigen wird, als Gegenspielerin einer spezifisch ethischen Integrität konzeptionalisiert werden, sie muss vielmehr als deren Bestandteil gedeutet werden. Moralische Integrität ist ein »Minimum« an Normenkonformität, das die Selbsttreue aufweisen muss, um auch aus der Perspektive anderer als Integrität gelten zu dürfen. Angesichts der Gefahr, dass Selbsttreue in Rück­ sichtslosigkeit umschlägt, zieht die Idee moralischer Integrität Grenzen sozi­ aler Verträglichkeit. Aber verlassen wir damit endgültig das Feld einer strikt formalen Analyse, da nunmehr substanzielle moralische Restriktionen im Raume stehen? Beginnen wir direkt mit der Fremdzuschreibung von moralischer Integri­ tät, denn dabei handelt es sich um Fragen von konkreter sittlicher Tragweite. In der Alltagssprache sind mit dem Integritätsbegriff spezifisch moralische Bedenken häufig dann verbunden, wenn Mitmenschen sich danach erkun­ digen, ob eine Person sich im Laufe ihres Lebens etwas hat »zu Schulden« kommen lassen. Ist dies nicht der Fall, so wird ihr eine »weiße Weste« und vor allem »Unbescholtenheit« attestiert. Diese Klassifizierungen zielen offen­ kundig nicht bloß auf die formal gehaltene Frage, ob die betreffende Person in Einklang mit ihren Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen lebt, vielmehr unterzieht die beurteilende Person die Lebensgeschichte und den Lebenswan­ del der beurteilten Person einer explizit moralischen Bewertung. Ein Mensch gilt als unbescholten oder moralisch integer, wenn man ihm öffentlich nichts vorzuwerfen hat, wenn er frei von »Schimpf und Tadel« ist. Die Feststellung

48 | Rawls (1975), S. 564. 49 | Vgl. McFall (1987). Einen überwiegend moralischen Integritätsbegriff vertreten Peter Winch (1972a): »Moral Integrity«, in: ders. (1972b): Ethics and Action, London: Routledge; Herman (1983); Korsgaard (1996).

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einer derart »unbefleckten« Reputation kann dann so weit gehen, der betref­ fenden Person »Reinheit« und »Unschuld« des Gewissens zu unterstellen.50 Aus der Betroffenenperspektive vermag man sich solchen moralischen Be­ urteilungsverfahren schwerlich zu entziehen, solange man darauf angewiesen ist, in soziale Anerkennungsverhältnisse eingebunden zu sein.51 Auch wenn sich das eigene Leben niemals gänzlich mit Moral und Sittlichkeit zur De­ ckung bringen lässt, werden Personen doch in der Regel ein Interesse daran haben, in der jeweiligen Gemeinschaft, in der sie leben, nicht als völlig ruchlos oder verdorben zu gelten. Von extremen oder gar soziopathischen Ausnahmen einmal abgesehen, kann es aus der Binnensicht des nach Integrität strebenden Menschen allein deshalb zu einem tiefgreifenden Konflikt zwischen präferen­ ziellen und moralischen Erwägungen kommen, weil stets schon die folgenden beiden Bedingungen erfüllt sind: Personen gestehen sich einerseits ein gewis­ ses Eigenrecht auf die Verfolgung ihrer jeweils spezifischen Lebenspläne zu, von denen sie wissen, dass sie mit den Anforderungen von Moral und Sittlich­ keit in Konflikt geraten könnten. Anderseits gestehen sie aber auch der Moral ein gewisses Eigenrecht zu, da deren Gültigkeit offenbar nicht von dem beson­ deren Wohlverhalten einzelner Personen abhängig gemacht werden darf.52 Als das vernünftige Resultat eines derart gedoppelten und zunächst paradox an­ mutenden Rechtsempfindens ist die Bereitschaft anzusehen, sich im Rahmen der eigenen ethisch-existenziellen Grundsatzentscheidungen stets auch auf spezifisch moralische Überlegungen einzulassen, an denen sich die jeweils zu treffende Entscheidung wird messen lassen müssen. Damit erhält aus Sicht der Betroffenen die Moral selbst den Status einer ethischen Selbstverpflichtung, und zwar in Gestalt der Bereitschaft zu einem fortgesetzten Perspektivenwechsel zwischen Fragen nach dem, was präferenziell am besten wäre, und dem, was aus Sicht anderer geboten ist. Diese Bereitschaft, sich an der Moral bzw. an den jeweils vorherrschenden Sittlichkeitsvorstellungen der eigenen Gemeinschaft zumindest zu orientie­ ren, dient nicht zuletzt dem Ziel, in den Rang einer moralisch integren Person aufzusteigen. Was aus der Außensicht der Fremdzuschreibung als Unbeschol­ tenheit charakterisiert wird, stellt sich aus der Binnensicht der nach Integrität strebenden Person als Tendenz zur »Rechtschaffenheit« dar. Wer sich um die soziale Verträglichkeit der eigenen Lebensvollzüge sorgt, wer darüber hin­ aus gar zum moralischen Gelingen seiner Gemeinschaft aktiv beitragen will, folgt dem Bedürfnis, sich im Rahmen seiner Lebensvollzüge als ein nicht nur 50 | Auf den hier bereits anklingenden katholischen Diskurs um »Unschuld« und »Unbeflecktheit« kommen wir im letzten Abschnitt dieses Kapitels zurück. 51 | Dazu mehr in Kapitel 4. 52 | Zum ersten Punkt siehe Eric Mack (1993): »Personal Integrity, Practical Recognition, and Rights«, in: The Monist, 1/1993; zum zweiten Punkt s. Abschnitt 4.1.

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Rechte genießendes, sondern auch das Rechte schaffendes Mitglied der Gemein­ schaft erfahren zu können. Wer hingegen nicht zur Rechtfertigung seiner Le­ bensvollzüge bereit ist, wird moralische Integrität von vornherein vermissen lassen.53 Gewiss sind damit noch immer keine substanziellen Angaben über das moralische Minimum gemacht, das der rechtschaffene und unbescholtene Mensch vorzuweisen hat, dennoch treten erste Aspekte der individuellen »Mo­ tivation« zur Moral in den Vordergrund: Die nach Integrität strebende Person ist deshalb an einer spezifisch moralischen Inte­grität interessiert, weil es ihr ein grundlegendes Anliegen ist, Lebensorientierungen vorweisen zu können, die mit den Ansichten und Interessen ihrer Mitmenschen nicht unnötig kol­ lidieren. Demnach muss, wie schon vermutet, die moralische Integrität einer Person als genuiner Bestandteil ihrer Gesamtintegrität aufgefasst werden und nicht als deren Gegenspieler. Personen sind nicht, wie Williams vermutet hat, zwischen ihrer personalen Integrität einerseits und externen moralischen Erwägungen anderseits zerrissen, vielmehr ist der Konflikt zwischen präfe­ renziellen und moralischen Erwägungen innerhalb der Integrität selbst anzu­ siedeln. Zwar kann es sein, dass die moralische Integrität gegenüber anderen Aspekten der Persönlichkeit – etwa deren professioneller, intellektueller, reli­ giöser, politischer oder künstlerischer Integrität 54 – von der Person selbst als vordringlicher und normativ höherwertig eingestuft wird und im Konfliktfall einen gewissen Trumpfcharakter besitzt. Gleichwohl wird das Streben nach Rechtschaffenheit aus der Binnenansicht der Betroffenen als nur ein Grund­ vorhaben neben anderen erfahren: »But if morality is an aspect of integrity which not all persons of integrity possess but ought to strive for, then the moral commitments persons of integrity should strive to develop are part of their (full) integrity. Persons of integrity are committed to integrity that includes morality«. 55

Eine Person, die nach Integrität strebt, findet sich immer schon in ein Netz so­ zialer Wechselbeziehungen eingelassen, und sie hofft, darin für ihre Überzeu­ gungen Akzeptanz oder wenigstens Toleranz zu erfahren. Gleichwohl kann sie nicht schon davon ausgehen, für ihre Lebensvollzüge stets ein umfassendes 53 | Es mag Menschen geben, die an moralischer Integrität, d.h. an Rechtschaffenheit, nicht sonderlich interessiert sind. Sie werden Integrität im umfassenden Sinne nur dann besitzen können, wenn sie wenigstens das im Folgenden zu umreißende moralische Minimum erfüllen. 54 | Dazu Albert W. Musschenga (1998): »Personal and Moral Integrity«, unveröffentlichtes Ms.; Cox/La Caze/Levine (2003), Kap. 4. 55 | Ramsay (1997), S. 16. Der Standpunkt der Integrität ist eben nicht schon mit dem der Moral identisch. Dazu mehr in Abschnitt 4.1.

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Einverständnis im Sinne einvernehmlicher Zustimmung zu erhalten. Andere müssen dem Lebenswandel einer Person, der sie Integrität bescheinigen, nicht schon derart emphatisch zustimmen können, dass sie diesen für unbedingt nachahmenswert halten. Dennoch sollten sie die entsprechenden Überzeu­ gungen und Wertsetzungen zumindest insoweit nachvollziehen können, dass sie dem betreffenden Menschen vor dessen spezifischem Hintergrund unterstel­ len können, dass er seine Lebensweise mit hinreichend guten Gründen zu ver­ treten vermag. Man sollte demnach, im Sinne von Rawls, von der Möglichkeit eines »reasonable disagreement« in ethisch-existenziellen Fragen ausgehen: Mit Blick auf die Integrität einer Person muss auf Seiten anderer lediglich so etwas wie Verständnis, Akzeptanz oder wenigstens Toleranz vorliegen. Es wäre jedoch zu viel verlangt, stets auch ein umfassendes Einverständnis fordern zu wollen.56 Um dies zu verstehen, sollte mit Blick auf die Rechtfertigung eines konkre­ ten Lebensvollzuges zwischen »guten Gründen«, »hinreichend guten Grün­ den« und »vollständig guten Gründen« unterschieden werden. Gründe sind Urteile oder Sachverhalte, mit denen eine Person ihre Äußerungen, Hand­ lungen oder ihr sonstiges Verhalten zu rechtfertigen versucht. Gut sind diese Gründe dann, wenn die dabei vorgebrachten Annahmen das zu Begründen­ de tatsächlich zu stützen vermögen. Argumente, die anderen oder gar einem selbst unplausibel erscheinen, sind zwar Gründe, schwerlich aber gute. Hinreichend gut sind diese Gründe dann, wenn sie eine weitere Rechtfertigung obsolet werden lassen. Sie brauchen aber, wie gesagt, lediglich zu Akzeptanz und Verständnis seitens der anderen führen, damit diese von weiteren Fragen absehen, aber nicht schon zu deren vollkommenem Einverständnis im Sinne der Bereitschaft, diesen Gründen ebenfalls zu folgen. Aus der ethisch-existen­ ziellen Sicht der anderen können diese Gründe noch immer ablehnenswert erscheinen. Dagegen liegen vollständig gute Gründe allein dann vor, wenn aus Sicht dieser anderen Personen überhaupt gar keine weiteren guten Gründe ab­ zusehen sind, die jene zu übertrumpfen vermögen. Zwar beglaubigen solche Gründe nicht schon die »objektive Wahrheit« der darin zum Ausdruck kom­ menden Annahmen, doch erweisen sie sich im jeweils strittigen Kontext für alle als zwingend und nachahmenswert. Was aber bedeuten diese Unterscheidungen für die Integritätsproblema­ tik? Um moralische Integrität besitzen zu können, d.h. um als rechtschaffen bzw. unbescholten gelten zu dürfen, reichen »gute« Gründe nicht schon aus, es müssen jedoch auch keine »vollständig guten« Gründe vorhanden sein, die den Diskurspartner sogleich zu einem ethischen Kurswechsel nötigen wür­ den. Es genügen »hinreichend gute« Gründe, die für alle nachvollziehbar sind

56 | Dazu McFall (1987); Rinderle (1994).

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und die zu einem Abbruch der weiteren Befragung führen. Demnach können wir von moralischer Integrität im Sinne der Rechtschaffenheit und Unbeschol­ tenheit dann sprechen, wenn die betreffende Person in ihrem Lebensvollzug ersichtlich um die Rechtfertigbarkeit ihres Tuns mit hinreichend guten Grün­ den bemüht ist. Zum Selbstverständnis integrer Personen gehört ein affirmati­ ves Verhältnis zur Teilnahme an einer mit anderen geteilten Lebensform sowie die Bereitschaft, für ihr Verhalten notfalls gute Gründe anzuführen, d.h. für ihre Äußerungen und Handlungen »gerade zu stehen«.57 Integrität äußert sich als Praxis einer verantwortlichen Selbstüberprüfung und Selbstbeschränkung nach Maßgabe einer Orientierung an auch von anderen geteilten Standards der Rechtfertigung. Im Hinblick auf die Frage nach dem moralischen Minimum der Integrität führen diese Überlegungen jedoch zu einem eher ernüchternden Ergebnis: Die moralische Grenze integren Lebens wird sich auf theoretischem Wege gar nicht unabhängig von den konkreten sittlichen Wertvorstellungen der jeweiligen Gemeinschaft bestimmen lassen, in denen dieses Leben geführt wird. Was im Einzelnen als moralisch verträglich gilt bzw. toleriert werden kann und was nicht, hängt wesentlich von der konkreten Sittlichkeit eben je­ ner Umstände ab, in denen es zu moralischen Meinungsverschiedenheiten kommt.58 Um noch mit Rechtschaffenheit und Unbescholtenheit vereinbar zu sein, muss die in Frage stehende Eigenschaft, Wertvorstellung, Handlung etc. gerade noch für moralisch erträglich gehalten werden, obwohl sie aus der spezifisch präferenziellen Sicht der anderen abgelehnt wird. Die Schranke, an der die Fremdzuschreibung moralischer Integrität halt macht, befindet sich dort, wo ethisch anstößige Eigenschaften oder Wertvorstellungen sittlich to­ leriert werden müssen, weil die Person als Person trotz allem noch Respekt verdient. Da der Anspruch auf moralische Integrität stets in konkrete soziale Kontexte eingelassen ist, wird die Grenze integren Lebens daher nicht durch das bestimmt, was idealiter – im Sinne einer abstrakten Philosophenmoral der Unparteilichkeit – moralisch wäre, sondern durch das, was de facto in den je­ weiligen Kontexten für sittlich tolerabel gehalten wird. Damit bleibt die Formalität der Integritätsanalyse auch noch im Hinblick auf deren moralische Grenzen durch eine, wenn man so will, »diskursethi­ sche« Zusatzprämisse bewahrt: Was substanziell als moralisch nicht mehr tragfähig oder auch, juristisch ausgedrückt, als »sittenwidrig« gilt, kann nicht schon von der philosophischen Analyse vorweggenommen werden. Der ma­ teriale Gehalt eines Minimums moralischer Integrität ist Verhandlungssache 57 | Calhoun (1995); Roughley (1996). 58 | Sieht man einmal ab von eher unumstrittenen, kulturübergreifenden Normen wie dem Verbot der Tötung aus niedrigen Beweggründen oder dem Gebot der Vermeidung unnötigen Leids.

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derjenigen, die um die Anerkennung ihrer jeweiligen Ansprüche auf Integrität streiten. Damit liegt sogleich die Frage auf der Hand, wie die Mitglieder eines Gemeinwesens mit ihren Integritätsansprüchen öffentlich zu verfahren ha­ ben, wenn gravierende moralische Meinungsverschiedenheiten auftreten. Die Idee moralischer Integrität setzt offenkundig einige eher formale, kommuni­ kationstheoretische Konsistenzerwägungen voraus.59 Integre Diskurspartner müssen sich angesichts moralischer Konflikte grundsätzlich diskussionsbereit und anderen Meinungen gegenüber aufnahmefähig zeigen. Sie haben zudem mit der Möglichkeit zu rechnen, dass sie sich im Zuge dieser Auseinander­ setzungen zu Kurskorrekturen an ihrer Vorstellung von Integrität veranlasst sehen. Darüber hinaus müssen sie sich gegenseitig unterstellen dürfen, dass sie den jeweiligen politischen Konsequenzen zustimmen werden, die sich aus ihren jeweils eigenen Überzeugungen ergeben mögen. Demnach, so können wir zusammenfassen, fußt das moralische Mini­ mum der Integrität nicht nur auf der Bereitschaft zu einer ethisch-existenziel­ len Rechtfertigungspraxis unter Berücksichtigung möglicher Interessen ande­ rer, sondern auch auf dem Respekt vor einer Schnittmenge konkreter sittlicher Grenzziehungen.60 Selbstredend kann von niemandem erwartet werden, dass er seine Selbstverpflichtungen, Äußerungen und Handlungen stets und stän­ dig öffentlich begründet. Die Forderung nach Rechtfertigung ist allein dann zulässig, wenn die Interessen anderer berührt sind und schädliche Auswirkun­ gen auf deren Integrität zu befürchten sind. Darüber hinaus sollte der integre Mensch allein schon deshalb nicht unentwegt oder gar zwanghaft sinnieren, weil es ebenso zu einem Leben in Integrität gehört, handlungsfähig zu bleiben und »zur Sache zu kommen«. Unter Umständen kann dies sogar bedeuten, auch dann aktiv zu werden, wenn zu befürchten ist, dass andere nicht werden zustimmen können. Die Beherztheit und Konsequenz, die man von einer inte­ gren Person erwartet, können diese sogar dazu drängen, gezielt gegen geltende Regeln zu verstoßen. Wenn dafür in erster Linie präferenzielle, selbstbezogene Motive ausschlaggebend sind, kann von Trotz, Devianz oder auch Renitenz die Rede sein, wird dabei so etwas wie eine »höhere« Moral ins Spiel gebracht, d.h.

59 | Amy Gutmann/Dennis Thompson (1990): »Moral Conflict and Political Consensus«, in: Douglass/Mara/Richardson (1990), S. 136ff. 60 | Hier geht es ausdrücklich nicht, wie etwa bei Rawls, um einen »übergreifenden Konsensus« im Sinne einer Schnittmenge gemeinsam geteilter Werte, sondern um einen Bereich der Toleranz, dessen Grenze zwischen gerade noch verträglichen und nicht mehr erträglichen Wertvorstellungen verläuft.

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eine andere Gerechtigkeit als jene, die sittlich vorherrscht, so kann von Opposi­ tion und Rebellion bis hin zur Revolution gesprochen werden.61 Es kann also geschehen, dass sich eine Person aufgrund von Integritätser­ wägungen dazu genötigt sieht, ihre »Unschuld« aufzugeben, d.h. an morali­ scher Integrität einzubüßen. Wenn hier von »Unschuld« die Rede ist, so kann damit selbstredend bloß menschenmögliche Rechtschaffenheit und Unbeschol­ tenheit gemeint sein. Da eine Rückkehr in ursprüngliche Unschuld vor dem »Sündenfall« undenkbar ist, nimmt das Konzept irdischer Rechtschaffenheit und Unbescholtenheit deren säkularen Platz ein: Rechtschaffen ist diejenige Person, die ihre Lebensvollzüge hinreichend an moralischen Prinzipien aus­ richtet. Als unbescholten kann sie darüber hinaus dann angesehen werden, wenn ihre Mitmenschen ihr nichts vorzuwerfen haben.62 Als unschuldig kann ein Mensch heute allenfalls dann gelten – sieht man einmal vom strafrechtli­ chen Gebrauch des Wortes ab –, wenn er rechtschaffen und unbescholten ist, ohne sich dessen bewusst zu sein: »Integrity requires a self-knowledge which innocence cannot possess.«63 Hinsichtlich der Frage, wie ein entsprechender Verlust an Rechtschaffen­ heit aus der Binnenperspektive der betroffenen Person erfahren wird, müssen mindestens zwei negative Falltypen unterschieden werden. Wenn eine Person einer anderen ungewollt einen Schaden zugefügt hat, können Schuldgefühle und Reue, in weniger gravierenden Fällen ein schlechtes Gewissen aufkom­ men. Gänzlich anders geartet sind Situationen, in denen sich eine Person nahezu gezwungen sieht, eine moralisch bedenkliche oder gar verwerfliche Tat zu vollbringen, gerade um ihre Integrität zu retten. Man denke hier etwa an den im Anschluss an Immanuel Kant viel diskutierten Fall der »Notlüge« oder auch an Lawrence Kohlbergs berühmtes »Heinz-Dilemma«, in dem der gleichnamige Ehemann einer krebskranken Frau steckt, der in eine Apotheke einzubrechen gedenkt, um ein teures Medikament zu stehlen. In Fällen die­ ser Art ist im Rahmen der Integritätsdebatte häufig treffend vom Phänomen 61 | Im ersten Fall wäre an einen Künstler zu denken, der vermeintlich »unmoralische« Werke produziert, im zweiten Fall an Sophokles’ Antigone. 62 | Es ist zu bedenken, dass die jeweilige Gemeinschaft, die eine derartige Zuschreibung vornimmt, im Besitz einer »falschen« Moral sein kann. In Zeiten der Diktatur können Menschen als vorbildlich gelten, die in Rechtsstaaten bloß Verachtung finden würden. Leider kann ich die damit aufgeworfene Frage, ob das moralische Minimum der Integrität nicht letztlich doch auf eine Rechtfertigungsgemeinschaft verweist, die den sittlichen Kontext konkreter Gemeinschaften in Richtung einer Weltgesellschaft transzendieren würde, hier nicht weiter behandeln. Den entsprechenden Hinweis verdanke ich Klaus Roth. 63 | Peter Johnson (1988): Politics, Innocence, and the Limits of Goodness, London u. New York: Routledge, Kap. 1, hier S. 15.

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»schmutziger Hände« die Rede. Hier wird ein Verlust an moralischer Integri­ tät im Sinne der Rechtschaffenheit gezielt in Kauf genommen, um dadurch die Integrität insgesamt zu bewahren.64 Dies führt uns zu der Einsicht, dass eine integre Person Einbußen an mo­ ralischer Integrität erleiden kann, ohne damit sogleich ihre Gesamtintegrität zu verlieren. Auch aus der Außensicht der Fremdzuschreibung von Unbe­ scholtenheit sind dabei zwei negative Falltypen zu unterscheiden. Im ersten Fall fügt ein Mensch einem anderen auf unmoralischem Wege einen Schaden zu und lädt Schuld auf sich. Er überschreitet die Grenzen des moralisch Erträg­ lichen und »befleckt« seine »weiße Weste«. Fälle des zweiten Typs sollen an folgendem Beispiel illustriert werden: Der Argentinier Diego Armando Mara­ dona, seinerzeit einer der besten Fußballspieler der Welt, erzielt im Viertelfina­ le der Fußballweltmeisterschaft 1986 in Mexiko ein entscheidendes Tor gegen den Erzfeind England. Allerdings nimmt er dabei, für Kameras und Zuschau­ er kaum merklich, regelwidrig die Hand zur Hilfe. Der Schiedsrichter lässt das Tor gelten. Auf die Frage eines Reporters, wie es zu diesem Tor gekommen sei, antwortet Maradona: Die »Hand Gottes« sei im Spiel gewesen. Mit diesem Beispiel ist ironisch ein wichtiger moralischer Integritätsman­ gel angezeigt, und zwar buchstäblich: die Scheinheiligkeit. Im Fall Maradona kann nicht wirklich von einer infamen Lüge die Rede sein, eher von einer Mischung aus charmanter Tatsachenverdrehung und größenwahnsinniger Selbststilisierung. Der scheinheilige Mensch täuscht andere über seine  – in Wahrheit: unmoralischen – Motive hinweg, und zwar in Hinsichten, die für die Getäuschten – in diesem Fall: Gegner und Zuschauer – wichtig sind.65 Ihm ist daran gelegen, die Wahrnehmungen anderer zu seinen Gunsten zu mani­ pulieren, um vor allem sich selbst dadurch in ein möglichst günstiges Licht zu rücken. Während der integre Mensch daran interessiert ist, nach seinen eigenen Wertmaßstäben zu leben, geht es dem scheinheiligen eher darum, dass andere glauben, er lebte nach ihren. Die integre Person handelt aus eigener Überzeugung, die scheinheilige aus der moralischen Selbstgefälligkeit heraus, als ein guter Mensch dastehen zu wollen.66 Scheinheilige Menschen wollen vor allem den Eindruck moralischer Integrität erwecken, indem sie letztere bloß simulieren. In Wahrheit sind sie heuchlerisch nach außen, selbstsüchtig und selbstgefällig nach innen. Werden sie durchschaut, stoßen sie auf größte Ab­ 64 | Michael Stocker (1990a): »Dirty Hands and Ordinary Life«, in: ders. (1990b): Plural and Conflicting Values, Oxford: Oxford UP; G. Taylor (1981). 65 | Von der »Unaufrichtigkeit« wäre die Scheinheiligkeit vor allem dahingehend zu unterscheiden, dass erstere sich auch auf nicht-moralische Angelegenheiten beziehen kann. 66 | Bernard Mayo (1978): »Moral Integrity«, in: Godfrey Vesey (1978) (Hg.): Human Values, Sussex: Harvester; Williams (1984b); Blustein (1991).

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lehnung, weil sie eine Gefahr für das System der Moral insgesamt darstellen. Sie untergraben die Idee des Guten, indem sie sich besser darstellen, als sie es in Wahrheit sind.67 Fassen wir diesen Abschnitt zunächst zusammen: Moralische Integrität in dem hier erläuterten Sinne sittlicher Tolerierbarkeit muss als ein korrigieren­ der Teilaspekt personaler Integrität begriffen werden. Der Konflikt zwischen präferenziellen und spezifisch moralischen Selbstverpflichtungen ist der In­ tegrität keineswegs äußerlich. Aus der Binnensicht der Betroffenen wird mo­ ralische Integrität als Rechtschaffenheit erfahren. Ein entsprechender Mangel ist als das Phänomen schmutziger Hände beschrieben worden. Aus der Pers­ pektive der Fremdzuschreibung wird in positiver Hinsicht Unbescholtenheit, in negativer Hinsicht vor allem Scheinheiligkeit attestiert. Das geforderte morali­ sche Minimum der Integrität lässt sich wie folgt charakterisieren: Die integre Person muss ihre moralischen Konflikte hinreichend reflektieren und an den Toleranzgrenzen ihrer sittlichen Gemeinschaft ausrichten, auch wenn die Mo­ ral selbst dabei das Nachsehen haben kann. Die integre Person zielt nicht allein auf das moralisch Gute, sondern auf das für sie alles in allem Gute. Worin dieses jedoch besteht, kann nicht schon auf theoretischem Wege vorweggenommen werden: »[P]ersons of integrity will characteristically maintain a consistent commitment to do what is best – all things considered – and this normally involves acting in the appropriate manner at distinct and separate points in time.« 68

Das bedeutet jedoch auch, dass eine Person nicht auf integre Weise das Schlechte oder Böse wollen kann. Sie hat das Gute im Sinn, selbst wenn sich im Nachhinein herausstellen sollte, dass es das Schlechte war. Damit ist ein konzeptioneller Mittelweg eingeschlagen, der zwischen einer subjektivisti­ schen Integritätstheorie, die sämtliche Wertsetzungen dem Individuum selbst überlassen würde, und einem objektivistischen Ansatz, der die Integrität auf ein konkretes, allgemein menschliches Gutes einzuschwören versuchte, hin­ durchführen soll. Entscheidend für die Integrität ist allein die Disposition zum Guten. Der integre Mensch muss das Gute subjektiv tun wollen, wenn er es auch objektiv verfehlen kann. Die Reflexion auf das Gute schließt moralische Erwägungen stets mit ein, obgleich diese keineswegs immer obsiegen müssen. Die Bedingungen personaler Integrität sind bereits dann eingehalten, wenn

67 | McKinnon (1991). 68 | Halfon (1989), S. 49.

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eine Person ihre Entscheidungen hinreichend kritisch prüft und anschließend nicht wissentlich und willentlich das Schlechtere tut.69 Dieser Ansicht ließe sich der Verdacht entgegenhalten, dass am Ende oh­ nehin jeder Mensch, nicht nur der integre, subjektiv das Gute will, auch wenn er objektiv verwerflich handelt. Wenn dies stimmen würde, so könnten wir allenfalls einem pathologischen Amoralisten oder Soziopathen moralische In­ tegrität absprechen. Denkt man jedoch an Personen, die ihren Mitmenschen regelmäßig und sehenden Auges einen Schaden zufügen, sei es aus Neid, Hass, Rache oder auch nur aus einem moralischen Trittbrettfahrerkalkül heraus, so erweist sich der Verdacht als falsch. Es ist davon auszugehen, dass diese Men­ schen in der Regel wissen, dass sie immer wieder aus egoistischen Motiven etwas moralisch Bedenkliches oder gar Unrechtes tun. Eben damit kommen sie als Kandidaten für moralische Integrität kaum mehr in Frage.70 Nehmen wir dazu den im Zusammenhang der Integritätsproblematik häu­ fig diskutierten Extremfall Adolf Eichmann. Im Zuge seines Strafverfahrens in Jerusalem wurde Eichmann nicht müde zu betonen, dass er stets ein Ide­ alist mit festen Prinzipien gewesen sei.71 Gleichwohl erscheint es uns so, als könne Eichmann so etwas wie Integrität gar nicht besessen haben, weil wir seine – im Resultat: tödlichen – Prinzipien für absolut verachtenswert halten. Diese Einschätzung ist richtig und falsch zugleich. Zweifelsohne finden wir die Nazi-Komplizenschaft Eichmanns widerwärtig. Moralische Integrität kann er daher nicht besitzen. Aber neigen wir deshalb schon dazu, ihm insgesamt Integrität abzusprechen? Ist es nicht vielmehr so, dass wir uns schlicht nicht vorstellen können, dass Eichmann selbst mit dem Wissen um seine Mittäter­ schaft hat leben können? In einer von Hannah Arendts Beobachtungen zur »Banalität des Bösen« 72 angeregten filmischen Dokumentation des Gerichts­ verfahrens73 wird deutlich, was den eigentlichen Integritätsmangel Eichmanns begründet. An einer entscheidenden Stelle des Prozesses gesteht Eichmann den Anklägern ausdrücklich zu, dass ihm sein unbedingter Gehorsam allein durch »Abspaltung« des Wissens um die daraus resultierenden Gräueltaten möglich gewesen sei. Damit liegt folgender Verdacht nahe: Nicht dass er ver­ werflich gehandelt hat, raubt ihm seine Integrität, sondern die Tatsache, dass 69 | Siehe neben Halfon (1989) auch Susan M. Babbit (1996): Impossible Dreams: Rationality, Integrity, and Moral Imagination, Boulder: Westview, bes. S. 115ff. Eine »perfektionistische« Theorie vertritt dagegen Ramsay (1997). 70 | Ein sogenannter Schwarzfahrer mag ein sympathischer Mensch sein, moralische Integrität besitzt er nicht. Er spürt das selbst, und zwar bei jedem neuen Bahnhof, in den er einfährt. 71 | Margalit (1997), S. 69ff. 72 | Hannah Arendt (1964): Eichmann in Jerusalem, München: Piper. 73 | Siehe Ein Spezialist (1998, Regie: Eyal Sivan).

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er dieses Handeln am Ende nicht in sein idealistisches Selbstbild hat integrieren können. So hart es zunächst klingen mag: Die Vermutung, die wir später noch eingehender klären werden, muss lauten, dass ein Mensch mit seiner moralischen Unbescholtenheit nicht schon seine Integrität als Ganze einbü­ ßen muss, solange er seine Unmoral für letzten Endes hinreichend gut begründet hält. Dies würde nach dem eben Erläuterten voraussetzen, dass die Person selbst wahrhaftig davon überzeugt sein muss, das Gute zu tun, ohne sich dabei in Selbstwidersprüche zu begeben. Auch wenn das freilich eher selten der Fall sein dürfte, völlig undenkbar ist es nicht: »In view of these constraints, it is improbable that a Nazi qua Nazi could possess the virtue of integrity. But it may not be impossible.« 74

Demnach muss weder der insgesamt integre Mensch vollständig moralisch integer sein, noch muss der moralisch integre Mensch deshalb schon Inte­ grität im Ganzen aufweisen. Ersterer ließe Moral vermissen, letzterer dagegen Charakter. Die im ersten Abschnitt behandelte Fremdzuschreibung von Unbe­ stechlichkeit ist von der in diesem Abschnitt diskutierten Fremdzuschreibung von Unbescholtenheit zugleich abhängig und unabhängig: Unbestechlichkeit ist abhängig von Unbescholtenheit, insofern es dem Zuschreibenden nicht voll­ kommen egal sein kann, ob der nach Integrität strebende Mensch auch mora­ lisch integer ist. Unbestechlichkeit ist unabhängig von Unbescholtenheit, weil jene doch in seltenen Fällen auch ohne moralische Integrität denkbar ist. Ob­ gleich wir diesen Widerspruch erst in Kapitel 4 werden auflösen können, geht die Verwendung der Integritätskategorie, deren moralisches Minimum hier ergründet werden sollte, damit bereits in eine dritte Bedeutungsdimension über: Aus der Gesamtsicht personaler Integrität ist unmoralisches Verhalten nicht so sehr wegen seiner Inhalte problematisch, sondern vor allem deshalb, weil mit ihm das Unvermögen einhergehen kann, die eigenen Widersprüche noch in ein und dasselbe ethisch-existenzielle Selbstbild einzufügen. Ange­ sichts derartiger innerpsychischer Konflikte wird Integrität als Integriertheit zum Problem.

74 | Halfon (1989), S. 135. Eichmann hätte nicht abspalten müssen, wenn er voll und ganz von seinem Handeln überzeugt gewesen wäre. Offensichtlich war er es nicht.

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2.3 I ntegriertheit und K ohärenz Aus der letztlich untilgbaren Spannung zwischen präferenziellen und mora­ lischen Erwägungen ergibt sich die zentrale Einsicht, dass ein vollkommen konsistentes Selbstbild und Werteverständnis ohne jede Form von Konflik­ thaltigkeit unwahrscheinlich ist; wenn man einmal von äußerst einfältigen oder durchweg konformistischen Lebensformen absieht. Personen, die nach Integrität streben, sehen sich für gewöhnlich mit der ethisch-existenziellen Aufgabe konfrontiert, eine bestmögliche Integration von zum Teil widerstrei­ tenden Lebensorientierungen in ein einheitliches Selbstbild erst noch herbei­ zuführen.75 Allerdings zeigt es sich rasch, dass diese Integrationsanforderung nicht allein auf dem eben umrissenen Konflikt zwischen präferenziellen und moralischen Integritätserwägungen beruht. Im Leben können durchaus auch gänzlich andere Orientierungen, z.B. intellektuelle, wissenschaftliche, künst­ lerische, ästhetische, politische oder auch religiöse Motive, aufeinanderpral­ len.76 Dazu vorab ein Beispiel: Dem schottischen Spitzensportler Eric Liddell ist mit dem in den 1920er-Jahren spielenden Film Chariots of Fire (1984, Regie: Hugh Hudson) ein Denkmal gesetzt worden.77 Als sich herausstellt, dass der von Liddell lang ersehnte Olympia-Qualifikationslauf auf den heiligen Sonn­ tag fällt, ist der hauptberuflich als christlicher Missionar tätige Läufer zerris­ sen zwischen seiner Integrität als Sportler und seiner Integrität als gläubigem Christen. Schweren Herzens entscheidet er sich gegen seine Teilnahme am Wettbewerb, mit der Begründung, Gott habe ihm sein Talent geschenkt, daher sei es wichtiger, Gott zu ehren, als im irdischen Wettbewerb zu siegen. Am Ende wird es Liddell gestattet, in einem anderen Laufwettbewerb anzutreten, und er gewinnt die Goldmedaille. Diese Geschichte mag kitschig anmuten, doch sie lässt deutlich werden, dass in ein und derselben Person unterschiedliche Formen von Integrität in Spannung stehen können, ohne dass es sich dabei stets um einen Konflikt zwischen präferenziellen und moralischen Überlegungen handeln muss. Dass ein umfassend konsistentes Selbstverständnis daher schwer erreichbar sein dürfte, ergibt sich aber noch aus einem weiteren Grund: Nicht nur gibt es Spannungen zwischen unterschiedlichen Typen von Selbstverpflichtungen, sondern immer auch eine Konkurrenz an Orientierungen innerhalb dieser Typenklassen. Eine Person mag sich z.B. mit einem inner-religiösen Konflikt 75 | Dazu vorab die empirische Studie von Anne Colby/William Damon (1993): »Die Integration des Selbst und der Moral in der Entwicklung moralischen Engagements«, in: Wolfgang Edelstein/Gertrud Nunner-Winkler/Gil Noam (Hg.) (1993): Moral und Person, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 76 | Vgl. Cox/La Caze/Levine (2003), Kap. 4. 77 | Dazu Halfon (1989), S. 54f.

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konfrontiert sehen, wenn sie sich konfessionell umzuorientieren beginnt. Ein Politiker trägt einen intern moralischen Widerstreit mit sich aus, wenn er sich fragt, ob er auf das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit setzen oder stattdessen für mehr solidarische Umverteilung plädieren soll. Das »Faktum des Plura­ lismus« 78 gilt nicht nur auf der gesellschaftlichen Ebene eines individuellen Nebeneinanders umfassender Vorstellungen vom Guten, sondern auch in der existenziellen Dimension individueller Selbstverständigung, d.h. innerhalb des individuellen Werteverständnisses ein und derselben Person.79 Ein durchweg unerschütterliches Überzeugungsgerüst ist daher in einem doppelten Sinn unwahrscheinlich. Die ethisch-existenzielle Orientierung an unterschiedlichen Werten und Werttypen führt zu kleineren und größeren Spannungen im individuellen Selbstverständnis, die sich dauerhaft gar nicht vermeiden lassen. Damit darf allerdings nicht schon ausgeschlossen sein, dass am Ende nicht doch so etwas wie eine Einheit in das individuelle Selbstbild ge­ bracht werden kann. Das immer schon »zerrissene« Leben lässt den Wunsch spürbar werden, »daß man es in der Erzählung ordnen will«.80 Gemeint ist der Versuch, auf narrativem Wege einen biographischen Gesamtzusammenhang herzustellen, in dem die Konflikte und Widersprüche des eigenen Lebens »aufgehoben« sind und erklärbar werden. Dazu bedarf es einer sprachlichen Artikulationsfähigkeit, die auf dem Wege ethisch-existenzieller Selbstverstän­ digung, d.h. im Zuge einer Art Autobionarration, einen lebensgeschichtlichen Zusammenhang herzustellen vermag. In konzeptioneller Hinsicht sollte daher an die Stelle einer überzogenen Vorstellung von völliger Konfliktfreiheit und Konsistenz die Idee eines »integrierten« und »kohärenten« Selbstverständ­ nisses treten. Dadurch werden die zum Teil disparaten Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen einer Person trotz bestehender Spannungen »als Aus­ druck der reflektierten Stellungnahme ein und derselben Person« erkennbar.81 Damit sind zwei wichtige konzeptionelle Eckpfeiler eingeschlagen: der Wunsch nach einer sinnstiftenden Einheitsbildung zum einen, die Idee auto­ bionarrativer Artikulationsfähigkeit zum anderen. Daraus ergibt sich das Leit­ bild einer sprachlich vermittelten Integration des je eigenen Lebenszusammen­ hangs, womit wir bei der dritten Dimension des Integritätsbegriffes angelangt 78 | Diese Diagnose geht vor allem auf Isaiah Berlin und John Rawls zurück. 79 | Vgl. Christoph Menke (1993a): »Die Vernunft im Widerstreit. Über den richtigen Umgang mit praktischen Konflikten«, in: Christoph Menke/Martin Seel (Hg.) (1993): Zur Verteidigung der Vernunft gegen ihre Liebhaber und Verächter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 80 | Dieter Thomä (1998): Erzähle dich selbst, München: Beck, hier S. 20. 81 | Vgl. Honneth (1993a): »Dezentrierte Autonomie«, in: Menke/Seel (1993), dessen Überlegungen allerdings auf einen erneuerten Begriff personaler Autonomie zielen. Auf das, was ich Autobionarration nenne, kommen wir in Abschnitt 3.2 zurück.

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wären. Aus der Innenansicht der betroffenen Personen ist dieses Leitbild als Bedürfnis nach Integriertheit beschreibbar.82 Unausweichliche Konflikte und Widersprüche auf der horizontalen Achse der eigenen Lebensgeschichte, aber auch Veränderungen oder gar Brüche auf der vertikalen, lassen Prozesse einer ethisch-existenziellen Selbstverständigung notwendig werden. In deren Ver­ lauf werden die Unstimmigkeiten im eigenen Leben auf »höherer« narrativer Stufe aufgehoben und in einen möglichst stimmigen lebensgeschichtlichen Gesamtzusammenhang eingegliedert: »Hier können wir nun einen weiteren wichtigen Bedeutungsgehalt von Integrität hinzufügen: […] Durch unser Selbstverständnis können wir selbst dann, wenn sich in unserem Leben ein radikaler Wandel ereignet, eine Kontinuität in unserer Lebensgeschichte herstellen. Anders gesagt, selbst wenn es Brüche in unserem Leben gibt – gestern noch Trotzkist, heute ein Konservativer –, werden diese durch unsere Lebensgeschichte in ein übergeordnetes Ganzes aufgenommen.« 83

Ein überaus enger Bezug dieser dritten Begriffsbedeutung zu den zuvor er­ läuterten Integritätsaspekten der Selbsttreue und Rechtschaffenheit ergibt sich vor allem dann, wenn wir bedenken, dass ein narrativer Zusammenhang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oft deshalb hergestellt werden soll, damit klar wird, in Einklang »mit was« die betreffende Person leben will. Während die Aspekte Selbsttreue und Rechtschaffenheit primär auf die Dimension der Realisierung eines ethisch-existenziellen Selbstbildes bezogen sind, betrifft der Aspekt der Integriertheit dessen Gewinnung. Wenn Inte­griertheit bedeutet, dass die betreffende Person in etwa weiß, wer sie ist und sein möchte, dann muss eine hinreichend integrierte Lebensgeschichte als notwendige Bedingung für den Vollzug eines Lebens in Übereinstimmung mit den eigenen Selbstverpflichtungen und überdies in sozialverträglichen Bahnen aufgefasst werden. Dabei meint Integriertheit nicht bloß die Zusam­ menführung vieler zum Teil divergenter Einzelbezüge zu einer in sich weitge­ hend stimmigen Einheit, sondern auch die Übereinstimmung jedes einzelnen dieser Bezüge mit dem, was wir insgesamt für unser »Selbst« halten. Anders ausgedrückt: Die einzelnen Lebensvollzüge sollen nicht nur mit den jeweils

82 | Einen derart psychologischen Integritätsbegriff favorisiert auch der älteste mir bekannte Debattenbeitrag: James Gutman (1945): »Integrity as a Standard of Valuation«, in: Journal of Philosophy, 8/1945. Siehe aber auch McFall (1987); Martin Benjamin (1990): Splitting the Difference. Compromise and Integrity in Ethics and Politics, Lawrence: Kansas UP. 83 | Margalit (1997), S. 165. Ein ganz ähnlicher Integritätsbegriff findet sich bei Anthony Giddens (1991): Modernity and Self-Identity, Oxford: Blackwell.

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anderen Lebensvollzügen zusammenpassen, sondern mit dem, was unser Selbst ist.84 Wenn eine Person zur Praxis autobionarrativer Selbstverständigung nicht fähig oder auch nur nicht bereit ist, dann fehlt ihr die vielleicht wichtigste Voraussetzung für eine sinnvolle Orientierung im Leben. Ist der Aspekt der Integriertheit damit als notwendige Bedingung der Aspekte Selbsttreue und Rechtschaffenheit ausgewiesen, so gilt zugleich auch umgekehrt, dass letztere Bedeutungsdimensionen notwendige Hinsichten der lebensgeschichtlichen In­ tegration darstellen. Integriertheit ist ein Integritätskriterium zweiter Stufe, in dem sich die beiden Integritätskriterien erster Stufe – Selbsttreue und Recht­ schaffenheit  – lebensgeschichtlich reflektieren. Der Wunsch, ein Leben in Übereinstimmung mit dem eigenen standhaltenden Wollen sowie in sittlich tolerierbaren Bahnen zu führen, gibt einen doppelten roten Faden ab, an dem sich die autobionarrative Reflexion und Selektion orientiert. Das Streben nach Integriertheit soll »in der Zeit« der eigenen Lebensgeschichte einen sinnvollen Zusammenhang zwischen jenen Aspekten stiften, die »im Raum« gegenwärti­ ger Lebensorientierungen auf einen Einklang von Selbsttreue und Rechtschaf­ fenheit zielen. Die Autobionarration, so kann man es kurz fassen, integriert Episoden des Strebens nach Selbsttreue und Rechtschaffenheit. Was aus der Binnensicht der Individuen als Integriertheit beschrieben wer­ den kann, stellt sich aus der Fremdperspektive als »Kohärenz« dar.85 Kohärenz bedeutet weit mehr als nur die sichtbar werdende Kongruenz von Selbstbild und Lebensvollzug. Gemeint ist eine von den Betroffenen stets aufs Neue herzustellende und zu demonstrierende Einheit ihrer jeweiligen Persönlich­ keit und Geschichte. Personale Integrität ist von dem Vermögen getragen, die eigenen Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen sowie die Erinnerung an deren lebensgeschichtliche Entwicklung in eine Ordnung existenzieller Wichtigkeit und Dringlichkeit zu bringen. Nicht nur die Person selbst, auch ihre Bezugspersonen wollen erfahren, welche Persönlichkeitsanteile für das Handeln der betreffenden Person maßgeblich sind und auch zukünftig maß­ geblich sein werden. Autobionarrative Selbstintegration ist immer auch eine Prioritätensetzung – sowohl nach innen wie nach außen – angesichts konkur­ rierender Wertorientierungen und nicht immer stimmiger lebensgeschichtli­ cher Entwicklungen.86 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass angesichts ethisch-existenzieller Konflikte und Widersprüche nicht bloß Strategien der autobionarrativen Til­ gung entsprechender Unstimmigkeiten zum Zuge kommen. Konflikte und Widersprüche sind im Leben ohnehin nur selten gänzlich zum Verschwinden 84 | Diesen Hinweis verdanke ich Christoph Menke. 85 | Dazu besonders McFall (1987). 86 | Harris (1999); Blustein (1991).

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zu bringen. Häufig sind die vom jeweiligen Selbstverständnis abweichenden Motive und Bestrebungen schlicht zu stark.87 In Fällen dieser Art kann eine Art »Separation« weiterhelfen: Auf dem Wege ethisch-existenzieller Selbstver­ ständigung verschafft die betreffende Person sich Klarheit darüber, mit wel­ cher der widerstreitenden Überzeugungen oder Bestrebungen sie sich »von ganzem Herzen« identifizieren kann und mit welcher nicht.88 Auch wenn sich die bei dieser Klärung unterlegene Bestrebung dadurch nicht schon vollstän­ dig zum Verstummen bringen lässt, kommt es dabei doch zu einer autobio­ narrativen Isolierung jener irgendwie als »fremd« erfahrenen Bestrebungen von den wahrhaft integralen Bestandteilen des eigenen Selbstverständnisses. Personen, die mit sich und ihren Grundvorhaben ins Gericht gehen, brauchen keineswegs frei von jeglicher Ambivalenz zu sein. Sie müssen sich lediglich darüber klar zu werden versuchen, auf »welcher Seite« sie stehen: »A person who makes up his mind also seeks thereby to overcome or to supersede a condition of inner division and to make himself into an integrated whole. But he may accomplish this without actually eliminating the desires that conflict with those on which he has decided, as long as he dissociates himself from them.« 89

Separation darf hier nicht als »Abspaltung« im psychologischen Sinne einer völligen Verdrängung unliebsamen Wissens  – wie im Fall Eichmann  – ver­ standen werden, sondern schwächer als »Absonderung«. Die Person bleibt sich ihrer derart isolierten Persönlichkeitsanteile bewusst, um sie gezielt handhaben zu können. In diesem Sinne ist Separation mit Integrität vereinbar, auch wenn wir dabei an deren Grenze stoßen. Fraglich ist, an welchem Punkt Separation in pathologische Abspaltung umschlägt, und wie solche psychischen Erfah­ rungen zu beschreiben wären.90 Ähnlich wie in den letzten beiden Abschnit­ ten, in denen Selbsttreue nicht ohne Depersonalisation und Rechtschaffenheit nicht ohne »schmutzige Hände« denkbar gewesen sind, muss auch der dritte Integritätsaspekt der Integriertheit eine negative Kehrseite aufweisen. Wendet man sich zunächst der Binnensicht der Betroffenen zu, dürften Erschütte­ rungen des eigenen Selbstbildes und damit verknüpfte Gefühle der Konfusi­ on eine eher alltägliche Erfahrung sein. Diese kann von harmlosen Verwir­ 87 | Man nehme das Beispiel eines zölibatären Priesters, von dem kaum anzunehmen ist, dass er niemals in Versuchung gerät. 88 | Harry G. Frankfurt (1988c): »Identification and Wholeheartedness«, in: ders. (1988b). 89 | Frankfurt (1988c), S. 174. 90 | Wie schmal z.B. der Grad zwischen dem postmodernen Plädoyer für patchwork identities und einer Kritik psychopathologischer Zerrüttung ist, macht unfreiwillig Davion (1991) deutlich.

Bedeutungsdimensionen der Integrität

rungen bis hin zu schweren Zusammenbrüchen reichen. Für die Bandbreite unterschiedlich schwerwiegender Konfusionen bietet sich der psychologisch konnotierte Sammelbegriff der »Desintegration« an.91 Angesichts von autobio­ narrativem Stress besteht für die Integrität einer Person stets die Gefahr exis­ tenzieller Fassungslosigkeit. Als kurzfristig und überdies alltäglich wäre diese Verwirrung dann einzustufen, wenn es der Person gelingt, rasch wieder zu sich selbst »zurückzufinden« und die momentanen Unstimmigkeiten in das eigene Selbstverständnis zu reintegrieren. Als gravierender, aber auch seltener sind solche Konfusionen dann anzusehen, wenn die autobionarrative Rein­ tegration dauerhaft fehlschlägt. Der längerfristig fassungslose Mensch mag sich dazu genötigt sehen, die widersprüchlichen Erfahrungen seines Lebens in unterschiedliche Parzellen seines Selbstverständnisses wegzusperren und die Erinnerung an verbliebene Widersprüche auszublenden, um nicht daran zu zerbrechen. Ein Leben, in dem solche Unstimmigkeiten vorhanden sind, ist nicht mehr aus einem Guss: »Desires and beliefs can occur in a life which consists merely of a succession of separate moments, none of which the subject recognizes – either when it occurs or in anticipation or in memory – as an element integrated with others in his own continuing history. When this recognition is entirely absent, there is no continuing subject.« 92

Nicht selten sind verdrängte Desintegrationserfahrungen nur noch von außen als Widersprüche im betreffenden Lebensvollzug erkennbar. In Fällen dieser Art wäre von »Inkohärenz« zu sprechen. Als vielleicht auffälligstes Symptom eines nach außen hin inkohärenten Charakters gilt in der Integritätsdebatte das Phänomen »shallowly sincere«.93 Der bloß oberflächlich aufrichtige Mensch de­ monstriert Wertbindungen, die dem Beobachter seltsam willkürlich anmuten, weil derselbe Mensch in vergleichbaren Situationen mit genau dem gleichen Enthusiasmus völlig andere Überzeugungen an den Tag legt. Betrachtet man den Fall eines gesinnungslosen Aktienspekulanten, der mit großer Verve jedes Unternehmen anpreist, das ihm einen momentanen Kursgewinn verspricht, ganz gleich, ob es sich um einen Rüstungskonzern oder um ein umweltfreund­ liches Unternehmen handelt, so ist erneut eine Verschiebung des Integritäts­ problems gegenüber den ersten beiden Begriffsdimensionen festzustellen. Während es in den Negativfällen von Bestechlichkeit und Scheinheiligkeit zu 91 | Vgl. Harris (1997), S. 4f. 92 | Frankfurt (1988a), S. 83. Als klassischer Fall kann Henrik Ibsens Wildente gelten. Zum Problemgehalt siehe Taylor (1981). Dazu kritisch Raimond Gaita (1981): »Integrity«, in: Proceedings of the Aristotelian Society, Supplement 55/1981. 93 | Der Begriff geht zurück auf Herbert Fingarette (1969): Self-Deception, New York: Humanities.

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Diskrepanzen zwischen Selbstbild und Lebensvollzug kommt, demonstriert die bloß oberflächlich aufrichtige, inkohärente Person Unstimmigkeiten innerhalb ihres nach außen getragenen Selbstbildes. Sie mag stets mit großem Ernst bei der Sache sein, doch sie kümmert sich nicht um die Kompatibilität ihres jeweiligen Erscheinungsbildes. Es scheint der Person gleichgültig zu sein, ob sie sich an früheren Äußerungen und Handlungen messen lassen muss. Die Inkohärenz, die sie aufweist, wird ihrerseits nicht weiter begründet oder gar aufgelöst.94 Damit können wir diesen Abschnitt zusammenfassen: Von den Bedeu­ tungsdimensionen Selbsttreue und Rechtschaffenheit ist eine dritte, eher psy­ chologische Verwendung des Integritätsbegriffes zu unterscheiden, die dem Umstand Rechnung trägt, dass für ein Leben in Integrität ein ethisch-existen­ zielles Selbstverständnisses notwendig ist, das auf dem Wege autobionarrati­ ver Selbstreflexion gewonnen und angesichts von unvermeidlichen Konfusi­ onen im Leben ständig reintegriert werden muss. Aus der Innenperspektive der integren Person kommt dieses Ideal als Bedürfnis nach Inte­g riertheit zum Tragen, während gravierende Abweichungen als Erfahrungen der Desintegration beschrieben werden können. Aus der Perspektive der Fremdzuschreibung spricht man von einem Charakter, der Kohärenz aufweist, während ein konfu­ ses oder widersprüchliches Auftreten entsprechend den Verdacht der Inkohärenz weckt. Insgesamt sollte jedoch nicht übersehen werden, dass ein ethisch-existen­ zielles Selbstbild derart »entschlackt« werden kann, dass die autobionarrative Integration der Persönlichkeit auf eher bequeme Weise möglich wird. Perso­ nen, die zahlreiche und zum Teil konfligierende Selbstbindungen aufweisen, werden es mit der Integriertheit ihrer Lebensgeschichte weitaus schwerer ha­ ben als jene, die ihr Selbstbild, um mögliche Konflikte bereits im Ansatz zu vermeiden, auf nur sehr wenige Grundvorhaben zurechtstutzen. Fraglich ist, ob ein derart »überschaubares« und im ethischen Sinne wohl auch ärmeres Leben mit Integrität vereinbar ist. Nicht nur wird ein solches Leben aufgrund seiner Schlichtheit stets die Tendenz aufweisen, in Einfalt abzugleiten. Vor allem aber ist anzunehmen, dass Integrität als Problem überhaupt erst dann auftauchen kann, wenn es im Leben einer Person – zumindest vereinzelt – zu gravierenden ethisch-existenziellen Konflikten kommt. Die Frage personaler Integrität wird sich gar nicht stellen, wenn die betreffende Person nicht eine gewisse Widerständigkeit des Lebens erfährt. Erst aus dieser Widerständig­ keit resultiert die Notwendigkeit einer Reintegration auseinander driftender Persönlichkeitsanteile. In jedem Fall aber sollte das, worum es in Vorgängen autobionarrativer Integration und Reintegration geht, nicht mit dem letztlich

94 | Vgl. G. Taylor (1981).

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ängstlichen Bedürfnis verwechselt werden, Lebensvollzüge vereinfachen, Widersprüche glätten und Unstimmigkeiten übertünchen zu wollen. Der integre Mensch strebt nach einer integrierten Persönlichkeit, die trotz aller potenziellen Konfusionen des Lebens weit eher auf mutige Diversität als auf konfliktscheue Schlichtheit ausgerichtet wäre. Die Notwendigkeit einer Rein­ tegration eigener Selbstbeschreibungen angesichts ethisch-existenzieller Ver­ wirrungen zielt nicht auf eine völlige Beseitigung lebenspraktischer Unstim­ migkeiten, sondern auf deren »Aufhebung«. Verbleibende Ungereimtheiten brauchen dabei keineswegs verschwiegen zu werden. Zweck der Autobionar­ ration ist die Integration unterschiedlichster Persönlichkeitsanteile und Le­ bensvollzüge nicht in ein vollkommen konsistentes, sondern in ein kohärentes großes Ganzes. Mit eben dieser Idee eines »großen Ganzen« ist dann auch der Übergang zu eben jener Verwendung des Integritätsbegriffes bereitet, auf die wir bereits gegen Ende des ersten Kapitels gestoßen sind. Das zuletzt diskutierte Ideal der Integriertheit zielt offenkundig auf eine in Selbstverständigungsprozessen herzustellende sowie von Widersprüchen und Widerständen möglichst unbe­ einträchtigte Einheit des ethisch-existenziellen Lebenszusammenhangs. Eben diese Einheit scheint es gewesen zu sein, die im ersten Kapitel in sozialphi­ losophischer Perspektive als ein »unverzerrtes Selbstverhältnis« beschrieben wurde, dessen Fragilität hervorgehoben werden sollte.

2.4 G anzheit und U nversehrtheit Während das Ideal der Integriertheit den aktivischen Aspekt der Herstellung eines intakten Lebenszusammenhangs betont, ist im ersten Kapitel darauf hingewiesen worden, dass man im Rahmen der Sozialphilosophie auf die Ver­ wendung des Integritätsbegriffes zumeist dort trifft, wo auf die Notwendigkeit des Schutzes ethisch-existenzieller Selbstverhältnisse gegenüber Angriffen von außen rekurriert wird. Es ist der als fundamental zu bewertende Umstand, dass die Integrität von Personen äußerst fragil und verletzbar ist, der immer dann anklingt, wenn etwa von einem »Recht auf Schutz der Inte­grität von Leib und Leben« die Rede ist.95 In sozialpathognostischer Hinsicht kommt dem Integritätsbegriff daher ein primär defensiver Charakter zu. Was hier betont werden soll, ist der Aspekt einer prinzipiellen Versehrbarkeit personaler In­ tegrität sowie die Tatsache, dass die Integrität einzelner Personen von deren

95 | In Artikel 2, Absatz 2, des Grundgesetzes ist bekanntlich ein »Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit« festgeschrieben. In rechtsdogmatischen Kommentaren wird dies häufig in ein »Recht auf Schutz der Integrität« übersetzt.

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schonendem Umgang untereinander abhängt. Dabei ist bereits ein allgemei­ ner Wunsch nach »Ganzheit« im Sinne eines ungestörten Selbstseins unter­ stellt worden, von dem es hieß, dass er in Gestalt eines normativen Ideals nahe­ zu allen der derzeit diskutierten sozialphilosophischen Begründungsansätzen inhärent sei; selbst noch jenen, die den Integritätsbegriff gar nicht verwenden. Nun stellt sich die Frage, was genau unter diesem Bedürfnis nach Ganzheit zu verstehen ist. Zudem wäre zu klären, wie sich diese vierte Dimension des Integritätsbegriffes zu den drei übrigen Bedeutungen verhält. Zunächst ist auffällig, dass der Integritätsbegriff in sozialphilosophischen Zusammenhängen zwar häufig und oftmals auch an zentraler Stelle fällt, dass er aber nur selten einen genaueren Bedeutungsgehalt zugewiesen bekommt.96 Offenbar wird der Integritätsbegriff für derart selbstverständlich gehalten, dass sich jede weitere Klärung zu erübrigen scheint. Dass aber diese Ansicht verfehlt ist, dürfte hier bereits deutlich geworden sein. Blicken wir von diesem Punkt aus noch einmal auf jene Debattenbeiträge zurück, die wir in den letz­ ten drei Abschnitten diskutiert haben, so wird bei genauerem Hinsehen deut­ lich, dass nicht selten auch dort schon die Bedeutungsdimension der Ganzheit anklingt, ohne aber jemals systematisch eigenständig behandelt zu werden. Zumeist geht die Integritätsanalyse ohne Umstände in die Betrachtung der Selbsttreue, Rechtschaffenheit oder Integriertheit über, oder aber es kommt zu verwirrenden Mischanalysen, in denen die eigentümlich defensive Bedeutung der Ganzheit vollständig untergeht.97 Ein Auszug aus einem der zentralen Bei­ träge zur Integritätsdebatte vermag dies zu illustrieren: »While on the first interpretation ›integrity‹ appears to be a label for a selected set of moral virtues, on the second interpretation it seems rather a label for a special application of these virtues, viz, honesty about and loyalty to one’s own principles. But the notion of integrity may also be approached not by picking out such moral qualities as are normally associated with it, but by thinking of the person possessing integrity as being the person who ›keeps his inmost self intact‹, whose life is ›of a piece‹, whose self is whole and integrated. My claim is that it is this view of integrity which is the fundamental

96 | Siehe z.B. Axel Honneth (1990c): »Integrität und Mißachtung«, in: Merkur, 501/ 1990; Seel (1996a); Margalit (1997); Otfried Höffe (2002): Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München: Beck, Kap. 3.3.1. 97 | In der bis dato umfassendsten Integritätsstudie von Cox/La Caze/Levine (2003) wird sogar verneint, dass Integrität etwas mit »Ganzheit« zu tun habe. Mit dem zweifellos richtigen Hinweis, Phänomene der »Desintegration« seien aus einem Leben in Integrität nicht wegzudenken, wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Die in der vorliegenden Untersuchung vorausgesetzte Grundintuition, dass Integrität gleichwohl auf Ganzheit zielt, geht dort gänzlich verloren.

Bedeutungsdimensionen der Integrität one. The person of integrity keeps his self intact, and the person who lacks integrity is corrupt in the sense that his self is disintegrated.« 98

Hier klingen sämtliche der vier Begriffsdimensionen auf einmal an, ohne dass deren Unterschiede und Zusammenhänge hervortreten würden. Die Versuchung mag groß sein, die Unvermitteltheit der ethischen, moralischen, psychologischen und sozialphilosophischen Verwendungsweisen des Integri­ tätsbegriffes auf den Umstand zurückzuführen, dass die unterschiedlichen Disziplinen nur unzureichend miteinander in Kontakt stehen. Demnach han­ delte es sich bei der Bedeutung der Ganzheit nur um einen Begriffsaspekt neben anderen, der überdies so selbstverständlich anmutet, dass er nicht ei­ gens geklärt zu werden braucht. Wollte man dieser Deutung jedoch folgen, so geriete der überaus bedeutsame Umstand aus dem Blick, dass es sich bei der Ganzheit nicht bloß um eine alternative, sondern – wie selbst die eben zitierte Gabriele Taylor in ihrer Verwirrung vermutet – um eine »fundamentale« Be­ deutung des Integritätsbegriffes handelt, vor deren Hintergrund die jeweils anderen Verwendungsweisen überhaupt erst ihren Sinn erhalten. Allerdings zeigt sich im Umgang mit der Ganzheitsidee sogleich eine konzeptionelle Schwierigkeit, die auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass diese vierte Begriffsdimension auf den Bedeutungsgehalt der anderen drei Verwendungsweisen immer schon auf vermeintlich widersprüchliche Weise bezogen ist: Einerseits, so wird sich zeigen, muss der Aspekt der Ganzheit als das ethisch-existenzielle Resultat eines auch in den drei übrigen Dimensio­ nen intakten Lebenszusammenhangs verstanden werden, anderseits will der Aspekt der Ganzheit zugleich auch das existenzielle Fundament und damit eine unhintergehbare Voraussetzung für ein Leben in Integrität benennen. Während dieser konzeptionelle Widerspruch erst gegen Ende des Rekurses vollständig zur Auflösung kommen kann, soll hier der Aspekt der Ganzheit zunächst noch etwas eingehender beleuchtet werden. Wir waren im Anschluss an den Abriss zeitgenössischer sozialpathognostischer Begründungsansätze zu dem Ergebnis gekommen, dass diesen allen, gewissermaßen als kleinster gemeinsamer Nenner, eine Idee menschlichen Wohlergehens zugrunde liegt, die als »unverzerrte Form der Selbstverwirklichung« beschrieben werden kann. Mit dieser Formel war eine von inneren und äußeren Zwängen mög­ lichst unbeeinträchtigte Selbst- und Weltbeziehung bezeichnet, die allein dann »intakt« genannt werden kann, wenn die betreffende Person in Einklang mit einer möglichst transparenten Bedürfnisstruktur und weitgehend unbehelligt von den schädlichen Einflüssen gesellschaftlicher Pathologien ein überwie­ gend selbstbestimmtes Leben zu führen vermag. Hatte sich dort bereits der

98 | G. Taylor (1981), S. 143f.

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Integritätsbegriff als passendes Etikett angeboten, so sehen wir nun, dass mit diesen ersten, noch recht intuitiven Bestimmungen bereits einige jener zen­ tralen Merkmale personaler Integrität benannt worden sind, die in den drei folgenden Abschnitten des zweiten Kapitels ausführlicher zur Sprache kamen. »Selbstbestimmung« und »Freiheit von Zwang« haben offenkundig etwas mit Selbsttreue zu tun. Rechtschaffenheit kann in den Aspekt einer »unbeein­ trächtigten Weltbeziehung« hineingelesen werden. »Transparente Bedürfnis­ struktur« lässt sich durchaus mit Integriertheit übersetzen. Insofern liegt der Verdacht nahe, dass die sozialphilosophische Verwendung der Integritätska­ tegorie so interpretiert werden muss, dass sie den Aspekt der Versehrbarkeit personaler Integrität in den drei Hinsichten der Selbsttreue, Rechtschaffenheit und Integriertheit betonen soll. Demnach rekurriert die Sozialphilosophie auf den Umstand, dass Men­ schen sich angesichts der in ihrer Gemeinschaft herrschenden Lebensbe­ dingungen so sehr in ihren Lebensvollzügen eingeschränkt fühlen können, dass sie ihre Lebenssituation als Angriff auf die Einheit und Intaktheit ihrer Person empfinden, gerade weil ihnen ein Leben erstens in Übereinstimmung mit den eigenen Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen, zweitens in sozial verträglichen Bahnen und schließlich drittens auf Basis eines möglichst inte­ grierten Selbstbildes unmöglich zu werden droht. Was bislang beinahe in der gesamten Integritätsdebatte unklar geblieben ist, kann demnach wie folgt ge­ kennzeichnet werden: Integrität im Sinne der Ganzheit muss als eine Art psy­ chophysische oder auch »ganzheitliche« Gemütsverfassung gedeutet werden, die aus der umfassenden Gewissheit resultiert, angesichts der vorfindlichen gesellschaftlichen Umstände ein Leben zu führen, das aus Sicht der Betroffe­ nen alles in allem wünschenswert erscheint. Ganzheit ist demnach weniger als Zustand integren Lebens, sondern vielmehr als Stimmung zu interpretieren, in der das Leben als »Ganzes« in den Blick kommt und Personen ihre »Bezie­ hung zur Welt subjektiv wertend vor dem Hintergrund des eigenen Wollens« als insgesamt affirmierungswürdig erfahren.99 Auch wenn sich schwerlich angeben lässt, wodurch genau sich eine solche Stimmung positiv auszeich­ net, muss die Gemütsverfassung der Ganzheit als Erlös oder auch als Beloh­ nung für ein Leben begriffen werden, das nicht zuletzt in den Hinsichten der Selbsttreue, der Rechtschaffenheit und der Integriertheit Befriedigung oder gar Erfüllung bringt. In negativer Hinsicht ließe sich diese Gemütsverfassung beispielsweise durch die Abwesenheit ernsthafter Unzufriedenheit, gravieren­ der Sorgen, nervöser Unruhe, depersonalisierender Entfremdungstendenzen, schwerwiegender Konfusionen oder auch schmerzlich unerfüllter Ambitionen

99 | So Ursula Wolf im Anschluss an Martin Heidegger in: dies. (1993a): »Gefühle im Leben und in der Philosophie«, in: Fink-Eitel/Lohmann (1993), S. 121.

Bedeutungsdimensionen der Integrität

charakterisieren. Eine positive Stimmung der Ganzheit kann sich in jedem Fall erst dann einstellen, wenn einer Person in autobionarrativen Selbstver­ ständigungsprozessen die Einsicht dämmert, dass es das eigene Leben wert ist, umfassend bejaht zu werden: »Integrity is the condition someone achieves who is able to live out of the conviction that his life, in its central features, is an appropriate one for him, that no other life he might live would be a plainly better response to the parameters of his ethical situation rightly judged.«100

Integrität im Sinne einer solchen Gemütsverfassung ist weder mit einem sin­ gulären Gefühl zu vergleichen, noch auf den Akt bloßen Erkennens zu redu­ zieren. Vielmehr ist personale Integrität im Sinne der Ganzheit als eben das aufzufassen, was Personen einschließlich ihrer jeweiligen Empfindungen und Erkenntnisse temporär in dieser Stimmung erfahren. Empfindungen, die mit personaler Integrität verknüpft sein mögen – u.a. Zufriedenheit, Stolz, Freude, Glück oder auch, wie im negativen Fall, Angst, Selbstfremdheit, Verzweiflung, Scham – enthüllen einer Person positiv die relative Intaktheit, negativ die »Ent­ zweiung« ihres Lebenszusammenhangs, und zwar in Form eines Erlebens, das psychophysischen Charakter besitzt und daher weder bloß als Gefühl noch als Erkenntnis, sondern als ganzheitliche Erfahrung beschrieben werden muss.101 Mit diesem Hinweis auf den psychophysischen Charakter der Ganzheit sind wir bei genau jenem Aspekt der Integrität angelangt, der weiter oben als das in der bisherigen Diskussion weithin vernachlässigte »Fundament« des In­ tegritätsbegriffes bezeichnet worden ist. Wenn von der Schutzbedürftigkeit der psychischen und physischen Integrität eines Menschen die Rede ist, dann wird dabei offenkundig auf die Existenz einer seelischen und leiblichen Minimalg­ renze angespielt, von der behauptet werden soll, dass sie übertreten und verletzt werden kann. Für personale Integrität, das machen die sozialphilosophischen Bezugnahmen auf den Begriff deutlich, spielt die individuelle Wahrnehmung einer eigenen und intakten psychophysischen Grenze eine besonders hervor­ gehobene Rolle. Die Stimmung der Ganzheit kann sich aus der Binnenansicht einer Person nur dann einstellen, wenn ihr zugleich von außen, d.h. aus der Perspektive der Fremdzuschreibung, »Unversehrtheit« attestiert werden kann. Eine integre Person muss sich in Abgrenzung zu anderen als insgesamt intakt, eins und unteilbar erfahren können und als solche auch anerkannt fühlen – so wie ein Staat, dessen territoriale Integrität von der Unversehrtheit seiner Gren­ zen gegenüber anderen Staaten abhängt.

100 | Vgl. Dworkin (1990), S. 80. 101 | Vgl. Benjamin (1990), bes. S. 52. Beebe (1995), bes. S. 18.

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Diese für die Integrität einer Person maßgebliche psychophysische Unter­ scheidbarkeit in Raum und Zeit ist in mindestens vier Aspekte aufzufächern: Zunächst ist der zweifellos basale Umstand zu bedenken, dass jeder Mensch einen eigenen psychophysischen Organismus darstellt und schon in dieser ob­ jektiven Hinsicht von anderen Menschen zu unterscheiden ist. Daraus folgt zweitens, dass jeder Mensch subjektive, d.h. ganz eigene Erfahrungen sammelt, die sich untereinander nicht im strikten Sinne »austauschen« lassen. Drittens ist zu berücksichtigen, dass jedes personale Leben Selbstbewusstsein im Sinne einer mehr oder weniger reflektierten Einstellung zu eben jenem subjektiven Erfahrungszusammenhang vorzuweisen hat. Viertens schließlich muss jeder Mensch insofern als ein unvertretbarer Einzelner aufgefasst werden, als er sich die Verantwortung seiner Äußerungen und Handlungen letztlich von nieman­ dem wird abnehmen lassen können.102 Es sind genau diese vier Charakteristika, die psychophysische Minimal­ bedingungen menschlichen Personseins und damit personaler Integrität be­ nennen. Sie formen das reflexive Bewusstsein eines Individuums, das sich als existenzielle Einheit erfährt, deren Grenzen bewahrt werden müssen. Ob diese Grenzen aber tatsächlich als intakt und unversehrt gelten dürfen oder ob nicht doch von außen feststellbare Grade an »Verletztheit« vorliegen, hängt nicht zuletzt davon ab, ob die betreffende Person in ihrer Umwelt förderliche Lebensbedingungen vorfindet. Störungen in der Wahrnehmung der eigenen Integritätsgrenzen werden vor allem durch fremde Übergriffe hervorgerufen. Entsprechend werden gewalttätige Angriffe auf die psychophysische Unver­ sehrtheit einer Person in der Regel als illegitime Verletzungen ihrer Integrität bewertet. Gewalt greift derart fundamental in den personalen Lebenszusam­ menhang ein, dass es in den meisten Fällen zu einem temporären Verlust der Integrität kommen muss. Mit dem Aspekt der Unversehrtheit ist die absolute Minimalgrenze integren Personseins benannt, die in jedem Fall von außen unberührt sein muss, damit ein Mensch sich um sein weiteres Wohlergehen kümmern kann.103 Damit sind wir jedoch erneut bei jenem oben schon einmal konstatierten und später noch eingehender zu klärenden Widerspruch angelangt: Einerseits soll mit den Begriffen Ganzheit und Unversehrtheit eine komplexe und anfällige Stimmungslage benannt sein, die aus dem Zusammentreffen unterschiedlichs­ ter Integritätsaspekte resultiert. Zugleich jedoch ist mit der Idee einer psycho­ physischen Minimalgrenze der Integrität der vermutlich empfindlichste Punkt markiert, an dem gravierende Verletzungserfahrungen sogleich auf die gesamte 102 | Vgl. Flanagan (1991), S. 61f. Dort werden allerdings nur die ersten drei Eigenschaften genannt. Die Idee der »Unvertretbarkeit« findet sich bei Lutz Wingert (1993): Gemeinsinn und Moral, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 103 | Vgl. Wingert (1993), S. 168.

Bedeutungsdimensionen der Integrität

Integrität einer Person durchschlagen können.104 Betrachten wir dazu das dras­ tische Beispiel der Folter105: Neben den physischen Schmerzen, die ein Folte­ ropfer erleidet, und dem bereits dadurch bewirkten Verlust der Ganzheit wird die Qual der Folter von den Betroffenen selbst vor allem auch als vehementer Kontrollverlust durchlitten, der ihrem Vermögen zur Selbsttreue die psychoso­ matische Grundlage entzieht. Überdies kann im Zuge physischen und psy­ chischen Zwangs das Gefühl der Rechtschaffenheit verloren gehen, wenn sich das Folteropfer dazu gezwungen sieht, etwa durch den Verrat eines politischen Weggefährten, gegen seine tiefsten moralischen Überzeugungen zu verstoßen. Zudem mag dabei das ethisch-existenzielle Selbstbild der betroffenen Person zerbrechen und damit deren Integriertheit verloren gehen, wenn das Opfer mit dem Wissen um den Verrat anschließend nicht mehr »leben« kann. Zunächst muss das Ergebnis daher lauten: Da Angriffe auf die Ganzheit und Unversehrtheit einer Person auf deren Integrität insgesamt durchgreifen können, wird von personaler Integrität nur dann die Rede sein können, wenn die fragilen psychophysischen Grenzen der Person nicht fundamental ange­ tastet werden. Entsprechend kann von einer Verletzung personaler Integrität immer dann gesprochen werden, wenn gravierende psychische oder physische Verletzungen feststellbar sind. Bei genauerem Hinsehen jedoch gilt dieser kausale Beeinflussungszusammenhang auch umgekehrt. Die psychophysi­ sche Stimmung der Intaktheit kann ebenso dadurch verloren gehen, dass einer der drei übrigen Modi der Integrität abhanden kommt. Wer seine Selbsttreue, Rechtschaffenheit oder auch Integriertheit einbüßt, der wird, zumindest tem­ porär, auch das Gefühl für Ganzheit und Unversehrtheit verlieren. Allerdings sollte man hier und auch im Folgenden stets zwischen einem Verlust »an« und einem Verlust »der« Integrität unterscheiden. Ein Verlust an Integrität liegt be­ reits dort vor, wo die Integrität einer Person in mindestens einer ihrer vier Di­ mensionen ernsthaft Schaden nimmt, während die übrigen weitgehend intakt bleiben. Von einem Verlust der Integrität kann erst dann die Rede sein, wenn, wie im Fall der Folter, das gesamte psychophysische System zusammenbricht. Fassen wir auch diesen Abschnitt zusammen: Wenn im sozialphiloso­ phischen Sprachgebrauch von einem Recht auf Schutz der geistigen und physischen Integrität die Rede ist, dann wird auf den als allseits vorhanden unterstellten Wunsch nach einem intakten Lebenszusammenhang rekurriert, 104 | Offenkundig werden Verletzungen der Integrität besonders dann, wenn es um jene Grenze geht, die an der Schnittstelle von Innen- und Außenwelt liegt: die Haut. Man erinnere sich an den Studenten Palach, der den paradoxen Plan verfolgte, sich in Brand zu setzen, um seine Integrität zu bewahren. Eine nahezu atemberaubende Analyse dieser »Hautgrenze« findet sich bei Didier Anzieu (1991): Das Haut-Ich, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 105 | Dazu Rorty (1989), Kap. 8.; s.u. Abschnitt 4.3.

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dessen Erfüllung aus der Innenperspektive der Betroffenen als Stimmung der Ganzheit und dessen Frustration entsprechend als Entzweiung erfahren wird. Aus der Perspektive der Fremdzuschreibung von Integrität sprechen wir von der Unversehrtheit einer Person, wenn keine gravierenden psychischen oder physischen Verletzungen feststellbar sind, während eine Verletztheit der Per­ son bereits dann konstatiert werden muss, wenn ihre fragilen psychophysi­ schen Grenzen angetastet wurden. Sofern in diesem Abschnitt die Vermutung leitend war, dass die Stimmung der Ganzheit als »Resultat« der Einsicht in die relative Intaktheit des je eigenen ethisch-existenziellen Lebenszusam­ menhangs gedeutet werden muss, so ist uns damit erstmals eine begrifflich überaus komplexe Integritätsidee vor Augen getreten, die so anspruchsvoll und schwer zu realisieren sein dürfte, wie die Integrität selbst fragil und verletzbar ist. Mit diesen zunächst knappen Ausführungen ist aber allenfalls ein erster, noch loser Zusammenhang der insgesamt vier Bedeutungsdimensionen auf­ gezeigt, der offenkundig weiterer Erläuterung bedarf.

2.5 E t ymologische S purenlese Die Notwendigkeit einer Vermittlung der bislang aufgezeigten vier Begriffsdi­ mensionen ließe sich umgehen, wollte man den hier gesuchten komplexeren Definitionszusammenhang als bloße Summe der unterschiedlichen Wortver­ wendungen bilden. Demnach besäße eine Person dann Integrität, wenn sie Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und insgesamt Ganzheit erfährt bzw. wenn ihr von außen Unbestechlichkeit, Unbescholtenheit, Kohärenz und Unversehrtheit attestiert werden können. Mit einem solchen begrifflichen Stückwerk wäre jedoch niemandem geholfen und überdies das philosophische Publikum enttäuscht. Es bedarf einer genaueren Vermittlung der Problemas­ pekte, die zwar möglichst viel von dem Bedeutungsgehalt der vier Grundbe­ stimmungen in sich aufzunehmen vermag, ohne aber die Konturen eines ein­ heitlichen Begriffskonzeptes zu verlieren. Im weiteren Verlauf dieses Buches wird ein derart vermittelnder Integritätsbegriff Gestalt annehmen. Zum Ende dieses Kapitels jedoch sollen zunächst bloß erste Indizien dafür gesammelt werden, dass die vier Bedeutungen miteinander verknüpft sind, und zwar en­ ger, als man gemeinhin vermuten mag. Auf dem Wege einer etymologischen Spurenlese wird deutlich, dass bereits die alltägliche Verwendung des Integri­ tätsbegriffs unterschwellig so manche Beziehung zwischen den vier genann­ ten Bedeutungsdimensionen herstellt. Kommen wir demnach zur Wortge­ schichte des Integritätsbegriffes und einiger seiner Verwendungen.106 106 | Die folgenden Überlegungen sind mit Hilfe nachstehender einschlägiger Wörterbücher zusammengetragen worden: Trübners Deutsches Wörterbuch, Berlin: de Gruyter;

Bedeutungsdimensionen der Integrität

Beginnen wir auf einem Umweg, und wenden wir uns zunächst dem spe­ ziellen Fall der Unbestechlichkeit zu. Dieser nimmt eine Art Schlüsselstellung im etymologischen Zusammenhang der Integritätsproblematik ein. Um der besonderen Bedeutung des Wortes gewahr werden zu können, ist es notwen­ dig, das Alltagsverständnis von »bestechlich« für einen Moment zu suspen­ dieren. Versteht man den Begriff buchstäblich, dann wird man feststellen, das man eine Person, die im wörtlichen Sinne bestechlich ist, zu stechen vermag. Man kann sie mit einem spitzen Gegenstand, z.B. einem Messer oder einer Speerspitze, verletzen oder gar töten. Entsprechend hat der Ausdruck »beste­ chen« in historischer Perspektive zunächst vor allem in der Kampfessprache und bei ritterlichen Turnieren seinen Platz. Im Deutschen ist bis heute die Wendung »Hauen und Stechen« für ein mehr oder weniger unkontrolliertes Gefecht geläufig. Manchmal sprechen wir von einem Akt des Ausstechens; etwa dann, wenn eine Person bei einem Bewerbungsgespräch gegenüber ih­ ren Mitbewerbern die besseren Karten hat. Doch ist diese Verwendung gerade nicht, wie es scheinen mag, dem Kartenspiel entlehnt, sie hatte vielmehr ur­ sprünglich die Bedeutung, eine andere Person »bei einem Turnier aus dem Sattel zu heben«, d.h. jemanden vom Pferde zu stoßen. Entsprechend liefern wir einen Menschen, den wir »im Stich lassen«, dem Angriff, eben dem Stich, eines potenziellen Feindes aus. Daraus folgt, dass eine Person, die buchstäb­ lich unbestechlich bzw. unbestochen ist, im ursprünglichen Sinn unverletzt bleiben durfte. In dieser ganz konkreten, physischen Bedeutung fallen die Begriffe »Unbestechlichkeit« und »Unversehrtheit« demnach von vornherein zusammen. Bevor wir zu der Frage kommen, wie es im Laufe der Zeit zu einer Be­ deutungsverschiebung des Wortes »bestechlich« in Richtung von »korrupt« hat kommen können, sollten wir jedoch noch einen Moment bei dem origi­ när physischen Aspekt der Bestechung verweilen. Diese Wortgeschichte wäre gar nicht so bedeutsam, wenn das deutsche Adjektiv »unbestechlich« nicht die getreueste Wiedergabe des lateinischen Wortes »integer« wäre. Der indo­ germanische Wortstamm von Integrität – »teg« – hieß eben seinerzeit so viel wie »stechen«. Tatsächlich ist das hochdeutsche Verb selbst, wie auch das ihm verwandte »stecken«, durch eine bloße Wurzelerweiterung aus teg hervorge­ gangen. Das durch einfache Verneinung gebildete lateinische Adjektiv in-teger findet demnach in un-bestechlich seine recht genaue Übersetzung, und zwar in eben jenem ursprünglich physischen Sinn von un-versehrt. Somit hat das

Grimms Deutsches Wörterbuch, Leipzig: Hirzel; Handwörterbuch der deutschen Sprache, Leipzig: Wiegand; Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, Hannover u. Leipzig: Hahnsche Buchhandlung; Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, München: dtv.

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unmittelbar benachbarte Adjektiv »intakt« als das genaue Gegenteil von »Kon­ takt« zu gelten. Allein durch Verweise dieser Art ist dann auch anschaulich zu machen, wie der Integritätsbegriff im Laufe der Zeit die Bedeutung der Integriertheit hat annehmen können. Ganzheit und Integriertheit sind nicht von vornherein dasselbe, denn offenkundig kann etwas nur dann integriert werden, wenn es zuvor gewissermaßen tegriert, d.h. entzweit war. Zwischen den Zuständen ei­ ner ursprünglicher Ganzheit und der im Nachhinein hergestellten Integriert­ heit muss sich eine Verlusterfahrung eigener Art ereignet haben. Integration muss als Reaktion auf eine Einbuße an Integrität verstanden werden, d.h. als das Bemühen, diesen Verlust ungeschehen zu machen. Das Verb »integrieren« beinhaltet somit eine doppelte Verneinung, insofern es die Wiederherstellung einer zerstörten Einheit meint bzw. das Zusammenfügen der auseinander ge­ brochenen Bestandteile eines vormals intakten Ganzen. Integriertheit ist dem­ nach eine Unversehrtheit zweiter Stufe. Man kann sie mit einer geklebten Vase vergleichen. Moderne philosophische und psychologische Theorien narrativer Identi­ tätsbildung nehmen sich ein Beispiel an der Mathematik, indem sie das Prin­ zip der Integralrechnung auf den Akt des Erzählens einer Lebensgeschichte übertragen. Das, was in diesem Buch »Autobionarration« genannt wird, hat als eine sukzessive Summierung und Bestandsaufnahme dessen zu gelten, was unverzichtbar zu einer Person und ihrer Geschichte gehört. Die ethisch-exis­ tenzielle Selbstverständigung soll einen Zusammenhang zwischen den in diesem Sinne integralen Bestandteilen der Persönlichkeit herstellen. Darüber hinaus ist die Autobionarration jener fortwährende Prozess, im Zuge dessen sich Personen durch Revision und Wiederherstellung ihres mitunter gestör­ ten Selbstverhältnisses aus Zuständen der Desintegration herauszukämpfen versuchen. Kehren wir jedoch zurück zu der Frage, wie das Wort bestechlich die Bedeu­ tung von korrupt hat annehmen können. Dazu müssen wir uns »unter Tage«, d.h. in die Tunnelanlagen des Bergbaus, begeben. Etymologisch ist nämlich davon auszugehen, dass der uns heute geläufige Sinn von »bestechen« aus der Bergbausprache stammt. Gemeint ist der folgende Vorgang: Der Bergarbeiter untersucht mit Hilfe eines sogenannten Grubenmessers, ob die Holzbalken, mit denen der Stollen abgestützt ist, frisch sind oder aber morsch. Der Gru­ benarbeiter macht eine »Stichprobe«: Er prüft, ob das Gebälk standhält, d.h. ob sich das Holz als tragfähig und zuverlässig oder aber als faul erweist. Sind die Balken »stichhaltig« oder ist festzustellen, dass sie einen »Stich haben«, wie man seither für Dinge, etwa Lebensmittel, sagt, die verderben oder verfau­ len? Folgerichtig ist der Versuch einer Bestechung im übertragenen Sinn der Manipulation durch Geld oder sonstige Versprechungen als der Versuch zu deuten, die Standhaftigkeit und Zuverlässigkeit derjenigen Persönlichkeit zu

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testen, die bestochen werden soll. Der Charakter der unbestechlichen Person wird sich angesichts einer solchen Überprüfung gerade nicht als morsch, son­ dern als tragfähig erweisen. Die korrupte Person dagegen ist faul, wie es im Übrigen auch das lateinische Verb corrumpere (dt. »verderben«) anzeigt. Wenn man nun im nächsten Zug aus »verderben« das Wort »verdorben« macht, ist sogleich angedeutet, wie rasch die oben zunächst in einem vormo­ ralischen Sinn verwendete Rede von einem unbestechlichen Menschen eine spezifisch moralische Schlagseite annimmt. Betrachten wir dazu zunächst noch einmal das Verb »stechen«. Im Laufe der Zeit hat es noch eine weitere aufschlussreiche Bedeutungsverschiebung erfahren, und zwar in Form des »Stichelns«, was ursprünglich bedeutete »mit spitzem Gegenstand wieder­ holt in etwas einstechen«. Erst später erhielt es die übertragene Bedeutung von »mit spitzen Worten reizen« oder auch »tadeln, verletzen, beleidigen«. Ein Stichwort ist damit ursprünglich als »ein stechendes, beleidigendes, ver­ letzendes Wort« zu verstehen, auch wenn es heute bloß noch ein besonders hervorstechendes Wort ist. So darf der moralisch rechtschaffene Mensch als ungestichelt im Sinne von untadlig und unbeleidigt gelten. Weil er sich nichts zu Schulden hat kommen lassen, muss er sich keiner Diffamierung aussetzen. Unbescholten ist er insofern, als man »keinen Lärm« um ihn macht. »Schall« und »Schelle« sind mit »unbescholten« wortverwandt. Demnach ist der unbe­ scholtene Mensch frei von lautstarkem Schimpf und Tadel. Auf diese Weise lässt sich etymologisch andeuten, inwiefern der Inte­ gritätsbegriff in seiner heutigen Verwendung immer schon mit einer mora­ lischen Bedeutung schwanger geht. Vor allem aber offenbart ein Blick auf den im westlichen Kulturkreis primär katholisch dominierten Diskurs über die Jungfräulichkeit eine direkte Verknüpfung der physischen Ursprünge des Integritätsbegriffes mit einer spezifisch moralischen Komponente.107 Mit dem Geschlechtsakt, jenem ersten ihr vom Mann versetzten »Stich«, verliert die Jungfrau nicht nur ihr Hymen  – so weit der physische Vorgang der Verseh­ rung –, sie büßt zugleich auch ihre »Unschuld« ein. Das lässt auch sie nicht »unberührt«. Von nun an haftet ihr, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, ein Stigma an: ein ihr eingestochenes und sie auf seltsame Weise moralisch disqualifizierendes Wundmal. Das Wort der »Befleckung« und das kirchli­ che Dogma von der unbefleckten Empfängnis geben über diesen doppelten

107 | Michel Foucault hat gezeigt, dass bereits im Zuge der Spätantike eine »neue Erotik« aufkommt, die den Begriff der Integrität im Sinne der »Reinheit« und »Jungfräulichkeit« zum Gegenstand hat. Siehe ders. (1986b), S. 292ff. Vgl. Marina Warner (1985): Monuments and Maidens, New York: Atheneum, bes. S. 242-250. Vgl. Beebe (1995), bes. 76f. Dort finden sich außerdem Hinweise zu der christlichen Verwendung von integritas im Sinne einer ursprünglichen Unschuld der Menschheit vor dem Sündenfall.

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Zusammenhang aus physischer Kennzeichnung und moralischer Entwertung beredt Auskunft. Maria, die Mutter Gottes, ist für den Katholiken nicht zuletzt deshalb so anbetungswürdig und heilig, weil sie ein Kind zur Welt gebracht hat, ohne sich zuvor befleckt zu haben. Sie ist damit im körperlichen wie im moralischen Sinn intakt geblieben. Fassen wir diese etymologischen Indizien zusammen, so kann davon aus­ gegangen werden, dass im allgemeinen Sprachgebrauch die integre, d.h. die sich selbst treue Person, von der es aus der Perspektive der Fremdzuschreibung heißt, sie sei unbestechlich, die Vorzüge einer verlässlichen Person mit dem Nimbus moralischer Makellosigkeit verknüpft, den wir einer unbescholtenen Person zuerkennen würden. Darüber hinaus dürfte deutlich geworden sein, dass die ursprünglich physische Bedeutung des Integritätsbegriffes im Sinne der Ganzheit und Unversehrtheit in daraus abgeleiteten Begriffsverwendun­ gen ihr Echo findet. Ähnliches gilt für jene oben dritte Bedeutungsdimension der Integriertheit, die wortgeschichtlich nach Art einer doppelten Verneinung ursprünglicher Entzweiungserfahrungen entfaltet werden kann. Diese etymo­ logischen Verdachtsmomente können als erste Belege dafür herhalten, dass es nur wenig sinnvoll wäre, sich im Rahmen einer Abhandlung über den Begriff personaler Integrität auf die eine oder andere seiner Bedeutungsdimensionen zu versteifen. Den Status von Beweisen können solche Überlegungen selbstre­ dend nicht beanspruchen. Sie lassen es jedoch lohnenswert erscheinen, über einen größeren systematischen Zusammenhang der in diesem Kapitel präsen­ tierten Begriffsverwendungen nachzudenken.

3 . Selbstverständigung und Desintegration: Integrität als schwieriges Selbstverhältnis Angesichts der zunächst verwirrenden Beobachtung, dass der Integritäts­ begriff auf recht verschiedenartige Weise in Gebrauch ist, liegt der voreilige Schluss nahe, dass bei dessen Verwendung weniger unterschiedliche Aspekte ein und derselben Sache anklingen, als vielmehr widerstreitende Auffassun­ gen davon, was personale Integrität im Kern ausmacht. Daher mag zunächst eine Entscheidung zu Gunsten einer dieser Verwendungen statt einer umfas­ senden Untersuchung, die an der Aufdeckung vorhandener Zusammenhänge interessiert wäre, angebracht erscheinen. Dennoch wird in den beiden folgen­ den Kapiteln der Versuch unternommen, einen Wesenskern der Integritäts­ idee freizulegen, aus dem die unterschiedlichen Bedeutungen gemeinsam hervorgehen. Das vorliegende dritte Kapitel wird sich primär solchen Fragen zuwenden, die auf das ethisch-existenzielle Selbstverhältnis der nach Integrität strebenden Person abzielen, wobei vor allem die beiden Begriffsdimensionen Selbsttreue und Integriertheit relevant sein werden. Die zentrale Frage lautet: Können ganz bestimmte charakterliche Voraussetzungen benannt werden, die eine Person vorweisen muss, um überhaupt ein Leben in Integrität führen zu können? Und gibt es entsprechend auch typische charakterliche Defizite, die einen teilweise selbstverschuldeten Integritätsmangel bewirken? Das vierte Kapitel hingegen wird dann vor allem solchen Problemen auf den Grund gehen, die aus dem Umstand resultieren, dass Personen für ihre Integrität nicht allein die Verantwortung tragen. Menschen wissen sich immer schon in intersubjektive Lebenszusammenhänge eingebunden, in denen sie ihre Integrität verteidigen müssen; wobei maßgeblich die beiden Integritätsaspekte Rechtschaffenheit und Ganzheit im Vordergrund stehen. Die entscheidende Frage lautet dort: Welches sind die spezifisch sozialen Voraussetzungen für ein Leben in Integrität? Und inwiefern gerät das integre Leben durch Übergriffe von außen in Gefahr? Der zwischen die Kapitel 3 und 4 eingelassene Rekurs wird eine Art Brücke bilden, indem er auf die Frage nach den »intersubjektiven Wurzeln« personaler Integrität zu antworten versucht: Wie weit genau, d.h. bis zu welchem biographischen oder auch entwicklungspsychologischen Punkt, lässt sich das Bedürfnis nach Integrität zurückverfolgen? Und inwiefern muss

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das Streben nach personaler Integrität von Beginn an als auf charakteristische Weise intersubjektiv geprägt gedeutet werden? Wenden wir uns jedoch zunächst Fragen des ethisch-existenziellen Selbst­ verhältnisses zu. Gegen Ende des letzten Kapitels sind wir erneut auf den As­ pekt der Ganzheit und Unversehrtheit integren Lebens gestoßen, der zuvor bereits im Rahmen der sozialphilosophischen Begründungsproblematik an­ geklungen war. Personale Integrität im Sinne einer ganzheitlichen Gemüts­ verfassung wurde als ein fragiles psychophysisches Erleben gedeutet, das für die nach Integrität strebende Person sowohl emotionalen wie kognitiven Auf­ schlusscharakter besitzt. Dem Zustand der Intaktheit, so hieß es, korrespon­ diert eine »Stimmung«, die der Person anzeigt, dass der eigene ethisch-exis­ tenzielle Lebenszusammenhang, so wie er ist, »bejaht« werden kann. Was aber genau heißt das? Zunächst gehört zu einem derart bejahenswerten Leben die Gewissheit, dass die betreffende Person in etwa so lebt, wie sie leben möch­ te. Andernfalls wäre kaum Integrität im Sinne einer Übereinstimmung von Selbstbild und Lebensvollzug zu konstatieren. Dies setzt jedoch zweitens eine hinreichend klar umrissene Vorstellung davon voraus, wie die betreffende Per­ son überhaupt leben möchte. Ohne dieses ethisch-existenzielle Orientierungs­ wissen fehlte ihr der wegweisende rote Faden im Leben. Drittens muss ein derart integriertes Selbstverständnis seinerseits darauf bauen können, dass die entsprechenden Lebensorientierungen mehr als nur ein Set bloßer Prä­ ferenzen bilden. Personale Integrität setzt einen Willen voraus und damit die tiefsitzende Identifikation mit Überzeugungen und Lebensvollzügen, die der betreffenden Person fundamental wertvoll sind. Damit ist ein komplexer begrifflicher Integritätszusammenhang angedeu­ tet, der im Folgenden erst noch erhellt werden muss. Bei der Explikation der genannten drei Integritätsbedingungen werden wir in umgekehrter Reihen­ folge verfahren, damit deutlich wird, wie diese Voraussetzungen stufenweise aufeinander auf bauen. Zunächst soll es um die Frage ethisch-existenziellen Wollens gehen, deren Beantwortung unweigerlich die weitere Frage aufwer­ fen wird, was es heißt, »Werte zu haben«. Dabei stoßen wir auf einen ersten gravierenden Integritätsmangel: Angesichts der unausweichlichen Konflikt­ haftigkeit unterschiedlichster Wertbindungen im Leben wird die integre Per­ son ethisch-existenzielle »Konfliktscheue« vermeiden müssen (3.1). Erst im Anschluss kann das Problem behandelt werden, was es heißt, »zu wissen, wie man leben möchte«. Das Fehlen derartigen Wissens führt zu schwerwie­ genden Orientierungskrisen und Desintegrationserfahrungen, die auf einen zweiten zentralen Integritätsmangel aufmerksam machen: Bei dem Versuch, das jeweils eigene ethisch-existenzielle Selbstbild zu erhellen, sollte die integre Person auf »Selbsttäuschungen« verzichten (3.2). Ist ein hinreichend klares Selbstverständnis erst einmal gewonnen, sieht sich die nach Integrität stre­ bende Person sogleich mit der Frage konfrontiert, ob sie auch »so lebt, wie sie

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leben will«. Hier wird sich ein drittes zentrales Integritätsdefizit bemerkbar machen: Da personale Integrität nicht nur auf starken Wertsetzungen beruht, sondern auch auf der Bereitschaft, den eigenen ethisch-existenziellen Selbst­ verpflichtungen Worte und Taten folgen zu lassen, hat die integre Person das Problem der »Willensschwäche« zu überwinden (3.3). Nachdem diese drei Voraussetzungen geklärt sind, können wir zu der Frage zurückkehren, was es heißt, »das eigene Leben zu bejahen«. Dabei werden wir mit Blick auf das Integritätsproblem eine Reihe existenzieller Aporien identifizieren, die uns zu einer wichtigen konzeptionellen Kurskorrektur zwingen: Das zuvor für die In­ tegrität behauptete kategorische »Ja« zum eigenen Leben kann in wichtigen Hinsichten immer nur ein »Jein« sein (3.4). Gleichwohl handelt es sich bei der Integrität um eine insgesamt affirmative Grundstimmung des Lebens, zu der am Ende dieses Kapitels ein emotionaler Kontrast gezeichnet werden soll. Der vielleicht aufschlussreichste Gefühlskomplex, der einer Person anzeigt, dass sie selbst ihre Integrität in Gefahr bringt, ist aus den Emotionen »Angst« und »Selbstfremdheit« zusammengesetzt (3.5).

3.1 K ursbestimmung ohne K onflik tscheue : W as es heisst, W erte zu haben Wenn hier bereits verschiedentlich die Annahme anklang, dass ein Leben in Übereinstimmung mit dem eigenen ethisch-existenziellen Wollen auf einer hinreichend klaren Vorstellung von wahrhaft integralen Grundvorhaben und Selbstverpflichtungen zu fußen habe, dann ist damit auf eine altehrwürdige Grundidee philosophischer Ethik verwiesen, der zufolge das unreflektierte Leben ohne Selbsterforschung niemals ein wahrhaft gutes Leben genannt zu werden verdient. Wenn Menschen sich bewusstlos treiben lassen und unkri­ tisch ihr Dasein fristen, so lautet die seit Sokrates vertraute Annahme, werden sie niemals das Glück eines erfüllten Lebens erlangen können.1 Nur wer die Gesamtheit seiner Selbstbindungen und Grundvorhaben kritisch zu hinter­ fragen vermag, wer seine Wünsche und Anliegen ihrer Dringlichkeit nach zu ordnen und darüber hinaus die Widersprüche des eigenen Lebens weitgehend aufzulösen imstande ist, nur der wird ein gutes und wohl auch – wie in dem uns betreffenden Fall – ein integres Leben führen können.

1 | Platon (o.J./1989): Des Sokrates Verteidigung, Werke, Bd. I.2, Berlin: Akademie, hier S. 153 (38). Heute wird diese Ansicht z.B. vertreten von: Williams (1985); Robert Spaemann (1989): Glück und Wohlwollen, Stuttgart: Klett-Cotta; Ursula Wolf (1999a): Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt; Holmer Steinfath (2001): Orientierung am Guten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Was sich in dieser Auffassung ankündigt, das ist der an jede Person, die nach Integrität strebt, gerichtete Auftrag, das je eigene Leben als eine ständi­ ge Herausforderung und beharrliche Orientierungssuche zu begreifen. Diese Bestimmung begreift die Ausgangslage des Menschen als die eines existenziell Ortsunkundigen: Der Mensch findet sich – mit Martin Heidegger gespro­ chen – in sein Leben »geworfen« und nahezu von Beginn seiner Existenz an mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich in einem komplexen Koordinaten­ system mannigfaltiger Eindrücke, Wertvorstellungen und Lebensentwürfe deutend zurechtzufinden.2 Auch wenn dieser Befund inzwischen bis in die Esoterik-Ecke jeder größeren Buchhandlung vorgedrungen sein mag, dürfte er dadurch dennoch nicht an philosophischer Relevanz eingebüßt haben. Die klassisch sokratische Frage, »wie man leben soll, um gut zu leben«, besitzt nicht nur für die philosophische Ethik, sondern schlicht für jedes Leben, das gelingen soll, existenziellen Vorrang. Da die Rede über Integrität offenbar nichts anderes als eben jene Modi guten Lebens hervorhebt, bei denen es um Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit geht, dürfte nie­ mand, der sich um die Bewahrung seiner Integrität sorgt, um die Beschäfti­ gung mit der Frage nach dem guten Leben herumkommen.3 Wer zu einem Selbstbild kommen möchte, das Orientierung stiftet, wird herausfinden müs­ sen, auf welche seiner Selbstbindungen er unter keinen Umständen verzichten kann. Kurzum: Er hat zu erkunden, was ihm wirklich wertvoll ist bzw. was seine Werte sind. Die damit ins Auge gefasste Orientierungssuche betrifft die Identifizie­ rung von Prinzipien und Kriterien, an denen die integre Person ihr Leben insgesamt auszurichten gedenkt. Nicht nur ihr gegenwärtiges Tun bedarf der Ausrichtung, auch mit planvollem Blick auf zukünftiges Handeln sowie in der autobionarrativen Rückschau sind derartige Orientierungsmarken von­ nöten. In Kapitel 2 ist diesbezüglich bereits von »Selbstverpflichtungen« und »Grundvorhaben« die Rede gewesen. Deren Struktur erhellt sich allerdings erst dann, wenn wir den Sinn der Rede über »Werte« und »Wertbindungen« klären, denn diese besitzen für das Leben in Integrität eine noch grundlegen­ dere Bedeutung. Werte benennen evaluative Gesichtspunkte, anhand derer Personen ihre Handlungen und Lebensvollzüge, aber auch die Handlungen und Lebensvollzüge anderer beurteilen; man denke hier etwa an Werte wie »Freiheit«, »Selbstverwirklichung«, »Wahrhaftigkeit«, »Respekt« oder auch

2 | Diese existenzphilosophisch angehauchte Charakterisierung der anthropologischen Ausgangslage findet sich z.B. bei Taylor (1994) und MacIntyre (1995). 3 | Ramsay (1997). Allerdings sollte dabei stets zwischen einer philosophischen und einer alltäglichen Beschäftigung mit der Frage nach dem guten Leben unterschieden werden. Dazu Wolf (1999a), bes. S. 204f.

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»Gerechtigkeit«.4 All diese und andere Werte bringen das zum Ausdruck, was einer Person »am Herzen« liegt und von dem sie glaubt, dass es auch ande­ ren am Herzen liegen sollte.5 Mit dem Bekenntnis zu Werten geben Personen sich gegenseitig Auskunft darüber, welche Lebensorientierungen von ihnen als vorrangig und übergeordnet anerkannt werden. Demnach sind Werte als der viel beschworene rote Faden anzusehen, der sich durch das Leben von Per­ sonen zieht. Wer sich an Werte gebunden fühlt, sieht sich in eine »höhere Ordnung« ge­ stellt, die den alltäglichen Umgang mit eher profanen Vorlieben und Präferen­ zen auf noch näher zu erläuternde Weise transzendiert. Werte gelten insofern »als gut«, als sie »zum Guten« führen sollen.6 Zu berücksichtigen ist dabei al­ lerdings aus der ethisch-existenziellen Perspektive der Betroffenen, dass diese zunächst abstrakt wirkenden Werte stets in konkrete und partikulare Lebens­ vollzüge, d.h. in spezifizierte Wertbindungen eingebettet sind. Es geht um die Freiheit der eigenen Existenz, die Solidarität der eigenen Gemeinschaft, den Stolz auf das eigene Vaterland usw. So hätte eine genauere definitorische For­ mel zu lauten: Werte sind kontextuell verankerte, gleichwohl mit generellem Anspruch versehene, dauerhafte Bewertungskriterien, anhand derer Personen in ihrem Leben zwischen eher zweitrangigen Orientierungen und solchen Selbstverpflichtungen unterscheiden, an denen ihnen wirklich gelegen ist. Freilich trifft die Unterstellung einer prinzipiellen Wertorientiertheit des Lebens auf den Kreis sämtlicher Personen zu. Von der integren Person hin­ gegen hieß es, sie besitze äußerst »gefestigte« Werte, von denen sie sich nicht abbringen lasse. Personale Integrität scheint demnach eine besondere Form der Wertorientiertheit vorauszusetzen, die sich durch ein hohes Maß an Be­ herztheit und Konsequenz auszeichnet: Für integre Personen sind Werte mit einer nochmals stärkeren Wichtigkeit und Dringlichkeit versehen.7 Eine Per­ son mag Werte besitzen, ohne dass sich diese in ihrem Leben nachhaltig und handlungswirksam niederschlagen. Die Wertbindungen der integren Person hingegen formen einen kategorischen Willen, der angesichts von Konflikten, Widersprüchen und Orientierungsnöten die Empfindung wachruft, dass es der betroffenen Person kaum gleichgültig sein kann, wie sie sich entscheiden wird, da ihr ethisch-existenzielles Selbstverständnis auf dem Spiel steht. Im 4 | Insbesondere im Hinblick auf moralische Ideale wie Gerechtigkeit kann zwischen »Normen«, die eine absolute Verbindlichkeit, und »Werten«, die eine graduelle Vorzugswürdigkeit benennen, unterscheiden werden. Siehe Jürgen Habermas (1992): Faktizität und Geltung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, bes. S. 310ff. Allerdings wird aus moralischen Normen immer dann ein Wert, wenn Personen sich diese Normen zu eigen machen. 5 | Frankfurt (1988b). 6 | Hans Joas (1997): Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 7 | Vgl. Cox/La Caze/Levine (2003), bes. S. 8f.

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Gegensatz zu sonstigen Orientierungen, z.B. bloßen Vorlieben, Präferenzen oder Bedürfnissen, besitzen Werte eine besondere Dignität. Sie benennen jene Kriterien zur Beurteilung möglicher Handlungsalternativen, denen die integ­ re Person im Konfliktfall stets den Vorrang einzuräumen gewillt ist. Werte, so heißt es in Erinnerung an Oscar Wilde, sind »Kriterien der Inkaufnahme. Ist Freiheit der höchste Wert, mag man revolutionäre Gewalt in Kauf nehmen. Für den Dandy hingegen, für den es Freizeit ist, gehen beim Sozialismus einfach zu viele Wochenenden drauf.« 8

Demzufolge sind Werte im Leben der integren Person als »Trümpfe« aufzufas­ sen, die im Konfliktfall etwaig schwächer begründete Handlungsalternativen ausstechen. Der von ihnen ausgehende zwanglose Zwang nötigt zu Entschei­ dungen, die nicht als Beschränkung der eigenen Freiheit, sondern als Akte der Selbstbestimmung und zugleich auch Selbstüberschreitung erfahren werden, insofern dieser Zwang von einer Ordnung, die das Individuum zu transzendie­ ren scheint, auf den eigenen praktischen Lebensvollzug ausstrahlt.9 Demnach setzt personale Integrität nicht nur den bloßen Besitz von Werten, sondern nahezu ergebene Wertbindungen voraus, mit denen eine lediglich laxe Orientie­ rung ausgeschlossen ist. Es ist dieser Zusammenhang, der weiter oben bereits in der Integritätsbestimmung einer Handlungsorientierung »dritter Stufe« angedeutet wurde. Integrität ist eine dauerhafte und konsequente Selbstver­ pflichtung gegenüber ethisch-existenziellen Wertbindungen zweiter Stufe, in deren Lichte Vorlieben und Neigungen erster Stufe einer Bewertung unterzo­ gen werden. Wie genau dies geschieht, soll hier zunächst noch etwas eingehen­ der geklärt werden. Beginnen wir mit dem eher banalen Beispiel einer Raucherin. Man stelle sich vor, eine junge Frau hat den Entschluss gefasst, täglich nicht mehr als eine halbe Schachtel, also etwa zehn Zigaretten, zu rauchen. Das ist, verglichen mit dem Pensum einer Kettenraucherin, nicht viel, aber immerhin noch ge­ nug, um gelegentlich darüber nachzudenken, ganz aufzuhören. Die Frau sitzt mit Freunden in einem Lokal. Gutes Essen, gute Stimmung. Der Tischnach­ bar zündet sich eine Zigarette an. Auch unsere Raucherin greift nach ihrem Päckchen, hält dann aber sogleich inne. Die Packung ist bereits halb leer. Nun überlegt sie: Eine Zigarette würde ihr jetzt gut tun. Aber soll sie ihren Vor­ satz brechen? Das Beispiel soll zunächst lediglich den überaus alltäglichen Umstand illustrieren, dass Menschen in ihren Lebensvollzügen häufig mit Situationen konfrontiert sind, in denen widersprüchliche oder gar sich wech­ 8 | Jürgen Kaube (1998): »Ich weiß nicht, was soll ich bedeuten«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Januar 1998. 9 | Dazu Joas (1997).

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selseitig ausschließende Wünsche kollidieren: »Zigarette oder nicht«, »Vanille oder Erdbeere«, »Thomas oder Frank«. In Momenten, in denen sich derartige Alternativen bieten, sind Entscheidungen zu fällen. Dazu bedarf es geeigneter Kriterien, vor deren Hintergrund der jeweils zu treffende Entschluss sinnvoll erscheint. Harry Frankfurt und Charles Taylor werfen Licht auf die Struktur solcher Entscheidungsprozesse. Sie gehen davon aus, dass sich Personen gegenüber an­ deren Lebewesen dadurch auszeichnen, dass sie nicht bloß Wünsche haben, sondern angesichts von Wunschkonflikten einen reflektierten »Willen« aus­ bilden können.10 Führen wir uns diesen Unterschied anhand unseres Beispiels vor Augen. Die Raucherin kann entweder schlicht abzuwägen versuchen, wel­ cher ihrer beiden Wünsche  – »Ich möchte rauchen« und »Ich möchte nicht rauchen« – ihr momentan dringlicher erscheint, um dann einfach dem augen­ blicklich heftigeren Wunsch zu folgen. Oder aber sie bemüht sich um Distanz zu ihren Wünschen und fragt sich: »Welchen der beiden Wünsche kann ich denn nun wirklich wollen?« Im ersten Fall lässt sie sich nach kurzem Abwä­ gen einfach von ihrem momentan stärkeren Wunsch überwältigen. Was aber passiert im zweiten Fall? Zunächst ist festzustellen, dass in beiden Fällen, wie Frankfurt sagt, eine Reflexion »zweiter Ordnung« einsetzt. Die Person stellt fest, dass sie sich gegenüber ihren konfligierenden Wünschen »erster Ord­ nung« kritisch bewertend verhalten kann. Sie unterzieht ihre Wünsche einer Überprüfung und fragt sich, welcher der beiden handlungswirksam werden soll. Der entscheidende Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Fall besteht darin, dass die Person allein im letzteren, wie Taylor sagt, eine »starke« Wertung vollzieht. Hier fragt sie sich nicht bloß, welcher ihrer beiden Wünsche momentan dringlicher ist. Dies wäre lediglich eine »schwache« Wer­ tung, die ohne jedes höherstufige Kriterium auskäme.11 Vielmehr ist sie darum bemüht, sich an das zu erinnern, was ihr wahrhaft am Herzen liegt. Sie ruft ihre festen Prinzipien und Wertbindungen auf den Plan – z.B. Maximen der Gesundheit, Disziplin, Sparsamkeit, aber auch der Geselligkeit, Entspannung und Lebensfreude –, in deren Lichte die anstehende Entscheidung als sinnvoll erscheinen muss. Erst vor dem Hintergrund solcher höherstufiger Abwägungen formt sich das, was wir den Willen einer Person nennen. Der Wille ist ein starker, handlungswirksamer Wunsch zweiter Ordnung, insofern er ein begründeter Wunsch ist, der die Realisierung eines Wunsches erster Ordnung will. Men­ schen haben stets viele Wünsche, aber nur wenige davon sind wirklich gewollt 10 | Dazu vor allem Harry G. Frankfurt (1988d): »Freedom of the Will and the Concept of a Person«, in: ders. (1988b); Taylor (1988c). 11 | Frankfurt unterscheidet diesbezüglich zwischen »second-order desires« und »second-order volitions«.

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in dem Sinn, dass ihre Verwirklichung beschlossen und auch tatkräftig vo­ rangetrieben wird. Die jeweiligen Gründe, die in derartige Willensbildungs­ prozesse einfließen, müssen dabei auf Werte und vorhandene Wertbindungen zurückgreifen können. Wer keine Wertbindungen vorweisen kann, wird stets nur schwach, aber niemals stark werten können. Der Person müsste jegliche Orientierung im Leben und zugleich eine zentrale Voraussetzung personaler Integrität abhanden kommen. Zwar müssen ihr diese Wertbindungen nicht schon ausdrücklich bewusst sein, um sich in Entscheidungen niederschlagen zu können12, dennoch sind bereits derart unwichtige Entscheidungsproble­ me, wie etwa die Frage nach einer weiteren Zigarette, gänzlich ohne höher­ stufige Bewertungskriterien schwer zu lösen; jedenfalls dann nicht, wenn die Entscheidung wohlüberlegt und nicht bloß triebhaft oder mutwillig getroffen werden soll.13 Wenn hier von Aspekten des Selbstbildes die Rede ist, die den betreffen­ den Personen »wirklich« wichtig sind, so sind jene Tiefenschichten ihres ethisch-existenziellen Selbstverständnisses berührt, in die eingeritzt steht, als was für ein Mensch sie sich verstehen wollen. Das ethisch-existenzielle Selbst­ bild einer Person ist folglich immer auch als Summe starker Wertungen aufzu­ fassen, deren Ablehnung bedeuten würde, sich selbst abzulehnen. Werte und Wertbindungen gehören zu jenen integralen Bestandteilen unseres Selbstbil­ des, die uns als Individuen zu dem machen, was wir zu sein beanspruchen. Kämen uns diese integralen Aspekte abhanden, kämen wir uns selbst abhan­ den. Bevor wir darauf zu sprechen kommen können, was diese zunächst allge­ meinen Charakterisierungen des Personseins mit der Integritätsproblematik im Besonderen zu tun haben, sind zu Gunsten einer besseren Einsicht in die Komplexität existenzieller Selbstverhältnisse noch einige definitorische Unter­ scheidungen vorzunehmen. Im Anschluss an Frankfurt und Taylor kann von bloßen »Bedürfnissen« und »Wünschen« dann gesprochen werden, wenn ein Begehren erster Ordnung gemeint ist (z.B. »Hunger« oder »Wärme«), auf das sowohl schwache als auch starke Wertungen höherstufig reflektieren. »Vorlie­ ben« und »Präferenzen« sind als Resultat schwacher Abwägungen zu verste­ hen, bei denen wir ohne höherstufige Kriterien auskommen (z.B. »Vanille statt Erdbeere« oder »Rauchen statt Nicht-Rauchen«). Demgegenüber sind »Werte« und »Wertbindungen«, ähnlich wie auch »Ideale«14, als eben jene höherstufi­ gen Maßstäbe aufzufassen, die in starke Evaluierungen einfließen.

12 | Behauptet wird lediglich, dass eine Identifikation von ganzem Herzen möglich wäre, sollte es zu Reflexionsprozessen kommen. 13 | Zum Phänomen des »wanton« siehe Frankfurt (1988d). 14 | Bei Idealen handelt es sich um solche Werte, die sich per definitionem niemals vollends verwirklichen lassen; z.B. »umfassende Gerechtigkeit«.

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Erst im Lichte dieser begrifflichen Klärungen lässt sich den bereits in Ka­ pitel 2 als zentral eingestuften Kategorien »Selbstverpflichtung« und »Grund­ vorhaben« eine genauere Bestimmung geben. Beide verweisen auf die Mög­ lichkeit von langfristig disponierten ethischen Hauptanliegen, im Rahmen derer einzelne Wertorientierungen auf ein gemeinsames Ziel hin ausgerichtet werden. Selbstverpflichtungen sind dauerhafte, inhaltlich konkrete Handlungs­ orientierungen (z.B. stets »fair« oder auch »ehrfürchtig« sein zu wollen), deren Ernsthaftigkeit sich daran bemisst, ob sie sich in entsprechenden Verhaltens­ mustern niederschlagen. Mit Grundvorhaben hingegen ist jene eher begrenzte Menge an ethisch-existenziellen Großprojekten benannt (z.B. ein »moralischer Mensch« oder auch »ein guter Vater« sein zu wollen), die insofern als wahr­ haft integrale Persönlichkeitsanteile aufzufassen sind, als mit deren Verlust auch die Integrität der Person abhanden käme. Ihrer Tendenz nach sind beide, Selbstverpflichtungen und Grundvorhaben, unbefristet. Häufig erstrecken sie sich über die gesamte Spanne des eigenen Lebensentwurfs, wobei sie oftmals bis in den Tod hinein aufrechterhalten werden. Auch wenn damit die wichtigsten formalen Aspekte eines jeden annä­ hernd elaborierten Selbstbildes benannt sein dürften15, so ist doch noch im­ mer fraglich, inwiefern die hier am Beispiel einer Raucherin erörterte Werte­ problematik zu einem genaueren Verständnis der Frage, was unter personaler Integrität zu verstehen ist, beizutragen vermag. Mit der Idee einer dem Wer­ tepluralismus geschuldeten Konflikthaftigkeit menschlichen Daseins sind wir zunächst auf einen überaus allgemeinen Umstand personalen Lebens verwie­ sen. Um nachvollziehen zu können, warum die Annahme, Werte seien »Kri­ terien der Inkaufnahme«, für die Integritätsproblematik eine besondere Rele­ vanz besitzt, müssen wir unserem Beispiel erst noch eine schärfere Fassung geben. Man stelle sich vor, der Vater der Raucherin ist wenige Wochen zuvor an Lungenkrebs gestorben. Sofort wird ihr Gewissenskonflikt in einem gänzlich anderen Licht erscheinen. In der ersten Fassung des Beispiels betraf ihre Ent­ scheidungsnot den eher alltäglichen Konflikt zwischen Wünschen erster Ord­ nung, der durch eine einfache Wertentscheidung zweiter Ordnung aufgelöst werden konnte. In der zweiten Version hingegen kommt es zu Kollisionen auf der höheren Ebene der Wertbindungen selbst. Was der Raucherin angesichts ihrer halbleeren Zigarettenschachtel schmerzlich zu Bewusstsein kommt, ist der Widerstreit zwischen dem Andenken an den zuletzt schwer leidenden Va­ ter und ihrem Selbstbild als einer genussorientierten Raucherin. Früher oder später wird sie sich grundlegend entscheiden müssen. Die Frage, ob sie an eben diesem Abend eine weitere Zigarette rauchen möchte oder nicht, ist zweitran­

15 | Dieses formale Selbstbild ließe sich durch »Motive«, »Interessen«, »Ziele«, »Prinzipien«, »Maximen«, »Regeln«, »Normen« u.ä. anreichern.

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gig. Unklar ist vielmehr, ob sie sich fortan überhaupt noch als eine leiden­ schaftliche Raucherin verstehen will. Es sind Konflikt- und Entscheidungssituationen dieser Art, in denen nicht nur Wünsche, Vorlieben und Präferenzen, sondern Werte, Selbstverpflichtun­ gen und Grundvorhaben aufeinanderprallen, angesichts derer sich die Inte­ grität einer Person erweisen muss. Wenn Wertbindungen kollidieren, muss der Wille standhalten. Erst in höherstufig gelagerten Orientierungsnöten kann der Schritt von der Person zur integren Person vollzogen werden. Man sollte es allerdings vermeiden, angesichts derartiger Konfliktsituationen stets von »Di­ lemmata« oder auch »Widersprüchen« zu sprechen. Der Begriff Dilemma be­ trifft ethisch-existenzielle Zwangslagen, die grundsätzlich unauflösbar sind, weil alle nur erdenklichen Alternativen gleich unannehmbar bzw. schlecht erscheinen. Solche Notsituationen mögen vorkommen. Personen können in vermeintlich unlösbare Schwierigkeiten geraten, doch wirklich unentscheid­ bar sind Wertekonflikte nur in den seltensten Fällen. In der Regel können exis­ tenzielle Problemlagen entschieden werden, selbst wenn daraus für die Betrof­ fenen gravierende Nachteile erwachsen.16 Um jedoch dem nach oben offenen Schweregrad solcher Entscheidungssituationen auch begrifflich Rechnung zu tragen, kann in Fällen dieser Art von »dramatischen« Konflikten die Rede sein. Konflikte sind dramatisch, wenn es aus der Betroffenenperspektive heraus so scheint, als sei die anstehende Entscheidung entweder gar nicht oder doch nur unter massiven Verlusten zu treffen. Nahezu spiegelbildlich wird man durch die Gleichsetzung von Konflikten und Widersprüchen auf eine falsche Fährte geleitet. Zumindest die hegeliani­ sche Verwendung des Widerspruchsbegriffs stellt das genaue Gegenteil von dilemmatischer Unentscheidbarkeit in Aussicht, und zwar die bereits prinzi­ piell gegebene Möglichkeit einer »Versöhnung« widerstreitender Orientierun­ gen. In den zweifellos meisten ethischen Konfliktfällen ist jedoch auch dies kaum zu erwarten. In aller Regel werden existenzielle Entscheidungen eben nur unter Inkaufnahme von Konsequenzen oder gar Verlusten getroffen, und dementsprechend kann, sobald eine solche Entscheidung gefallen ist, von ei­ ner völligen Auflösung oder Besänftigung des jeweiligen Konfliktes kaum die Rede sein. Allenfalls auf der Ebene des akuten Handlungskonfliktes ist die Idee einer Auflösung des Widerstreits sinnvoll. Wenn die Raucherin sich nach reif­ licher Überlegung dazu entscheidet, das Rauchen, zumindest für den Rest des Abends, einzustellen, ist der Handlungskonflikt vorerst beigelegt. Doch auf der weit tiefer liegenden Ebene der Gründe, die für die jeweiligen Handlungs­ alternativen gesprochen haben, bleibt der Konflikt bestehen. Selbst wenn an

16 | Dazu Ursula Wolf (1993b): »Moralische Dilemmata und Wertkonflikte«, in: Menke/ Seel (1993).

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diesem Abend kein konkreter Klärungsbedarf mehr besteht, sind doch die Ar­ gumente, die zuvor für eine weitere Zigarette gesprochen haben, damit nicht schon restlos widerlegt oder ungültig; was die junge Frau vermutlich für den Rest des Abends dann auch spüren dürfte. Diese Gründe haben sich ledig­ lich im jeweiligen Reflexions- und Entscheidungsprozess als weniger stark erwiesen.17 Das Beispiel zeigt, dass es in Konfliktsituationen, in denen eine Entschei­ dung zu Gunsten einer von mehreren höherstufigen Wertbindungen getroffen wird, keineswegs dazu kommen muss, dass die Gründe, die ursprünglich zur Formulierung der später unterlegenen Entscheidungsoptionen geführt haben, gänzlich ihre Kraft einbüßen. Dies zeitigt wichtige Konsequenzen für die In­ tegritätsproblematik: Das integre Leben wird sich angesichts eben solcher ethi­ scher Entscheidungssituationen beweisen müssen, und zwar nicht, wie man es zunächst vielleicht vermuten würde, als versöhnliche Auflösung vorhande­ ner Konflikte, sondern im Zuge von Entschlüssen, die den vorhandenen Wi­ derstreit zwischen unterschiedlichen Wertbindungen anerkennen und gelten lassen. Die integre Person ringt sich zu Entscheidungen durch, ohne die dabei unterlegenen Gründe ganz beiseite zu schieben. Sie vermag die Heterogenität und Pluralität von Wertbindungen und guten Gründen auch dann noch zu tolerieren, wenn sie ihr eigenes Selbstverständnis betreffen. Integre Menschen bleiben auch nach einer schweren Entscheidung noch jener stichhaltigen Handlungsgründe eingedenk, die am Ende lediglich nicht stark genug waren, um im Entscheidungskonflikt den Ausschlag zu geben. Aus Sicht der Integrität sind existenzielle Entscheidungen demnach allein dann angemessen, wenn sie »in Wahrnehmung der eigentümlichen Kraft der unterlegenen Verpflichtung und des abgewiesenen Anspruchs«18 getroffen werden. Zwar mögen die im vorigen Kapitel aufgefächerten Integritätsaspekte der Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit den Verdacht nahe gelegt haben, dass es im Wertgefüge integrer Personen zu keinen wirk­ lich tiefgreifenden Ambivalenzen und Konflikten kommen dürfe, doch muss sich ein solcher Verdacht spätestens an dieser Stelle als voreilig erweisen. Per­ sonale Integrität ist keine Umgehungsstraße, die um sämtliche Konflikte des Lebens herumführt. Sie kommt vielmehr in der Art und Weise zum Ausdruck, wie Personen ihre Konflikte durchstehen. Integrität zeigt sich in einer kon­ textspezifischen Anwendung und gegebenenfalls auch Abwägung divergieren­ der Wertbindungen. Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganz­ heit müssen sich angesichts existenzieller Entscheidungssituationen zu einem gut begründeten »Sich-Durchhalten« formieren. Mit der Bagatellisierung oder gar Verleugnung von Konflikten und Ambivalenzen sind sie unvereinbar. Die 17 | Menke (1993a). 18 | Ebd., S. 211, mit Bezug auf Williams. Vgl. Halfon (1989).

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Tatsache einer nahezu unausweichlichen Konflikthaftigkeit des menschlichen Lebens ist der Integritätsidee nicht äußerlich, sie muss mit in den Integritäts­ begriff hineingenommen werden.19 Freilich gilt auch hier, was im vorigen Kapitel bereits mit Blick auf das »standhaltende Wollen« zutreffend war, dass Personen in ihrem Leben kei­ neswegs stets und ständig mit Konflikten zu kämpfen haben müssen, damit man ihnen Integrität attestieren kann. Sie sollten ihre Integrität lediglich an­ gesichts gravierender Entscheidungssituationen bezeugen können, wie selten auch immer sich solche Situationen ergeben mögen. Zugleich aber darf ange­ nommen werden, dass Personen, die integer sein wollen, derartigen Schwie­ rigkeiten auch nicht ständig ausweichen dürfen, womit wir bei einem ersten typischen Integritätsdefizit angelangt wären: Integre Person dürfen keine »Konfliktscheue« an den Tag legen. Sie mögen zwar bemüht sein, eine kohä­ rente und tendenziell sogar rigorose Grundhaltung auszubilden, mit der allein sich schon viele tiefgreifende Konflikte werden vermeiden lassen. Dennoch müssen sich integre Personen jenen Problemen, die unausweichlich sind, selbstbewusst stellen. Sie haben sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass nach schwerwiegenden Entscheidungssituationen, in denen nicht alle ihrer divergenten Wertbindungen zugleich realisiert werden konnten, gravierende Ambivalenzen verbleiben dürfen, solange diese sich autobionarrativ einholen lassen. Da der Besitz personaler Integrität gänzlich ohne Konflikte nicht einmal denkbar ist, muss Konfliktscheue als ein struktureller Integritätsmangel einge­ stuft werden. Wie aber verhält es sich mit einer alternativen Strategie der Kon­ fliktbewältigung, die in alltäglichen Lebenszusammenhängen überaus häufig zur Anwendung kommt? Konfrontiert mit Wunsch- und Wertkonflikten nei­ gen Individuen oft dazu, ihre Entscheidungen so zu treffen, dass beide der in Frage stehenden Motive, zumindest in Maßen, zu ihrem Recht kommen. Ent­ scheidungen fallen dann weniger zu Gunsten bzw. Ungunsten jeweils einer der widerstreitenden Orientierungen, vielmehr wird ein Kompromiss gebildet, der beide berücksichtigen soll; nach dem Motto »eine letzte Zigarette noch«, »halb Vanille, halb Erdbeere«, »unter der Woche Thomas, am Wochenende Frank«. Es ist anzunehmen, dass im Zuge von Kompromissbildungen perso­ nale Integrität nicht schon verloren gehen muss. Dennoch werden bereits diese

19 | Ein analoges Argument gilt für das »Leiden«, wenn man darunter eine am eigenen Leibe erfahrene Beeinträchtigung des Wohlergehens verstehen will. Völlige Leidensfreiheit kann für personale Integrität kein notwendiges Kriterium sein. So manche Form von Unwohlsein, Mühsal oder gar Schmerz wird mit Integrität vereinbar sein. Auch hier zeigt sich Letztere in der Art und Weise, wie die Person mit den Schwankungen des Lebens umgeht.

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eher trivialen Beispiele so manchem wahrhaft prinzipientreuen Menschen ge­ gen den Strich gehen. Die Forderung, eine integre Person dürfe überhaupt gar keine Kompromisse eingehen, mag überzogen und zudem unrealistisch sein. Außer Frage steht wohl aber, dass die Kompromissbereitschaft integrer Per­ sonen Grenzen aufweist. Entscheidungen und Zwischenlösungen, in denen sich weder die eine noch die andere der konfligierenden Wertorientierungen wiedererkennen lassen, scheiden aus. Zudem sind halbherzige Konzessionen ausgeschlossen, mit denen eine Person sich und ihr Selbstbild derart »kom­ promittiert«, dass sie fundamental an Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Inte­ griertheit oder auch Ganzheit einbüßt. Etwaige Zugeständnisse pragmatischer o.ä. Art dürfen allenfalls zu situativen Abstrichen am eigenen ethisch-existen­ ziellen Selbstbild führen. Die grundlegenden Wertbindungen und Selbstver­ pflichtungen müssen stets erkennbar bleiben. Kompromisse müssen ihrerseits mit hinreichend guten Gründen vertretbar und mit dem Selbstverständnis der betreffenden Person kompatibel sein.20 Wo aber genau die Grenze zwischen vertretbaren Konzessionen und selbst­ schädigender Inkonsequenz verläuft, lässt sich sowohl in konzeptioneller Hin­ sicht als auch im konkreten Einzelfall schwer vorherbestimmen. Nur zu oft stellt sich erst im Nachhinein heraus, dass ein seinerzeit eingegangener Kom­ promiss zu einem Riss in der Außenhaut des Charakters geführt hat, in dessen Folge die in Frage stehenden Wertbindungen erst allmählich ganz abhanden kamen. Insofern bergen Kompromisse eine ähnliche Gefahr wie der in Kapitel 2 diskutierte Fall der Bestechung: Sie können der Anfang vom Ende einer in­ tegralen Selbstverpflichtung sein. Wenn eine Person sich über diesen Zusam­ menhang im Klaren ist, wird ihre Kompromissbereitschaft Grenzen haben. Und dennoch: Völlige Kompromisslosigkeit kann kein Merkmal integren Lebens sein. Wollte man die Bereitschaft zum Kompromiss bereits auf prinzipieller Ebene ausschließen, fiele man erneut der Sturheit, der Borniertheit, dem Dog­ matismus oder gar dem Fanatismus anheim. Der vermeintliche Vorzug würde so in einen Makel umschlagen.21 Ein weiteres Beispiel: In einem Schlager von Udo Jürgens mit dem Titel »Ich war noch niemals in New York« wird von einem Mann berichtet, der am Abend die eheliche Wohnung verlässt, um eben Zigaretten holen zu gehen. Im neonhellen Treppenhaus, in dem es nach Bohnerwachs und Spießigkeit riecht, wird ihm bewusst, dass er fast alles bei sich trägt, was er benötigen würde, um der Enge seines Lebens zu entfliehen: Pass, Euro-Schecks und etwas Geld. Vielleicht geht heute Abend noch ein Flug! Wir erinnern uns: Er war noch niemals in New York. Er war noch niemals auf Hawaii. Ging nie durch San Francisco in zerrissenen Jeans. Für einen Moment schwelgt er in der Phantasie 20 | Benjamin (1990); Ramsay (1997). 21 | Vgl. Halfon (1989), Kap. 6.

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einer neu gewonnenen Freiheit. Doch noch bevor er wirklich dahin auf bricht, kehrt er um, verschreckt von der Kühnheit des Gedankens. Er schreitet durch das Treppenhaus. Seine Frau erwartet ihn bereits und ruft ihm zu: »Wo bleibst du bloß? Dalli-Dalli geht gleich los«. Und auf die Frage: »War ’was?«, antwortet er: »Nein, was soll schon sein?« Auf Anhieb mag es nahe liegen, von Tagträumereien und einem Man­ gel an Entschlossenheit zu sprechen. Aus einer gänzlich anderen Sicht wäre dem Mann Besonnenheit und eheliches Verantwortungsbewusstsein zu at­ testieren. Nach einer dritten Deutung kann die verhinderte Flucht als Kom­ promissbildung zwischen der »verrückten« Phantasie einer neuen Freiheit und den Verpflichtungen, Bindungen und Zwängen des wirklichen Lebens interpretiert werden. Unabhängig von den tatsächlichen Überzeugungen und Wertbindungen, die der Betroffene selbst in seine Überlegungen hat einflie­ ßen lassen, wird ein solcher Fall kaum angemessen beurteilt werden können. Dennoch tritt anhand des Beispiels ein überaus zentraler Aspekt im Verhält­ nis von Integrität und Konflikt hervor. Wir müssen davon ausgehen, dass die Sehnsucht nach einem völlig anderen Leben, d.h. der Wunsch, einmal ganz anderen Wertbindungen zu folgen als jenen, denen man bis dato verpflichtet gewesen ist, nicht immer nur eine romantische Spinnerei ist. Zwar stehen uns unsere ethisch-existenziellen Wertbindungen niemals vollständig zur Disposi­ tion, da diese derart tief in unser jeweiliges Selbstverständnis eingelassen sind, dass mit ihnen unser Personsein als solches zur Disposition stehen würde. Überhaupt sind diese Wertbindungen nicht »frei wählbar« in dem Sinne, dass man aus ihren Kontexten, d.h. aus den nicht zuletzt sozialen sowie kulturellen Prägungen des eigenen Charakters, ganz einfach heraustreten könnte.22 Den­ noch kann es dazu kommen, dass Personen sich mit Entscheidungssituatio­ nen konfrontiert sehen, in denen sie ihre Werte von Grund auf zu überdenken haben. Wenn ihnen, wie im Fall des letztlich mutlosen Ehemanns, die Einsicht dämmert, dass sie viele Jahre den falschen Werten hinterhergelaufen sind oder dass sie gar ein gänzlich falsches Leben geführt haben, kann es notwendig werden, die eigenen Selbstverpflichtungen zu revidieren oder aber durch an­ dere Wertbindungen zu ersetzen.23 Integre Personen haben sich gegenüber der Tatsache offen zu halten, dass auch sie in ihren Wertorientierungen fehlbar sind. Sie müssen mit der Not­ wendigkeit von Korrekturen ihres Wertevokabulars bis hin zur völligen Revi­ 22 | Siehe dazu auch die Beiträge in Frankfurt (1988b). 23 | Die Unterscheidung Werterevision/Werteaustausch soll dem Umstand gerecht werden, dass Menschen eher bereit sind, ihre Wertbindungen umzudeuten als sie fallen zu lassen. Man denke hier z.B. an einen erklärtermaßen traditionsbewussten Sozialdemokraten, dessen Antworten auf die Frage, was soziale Gerechtigkeit ist, »mit der Zeit« gehen.

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sion ihrer Selbstverpflichtungen rechnen, d.h. mit Lernprozessen, die durch dogmatisches Festhalten an überkommenen Wertbindungen im Ansatz ver­ hindert werden. Demnach ist auch in dieser Hinsicht Konfliktscheue zu ver­ meiden. Wer aus Angst oder auch nur aus Bequemlichkeit jeder Form von ethisch-existenziellem Lernprozess ausweicht, indem er sich zwanghaft an gewohnte Wertvorstellungen klammert, wird immer nur den eigenen Status Quo bestätigen. Ein solches Festhalten mag oft angebracht sein. Wenn aber die integre Person eine kompromisslos rigide Haltung einnimmt, wird sie kaum mehr von der Stelle kommen. Wie später noch deutlicher werden wird, können gravierende Wertkonflikte im Rahmen der ethisch-existenziellen Selbstverständigung eine wichtige katalysatorische Rolle spielen, auch wenn ein dadurch bewirkter Wertewandel nicht selten das Ergebnis schmerzhafter Lern- und Umgewöhnungsprozesse ist. Daher muss personale Integrität sich stets auch als Offenheit gegenüber Konflikten und Ambivalenzen oder bes­ ser noch als Gelassenheit im Umgang mit diesen zeigen. Diese Gelassenheit wiederum setzt autobionarrative Prozesse der Selbstverständigung voraus, im Zuge derer die konfliktreichen Geschehnisse des Lebens in eine plausible Gesamtdarstellung eingeflochten werden. Erst in Verbindung mit ethischen Rechtfertigungspraktiken vermag die Akzeptanz der unausweichlichen Kon­ flikthaftigkeit des Lebens zu einem sich wandelnden, aber gleichwohl inte­ grierten Selbstbild zu führen, das die Ambivalenzen der eigenen Existenz nicht zu scheuen braucht. Wie aber genau hat man sich derartige Selbstver­ ständigungsprozesse vorzustellen?

3.2 S elbstaufkl ärung contr a S elbst täuschung : W issen , wie man leben will Angesichts der Forderungen nach Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriert­ heit und Ganzheit mag sich sogleich das Bild einer geradlinigen, »kompletten« Persönlichkeit aufdrängen, deren Lebensvollzüge allenfalls minimale Kursab­ weichungen zulassen. Nimmt man jedoch den Gedanken einer unausweich­ lichen Konflikthaftigkeit der menschlichen Existenz ernst, dann wird sich die Integrität einer Person angesichts von Spannungen innerhalb des eigenen Selbstverständnisses nicht immer nur als ein gut begründetes Festhalten an tief verankerten Selbstverpflichtungen äußern, sondern manchmal eben auch als ein gut begründetes, wenngleich schmerzhaftes Loslassen.24 Neue Erfah­ rungen im Leben einer Person können neue Einsichten und Lebensoptionen erschließen, die zuvor noch gar nicht abzusehen waren. Aus diesen neuen

24 | Blustein (1991), Kap. 13.

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Einsichten können entsprechend neue Selbstverpflichtungen und Grundvor­ haben resultieren. Allerdings sollten diese Überarbeitungen oder gar »Brü­ che« der eigenen Lebensgeschichte als ethisch-existenzielle Lernprozesse er­ kennbar bleiben, die sich weitgehend ungezwungen und gewaltlos vollzogen haben. Wenn eine Person in ihrem revidierten Selbstbild kaum mehr wieder­ zuerkennen ist, kann angenommen werden, dass sie an Integrität eingebüßt hat. Angesichts tiefgreifender Persönlichkeitsentwicklungen ist ein derartiger Integritätsverlust allein dadurch zu verhindern, dass die ethisch-existenzielle Selbstrevision im Modus von Artikulation und Rechtfertigung verfährt: Eine gravierende Korrektur am eigenen Selbstbild kann der Person selbst, aber auch anderen allein dann einsichtig und gerechtfertigt erscheinen, wenn die Person hinreichend gute Gründe anzuführen vermag, die jene Argumente, die einst für die aufgegebenen Wertorientierungen sprachen, tatsächlich übertrump­ fen. Im Rahmen autobionarrativer Bemühungen um existenzielle Klarstellung offenbart sich Integrität demnach im Modus einer Einstellung zum eigenen Selbst als alleinverantwortlicher Instanz für eine Begründungspraxis, die auf die Integriertheit der Persönlichkeit zielt.25 Freilich sind auch vorgeschobene, retrospektiv »glättende« Deutungsstra­ tegien denkbar. Aus Sicht der Fremdzuschreibung von Integrität ist auf den ersten Blick nicht immer zu erkennen, ob ein autobionarrativer Korrektur­ vorgang tatsächlich aufrichtig und mit guten Gründen vollzogen wurde. Ruft man sich hier etwa den Fall eines prominenten Rechtsanwaltes in Erinnerung, der einst als Gründungsmitglied der Roten Armee Fraktion fungierte, später jedoch hoher Funktionär der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands wur­ de, so lässt sich hier ein biographischer Bruch konstatieren, der in den Augen der meisten Betrachter vermutlich nicht mehr mit Integrität zu vereinbaren ist. Ein anderer ehemaliger Mitstreiter der ultra-linken Szene, der sich zum bundesdeutschen Außenminister gemausert hat, dürfte diesbezüglich einen interessanten Grenzfall darstellen. Zwar ist nicht auszuschließen, ja, es ist so­ gar wahrscheinlich, dass der ehemalige Straßenkämpfer den Wandel seiner Wertorientierungen schlüssig und kohärent erklären kann. Ob er dabei aber lediglich die Brüche seiner Lebensgeschichte vor sich und anderen mit vor­ geschobenen Gründen zudeckt oder »rationalisiert«, ist von außen schwer zu entscheiden. Für die kohärente Erklärung ethischer Kurskorrekturen reichen nicht bloß irgendwelche retrospektiven Begründungen aus, es müssen hinrei­ chend gute und darüber hinaus vor allem wahrhaftige Begründungen sein, d.h. sie sollten jenen Motiven, von denen die Person einst faktisch zum Wertewan­ del bewogen wurde, nahe kommen.

25 | Roughley (1996); Ramsay (1997).

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Eingehende Revisionen des eigenen Selbstbildes sind immer dann re­ gelrecht geboten, wenn sich herausstellt, dass sich alte Wertbindungen und Grundvorhaben nicht länger mit hinreichend guten Gründen aufrechterhal­ ten lassen. Eine Neuausrichtung des ethisch-existenziellen Wertevokabulars kann notwendig und überdies mit Integrität verträglich sein, wenn veränderte Umstände oder neue Informationslagen eine begründete Kursanpassung na­ helegen. Demnach sind nicht nur, wie oben, schlecht begründete autobionarra­ tive Rekonstruktionen, sondern zudem auch unterdrückte Werterevisionen als Integritätsmängel zu interpretieren. Auch wer zwanghaft an überkommenen Aspekten seines Selbstbildes festhält, obgleich er spürt, dass diese sich schon längst nicht mehr mit guten Gründen rechtfertigen lassen, büßt an Integri­ tät ein. Freilich sollte diese Einsicht nicht schon zu dem nahezu postmodern anmutenden Motto verleiten: »Nur wer sich ändert, bleibt sich treu.«26 Eine Person, die unaufhörlich ihr Selbstbild revidieren würde, dürfte rasch eine tiefgreifende Desintegration erfahren. Ihr käme das Einheit stiftende autobio­ narrative Basiswissen abhanden, auf das sie bauen können muss, um einzelne Wandlungsprozesse erklärbar zu machen. Ähnliches gilt auch für die Idee ei­ nes radikalen Wandels, nach der Personen nicht nur einzelne Bestandteile ih­ res Selbstbildes, sondern das gesamte Wertegerüst auf einmal auszutauschen vermögen.27 Gesetzt den äußerst unwahrscheinlich Fall, dies könnte gelingen, so würde die betreffende Person die Wurzeln ihrer lebensgeschichtlichen Er­ innerung kappen und damit letztlich jede Chance auf autobionarrative Sinn­ gebung preisgeben. Auch wenn der heutige Zeitgeist gern das Gegenteil pro­ pagiert: Aus Sicht der Integrität müssen sich konfliktbedingte Veränderungen im eigenen Selbstverständnis in die Narration einer einheitlichen Lebensge­ schichte einordnen lassen, die zwar nicht durchweg konsistent, aber dennoch möglichst kohärent, nicht vollkommen transparent, aber dennoch hinreichend artikuliert zu sein hat.28 Mit der bereits wiederholt angerissenen Idee eines ausreichend kohärenten und artikulierten Selbstverständnisses wird auf die Ausgangsthese einer Art hermeneutischen Anthropologie angespielt, der zufolge der Mensch »das sich selbst interpretierende Tier«29 ist. Da menschliche Individuen stets in vielfälti­ ge und oftmals konfliktreiche Lebenszusammenhänge eingebettet sind, in de­ nen Desintegrationserfahrungen unvermeidlich sind, kommt es auf Seiten der Subjekte auf die Kraft einer ethisch-existenziellen Selbstverständigungspraxis 26 | Das Zitat wird dem Liedermacher Wolf Biermann zugeschrieben. 27 | Dazu Davion (1991), die tatsächlich davon ausgeht, dass Integrität mit radikalem Wandel vereinbar sein soll. 28 | Vgl. Honneth (1993a). 29 | Charles Taylor (1985a): »Self-interpreting Animals«, in: ders. (1985b): Philosophical Papers 1: Human Agency and Language, Cambridge: Cambridge UP.

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an, die Einheit in die Mannigfaltigkeit von Lebensvollzügen und Krisenerfah­ rungen zu bringen vermag. Zwar ist das völlige Fehlen eines solchen Vermö­ gens geradezu undenkbar, doch zweifellos gibt es Menschen, in deren Leben es zur Herausbildung eines ganz eigenen elaborierten Selbstbildes noch nicht hat kommen können. Führt man sich das Beispiel einer ihrem Gatten ergebe­ nen, unter starker Bevormundung lebenden Haus- und Ehefrau vor Augen, so mag sich diese mit der Frage nach einem eigenen Willen, der unabhängig von dem ihres Mannes existierte, bislang gar nicht konfrontiert haben.30 In Fäl­ len dieser Art offenbart sich das Integritätsproblem nicht, wie sonst häufiger, als ein Trachten nach Übereinstimmung von Selbstbild und Lebensvollzug, sondern auf weitaus fundamentalerer Ebene. Hier ist das völlige Fehlen eines autonomen Selbstbildes zu beklagen. Unterwirft sich ein Mensch weitgehend unkritisch den Präferenzen, Werten und Grundvorhaben eines anderen, dann macht er sich damit bestenfalls zum Komplizen von dessen Integrität. Mit der Einsicht in das Recht auf ein ganz eigenes Leben müssten in Fällen wie diesen elementare Grundlagen personaler Integrität überhaupt erst noch erarbeitet werden.31 Insgesamt zielen ethische Selbstverständigungsprozesse auf eine überaus komplexe Verknüpfung von Vorgängen der Erinnerung und Selbstvergewis­ serung, der Bestandsaufnahme und Revision, der Selektion und Zuspitzung, der Affirmation und Kritik sowie nicht zuletzt der Orientierung und Planung. Unterschiedlichste Bestandteile der eigenen Lebensgeschichte und Identitäts­ entwicklung werden geordnet, untereinander in Beziehung gesetzt und häufig auch auf einen konkreten Befund hin ausgerichtet.32 Philosophische und psy­ chologische Theorien narrativer Selbstintegration33 gehen dabei für gewöhn­ lich von drei zentralen Koordinaten aus: Aus Sicht der Gegenwart, so heißt es, unternimmt die sich über sich selbst verständigende Person den Versuch, sich kritisch ihrer Vergangenheit zu vergewissern, um daraus Orientierung stiften­ de Perspektiven für die Zukunft ableiten zu können. Will man diese drei zeitli­ 30 | Dazu Marilyn A. Friedman (1985): »Moral Integrity and the Differential Wife«, in: Philosophical Studies, 47/1985. Vgl. Babbit (1996), Kap. 5. 31 | Selbstredend soll nicht ausgeschlossen werden, dass die Hausfrau nach intensiver Selbstprüfung dennoch zu dem Entschluss kommen kann, sich weiterhin ausschließlich um das Wohl ihrer Familie zu kümmern. Erinnert sei aber dennoch an die Überlegungen zum »Heiligen« in Abschnitt 2.2. 32 | Als philosophischer Klassiker wäre zu nennen: Wilhelm Dilthey (1910/1970): Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, bes. S. 233-251. 33 | Einen kritischen Einblick in die philosophische Diskussion verschafft Thomä (1998). Mit Blick auf die »narrative Psychologie« siehe Wolfgang Kraus (1996): Das erzählte Selbst, Pfaffenweiler: Centaurus.

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chen Perspektiven mit identitätstheoretischen Etiketten versehen, so kann von einem narrativen Zusammenspiel von »Lebensvollzügen«, »Lebenserinne­ rungen« und »Lebensentwürfen« die Rede sein. Ziel dieses Zusammenspiels ist nicht allein die Aufhellung des je eigenen Lebenszusammenhangs bzw. die Klarstellung der eigenen Identitätsentwicklung, sondern immer auch de­ ren selbstkritische »Aneignung«.34 Erst wenn es im wiederholten Durchgang durch scheinbar so triviale Fragen wie: »Wer bin ich?«, »Wie bin ich zu dem geworden?« und »Wer möchte ich in Zukunft sein?« zur Akzeptanz der eige­ nen Lebensgeschichte, zur Herausbildung eines kritischen Selbstbildes und zur Formulierung eines autonomen Willens hat kommen können, ist die Rede von einem »unverwechselbaren Individuum« sowie von einer »unvertretbaren Person« sinnvoll.35 Der vertrackte narrative Selbstaufklärungsprozess kann entlang der drei genannten zeitlichen Koordinaten  – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft  – aber auch auf vielfältige Weise gestört sein. Dabei ist anzunehmen, dass sich Inkohärenzen oder gar Konfusionen der autobionarrativen Selbstdarstellung, anders als etwa Schwächen im Erzählfluss einer literarischen Geschichte, nahezu unmittelbar desintegrierend auf die sich selbst aufklärende Person auswirken. Zwar mag es schwer fallen, bereits auf konzeptioneller Ebene festzulegen, wie eine angemessene Gewichtung der drei zeitlichen Orientie­ rungen auszusehen hätte, dennoch können für jede dieser drei Perspektiven schädliche Tendenzen benannt werden. Zunächst gibt es Personen, von denen es heißt, sie lebten »zu sehr in der Vergangenheit« (man denke an wehmüti­ ge Melancholiker). Da ihnen eine planvolle Orientierung an Gegenwart und Zukunft sinnlos erscheint, sind sie schutzlos ihren depressiven Stimmungen ausgeliefert. Wenn ein Mensch hingegen »zu wenig« in der Vergangenheit lebt (als Extremfall kann ein unter Amnesie leidendendes Unfallopfer gelten), wird er keine autobionarrativen Ressourcen vorweisen können, aus denen er im Rahmen der Rechtfertigung, aber auch der Planung gegenwärtigen und zukünftigen Tuns schöpfen kann. Ähnliches gilt für die Gegenwartsorientie­ rung: Wenn eine Person zu sehr an der Gegenwart orientiert ist (wie etwa der postmoderne Hedonist), mag er in den Augen seiner Mitmenschen Verant­ wortung und Verlässlichkeit vermissen lassen. Wer demgegenüber zu wenig in der Gegenwart lebt (z.B. die enthaltsame Asketin), wird das eigene Leben am Ende vielleicht ganz verpassen. Auch für die Zukunftsorientierung lässt sich festhalten: Wenn ein Mensch zu sehr der Zukunft zugewandt ist (man nehme den Fall eines rastlosen Karrieristen), wird ihm die erfüllende Erfah­ rung von Stolz, Ruhe und Gelassenheit abgehen. Wer dagegen zu wenig an die Zukunft denkt (wie etwa der resignierte Fatalist), wird, wenn es darauf 34 | Peter Bieri (2001): Das Handwerk der Freiheit, München: Hanser. 35 | Habermas (2001), S. 19.

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ankommt, sinnstiftende Orientierung und Vorsorge vermissen lassen. Kurz­ um: Es bedarf einer ethisch-existenziellen Selbstartikulation, die sich stets auf drei zeitliche Dimensionen erstreckt, damit ein integriertes Selbstbild (a) rückwirkend sinnstiftend, (b) gegenwärtig handlungsorientierend und (c) pro­ spektiv zielführend sein kann. Die Bedeutung lebensgeschichtlicher Selbstverständigungsprozesse tritt noch deutlicher hervor, wenn man dieses eher herkömmliche narrative Iden­ titätsmodell leicht modifiziert. Man sollte besser zwischen zwei Dimensionen und insgesamt vier Modi der Autobionarration unterschieden: Auf der Horizontalen der eigenen Lebensgeschichte hat die ethische Selbstvergewisserung sowohl einen »deskriptiven« als auch einen »normativen« Sinn, auf der Vertikalen hingegen verfährt die Autobionarration nicht nur »rekonstruktiv«, sondern auch »konstruktiv«. Was ist gemeint? Im vorfindlichen Raum jeweils möglicher Lebensstiloptionen und Identitätsansprüche (horizontale Dimensi­ on) bemüht sich die integre Person in der Regel nicht nur um eine adäqua­ te Bestandsaufnahme ihrer wahrhaft integralen Selbstverpflichtungen und Grundvorhaben (deskriptiver Modus), sondern immer auch darum, diese Per­ sönlichkeitsanteile einer genaueren Überprüfung und Bewertung zu unterzie­ hen (normativer Modus). Auf der zeitlichen Achse jeweils möglicher Lebens­ verläufe (vertikale Dimension) besitzt der Prozess der ethisch-existenziellen Selbstvergewisserung sowohl die Form der Aneignung einer unverwechsel­ baren Lebensgeschichte (rekonstruktiver Modus) als auch den Charakter des Entwurfs einer künftigen, erst noch zu realisierenden Existenz (konstruktiver Modus).36 Insgesamt muss das Projekt der Autobionarration als eine immer wieder erneut vorzunehmende »Sukzession« verschiedenster einzelner Lebenssitua­ tionen zu der Situation des Lebens verstanden werden, weil erst so eine qua­ litative Einheit des Selbst und seiner Geschichte erkennbar wird.37 Zu einem gegebenen Zeitpunkt mag das Leben schlecht und misslungen erscheinen und sich dennoch in der Gesamtschau als gut darstellen. Ebenso können einzelne Episoden der Lebensgeschichte auf eine gelingende Existenz schließen lassen, während jedoch die Gesamtbilanz eher ein Scheitern offenbart. Daraus ergibt sich eine wichtige Konsequenz für die Integritätsproblematik: Die Autobionar­ ration muss immer wieder, immer weiter und manchmal auch neu vorgenom­ men werden. Da personale Integrität ein integriertes Selbstbild voraussetzt, mit dem die eigenen Lebensvollzüge langfristig in Übereinstimmung gebracht werden sollen, hat sich das Leben nicht nur an einzelnen seiner Episoden, son­ 36 | Man hat sich den Zusammenhang dieser vier Modi wie ein dreidimensionales Koordinatensystem vorzustellen. Wir können jeden einzelnen Raum-Zeit-Punkt der Lebensgeschichte herausschneiden und in allen vier Hinsichten befragen. 37 | Dazu und für das Folgende Seel (1995), Abschnitt 2.1.5.

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dern an deren Gesamtschau zu orientieren. Erst vor dem Hintergrund eines solchen Einheitsbezuges kann Ordnung in die eigenen Wünsche, Wertbindun­ gen, Selbstverpflichtungen und Grundvorhaben gebracht werden; was wiede­ rum Voraussetzung dafür wäre, dass deren Realisierung planvoll in Angriff genommen werden kann. Das diesbezüglich gravierendste Integritätsproblem offenbart sich aller­ dings erst dann, wenn wir erneut bedenken, dass Lebensgeschichten in Fik­ tionen ausarten können. Nicht selten greifen Personen, wenn sie aus ihrem Leben erzählen, auf Strategien zurück, die ihr Selbstbild gezielt verfälschen. Da es im vorliegenden Kapitel primär um das schwierige Selbstverhältnis von integren Personen gehen soll, sind diesbezüglich nicht so sehr gezielte Täu­ schungen anderer Personen als vielmehr »Selbsttäuschungen« relevant.38 Da­ mit sind wir beim zweiten prototypischen Integritätsmangel, neben dem der Konfliktscheue, angelangt: Menschen besitzen die aus philosophischer Sicht äußerst merkwürdige Fähigkeit, sich selbst darüber im Unklaren zu lassen, wie es um sie bestellt ist. Um dieses Problem anschaulich zu machen, können wir noch einmal auf das zuletzt skizzierte Modell ethisch-existenzieller Selbst­ verständigung zurückgreifen. Menschen können sich in allen vier der zuvor genannten autobionarrativen Hinsichten irren. Im deskriptiven Modus kann es zu abwegigen und unrealistischen Selbsteinschätzungen kommen. Dazu ein Beispiel: Der Psychiater Ronald D. Laing berichtet von einem Pa­tienten, der auf die Frage, ob er Napoleon sei, wahrheitsgemäß mit »nein« antwortete. Der angeschlossene Lügendetektor jedoch schlug aus.39 Auch in normativer Hin­ sicht, d.h. mit Blick auf die Frage, was ihnen »wirklich« wichtig ist, machen Menschen sich manchmal etwas vor. Man erinnere sich hier nur an das von der Ideologiekritik diagnostizierte Phänomen »falscher Bedürfnisse«. Im rekon­ struktiven Modus kann es zu Vorgängen psychischer Verdrängung kommen. Wer z.B. von einem schlimmen Erlebnis traumatisiert wurde, weist häufig desintegrierende Erinnerungslücken auf. In konstruktiver Hinsicht schließlich können unrealistische Ich-Ideale zu einer steten Überforderung der Person führen. Als Beispiel wäre hier die Tochter aus »gutem Hause« zu nennen, die Beruf, Eheleben, Mutterschaft, Elternpflege sowie kirchliches Ehrenamt unter einen Hut zu bringen versucht. Bereits diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass mindestens zwei Kategorien von Irrtümern sorgsam auseinandergehalten werden müssen, wenn behauptet wird, ein Mensch »täusche sich« hinsichtlich der Frage, wie es in Wirklichkeit um ihn steht. Im ersten Fall mag die betreffende Person tatsächlich durch eine echte Informationslücke zu einer falschen Beurteilung 38 | G. Taylor (1981); Blustein (1991). Zum Problemgehalt siehe vor allem Martin LöwBeer (1990): Selbsttäuschung, Freiburg u. München: Alber. 39 | Ronald D. Laing (1972): Das geteilte Selbst, Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 42.

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ihrer Lage verleitet werden. Nehmen wir das Beispiel eines Ehemanns, der sich in einer gut funktionierenden Ehe wähnt, ohne zu wissen oder Anhaltspunkte dafür zu haben, dass seine Frau ihn seit geraumer Zeit mit ihrem Tennislehrer betrügt. Hier setzt die Täuschung voraus, dass der Mann weder will noch weiß, dass er einem Irrtum unterliegt. Die zweite Kategorie von Täuschungen ist jedoch gänzlich anders geartet. Hier geht es um Fälle, in denen alle relevanten Informationen prinzipiell zugänglich sind, nur weigert sich die betroffene Per­ son aus zunächst unerfindlichen Gründen, diese Informationen auch adäquat zur Kenntnis zu nehmen. Stellen wir uns vor, der betrogene Ehemann ahne bereits, dass seine Frau ihn seit geraumer Zeit hintergeht. Die erkennbaren Anzeichen ihrer Untreue – heimliche Telefonate, erhöhte Trainingsfrequenz, neue Mädchenhaftigkeit – ignoriert er aber. In Fällen wie diesem sagt man, die betreffende Person täusche sich nicht bloß, sondern sie täusche sich »über etwas hinweg«. Man diagnostiziert einen Zustand der Verkennung von Tatsa­ chen, an dem die Person auf seltsame Weise aktiv beteiligt ist. Ja, der Umstand ihrer Täuschung scheint regelrecht vorauszusetzen, dass die Person sowohl will als auch weiß, dass sie einer Täuschung unterliegt. Wie aber ist das möglich? Allein in Fällen dieser zweiten Kategorie kann von Selbsttäuschungen die Rede sein. Selbsttäuschungen dienen offenkundig dazu, aufkeimende Dis­ krepanzen im eigenen Selbstbild, die von den Betroffenen als schmerzvoll er­ fahren werden, gezielt abzuschwächen, zu vertuschen oder gar zu beseitigen. Selbsttäuschungen sind deshalb ein interessantes philosophisches Problem, weil sie die Frage aufwerfen, wie überhaupt ein derart gezielter Selbstbetrug vonstatten gehen kann.40 Der Akt einer Täuschung anderer Personen impli­ ziert, ihnen gezielt und geschickt relevante Informationen vorzuenthalten. Ein entsprechender Akt der Selbsttäuschung würde es paradoxerweise erforder­ lich machen, dass sich die betreffende Person selbst darüber klar wäre, welche Informationen sie sich verheimlichen möchte. Ein Akt der Selbsttäuschung verlangte von der sich täuschenden Person, ihn planvoll auszuführen und zugleich vor sich selbst zu verbergen. Wie aber soll das gelingen? Muss nicht die Klarheit über ein Wissen, das am Ende doch nicht gewusst werden soll, jeden Versuch, sich darüber hinwegzutäuschen, von vornherein zunichte machen? Oder kann sich ein Mensch dazu entschließen, das, was er weiß, von nun an nicht mehr zu wissen? Mindestens vier verschiedene Erklärungsansätze sind denkbar. Zunächst kann selbstverständlich bestritten werden, dass das Problem überhaupt exis­ tiert. Fälle, in denen es vorzuliegen scheint, müssten dann allesamt auf echte

40 | Siehe neben Löw-Beer (1990) vor allem Fingarette (1969); Jon Elster (1983): Sour Grapes, Cambridge: Cambridge UP; Brian P. McLaughlin/Amelie O. Rorty (Hg.) (1988): Perspectives on Self-Deception, Berkeley: California UP.

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Informationslücken zurückführbar sein. Doch schon im Fall des betrogenen Ehemanns erweist sich diese Deutung als vollkommen unplausibel. Man mag zwar der Ansicht sein, dass dessen böse Vorahnungen nicht schon als »Wis­ sen« im strikten Sinn interpretiert werden können, doch von einem echten Nicht-Wissen oder völliger Ahnungslosigkeit kann ebenfalls nicht die Rede sein. Daher wird der Betrachter zunächst vielleicht einer zweiten Deutungsstrategie folgen wollen, die in ihrem Kern orthodox psychoanalytische Züge aufweist. Hier geht es um die Überzeugung, dass Akte der Selbsttäuschung gänzlich »unbewusst« ablaufen. Eine unkontrollierbare und undefinierbare Kraft im In­ nern des betrogenen Ehemanns hält diesen, ohne dass er es merken würde, da­ von ab, der desaströsen Wahrheit ins Auge zu sehen. Im Inneren des Subjekts kämpft – vom Bewusstsein unbemerkt bzw. abgespalten – eine Art Zensor um die Verdrängung und Unterdrückung unangenehmer Einsichten.41 Nun, die Tatsache, dass dem Ehemann bereits »vorbewusst« präsent zu sein scheint, dass ihm ein großes Unglück droht, wird von dieser psychoanaly­ tischen Deutung, die einen gänzlich unbewussten Vorgang annimmt, bereits auf kategorialer Ebene übersehen. Überhaupt ist anzunehmen, dass unan­ genehme Gedanken nur dann ins Unbewusste »verdrängt« werden können, wenn sie die Schwelle zum Bewusstsein bereits zu übertreten drohen. Dies mag den Betrachter zu einer dritten, völlig entgegengesetzten Deutung verlei­ ten, nach der Selbsttäuschungen als durchweg bewusste oder besser noch absichtsvolle Verdrängungen zu verstehen sind. Der Selbstbetrug des Ehemanns wäre demnach als der gezielte Versuch aufzufassen, sich aus einer akuten Be­ drängnis heraus in eine kognitive Dissonanz zu begeben. Das Ich wird in zwei Instanzen aufgespaltet  – wie im fiktiven Dialog zwischen »Engelchen« und »Teufelchen« –, von denen die eine weiß, dass sich die andere täuscht, ohne dass die betreffende Person sich auf eine dieser beiden Stimmen festzulegen bräuchte.42 Die eine Stimme im Inneren des Ehemannes spricht von Betrug, während die andere beschließt, nicht weiter darauf zu hören. Ist das die richti­ ge Beschreibung? Kann hier tatsächlich von einem absichtsvollen und bewuss­ ten Vorgang die Rede sein? Ein vierter Erklärungsansatz sucht den konzeptionellen Mittelweg. Hier werden Selbsttäuschungsversuche weder als vollkommen bewusst noch als vollkommen unbewusst deklariert. Die These lautet vielmehr: Es ist wahr, dass Personen nicht zugleich von etwas wissen und sich dieses Wissen vorenthalten können. Gleichwohl können sie sich weigern, einen Sachverhalt, von dem sie prinzipiell wissen könnten, adäquat zur Kenntnis zu nehmen. Folgt man dieser 41 | Dazu exemplarisch Roy Schafer (1987): »Self-Deception, Defense, and Narration«, in: Psychoanalysis and Contemporary Thought, 10/1987. 42 | So die einschlägige Analyse der »mauvaise foi« bei Jean-Paul Sartre (1952/1991): Das Sein und das Nichts, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

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Auffassung, dann sind Selbsttäuschungen als Strategien der »Selbstimmuni­ sierung gegen kritische Selbstreflexion« möglich.43 Die sich selbst täuschende Person schottet sich gegen unbequeme, angstbesetzte oder gar schmerzhafte Einsichten ab, durch die sie zu unangenehmen Korrekturen ihres Selbst- und Weltbildes angehalten wäre, sobald ihr diese Einsichten vollends zu Bewusst­ sein kämen. Wenn die zur Selbsttäuschung neigende Person spürt, dass eine quälende Erkenntnis über die Schwelle des Bewusstseins drängt, wird sie den Versuch unternehmen, das aufkommende Wissen im Keim zu ersticken oder auf »andere Gedanken« zu kommen, noch bevor ihr diese Einsichten vollends bewusst werden. In akuten Momenten vollziehen sich Selbsttäuschungen demnach als unkritisches Abschweifen oder auch als rasches »Sich-Einreden« divergenter Wahrheiten, langfristig als Selbstimmunisierung gegen Erkennt­ nisse, durch die der sich selbst täuschende Mensch gezwungen wäre, sein bisheriges Selbstverständnis grundlegend zu überdenken. Akte der Selbsttäu­ schung, so ist festzuhalten, sind das Ergebnis einer mangelnden Selbstreflexi­ on angesichts beunruhigender Einsichten, die nicht gewusst werden sollen.44 Wenn hier behauptet wurde, dass Akte der Selbsttäuschung einen zweiten typischen Integritätsmangel bewirken, so ist nun der Schaden zu eruieren, den sie dem integren Leben zufügen. Da Personen nicht zugleich von einem Sach­ verhalt wissen und ihn verleugnen können, erfordert jede Selbsttäuschung eine Unterdrückung oder gar den willkürlichen Abbruch jenes inneren Selbstge­ sprächs, in dessen Rahmen sich eine Person Rechenschaft über ihr Leben gibt. Selbsttäuschungen blockieren und entstellen den autobionarrativen Prozess, bis sich der unter Selbsttäuschungen leidende Mensch am Ende nicht mehr nur über einzelne Sachverhalte seines Lebens, sondern letztlich über sich selbst hinweg täuscht. Wenn sich Selbsttäuschungen dauerhaft festsetzen, kann der Betroffene zunehmend der Depersonalisation anheim fallen. Wer auf die volle Einsicht in den eigenen ethisch-existenziellen Lebenszusammenhang bereits im Ansatz verzichtet, indem er unangenehme Erkenntnisse von vornherein auszublenden bereit ist, wird ein kohärentes und im Ernstfall problemlösendes Selbstverständnis niemals ausbilden können.45 Die sich dauerhaft selbst täu­ schende Person beraubt sich zudem der Möglichkeit, den eigenen Lebensweg aus Einsicht und mit guten Gründen korrigieren zu können, sobald er sich als irreführend erweist. Beschließt ein Mensch, sich mit der »ganzen« Wahrheit seiner Existenz nicht weiter konfrontieren zu wollen, muss er auf Dauer eben jene Kontrolle über den eigenen ethisch-existenziellen Lebenszusammenhang 43 | Löw-Beer (1990). 44 | Selbsttäuschungen können als Retusche am ethisch-existenziellen Selbstbild begriffen werden, in deren Vollzug ganz bestimmte Bildausschnitte verwischt oder auch übermalt werden, noch bevor die ursprüngliche Farbe getrocknet ist. 45 | Dazu auch G. Taylor (1985), S. 122ff.; Blustein (1991), S. 106ff.

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verlieren, die nicht zuletzt darin besteht, zukünftigen Negativentwicklungen vorzubeugen. Damit soll freilich nicht schon behauptet werden, dass in einem integren Leben überhaupt gar keine Selbsttäuschungen auftreten dürfen. Selbstredend mag es in so manchem Moment des Lebens verzeihlich oder gar angebracht sein, die kritische Reflexion temporär einzustellen.46 Ein wiederholter bis dauerhafter Selbstbetrug jedoch führte langfristig in Sackgassen, in denen Lernprozesse unmöglich werden. Auch wenn Selbsttäuschungen vermeintlich dem Erhalt eines intakten Lebenszusammenhangs dienen, da hier Konflikte, die das eigene Selbstbild ins Wanken bringen würden, schlicht ausgeblendet werden, so wird doch, unter Auf bringung von zum Teil enormen psychischen Energien, am Ende nur der Schein, ja, die Illusion von Integrität aufrechterhal­ ten. Die Autorschaft der eigenen Lebensgeschichte wird an eine Art Ghostwriter delegiert, der gezielt Lücken lässt und an vielen Stellen schlicht beschönigt. Die Autobionarration wird zur Fiktion. Zweifelsohne müssen im Hinblick auf eben diese Idee autobionarrativer Autorschaft sogleich drei wichtige konzeptionelle Einschränkungen vorge­ nommen werden, aus denen hervorgeht, dass Personen, selbst wenn sie nicht der Selbsttäuschung unterliegen, keineswegs buchstäblich als Autorinnen der eigenen Lebensgeschichte verstanden werden dürfen.47 Erstens ist zu beden­ ken, dass sich die in autobionarrativen Selbstverständigungsprozessen ange­ zielte »Einheit« des Lebens niemals als Ganze zur Darstellung bringen lassen wird. Zwar müssen wir im Rahmen der ethisch-existenziellen Selbstverständi­ gung unweigerlich an der Idee einer wie auch immer gearteten Ganzheit des eigenen Lebenszusammenhangs ausgerichtet bleiben, doch wird unser Leben in keiner unserer Einzeldarstellungen vollständig aufgehen; wie ausführlich auch immer man erzählen mag. Die Einheit des eigenen Lebenszusammen­ hangs sollte daher nicht als das Ergebnis einer großen Erzählung aufgefasst werden. Wir müssen diese Einheit im Rahmen der Aneinanderkettung vieler kleinerer Geschichten unterstellen und zugleich auch vergegenwärtigen. Aber herstellen lässt sie sich nicht.48 Erzählte und tatsächliche Lebensgeschichte werden niemals vollständig zur Deckung kommen, weil der Mensch seine 46 | Wir kommen auf diese Frage ausführlich in Abschnitt 3.4 zurück. 47 | Zu den Grenzen der Analogie von ethisch-existenziellen und literarischen Erzählungen siehe neben Thomä (1998) auch Paul Ricœur (1988ff.): Zeit und Erzählung, 3 Bände, München: Fink; Christoph Menke (1993b): »Das Leben als Kunstwerk gestalten?«, in: Maresch (1993). 48 | Es gilt derzeit als schick, von einer narrativen »Konstruktion« des Selbst zu sprechen, doch wird damit eine Verfügbarkeit über den eigenen Lebenszusammenhang suggeriert, die faktisch gar nicht besteht. Siehe dennoch: Thomas C. Heller/Morton Sosna/ David E. Wellbery (1986): Reconstructing Individualism, Stanford: Stanford UP.

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autobionarrativen Einschätzungen stets in situ vornimmt, d.h. inmitten eines Lebens, das sich als Ganzes niemals in den Blick nehmen lässt: »Wir weben an einem Muster, wir geben den einzelnen Handlungen und Widerfahrnissen eine Bedeutung durch ständige Strukturierung und Umstrukturierung innerhalb von Kontexten eines »Selbstverständnisses«. Aber wir überschauen das Grundmuster nicht. Das Selbstverständnis ist selbst nur ein Moment im Lebensvollzug, der sich selbst als ganzer nicht ganz durchsichtig wird. In jedem Verstehen wird ein Totalsinn unterstellt, antizipiert, ohne den Verstehen sich aufhöbe und dessen der Verstehende doch nicht mächtig ist.« 49

Die zweite konzeptionelle Einschränkung betrifft den Umstand, dass Prozes­ se der autobionarrativen Selbstaufklärung zumeist erst dann notwendig wer­ den, wenn im Leben Hindernisse, Konflikte und Widersprüche auftauchen und entsprechende Desintegrationen bewirken. Damit ist der hier untersuchte Zusammenhang von Integrität und Autobionarration unter einen pragmatistischen Vorbehalt gestellt: Eine integre Person muss keineswegs stets und stän­ dig ihre Lebensgeschichte erzählen und ihre unterschiedlichsten Lebensvoll­ züge in einen kohärenten Gesamtzusammenhang zu bringen versuchen. In der Regel kann sie sich in ihrem Leben auf ein breites Reservoir an gänzlich unproblematischen Hintergrundgewissheiten verlassen, die zwar ständig in ihre alltäglichen Lebensvollzüge einfließen, dort jedoch nur selten zum The­ ma werden. Das ändert sich erst dann, wenn diese Hintergrundgewissheiten durch Desintegrationserfahrungen in Frage gestellt werden: »Erst unter dem Situationsdruck eines auf uns zukommenden Problems werden relevante Bestandteile eines solchen Hintergrundwissens aus dem Modus der fraglosen Vertrautheit herausgerissen und als etwas der Vergewisserung Bedürftiges zu Bewußtsein gebracht. Erst ein Erdbeben macht uns darauf aufmerksam, daß wir den Boden, auf dem wir täglich stehen und gehen, für unerschütterlich gehalten hatten.« 50

Dieses pragmatistische »San-Francisco-Argument«51 dürfte nicht zuletzt für jenen festen Boden an Selbstverpflichtungen und Grundvorhaben Geltung besitzen, auf dem sich die integre Person bewegt. Auch wenn sich deren Selbstverständnis schwerer erschüttern lassen wird als das Selbstbild einer 49 | Spaemann (1989), S. 90. Vgl. auch Martin Seel (1996c): »Ästhetik als Teil einer differenzierten Ethik«, in: ders. (1996b); Peter Sloterdijk (1988): Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 50 | Habermas (1981a), Bd. 2, S. 589, mit Blick auf das Problem »Lebenswelt«. 51 | Ulf Matthiesen (1983): Das Dickicht der Lebenswelt und die Theorie des kommunikativen Handelns, München: Fink, S. 157.

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ohnehin auf »wackeligen Füßen« stehenden Person, so sind es doch in der Regel Momente ethisch-existenzieller Erschütterung, die das Bedürfnis nach autobionarrativer Reintegration wachrufen. Die integre Person muss daher keineswegs unentwegt, sondern allein in eben solchen Momenten zur auto­ bionarrativen Selbstaufklärung bereit und fähig sein. Das bedeutet auch, dass narrative Selbstintegration nicht gleich bei jedem problematischen Anlass auf das Ganze der eigenen Existenz zu zielen braucht. Das ethisch-existenzielle Selbstbild muss nicht schon bei jedem kleineren Beben vollständig in Sicher­ heit gebracht werden. Oftmals reichen bereits geringfügige und häufig sogar unbewusst ablaufende Korrekturen aus, um das erschütterte Selbstverhältnis wiederherzustellen. Demnach lassen sich je nach Ausdehnung und Intensität zwei Formen autobionarrativer Prozesse unterscheiden: jene, die einen größe­ ren Bogen spannen, um einen Gesamtzusammenhang des Lebens erkennbar werden zu lassen, und solche, die lediglich situativ klärend angelegt sind, in­ dem sie problematische Ausschnitte der Lebensgeschichte thematisieren. Die dritte konzeptionelle Einschränkung ist vermutlich die gravierendste: Lebensgeschichtliche Integration sollte als eine Praxis aufgefasst werden, die eher geschieht, als dass sie vollzogen wird. Es mag metaphorisch aufschluss­ reich sein, sich die integrierende Person als die Autorin ihrer Biographie vor­ zustellen, doch in konzeptioneller Hinsicht ist das irreführend. Zwar weist der ethisch-existenzielle Selbstverständigungsprozess stets auch Züge einer arti­ kulierten, säuberlich gesponnenen Erzählung auf, die mal in Gesprächen mit anderen, mal monologisch vorangetrieben wird. Gleichwohl kann der autobio­ narrative Klärungsprozess nicht schon mit der Arbeit eines Biographen bzw. Schriftstellers gleichgesetzt werden. Erstens läuft der autobionarrative Selbst­ verständigungsprozess nicht immer gezielt, voll bewusst oder bei klarem Ver­ stand ab; man denke hier nur an die psychologische Bedeutung von Träumen. Zweitens zerfällt dieser Prozess in viele kleinere Szenen und Episoden, die häufig gar nicht verknüpft zu werden brauchen. Und drittens schließlich sind zahlreiche subliminale, unterschwellige Faktoren, z.B. unwillkürliche Gedan­ kensplitter und Empfindungen, verantwortlich dafür, dass der autobionarrati­ ve Erfahrungsfluss im Ganzen gar nicht steuerbar ist. Spätestens an dieser Stelle gerät ein erstes Moment der »Unverfügbar­ keit« in das Verhältnis von Integrität und Selbstverständigung. Ob sich die Inte­griertheit einer Persönlichkeit am Ende einstellt, mag von Prozessen der Autobionarration abhängen, gänzlich herstellen lässt sie sich nicht. Insofern muss bereits an dieser Stelle das kognitivistische Missverständnis vermieden werden, personale Integrität sei primär als eine »Kompetenz« selbstreflexiver Personen zu begreifen. Dafür hängt das Gelingen existenzieller Selbstverstän­ digung – und damit auch die Integrität selbst – viel zu sehr von letztlich unver­ fügbaren Faktoren ab. Während aber eine erschöpfende Analyse dieser unver­ fügbaren Elemente zu einer eingehenden Beschreibung tiefenpsychologischer

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Prozesse zu führen hätte, die hier gar nicht geleistet werden kann, sollten die drei eben genannten konzeptionellen Einschränkungen zunächst allein dem Nachweis dienen, dass die Analogie der Autorschaft problematisch ist.

3.3 B eherz theit versus W illensschwäche : L eben , wie   man leben will Solange Personen sich nicht annähernd darüber im Klaren sind, von wel­ chen Wertbindungen, Selbstverpflichtungen und Grundvorhaben sie sich leiten lassen wollen, wird ihnen ein Leben in Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Inte­griertheit und Ganzheit kaum gelingen können. Das integre Leben setzt aber nicht nur voraus, dass die betreffende Person weiß, wie sie leben will, sie muss tatsächlich auch so leben. Gefordert ist die zwanglose Übereinstim­ mung der eigenen Lebensvollzüge mit einem ebenso zwanglos gewonnenen Selbstverständnis. Erst wenn diese doppelte Voraussetzung erfüllt ist, kann von personaler Integrität in dem umfassenden Sinn eines wahrhaft selbstbe­ stimmten Lebens die Rede sein. Gleich an dieser Stelle ist ein folgenreiches Missverständnis zu vermeiden: Personen, die im Zuge ihrer Entwicklung ei­ nen, wie es heißt, »selbstbestimmten« Willen auszubilden beginnen, schöp­ fen dabei niemals gänzlich aus dem Nichts. Sie finden sich immer schon in ganz konkrete, sie prägende und zugleich bindende Lebenszusammenhänge eingelassen, aus deren Wert- und Sinnbezügen sie nicht einfach heraustreten können. Die existentialistische Annahme, im Hinblick auf das eigene Dasein sei so etwas wie eine »radikale Wahl«52, gänzlich frei von jeglicher Fremdbe­ stimmung, möglich, ist eine irreführende Fiktion. Sie übersieht den Umstand, dass Personen in jedem einzelnen Moment, in dem sie sich als diese oder jene Person bestimmen, immer schon auf vielfältige Weise bestimmt sind, und zwar in mindestens drei Hinsichten: in actu aufgrund der objektiven Bedingungen der vorhandenen Lebenssituation; ex post durch die in ihrer jeweiligen Vergan­ genheit getroffenen Entscheidungen; ex ante aufgrund der genetischen, kul­ turellen, sozialen, ökonomischen etc. Prädispositionen, die sie mitbringen.53 Folglich kann das selbstbestimmte und standhaltende Wollen auch der in­ tegren Person stets nur eine eigene Antwort auf die immer schon vorhandenen Bedingungen des je eigenen Lebens sein. Ein völliges Losreißen von jeglicher Form der Heteronomie ist demnach undenkbar. Die Integritätsvoraussetzung eines mit hinreichend guten Gründen versehenen Selbstbildes darf nicht als völlige Eigenkreation verstanden werden, sie ist stets nur das Ergebnis einer selbstkritischen Interpretation und Überprüfung bereits vorhandener Wert52 | So der Topos bei Sartre (1952/1991). 53 | Ich folge hier: Seel (2002a). Vgl. Frankfurt (1999b); Bieri (2001).

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und Sinnangebote. Das bedeutet freilich nicht, dass uns im Rahmen der le­ bensweltlichen Verstrickung in vielfältige hermeneutische Sinnzusammen­ hänge überhaupt kein Spielraum zur kreativen Einflussnahme bliebe. Unsere interpretativen Antworten auf die eigene evaluative Ausgangslage lassen diese kaum unberührt. Überdies sind Personen dazu in der Lage – gerade deshalb sind sie selbstverantwortliche Personen –, einzelne Sinnangebote nach eigener Prüfung von sich zu weisen, wenn ihnen eine Identifikation unerwünscht er­ scheint. Solange Personen in den ihnen angestammten Kontexten verweilen, ist eine Revision vorhandener Wertangebote, d.h. deren kritische Aneignung, individuelle Interpretation und partielle Zurückweisung, möglich, ein voll­ ständiger Austausch des gegebenen Interpretationsrahmens dagegen nicht. Wer ein integres und selbstbestimmtes Leben in Übereinstimmung mit dem, was ihm am Herzen liegt, führen will, wird sich daher mit dem Umstand ab­ finden müssen, dass ein Leben in völliger »Autarkie« niemals zu haben sein wird.54 Daraus ergibt sich die zunächst paradox anmutende Einsicht, dass das Le­ ben in integrer Selbstbestimmung immer zugleich auch ein Leben in Fremd­ bestimmung ist. Angesichts einer vielfältigen und letztlich kontingenten Be­ stimmtheit des Lebens muss personale Integrität als autonome Antwortpraxis aufgefasst werden. Heteronomie ist nur dann ein gravierendes Hindernis für die Integrität, wenn der eigene Willen unterdrückt oder an seiner Realisierung gehindert wird oder wenn ein solcher Wille lebensgeschichtlich gar nicht erst formiert bzw. aufrechterhalten werden kann. Zwei Kategorien solcher Hetero­ nomie sind dabei zu unterschieden. Während wir auf Fälle einer durch andere Personen bewirkten Unfreiheit erst später zu sprechen kommen werden55, sollen hier zunächst Phänomene betrachtet werden, bei denen die fehlende Realisierung selbstbestimmter Lebensorientierungen auf das eigene Konto der Betroffenen geht. Wir stoßen dabei auf einen dritten prototypischen Integri­ tätsmangel, der als kompliziertes philosophisches Problem mit langer Tradi­ tion gilt. Führen wir uns zunächst den alltagssprachlich vertrauten Umstand vor Augen, dass Menschen nicht immer »so können, wie sie wollen«. Wir werden nicht nur durch fremde, äußere Zwänge von der Realisierung unseres Willens abgehalten, häufig sind dabei auch fremdartige innere Kräfte und Zwänge am Werk, ja, in vielen Fällen scheinen Menschen regelrecht wider besseres Wissen zu agieren. Damit ist aus philosophischer Sicht das Problem der »Willens­ schwäche« berührt, von der seit jeher fraglich ist, ob überhaupt und wie es

54 | Die gesamte zweite Hälfte des Buches kann als Explikation dieser Überzeugung verstanden werden. 55 | Siehe dazu vor allem Abschnitt 4.3.

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dazu kommen kann.56 Bereits Sokrates warf die Frage auf, wie es möglich sei, »daß der Mensch, das Gute erkennend, es dennoch nicht zu tun pflegt«.57 Die Antwort des Hebammensohns verblüfft bis heute: Willensschwäche ist über­ haupt nicht möglich. Aber kann das sein? Alle späteren Versuche, diese frühe Leugnung des Problems ihrerseits zu leugnen, haben deutlich werden lassen, dass eine Antwort auf die Frage nach der bloßen Möglichkeit von willens­ schwachen Handlungen vor allem von der inhaltlichen Charakterisierung des Phänomens abhängt. Damit ein von der philosophischen Diskussion zunächst unberührtes Bild vom Phänomengehalt des Problems vor Augen treten kann, beginnen wir mit einem ganz alltäglichen Beispiel. Die fleißige Studentin Anna sitzt spätabends an ihrem Schreibtisch. In we­ nigen Tagen wird eine schwere Prüfung stattfinden. Das Telefon klingelt, und ihre beste Freundin fragt an, ob Anna mit ihr ausgehen möchte. Nun kann Anna auf eine der vier folgenden Weisen reagieren: (a) Sie zögert nicht lange, sagt spontan zu, nimmt ihre Jacke und verlässt das Haus; (b) Anna reagiert zögerlich, erwägt sorgfältig die Gründe, die gegen den geplanten Bar-Besuch sprechen, entscheidet sich am Ende aber dennoch dafür, die Arbeit ruhen zu lassen; (c) Anna überlegt, geht in sich, wird trotzt der Lust auf etwas Abwech­ selung von einem starken Pflichtgefühl ermahnt, sodass sie ihrer Freundin schweren Herzens absagt; (d) Anna zögert nicht erst, schlägt das Angebot der Freundin dankend aus und vertröstet sie auf einen Abend nach der Prüfung. Der Einfachheit halber werden wir davon ausgehen, dass Anna glaubt, noch nicht genug für ihre Prüfung gelernt zu haben. Die weitere Vorbereitung ist demnach als ein dringliches Projekt anzusehen. Nehmen wir zudem an, dass die beiden Freundinnen häufiger miteinander ausgehen. Ein gemeinsamer Drink an diesem Abend wäre nichts Besonderes. Der gemeinsame Bar-Besuch, so verlockend er auf den ersten Blick auch erscheinen mag, stellt demnach das alles in allem weniger wichtige Anliegen dar. Dies vorausgesetzt, wäre es ver­ wunderlich, wenn Anna wie in Fall (a) reagierte und ihre guten Vorsätze ohne jedes Zögern über Bord zu werfen bereit wäre. Im Fall von (b) erliegt sie, trotz anfänglichen Zögerns, den Verlockungen des Moments. Käme es zu (c), würde sich Anna, wie man sagt, als »standhaft« und »besonnen« erweisen. Fall (d) wiederum dürfte erneut Verblüffung hervorrufen. Diesmal allerdings darüber, dass sich Anna von dem durchaus attraktiven Angebot ihrer Freundin nicht einmal einen Moment lang irritieren lässt.

56 | Geoffrey Mortimore (Hg.) (1971): Weakness of Will, London: Macmillan; Thomas Spitzley (1992): Handeln wider besseres Wissen, Berlin u. New York: de Gruyter. Mit Blick auf die Integritätsproblematik: G. Taylor (1981); Blustein (1991); Cox/La Caze/ Levine (2003). 57 | Platon (o.J./1984): Protagoras, in: Werke, Bd. I.1, Berlin: Akademie, S. 213 (355).

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Auf den ersten Blick wird der Betrachter vermutlich dazu neigen, Anna in den Fällen (a) und (b) ein unterschiedliches Ausmaß an Willensschwäche, in den Fällen (c) und (d) hingegen ein ebenso unterschiedliches Maß an Willens­ stärke zu attestieren. Diese Deutung ist jedoch nur teilweise zutreffend. Wie schon bei den beiden ersten typischen Integritätsmängeln  – Konfliktscheue und Selbsttäuschung – ist auch mit Blick auf die Willensschwäche anzuneh­ men, dass sich das Phänomen allein in solchen Situationen zeigen kann, in denen es im Selbstverständnis der betroffenen Person zu einer mehr oder we­ niger bewussten Kollision unterschiedlich gewichteter Interessen kommt. In dem Moment, in dem ein mit hinreichend guten Gründen versehenes über­ geordnetes Wollen (»Ich muss lernen«) mit eher spontanen Wünschen oder Antrieben (»Ich würde gerne ausgehen«) kollidiert, muss Anna wissentlich vor der Alternative stehen, sich so oder auch anders entscheiden zu können. Die Aufforderung zur Willensstärke kann allein dann spürbar werden, wenn die Realisierung der grundsätzlich für besser gehaltenen Alternative ersichtlich gegen situative innere Antriebe oder Widerstände erfolgen müsste. Die beherz­ te, willensstarke Person überwindet diese inneren Widerstände, die willens­ schwache hingegen kapituliert.58 Demzufolge sind wir allein in den Fällen (b) und (c) ausdrücklich mit der Frage nach der Willensschwäche bzw. -stärke einer Person konfrontiert, d.h. ausschließlich angesichts von Situationen, in denen konfligierende Bedürfnis­ se und Wertbindungen auf der Ebene von Gründen gegeneinander abgewogen werden. Allein in einem bewusst wahrgenommenen Konflikt kann so etwas wie ein fester Wille zum Vorschein kommen, an dem andere, damit unver­ trägliche Wünsche abprallen. Auf die beiden übrigen Fälle (a) und (d) kann die Willensschwächeproblematik daher keine Anwendung finden. Hier trifft Anna ihre Entscheidung derart unmittelbar und spontan, dass von einer eingehen­ den Überprüfung vorhandener Wertvorstellungen sowie von einer »starken« Wertung zweiter Reflexionsstufe gar nicht ausgegangen werden kann. Im ers­ ten Fall nimmt Anna lediglich eine »schwache«, unmittelbar dem Lustprin­ zip folgende Wertung vor. Im anderen Fall verbietet ihr eine überaus rigide Zielvorgabe bereits im Ansatz jegliche Form von Abwägung, so dass es auch hier zu keiner echten Überprüfung ihrer Orientierungen kommt. Kurzum: In beiden Fällen kann die Frage der Willensschwäche deshalb nicht aufkommen, weil gar kein handlungsleitender Wille erkennbar wird. Zwei wichtige Einschränkungen sind im Hinblick auf den Phänomenbe­ reich der Willensschwäche vorzunehmen: Zum einen haben wir solche Fälle

58 | Ursula Wolf (1999b): »Zum Problem der Willensschwäche«, in: Stefan Gosepath (Hg.) (1999): Motive, Gründe, Zwecke. Theorien praktischer Rationalität, Frankfurt a.M.: Fischer.

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von der Problematik auszunehmen, in denen die Realisierung eines festen Willens an unüberwindbaren äußeren Widerständen scheitert; z.B. an einem dauerhaften Stromausfall oder daran, dass ein für die Prüfung wichtiges Buch erst wieder am nächsten Tag in der Bibliothek zugänglich sein wird. In Si­ tuationen wie diesen wäre es unangemessen, von Willensschwäche zu spre­ chen, wenn Anna mit ihrer Freundin ausginge. Vielmehr sollte von »Pech« oder aber dem Fehlen »negativer Freiheit« im Sinne einer Beschränkung ihrer Handlungsfreiheit die Rede sein. Annas Wille kann hier gar nicht realisiert werden, selbst wenn sie fest dazu entschlossen wäre.59 Zum anderen sind aber auch solche Fälle von der Problematik auszunehmen, in denen Menschen von schier unüberwindlichen inneren Widerständen, z.B. aufgrund von Neurosen oder Sucht, an der Verwirklichung ihrer Vorhaben gehindert werden.60 Hier kann ein selbstbestimmter Wille allein schon deshalb keine Realisierung fin­ den, weil er sich gar nicht erst herausbildet. Aufgrund seltsam fremder Mäch­ te scheint die neurotische oder eben süchtige Person bereits im Ansatz keine Wahl zu haben. Daher sollte man eher von »Zwang« oder der Abwesenheit »positiver Freiheit« im Sinne einer Beeinträchtigung ihrer Willensfreiheit sprechen.61 Folglich kann die Forderung nach Beherztheit und Willenstärke aus­ schließlich dann spürbar werden, wenn drei Bedingungen erfüllt sind: Erstens müssen auf der Ebene bewusster Gründe mindestens zwei divergente Orien­ tierungen kollidieren, und zwar ein übergeordnetes Wollen und ein davon ab­ weichender situativer Wunsch. Zweitens darf keinem dieser beiden Vorhaben ein äußeres oder auch inneres Hindernis mit absolutem Zwangscharakter im Wege stehen. Drittens schließlich muss die Situation so beschaffen sein, dass sich der Streit zwischen den jeweiligen Gründen, die für beide Orientierungen sprechen, auf Anhieb gar nicht eindeutig entscheiden lässt. Im Nachhinein sind Fälle von Willensschwäche allein dort zu diagnostizieren, wo die betref­ fende Person auch anders hätte handeln können, und zwar gemäß ihres höher­ stufigen Willens, wenngleich sie sich zu Gunsten der vermeintlich schlechte­ ren Gründe entschieden hat. Aus zunächst unerfindlichen Gründen scheint 59 | Ein Mensch, der wie ein Vogel fliegen möchte und es doch nicht kann, ist nicht willensschwach. Im Grunde kann er nicht einmal den »Willen« zum Fliegen haben, denn es gilt: Wollen impliziert Können. In Fällen von überwindbaren äußeren Hindernissen ist das Problem jedoch anders geartet. Nehmen wir an, Anna hat beim Einkaufen ihren Wohnungsschlüssel verloren und sich daraufhin entschieden, mit ihrer Freundin auszugehen, obwohl sie stattdessen einen Schlüsseldienst hätte rufen können. In Fällen wie diesem wäre durchaus von Willensschwäche zu sprechen. 60 | Ausschließlich in diesem Sinne wird Willensschwäche interpretiert von Richard M. Hare (1963): Freedom and Reason, Oxford: Clarendon, Kap. 5. 61 | Das Verhältnis von Integrität und Freiheit wird genauer in Kapitel 5 behandelt.

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vorsätzlich die alles in allem für besser gehaltene Orientierung das Nachsehen gehabt zu haben.62 Der Verdacht liegt nahe, dass der in einer willensschwachen Situation am Ende unterlegene Vorsatz (»Ich muss lernen«) am Ende gar nicht stark genug gewesen ist, um überhaupt als fester Wille gelten zu dürfen. Der de facto aus­ schlaggebende und nur vermeintlich für schwächer gehaltene Handlungs­ grund (»Etwas Abwechselung würde mir jetzt gut tun«) müsse letztlich eben doch der stärkere oder gar bessere gewesen sein, sonst hätte er nicht obsiegen können. Das ist in etwa die Position des Sokrates: Die bloße Tatsache, dass jene Gründe, die für die mutmaßlich bessere Handlung gesprochen haben, am Ende doch zurückgetreten sind, muss bedeuten, dass diese Gründe eben nur scheinbar die für besser gehaltenen Gründe waren, sonst wäre der mit ihnen verbundene Vorsatz handlungswirksam geworden.63 Erinnern wir uns noch einmal an den traurigen Helden aus: »Ich war noch niemals in New York«. Des­ sen Vorsatz, der tristen Alltagswelt zu entfliehen, ist offenkundig noch nicht reif genug gewesen, um als ein handlungsleitender Wille wirksam zu werden, sonst hätte der Mann wohl etwas mehr Anstrengungen unternommen als bloß schwärmerische Gedankenspiele auf dem Weg zum Zigarettenautomaten. Auch hier kann von Willensschwäche im strikten Sinn deshalb nicht die Rede sein, weil ein nach Realisierung strebender Vorsatz, d.h. ein fester Wille, gar nicht erst vorhanden war. Die sokratische Spitzfindigkeit lautet demnach: Ein Mensch würde das, was er tut, nicht freiwillig tun, wenn er es letztlich nicht doch für besser halten würde als das, was er unterlässt. Wird Willensschwäche als ein Handeln »wider besseres (!) Wissen« definiert, ist sie damit bereits auf definitorischer Ebene ausgeschlossen. Die für besser gehaltenen Gründe sind definitionsgemäß immer jene, die am Ende obsiegen. Aristoteles hat diese sokratische Ansicht zugleich geteilt und in Zweifel gezogen, indem er davon ausging, dass es eine durchweg klarsichtige Willens­ schwäche tatsächlich nicht geben könne.64 Es sei ein Ding der Unmöglichkeit, so Aristoteles, dass ein Mensch bei vollem Bewusstsein das für ihn Schlechtere tue. Dennoch sei das hier ins Auge gefasste Alltagsphänomen nicht einfach wegzudefinieren. Man müsse es lediglich anders beschreiben. Selbst wenn der Mensch das Gute kennt, so Aristoteles, und zugleich fest zu dessen Re­ alisierung entschlossen ist, gibt es dennoch Momente im Leben, in denen man, wie ein Betrunkener oder Träumender, für kurze Zeit vergisst, was das wahrhaft Gute ist. Die willensschwache Person leidet demnach temporär un­ ter einer situationsbedingten Trübung ihres Bewusstseins, durch die sie das wahrhaft Gute für einen Moment aus den Augen verliert. Von Begierden, Lust 62 | Martin Seel (2002c): »Ein Lob der Willensschwäche«, in: ders (2002b). 63 | Platon (o.J./1984), S. 213ff. (355ff.). 64 | Aristoteles (349 v. Chr./1991): Die Nikomachische Ethik, München: dtv, 7. Buch.

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und Leidenschaft sind ihr die Sinne betäubt und der Verstand benebelt. Nur insofern erweist sie sich als schwach, wenn sie diesen Begierden nachgibt. Sie handelt einem besseren Wissen zuwider, über das sie zwar prinzipiell, aber eben nicht augenblicklich verfügt. Demnach werden willensschwache Hand­ lungen nicht sehenden Auges vollzogen, sondern im Zustand einer temporären Blindheit gegenüber dem Guten. Aber, so wäre Aristoteles hier zu fragen, sind nicht dennoch Fälle zu ver­ zeichnen, bei denen wir davon ausgehen müssen, dass die willensschwache Person tatsächlich klarsichtig und absichtsvoll handelt? In maximaler Oppo­ sition zu Aristoteles vertritt vor allem Donald Davidson65 die Ansicht, dass Willensschwäche überhaupt nur dann auftreten kann, wenn klarsichtig jene Orientierung Umsetzung erfährt, für die zuvor die vergleichsweise schlech­ teren Gründe gesprochen haben. Die in willensschwachen Momenten aus­ schlaggebenden Gründe sind und bleiben die schlechteren, so Davidson. Geht Anna mit ihrer Freundin aus, obwohl sie weiß, dass sie lernen müsste, trifft sie ihre Entscheidung sehenden Auges. Sie bleibt der besseren Gründe, die für den Verbleib am Schreibtisch sprechen, ansichtig, doch sie ist bereit, für ihren nächtlichen Ausflug den Preis der Reue zu zahlen. Ihr Handeln ist klar­ sichtig, wenngleich »irrational«, wie Davidson sagt, weil es ein Handeln aus den faktisch schlechteren Gründen ist. Zwar entscheidet sich Anna gezielt für das, was ihr momentan wünschenswert erscheint, doch kann sie ihre Entschei­ dung nicht noch einmal mit höherstufigen Argumenten verteidigen. Sie tut nicht das, was alles in allem gut für sie wäre. Selbst wenn man Fälle wie diesen prinzipiell für möglich hält, müss­ te doch erst noch geklärt werden, wie die Motive geartet sein sollen, die ein Handeln wider besseres Wissen in Gang zu bringen vermögen. Man könnte Personen die Fähigkeit zuschreiben, sich ab und an Ausnahmen zu gönnen, ohne sich dadurch bereits grundsätzlich von ihrem ethisch-existenziellen Kurs abbringen zu lassen (»Das, was ich heute nicht mehr geschafft kriege, hole ich morgen einfach nach«).66 Denkbar sind solche ethisch-existenziellen Aus­ nahmeregelungen zweifellos, doch wäre die Diagnose Willensschwäche dann noch anwendbar? Handelte Anna noch immer wider besseres Wissen, wenn sie es sich ausnahmsweise gönnen würde, schwach zu werden? Nicht unbe­ dingt, denn unter Umständen können sich Menschen wie Anna angesichts derartiger Ausnahmeregelungen eben gerade als besonders willensstark er­ weisen, und zwar dann, wenn sie sich durch kleinere Eskapaden nicht schon grundsätzlich davon abringen lassen, anschließend erneut zu ihren integralen 65 | Donald Davidson (1985a): »Wie ist Willensschwäche möglich?«, in: ders. (1985b): Handlung und Ereignis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp; ders. (1999): »Paradoxien der Irrationalität«, in: Gosepath (1999). 66 | Dazu Anthony Kenny (1975): Will, Freedom and Power, Oxford: Blackwell.

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Selbstverpflichtungen und Grundvorhaben zurückzukehren. Gelingt dies, so befinden sie sich letztlich wieder in Einklang mit dem, was sie in einem über­ geordneten Sinne für das Richtige halten (»Wenn ich nicht ab und zu unter Leute gehe, werde ich noch verrückt!«).67 Ganz gleich aber, wie Anna sich entscheiden mag, Beispiele wie das ihre zeigen, dass die Frage, ob im konkreten Einzelfall Willensschwäche attestiert werden muss, gar nicht unabhängig vom Inhalt des jeweiligen Begründungs­ zusammenhangs beantwortet werden kann, den die betreffende Person selbst anstrengt. Betrachten wir dazu einen anderen Fall: Ein junger Mann hat sich nach einem langen Fernsehabend mit Schokolade, Chips und Bier in sein Bett begeben und unlängst damit begonnen, sich in seine Kissen zu vergraben. Schon gleitet er über in jenen wohligen Dämmerzustand, der die tiefe Nacht herauf beschwören soll, als sich in seinem geschwächten Bewusstsein plötzlich und erst zaghaft so etwas wie ein störendes Kratzen bemerkbar macht. Lang­ sam wird es stärker, um mit einem Mal den Schutzwall des Halbschlafes zu durchbrechen: Er hat vergessen, sich die Zähne zu putzen. Plötzlich hellwach, malt der arme Mann sich nun aus, wie die Schokoladen-, Chips- und Bierreste über Nacht an seinen Zähnen arbeiten werden. Dennoch hat er wenig Lust, noch einmal aufzustehen. Fast war er schon eingeschlafen, und der Boden im Badezimmer ist unangenehm kalt. Folglich verspürt der Mann zwei sich direkt widersprechende Bedürfnisse: den Wunsch, im warmen Bett liegen zu bleiben, und zugleich auch den Drang, sich die Zähne putzen zu gehen. Er wird sich also entscheiden müssen. Nehmen wir an, er ließe es zu, dass ihn erneut die Müdigkeit überkommt und damit von der Sorge um seine dentale Gesundheit abbringt. Wollte man ein aristotelisches Urteil fällen, so wäre von Willensschwäche zu sprechen. Wer sich schlaftrunken von seinen »niederen« körperlichen Regungen bene­ beln und dadurch von seinen festen Prinzipien und Werten abbringen lässt, offenbart, zumindest temporär, charakterliche Defizite. Man kann jedoch auch gänzlich anderer Auffassung sein. Davidson kommt zu dem nahezu entgegen­ gesetzten und zweifellos sympathischeren Schluss, dass nicht etwa diejenige Person, die liegen bleibt, Willensschwäche zeigt, sondern jene, die aufsteht, um sich die Zähne zu putzen. Der sehnsüchtige Wunsch nach Ruhe und Schlaf, so ist Davidson hier zu interpretieren, wird der bloßen Konvention geopfert, man habe sich vor dem Schlafengehen nun mal die Zähne zu putzen.68 Ganz gleich jedoch, ob man dieses Argument für stichhaltig hält, es macht uns darauf auf­ merksam, dass Konflikte, in denen die Beherztheit eines Charakters auf dem Spiel steht, gar nicht von außen, d.h. aus der strikten Beobachterperspektive, gedeutet oder gar entschieden werden können. Stets sind die faktischen Motive 67 | Vgl. Wolf (1999b), bes. S. 238. 68 | Davidson (1985a), bes. S. 55f.

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und Wertorientierungen derjenigen Person zu berücksichtigen, die sich zu entscheiden hat.69 Ist die Person so sehr um ihre dentale Gesundheit besorgt, dass sie dafür situative Unannehmlichkeit in Kauf zu nehmen bereit ist, wird sie sich vermutlich zum Aufstehen motivieren können. Wenn ihr aber die Er­ holung, die der sofortige Schlaf bieten würde, unerlässlich erscheint, mag sie sich anders entscheiden. Von Willensschwäche zu sprechen, ist nur dann an­ gebracht, wenn eine Person sich offen gegen jene Gründe entscheidet, die aus eigener Überzeugung die für sie alles in allem besseren sind. Willensschwach sind Handlungen in Abweichung von dem, was subjektiv das Gute wäre. Ver­ fehlungen gegenüber einem wie immer objektiv zu bestimmenden Guten sind hier zunächst irrelevant.70 Dennoch bleibt es ratsam, in der Außenbeurteilung eines potenziellen Falls von Willensschwäche nicht allein auf die von den betreffenden Personen selbst gegebenen Begründungen zu setzen. So manche nachträglich gelieferte Rechtfertigung erweist sich bei genauerem Hinsehen als vorgeschoben (»Ich war mir sicher, dass keine Zahnpasta mehr da war«). Dieser Umstand ist vor allem deshalb von Interesse, weil derart unaufrichtige Begründungsstrategi­ en nicht nur gegenüber anderen Menschen zum Einsatz kommen, sondern – erinnert sei hier an den Integritätsmangel der Selbsttäuschung  – auch im Rahmen des ethisch-existenziellen Selbstgesprächs. Ursula Wolf geht sogar davon aus, dass Selbsttäuschungen für das Phänomen der Willensschwäche konstitutiv sind.71 Die willensschwache Person, so Wolf, mag ihre höherstufi­ gen Wertvorstellungen zwar kurz erwägen, doch werden diese rasch verdrängt oder mit vorgetäuschten Gründen schlicht beiseite geschoben. Angesichts der Verlockungen des Moments spürt die potenziell willensschwache Person, dass eine genauere Abwägung des Konflikts zu einer Revision ihres Werteverständ­ nisses oder gar zu der Einsicht zu führen hätte, dass ihre höherstufigen Werte in Wirklichkeit gar keine festen höherstufigen Werte sind. Demnach unterliegt die willensschwache Person einer doppelten Selbsttäuschung im Hinblick auf ihre integralen Wertbindungen: Erstens werden diese verdrängt und zweitens sind es daher keine. Nach Wolf sind willensschwache Handlungen nicht, wie bei Aristoteles, Resultat rauschhafter Verwirrung, sondern »interessierte Feh­ ler«, d.h. absichtsvoller Selbstbetrug, wobei drei verschiedene Strategien denk­ bar sind: Entweder führt sich die willensschwache Person ihren Konflikt gar nicht ernsthaft zu Bewusstsein (»Man sollte nicht immer so viel über alles 69 | Vgl. Seel (2002c). 70 | Daher sollte das Problem der Willensschwäche auch nicht mit dem »moralischen Motivationsproblem« verwechselt werden. Dabei geht es allein um das Phänomen, dass Personen unbedingte Verpflichtungen gegenüber anderen Menschen verspüren können, ohne ihnen zu folgen. 71 | Dazu und für das Folgende siehe Wolf (1999b).

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nachdenken«). Das ist die Taktik der Verdrängung. Oder sie zitiert zur Recht­ fertigung spontan irgendwelche Handlungsgründe herbei, die faktisch für ihr Handeln gar nicht ausschlaggebend sind bzw. waren (»Das mit dem Lernen bringt heute eh’ nichts mehr«). Dies kann als Strategie der Rationalisierung be­ zeichnet werden. Oder aber die Person deutet ihr ethisch-existenzielles Selbst­ verständnis kurzfristig so um, dass die Handlungsgründe, die für die willens­ schwache Handlung sprechen, plötzlich dazu passen (»Eigentlich bin ich ja ein eher spontaner Typ«). Das ist die Taktik temporärer Identitätsumbildung. In all diesen Fällen, so Wolf, spürt die willensschwache Person, dass sie sich in Widersprüche verwickelt, aber sie will diese Widersprüche schlicht nicht wahrhaben. Selbsttäuschungen machen einen wichtigen ethisch-exis­ tenziellen Kompromiss möglich: Einerseits kann die Person an ihrem idealen Selbstbild festhalten, andererseits braucht sie aber auch nicht auf die Befrie­ digung ihrer davon augenblicklich abweichenden Bedürfnisse zu verzichten. Gleichwohl ergibt sich der von Wolf angedeutete und an Sokrates erinnernde Schluss, dass eine Entscheidung zu Ungunsten des mutmaßlich höherstufi­ gen Wertes Beweis genug dafür ist, dass der entsprechende Vorsatz am Ende doch nicht fest genug gewesen sein kann, keineswegs zwingend. Auch hier sind drei Fälle zu unterscheiden. Nehmen wir an, eine übergewichtige Person habe sich eine strikte Diät verordnet. Am Büfett einer Hochzeitsfeier gerät sie in Versuchung und wird willensschwach. Solange aber die Person ihrer Selbst­ verpflichtungen eingedenk bleibt und am nächsten Tag zu ihrer Diät zurück­ kehrt, wird sich ihr ursprünglicher Vorsatz trotz allem als fest und höherstufig erweisen. Geschieht dies nicht, wie bei den vielen abgebrochenen Diätversu­ chen zuvor, mag die Person zwar gut gemeinte Absichten haben, doch bleiben konsequente Taten aus. Gänzlich ohne Vorsatz ist die Person zwar nicht, doch ohne festen Vorsatz und daher willensschwach. Wenn sie hingegen vollständig darauf verzichtet, eine Diät auch nur in Angriff zu nehmen, liegt überhaupt kein Vorsatz vor. Die übergewichtige Person mag zwar insgeheim den Wunsch haben, endlich einmal abzuspecken, doch aus diesem Wunsch folgt nichts. Entsprechend kann dann aber auch nicht von Willensschwäche die Rede sein, eben weil dazu ein Wille oder Vorsatz allererst vorhanden sein muss. Personen wie diese sind nicht willensschwach, sondern schwach. Bei genauerem Hinsehen scheint es allerdings so, als liefen Wolfs Überle­ gungen zum Selbsttäuschungscharakter der Willensschwäche auf eine offene Konfrontation mit Davidson hinaus, der mit der Annahme, Willensschwäche sei allein klarsichtig möglich, genau das Gegenteil behauptet hatte. Martin Seel hat jedoch gezeigt, dass eine Entscheidung zu Gunsten einer dieser beiden An­ sätze deshalb nicht angebracht ist, weil sie auf jeweils unterschiedliche Formen von Willensschwäche Bezug nehmen, die in der Realität beide vorkommen.72 72 | Seel (2002c).

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Erst in der Analyse konkreter Einzelfälle, so Seel, wird sich zeigen können, ob der von Wolf analysierte Fall eines durch Selbsttäuschung ermöglichten Kom­ promisses vorliegt oder ob man es mit dem von Davidson beschriebenen Phä­ nomen klarsichtiger Irrationalität zu tun hat. Im ersten Fall ist an das Beispiel der übergewichtigen Person zu denken, die sich auch nach zahllosen Diätver­ suchen noch einzureden vermag, beim nächsten Mal werde es gelingen. Im zweiten Fall hingegen wäre an die fleißige Studentin Anna zu erinnern, die bereits weiß, dass sie ihren nächtlichen Ausflug bereuen wird. Damit lässt sich das aus philosophischer Sicht doppelte Problem, ob und, wenn ja, wie Willensschwäche möglich ist, wie folgt zusammenfassen: Die Fra­ ge, ob Willensschwäche möglich ist, muss zunächst positiv beantwortet wer­ den. Willensschwache Handlungen sind das Resultat eines von der betroffenen Person mehr oder weniger bewusst wahrgenommenen Konfliktes zwischen Interessen von ethisch unterschiedlichem Rang, wobei dieser Konflikt, ohne dass innerer oder äußerer Zwang vorläge, zu Gunsten der jeweils schlechteren Gründe entschieden wird, und zwar entweder verdeckt durch Strategien der Selbsttäuschung oder aber klarsichtig und damit wider besseres Wissen. Wil­ lensschwache Personen des ersten Typs retuschieren ihr ethisch-existenzielles Selbstbild durch Selbsttäuschungspraktiken, die gezielt den autobionarrativen Selbstverständigungsprozess verdunkeln, damit der schöne Schein von Inte­ grität aufrechterhalten werden kann. Willensschwache Personen des zweiten Typs hingegen vollbringen sehenden Auges das, was sie für das alles in allem Schlechtere halten, und setzen damit den für die Integrität maßgeblichen Mo­ dus der Übereinstimmung von Selbstbild und Lebensvollzug aufs Spiel. Damit sind sie beide deutlich von integren Personen zu unterscheiden, die sich in der Regel Klarheit darüber verschaffen wollen, was wahrhaft gut für sie wäre, um dieses Gute entsprechend klarsichtig verfolgen zu können. Die Frage, wie Willensschwäche möglich ist, bedarf einer eher psycholo­ gischen Antwort. Es dürfte deutlich geworden sein, dass die prominent von Sokrates vertretene Annahme, die willensschwache Person »wisse« nicht, was das Gute ist, unhaltbar ist.73 Sie weiß es, doch sie identifiziert sich nicht vollständig mit diesem Wissen. Die Person mag die Gründe, die für das Gute sprechen, längst einsehen und auch anerkennen, doch ob sie diesen Gründen beherzt folgt, steht auf einem anderen Blatt. Allein aufgrund der Möglichkeit einer psychologischen Diskrepanz zwischen Einsicht und Motivation ist davon auszugehen, dass, wie es zu Beginn dieses Abschnitts hieß, Menschen nicht immer »so können, wie sie wollen«. Weil aber die Gründe für diese Diskrepanz bei jedem Betroffenen selbst liegen, sollte der nahe liegende Verdacht, dass Willensschwäche uneingeschränkt als typischer Integritätsmangel einzustu­

73 | Dazu auch Frankfurt (1988a).

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fen sei, zunächst mit Vorsicht behandelt werden. Vielleicht liegt in der Verwir­ rung, die von der Willensschwäche gestiftet wird, nicht selten auch das Poten­ zial zu wichtigen ethischen Kurskorrekturen verborgen. Dies soll im nächsten Abschnitt deutlich werden.

3.4 A ffirmation trot z W iderspruch : D as eigene L eben be jahen Die bisherigen Überlegungen dieses Kapitels dienten dem Nachweis, dass Personen allein dann Integrität aufweisen können, wenn ihr Leben weitestge­ hend frei von Konfliktscheue, Selbsttäuschung und Willensschwäche ist. Dies mag bereits zu der Befürchtung Anlass gegeben haben, dass mit personaler Integrität ein eher pedantisches Ideal gemeint ist, dem nachzueifern bedeu­ ten würde, der eigenen Existenz sämtliche Spontaneität und Fehlbarkeit zu rauben. Der augenfällige Umstand, dass kein einziger philosophischer Debat­ tenbeitrag das Integritätsideal als solches in Frage stellt, mag da eher als An­ zeichen von akademischer Lebensferne, denn als Indiz für die Wünschbarkeit der damit verbundenen Orientierungen gewertet werden.74 Darf sich Integrität denn nicht auch abseits der ausgetretenen Pfade eines Lebens in permanenter Übereinstimmung mit vorgefassten Wertvorstellungen zeigen? Gehört zum integren Leben nicht auch die Offenheit für Unklarheiten, Zweifel, Brüche oder gar Ohnmacht? Bereits verschiedentlich ist in diesem Buch die Vermu­ tung angeklungen, dass im Hinblick auf so manche mutmaßlich rigorose In­ tegritätsforderung Ausnahmen nicht nur möglich, sondern erwünscht sind. Diese Vermutung soll im Folgenden zu der Einsicht ausgebaut werden, dass eine Theorie der Integrität im Hinblick auf deren vermeintliche Schwächen die Tatsache zu berücksichtigen hat, dass Phänomene der Konfliktscheue, Selbst­ täuschung und Willensschwäche zum integren Leben durchaus dazugehören; und zwar nicht nur, wie man es zunächst vielleicht vermuten würde, als tole­ rierbare Ausnahmen, sondern auch als Chancen, von festgefahrenen und fehl­ geleiteten Wegen abzukommen. Wenn wir das integre Leben bejahen wollen, so lautet die zunächst widersprüchlich anmutende These, haben wir das Leben mit all seinen Gefahren für die Integrität zu bejahen. Vorab wäre jedoch zu klären, was es überhaupt für integre Personen be­ deuten kann, das eigene Leben zu »bejahen«. Die affirmative Antwort »Ja« setzt offenkundig eine Frage voraus, deren genauere Form bislang noch nicht benannt wurde. Sie lautet schlicht: Ist das eigene Leben lebenswert? Mögliche

74 | Tatsächlich beschränken sich sämtliche Debattenbeiträge in ihren kritischen Passagen auf Warnungen vor übertriebenen Integritätsvorstellungen.

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Antworten können zunächst auf zwei verschiedenen Ebenen ansetzen. Die fundamentalste aller denkbaren Affirmationen des Lebens betrifft das nackte Dasein. Wir können unterstellen, dass jede Person, insofern sie überhaupt lebt, auf ganz elementare Weise »Ja« zum eigenen Leben zu sagen bereit ist. Eine durchweg nihilistische oder gar suizidale Lebenseinstellung, die dem eigenen Dasein per se Wert absprechen würde, ist mit personalem Leben auf Dauer un­ vereinbar. Ein derart fundamentaler Einspruch gegen das Leben würde, sobald man ihn exekutierte, jeder weiteren ethischen Wertsetzungspraxis den exis­ tenziellen Boden entziehen. Ausnahmen gibt es allerdings: In extremen Le­ benssituationen – man denke hier etwa an den Fall einer unheilbaren Erkran­ kung – kann es passieren, dass auch der integre Mensch zu der Überzeugung gelangt, dass sein Leben fortan nicht mehr lebenswert ist. Ereignet sich ein un­ widerruflicher Verlust integraler Bestandteile seines Lebenszusammenhangs, kann der Wunsch aufkommen, dem eigenen Leben ein Ende zu bereiten. Der selbstbestimmte Freitod oder auch die Bitte um Sterbehilfe wären dann zwar auch als Entzug der Grundlage integren Lebens, aber zugleich als dessen letzte Konsequenz aufzufassen. Ethisch-existenzielle Selbstbestimmung muss so weit gehen dürfen, der eigenen Existenz, sobald dieser nicht einmal mehr ein »minimaler« Sinn zukommt, willentlich ein Ende zu bereiten.75 Die zweite Form der Lebensbejahung ist insofern vielschichtiger als jene erste, als mit ihr die Überzeugung einhergehen muss, dass das eigene Leben alles in allem wertvoll ist. Nicht jeder Mensch, der durch schlichte Fortsetzung seiner Existenz implizit eine affirmative Antwort auf die eben verhandelte Grundsatzfrage nach dem Wert bloßen Überlebens gibt, wird im selben Zuge explizit von sich behaupten wollen, dass sein Leben bereits insgesamt beja­ henswert in Sinne von »gut« ist. Zwar muss die betreffende Person nicht schon der Überzeugung sein, dass ihr Leben »das einzig richtige« ist.76 Selbstredend kann es darin zu Entwicklungen kommen, mit denen die Person im Einzelnen unzufrieden oder gar unglücklich ist und die sie deshalb ablehnt. Dennoch sollte das Leben insgesamt von der Gewissheit getragen sein, dass hinreichend gute Gründe für die Fortsetzung genau dieses gehaltvollen Lebenszusammen­ hangs sprechen. Wem das eigene Leben alles in allem lebenswert erscheint, der bejaht sein Leben nicht samt, sondern trotz der Widrigkeiten, die ihm be­ gegnen. Entsprechend wäre noch eine dritte Form der Lebensbejahung denkbar, die auf der Überzeugung beruhte, dass das Leben tatsächlich in all seinen Facetten, d.h. sämtliche Widrigkeiten, Konflikte, Widersprüche, Schwächen oder auch Schmerzen eingeschlossen, affirmiert werden kann. Es mag Menschen 75 | Vgl. Harris (1999), Kap. 3 u. 4. 76 | Diese überzogene Forderung assoziiert Dworkin (1990), S. 80, mit dem Inte­ gritätsideal.

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geben, die mit derart erhabenen philosophischen oder auch religiösen Über­ zeugungen durchs Leben schreiten. Die Legitimität einer derart souveränen Lebenseinstellung soll hier auch gar nicht in Abrede gestellt werden. Es wäre aber vermessen, von jeder integren Person fordern zu wollen, sie habe eine derart bedingungslose Affirmation des Lebens zu leisten. Dennoch soll im Folgenden eine alternative Form der Lebensbejahung erkennbar werden, die anspruchsvoller als die zweite, wenngleich weniger ambitioniert als die dritte ist. Personale Integrität, so wird die These lauten, ist von einem Gefühl der Le­ bensbejahung getragen, das sich selbst noch in der bewussten Konfrontation mit existenziellen »Aporien« 77 einstellen muss. Die mit personaler Integrität einhergehende Affirmation des Lebens will zwar nicht schon die menschliche Existenz insgesamt, d.h. mit all ihren Widrigkeiten, gutheißen, sie setzt jedoch die Anerkennung der Tatsache voraus, dass vermeintlich negative Phänomene wie Konfliktscheue, Selbsttäuschung und Willensschwäche nicht nur unver­ meidlich, sondern manchmal eben auch zu begrüßen sind. Beginnen wir auch hier mit dem Integritätsmangel der Konfliktscheue. Zur Erinnerung: Es war davon auszugehen, dass die unhintergehbare Pluralität möglicher Wertbindungen und Selbstverpflichtungen zu einer ebenso unaus­ weichlichen Konflikthaftigkeit menschlichen Lebens führt, von der sich selbst die integre Person situativ überfordert zeigen kann. Angesichts tiefgreifender Ambivalenzkonflikte, in denen das eigene ethisch-existenzielle Selbstverständ­ nis auf dem Spiel steht, mag die betreffende Person die Neigung verspüren, der Gefahr desintegrierender Konfusionen einfach auszuweichen. Aus Sicht der Integrität jedoch sprach vieles für eine offene Konfrontation mit derartigen Konflikten. Integre Personen wissen, dass »aufgeschoben« nicht schon »aufge­ hoben« ist. Werden Probleme und Ambivalenzen verschleppt, können sie sich anhäufen, überlagern und der Persönlichkeit auf Dauer an die Substanz ge­ hen. Zudem machen integre Personen nicht selten die Erfahrung, dass sie an den Konflikten ihres Lebens nicht bloß leiden müssen, sondern auch wachsen können. Die erfolgreiche Bewältigung gravierender Ambivalenzen und Un­ schlüssigkeiten kann zu Lern- und Reifungsprozessen führen, die dauerhaft zu einem festen und integralen Bestandteil des autobionarrativen Selbstbildes werden. In der lebensgeschichtlichen Retrospektive ist nur zu häufig festzu­ stellen, dass Erfahrungen, die zunächst leidvoll waren, mit der Zeit zu einer wichtigen Veränderung und auch Stärkung der Persönlichkeit geführt haben. Selbst wenn man die seinerzeit erlittenen Erfahrungen keineswegs noch ein­ mal »durchmachen« möchte, sind die damit in der Erinnerung verknüpften

77 | Ich werde den Begriff im Anschluss an Wolf (1999a) gebrauchen.

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Ereignisse und Erkenntnisse häufig dennoch aus dem ethisch-existenziellen Selbstbild der betreffenden Person kaum mehr wegzudenken.78 Somit stellen gravierende ethisch-existenzielle Konflikte eine doppelte He­ rausforderung für integre Personen dar: Zum einen geht mit ihnen die Ge­ fahr der Konfusion und Desintegration einher, zum anderen bergen sie das Potenzial zu tiefgreifenden Lern- und Entwicklungsprozessen. Dieser Befund mag zur Formulierung einer ersten Aporie verleiten, nach der integre Perso­ nen aufgrund der Entwicklungschancen, die Konflikte mit sich bringen, dazu angehalten sein könnten, die Kalamitäten des Lebens bereits als solche zu be­ jahen. Ein solcher Schluss ist jedoch voreilig. In aller Regel bejahen Personen nicht schon die konkreten Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen haben – diese werden vielmehr eo ipso abgelehnt 79 –, bejaht wird allenfalls, und zwar im Nachhinein, der durch diese Schwierigkeiten bewirkte Persönlichkeitsschub. Dies führt uns zwar zur Akzeptanz der allgemeinen anthropologischen Tatsa­ che, dass Menschen durch die Konflikte ihres Lebens nicht bloß desintegriert, sondern manchmal eben auch vorangebracht werden. Eine Bejahung einzel­ ner, konkretes Leid verursachender Ambivalenzkonflikte ist darin aber nicht schon impliziert: »But while accepting ambivalence may sometimes be helpful or wise, it is never desirable as such or for its own sake. And to remain persistently ambivalent concerning issues of substantial importance in the conduct of life is a significant disability.« 80

Wer mit tiefgreifenden Konflikten konfrontiert ist, kann ihnen ausweichen oder aber ins Auge sehen. Aus Sicht personaler Integrität mag es, wie gesagt, zunächst so scheinen, als sei allein Letzteres wünschenswert. Dennoch kann es, wie es im obigen Zitat heißt, manchmal »hilfreich oder weise« sein, Am­ bivalenzen auszuhalten, ohne sogleich die offene Konfrontation zu suchen und auf Lösungen zu drängen. Souveräne Behutsamkeit im Umgang mit Kon­ flikten vermag situative Entlastungen und oftmals auch notwendige Bedenk­ zeit herbeizuführen. In Situationen anhaltender Ambivalenz, ja, temporärer Konfliktscheue können Spielräume gewonnen werden, Entscheidungen von gravierender Bedeutung zu überdenken und reifen zu lassen. Viele Probleme mögen unterdessen anwachsen und entsprechende Entscheidungen geradezu erzwingen, so manche andere Schwierigkeit wird sich derweil von selbst er­ ledigen. In solchen Momenten werden integre Personen sich dessen gewahr, 78 | Sicherlich gibt es aussichtslose oder gar »tragische« Konflikte und Entscheidungen, die sich allein schädlich auf das Leben auswirken, ohne dass von Reifung o.ä. die Rede sein kann. 79 | In Nietzsches »Das Trunkene Lied« heißt es: »Weh spricht: Vergeh!“ 80 | Harry G. Frankfurt (1999c), »The Faintest Passion«, in: ders. (1999c), S. 102.

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dass eine fortwährende Konfrontation mit den Konflikten des Lebens weder möglich noch wünschenswert ist. Ein gewisses Maß an Konfliktscheue ist vielmehr anzuraten. Konfliktscheue Momente besitzen nicht nur eine not­ wendige Entlastungsfunktion, sondern manchmal eben auch katalysatorische Wirkung. Erst jetzt sind wir bei der ersten existenziellen Aporie der Integrität angelangt: Angesichts der unausweichlichen Konflikthaftigkeit des Lebens können wir Konfliktscheue nicht wirklich gutheißen, aber wir können auch nicht gänzlich auf sie verzichten. Kommen wir zum zweiten prototypischen Integritätsmangel: dem Phäno­ men der Selbsttäuschung. Behauptet wurde, dass Personen, die nach Integrität streben, die Selbstverpflichtung übernehmen, für ihre Überzeugungen, Äuße­ rungen und Handlungen hinreichend gute Gründe vorweisen zu können. Ihre Lebensführung muss »rational« im Sinne von »prinzipiell begründbar« sein.81 Wer sich eindeutig nicht darum schert, die eigenen Lebensvollzüge, zumin­ dest gelegentlich, einer genaueren selbstkritischen Prüfung zu unterziehen, führt entweder ein bloß triebhaftes bzw. mutwilliges Leben oder aber, wie im Fall durchweg konventioneller Wertorientierungen, eine weitgehend fremdbe­ stimmte Existenz. Mit Blick auf das Integritätsdefizit der Selbsttäuschung war jedoch fraglich geworden, wie stark die Verpflichtung zur Praxis des autobio­ narrativen Gebens von Gründen tatsächlich auszufallen hat. Können wir von integren Personen tatsächlich verlangen, der Wahrheit ihres Lebens stets und ständig ins Auge zu sehen? Lässt eine rationale Lebensführung überhaupt gar keinen Platz für Selbsttäuschungen oder auch Illusionen?82 Selbst wenn wir von dem Umstand absehen, dass ein vollkommen trans­ parentes Selbstverständnis aufgrund der Komplexität autobionarrativer Selbst­ verständigungsprozesse ohnehin niemals zu haben sein wird, so ist doch zu bezweifeln, dass eine derartige Klarheit überhaupt wünschenswert wäre. In Ausnahmefällen jedenfalls kann es situativ gute Gründe dafür geben, auf eine durchweg realistische Selbsteinschätzung zu verzichten. Um hier zwei Bei­ spiele zu nennen: Menschen, die sich neu verlieben, werden die Forderung, sie mögen die eigene Lebenssituation doch einmal nüchtern reflektieren, als miss­ günstig (und überdies aussichtslos) zurückweisen. Mit Blick auf Personen, die unheilbar erkrankt sind oder nur noch kurze Zeit zu leben haben, wird die ent­ sprechende Forderung nahezu inhuman anmuten. Es gibt Momente im Leben 81 | Wie Martin Seel treffend feststellt, sollte prinzipielle Begründbarkeit nicht mit einer Praxis ständiger Begründung verwechselt werden. Von Personen kann nur dann verlangt werden, sich für ihre Lebensvollzüge zu rechtfertigen, wenn sich offenkundige Widersprüche und Konflikte ergeben. Siehe ders. (1996d): »Wie ist rationale Lebensführung möglich?«, in: ders. (1996b). 82 | Zum Verhältnis von Selbsttäuschungen und Illusionen siehe Arnd Pollmann (2001a): »Vom Panschen reinen Weins«, in: Ethik und Sozialwissenschaften, 2/2001.

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einer jeden Person, auch der integren, in denen es regelrecht schädlich wäre, völlige Klarheit über die eigene Lebenssituation zu erlangen. Ein gewisses Maß an Selbsttäuschung ist in solchen Momenten nicht nur verzeihlich, sondern geradezu angebracht. Wenn eine realistische Prüfung der gegebenen Lebens­ situation zu einer unwiderruflichen Beeinträchtigung der eigenen Lebensqua­ lität führen würde, können uns Selbsttäuschungen bzw. Illusionen, solange diese sich nicht dauerhaft festsetzen, von dem Auftrag entbinden, unentwegt einer mitunter schmerzlichen Wahrheit ins Auge sehen zu müssen. Selbst­ täuschungen und Illusionen entlasten den Menschen von der Schwere seiner Existenz, nehmen ihm die Angst vor der Einsicht in unangenehme Gewisshei­ ten und schaffen so Raum für Entspanntheit, Kreativität und Lebenslust. Dennoch wäre es verfehlt, ähnlich wie schon im Zusammenhang der Kon­ fliktscheue, aus den Vorteilen temporärer Selbsttäuschungen sogleich den Umkehrschluss zu ziehen, dass die nach Integrität strebende Person Selbst­ täuschungen als solche zu bejahen habe. Affirmiert wird lediglich der konkrete situative Nutzen, den Selbsttäuschungen verschaffen, d.h. die Entspannung oder Kreativität, die in solchen Momenten freigesetzt wird. Zwar gelangen wir damit zur Anerkennung des allgemeinen Umstandes, dass Selbsttäuschungen und Illusionen bisweilen unausweichlich sind, doch darf mit dieser Bejahung nicht schon die Einsicht verloren gehen, dass dennoch jede einzelne Selbsttäu­ schung einer Unterdrückung selbstkritischer Prozesse gleichkommt, die wir dauerhaft nicht wollen können. Auch wenn nicht selten gute Gründe vorliegen mögen, sich momenthaft einer Selbsttäuschung oder Illusion hinzugeben, gibt es keine hinreichend guten Gründe, ein ganzes Leben in Selbsttäuschun­ gen zu wollen.83 Ein beständiges Plädoyer für Selbsttäuschungen und damit gegen rationale Selbstrechtfertigung würde dem Streben nach Integrität die Geschäftsgrundlage entziehen. Auch wenn die Überzeugung, dass Selbsttäu­ schungen letzten Endes irrational sind, eine gewisse Borniertheit und Kälte zu beinhalten scheint, würde das gegenteilige Plädoyer für ein Leben in Selbsttäu­ schungen zum Verlust der zentralen Einsicht führen, dass integre Personen sich in der Regel gerade nicht über sich täuschen wollen, auch wenn es ihnen manchmal wünschenswert erscheinen mag. Zu einer Einbuße an Integrität führen Selbsttäuschungen aber allein dann, wenn die Person regelmäßig oder gar dauerhaft auf die selbstkritische Rechtfertigung ihrer Lebensvollzüge ver­ zichtet. Damit lässt sich eine zweite existenzielle Aporie des integren Lebens markieren: Angesichts unhintergehbarer Konfusionen im Leben können wir Selbsttäuschungen nicht wirklich gutheißen, aber wir können auch nicht gänzlich auf sie verzichten.

83 | Vgl. Löw-Beer (1990); Seel (1996d).

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Wenden wir uns schließlich dem dritten typischen Integritätsdefizit zu: der Willensschwäche. Auch hier wäre zu prüfen, inwieweit die entsprechen­ de Integritätsforderung nach Beherztheit Ausnahmen duldet. Gezeigt wur­ de, dass Personen im Zuge der Realisierung ihrer Selbstverpflichtungen und Grundvorhaben auf erhebliche Hindernisse stoßen können, deren Über­ windung einen starken Willen erfordert. Angesichts der unhintergehbaren Widerständigkeit des Lebens hat sich personale Integrität als ein entschlos­ senes, standhaltendes Wollen zu beweisen. Erinnern wir uns zunächst noch einmal an die nur vermeintlich triviale Einsicht, dass Willensstärke allein in solchen Momenten zutage treten kann, in denen zugleich auch Willensschwä­ che droht. Eine Person besitzt nicht schon deshalb Integrität, weil sie erfolg­ reich allen Hindernissen und Verlockungen des Lebens aus dem Weg geht. Als wahrhaft stark kann sich ein Wille nur in solchen Momenten erweisen, in denen ihn divergente Wünsche oder Leidenschaften in eine andere Richtung drängen. Die beherzte Person ist zugleich zu einem Verhalten versucht, das mit ihrem ethisch-existenziellen Selbstbild unverträglich wäre. Diese dissonanten Stimmen mögen in willensstarken Momenten zwar in den Hintergrund tre­ ten, gänzlich verstummen werden sie nicht.84 Zumeist wird die integre Person von den in ihren Entscheidungen unter­ legenen Optionen nicht einfach ablassen, sondern sich ihrer bewusst bleiben. Schließlich sind es ihre und keine völlig fremden Wünsche und Leidenschaf­ ten, die sie zu einer Kursabweichung haben drängen wollen.85 Damit nimmt der integre Mensch die Gefahr in Kauf, dass diese abweichenden Stimmen sich in vergleichbaren Situationen erneut melden werden. Warum aber tut er das? Warum bringt er sie nicht gänzlich zum Schweigen, z.B. durch Abspal­ tung oder Verdrängung? Vermutlich auch deshalb, weil der integre Mensch mit seiner eigenen Fallibilität, d.h. mit der Möglichkeit rechnen muss, dass sich eines Tages selbst noch seine besten Absichten als verfehlt erweisen. Ein Wille wird sich jedoch schwerlich ändern können, wenn er stets und unbe­ dingt befolgt wird. Als unerbittlicher Vollstrecker eines immer gleichen Wol­ lens wäre die integre Person kaum flexibel genug, um auf die Notwendigkeit ei­ ner Revision eigener Selbstverpflichtungen und Grundvorhaben reagieren zu können. Es bliebe vielmehr ein wesentliches Element ihrer Selbstbestimmung unberücksichtigt, das darin besteht, in existenziellen Konfliktsituationen zu 84 | Seel (2002c), bes. S. 240. 85 | Dies scheint allein in solchen Fällen zutreffend zu sein, in denen es sich nicht um zwanghafte Gemütsregungen oder offenkundige Verirrungen handelt. Aber ist dem so? Nehmen wir das Beispiel eines zornigen Menschen, der sagt: »Ich möchte diese Person am liebsten umbringen!« Muss Integrität sich hier als rasche Besinnung auf die Bedingungen humanen Miteinanders oder als selbstkritische Reflexion selbst noch auf diese destruktiven Regungen erweisen?

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alternativen Überzeugungen zu gelangen und neue Wege einzuschlagen. Ein vollkommen unbeirrbarer Wille ließe die Offenheit für noch nicht gewonnene Orientierungen vermissen und damit die Quelle für Entwicklung und Verän­ derung versiegen.86 Es sind vor allem Momente neugieriger Abweichung, d.h. Situationen der Versuchung und eben auch der Willensschwäche, in denen uns die Notwen­ digkeit eines ethisch-existenziellen Wandels zu Bewusstsein kommen kann. Abgesehen von der zweifellos auch hier zutreffenden Annahme, dass wir von einer integren Person keineswegs ausnahmslos verlangen können, sich permanent an den Widrigkeiten ihres Lebens abzuarbeiten, sollte die Person sich für Momente der Willensschwäche demnach auch deshalb offen halten, weil so existenzielle Lernprozesse möglich werden. Mit der Bereitschaft, ab und zu »schwach« zu werden, entfaltet sich das Potenzial zur Erschließung neuer Wertbindungen und Selbstverpflichtungen. Gleichwohl hat auch hier zu gelten: Willensschwäche ist und bleibt eine Schwäche. Bejaht werden nicht die willensschwachen Momente als solche, sondern allenfalls die neuen Ein­ sichten, Lernprozesse und Korrekturen, zu denen man dabei gelangt. Zwar sind wir dadurch zur Anerkennung der anthropologischen Tatsache gezwun­ gen, dass Situationen der Willensschwäche im Leben nicht ausbleiben können, doch eine Affirmation konkreter willensschwacher Akte ist darin ebenso we­ nig impliziert wie das umfassendere Plädoyer für ein ganzes Leben in Willens­ schwäche. Zweifellos gilt für integre Personen weiterhin, dass Beherztheit und Willensstärke dringliche Bedingungen für Selbsttreue, Rechtschaffenheit, In­ tegriertheit und Ganzheit sind, doch der zwanghafte Versuch, Momente der Willensschwäche gänzlich auszumerzen, käme selbst einer charakterlichen Schwäche gleich. Demnach ist eine dritte existenzielle Aporie personaler In­ tegrität zu konstatieren: Angesichts der unausweichlichen Widerständigkeit des Lebens können wir Willensschwäche nicht wirklich gutheißen, aber wir können auch nicht gänzlich auf sie verzichten. Lassen wir alle drei der hier diskutierten Aporien personaler Integrität noch einmal Revue passieren, so ist festzustellen, dass sich ein Leben in Inte­ grität nicht etwa dadurch auszeichnet, dass Momente der Konfliktscheue, Selbsttäuschung und Willensschwäche unter allen Umständen vermieden werden. Vielmehr nimmt der Begriff personaler Integrität erst dann markante Züge an, wenn berücksichtigt wird, dass die nach Integrität strebende Person mit der Einsicht umgehen muss, dass ein Leben gänzlich ohne derart scheue, illusionäre und auch schwache Momente nicht einmal wünschenswert ist. Personale Integrität ist somit stets auch durch die gelassene Einsicht zu cha­ rakterisieren, dass derartige Ambivalenzen im Leben nicht nur unvermeidlich

86 | Seel (2002c).

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und unerfreulich, sondern manchmal eben auch produktiv sind.87 Damit sind wir bei einer vierten und fundamentalen Aporie der Integrität angelangt, die im weiteren Verlauf dieser Untersuchung noch von erheblicher Bedeutung sein wird. Die im Vollzug integren Personseins zum Ausdruck kommende Bejahung des Lebens weist in sich schon eine ambivalente Struktur auf. Sie setzt die Anerkennung der Tatsache voraus, dass personale Integrität in einem umfassenden Sinn, d.h. als vollständige Ganzheit und Intaktheit, gänzlich ohne Widersprüche und Konflikte, niemals zu haben sein wird. Wer das integre Le­ ben bejaht, hat es mit all seinen Aporien zu affirmieren. Die Bejahung integren Lebens gleicht einem »Jein«, insofern sie eine Bejahung im Grundsatz trotz zu negierender Widersprüche im Einzelnen ist. Die Basisaporie der Integrität lautet demnach wie folgt: Wir folgen einer Sehnsucht nach Ganzheit, obgleich wir wissen, dass die von uns ersehnte Einheit – als vollkommene – unerreichbar bleiben wird. Wenn bislang von »Ganzheit« als einer vierten Bedeutungsdimension der Integrität die Rede war, dann muss darunter rückblickend das utopische Stre­ ben nach einem Ideal verstanden werden, das niemals vollständig zu realisie­ ren sein wird. Dennoch bleiben integre Personen an diesem Ganzheitsideal orientiert, indem sie sich darum bemühen, bei aller Zerrissenheit im Leben, eine wenigstens menschenmögliche Einheit und Intaktheit herzustellen. So gehört es zur Integrität der Person, sich der Unvermeidlichkeit von Momenten der Konfliktscheue, Selbsttäuschung und Willensschwäche gewahr zu sein, ohne von der Idee der Intaktheit lassen zu können. Weil eine vollständige, rei­ ne oder gar ursprüngliche Ganzheit niemals zu restituieren ist, kann das inte­ gre Leben immer nur als »reintegrierte« Einheit ohne heiles Ganzes aufgefasst und hergestellt werden; so wie das weiter oben bereits in der Metapher von der geklebten Vase zum Ausdruck kommen sollte. Das integre Leben muss sich offen halten für die Möglichkeit existenzieller Risse, die zwar zu kitten, aber niemals gänzlich zu beseitigen sind.

3.5 A ngst und S elbstfremdheit : D ie emotionale K ehrseite der I nnenansicht Obwohl die Idee der Ganzheit niemals vollständig zu realisieren sein wird, muss ein entsprechendes Streben nicht schon gänzlich ins Leere laufen. An­ näherungen an das utopische Ziel sind möglich. Bereits in Kapitel 2 war die

87 | Zwar finden sich in der Integritätsdebatte zahlreiche Hinweise auf die genannten drei Integritätsmängel, doch die Annahme entsprechender Aporien sucht man vergebens.

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Rede davon, dass uns eine »Stimmung« der Ganzheit und Unversehrtheit die zumindest relative Intaktheit des eigenen ethisch-existenziellen Lebens­ zusammenhangs enthüllen kann. Entsprechend gibt es Gefühlslagen im Le­ ben, in denen uns eine entsprechende Sehnsucht als schmerzlich unerfüllt zu Bewusstsein kommt. Dabei wird der betreffende Abstand vom Ideal der Ganzheit als ein emotionales Erleben von relativer Ganzheit bzw. Entzweiung spürbar, das über uns kommt, ohne dass wir darauf Einfluss hätten.88 Eben dieser Umstand, dass die zentrale Bedeutungsdimension der Ganzheit einen letztlich unverfügbaren emotionalen Gehalt aufweist, ist in der bisherigen In­ tegritätsdebatte weitestgehend übersehen worden.89 Eine Analyse personaler Integrität wird aber die Frage ihrer emotionalen Verankerung zumindest strei­ fen müssen. Wendet man sich zunächst jenen Emotionen zu, die ein Indiz dafür sein können, dass Personen Integrität besitzen, so wäre zunächst an Gefühlslagen wie »Zufriedenheit«, »Gelassenheit«, »Stolz«, »Wohlbefinden« oder »Glück« zu denken. Derart positive Gemütszustände stellen sich dann ein, wenn in autobionarrativen Selbstverständigungsprozessen die Einsicht dämmert, dass es das eigene Leben wert ist, gelebt und bejaht zu werden. Zu bedenken ist hierbei jedoch, dass der Besitz von Integrität von den Betroffenen keineswegs notwendig als positiv oder gar enthusiastisch erfahren werden muss. Selbst wenn wir von dem Umstand absehen, dass ein integres Leben immer auch Kosten und Mühen verursacht, sodass ein bestimmtes Maß an Schmerz, Müh­ sal, Leid oder gar Unglück90 mit personaler Integrität verträglich ist, wird die Stimmungslage der Ganzheit und Unversehrtheit oftmals lediglich eine Art emotionales Äquilibrium offenbaren, das zwar mit einer gewissen Zufrieden­ heit oder Gelassenheit einhergehen mag, dessen Qualität aber häufig erst dann »fühlbar« wird, wenn es verloren geht. Es ist ein weithin bekanntes Phänomen, dass Abweichungen von einem emotionalen Gleichgewicht sogleich als Stö­ rungen empfunden werden, während das Gleichgewicht selbst rasch den Cha­ rakter des Selbstverständlichen annimmt. Daher ist es ratsam, von der Frage, welche positiven Emotionen mit dem integren Leben verknüpft sind, zu der

88 | Vgl. Wolf (1993a). 89 | Eine Ausnahme ist Ramsay (1997). 90 | Das Verhältnis von Integrität und Glück bzw. Unglück bedurfte einer längeren Erörterung. Glück kann ein Indiz dafür sein, dass eine Person Integrität besitzt. Zugleich wird ein ausreichendes Maß an Integrität Bedingung für ein glückliches Leben in dem Sinn sein, »daß nämlich solche Menschen weniger häufig einen Zusammenbruch haben oder Selbstmord begehen« (Williams 1979, S. 78). Dennoch können integre Menschen oft auch unglücklich sein, ja, ihre Integrität selbst mag ihnen Opfer abfordern, die ihrem Glück abträglich sind.

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gegenteiligen Frage überzugehen, welche negativen Gefühle mit ihrem Verlust einhergehen. Erinnern wir uns zunächst daran, dass dieses Kapitel von der Integrität als einem schwierigen Selbstverhältnis handelt. Emotionen, die sich aus unserem Umgang mit anderen Menschen ergeben, werden erst später zur Sprache kom­ men. Hier muss es primär um solche Momente der individuellen Selbstkon­ frontation gehen, in denen eine Person spürt, dass sie selbst ihre Integrität in Gefahr bringt; z.B. dadurch, dass sie ihr ethisch-existenzielles Selbstbild derart kompromittiert, dass ihr die Gewissheit, ein Leben in Selbsttreue, Rechtschaf­ fenheit, Integriertheit und Ganzheit zu führen, ganz oder teilweise abhanden kommt. Fragt man nach jenem Gefühl, das einer Person auf elementarster Ebene anzuzeigen vermag, dass eine solche Gefahr besteht, so ist zuerst von »Angst« zu sprechen.91 Führen wir uns folgende Situation vor Augen: Wieder­ holt wird ein junger Mann Ohrenzeuge von lautstarken Aus­einandersetzungen in der Wohnung seiner Nachbarn. Dort wohnt ein kinderloses Ehepaar, das sich an glücklichere Tage kaum noch zu erinnern scheint. Neulich ist der jun­ ge Mann seiner Nachbarin im Hausflur begegnet. Ihr Gesicht wies deutliche Spuren von Misshandlung auf. Ihr Ehemann kommt zumeist spät und stets betrunken nach Hause. Oft kommt es dann zum Streit. Am heutigen Abend eskaliert die Auseinandersetzung. Einrichtungsgegenstände gehen zu Bruch. Die Frau ruft um Hilfe. Am liebsten würde der junge Nachbar sich schlicht die Ohren zuhalten, doch zugleich verspürt er den Drang und auch die Pflicht, etwas zu unternehmen. Er könnte die Polizei rufen. Aber vielleicht käme sie zu spät. Er könnte hinüber gehen und klingeln. Aber was erwartet ihn da? Der Mann verspürt ein heftiges Unbehagen, wägt ab, wird unsicher und ängstlich, stellt aber dennoch fest: Gar nichts zu unternehmen, käme nicht in Frage. Mit dem Wissen, dass womöglich Schlimmeres hätte verhindert werden können, würde der Mann »nicht leben« können. Er ist zwar nicht besonders mutig, aber feige will er auch nicht sein. So entscheidet er sich schließlich einzugreifen… Zunächst ist eine wichtige konzeptionelle Vorentscheidung zu treffen: Aus existenzphilosophischer Sicht zählt die Angst zu jenen zentralen Erfahrun­ gen im Leben des Menschen, »von denen her Licht auf die Gesamtverfassung menschlichen Existierens fällt«.92 Damit ist mehr gemeint, als dass in Situ­ ationen der Angst konkrete Bedrohungen angezeigt wären, denen man ins Auge sehen, denen man aber auch ausweichen könnte. Nach einer berühmten Unterscheidung Søren Kierkegaards richtet sich »Furcht« auf ein jeweils be­ stimmtes, bevorstehendes Übel, während »Angst« als eine vermeintlich gegen­ standlose und zunächst eher unbestimmte Befindlichkeit verstanden werden 91 | Dazu auch Beebe (1995), Kap. 2. 92 | Hinrich Fink-Eitel (1993): »Angst und Freiheit«, in: Fink-Eitel/Lohmann (1993), S. 57.

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muss.93 Machen wir uns das an unserem Beispiel klar: Der junge Mann mag Furcht vor den negativen Konsequenzen empfinden, die sich aus seiner Einmi­ schung in die Angelegenheiten seiner Nachbarn ergeben mögen; man denke hier nur an die Gefahr, dass der tollwütige Ehemann auch ihm Gewalt antun könnte. Dennoch scheint ein anders geartetes Unbehagen ihn weit stärker zu belasten als selbst noch jene Furcht vor körperlichen Verletzungen. Gemeint ist die Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen, sich dabei untreu zu wer­ den, Rechtschaffenheit einzubüßen, in Desintegration zu verfallen oder auch an Intaktheit einzubüßen. Sein Leben als Ganzes steht in Frage. Ihm droht ein Selbstverlust, der jede konkrete Befürchtung noch übertrifft, insofern er einem ethisch-existenziellen Absterben gleichkäme.94 Es war Martin Heidegger, der von der Angst als einer »ausgezeichneter Befindlichkeit« sprach, mit der die Möglichkeit einer »Entschlossenheit« des Strukturganzen menschlichen Daseins einhergehe.95 In der Angst, so Heideg­ ger, wird das Dasein auf eine Weise mit sich selbst konfrontiert, in der sich das eigene »In-der-Welt-sein als Ganzes« offenbart. Situationen der Angst stellen insofern einen Ganzheitsbezug zur eigenen Existenz her, als in ihnen eine doppelte Sorge um das Leben insgesamt auf bricht. Einerseits muss Angst als massives Unbehagen angesichts der »Unheimlichkeit« einer Welt verstanden werden, der wir ohnmächtig und schutzlos ausgeliefert sind. Anderseits resul­ tiert aus dieser Vereinzelung immer auch »die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens«. Angstvolle Situationen lassen den Menschen erkennen, dass es einzig an ihm liegt, sein Dasein zu führen, und dass er gänzlich frei ist, jene Orientierungspunkte zu markieren, die ihn dabei leiten sollen. Der Mensch ist, wie Jean-Paul Sartre96 in unmittelbarer Nähe zu Heidegger sagt, zur Frei­ heit »verurteilt«: Wir Menschen sind restlos für unser Leben verantwortlich, haben buchstäblich die Qual der Selbstwahl und laufen dabei ständig Gefahr, mit unseren Lebensentwürfen zu scheitern und in völlige Bedeutungslosig­ keit, das »Nichts«, wie Sartre sagt, zurückzufallen. In der Angst »ängstigt sich die Freiheit vor sich selbst«, weil die Notwendigkeit spürbar wird, die nackte Existenz mit »Essenz« aufzufüllen und sich dadurch auf zukünftige Lebens­ wege festzulegen: »Die Angst ist die Besorgnis, mich bei dieser Verabredung nicht anzutreffen, gar nicht mehr hingehen zu wollen.« 97

93 | Søren Kierkegaard (1844/1992): Der Begriff Angst, Stuttgart: Reclam. 94 | Vgl. Williams (1984c), bes. S. 22. 95 | Martin Heidegger (1927/1993): Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer, bes. § 40. 96 | Sartre (1952/1991), bes. S. 79-118 u. 950-955. 97 | Sartre (1952/1991), S. 102.

Selbstverständigung und Desintegration

In der Regel lassen sich angstvolle Momente als ein mehrphasiges Gesche­ hen rekonstruieren, in dem sich eine zunächst konkrete Furcht zu existen­ zieller Angst ausweitet: Zuerst fürchtet sich die betreffende Person vor einer konkreten Gefahr oder Entscheidungssituation (»Soll ich tatsächlich bei den Nachbarn klingeln gehen?«). Sodann wird ein Fluchtbegehren spürbar (»Ich könnte einfach weghören!«). Schließlich erfährt die Person eine Hemmung dieses Fluchtbegehrens in Gestalt drohender Ausweglosigkeit (»Das würde ich mir nie verzeihen!«). Eben dieser Moment, in dem die Notwendigkeit zum ei­ genen Handeln erkannt wird, ist der genuine Entstehungsort der Angst. Mit dem drohenden Selbstverlust wird eben jene Freiheit spürbar, von der es heißt, sie »mache« Angst. Die Befindlichkeit der Angst muss daher als ein funda­ mentaler Grundzug menschlichen Seins zur Freiheit aufgefasst werden. Der Mensch ängstigt sich weniger vor dem völligen Nichts als vielmehr vor der Notwendigkeit, sich wählen zu müssen, und der Möglichkeit, dabei kläglich scheitern zu können. Die sich ängstigende Person erfährt ihre Angst als »un­ heimliche Überlassenheit an sich selbst«.98 Mit der Einsicht, dass sie sich als unvertretbare Einzelne letzten Endes an nichts und niemanden wird halten können, ist ihr auf beklemmende Weise der ethisch-existenzielle Boden unter den Füßen weggezogen. Psychoanalytisch gesehen, ist diese Form der Existenzangst »Signalangst« und »Trennungsangst« in einem, wenn auch auf sehr spezifische Weise.99 Zum einen wird der sich ängstigende Mensch auf das Risiko eines Abweichens vom existenziellen Kurs bis hin zur Gefahr eines völligen Orientierungsver­ lustes aufmerksam. Die Angst erinnert ihn daran, dass er ethisch-existenziel­ le Selbstverpflichtungen eingegangen ist. Insofern setzt sie also ein Signal. Zugleich aber handelt es sich um Trennungsangst, denn sie droht dem sich ängstigenden Menschen damit, dass er sich selbst verloren gehen wird: »Now the fact that a person betrays himself entails, of course, a rupture in his inner cohesion or unity; it means that there is a division within his will. There is, I believe, a quite primitive human need to establish and to maintain volitional unity. Any threat to this unity – that is, any threat to the cohesion of the self – tends to alarm a person and to mobilize him for an attempt at ›self-preservation‹.«100

Antworten auf derartige Bedrohungen sind Entscheidungen, die sich, wie im­ mer rasch, aus autobionarrativen Selbstverständigungsprozessen ergeben müssen und mit denen eine Person ihre Angst zu bewältigen und ihre In­ taktheit wiederherzustellen versucht (»Ich werde klingeln gehen!«). Wer seiner 98 | In diesem Absatz folge ich Fink-Eitel (1993). 99 | Siehe Beebe (1995), S. 34ff. 100 | Harry G. Frankfurt (1999d): »Autonomy, Necessity, and Love«, in: ders. (1999b).

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Angst dauerhaft aus dem Weg geht, indem er Entscheidungen dieser Art meidet, wird am Ende auch sich selbst aus dem Weg gehen. An klinischen Beispielen von Patientinnen und Patienten, die chronisch von Ängsten und Panikattacken geplagt werden, lässt sich das zeigen. Nicht selten panzern sich angstkranke Personen mit einer hypersensiblen Abwehrhaltung gegen jegliche Art von Angst auslösender Bedrohung, was Psychotherapeuten von einer »Angst vor der Angst« sprechen lässt.101 Zunehmend werden all jene Orte, Situationen und Lebensvollzüge vermieden, in denen Angst aufkommen könnte. Die quälende Befindlichkeit selbst verschwindet damit freilich nicht. Wie man aus psychoanalytischer Theorie und Praxis weiß, sucht sie sich neue Wege oder bleibt unterschwellig präsent und auf vielfältige andere Weisen de­ struktiv wirksam.102 Dauerhaft muss ein Verhalten, das um jeden Preis Angst zu vermeiden sucht, zu einem gravierenden Verlust an Reflexions- und Hand­ lungsfähigkeit führen. Man stelle sich nur den gar nicht unwahrscheinlichen Fall vor, dass sich der junge Mann aus unserem Beispiel aus Angst vor der Kon­ frontation mit seinen Ängsten in seiner Wohnung zunehmend »unheimlich« fühlt. Schließlich wird er sich kaum noch nach Hause trauen und am Ende eine neue Wohnung suchen. Bald wird der wahre Grund dafür vergessen sein. Sein diffuses Unbehagen und den Schweiß auf seiner Stirn bei jedem noch so kleinen Geräusch aus der neuen Nachbarwohnung mag er sich nicht erklären können. Vermutlich wird er sich dann abzulenken versuchen. Aus existenzphilosophischer Sicht würde man sagen, der junge Mann sei vor der Verantwortung für seine Freiheit geflohen und falle zunehmend dem Nichts anheim. Aus psychotherapeutischer Perspektive heißt es: Die Verdrän­ gung der ursprünglichen Angst hat zur Symptombildung geführt und ein unterschwellig depressives Leiden hinterlassen. Für die Integritätsanalyse ist wohl vor allem von Bedeutung, dass Personen, die ihre Angst um jeden Preis zu meiden suchen, zunehmend den eigenen Lebenszusammenhang als un­ durchsichtig, unheimlich und fremd erfahren. Der allein autobionarrativ zu integrierende Lebensvollzug gerät außer Kontrolle. Vielfältige Symptombil­ dungen, weiterer Verdrängungsaufwand und ein schleichend anwachsendes Unbehagen sind die Folge. Die Angst übernimmt die Macht über das Individu­ um, das »sich dabei selbst entfremdet«.103 Wenn Angst den drohenden Verlust der Integrität signalisiert, dann deutet ein diffuses Gefühl der Selbstfremdheit auf deren bereits eingetretenen Verlust hin. Zwar wird in der philosophischen 101 | Dazu exemplarisch Doris Wolf (1989): Ängste verstehen und überwinden, Mannheim: PAL. 102 | Einschlägig ist Fritz Riemann (1961/1995): Grundformen der Angst, München: Ernst Reinhardt. 103 | Michael Theunissen (1993): »Melancholische Zeiterfahrung und psychotische Angst«, in: Fink-Eitel/Lohmann (1993), S. 344.

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Debatte unter »Selbstfremdheit« gemeinhin kein Gefühl, sondern eher ein Zustand der Depersonalisation verstanden, der eine wachsende Unfähigkeit des Subjekts anzeigt, sich weiterhin mit sich selbst identifizieren zu können.104 Bislang jedoch fehlt ein passendes Wort für den emotionalen Gehalt derartiger Erfahrungen und Vorgänge, im Zuge derer sich die zunächst ja häufig berech­ tigte Angst vor dem Zerfall der eigenen Integrität in eine massive, irrationale Konfusion und Desintegration verwandelt. Das Phänomen Selbstfremdheit ist als Resultat einer Flucht vor der Angst oder besser noch als deren Abspaltung zu deuten. Angesichts des nicht sel­ ten unerträglichen Unbehagens, das in Momenten der Angst spürbar wird, kommt der Wunsch auf, diesem Unbehagen auszuweichen, es zu verdrängen oder aber in mentale Zustände zu entkommen, in denen es sich verflüchtigt. Die Betroffenen stürzen sich in Ablenkung, Geschäftigkeit, Konformität oder Selbsttäuschung. Unterhalb der Bewusstseinsschwelle bleibt die Angst zwar latent wirksam, die Oberfläche jedoch glättet sich. Zurück bleibt eine durch zahlreiche Symptombildungen verschanzte Beklemmung. Die Betroffenen fühlen sich nicht mehr wohl »in ihrer Haut«. Der Kontakt zum eigenen Selbst bricht ab, die Integritätsmodi Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit gehen verloren. Die Empfindungen, von denen Vorgänge der Selbstentfremdung begleitet sind, lassen sich anhand der vier genannten In­ tegritätsdimensionen alltagssprachlich so veranschaulichen: Eine Person, die sich selbst untreu wird, mag sagen: Ich bin nicht mehr mit mir im »Einklang«. Ein Mensch, der an seiner Rechtschaffenheit zweifelt, formuliert es so: Ich bin nicht mehr mit mir im »Reinen«. Eine Person, deren Integriertheit zerfällt, äußert etwas wie: Ich bin »gespalten«. Ein Mensch, dem die Stimmung der Ganzheit abhanden kommt, wird meinen: Ich bin nicht mehr »eins« mit mir. Insgesamt mag es so aussehen, als seien beide Gemütszustände – Angst und Selbstfremdheit – per se als negative Emotionen einzustufen. Doch auch ihnen lässt sich, ähnlich wie schon den zuvor diskutierten drei Integritätsaporien, et­ was Positives abgewinnen. Starke Gefühle dieser Art signalisieren den Betrof­ fenen, dass ihr Leben aus den Fugen gerät und die eigene Integrität gefährdet oder bereits verloren gegangen ist. Gegenüber einfachen körperlichen Empfin­ dungen wie Schmerz oder Lust zeichnen sich Emotionen durch Intentionalität und Reflexivität aus: Sie machen uns auf das aufmerksam, woran uns liegt.105 Was starke negative Gefühle, wie eben Angst und Selbstfremdheit, dem Men­ schen anzeigen, das ist das fundamentale Bedürfnis nach Wiederherstellung einer intakten Einheit des ethisch-existenziellen Lebenszusammenhangs. Das vermeintlich »unteilbare« Individuum ist so unteilbar nicht. Indem uns Angst

104 | Vgl. Jaeggi (2005). 105 | Anthony Kenny (1963): Action, Emotion and Will, London: Routledge.

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und Selbstfremdheit dazu anhalten, Prozesse der Reintegration in Gang zu bringen, weisen sie uns in die Schranken unserer Selbstkontrolle.106 Damit sind wir auch hier auf die aporetische Grundstruktur integren Le­ bens zurückverwiesen: Auch wenn es sich im Einzelfall um unangenehme bis desaströse Empfindungen handelt, auf die man gern verzichten würde, setzt personale Integrität doch sowohl ein gewisses Maß an Angstbereitschaft als auch die Empfänglichkeit für das Gefühl der Selbstfremdheit voraus. Die inte­ gre Person ist zwar nicht schon zur Affirmation einzelner Zustände der Angst und Selbstfremdheit angehalten  – auch diese werden eo ipso abgelehnt  –, so doch aber zur Akzeptanz jener anthropologischen Kontingenz, der wir in der­ artigen Zuständen gewahr werden. Personale Integrität verfolgt nicht das Ziel, Gefühle der Angst und Selbstfremdheit gänzlich vermeiden oder eliminieren zu wollen. Sie hat vielmehr die Tatsache ethisch-existenzieller Kontingenz und Unsicherheit in das eigene Selbstverständnis einzutragen und sich darauf ein­ zustellen.107 Fraglich mag an dieser Stelle sein, woher das emotionale Bedürf­ nis nach Sicherheit und Ganzheit, das uns in Situationen der Angst und der Selbstfremdheit schmerzlich zu Bewusstsein kommt, ursprünglich stammt. Dass Menschen in der Regel Angst und Selbstfremdheit vermeiden wollen und stattdessen Zustände der Sicherheit und Ganzheit vorziehen, erklärt sich nicht von selbst. Ist uns dieses Streben von Natur aus eigen oder verdankt es sich den vielen schmerzhaften Verlusterfahrungen, die wir im Leben sammeln? Der nun folgende Rekurs, der uns zu den lebensgeschichtlichen Wurzeln jener Sehnsucht nach Sicherheit, Ganzheit und Unversehrtheit zurückführen soll, wird deutlich werden lassen, dass die Antwort paradoxerweise lauten muss: so­ wohl als auch. Das Streben nach Integrität, das uns als Sehnsucht nach Ganz­ heit und Unversehrtheit zu Bewusstsein kommt, ist dem Menschen, wie die folgenden Überlegungen zeigen werden, buchstäblich »angeboren«.

106 | Vgl. Martha Nussbaum (2000): »Emotionen und der Ursprung der Moral«, in: Wolfgang Edelstein/Gertrud Nunner-Winkler (Hg.) (2000): Moral im sozialen Kontext, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, bes. S. 101. 107 | Vgl. Emil Angehrn (1993): »Das Streben nach Sicherheit«, in: Fink-Eitel/Lohmann (1993).

»Mit Klapsen und unter dem intimen Applaus der Geburt wurde ich in die Welt gedrängt – ich meine, mich daran zu erinnern. Nun, jedenfalls habe ich davon ein Innenbild – von dem blinden Jungen, in seinem rosig-milchig-grauwandigen (und salzigen) Aquarium, dem umgestürzten Aquarium, von dem Aufruhr in der Scheune von Frau … von den phantastisch schlampigen Umständen, unter denen man seine Existenz antritt, erstmals gewählt wird; wie man mit seinen Sinnen, zum Brüllen gereizt, aus der leuchtenden, wunden Schmiere in und auf die unerklärte Liste von Neuem ringsumher, von überwältigend Unbekanntem eingeht, ungläubig, erschüttert, furchtbar beschmutzt vom Licht der Fakten. Ich meine, mich an den Atem zu erinnern, der in mir lauerte und dann jaulend ausbrach: an einen Anfang von solcher Unwiderruflichkeit.« H arold B rodkey : D ie flüchtige S eele

»Wir rennen nicht dem Tod entgegen, wir fliehen vor der Katastrophe der Geburt.« E mile M. C ioran: Vom N achteil , geboren zu sein

Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehrtheit oder »Die Schwierigkeit zu sagen, was fehlt« Wiederholt haben die ersten drei Kapitel die unterschiedlichen Verwendungs­ weisen des Integritätsbegriffes in die Idee der Ganzheit und Unversehrtheit münden lassen. Hinter dieser Vorstellung war nicht bloß ein akzidentieller oder beiläufiger Wunsch des Menschen vermutet worden, sondern ein exis­ tenziell tief verwurzeltes, primäres Streben. Es zielt auf die Möglichkeit eines unverzerrten Selbstverhältnisses und auf die psychophysische Gewissheit ei­ nes insgesamt intakten Lebenszusammenhangs. Wenn nun die Annahme ei­ ner mit diesem Bedürfnis verbundenen Sehnsucht nicht vollends von der Hand zu weisen ist, so ist nicht nur fraglich, auf was genau dieses Streben zielt, son­ dern auch, woher es ursprünglich stammen mag. Nehmen wir dazu zunächst einen ideengeschichtlichen Umweg. Man nennt die philosophische Tradition, die es vorwiegend mit Fragen nach der Struktur und der Beschaffenheit menschlicher Selbstverhältnisse zu tun hat, für gewöhnlich die Philosophie des Subjekts. Theorien des Subjekts bzw. der Subjektivität haben es mit jener Instanz in uns Menschen zu tun, die wir das »Bewusstsein«, das »Selbst« oder auch das »Ich« nennen und von der es heißt, dass sie sich erkennend und reflektierend zur Welt, vor allem aber zu sich selbst zu verhalten vermag. Ihren historischen Siegeszug haben philosophische Theorien des Subjekts bekanntlich in der zweiten Hälfte des letzten Jahrtausends angetreten. Mit René Descartes »cogito ergo sum« setzte eine Denkbewegung ein, die später im Deutschen Idealismus gipfeln sollte und die es sich zum Ziel gesetzt hatte, das sich selbst erkennende Subjekt in den Mittelpunkt der Welt zu rücken. Die gemeinsame Grundannahme lautete wie folgt: Das sich selbst gegenüber transparente menschliche Bewusstsein entwirft die zu erkennende Welt aus eigener Vorstellungskraft. Damit war eine provokative Spekulation in die Welt gesetzt, die von Kant seinerzeit als kopernikanische Wende 1 der Philosophie gefeiert wurde, die aber sofort auch auf hef­ tigsten Widerstand stieß. In den Augen ihrer Gegner kam diese Provokation 1 | Hier darf der etwas altkluge Hinweis erfolgen, dass die kopernikanische Wende der Philosophie im Grunde eine anti-kopernikanische Wende gewesen ist, da die von

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einer anmaßenden und frevlerischen Herabstufung der Welt zum bloßen Ob­ jekt menschlicher Geistesschöpfung gleich. Von nun an, so die bis heute an­ haltende Kritik, saß ein gottesähnliches, selbstherrliches und sich »autonom« dünkendes Subjekt auf dem philosophischen Thron, das für sich beanspruch­ te, die Welt denkend zu erschaffen und sich selbst dabei vollkommen durch­ sichtig zu sein.2 Nun hat aber spätestens das 20. Jahrhundert für mindestens zwei schwere Erschütterungen jenes neuzeitlichen Urvertrauens in die Kraft der Subjektivi­ tät gesorgt, deren Nachbeben bis heute zu spüren sind.3 Die erste dieser beiden subjektkritischen Denkbewegungen geht auf den Begründer der Psychoana­ lyse, Sigmund Freud, zurück. So sehr die »Entdeckung« des menschlichen Unbewussten inzwischen auch in unser psychologisches Alltagsverständnis eingesickert sein mag, zu Beginn des 20. Jahrhunderts muss sie revolutionär gewirkt haben. Die metapsychologische und im Rahmen von Freuds therapeu­ tischer Arbeit dann auch bestätigte Annahme von Erinnerungen, Motiven und Trieben des Menschen, die jenseits des zugänglichen Bewusstseins wirken, weckte unwiderruflich den Verdacht, dass sich das Subjekt offenbar doch nicht in der Weise als selbstmächtig und transparent erweisen würde, wie es die ide­ alistische Philosophie der Subjektivität in Aussicht gestellt hatte. Nach den tief­ greifenden »Kränkungen«, die der Menschheit durch die Entdeckungen von Kopernikus und Darwin zugefügt worden waren, musste sich der Mensch nun außerdem noch eingestehen, dass das Subjekt nicht einmal mehr als »Herr im eigenen Hause« gelten durfte.4 Peter Sloterdijk bebildert diesen dramatischen Denkumbruch wie folgt: »Wenn die Gespenster herrschen, beginnt die Epoche der Psychologie. Psychologie ist selbst nichts anderes als eine Philosophie, die Buße tut – Buße für die gespenstischen Folgen des Ich-bin-Sagens. […] Mit ihr treten das abgedunkelte Glühen und das todgedachte Sein wieder auf die Bühne der Betrachtung – aber sie kommen, wie es ihrer Herabwürdigung entspricht, nicht über die Haupttreppe des Ich-denke empor, sondern über die verpönten Hinteraufgänge des Bewußtseins. Unruhig wandern nichtfeststellbare Schmerzen durch die leeren Gänge des Körpers, und Träume ziehen wie schwer beladene Karawanen über den zwielichtigen Horizont. Je mehr Menschen sich mit einem Ich

Kopernikus zuvor bewirkte Revolution naturwissenschaftlichen Denkens durch eine Dezentrierung menschlicher Weltsicht charakterisiert war. 2 | Zur Tradition der Kritik an der Subjektphilosophie siehe Jürgen Habermas (1985a): Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 3 | Im Folgenden beziehe ich mich vor allem auf Honneth (1993a). 4 | Sigmund Freud (1916/2000): Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Studienausgabe, Bd. I, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 284.

Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehr theit denke aus der Rüstkammer der modernen Ideologien bewaffnen, desto mehr Psychologie muß in dieser Gesellschaft aufkommen, um den Gespensterverkehr zu regulieren.« 5

Aber kommen wir zunächst zur zweiten der oben angekündigten Erschüt­ terungen subjektphilosophischen Denkens. Als sei die Entzauberung des modernen Individuums durch den Nachweis eines dunklen, wirkmächtigen Unbewussten noch nicht hinreichend, wurde ihm etwa zur selben Zeit selbst noch die Autorschaft seiner bewussten Gedanken, Äußerungen und Handlun­ gen streitig gemacht. Gemeint ist hier die sich im Anschluss an Ferdinand de Saussure und dann auch an den späten Ludwig Wittgenstein formierende Front aus Strukturalismus und Sprachphilosophie, die den Verdacht aufkom­ men ließ, dass das einzelne denkende, sprechende und handelnde Individuum überhaupt nicht länger als autonom sinnstiftend angesehen werden könne. In seiner radikalsten Form wuchs sich dieser Zweifel zu der Überzeugung aus, dass das menschliche Subjekt letztlich nichts anderes sei als das Produkt ihm gänzlich fremder Mächte; eine Art Knotenpunkt gesellschaftlicher Struktu­ ren und Sinnzusammenhänge, durch die es insgesamt festgelegt sei.6 In ab­ geschwächter Form schlug und schlägt sich die gemeinte Skepsis bis heute in entwicklungspsychologischen Ansätzen nieder, die davon ausgehen, dass sich das Subjekt auf dem Wege seiner Individuierung zunächst einem Prozess der – sprachlich vermittelten – Sozialisierung zu unterwerfen habe, dem es das Vermögen der Autonomie überhaupt erst verdanke und von dem es zeitlebens geprägt bleibe.7 Kritische Denkbewegungen dieser Art, so erneut Sloterdijk, lösen endgültig »den individualistischen Schein auf, der die Einzelnen als substantielle Ich-Einheiten auffassen möchte, die wie die Mitglieder eines liberalen Clubs auf freiwilliger Basis in Verkehr mit anderen träten, nachträglich, willkürlich, widerruflich, wie es der Ideologie der individualistischen Vertragsgesellschaft entspricht. Wo solche Individualismen auftauchen, dort läßt sich mit hoher psychologischer Evidenz auf eine freiheitsneurotische Grundstellung schließen; für die ist es charakteristisch, daß ein Subjekt sich nicht als enthaltenes, begrenztes, umgriffenes und besetztes denken kann. Es ist die Basisneurose der okzidentellen Kultur, von einem Subjekt träumen zu müssen, das alles beobachtet, benennt, besitzt, ohne sich von etwas enthalten, ernennen, besitzen zu lassen.« 8

5 | Peter Sloterdijk (1985): Der Zauberbaum, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 283f. 6 | Gemeint sind sogenannte poststrukturalistische Ansätze à la Foucault. 7 | Hier ist vor allem an Theorien im Anschluss an George H. Mead zu denken. 8 | Sloterdijk (1998), S. 85.

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Rückblickend muss allerdings festgestellt werden, dass sich die gemeinten Brüche im modernen Subjektdenken keineswegs so abrupt vollzogen haben, wie es hier zunächst erscheinen mag. Der Prozess der modernen Unterminie­ rung des Subjekts tritt mit der Psychoanalyse und der Sprachphilosophie zwar unabweislich in eine entscheidende Phase ein, er hat jedoch auch eine wich­ tige Vorgeschichte. Während sich die tiefenpsychologische Aufdeckung des Unbewussten bereits in der deutschen Romantik ankündigt, etwa bei Fried­ rich Schlegel oder auch bei E.T.A. Hoffmann, findet sich die Idee sprachlich vermittelter Intersubjektivität in entscheidenden Hinsichten bei Johann Gott­ fried Herder und Wilhelm von Humboldt vorgezeichnet. Es scheint, als sei die moderne Subjektphilosophie bereits sehr früh von einer skeptischen Gegen­ strömung begleitet gewesen, die das selbstherrliche, autonome Subjekt vom Thron hat stürzen wollen. Insofern sollten subjektkritische Denkbewegungen der genannten Art eher als »Begleitmusik« modernen Subjektdenkens von An­ fang an – oder jedenfalls beinahe von Anfang an – und weniger als schlagartige Denkrevolutionen verstanden werden.9 Wenn wir nun diese beiden skeptischen Denkströmungen an die uns im vorliegenden Rekurs ja primär beschäftigende Problematik eines anthropolo­ gisch tiefsitzenden Bedürfnisses nach subjektiver Ganzheit und Unversehrt­ heit herantragen, so befinden wir uns sogleich in einem eigentümlichen Spannungsfeld: Einerseits werden wir von jener doppelten Unterminierung klassischer Subjektvorstellungen angezogen, die man verschiedentlich auch als »Dezentrierung« des Subjekts bezeichnet hat.10 Vom anderen Pol jedoch scheint noch immer die inzwischen nahezu antiquiert und nur wenig progres­ siv anmutende Idee »intakter Subjektivität« eine Art Restmagnetismus auszu­ strahlen. Und auch die ersten drei Kapitel dieses Buches dürften längst den Eindruck bestätigt haben, dass im Folgenden an der Annahme einer funda­ mentalen Sehnsucht nach Ganzheit und Unversehrtheit festgehalten werden soll, auch wenn inzwischen zahlreiche Theorieansätze aus der angedeuteten Dezentrierung des Subjekts den folgenreichen Schluss haben ziehen wollen, dass gerade in der Uneinheitlichkeit, Nicht-Integriertheit oder gar Zerrissen­ heit sogenannter Patchwork-Identitäten das eigentliche Potenzial kreativer Selbstschöpfungen zu lokalisieren wäre.11 Nicht zuletzt, weil derartige Über­ legungen vorschnell und gefährlich nah an eine unkritische Affirmation von Phänomenen heranreichen, die im Bereich klinisch-psychologischer For­ schung unter dem Stichwort »multiple Persönlichkeiten« als tiefgreifende und krankhafte Persönlichkeitsstörungen verhandelt werden, soll hier der Versuch 9 | Diesen Hinweis verdanke ich Beate Rössler. 10 | Dazu Honneth (1993a). 11 | Vgl. Harald Wenzel (1995): »Gibt es ein postmodernes Selbst?«, in: Berliner Journal für Soziologie, 1/1995.

Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehr theit

unternommen werden, auf der existenziellen Dringlichkeit eines subjektiven Bedürfnisses nach Ganzheit und Unversehrtheit zu beharren. Dennoch wer­ den wir zugleich auch die oben umrissene Kritik am idealistischen Subjekt teilen. Worum es im Folgenden gehen muss, das ist der Versuch, jene doppelte skeptische Einsicht in die unbewusste, fremdgesteuerte Seite menschlichen Subjektseins zum einen, in deren vorgängig intersubjektive Verfasstheit zum anderen mit der Idee eines tiefsitzenden Wunsches nach Integrität zu vermitteln. Dies wird nur dann gelingen, wenn wir die genannten Zweifel an der Selbstmächtigkeit moderner Subjektivität konzeptionell so in die Integritäts­ analyse einbinden, dass sie sich am Ende nicht etwa als Beschränkungen integren Personseins, sondern vielmehr als deren konstitutive Bedingungen erweisen. Wenn wir »den Spieß umdrehen« und das menschliche Subjekt samt seines Bedürfnisses nach Integrität aus den doppelten Wirren des Un­ bewussten und der Intersubjektivität zuallererst hervorgehen lassen, kann der Verdacht, die spätmoderne Dezentrierung des Subjekts ziehe unweigerlich die Preisgabe jeder Form von Ganzheitsdenken nach sich, ausgeräumt werden.12 Mehr noch: Durch diesen Schritt wird eine angemessenere Idee integren Sub­ jektseins überhaupt erst in den Blick kommen können. Die entscheidende The­ se wird lauten: Das individuelle Subjekt mit seiner Sehnsucht nach Ganzheit und Unversehrtheit muss sowohl als Reaktion auf ein zu kanalisierendes Un­ bewusstes wie auch als Antwort auf ein übergreifendes Interaktionsgeschehen verstanden werden. Subjekte, die nach Integrität streben, sind immer schon in eben diesem doppelten Sinne Inter-Subjekt, d.h. Subjekte »zwischen« anderem und anderen. Im Zuge der Explikation dieser These wird allerdings der Umstand Be­ rücksichtigung finden müssen, dass wir die in biographischer Hinsicht ent­ scheidende Szenerie, mit der einsetzt, was Subjektwerdung oder auch »In­ dividualisierung« genannt wird, gegenüber den allermeisten Theorien der Subjektivität vorzudatieren haben. Die Schwierigkeit jedoch, diesen Zeitpunkt genauer zu bestimmen, wird als »Schwierigkeit zu sagen, was fehlt« erkenn­ bar werden.13 Der vorliegende Rekurs nimmt vier Stufen mit ansteigendem Skurrilitätsgrad: Zunächst soll der Vermutung nachgegangen werden, dass sich das Subjekt samt seiner Sehnsucht nach Ganzheit radikalen und drama­ tischen Trennungs- und Verlusterfahrungen in frühester Kindheit verdankt (1). Anschließend soll anschaulich werden, wie diese frühkindlichen Traumata schon bald ins autobionarrative Abseits geraten, indem sie – mitsamt der Erin­ nerung an einen vorausgehenden, vergleichsweise paradiesischen Zustand – ins Unbewusste abgedrängt werden, wo sie gravierende und untilgbare Spuren 12 | Vgl. Honneth (1993a). 13 | Dazu Sloterdijk (1998), S. 466ff.

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hinterlassen (2). Auf verstörende Weise wird sich dann zeigen, dass die Idee der Intersubjektivität in eben diesen verdrängten Erinnerungen von Beginn an auf ganz eigentümliche Weise enthalten und wirksam ist (3). Von dort aus lässt sich eine erste Brücke zurück zur sozialpathognostischen Begründungspro­ blematik schlagen, indem ein gesellschaftskritischer Ansatz umrissen wird, der soziale Missstände an Verletzungen des individuellen Bedürfnisses nach Intaktheit misst (4). Am Ende dieses Rekurses müssen die bis dahin angestell­ ten Überlegungen zur Sehnsucht nach Ganzheit dann ausdrücklich an jenen komplexen Integritätsbegriff zurückgekoppelt werden, der in der ersten Hälfte dieses Buches Gestalt angenommen hat (5).

1. D as Tr auma der Trennung Jeder Versuch, sich an eben jene Stadien und Situationen des Lebens zu erin­ nern, in denen die Sehnsucht nach Ganzheit und Unversehrtheit aufgekom­ men sein mag, verliert sich in der autobionarrativen Nacht frühester Kindheits­ tage. Wer diese Sehnsucht verspürt, möchte fast glauben, sie sei immer schon da gewesen, in jedem Fall jedoch sehr früh. Der in autobionarrativer Hinsicht blinde Fleck in der Rückschau auf die Anfänge der eigenen Lebensgeschichte lässt zunächst drei Deutungen zu: (a) Das Bedürfnis nach Intaktheit ist eine natürliche, anthropologische Konstante, d.h. genetisches oder auch phylogene­ tisches Erbgut, mit dem wir als Menschen, ähnlich wie mit unseren Reflexen und Instinkten, zur Welt kommen; (b) Die gemeinte Sehnsucht ist nicht schon von Beginn an da, sondern wird im Laufe des Lebens erst noch erworben, in­ dem der Mensch aus seinen zahlreichen negativen Schmerz- und Verlusterfah­ rungen allmählich das imaginäre Wunschbild einer demgegenüber vollstän­ dig intakten Existenz zusammensetzt; (c) Das Bedürfnis nach Ganzheit stützt sich auf eine tatsächlich vorhandene, positive Erinnerung an »bessere Tage«, deren Unwiederbringlichkeit, nach Art eines Traumas, das gesamte spätere Leben überschattet und in eben jenem Streben nach Intaktheit sein stetes Echo findet. Mögliche Einwände gegen diese drei Ursprungsphantasien können selbst­ redend kaum weniger spekulativ und vage ausfallen als die darin enthaltenen Szenarien selbst. Dennoch scheint auf Anhieb sowohl gegen die an erster Stel­ le genannte Annahme einer anthropologischen Konstante als auch gegen die als zweites angeführte Behauptung einer negativen Wunschbildkonstruktion der, wie man es nennen könnte, »erlebte Erfahrungsgehalt« der hier ins Auge gefassten Sehnsucht zu sprechen. Was ist damit gemeint? Die beiden ersten Rekonstruktionsversuche gehen gemeinsam davon aus, dass sich die Idee der Ganzheit und Unversehrtheit einer Imagination verdankt. Im ersten Fall handelt es sich um ein angeborenes »Programm«, das uns Menschen nach

Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehr theit

Art eines Instinktes antreibt, ohne dass wir genau wüssten, auf welches Ziel sich dieses natürliche Streben richtet und welche Gründe es dafür gibt. Im zweiten Fall haben wir es mit einem Konstrukt oder besser »Entwurf« zu tun, der zwar auf tatsächlich gemachten Erfahrungen beruht, der aber vor allem kontrastbildende Negativerfahrungen versammelt, deren positives Gegenbild zunächst bloß phantasiert wird. In jenen lebensgeschichtlichen Momenten jedoch, in denen sich das Begehren nach Ganzheit und Unversehrtheit regt, scheint eine – wenn auch blasse bzw. weitgehend unbewusste – »Erinnerung« an einen tatsächlich erlebten Zustand aufzuflackern, so als hallten darin bes­ sere Zeiten nach, die in dicken biographischen Nebel getaucht sind. Eben das soll mit echtem Erfahrungsgehalt gemeint sein. Eben diese spekulative Annahme einer positiven Erinnerung an früheste Ganzheitserfahrungen soll im Folgenden an Plausibilität gewinnen. Das Be­ dürfnis nach Intaktheit wird als das Ergebnis einer traumatischen Einbuße an frühkindlicher Unversehrtheit gedeutet, die als »Phantasma« das gesamte spätere Leben des Menschen überschattet. Wer sich um erste metapsychologi­ sche und auch klinische Belege für eine derartige Auffassung bemüht, stößt unweigerlich auf das Feld der Psychoanalyse, die allerdings aus Sicht der Philo­ sophie noch immer ein höchst umstrittenes Nischendasein führt. Manchmal mag es scheinen, als rege sich auf Seiten ihrer philosophischen Kritiker eine Art positivistischer Restaffekt. Schließlich verfolgt die Psychoanalyse, insofern sie um Klärung der Genese frühester seelischer Verletzungen bemüht ist, das vermeintlich paradoxe Unterfangen, empirische Aussagen über seelische Vorgänge formulieren zu wollen, die sich aufgrund ihrer biographischen Ver­ dunkelung einer wahrhaft empirischen Überprüfung zu entziehen drohen. Längst jedoch können sich die nun folgenden Überlegungen auf ein breites, wenngleich von Seiten der Philosophie noch vollkommen unzureichend wahr­ genommenes Forschungsmaterial stützen, das sich eingehenden psychologi­ schen und medizinischen Studien verdankt. Beginnen wir mit der Frage nach eben jener dramatischen Urszenerie, die, so prägend sie auch gewesen sein mag, in aller Regel rasch wieder in biogra­ phische Vergessenheit gerät. Dazu muss die lebensgeschichtliche Kette von konkreten Schmerz-, Mangel- oder auch Trennungserfahrungen, die sich von Individuum zu Individuum nach Qualität und Quantität unterscheiden, bis zu jenem Punkt zurückverfolgt werden, an dem verallgemeinernde Aussagen über universelle Verlusterfahrungen möglich werden. In verblüffender Einstim­ migkeit haben so unterschiedliche Autorinnen und Autoren wie die Anhänger der sogenannten psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie14 sowie der an 14 | Dazu der Überblick bei Jay R. Greenberg/Stephen A. Mitchell (1983): Object Relations in Psychoanalytic Theory, Cambridge: Harvard UP. Die Objektbeziehungstheorie hat den Perspektivenwechsel von der ödipalen hin zur präödipalen Beziehungsproblematik,

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Freud und Lacan geschulte Philosoph und Psychoanalytiker Cornelius Cas­ toriadis15 darauf hingewiesen, dass es in der frühesten Kindheit eines jedes Menschen zu einer sukzessiven Folge letztlich vergleichbarer Brüche kommen muss, die von den ahnungslos Heranwachsenden nicht anders denn als dra­ matisch empfunden werden können. Gemeint sind jene schon bald nach der Geburt einsetzenden Erfahrungen des Kleinkindes, bei denen die temporäre Abwesenheit der schützenden und ernährenden Mutter wiederholt zu heftigen Unlusterfahrungen oder gar Angstzuständen führt. Man denke hier nur an Gefühle der Schutzlosigkeit, an erste Hungererlebnisse außerhalb des Uterus, an die Furcht, die das zeitweilige Verschwinden der Mutter auslöst, an den sogenannten pavor nocturnus, jenen nächtlichen Schrecken, den das Kind er­ leidet, wenn es plötzlich in der Dunkelheit erwacht und niemanden um sich weiß, an Frustrationserfahrungen im Zuge der zunehmenden Aufmerksam­ keitsverschiebung seitens der Mutter hin zu anderen familiären Bezugsperso­ nen und vor allem auch an die wohl tiefgreifende Erfahrung einer dauerhaften Entwöhnung von der Mutterbrust. Die Kette dieser und ähnlicher als nahezu universell einzustufender Ver­ lusterfahrungen – so jedenfalls sehen es die Objektbeziehungstheoretiker und Castoriadis – führt beim Baby schrittweise zu einer schmerzhaften Desillusi­ onierung. In seiner Not und Hilflosigkeit erfährt es sich mehr und mehr als grundverschieden von seiner Mutter, die plötzlich und zunehmend einen ganz eigenen, nicht immer nur fürsorglichen Willen offenbart. Als plausibel kön­ nen sich derartige Überlegungen freilich erst dann erweisen, wenn man für den Anfang des menschlichen Lebens eine Phase der undifferenzierten Ein­ heit, Symbiose oder auch »absoluten Abhängigkeit« zwischen Mutter und Kind annimmt.16 In Momenten des Mangels und der tiefen Bedürftigkeit kommt dem Baby allmählich und schmerzhaft zu Bewusstsein, dass eine zuvor unge­ schiedene »Monade« zerfällt, wie Castoriadis jene primär-intime Beziehung zwischen Kleinkind und Mutter nennt, die für das Baby »unzerstörbare Zu­ sammengehörigkeit« sein soll und zugleich unerschöpfliche Lustquelle, »der nichts mangelt und die nichts zu wünschen übrig läßt«.17 Im Zustand dieses »primären Narzissmus«, wie es innerhalb der ortho­ doxen psychoanalytischen Theoriebildung oft heißt, muss der »omnipotente« Säugling seine eigenen Bedürfnisse, Regungen und Impulse als mit den ent­ sprechenden Befriedigungsreaktionen seiner engsten Bezugsperson derart d.h. vom Vater zur Mutter, eingeleitet. Auf die Bedeutung der Objektbeziehungstheorie hat mich Honneth (1992) aufmerksam gemacht. 15 | Ich beziehe mich insbesondere auf Castoriadis (1984), Kap. VI. 16 | Donald W. Winnicott (1994): Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, Frankfurt a.M.: Fischer, bes. S. 106ff. 17 | Castoriadis (1984), S. 487.

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verschmolzen erlebt haben, dass sich zwischen dem »Hier« der Säuglingsre­ alität und der Objektivität eines wie auch immer gearteten »Dort« noch keine emotionale Kluft auftun konnte.18 Von einer vom Säugling erlebten »Trennung« zwischen Kind und Mutter bzw. von einer erlebten Differenz zwischen Subjekt und Objekt, Selbst und Anderem, kann überhaupt erst ab dem Moment die Rede sein, in dem das Baby mit der als bedrohlich empfundenen Realität einer temporär abwesenden Mutter aus einer als schützend erlebten Zwei-in-Einheit gerissen wird. Erst dann, d.h. retrospektiv, erfährt sich der Säugling auf einen Erfahrungshorizont zurückgeworfen, dessen fragiler Bestand auf einen für­ sorglichen Interaktionspartner angewiesen war und ist. Diese Erfahrung lässt einerseits das Bewusstsein einer konstitutiven Abhängigkeit aufkommen. Die Mutter wird zunehmend als etwas in der Welt erlebt, das sich der eigenen, vermeintlich omnipotenten Kontrolle entzieht. Zugleich aber können diese Vorgänge auch als erste bruchstückhafte Individualisierungsschübe gedeutet werden, d.h. als erste notwendige, wenn auch erzwungene Schritte des Kindes in die eigene Selbständigkeit: »Damit bildet sich für das Subjekt eine »Realität«, die unabhängig, aber auch formbar und zugänglich ist […]. Nicht minder als die unwiderstehliche Neigung der psychischen Monade, sich in sich selbst abzuschließen, ist dieser Bruch für das künftige Individuum konstitutiv. Wenn das Neugeborene zu einem gesellschaftlichen Individuum wird, dann deshalb, weil es diesen Bruch erleidet – und erfolgreich durchsteht, was erstaunlicherweise fast immer der Fall ist.«19

Während wir auf den Aspekt dieser schmerzhaften Inthronisierung des Sub­ jekts erst später eingehender zu sprechen kommen werden, ist an dieser Stel­ le zunächst festzuhalten, dass wir es im Lichte der geteilten Überzeugungen von Castoriadis und der Objektbeziehungstheorie mit Trennungsschocks zu tun haben, die postnatal, d.h. nachgeburtlich, zu terminieren sind. Fraglich ist jedoch das Folgende: Wenn die hier angenommene Kette von Verlusten, die sukzessive zur Herausbildung separater Erlebniswelten führt, bereits bis zu überaus frühen Stadien des Mutter-Kind-Verhältnisses zurückverfolgt wer­ den kann, und zwar bis kurz nach der Geburt, für welche Phase frühkindli­ cher Erfahrung soll dann die vermeintliche Monade oder Symbiose behauptet werden? Allein für jene äußerst kurze Spanne, die zwischen der Geburt des 18 | Vgl. Axel Honneth (2000d): »Objektbeziehungstheorie und postmoderne Identität«, in: Psyche, 11/2000, bes. S. 1098. Das diesbezüglich von Sloterdijk gebrauchte Begriffspaar Hier/Dort trifft das aus Sicht des Säuglings vermutlich äußerst diffuse Gegenüber sehr viel besser als die vergleichsweise differenzierten Dichotomien Kind/ Mutter, Subjekt/Objekt, Selbst/Anderer etc. 19 | Castoriadis (1984), S. 499.

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Kindes und seinen ersten Mangelerfahrungen liegt? Anders gefragt: Lässt sich der Zeitpunkt, an dem sich das Eindringen jenes wohl unterschiedenen »An­ deren« derart manifestiert, dass es tatsächlich sichtbar zu einer gravierenden Trennung kommt, nicht doch noch etwas exakter bestimmen? Castoriadis und die Objektbeziehungstheorie übersehen den Umstand, dass die vermutlich folgenreichste aller frühkindlichen Desintegrationser­ fahrungen bereits hinter dem Neugeborenen liegt, wenn die nachgeburtliche Fürsorge einsetzt.20 Es hätte nahegelegen, die analysierte Reihe kleinerer dra­ matischer Brüche bis zu eben jenem Punkt zurückzuverfolgen, an dem das psychophysische Desaster ursprünglicher Trennung augenfällig wird. Hier setzen Überlegungen ein, denen man heute z.B. bei Anhängern der Tiefen­ psychologie Otto Ranks21 oder auch in den philosophischen Arbeiten von Pe­ ter Sloterdijk 22 begegnet. Die Rede ist von einem frühkindlichen Ereignis, mit dem in das Leben der Neugeborenen eine Art Blitz einschlägt, dem alle wei­ teren Katastrophen des Lebens wie ein verspäteter Donner folgen werden. Es ist das »Trauma der Geburt«23, dessen in psychischer Hinsicht katastrophale Nachwirkung sozusagen als Mutter aller späteren Verlusterfahrungen gedeutet werden muss. Wir haben zurückzublicken auf den in autobionarrativer Hin­ sicht denkbar weit entfernten Vorgang des Zur-Welt-Kommens, um jener, wie Sloterdijk sagt, biographischen »Nacht- und Nebelaktion« ansichtig zu werden, von der auf seltsame Weise »die meisten Menschen das Gefühl haben wollen, sie seien nicht selber dabei gewesen«.24 Nach Rank und Sloterdijk muss eine allgemeine »Verdrängung« von Er­ innerungen rund um den je eigenen Geburtsvorgang angenommen werden. Nicht aber die Geburt als solche wird verdrängt – niemand wird ernsthaft von sich behaupten wollen, sie habe in seinem Fall nicht stattgefunden –, sondern lediglich der dadurch ausgelöste Trennungsschock. Die tiefenpsychologische Deutung lautet: Die Erfahrung, geboren zu werden, d.h. der erlebte Auszug aus der schützende »Höhle« des Mutterleibes, wird vom Säugling derart schmerzhaft durchlitten, dass die Erinnerung an dieses Ereignis schon bald aus den zugänglichen Bereichen des Bewusstseins ausgeschlossen wird, damit das damit verknüpfte Leiden als memoriertes nicht unentwegt reproduziert 20 | Im Lichte der nun folgenden Überlegungen ist das postnatale Versorgungsverhältnis nicht als Ursprung der Sehnsucht nach Ganzheit zu deuten, sondern als der erste intersubjektive Versuch, einen noch früheren Verlust zu kompensieren. 21 | Ludwig Janus (Hg.) (1998): Die Wiederentdeckung Otto Ranks für die Psychoanalyse, Gießen: Psychosozial. 22 | Dazu insbesondere Sloterdijk (1988) sowie ders. (1998). 23 | So der Titel des bahnbrechenden Hauptwerks von Otto Rank (1924/1998): Das Trauma der Geburt, Gießen: Psychosozial. 24 | Sloterdijk (1988), S. 57ff.

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zu werden braucht. Deshalb, so heißt es, sei es kein Wunder, dass Menschen in ihrem späteren Leben dazu neigten, die zentrale Bedeutung menschlicher »Natalität«25 herunterzuspielen. Fraglich ist allerdings, warum die Geburt als ein »traumatisches« Ereignis interpretiert werden muss, wenn doch kaum je­ mand schlechte Erinnerungen daran zu berichten weiß. Zunächst einmal lässt sich folgender Hinweis ins Feld führen: Zwar gehen mit den Phänomenen Schwangerschaft und Geburt  – zumindest im westli­ chen Kulturkreis  – zahlreiche romantisierende Verklärungen einher26, doch wird von kaum jemandem ernsthaft bestritten, dass der Vorgang einer her­ kömmlichen Geburt (ohne Narkose und Kaiserschnitt) zumindest von den be­ troffenen Müttern als schmerzhaft und nicht selten sogar dramatisch erlebt wird.27 Wenn dem aber so ist, stellt sich unweigerlich die Frage, warum der­ selbe Vorgang nicht auch vom Neugeborenen selbst, der ja, im Vergleich zur Mutter, völlig unwissend und unvorbereitet von der Geburt getroffen wird, als auf ähnliche oder noch viel stärkere Weise qualvoll empfunden werden soll. Dazu der Bericht einer Hebamme aus dem Jahre 1924: »Nachdem normalerweise ein gewisses Mißverhältnis zwischen Kopfgröße und Beckenausgang besteht, finden immer Drücken, Pressen und Formen des Kopfes statt, bis dieser dem Beckenausgang angepaßt ist und durchtreten kann […] Dabei wird der Kopf manchmal so schmal gedrückt und das innen befindliche Gehirn so zusammengepreßt, daß die Knochen sich zusammenschieben, die Zwischenräume verschwinden, einer sich über den anderen legt, das Hinterhauptbein unter den Scheitelbeinen ganz verschwindet und die Mitte der Stirne als scharfe Kante hervortritt […] [D]er Kopf behält für das ganze Leben eine an diese gewaltsame Verschiebung erinnernde Form. Ist es nun begründet anzunehmen, daß solcher Druck schmerzlos vor sich gehen oder ohne tief nachwirkenden Eindruck auf das Seelenleben des Neugeborenen bleiben kann?« 28

Obduktionen, die an Kindern durchgeführt wurden, die während oder kurz nach der Geburt verstorben sind, haben eine Vielzahl innerer Blutungen und

25 | Hannah Arendt (1958/1981): Vita Activa, München: Piper, bes. S. 15f. 26 | Barbara Duden/Jürgen Schlumbohn/Patrice Veit (Hg.) (2002): Geschichte des Ungeborenen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; Ludwig Janus (1997a): »Die magische Dimension im Umgang mit dem Geburtstermin«, in: ders./Sigrun Haibach (Hg.) (1997): Seelisches Erleben vor und während der Geburt, Neu-Isenburg: LinguaMed. 27 | Friederike Siedentopf (2002): »Unter Schmerzen sollst du gebären!?«, in: Dr. Med. Mabuse, 1/2002. 28 | Dorothy Garley, zitiert nach Ludwig Janus (1997b): Wie die Seele entsteht, Heidelberg: Mattes, S. 51f.

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Hirnverletzungen offenbart.29 Da diese Schäden selbst noch bei äußerlich un­ beschadeten Feten nachgewiesen werden konnten, spricht vieles für den Rück­ schluss, dass die herkömmliche Geburt in aller Regel einen erheblichen Stress für das Neugeborene darstellt. Klinisch lässt sich gut belegen, dass das von der Hebamme in aller Nüchternheit beschriebene »Mißverhältnis« zwischen der Kopfgröße des Babys und dem Beckenausgang der Mutter im Kind während des Geburtsvorganges ein psychosomatisches Chaos aus Kälte, Zittern, Herz­ rasen, Angst, Schmerz und Atemnot auslöst. Schon die herkömmliche Geburt kann beim Neugeborenen zu einer Vielzahl von Schäden und Verletzungen führen.30 Treten geburtshilfliche Maßnahmen hinzu, z.B. Geburtseinleitung, Wehenbeschleunigung, Zangen- oder auch Saugglockengeburten, dürfte die buchstäbliche Drangsal des Kindes offenkundig sein.31 Demnach erweist sich die schlichte Tatsache, dass der Mensch geboren wird, als der erste große »Nachteil« (Emil M. Cioran) des Lebens. Man kann, so Sloterdijk, den ersten Schrei des Kindes, mit dem die selbsttätige Atmung einsetzt und sich ein autonomer Blutkreis zu entfalten beginnt, als wichtigen Individualisierungsschub und zugleich auch als das Versprechen deuten, dem Skandal der Geburt auf den Grund zu gehen. Der Nachteil, geboren zu sein, »mag er auch der absolute Nachteil sein, eröffnet den Mindestvorteil, sich sein Leben lang über ihn beklagen zu können«.32 Wir haben es bei diesem Geburts­ schrei mit der ersten »Artikulation« eines Unbehagens zu tun, das sich zeit­ lebens in einer fortgesetzten Selbstverständigungspraxis entfalten wird. Doch bevor wir eingehender auf diesen Punkt zu sprechen kommen, muss zunächst die zwar naheliegende, aber keineswegs selbstverständliche Annahme geprüft werden, dass die bei der Geburt durchlittene physische Belastung des Babys, von der allein bislang die Rede war, tatsächlich auch in psychischer Hinsicht einen erheblichen Umsiedlungsschock auslöst. Dazu Rank: 29 | Dazu und für das Folgende Janus (1997b). 30 | Die Abschnitte P10-15 der einschlägigen International Classification of Diseases (ICD-10) fassen solche Geburtsschäden zusammen. Untersuchungen des Mainzer Geburtenregisters belegen, dass in Deutschland, einem Land mit vergleichsweise guter medizinischer Versorgung, 5-8 % aller Neugeborenen mit einer erheblichen Fehlbildung zur Welt kommen. Gut 20 % dieser Fehlbildungen sind die Folge eines dramatischen Geburtsvorgangs. Erfasst sind hier allerdings allein solche Behinderungen, die bereits kurz nach der Geburt feststellbar sind. Etwaige geistige Schädigungen aufgrund von Sauerstoffmangel o.ä. während der Geburt zeigen sich oft erst später. Für diese Auskünfte habe ich Annette Queisser-Luft vom Mainzer Geburtenregister zu danken. 31 | Dazu auch William R. Emerson (1997): »Geburtstrauma: Psychische Auswirkungen geburtshilflicher Eingriffe«, in: Janus/Haibach (1997). 32 | Sloterdijk (1988), S. 108. Siehe aber vor allem dessen literarische Bebilderung einer im Traum erinnerten Geburt in: ders. (1985), S. 240ff.

Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehr theit »Es scheint, daß der Urangsteffekt der Geburt, der das ganze Leben hindurch […] wirksam bleibt, von Anfang an nicht bloß Ausdruck physiologischer Beeinträchtigungen (Atemnot – Enge – Angst) des Neugeborenen ist, sondern infolge Verwandlung einer höchst lustvollen in eine äußerst unlustvolle Situation sogleich einen »psychischen« Gefühlscharakter bekommt. Diese empfundene Angst ist so der erste Inhalt der Wahrnehmung, sozusagen der erste psychische Akt, welcher der noch ganz intensiven Tendenz zur Wiederherstellung der eben verlassenen Lustsituation die erste Schranke entgegensetzt, in der wir die Urverdrängung zu erkennen haben.« 33

Der Auszug aus der wärmenden, schützenden, paradiesisch anmutenden Höhle des mütterlichen Uterus und der damit verbundene Abbruch einer zu­ vor weitgehend als verlässlich erlebten, plazentalen Totalversorgung, stürzt das Neugeborene in eine existenzielle Krise. Das Leben auf dieser Welt, so muss man sagen, fängt ziemlich schlecht an. Klinisch-psychologische Untersuchun­ gen lassen vermuten, dass etwa 45 % aller neugeborenen Babys stark trauma­ tisiert sind und nahezu der gesamte Rest zumindest leicht; wobei der Begriff »Trauma« hier zunächst in dem eher weiten Sinn eines psychischen Schocks verstanden werden muss, der mal gravierende, mal weniger gravierende Nach­ wirkungen mit sich bringt.34 Wenn diese Annahmen nicht vollends von der Hand zu weisen sind, so wird allerdings deutlich, warum die oben für die erste postnatale Phase unterstellte Annahme eines primären Narzissmus oder auch Omnipotenzwahns als überaus problematisch einzustufen ist. Die Geburt wird für das Baby ein derart einschneidendes Erlebnis sein, dass angenommen werden muss, dass sich der vielleicht heftigste aller frühkindlichen Brüche und Vertrauensverluste bereits auf »perinataler« Ebene, d.h. während der Ge­ burt ereignet. Wenn hier überhaupt noch von der Erinnerung an frühkindli­ che Symbiose- oder Verschmelzungserfahrungen die Rede sein soll, so werden wir diese Erfahrungen gegenüber der von Castoriadis und der Objektbezie­ hungstheorie vertretenen Ansicht, sie seien ein Echo auf die erste Lebensphase

33 | Rank (1924/1998), S. 179. 34 | Emerson 1997, S. 135f. Inwiefern sich an diesen Zahlen etwas ändern wird, wenn sich der derzeitige Trend zur Kaiserschnittgeburt ausweitet, ist bislang noch ungeklärt. Dennoch gibt es erste klinisch-psychologische Anzeichen für Persönlichkeitsunterschiede zwischen Kaiserschnitt-Kindern und vaginal geborenen. Letztere, so heißt es, werden im späteren Leben eine niedrigere Angstschwelle aufweisen. Zugleich aber sind sie psychisch von anderen Menschen unabhängiger, da sie den Geburtskampf »durchgestanden« haben. Demgegenüber sollen Kaiserschnitt-Kinder zwar weniger ängstlich, dafür jedoch von anderen Personen abhängiger sein. Siehe Jane English (1997): »Physische und psychosoziale Aspekte der Kaiserschnittgeburt«, in: Janus/Haibach (1997).

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nach der Geburt, nunmehr ins Vorgeburtliche zurückdatieren müssen, indem wir uns Untersuchungen der »pränatalen« Forschung zuwenden.35 Hier ist jedoch sogleich die selbstkritische Warnung des Psychoanalytikers Ludwig Janus36 zu bedenken, der wiederholt, wie schon vor ihm Nandor Fo­ dor37, darauf hingewiesen hat, dass die Einsicht in den perinatalen Geburts­ schock nicht vorschnell zu einer Idealisierung vorgeburtlichen Lebens füh­ ren dürfe. Zwar stehe der traumatische Charakter der Geburt gänzlich außer Zweifel, doch solle man sich hüten, sich von dieser Überzeugung zu einer Art Uterus-Romantik verführen zu lassen, nach der die vorgeburtliche Exis­ tenz dem Paradies gleichgekommen sein müsse. Janus weist hier vor allem auf die in den 1960er Jahren aufkommenden pränatalen Ultraschalluntersuchun­ gen hin, in deren Zuge nicht nur offenkundig und buchstäblich anschaulich wurde, dass menschliches Leben bereits vorgeburtlich einsetzt, sondern auch, dass es bereits zu diesem Zeitpunkt zahlreichen Gefährdungen ausgesetzt ist. Vereinzelt ließen solche Aufnahmen erstmals fetales Schreien im Mutterleib sowie mimische Abwehrreaktionen von Embryonen bei akuten Bedrohungen erkennen. Als besonders dramatisch nimmt sich hier die umstrittene Doku­ mentation The Silent Scream des amerikanischen Abtreibungsarztes Bernhard Nathanson aus. Darin ist der verzweifelte Widerstand eines etwa zwölfwöchi­ gen Embryos gegen seine Abtreibung zu sehen.38 Inzwischen liegen zahlreiche weitere klinische Untersuchungen vor, die das vielfältige Risiko vorgeburtlicher Schädigungen belegen. Hinreichend bekannt dürfte sein, dass die schwangere Mutter über die Plazenta einen ge­ gebenen Alkohol-, Nikotin- oder Medikamentenkonsum direkt an ihr Kind weitergibt.39 Auch Fehlernährung, massiver Stress und tiefgreifende seelische Notlagen, z.B. Depressionen, der Mutter können zu gravierenden Entwick­ lungsstörungen des Kindes führen.40 Am Beispiel »unerwünschter« Kinder lässt sich die psychosomatische Anfälligkeit und Abhängigkeit des Embryos 35 | Einen knappen Überblick über den medizinischen Stand gibt David B. Chamberlain (1997): »Neue Forschungsergebnisse aus der Beobachtung vorgeburtlichen Verhaltens«, in: Janus/Haibach (1997). 36 | Siehe neben Janus (1997b) auch ders. (2000): Die Psychoanalyse der vorgeburtlichen Lebenszeit und der Geburt, Gießen: Psychosozial. 37 | Nandor Fodor (1949): The Search for the Beloved, New York: University Books. 38 | Zu sehen sind diese Aufnahmen z.B. im Internet: www.silentscream.org (Stand 21. Januar 2018). Der Film ist nichts für schwache Nerven. 39 | Vgl. Michael Hertl (1994): Die Welt des ungeborenen Kindes, München: Piper, bes. S. 131f. 40 | Bea van den Bergh (1990): »The Influence of Maternal Emotions During Pregnancy on Fetal and Neonatal Behaviour«, in: Journal of Prenatal and Perinatal Psychology and Health, 2/1990.

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auf besonders drastische Weise anschaulich machen.41 Die Säuglingssterblich­ keit liegt bei ungewollten Kindern signifikant höher als bei anderen. Gleiches gilt für deren Fehlbildungsrate im Hinblick auf Hirnschäden und geistige Be­ hinderungen. Zu vermuten ist, dass ein im Mutterleib heranwachsendes Kind, dem nicht schon während der Schwangerschaft jene körperliche und emotio­ nale Zuwendung  – fachpsychologisch »bonding« genannt  – zuteil wird, von der man annimmt, dass sie insgesamt von großer Bedeutung für eine gesunde Entwicklung des Babys ist, ernsthaft Schaden nehmen kann.42 Liegt gar eine massive emotionale Ablehnung des Kindes seitens der Mutter oder anderer enger Bezugspersonen vor, so wächst das Kind als »Fremdkörper im Fremd­ körper« und damit regelrecht »in einer Kampfzone« heran, in der es unter teilweise desaströsen Mangelerscheinungen zu leiden hat.43 Klinisch-psychologische Untersuchungsergebnisse dieser Art lassen den Schluss zu, dass bereits auf vorgeburtlicher Ebene mit der Möglichkeit von Brü­ chen in der psychophysischen Erfahrungswelt des im Mutterleib heranwach­ senden Kindes gerechnet werden muss. Zudem sollte man nicht vorab schon kategorisch ausschließen, dass sich die hier vorgebrachten Überlegungen zeit­ lich noch weiter zurückverfolgen lassen. So darf inzwischen als medizinisch unstrittig angesehen werden, dass selbst der Zeugungsakt in seinem »Gelin­ gen« von psychosozialen Einflüssen abhängig ist. Sterilität und ungewollte Kin­ derlosigkeit haben oft psychosomatische Ursachen, und zwar sowohl auf Seiten der Frau als auch auf Seiten des Mannes.44 Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zu der Annahme, dass sich unzureichende Zeugungsbedingungen am Ende auch auf die psychophysische »Qualität« des dabei gegebenenfalls gezeug­ ten Kindes auswirken können. Doch die in diesem Abschnitt bereits bis in die pränatale Sphäre zurückverfolgte Kette frühkindlicher Schockerlebnisse dürfte auf die meisten Leserinnen und Leser schon irritierend genug gewirkt haben. Daher sollte an dieser Stelle zunächst einmal ein Schnitt erfolgen. 41 | Thomas R. Verny (1997): »Isolation, Ablehnung und Gemeinschaft im Mutterleib«, in: Janus/Haibach (1997); Helga Häsing/Ludwig Janus (Hg.) (1999): Ungewollte Kinder, Wiesbaden: Text-O-Phon. 42 | Dazu John Bowlby (1986): Mütterliche Zuwendung und geistige Gesundheit, Frankfurt a.M.: Fischer. 43 | J. Erik Mertz (2000): Borderline. Weder tot noch lebendig, Stuttgart: Enke, bes. 174f. u. Kap. 5. Mertz hält auf diese Weise gar medizinisch bislang rätselhafte Phänomene wie »Autismus« und der »plötzliche Kindstod« für erklärlich. Sie lassen sich als verzweifelter Protest oder als »Aufgeben« des Säuglings angesichts einer als ausweglos erfahrenen Lebenssituation deuten. Hegels Idee eines Kampfes um Anerkennung auf Leben und Tod erhält so ihre buchstäbliche Bedeutung. 44 | Manfred Stauber (1993): Psychosomatik der ungewollten Kinderlosigkeit, Berlin: BMV.

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Führen wir zunächst die in diesem Abschnitt skizzierten Annahmen über den entwicklungspsychologischen Ursprung jener fundamentalen biogra­ phischen Trennungserfahrung, die sich hinter dem späteren Bedürfnis nach Ganzheit verbergen soll, zusammen. Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als seien die drei hier vorgestellten tiefenpsychologischen Ansätze – das prä­ natale, das perinatale und das postnatale Trennungsmodell  – letzten Endes unvereinbar. Sie alle wollen den gesuchten ursprünglichen Erfahrungsbruch auf unterschiedliche Termine festsetzen, sodass eine Entscheidung zugunsten eines dieser Modelle erforderlich zu sein scheint. Dies ist jedoch ein Kurz­ schluss. Vielmehr können, ja, müssen die drei Modelle konzeptionell mitei­ nander verwoben werden, und zwar aus folgendem Grund: Weder früheste Mangelerfahrungen im Mutterleib, d.h. auf pränataler Ebene, noch jene im Zuge der eigentlichen Geburt, d.h. auf perinataler Ebene, werden vom Kind als Trennung von der Mutter erfahren. Der Embryo hat in diesen Stadien ganz einfach noch kein »Bild« von seiner Gebärerin. Aus der uteralen Innensicht muss sich die Klausur in der Mutter zunächst weitgehend als differenzlose, wenngleich nicht immer ungestörte Fusion darstellen. Hier wird allenfalls, so­ bald es zu solchen Störungen kommt, eine erste gefühlte Differenz zwischen einem Hier und einem Dort auftreten können. Bloß in Ansätzen wird im Zuge solcher Erfahrungen die Vorstellung einer vormals ungeschiedenen, nun aber allmählich zerbrechenden Einheit Gestalt annehmen können, die im Zuge des Geburtsvorgangs dann allerdings gewaltsam offen- und aktenkundig wird. Ein genaueres Bild der Mutter als Mutter wird das Baby erst dann ausbilden kön­ nen, wenn es zur Welt gekommen ist. Nach der Abnabelung des Kindes setzt für gewöhnlich ein konkreter leiblicher Umgang mit der Mutter ein, und vor­ erst langsam gewinnt das Baby eine genauere Vorstellung davon, was es heißt, eine mal mehr, mal weniger fürsorgliche Beschützerin zu haben. Wichtig ist hierbei das Folgende: Erst in dieser dritten Phase, d.h. auf post­ nataler Ebene, können neuerliche Enttäuschungen – gewissermaßen rückwir­ kend – mit älteren Mangelerscheinungen assoziiert und als »Trennungsängs­ te« psychisch verankert werden, von denen nunmehr erkennbar wird, dass sie auch damals schon auf die Mutter bezogen waren.45 Demnach, so lautet zusammengefasst ein erstes Ergebnis dieses Rekurses, sollte man weniger von einem einzigen, großen Bruch in der Erfahrungswelt des Kindes sprechen als vielmehr von einer sukzessiven Kette mal stärkerer, mal weniger starker Angst-, Mangel- und Trennungserfahrungen. Die auf allen drei genannten frühkind­ lichen Entwicklungsstufen auftretenden Schäden addieren sich schrittweise zu einem existenziellen Gesamtverlust, der allein retrospektiv als jener Ver­

45 | Otto Rank (1927/1994): »Book Review of Sigmund Freud: Hemmung, Symptom, Angst«, in: International Journal of Prenatal Psychology and Medicine, 6/1994.

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lust von etwas »Ursprünglichem« betrachtet werden kann, von dem es hieß, dass er das intrapsychische Leben des Menschen bis in sein Erwachsenenalter hinein prägen wird. Gerade dieser Punkt bleibt jedoch erklärungsbedürftig: Warum findet sich die tiefenpsychologische Analyse nicht einfach damit ab, wie so viele Menschen das ja offensichtlich auch tun, dass diese frühen Verlus­ terfahrungen schlicht »vergessen« werden? Was lässt es berechtigt erscheinen, von gravierenden Traumatisierungen zu sprechen, die lebenslang wirkmächtig bleiben? Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es einer genaueren Analyse des kategorialen Zusammenhangs von »Trauma« und »Phantasma«.

2. D as P hantasma der E inheit Wenn man im Hinblick auf die kindliche Frühentwicklung von einer Kette dra­ matischer oder gar traumatischer Verluste sprechen will, dann wird sich diese Annahme allein dann plausibel machen lassen, wenn gezeigt werden kann, was genau dabei sukzessive verloren geht. Darüber hinaus hätte deutlich zu werden, wie schwer diese Einbuße in jedem einzelnen lebensgeschichtlichen Fall wiegt. Ganz gleich, ob wir im Anschluss an Castoriadis und die Objektbeziehungstheo­ rie von einem postnatalen Aufbrechen der Mutter-Kind-Symbiose reden wollen, ob wir mit Rank und Sloterdijk einen perinatalen Umsiedlungsschock bei der Vertreibung aus dem mütterlichen Paradies beklagen oder mit Janus und Fodor auf das bereits pränatal gegebene Risiko einer nachhaltigen Störung intrauteri­ ner Zwei-in-Einheit hinweisen möchten: Als wahrhaft traumatisch werden sich diese Brüche allein dann auswirken können, wenn das Baby dabei stoßweise aus einem Zustand gerissen wird, der unvergleichlich behaglicher und angenehmer gewesen ist als jener, in den es nun übergeht. Auf nahezu paradoxe Weise muss trotz der hier unterstellten Verluste etwas Wichtiges zurückbleiben: Die Erinne­ rung an etwas, das durch eben jene Einbußen überhaupt erst Gestalt annimmt, eine Art schmerzlich empfundene Leerstelle oder auch die Ahnung von einem für immer verlorenen Land, »wo Milch und Honig fließt«. Spätestens an dieser Stelle, wo wir tiefer in unsere Lebensgeschichte ab­ zutauchen hätten, als es uns möglich erscheint, drohen wir endgültig in das empirisch gänzlich unzugängliche Schattenreich der reinen Spekulation ab­ zudriften. Mit Blick auf »ozeanische« Urzustände primordialer, vorsprachli­ cher Prägung, sind wir, wenn diese denn überhaupt einmal existiert haben sollten, von einem dichten und schwerlich zu lüftenden Schleier des Nicht­ wissens umgeben.46 Nüchterne Reisebeschreibungen erübrigen sich mangels 46 | Sloterdijk hat einmal gesagt, man habe sich als »Jacques Cousteau des Fruchtwassers« zu betätigen. Mit dem »ozeanischen Gefühl« rekurriere ich auf Freud (1930/2000), S. 197ff.

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substanzieller Taucherfahrungen. Hier scheinen allenfalls noch blumige Me­ taphern und literarische Fiktionen möglich. Doch wenden wir uns zunächst einem Bericht des Psychoanalytikers Sandor Ferenczi zu, der auf einer Ge­ burtsstation folgende Erfahrungen sammelte: »Beobachtet man aber das sonstige Benehmen des Neugeborenen, so bekommt man den Eindruck, daß es von der unsanften Störung der wunschlosen Ruhe, die es im Mutterleibe genoß, durchaus nicht erbaut ist, ja, daß es in diese Situation zurückzugelangen sich sehnt. Die Pflegepersonen erkennen instinktiv diesen Wunsch des Kindes, und sobald es durch Zappeln und Schreien seiner Unlust Ausdruck verleiht, bringen sie es geflissentlich in eine Lage, die der Mutterleibssituation möglichst ähnlich ist. Sie legen es an den warmen Körper der Mutter oder wickeln es in weiche, warme Decken, Pölster ein, offenbar, um ihm die Illusion des Wärmeschutzes durch die Mutter zu verschaffen. Sie schützen sein Auge vor Licht, sein Ohr vor Schallreizen und verschaffen ihm die Möglichkeit, die intrauterine Reizlosigkeit wieder zu genießen; oder sie reproduzieren die leisen und rhythmisch-monotonen Reize, die dem Kinde auch in utero nicht erspart geblieben sind (die Schaukelbewegungen beim Gehen der Mutter, die mütterlichen Herztöne, das dumpfe Geräusch, das von außen ins Körperinnere dringt), indem sie das Kind wiegen und ihm monoton-rhythmische Wiegenlieder vorsummen.« 47

Was Ferenczi hier beobachtet, das ist eine lebensgeschichtlich überaus früh einsetzende Form gemeinsamer Trauerarbeit: Das hilflose Neugeborene leidet unter seiner neuen Umgebung, und die darin anzutreffenden ersten Bezugs­ personen bemühen sich, dem Kind den schmerzlichen Übergang so erträglich wie möglich zu gestalten, indem sie es auf kompensatorischem Wege in Zu­ stände versetzen, die an vergangene Ruhephasen erinnern sollen. Wir kennen diese Art der Sorge um das Kind selbstverständlich nicht bloß aus dem Kran­ kenhaus. Säuglinge werden an die Mutterbrust gelegt, nah am Körper gehal­ ten und gewärmt, in eine Wiege gebettet und in den Schlaf gesungen. Babys, die bereits im Mutterleib zu akustischer Wahrnehmung fähig sind, reagieren schon bald nach der Geburt mit Entspannung auf die Stimmen ihrer Eltern, insbesondere der Mutter, aber auch auf Musik, die sie während der Schwanger­ schaft mitgehört haben.48 Eltern gehen mit dem Kinderwagen spazieren und wippen diesen hin und her, bis das Baby beruhigt eingeschlafen ist. Später begleiten sie ihre Kinder auf den Spielplatz, wo ebenfalls gewippt und geschau­ kelt wird, oder auf die Kirmes, wo die Kinder Karussell, Achter- und Geister­ bahn fahren. Bis ins hohe Erwachsenenalter hinein schlafen viele Menschen gern in »embryonaler Haltung«, schmiegen sich dabei an eine andere Person

47 | Sandor Ferenczi, zitiert nach Janus (1997b), S. 22f. 48 | Alfred A. Tomatis (1987): Der Klang des Lebens, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

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und verschwinden unter dicken Federbetten, um sich am nächsten Tag wie »neugeboren« zu fühlen.49 Warum tun Menschen all das? Offenbar leben nicht bloß Neugeborene mit entsprechenden Erinnerun­ gen, auch der erwachsene Mensch ist von einem instinktiven »Wissen« in Bezug auf die Frage geleitet, wie es einem schutzlosen Baby gehen mag. Wo­ her stammen diese Kenntnisse? Wenn behauptet werden soll, dass in dieses intuitive Wissen tatsächlich eigene Früherinnerungen einfließen, ist man vermutlich umgehend mit dem kritischen Verdacht konfrontiert, derartige »Erinnerungen« seien nichts anderes als Projektionen von Erwachsenen, die im Laufe ihres Lebens  – im Umgang mit kleineren Geschwistern, den Kin­ dern von Angehörigen und Freunden oder später auch den eigenen  – ganz bestimmte Phantasien davon entwickelt haben, wie die Zeit vor, während oder unmittelbar nach der eigenen Geburt ausgesehen haben könnte. Das bloße Vorhandensein einiger praktischer, vermutlich »instinktiver« Fertigkeiten im Umgang mit Kleinkindern rechtfertige längst nicht die Annahme eines echten Erfahrungsgehaltes derartiger Fürsorge. Nun, die empirische Annahme blasser Rückerinnerungen an das eigene Gefühl damaliger »Geworfenheit«, wie man im Anschluss an Heidegger sa­ gen kann, wird wohl vorerst tatsächlich nicht zweifelsfrei untermauert werden können.50 Dennoch sind in der Vergangenheit im Rahmen einer Vielzahl von teilweise heftig umstrittenen psychologischen Therapieformen – Psychoanaly­ se, Hypnosebehandlung, Primärtherapie, Regressionstherapie, LSD-Therapie, Körpertherapie, Atmungs- und Haltetherapie, »Rebirthing« u.a.  – überaus erstaunliche Beobachtungen gemacht worden, die für die Validität derartiger Früherinnerungen sprechen.51 Traumberichte über paradiesische und jäh be­ endete Aufenthalte in warmen und dunklen Grotten, über heldenhafte Kämpfe auf Leben und Tod mit Dämonen und feuerspeienden Monstern, über Fesse­ lungen, Hilflosigkeit, Lähmungen und Erstickungsnot, lassen sich, nicht zu­ letzt aufgrund entsprechend »regressiver« Reaktionen der Patientinnen und Patienten beim »Wiedererleben« in der therapeutischen Praxis, kaum anders deuten denn als ein tiefsitzendes, verschüttetes Frühgedächtnis. Im Rah­ men sogenannter Verifizierungsforschung sind derartige Patientenberichte darüber hinaus mit objektiven Patientendaten abgeglichen worden, z.B. mit medizinischen Akten oder mit Berichten von Angehörigen bzw. Zeugen von 49 | In diesem Zusammenhang sagt Sloterdijk mit Blick auf die kompensatorische Wirkung von Plumeaus: »Wer keinen Freund hat, kann immerhin eine Bettdecke haben.« Siehe ders. (1998), S. 364. Vgl. Hertl (1994), S. 161-165. 50 | Liest man die betreffenden Stellen aus Sein und Zeit in diesem Licht, so lassen sie sich als Reminiszenz an die Natalität des Menschen deuten, wobei die ontologische Verbrämung der Zusammenhänge einen Rest Schleier des Nichtwissens offenbart. 51 | Dazu Emerson (1997); Janus (1997b), bes. Abschnitte III und V.

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Schwangerschaft und Geburt. In besonders eindrucksvollen Fällen konnten sich Patientinnen und Patienten im Rahmen der Therapie an geburtshilfliche Eingriffe oder gar an Versuche, die Schwangerschaft abzubrechen, erinnern, die tatsächlich stattgefunden hatten, ohne dass den Betroffenen jemals davon berichtet worden war.52 Inzwischen liegen demnach genügend Anhaltspunkte für die Annahme vor, dass die so häufig behauptete Amnesie im Hinblick auf die Ereignisse vor, während oder kurz nach der Geburt keineswegs als vollständig, sondern lediglich als partiell einzustufen ist, sodass wir weniger von einem autobio­ narrativen »Vergessen« als von einer Art »Verschüttung« sprechen sollten. Ne­ ben den erwähnten Patientenberichten ist hier vor allem auch an symbolische Darstellungen von Schwangerschaft und Geburt in Mythen, Märchen, Kunst­ werken und rituellen Praktiken zu denken, die in unserer Kultur reichhaltig anzutreffen sind und in denen jene Früherinnerungen – auf gewissermaßen höherer Ebene  – sublimiert und »aufgehoben« sind.53 Dabei lassen sich die entsprechenden Symbolisierungen immer auch als Versuche deuten, den dra­ matischen Urereignissen einen Sinn abzutrotzen. Nur um ein paar besonders berühmte Beispiele zu nennen: Die alttestamentarische Erzählung von der Vertreibung aus dem Paradies transformiert die Erfahrung eines gewaltsam erlittenen Bruchs mit der intrauterinen Behaglichkeit in das biblische Bild der Erbsünde und des Verlustes der Unschuld. Das berühmte Höhlengleich­ nis Platons symbolisiert den lebensbedrohlichen Auszug aus der allgemeinen Verblendung in das Tageslicht der Welt – man bedenke, dass der in die Höhle zurückkehrende Philosoph getötet werden wird – als Akt der Befreiung und »Aufklärung«. Überhaupt lässt sich zeigen, dass unzählige Heroengeschichten und Hel­ densagen die Struktur menschlichen Zur-Welt-Kommens aufweisen: In der Re­ gel wird zunächst von einem Leben in (pränataler) Sicherheit berichtet. Dann tritt der (perinatale) Heimat-, Beziehungs- oder Sicherheitsverlust im Zuge einer drohenden oder bereits geschehenen Katastrophe ein. Schließlich folgt der (postnatale) Versuch einer Kompensation dieses Unglücks im Zuge eines zunächst ausweglos erscheinenden Kampfes gegen das Böse durch eigene und nicht selten »rächende« Taten.54 Dies gilt bis hin zu den kulturgeschichtlich vergleichsweise spät auftauchenden Superman-Comics: Clark Kent, ein klei­ ner Junge, wird von seiner Eltern, die auf einem fremden, dem Untergang ge­ weihten Planeten leben, in einer beengten (uteralen) Kapsel zur Erde gesandt. 52 | Emerson (1997); Ulfried Geuter (2003): »Im Mutterleib lernen wir die Melodie unseres Lebens«, in: Psychologie heute, 1/2003. 53 | Dazu vor allem Rank (1927/1998), aber auch Janus (1997b), Kap. IX. 54 | Johannes Merkel (2000): Spielen, Erzählen, Phantasieren. Die Sprache der inneren Welt, München: Kunstmann, bes. S. 263-270.

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Im späteren realen Leben wird Kent dann ein recht biederer Zeitungsreporter sein. Angesichts drohender Menschheitskatastrophen jedoch zieht er sich in enge Telefonzellen zurück, um dort im Zuge einer regressiven Metamorphose zum »Übermenschen« zu werden und zu neuer bzw. alter Allmacht zu ge­ langen. Aber auch Werke der bildenden Künste, wie etwa die weltberühmten Gemälde Salvador Dalís, können den Eindruck hinterlassen, dass in derartigen kulturellen Manifestationen schmerzhafte Urerfahrungen buchstäblich verar­ beitet sind. Man nehme nur das berühmte Bild Geopolitisches Kind beobachtet die Geburt des neuen Menschen, das den Buchdeckel der Neuausgabe von Ranks Trauma der Geburt ziert: Hier kämpft sich ein männlicher Held aus dem Ei ei­ ner deformierten Weltkugel und wird dabei von einer Mutter und ihrem ängst­ lichen Kind beobachtet. Über dem Ei schwebt, wie eine Art Saugglocke, ein Baldachin. Das Ei selbst ruht auf einem weißen Laken, auf das ein Tropfen Blut fällt. Zu denken ist vor allem aber auch an Werke der Literatur. Adalbert Stifter hat auf einem nachgelassenen Blatt, das man nach seinem Tode in einer seiner Schubladen fand, die folgenden »Erinnerungen« notiert: »Weit zurück in dem leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzücken, das gewaltig fassend, fast vernichtend in mein Wesen drang und dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich. Die Merkmale, die festgehalten wurden, sind: Es war Glanz, es war Gewühl, es war unten. Dies muß sehr früh gewesen sein, denn mir ist, als liege eine hohe, weite Finsternis des Nichts um das Ding herum. Dann war etwas anderes, das sanft und lindernd durch mein Inneres ging. Das Merkmal ist: Es waren Klänge. Dann schwamm ich in etwas Fächelndem, ich schwamm hin und wieder, es wurde immer weicher und weicher in mir, dann wurde ich wie trunken, dann war nichts mehr. Diese drei Inseln liegen wie feen- und sagenhaft in dem Schleiermeere der Vergangenheit, wie Urerinnerungen eines Volkes. Die folgenden Spitzen werden immer bestimmter, Klingen von Glocken, ein breiter Schein, eine rote Dämmerung. Ganz klar war etwas, das sich immer wiederholte. Eine Stimme, die zu mir sprach, Augen, die mich anschauten, und Arme, die alles milderten. Ich schrie nach diesen Dingen. Dann war Jammervolles, Unleidliches, dann Süßes, Stillendes. Ich erinnere mich an Strebungen, die nichts erreichten, und das Aufhören von Entsetzlichem und Zugrunderichtendem. Ich erinnere mich an Glanz und Farben, die in meinen Augen, an Töne, die in meinen Ohren, und an Holdseligkeiten, die in meinem Wesen waren. Immer mehr fühlte ich die Augen, die mich anschauten, die Stimme, die zu mir sprach, und die Arme, die alles milderten.« 55 55 | Adalbert Stifter (1959): »Nachgelassenes Blatt«, Gesammelte Werke, Bd. 6, Gütersloh: Mohn, S. 584.

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So kitschig diese Zeilen auf den nicht geneigten Leser wirken mögen, so un­ schwer dürfte nach dem bislang Erwogenen zu erkennen sein, dass Stifter hier in knappen, schönen Worten eine Urszenerie zu skizzieren versucht, die von der pränatalen Behaglichkeit (»Wonne und Entzücken«) über den perinatalen Umsiedlungsschock (»Die folgenden Spitzen werden immer bestimmter…«) bis hin zur postnatalen Auffangsituation im Schutzbereich der Mutter reicht (»Arme, die alles milderten«). Der Dichter hat hier ein langgezogenes Driften vor Augen, das vom paradiesischen Bad im uteralen Fruchtwasser über die rei­ ßende Strömung des Geburtskanals bis hin zur harten Brandung im Diesseits reicht, die schon bald nach der Geburt durch Fürsorge gemildert wird. Ob es sich bei den Aufzeichnungen Stifters um tatsächliche Erinnerungen handelt oder lediglich um einen notierten Traum, sei einmal dahingestellt. So oder ähnlich könnte jenes weitgehend vorsprachliche Gedächtnis des Menschen »zur Sprache« kommen, wenn einmal der Versuch dazu unternommen wer­ den würde.56 Gleichwohl wird solchen Schilderungen stets etwas Unzulängliches anhaf­ ten müssen. Wenn Stifter schreibt, dass den erinnerten Ereignissen als sol­ chen »nichts mehr in meinem künftigen Leben glich«, dann ist damit zugleich gesagt, dass diese frühen Erfahrungen durch spätere Erinnerungen nicht wirklich aufgefrischt oder reproduziert, sondern allenfalls angestoßen werden können. Das seinerzeit Erlebte muss als dermaßen bahnbrechend und prägend aufgefasst werden, dass sich alle späteren Erfahrungen im Leben dazu verhal­ ten wie ein Echo zum ursprünglichen Laut. Jeder Versuch einer Verarbeitung und Darstellung dieser Erinnerungen – sei es in Sprache, Kunstwerken oder aber im Rahmen einer Therapie  – muss am Ende unvollständig bleiben. Da es sich zudem um wesentlich vorsprachliche Erinnerungen handelt, wird eine adäquate sprachliche oder symbolische Abbildung jenes »intimen Atlantis«57 ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit sein: »Was fehlt und immer mangeln wird, ist das Unvorstellbare jenes »Urzustands« vor aller Trennung und Differenzierung, jene Proto-Vorstellung, die die Psyche nicht mehr hervorzubringen imstande ist, die aber ins psychische Feld unzerstörbare Kraftlinien eingezeichnet hat, daß darin Gestalt, Sinn und Lust eine unzertrennliche Einheit bilden. Dieses erste Begehren ist irreduzibel, weil es sich auf etwas richtet, das weder in der Realität ein Objekt findet, in dem es sich verkörpern könnte, noch in der Sprache Worte findet, in denen es sich aussprechen könnte. Nur in der Psyche selbst findet es ein Bild, um sich Gestalt zu geben. Hat die Psyche erst einmal die Erfahrung des Bruchs mit ihrem monadischen »Zustand« gemacht, wozu das »Objekt«, der andere und der eigene Körper 56 | Der Psychoanalytiker Friedrich Kruse hat solche Patientenberichte gesammelt. Siehe ders. (1969): Die Anfänge menschlichen Seelenlebens, Stuttgart: Enke. 57 | Sloterdijk (1998), S. 63.

Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehr theit sie nötigen, so hat sie für immer ihre Mitte verloren und ist stets an dem orientiert, was sie nicht mehr ist, was nicht mehr ist und nicht mehr sein kann. […] Aber noch immer beherrscht dieses Ziel total, roh, wild und unzugänglich die unbewußten Prozesse. Weniger noch als jede Verdrängung kann dieses Ziel jemals wirklich zu Worte kommen, weil sein »Sinn« in einem für immer verlorenen Anderswo liegt. Dieser Selbstverlust, diese Selbstspaltung ist die erste Leistung, die die Psyche zu ihrer Aufnahme in die Welt erbringen muß – und die zu erfüllen sie sich weigern kann.« 58

In diesem längeren Castoriadis-Zitat klingt bereits all das an, was es an dieser Stelle festzuhalten gilt: Die Erfahrung eines erzwungenen Auszugs aus der ursprünglichen Geborgenheit kann vom ahnungs- und sprachlosen Baby auf­ grund der Gewalt der Ereignisse sowie der daraus resultierende Angst schlicht nicht verarbeitet werden. Aufgrund dieser Überforderung wird das Kind die furchteinflößenden Erinnerungen zunehmend verdrängen müssen. Dennoch bleiben die erlittenen Schocks und Traumata, vor allem aber die Erinnerung an einen vergleichsweise paradiesischen Zustand davor, unterbewusst als un­ auslöschliche Spur präsent, und zwar nicht nur als »natürliche« Angstbereit­ schaft, sondern vor allem auch als unterschwelliges Begehren. Zurück bleibt eine tief empfundene, scheinbar objektlose Sehnsucht, die zur Regression, d.h. buchstäblich zur Rückkehr in die ursprüngliche Einheit tendiert. Die früh­ kindlichen Traumata sind allein deshalb Traumata, weil in ihnen gravierende Kontrasterfahrungen konserviert sind, deren Erinnerung latent mächtig bleibt: »Was wir für unsere Existenz brauchen, haben wir in vollkommener Weise ohne eigene Bemühung: versorgt über die Nabelschnur aus den Schatzkammern der Plazenta, eingebettet im Fruchtwasser und abgeschottet von allem, was schaden und belasten könnte. Die Geburt beendet dieses Idyll und führt dramatisch in ein anderes Dasein, in eine neue Welt, die kalt sein kann im Milieu, grell im Licht, in eine Welt, die wir mit anderen zu teilen haben und die uns fordert, in ihr mit eigenen Kräften zu bestehen.« 59

Noch einmal sei jedoch daran erinnert, dass weniger von nur einem drama­ tischen Bruch als vielmehr von einer Reihe sukzessiver Brüche auszugehen ist, die sich zunächst pränatal, dann vor allem perinatal und schließlich auch postnatal ereignen. Erst in der Rückprojektion fügen sich all diese Brüche zum imaginären Gesamtbild eines existenziellen Totalverlustes zusammen, der ein doppeltes paradise lost markiert: Nicht nur der ursprüngliche Zustand als sol­ cher kommt abhanden, sondern eben auch die bewusste Erinnerung daran. Und dennoch werden diese Ereignisse nicht vollständig vergessen. Die Erinne­ rung sickert lediglich ins Unbewusste ein, wo sie als »Phantasma«, wie Castori­ 58 | Castoriadis (1984), S. 491f. 59 | Hertl (1994), S. 24.

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adis sagt60, unmerklich wirksam bleibt. Der Mensch behält ein unterschwellig sehnsuchtsvolles Wunschbild zurück, in dem der monadische, ganzheitliche Frühzustand wiederhergestellt wäre oder besser: wiederhergestellt ist. Als Phantasma durchzieht die blasse Erinnerung an frühe, fundamentale Kontras­ terfahrungen das gesamte spätere Leben, um sich dort, wie oben angedeutet, in Geschichten, Träumen, Kunstwerken u.ä. zum Ausdruck zu bringen. Die in diesem Wunschbild umherspukende, ursprünglich sprachlos erworbene Sehnsucht markiert unentwegt das, was hier mit Sloterdijk die »Schwierigkeit zu sagen, was fehlt« genannt werden soll: Der sich über die Spanne präna­ talen, perinatalen und frühen postnatalen Lebens erstreckende Akt des ZurWelt-Kommens muss als die erste fundamentale Desintegra­tionserfahrung im Leben des Menschen verstanden werden, die sich nach Art einer unlesbaren »Tätowierung« in den Körper und die Seele des Kleinkindes schreibt.61 Folglich ist der Mensch vorgeburtlich, geburtlich und nachgeburtlich prä­ disponiert: pränatal, insofern er zeitlebens unter der verschütteten Erinne­ rung an ein verlorenes Nirwana leiden wird; perinatal, da ihm die Angst und die Enttäuschung der Geburt für immer in die Knochen gefahren sind; und postnatal, indem er für den Rest seines Lebens von den kompensatorischen Fürsorgequalitäten seiner ersten Bezugspersonen geprägt sein wird. Zugleich aber wird der Mensch unter einer seltsamen Amnesie leiden, die nicht, wie Heidegger meinte, Seinsvergessenheit ist, sondern Geburtsvergessenheit.62 Ins­ gesamt ist damit eine anthropologisch tiefsitzende Melancholie konstituiert, die den Menschen das ganze spätere Leben umtreiben wird. Oben ist bereits angedeutet worden, dass der Mensch im Laufe seines Lebens so manchen mal mehr, mal weniger gezielten Versuch unternehmen wird, seine wesentlich vor­ sprachlichen Erinnerungen an diese frühen Ereignisse auch sprachlich ein­ zuholen. Mit dem biographisch denkbar früh zu datierenden Ausbruch jener Melancholie, von der, wie gesagt, bereits der erste Schrei des Neugeborenen Zeugnis ablegt, gerät das in Gang, was in der ersten Hälfte dieses Buches »Au­ tobionarration« genannt wurde: der Versuch, die eigene Lebensgeschichte auf dem Wege einer ethisch-existenziellen Selbstverständigung sinnstiftend ein­ zuholen. Doch wie sehr man sich auch bemühen mag, stets bleibt die Schwie­ rigkeit, ja, die Unmöglichkeit, die eigene Geschichte bis zu den dunklen An­ fängen zurückzuverfolgen: »Zeitlebens, meine Damen und Herren, sind wir in der Lage von Leuten, die zu spät ins Theater kommen – in einem Zwischenakt wird die Tür noch einmal halb geöffnet, wir 60 | Castoriadis (1984), z.B. S. 489. 61 | Sloterdijk (1988). 62 | In Anlehnung nicht an Heidegger, sondern an Herberger könnte man sagen: »Nach der Geburt ist vor der Geburt«.

Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehr theit zwängen uns atemlos in den Raum und suchen im Dunkeln nach dem eigenen Platz. Den Anfang der Handlung haben wir verpasst, und für den Augenblick kann nicht mehr geschehen, als daß wir von nun an ihrem Gang so aufmerksam wie möglich folgen.« 63

Die Sprache, mit deren Hilfe der Mensch das Netz seines ethisch-existenziellen Selbstverständnisses zu spinnen versucht, kommt im Leben zu spät, als dass sie die uns hier beschäftigenden Ereignisse von Beginn an begleiten könnte. Das Vermögen ethisch-existenzieller Selbstverständigung kann sich erst post­ natal, d.h. im konkreten Umgang mit anderen sprechenden Menschen her­ ausbilden. Erst die kommunikative Interaktion mit engsten Bezugspersonen lässt die Differenz zwischen den sprachlichen Perspektiven des »Ich« und des »Du« reifen, die Voraussetzung dafür ist, dass sich das heranwachsende Kind im Spiegel der Blicke, Verhaltensweisen und Sprechakte anderer reflektieren und dadurch zunehmend selbst erkennen lernt.64 Hinsichtlich der uns hier beschäftigenden Problematik des Lebensanfangs sind Kinder, wenn sie »zur Sprache kommen«, längst »zur Welt gekommen«. Die ersten dramatischen Ereignisse haben sie bereits hinter sich. Weil diese vorsprachlichen Ereignis­ se zudem in einen Nebel aus Angst und Verdrängung gehüllt sind, müssen Menschen sich mit deren sprachlicher Aufarbeitung äußerst schwer tun. Die Möglichkeit einer radikalen, d.h. frühestmöglich ansetzenden Autobionarrati­ on scheint damit in weite Ferne zu rücken: »Eine Fundamentalautobiographik, die im Lichthof des einzelnen Bewußtseins bleibt und keine Metaphysik des Bewußtseins bemüht, kommt erst dann in die Anfangsräume des vereinzelten Lebens, wenn es ihm ins sprachlos Flüssige folgt, wo die noch unbenannten Dinge an den Küsten des Begriffs spielen, ohne zu erstarren. Wer zu so frühen Zeichen seiner Anfänge zurückblättert, der fängt im wahrsten Sinne des Wortes noch einmal an – er schlägt die leeren Seiten auf, in die die ersten Unterschiede eingeritzt werden, er entrollt das lebende Pergament, das die Einstiche seiner besonderen Tätowierung trägt. Was sich da zeigt, bestätigt die psychologische Vermutung, daß es Schichten des Seelischen gibt, in denen die Zeit stillesteht. Kaum liegen aber die Seiten der frühen sprachlosen Gegenwärtigkeit offen, beginne ich zu verstehen, warum ihr Aufblättern so ganz vom Anschein der Unmöglichkeit umgeben ist. Hinter der schützenden 63 | Sloterdijk (1988), S. 12. Diese Analogie mag besonders diejenigen überzeugen, die einmal Kinder bei ihrem ersten Theaterbesuch beobachtet haben; ihre großen, erwartungsvollen Augen, sobald die Lichter ausgehen und sich der Vorhang öffnet, ihre Anspannung, in einer Mischung aus Wonne und Furcht, im dunklen Zuschauerraum. Man kann den erlösenden Schlussapplaus – auch noch der erwachsenen Zuschauer – als ein Klatschen deuten, das stets auch ihnen selbst gilt, weil sie das Drama (erneut) überstanden haben. 64 | Habermas (1988a).

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Integrität Gewißheit, es nicht zu können, rührt sich eine panische Furcht, vielleicht doch dazu imstande zu sein. Denn könnte ich zu meinem wirklichen Beginn zurück, was geschähe dann?« 65

Aus tiefenpsychologischer Sicht ist mit der autobionarrativen Selbstverstän­ digungspraxis nicht nur die verständliche Furcht vor einem entsprechenden Scheitern, sondern immer auch eine unterschwellige Angst vor dem Gelingen derartiger Selbstverständigung verknüpft. Die lebensgeschichtliche Rück­ schau rührt nicht nur am Phantasma ursprünglicher Intaktheit, sondern zu­ gleich auch an der Erinnerung an den größten anzunehmenden Unfall. Damit rückt die im letzten Kapitel diskutierte Annahme, dass die ethisch-existentiel­ le Selbstverständigung einem tiefsitzenden Bedürfnis nach Integration unter­ schiedlichster Lebenserinnerungen, Lebensvollzüge und Lebenspläne folge, in ein gänzlich neues Licht: Wenn wir davon ausgehen, dass der Mensch jene se­ ligen, aber auch schmerzhaften Urerfahrungen, die ihm als Phantasma, aber eben auch als Trauma im Kopf herumspuken, in späteren Lebenssituationen wie ein Echo zu vernehmen vermag, dann muss das intime Selbstgespräch immer auch als der Versuch eines ethisch-existenziellen Rückzugs verstan­ den werden.66 Er dient der bislang aufgeschobenen Verarbeitung von latenten und ambivalenten Früherinnerungen, auf die wir uns seit jeher keinen rechten »Reim« machen können. In eben diesem Sinn sind z.B. Träume, Tagebuchauf­ zeichnungen, Autobiographien, Erzählungen, Märchen, Konversationen oder auch Therapiegespräche stets auch als häufig kaum bewusste Versuche zu deuten, das betreffende Phantasma einzukreisen, um dadurch jener frühen und zum Teil noch immer als bedrohlich empfundenen Ereignisse habhaft zu werden.67

65 | Sloterdijk (1988), S. 52. 66 | Vgl. Reinhold Esterbauer (2002): »Zimmer ohne Aussicht. Zum Verhältnis von Einsamkeit und Einheit«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 5/2002. Dass hier die Raumkategorie »Zimmer« als paradigmatischer Ort schützenden Rückzugs diskutiert wird, ist – tiefenpsychologisch gesehen – natürlich kein Zufall. 67 | Am Ende mag dies gar für so manche philosophische Theoriebemühung gelten. Es ist daran zu erinnern, dass der in dieser Hinsicht wohl berühmteste aller Denker, So­ krates nämlich, das Kind einer Hebamme war und dass seine philosophische Methode, mit der er seine verblendeten Gesprächspartner ein zweites Mal zur Welt zu bringen versuchte, »Mäeutik« oder eben »Hebammenkunst« genannt wird. Dazu mehr in: Sloterdijk (1988).

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3. D ie S pur der Z weisamkeit Die zuletzt anklingenden entwicklungspsychologischen Annahmen über den Erwerb autobionarrativer Kompetenz ergeben vor dem Hintergrund der zuvor diskutierten Vermutungen über das Ausmaß frühkindlicher Verlusterfahrun­ gen ein seltsam widersprüchliches Bild: Selbst dann, wenn wir im ethisch-exis­ tenziellen Selbstgespräch Monologe zu führen glauben, ist immer schon der sogenannte Andere anwesend. Wir sind nie wirklich allein, denn in den ersten Interaktionen unseres Lebens hat sich in unserem Inneren ein imaginärer Ge­ sprächspartner eingenistet, der uns in die Lage versetzt, auch in Abwesenheit eines faktischen Gegenübers Selbstverständigung zu betreiben. Insofern ist im autobionarrativen Prozess immer schon Zweisamkeit. Auf der anderen Seite entspricht diesem imaginären Dialog aufgrund der frühkindlichen Verlustund Trennungserfahrungen längst keine »wirkliche« Zweisamkeit mehr. Die Zwei-in-Einheit der frühen monadischen Intimbeziehung ist in dem Moment, in dem wir zur Sprache kommen, bereits zerbrochen. Insofern geht der An­ dere, selbst wenn er sich in unseren Köpfen breit machen wird, im Zuge der Subjektwerdung auf ganz konkrete Weise auch verloren. Die ursprüngliche Nähe löst sich auf in Subjekt 1 und Subjekt 2 und geht damit letztlich doch in Einsamkeit über. Die im Folgenden zu erhellende These wird lauten: Der heute viel be­ schworene Begriff der »Intersubjektivität« soll eben diesem Umstand Rech­ nung tragen. Er kann uns dabei helfen, die entsprechenden Widersprüche des autobionarrativen Selbstverhältnisses verständlich zu machen. Die Frage der Intersubjektivität betrifft die »Wiederaufnahme« von Beziehungen, die mit den Trennungserfahrungen frühester Lebensphasen abgebrochen sind. Was in bilateralen – und später dann auch multilateralen – Interaktionen seine Fort­ setzung findet, ist eine Form der Sozialbeziehung, die ursprünglich keiner klärenden Worte bedurfte. Intersubjektivität bringt zusammen, was schicksal­ haft und unwiderruflich in zwei Teile zerfallen ist und auf seltsame Weise in frühere Zustände zurückstrebt. Auf dem lebensgeschichtlichen Weg von Subjekt 1 zu Subjekt 2 (und später dann auch zu Subjekt 3, 4, 5 etc.) öffnet sich ein »Zwischen«, das eine frühere, engere Verbindung ersetzt. Aber wie genau vollzieht sich die Transformation jener ursprünglichen Zwei-in-Einheit in die ihr nachfolgende, kompensatorische Intersubjektivität? Wie weit genau lässt sich die Spur dieser Ersatz-Zweisamkeit lebensgeschicht­ lich zurückverfolgen? Die bisherigen Überlegungen zum symbiotischen, mo­ nadischen Urzustand liefen auf die Annahme hinaus, dass von einer entwi­ ckelten Subjekt-Subjekt-Beziehung überhaupt erst ab dem Moment die Rede sein kann, in dem sich der oder besser die sogenannte Andere deutlicher als zuvor als Andere bemerkbar macht. Das angehende Subjekt muss sich in ei­ nem konkreten anderen Subjekt reflektieren können, damit von mehr als

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einem bloß vagen Hier und Dort die Rede sein kann. Wann aber ist dieser Zeitpunkt gekommen? Interaktionistische Theorien einer »Individuierung durch Vergesellschaftung«68 folgen der Überzeugung, dass Subjektivität und Intersubjektivität als das »gleichursprüngliche« Resultat eines zweifellos erst nachgeburtlich einsetzenden Interaktionsgeschehens zu deuten sind. Dieses könne frühestens dann anheben, wenn sich mit der zunehmenden Abwesen­ heit der schützenden Mutter das zuvor innige, nahezu ungeschiedene Fürsor­ geverhältnis aufzulösen beginnt.69 Erst jetzt begegnen sich, für beide deutlich sichtbar, zwei Subjekte im engeren Sinne, ein vorhandenes und ein erst noch werdendes, und kommunikatives Handeln soll als entscheidender Vermittler den dabei entstehenden Zwischenraum überbrücken. Nun ist aber weiter oben die Überzeugung entwickelt worden, dass Klein­ kinder ihre ersten, ja, vielleicht sogar ihre prägnantesten Verlusterfahrungen bereits vor jeder Eingewöhnung in die Sprache durchleben. Daher muss die weit verbreitete interaktionistische Ansicht, Individuierung setzte erst mit dem Erlernen der Sprache ein, auf Anhieb problematisch erscheinen. Viel­ mehr lag hier bereits der Verdacht nahe, dass in der Folge einer Kette eben auch vorsprachlicher Verluste ein wie immer rudimentäres kindliches Diffe­ renzierungsvermögen schon viel früher vorhanden ist. Somit ist fraglich, ob das intersubjektive oder doch zumindest interaktive Individuierungsgeschehen nicht entsprechend vordatiert werden muss. Das dem tatsächlich so ist, darin wird die Pointe, aber auch die Skurrilität der nun folgenden Überlegungen liegen. Wir haben davon auszugehen, dass die spätestens mit der Geburt und den ihr folgenden Abnabelungsprozessen zerfallende Einheit von Beginn an eine, wenn auch schwach gespürte, Zweiheit, ja, vermutlich sogar Dreiheit ist. Auch wenn sich die Beteiligten an diesem Dramas füreinander erst viel später als Subjekte im engeren Sinne konstituieren werden (und dabei einer der drei gänzlich verloren gehen wird), wird der Embryo bereits sehr früh nicht nur ein erstes Hier und Dort, sondern auch hier schon ein erstes »Mit« verspürt haben. Im Zuge der Explikation dieser spekulativen Annahme wird sich die Ver­ mutung eines »primären Narzissmus«, d.h. einer ursprünglich vollkommen ungeschiedenen Ganzheitserfahrung, die hier bislang ja lediglich für das postnatale Versorgungsverhältnis zurückgewiesen werden konnte, selbst noch auf pränataler Ebene als irrig erweisen. Wenden wir uns dazu aber zunächst noch einmal jener nachgeburtlichen Intimbeziehung zwischen Mutter und Neugeborenem zu, von der relativ unumstritten ist, dass es sich um ein kör­ 68 | Habermas (1988a). Zum Folgenden siehe aber auch die Beiträge in: Hans Rudolf Leu/Lothar Krappmann (Hg.) (1999): Zwischen Autonomie und Verbundenheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 69 | Habermas hat diese entwicklungspsychologische Datierung jüngst noch einmal ausdrücklich bekräftigt. Siehe ders. (2001), S. 65.

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perlich-emotionales Versorgungsverhältnis handelt, dessen Gelingen, aber auch Misslingen einen bleibenden Eindruck auf das Seelenleben des Kindes hinterlassen wird. Nach Ansicht der Objektbeziehungstheorie ist das Maß der Fürsorge, das dem Kind in den ersten Monaten nach seiner Geburt zuteil wird, für die Herausbildung eines elementaren Selbst- und Weltvertrauens sowie für alle spätere Reifeentwicklung und Beziehungsfähigkeit mitverantwortlich.70 Dies gilt einerseits für die Quantität und Qualität der aufgebrachten Fürsor­ geleistungen selbst; man denke an Ernährung, Wärme, Nähe, Zuspruch oder auch Stimulation. Andererseits werden sich immer auch jene nahezu unaus­ weichlichen Angst- und Frustrationserfahrungen ins Gedächtnis einschrei­ ben, die sich für das Neugeborene aus den alsbald einsetzenden Abgrenzungs­ bewegungen der Mutter ergeben, die sich nach der Geburt allmählich wieder anderen Dingen und Bezugspersonen zuwendet. Das Kind wird nun lernen müssen, diese frühen Versagungs- und Trennungserlebnisse so zu verarbei­ ten, dass hintereinander oder gar zugleich Empfindungen der Sehnsucht, Zu­ neigung und Liebe, aber auch der Abhängigkeit, Angst und Aggression auftre­ ten dürfen, ohne dass die Seele des Kindes dadurch zerrissen wird. Erst wenn sich beide, Kind und Mutter, zunehmend als abhängige und zugleich auch unabhängige, verfügbare und zugleich auch unverfügbare Wesen lieben und respektieren lernen, wird das Kind jenes Welt- und Selbstvertrauen ausbilden können, das es ihm ermöglicht, zukünftig auch bei Abwesenheit seiner engs­ ten Bezugspersonen ohne Panik existieren bzw. alleine sein zu können.71 Um zu illustrieren, wie sich ein Scheitern frühester interaktiver Intim­ beziehungen desintegrierend auf das spätere Erwachsenenleben auswirken kann, und zwar als eine existenzielle Schwächung des Selbst- und Weltver­ trauens, die später häufig allein durch faktische Andere kompensiert werden kann, seien hier zwei kurze Beispiele aufgeführt, ein eher banales und ein nahezu abstruses: Der Psychoanalytiker Karl König, der von einem Bedürfnis nach Anwesenheit »steuernder Objekte« spricht, berichtet von einem Studen­ ten, der sein Fahrrad reparieren will. Er hat es dazu komplett auseinander ge­ nommen. Als er es wieder zusammenbauen möchte, scheitert er zunächst und verzweifelt. Erst als zufällig ein guter Bekannter vorbeikommt und sich zu ihm gesellt, ohne ihm Hilfe oder Ratschläge anzubieten, gelingt dem jungen Mann

70 | Jessica Benjamin (1993): Die Fesseln der Liebe, Frankfurt a.M.: Fischer; Martin Dornes (1993): Der kompetente Säugling, Frankfurt a.M.: Fischer. 71 | Zu dieser vor allem von Winnicott entwickelten These siehe auch Nussbaum (2000). Dort heißt es: »Die Intimität des Alleinseins ist immer inhärent auf Beziehung bezogen: Immer ist jemand gegenwärtig« (S. 103).

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der Zusammenbau des Fahrrads ohne jede Mühe.72 Im zweiten Beispiel berich­ tet Béla Grunberger, ebenfalls Psychoanalytiker, aus dem Intimraum dessen, was er »monadische« Kommunion nennt: »Es handelt sich um einen jungen Mann, der wegen verschiedener Beziehungsschwierigkeiten, einiger somatischer Symptome und sexueller Störungen usw. in die Analyse kam. Nachdem er sich die Grundregel, die der Therapeut ihm mitteilte [gemeint ist das psychoanalytische Gebot »freien Assoziierens«, A. P.], angehört hatte, legte er sich auf die Couch und schwieg für den Rest der Stunde. Er kam zur folgenden Sitzung und verhielt sich einige Monate lang genauso. In einer bestimmten Sitzung äußerte er sich schließlich und sagte: »Das ist es noch nicht, aber es geht schon besser.« Danach versank er wieder in Schweigen, und nach einigen Monaten, in denen er abermals absolut stumm blieb, stand er am Ende auf, erklärte, daß er sich heute gut fühle, hielt sich für geheilt, bedankte sich bei seinem Therapeuten und ging fort.« 73

Gehen wir davon aus, dass sich diese Ereignisse tatsächlich in Grunbergers Praxis abgespielt haben. Selbstverständlich können wir nur ahnen, was sich in den Monaten dieser beinahe wortlosen »Therapie« wirklich ereignet hat und wie es beiden, dem Patienten und auch dem Therapeuten, möglich gewesen ist, eine derart intime Stille auszuhalten. Man kann den am Ende vom Patien­ ten selbst konstatierten Heilungserfolg als pure Einbildung abtun. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass der beziehungsgestörte junge Mann in der sprachund anspruchslosen Nähe seines Therapeuten zu einem Selbst- und Weltver­ trauen gefunden hat, das ihm bis dahin, d.h. zeitlebens, verwehrt gewesen war. Es ist, als habe die Therapie eine intime Urszenerie wiederholt und vor allem wiedergutgemacht, deren Misslingen in lebensgeschichtlichen Urzeiten drama­ tische Spuren hinterlassen hat. Die monatelange Klausur auf Sessel und Couch scheint erstmals im Leben des jungen Mannes eine Art Ruheraum geschaffen zu haben, in dessen Bipolarität, d.h. angesichts eines schweigenden »Mit«, er endlich zu einer heilsamen Selbstintegration zu kommen vermochte.74 Aber selbst wenn wir die von Grunberger berichtete Episode tatsächlich als eine biographische Rehabilitationsmaßnahme verstanden wissen wollen, ist bei genauerem Hinsehen doch fraglich, inwiefern sie als Beispiel für das herhalten kann, was hier im Anschluss an die Objektbeziehungstheorie als 72 | Karl König (1999): Kleine psychoanalytische Charakterkunde, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, S. 33. 73 | Béla Grunberger (1988): Narziß und Anubis, Bd. 2, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 195. 74 | Sloterdijk (1998), S. 353ff. Überlegungen dieser Art werden von Heilungserfolgen im Zuge von therapeutischen »Halte«-Situationen gestützt, in denen Patienten mit teilweise schweren autistischen Störungen in embryonaler Lage gebettet werden, bis sie allmählich ihre Ängste verlieren und zur Ruhe kommen.

Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehr theit

Kompensation für das Scheitern einer postnatalen Intimbeziehung in Aus­ sicht gestellt wurde. Zwar sind wir davon ausgegangen, dass die bald nach der Geburt einsetzende kompensatorische Fürsorge – Ernährung, Wärme, Nähe etc. – schon vor dem eigentlichen Spracherwerb anhebt und in diesem Sinne dann auch »ohne Worte« auskommen kann, doch ist unklar, woran uns ein derart einsilbiges und zudem auf beiderlei Seiten weitgehend inaktives Zu­ sammensein erinnern soll. Selbst wenn wir berücksichtigen, dass auch ohne gemeinsame Sprache, und zwar durch den Austausch von Berührungen, Küs­ sen, Blicken, Lächeln etc., emotional substanzielle Interaktionen möglich sind, so ist mit Blick auf die erste Zeit nach der Geburt dennoch fraglich, ob es im Repertoire solcher frühen Nähe-Formen Szenen gibt, die »auch nur von Ferne dieser duellhaften Verschmelzung zweier Schweigenden über Monate hin als Vorbild gedient haben« könnten.75 Müssen wir die hier umrissene Beziehungs­ problematik nicht noch einmal zuspitzen und nach Frühformen menschlichen Zusammenseins Ausschau halten, die der in Grunbergers Praxis restituierten Ruhesituation näher kommen? Fraglich ist also, ob das Kind nicht schon im Mutterbauch die Erfahrung einer ersten elementaren Form der Interaktion macht, in die sich das Baby wortlos und passiv einfügt. Weiter oben ist schon darauf hingewiesen worden, dass der Fetus im Mutterleib bereits recht früh zu sinnlicher Wahrnehmung fähig ist.76 Im Alter von acht Wochen reagiert der Embryo auf akustische Sti­ mulation mit elektrischer Hirntätigkeit, nach vierundzwanzig Wochen mit Veränderungen der Herzfrequenz oder gar Augenblinzeln. Der Klang der mütterlichen Stimme wird sofort nach der Geburt wiedererkannt, sodass nicht auszuschließen ist, dass er vom Baby bereits während der Schwangerschaft als etwas Vertrautes und zugleich Verschiedenes wahrgenommen wird, auch wenn das Kind hier selbstredend noch kein genaueres Bild von der Mutter ha­ ben kann. Aber vermutlich wird auch schon der über die Nabelschnur und die Plazenta vermittelte Austausch von Nahrung, Blut, Sauerstoff, Hormonen, Giften u.ä. einen ersten Eindruck von einer mal mehr, mal weniger befrie­ digenden Versorgung von »irgendwoher« aufkommen lassen, womit wir am vermutlich bizarrsten Punkt dieses Rekurses angelangt wären. Eben war bereits von einem unsichtbaren »Dritten« die Rede, einem Zeu­ gen, der sich zum Kind und der Mutter hinzugesellt. Man könnte annehmen, der Vater des Kindes sei gemeint, doch erstaunlicherweise kommt dieser in den hier diskutierten tiefenpsychologischen Ansätzen so gut wie gar nicht vor.77 Stattdessen wird vereinzelt von einer Art Zwilling des Embryos berichtet, der 75 | Sloterdijk (1998), S. 357. 76 | Tomatis (1987). 77 | Ob die anti-freudianische Hinwendung vom ödipalen zum preödipalen Drama die Rolle des Vaters nicht zu stark vernachlässigt, wäre zu diskutieren.

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während der gesamten Schwangerschaft in dessen Nähe ist. In unserem Kul­ turkreis wissen die Menschen nur sehr wenig über diesen intimen Alliierten. In anderen Kulturen wird er hingegen kultisch verehrt. Man feiert, beerdigt oder aber verspeist ihn. Hierzulande landet er gleich nach der Geburt im me­ dizinischen Abfall; es sei denn, er wird zu pharmazeutischen Zwecken verar­ beitet. Gemeint ist die Plazenta.78 Ihr Name stammt aus dem Lateinischen und bedeutet »Kuchen«. Weil die Plazenta eine Nahrungsquelle ist, die zwischen Mutter und Kind vermittelt, wird sie im Volksmund daher »Mutterkuchen« genannt. Am Ende der Schwangerschaft wiegt die Plazenta rund 500 g. Sie be­ steht aus dunkelrotem, schwammigem Gewebe, durch das sich zahlreiche gro­ ße und kleine Blutgefäße ziehen, die sich baumartig verzweigen. Das hat ihr den Beinamen »Lebensbaum« eingebracht. Neben der Versorgung des Fetus mit Nahrung, Blut und Sauerstoff sowie der Entsorgung unterschiedlichster Abbauprodukte übernimmt die Plazenta eine lebens­w ichtige Filterfunktion: Gift- und Schadstoffe, die sich im mütterlichen Blut befinden, werden, so gut es geht, vom Ungeborenen ferngehalten. Damit sichert die Plazenta dem Kind eine zumindest relative immunologische Individualität und Unabhängigkeit.79 Kurz vor der Geburt beginnt die Plazenta ihre Arbeit allmählich einzustel­ len. Sie hat ausgedient und wird im Zuge der buchstäblichen Abnabelung des Kindes als »Nachgeburt« ausgestoßen und entsorgt. Damit löst sich die biolo­ gische Zwei-in-Einheit von Mutter und Kind auf, deren vorgeburtliche Schnitt­ stelle durch Plazenta und Nabelschnur markiert war. Bis heute ist medizinisch umstritten, ob die Plazenta ein Organ der Mutter ist oder ob sie organisch zum Kind gehört, da sie sowohl mütterliche als auch fetale Gewebeanteile aufweist. Aufgrund der relativen Unabhängigkeit, die sie dem Kind, aber auch der Mut­ ter einräumt, erscheint es angemessen, die Plazenta tatsächlich als etwas Drit­ tes oder besser noch als »Zwischen« zu verhandeln. Sie ist der vorgeburtliche Vermittler zwischen Hier und Dort, aber auch das hormonelle, immunologi­ sche und toxikologische Einfallstor in der versorgenden Mitte von Mutter und Kind: das »stoffliche Medium zwischen zwei Individuen«, wie Sloterdijk sagt, »die eines Tages – wenn sie moderne Menschen sind – miteinander telefonie­ ren werden«.80

78 | Dazu Sloterdijk (1998), S. 380-391 (mit weiteren Hinweisen). 79 | So zeigen neueste Untersuchungen von Babys HIV-infizierter Mütter, dass die Übertragungsrate der Viruserkrankung hierzulande durch geeignete präventive Maßnahmen auf unter 2 % gesenkt werden konnte. Die meisten der betroffenen Babys infizieren sich erst beim eigentlichen Geburtsvorgang oder später beim Stillen. Dazu Bernd Buchholz u.a. (2002): »HIV-Therapie in der Schwangerschaft«, in: Deutsches Ärzteblatt, 24/2002. 80 | Sloterdijk (1998), S. 301.

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Medizinische Ultraschalluntersuchungen zeigen, dass Feten während der Schwangerschaft nicht nur passiv, sondern auch aktiv, etwa durch intensives Lecken, mit der Plazenta in Kontakt stehen.81 Sicherlich ist fraglich, ob man so weit gehen sollte, in der Plazenta den »ersten Lebenspartner« 82 des Babys ausmachen zu wollen. Ultraschallbilder dieser Art sprechen jedoch für die An­ nahme, dass der heranwachsende Embryo die Anwesenheit jenes ersten Medi­ ums zumindest spürt, und zwar als intime Nähe eines überwiegend schützen­ den, versorgenden »Mit« oder auch als Zwilling bzw. Doppelgänger. Auf eine flüchtige Vorahnung in Bezug auf diese Annahme stoßen wir, und das mag überraschen, bereits bei Freud. In einem Brief an Carl Gustav Jung aus dem Jahre 1911 äußert er die Vermutung, dass in der sogenannten Nachgeburt der Ursprung aller weitverbreiteten Mythologien und Geschichten über Zwillinge und Doppelgänger auszumachen sei.83 Zu denken ist hier etwa an Romulus und Remus, Don Quixote und Sancho Panza, Robinson Crusoe und seinen Diener Freitag und nicht zuletzt wohl auch an Dick und Doof. Menschen, die das vermeintliche Glück haben, einen echten Zwillings­ bruder oder eine echte Zwillingsschwester zu besitzen, werden Überlegungen dieser Art vermutlich für weniger abstrus halten als andere. Im Fall von Zwil­ lingsschwangerschaften haben medizinische Ultraschallbilder frühe Formen fetaler Interaktivität belegen können. Die Enge des gemeinsam bewohnten Uterus führt zwischen den Geschwistern zu teilweise kämpferischen, buch­ stäblich mit Fäusten ausgetragenen Auseinandersetzungen, aber auch zu über­ aus zärtlich und liebevoll anmutenden Annäherungen.84 Es kann daher kaum ausgeschlossen werden, dass sich auf ähnlich elementare Weise auch der ohne echten Zwilling heranwachsende Embryo mit seinem intimen Alliierten, der Plazenta, austauscht, was im Seelenleben des Kindes, Spuren eines primor­ dialen Miteinanders hinterlassen wird. In gewisser Weise zieht demnach jeder Mensch, nicht nur der echte Zwilling, das Los, von Anfang an im Nahfeld ei­ nes mal mehr, mal weniger schützenden Gegenübers aufzuwachsen, sodass wir werden sagen müssen:

81 | Alessandra Piontelli, zitiert nach Janus (1997b), S. 45f. 82 | Terence Dowling/Dirk Leinweber (2001): »Die Plazenta als erster Lebenspartner«, in: Deutsche Hebammen Zeitschrift, 12/2001. 83 | Sigmund Freud/Carl Gustav Jung (1974): Briefwechsel, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 274f. 84 | Chamberlain (1997), S. 32f. Die Hebamme meines Patenkindes deutete dessen typische nachgeburtliche Schlafposition – die Stirn, nach wildem Kampf, unter einem Stofftier begraben – als Reminiszenz an dessen vorgeburtliche Lage an der Seite der Plazenta.

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Integrität »Die hinreichend gute Mutter ist selbst nicht die unmittelbar Zweite, sondern die Dritte im Bunde der Zwillinge, von denen das Ich der manifeste und der Urbegleiter der latente Teil sind. Mutter-und-Kind bilden immer schon ein Trio, in dem der unsichtbare Partner des Kindes mitspielt.« 85

Doch wird dieser unsichtbare Dritte, jener Zeuge der pränatalen Situation, bis auf weiteres unsichtbar bleiben, weil, wie Sloterdijk treffend feststellt, die »gynäkologische Inquisition« der bürgerlich-individualistischen Welt den Glauben an das Alleingeborenwerden durchsetzt, indem sie den Zwilling des Embryos diskret beiseite schafft.86 Damit gerät bereits kurz nach der Geburt die für das Seelenleben maßgebliche Tatsache aus den Augen, dass menschliches Leben in einer Art Dreifaltigkeit beginnt: die Zwei-in-Einheit von Mutter und Kind ist durch ein liiertes Medium vermittelt. Wollte man die religiöse und zu­ gleich patriarchale Verschiebung dieser Tatsache, wie sie in der trinitarischen Formel »Vater, Sohn und heiliger Geist« zum Ausdruck kommt, rückgängig machen und auf deren psychophysische Wurzeln zurückführen, so käme man offenbar zu der revolutionär neuen Formel: »Mutter, Baby und Plazenta«. Auch wenn man diese – im Idealfall nahtlos ineinandergreifende – Interaktion nicht als eine entwickelte Subjekt-Objekt-Beziehung oder gar als Subjekt-Subjekt-Be­ ziehung missverstehen darf, so erweist sich damit doch die weitverbreitete An­ nahme eines omnipotenten oder primären Narzissmus auch schon auf präna­ taler Ebene als unangebracht. Bereits hier existieren Vorboten eines späteren Ich und jenes Anderen, auf das es durch ein Medium bezogen ist und bleiben wird. Zwar sollte entwickelte, d.h. vor allem sprachlich vermittelte Intersubjekti­ vität weiterhin, wie es in den heute gängigen Sozialisationstheorien geschieht, als Resultat und Kompensation eines Verlustgeschehens interpretiert werden, das erst nachgeburtlich zu einem vorläufigen Ende kommt. Doch sind ganz be­ stimmte primordiale Vorformen medialisierter Intersubjektivität dem im Zuge frühkindlicher Traumatisierungen zurückbleibenden Phantasma von Beginn an eingeschrieben: als Spur eines beschützenden und versorgenden, aber eben manchmal auch nachlässigen bis feindlichen Miteinanders. Erst der Schnitt der buchstäblichen Abnabelung ist es dann, der Indivi­ dualität im engeren Sinne konstituiert, worüber im Übrigen der metaphori­ sche Ausdruck »Nabelschau« Auskunft gibt. Der sich mit den ersten Atem­ zügen entfaltende, autonome Blutkreislauf des Neugeborenen komplettiert das biologische Sinnbild dieses ersten »Lebensabschnitts«. Wollte man Nietzsche imitieren: Das Individuum ist eine Narbe. Individualität bedeutet Abgetrennt-sein-vom-Anderen. Und das im Zuge dieser schmerzhaften Ver­ einzelung Gestalt annehmende Phantasma der Unversehrtheit ist demnach, 85 | Sloterdijk (1998), S. 450. 86 | Ebd., S. 388.

Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehr theit

retrospektiv gesehen, stets als Wunsch nach Unversehrtheit im Verbund mit dem Anderen zu verstehen. Das zurückbleibende Phantasma weist somit deut­ lich eine regressive Tendenz in Richtung soziale Wiedervereinigung auf. Hier ist kein »Omnipotenzwahn« am Werke, sondern, wie Castoriadis es prägnant ausdrückt, ein regelrechter »Vereinigungswahn«: »Was auf dem Feld des Unbewußten alle darin auftauchenden Vorstellungen auf seine Kraftlinien ausrichtet, ist eben dieser über alle Wünsche herrschende Wunsch nach vollkommender Vereinigung, Abschaffung aller Unterschiede und Entfernungen.« 87

Wie schon Freud zu Recht vermutet hat, hält unsere Kultur für die hier frei­ gelegten Früherinnerungen eine Vielzahl symbolischer Ersatzbildungen pa­ rat. Drei besonders berühmte Beispiele für das kulturgeschichtliche Echo auf jenes erste medialisierte Miteinander sollen hier kurz in Erinnerung gerufen werden. Blicken wir zunächst auf einen der erfolgreichsten Kino-Filme aller Zeiten: E.T. – Der Außerirdische (1982, Regie: Steven Spielberg).88 Zur Erinne­ rung: Der Vater des sechsjährigen Elliot hat nach Ehekonflikten die Familie verlassen. Die dadurch hervorgerufenen Verlusterfahrungen und -ängste des Jungen werden im Laufe des Filmes durch die Begegnung und Freundschaft mit einem seltsam embryonal anmutenden Außerirdischen, genannt »E.T.«, aufgefangen, der zum Begleiter und Alliierten des irdischen Halbwaisen wird.89 Das weitere Geschehen lässt sich ohne große Umschweife so deuten, dass der als angstvoll erlebte Verlust des Vaters das Trauma der Geburt re­ aktiviert und den regressiven, phantasmatischen Wunsch des Jungen nach Wiedervereinigung mit seinem Urbegleiter wachrüttelt, wobei dieser Wunsch dann in der Freundschaft zu E.T. seine kompensatorische Erfüllung findet. »Nach Hause telefonieren!« – in dieser sich im Film wieder und wieder arti­ kulierenden Sehnsucht des ja ebenfalls von seiner Heimat »abgeschnittenen« Außerirdischen kommt jene buchstäblich angeborene Melancholie zum Aus­ druck, die in der mobilfunkarmen Zeit der 1980er-Jahre noch eines realen – die Nabelschnur repräsentierenden – Telefonkabels bedurfte, um wenigstens momenthaft gestillt zu werden. Das Geburtstrauma und die Trennung vom Zwilling ereignet sich erneut, als der inzwischen von Polizei und medizini­ schen (!) Forschern verfolgte E.T. unter dramatischen Umständen von einem 87 | Castoriadis (1984), S. 494. 88 | Dazu auch Janus (1997b), S. 163. 89 | Auch das Erzählmuster Waisenkind lässt sich in zahlreichen Mythen, Märchen und Filmen aufspüren. Das hohe Identifikationspotenzial, das diese Erzählungen selbst für jene Menschen mit sich bringt, die keine echten Waisenkinder sind, scheint für die Valenz des hier angestellten Interpretationszusammenhangs zu sprechen. Diesen Hinweis verdanke ich Alexandra Deak.

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UFO heimgeholt wird. Elliot muss nun, gestärkt durch Erinnerung, Wieder­ holung und Durcharbeitung des ursprünglichen Zur-Welt-Kommens, lernen, selbständig und »erwachsen« zu werden, was für ihn vor allem bedeuten wird, dem unbewältigten Familienkonflikt ins Auge zu sehen. So verwundert es kaum, dass in den Schlussszenen ein potenzieller neuer Vater ins Bild rückt. Das zweite berühmte Beispiel betrifft das biblische Bild der Vertreibung aus dem Paradies.90 Zunächst ist das Augenmerk vor allem auf den Umstand zu richten, dass das Exil, das Gott dem Menschen auferlegt, von Beginn an zu zweit angetreten wird. Adam und Eva werden gemeinsam für die Anmaßung des göttlichen Privilegs, in den Besitz der Erkenntnis gelangen zu wollen, ab­ gestraft: Eva als erste, und zwar – kaum zufällig – mit den Leiden des Gebä­ rens (»Ich will dir viel Schmerzen schaffen, wenn du schwanger wirst«). An­ schließend Adam, dem die Mühen der Subsistenzwirtschaft auferlegt werden (»Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen«).91 Zudem endet bekanntlich ihre Aufenthaltsgenehmigung, sodass sie mit sofortiger Wirkung abgeschoben werden. Es sei daran erinnert, dass Eva ein Zwilling von Adam ist, da sie aus dessen Rippe geschnitzt wurde, damit sie stets »um ihn wäre«. Im Zuge dieses doppelten Schöpfungsaktes, der sogleich auch als Teilung zu verstehen ist, wurde der Leser bereits mit einer folgenreichen Prognose kon­ frontiert: »Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen, und sie werden sein ein Fleisch.«92 Wichtig an dieser göttlichen Prognose ist nicht nur, dass darin die spätere Vertreibung des paradiesischen Paares bereits vorausgesagt wurde (»Vater und Mutter verlassen«), sondern vor allem, dass hier eine zentrale Eigenheit menschlicher Intersubjektivität zur Andeutung kommt, von der nun ausdrücklich die Rede sein soll. Gemeint ist die kompensatorische Kraft der Liebe. Mit der alttestamentarischen »Teilung« des Menschen in Adam und Eva ist der Bogen zu unserem dritten Beispiel gespannt, und zwar zu einem berühm­ ten Trinkgelage, von dem uns Platon bericht. In dessen Symposion (dt. Das Gastmahl) haben sich gelehrte Gäste um den Philosophen Sokrates versam­ melt, um gemeinsam die Natur und das Wesen der Liebe zu ergründen.93 Einer der Gäste, Aristophanes, weiß von der urzeitlichen Existenz seltsamer, kreis­ runder Lebewesen zu berichten, die sich  – Rad schlagend  – auf vier Armen und vier Beinen fortbewegt haben sollen. Diese possierlichen Tierchen besa­ 90 | Für einen einschlägigen Kommentar siehe Claus Westermann (1974): Biblischer Kommentar Altes Testament: Genesis 1-11, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener. 91 | 1. Mose 3 (Luther-Übersetzung). 92 | 1. Mose 2. 93 | Dazu Stanley Rosen (1968): Plato’s Symposium, New Haven u. London: Yale UP; Kenneth J. Dover (1966): »Aristophanes’ Speech in Plato’s Symposium«, in: Journal of Hellenic Studies, 86/1966.

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ßen die Eigenart, sowohl Männchen als auch Weibchen zu sein. In geschlecht­ licher Hinsicht waren sie demnach doppelt ausgestattet. Ihre Lebensweise war heiter und ausgelassen. Es kam jedoch der Tag, da Zeus es für angebracht hielt, die seltsamen Zwitterwesen zu bestrafen. Ihm war zu Ohren gekommen, sie wollten sich – wie Adam und Eva – Zugang zum Himmel der Götter verschaf­ fen. Da entschied Zeus, die Doppelwesen in zwei Hälften zu zerschneiden und sie überdies mit dem aufrechten Gang zu versehen. Man wird kaum umhin­ kommen, die Beschreibung der medizinischen »Nachsorge« als Metapher für Menschwerdung im Allgemeinen, für Geburt und Abnabelung im Besonderen zu deuten: »Sobald er aber einen zerschnitten hatte befahl er dem Appolon ihm das Gesicht und den halben Hals herumzudrehen nach dem Schnitte hin, damit der Mensch seine Zerrissenheit vor Augen sittsamer würde, und das übrige befahl er ihm auch zu teilen. Dieser also drehte ihm das Gesicht herum, zog ihm die Haut von allen Seiten über das was wir jetzt den Bauch nennen herüber, und wie wenn man einen Beutel zusammenzieht faßte er es in eine Mündung zusammen, und band sie mitten auf dem Bauche ab, was wir jetzt den Nabel nennen. Die übrigen Runzeln glättete er meistenteils aus […] und nur wenige ließ er stehen um den Bauch und Nabel zum Denkzeichen des alten Unfalls«. 94

Schon bald nach dieser gewaltsamen Operation setzt, laut Aristophanes, das ein, was Castoriadis Vereinigungswahn nennen wird: Die getrennten Hälften irren hilflos und ängstlich umher, so lange bis sie ihre bessere Hälfte wie­ dergefunden haben, um sehnsüchtig in die Arme des Gegenübers zu sinken. So verharren sie reglos in engster Umarmung, bis sie am Ende verhungern und sterben, »weil sie nichts voneinander getrennt tun wollen«.95 Da hat Zeus Erbarmen mit den armen Hälften-Tierchen. Zudem sieht er ein, dass er auf die menschliche Opferbereitschaft zu verzichten hätte. Er ordnet erneut eine anatomische Reorganisation ihrer Körperteile an. Von nun an sind die Ge­ schlechtsteile so am Körper angebracht, dass beide Hälften sich sexuell verei­ nigen und für Nachkommen sorgen können. Daraus zieht Aristophanes den Schluss: »Von so langem her ist also die Liebe zu einander den Menschen angeboren, um die ursprüngliche Natur wiederherzustellen, und versucht aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen. Jeder von uns ist also ein Stück von einem Menschen, 94 | Platon (o.J./1986): Das Gastmahl, Werke, Bd. II.2, Berlin: Akademie, S. 287 (190f.). 95 | In dieser sexuell konnotierten Sehnsucht nach totaler Regression in Zweisamkeit ist der Ursprung des von der Psychoanalyse behaupteten »Todestriebes« zu vermuten. Man denke hier auch an die französische Metapher »le petit mort« für den Orgasmus.

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Integrität da wir ja zerschnitten, wie die Schollen, aus einem zwei geworden sind. Also sucht nun immer jedes sein anderes Stück.« 96

In der hier von Platon dokumentierten Deutung einer anthropologisch tief sit­ zenden Melancholie, die im Verlust früherer Verbundenheit verwurzelt ist und uns Menschen unaufhörlich nach Liebe streben lässt, scheinen Erinnerungen an pränatale Allianzen anzuklingen, von denen, bei oberflächlicher Betrach­ tung, allenfalls noch jene am Körper verbliebenen »Denkzeichen des alten Unfalls« Zeugnis ablegen. Fassen wir alle drei Beispiele zusammen, so kann in der kulturgeschichtlichen Rückschau ein interpretatorischer Rahmen abge­ steckt werden, der das Wesen der menschlichen Liebe auf früheste Erinnerun­ gen an ein intrauterines Miteinander zurückführt: Ausgehend von der in E.T. zum Ausdruck kommenden Früherinnerung an einen plazentalen Urbegleiter kann der Mythos der gemeinsamen Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies bis hin zu den Zwei-Hälften-Tierchen in Platons Symposion zurück­ verfolgt werden. Mythische Vermutungen dieser Art über den motivationalen Ursprung der Liebe blieben jedoch blumig und metaphorisch, wenn sie sich nicht, wie alle anderen der oben angestellten Spekulationen auch, anhand von medizinisch-psychologischem Forschungsmaterial belegen ließen. Verfolgen wir daher ein letztes Mal den Weg zurück vom Postnatalen über das Perinatale bis ins Pränatale. Für die Objektbeziehungstheorie steht mit Blick auf das nachgeburtliche Versorgungsverhältnis außer Zweifel, dass alle späteren Liebesbeziehungen »von der unbewußten Rückerinnerung an jenes ursprüngliche Verschmel­ zungserlebnis angetrieben werden, das die ersten Lebensmonate von Mutter und Kind geprägt hatte«.97 Wenn der dort ausgetragene Kampf um Anerkennung, d.h. das spannungsreiche Wechselspiel von Abhängigkeit und Selb­ ständigkeit, derart befriedet worden ist, dass es dem Kind mit Hilfe der Mut­ ter möglich wurde, ein Miteinander einzugehen und auszuhalten, in dem Einssein und Getrenntsein zur Versöhnung kommen, so hat das Kind jene seelischen Voraussetzungen erworben, die auch für das erwachsene Liebes­ leben maßgeblich sein werden. Inwieweit der erwachsene Mensch in seinen romantischen und erotischen Abenteuern jene anspruchsvolle Form wech­ selseitiger Anerkennung erleben wird, in der beide Partner sich ineinander verlieren, ohne sich selbst zu verlieren – was Hegel seinerzeit mit dem großen Wort »Seinselbstsein in einem Fremden«98 belegt hat –, wird maßgeblich da­ von abhängen, ob der Mensch in frühester Kindheit entsprechende Erfahrun­ 96 | Platon (o.J./1986), S. 287f. (191). 97 | Honneth (1992), S. 169. 98 | Georg Wilhelm Friedrich Hegel: System der Sittlichkeit, in: Gerhard Göhler (Hg.) (1974): Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Frühe Politische Systeme, Berlin: Ullstein, S. 25.

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gen einer wechselseitigen Liebe gemacht hat, in der die Gegensätze zwischen mächtig und hilflos, aktiv und passiv überwunden waren. Ist dies der Fall, so kann den Menschen sein gesamtes späteres Leben hindurch ein entsprechen­ der restaurativer Verschmelzungswunsch umtreiben. Allerdings muss die Objektbeziehungstheorie zugleich davon ausgehen, dass von wechselseitiger Liebe erst dann gesprochen werden kann, wenn sich die postnatale Auflösung der Mutter-Kind-Symbiose so weit erkennbar vollzogen hat, dass sich nunmehr zwei voneinander getrennte Subjekte gegenüberstehen, die sich als abhängig und unabhängig, verfügbar und unverfügbar zugleich erfahren. Nun hat aber die Tiefenpsychologie des Perinatalen darauf hingewiesen, dass der vermut­ lich gravierendste und schmerzhafteste Trennungsschritt bereits durch den Geburtsakt vollzogen wird. Entsprechend wäre dann auch der motivationale Ursprung der Liebe zurückzudatieren: »Im Erleiden der Entbindung fällt das zur Welt gebrachte Kind für sich nirgendwo anders hin als in die Schwere der Freiheit und in die Arme einer Gegenschwerkraft, die umgangssprachlich Liebe heißt.« 99

Der sich in der Liebessehnsucht ausdrückende Verschmelzungswunsch setzt demzufolge bereits in dem Moment ein, in dem es, medizinisch gesehen, zur Abnabelung des Kindes von der Mutter kommt. Der libidinöse Trieb des erwachsenen Menschen ist nichts anderes als jene mit der Urtrennung und dem damit verbundenen Trauma ausbrechende Sehnsucht nach Rückkehr in einen ehemals als beschützend empfundenen primordialen Lustzustand. Das zurückbleibende Phantasma prädramatischer Innigkeit treibt den späteren Menschen dazu, diesen Urzustand durch innigste Kontakte und durch »Ein­ verleibung« geliebter Subjekte wiedererlangen zu wollen. Dazu Rank lapidar: »Die einzige reale Möglichkeit für die annähernde Wiederherstellung der Urlust bietet die geschlechtliche Vereinigung, das partielle rein körperliche Zurückgehen in den Mutterleib«.100

Auch wenn selbst noch die in innigsten Liebesbeziehungen erlangte Befriedi­ gung stets Ersatzbefriedigung bleiben wird, so ist doch allein im Rückgriff auf Überlegungen, die pränatal ansetzen, deutlich zu machen, warum der spätere Liebeswahn ein Wahn »zu zweit« ist. Ginge man, wie die Objektbeziehungs­ theorie, von der Vorbildfunktion einer narzisstischen, strikt ungeschiedenen 99 | Sloterdijk (1998), S. 111. 100 | Rank (1924), S. 180. Diese zweifellos phallozentrisch anmutende Ansicht meint Rank durch den Hinweis abmildern zu können, dass Frauen gegenüber Männern die innige Erfahrung des Gebärens voraus haben.

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Erfahrungswelt des Neugeborenen aus, so wäre alle spätere Liebe im Grunde auf früheste Selbstliebe zurückzuführen. Der Sprung aus dem omnipotenten Einheitswahn eines alles verschlingenden »Ich« in die wechselseitige Liebes­ beziehung eines beschützenden »Wir« wäre gar nicht erklärbar. Wenn aber das Phantasma ursprünglicher Unversehrtheit von vornherein die Spur der Intersubjektivität aufweist, dann sollte im mediatisierten Austauschverhältnis der Triade Mutter-Baby-Plazenta das phantasmatische Vorbild aller späteren libidinösen Verknüpfungen vermutet werden. Die zunächst kindliche, dann erwachsene Liebeswahl folgt, tiefenpsychologisch gesehen, einer Übertragung von Früherinnerungen, die zeitlich vor allen entwickelten Mutter-Kind-Bezie­ hungen anzusetzen sind. Zwar wird das Seelenleben des Klein­kindes zwei­ fellos auch durch die postnatale Verbundenheit mit der fürsorglichen Mutter geprägt und so für manches perinatales Leiden entschädigt, dennoch ist zu vermuten, dass die in der späteren Liebe zum Zuge kommende Projektion von schönsten Hoffnungen und schlimmsten Befürchtungen auch, wenn nicht wesentlich, eine Projektion intrauterinen Erlebens ist: »Die erotische Angst deutet auf ein Anderswo, von dem das Subjekt ursprünglich herkommt und das ihn nach dem Wiedersehen mit dem Schönen in eine schmerzliche Heimwehspannung versetzt. Wo diese Sehnsucht sich Rechenschaft gibt über ihre Natur, dort erweist sie sich als Spur der Erinnerung an vorgeburtliche Visionen«.101

In diesem – etwas schummrigen – Lichte verwandelt sich die großartige Idee Hegels von der Liebe als einem Seinselbstsein in einem Fremden oder auch Beisich-selbst-Sein im Anderen in eine Erinnerung an eben jene Frühphasen des Lebens, in der bereits vor aller Begegnung mit »echten« anderen Subjekten ein erstes schützendes und ergänzendes Gegenüber gespürt worden ist, in dessen Gegenwart, wenn es denn gut lief, der berühmte Kampf um Anerkennung gar nicht wirklich aufkommen konnte. Das Phantasma ursprünglicher Intakt­ heit, das in diesem Abschnitt bereits auf pränataler Ebene als ein ursprüngli­ ches Miteinander enttarnt werden konnte, wird im späteren Leben in intimen Liebesbeziehungen erinnert, wiederholt, restituiert und aufgehoben. Die Lie­ be vermittelt zwischen der latenten Erinnerung an eine intrauterine Unver­ sehrtheit und der harten Realität extrauteriner Geworfenheit. Die regressive Sehnsucht nach einer bereits vorgeburtlich vermittelten Zwei-in-Einheit gibt das Vorbild für alle späteren sehnsuchtsvollen Liebesakte des Sich-im-Ande­ ren-Verlierens und zugleich Sich-und-den-Anderen-Findens ab, in deren Zuge nunmehr auch sprachlich fassbar wird, was im lebensgeschichtlichen Nebel versunken schien: das Wir.

101 | Sloterdijk (1998), S. 144.

Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehr theit

4. Trennungsgerüchte und soziale I nstitutionen Wie das Beispiel der Liebe zeigt, wird der Mensch im späteren Leben durch eine restaurative Sehnsucht nach vollkommener Wiedervereinigung fortwährend in soziale Ersatzbildungen getrieben.102 Aber, so mag man sich nun fragen, soll damit behauptet werden, dass dies am Ende nicht nur für die Liebe, sondern für sämtliche soziale Beziehungsformen gilt? Was z.B. ist mit Freundschaften, der sogenannten Peergroup, dem Sportverein oder gar dem Staat? Sind dies denn alles bloß Kompensationen frühkindlicher Verlusterfahrungen? Spätes­ tens an dieser Stelle der Argumentation gelangen wir zu einer Einsicht, die alle bisherigen Überlegungen massiv in Frage stellen wird, und es soll bereits vorab das Eingeständnis erfolgen, dass die Auflösung der dadurch hervorgeru­ fenen Widersprüche hier auch nicht mehr vollständig gelingen wird.103 Doch nähern wir uns diesem heiklen Punkt behutsam, indem wir uns zunächst der empirisch kaum zu bestreitenden Tatsache zuwenden, dass, so wichtig erfüll­ te Liebesbeziehungen auch sein mögen, diese doch, nach gängiger Meinung, nicht schon ausreichen, um ein im Ganzen gutes, gelingendes oder glückli­ ches Leben zu führen. Ja, nahezu ebenso unstrittig dürfte sein, dass mit dem regressiv anmutenden Wunsch nach Restaurierung eines intrauterinen Mitei­ nanders stets auch ein diametral entgegengesetztes Streben konkurriert, das uns zweifellos nicht weniger wichtig erscheint. Im Zusammenhang des in­ tersubjektiv vermittelten Vorgangs der Individuierung durch Vergesellschaft, aber auch im Rahmen der bisherigen Andeutungen zum Kampf um Anerken­ nung ist dieses Streben hier zwar schon verschiedentlich angeklungen, ohne aber eigens expliziert zu werden. Gemeint ist das Verlangen nach Autonomie und Selbstbestimmung oder besser noch nach völliger Autarkie und Unabhängigkeit.104 Wie aber passt diese Bestrebung zur Sehnsucht nach Verschmelzung und Vereinigung? Die regressive Sehnsucht nach Ganzheit und Unversehrtheit ist bislang als motivational derart wirkmächtig eingestuft worden, dass anzunehmen wäre, Menschen müssten in ihrem Leben stets alles auf die Karte kompensatorischer Intimbeziehungen setzen, wie etwa Platons in innigster Umarmung verhar­ rende Zwei-Hälften-Tierchen. Doch wir brauchen uns eine solche symbiotische Verschmelzung zweier Liebespartner, d.h. eine intime Klausur, die nicht etwa nur ein paar Stunden oder Tage, sondern Wochen oder gar Monate dauerte, 102 | Vgl. in diesem Zusammenhang Roland Barthes (1984): Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, bes. S. 27ff. 103 | Für das Folgende waren Einwände von Horst Hanke wegweisend. 104 | Andeutungen zum Unterschied von Autonomie und Autarkie folgen am Ende dieses Kapitels. Mit der Annahme eines gleichgewichtigen zweiten Strebens weiche ich ersichtlich von Rank, Sloterdijk u.a. ab, die die Tendenz zur Rückkehr absolut setzen.

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nur einmal vorzustellen. Das ist schwer vorstellbar, weil selbst die verliebtes­ ten Menschen früher oder später von eine gewissen Unruhe, einem Bedürfnis nach Ablösung, ja, »Abnabelung« und nach Wiederaufnahme andersgearteter Aktivitäten gepackt werden. Woher aber stammt diese Unruhe? Man mag nach den bisherigen Überlegungen zu der Annahme gelangen, dass das sich hier in ersten Ansätzen zeigende Drängen auf Autarkie als enttäuschte, trotzige oder auch neurotische Reaktion auf die sich früh einstellende Einsicht gedeu­ tet werden muss, dass nichts im Leben die intrauterine Allianz wird ersetzen können. Und wenn das ursprüngliche Miteinander nicht restituiert werden kann, dann, so könnte man die entsprechende »antisoziale Tendenz« zusam­ menfassen, will man in Zukunft besser von überhaupt niemandem mehr ab­ hängig sein.105 Nach dieser Interpretation wäre selbst noch das menschliche Streben nach Unabhängigkeit am Ende von frühkindlichen Verlusterfahrungen abkünftig. Auch wenn diese Deutung im Bereich des Möglichen liegt, braucht man doch so weit nicht zu gehen.106 Wenden wir uns zunächst einer in empirischer Hin­ sicht weniger spekulativen Erklärung zu und kommen wir auf jene Klausur zu­ rück, die ungefähr neun Monate dauerte. Die oben angestellten Überlegungen zur pränatalen Mutter-Kind-Beziehung haben bislang, das sei zugegeben, weit­ gehend unberücksichtigt gelassen, dass sich spätestens in den letzten Wochen der Schwangerschaft ein dem Wunsch nach Verbleib im Mutterleib spürbar entgegenwirkendes Streben des Babys bemerkbar machen wird: das Bedürfnis, geboren zu werden. Zumindest die letzten beiden Monate der Schwangerschaft dürften vom Kind nicht immer nur als behaglich empfunden werden, da es im Uterus zunehmend eng wird. Der Mutter wird dies mal auf schmerzhafte, mal auf beglückende Weise dadurch bewusst, dass das Kind sein anschwellendes expansives Begehren durch heftiges Strampeln ankündigt. Mediziner gehen heute sogar davon aus, dass das sich hier allmählich bemerkbar machende Unabhängigkeitsbedürfnis des Babys, je nach dem, wie die Mutter auf diese intrauterine Unruhe reagiert – ob verstört oder gar beängstigt, ob durch Steige­ rung der freudigen Erwartung –, gehemmt oder aber verstärkt wird.107 Nun bleibt an dieser Stelle freilich nicht mehr die Gelegenheit, auch noch das menschliche Streben nach Unabhängigkeit plausibel auf pränatale Frü­ herinnerungen zurückzuführen. Das ist auch deshalb nicht nötig, weil es in diesem Rekurs lediglich um den motivationalen Ursprung der Sehnsucht nach Intaktheit gehen sollte. Dennoch sind wir an einem Punkt angelangt, an dem ein solches gegenteiliges Streben, d.h. eine Sehnsucht nach Autarkie und Un­ 105 | Vgl. Axel Honneth (2002b): »Grounding Recognition«, in: Inquiry, 4/2002. 106 | Für erste psychoanalytische Anhaltspunkte siehe Barbara Friedrich (1997): »Riß in der Beziehung«, in: Janus/Haibach (1997). 107 | Hertl (1994).

Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehr theit

gebundenheit, behauptet werden muss, damit deutlich werden kann, warum es den Menschen, trotz seiner Sehnsucht nach Wiedervereinigung, in sym­ biotischen Beziehungen nicht immer nur hält. Wichtig ist hierbei jedoch die Annahme, dass die Sehnsucht nach intakter Zwei-in-Einheit durch das kon­ kurrierende Bedürfnis nach Unabhängigkeit nicht etwa verdrängt oder gar er­ setzt wird. Vielmehr treten beide Bestrebungen fortan gleichzeitig auf – wie in der späteren Liebe auch –, sodass das Baby zunehmend eine echte Ambivalenz empfindet: Es möchte heraus, es will aber auch verbleiben.108 Damit sind wir bei der heute vielerorts konstatierten »Dialektik« von Selbständigkeit und Abhängigkeit angelangt, die in entwicklungspsychologi­ schen109, sozialisationstheoretischen110 und auch sozialphilosophischen111 De­ batten wieder und wieder behauptet wird, ohne einmal konsequent auf ihre biographischen Ursprünge zurückgeführt zu werden. Bevor wir jedoch die Konsequenzen dieser Dialektik für die Frage nach der Herausbildung sozialer Institutionen unter die Lupe nehmen können, sei zunächst noch einmal an das Schicksal von Platons Zwitterwesen erinnert. Deren Geschichte vermag uns nicht nur über das Wesen der Liebe Auskunft zu geben, sondern zudem auch über eine überaus zentrale Konstitutionsbedingung des Gesellschaftlichen schlechthin. Noch einmal: Zeus sieht ein, dass mit den beiden in regloser Um­ armung verhungernden Hälften nichts Rechtes anzufangen ist, sodass er sie anatomisch reorganisiert, um die Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens, aber auch die Opferbereitschaft der Menschen wiederherzustellen. Ähnliches galt für die alttestamentarische Kunde von der Bestrafung Adams und Evas mit den Mühen der Subsistenzwirtschaft einerseits, des Gebärens anderseits. Was in beiden Allegorien zunächst sinnbildlich vor Augen tritt, ist folgender Umstand: Die Gesellschaft muss das Individuum regelrecht dazu nötigen, sei­ ne regressiven Zustände aufzugeben, denn sonst wäre gesellschaftliches Le­ ben überhaupt nicht möglich: »Aber es wird immer notwendig sein, das Neugeborene auch ohne sein Einverständnis, das es gar nicht geben kann, aus seiner Welt zu reißen und es – bei Strafe der Psychose – zum Verzicht auf seine imaginäre Allmacht sowie zur Anerkennung der Tatsache zu zwingen, daß das Begehren des anderen nicht minder berechtigt ist als das eigene. […] Man hat das Recht, seiner Phantasie freien Lauf zu lassen, wenn es darum geht, sich Veränderungen der gesellschaftlichen Institutionen vorzustellen; nichts berechtigt 108 | In diesem Zusammenhang siehe auch Rupert Linder (1997): »Psychosomatische Aspekte der Frühgeburt«; in: Janus/Haibach (1997). 109 | Vgl. Benjamin (1993), Kap. 1. 110 | Dazu die Beiträge in: Leu/Krappmann (1999). 111 | Man denke hier z.B. an die sogenannte Kommunitarismus-Debatte oder auch an Diskussionen um die Philosophie der Anerkennung.

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Integrität jedoch zu der fiktiven und in sich widersprüchlichen Annahme, die Psyche könnte jemals ganz ohne Eintrittsgebühr in die Gesellschaft aufgenommen werden. Das Individuum ist keine Frucht der Natur, auch keine tropische; es ist gesellschaftliche Schöpfung und Institution.«112

Hier klingt die Klage über die primordiale »Ungerechtigkeit« eines ursprüng­ lichen Initiationsrituals an, das mit dem unausweichlichen Nachteil identisch ist, geboren zu werden. Solange wir jedoch auf gesellschaftliches Leben als sol­ ches nicht verzichten wollen, was ja ohnehin undenkbar ist, wird der Mensch an jenem Eingang des Lebens, der zugleich ein Ausgang ist, eine Art Maut zu entrichten haben, die ihn für immer in Unkosten stürzt. Im Gegenzug wird die Gesellschaft ihn dafür entschädigen müssen. Ansonsten mag er sich wei­ gern  – »bei Strafe der Psychose«  – in ihr mitzuwirken. Das Netz von mehr oder minder intakten Anerkennungsbeziehungen, in das der Mensch fortan hineinwächst, muss stets auch eine beschwichtigende Antwort auf die Grund­ frage einer Art Anthropodizee parat haben, die von der deutschen Rockgruppe Ton, Steine, Scherben einst in folgende Worte gefasst worden ist: »Mama, Mama, warum hast Du mich geborn’ oder hat mich der Esel im Galopp verlorn’?«113

Blenden wir nun diese drei Aspekte ineinander  – die Sehnsucht nach einer ursprünglichen Unversehrtheit in Zweisamkeit zum einen, das mit dieser Sehnsucht konkurrierende und hier ebenfalls als triebhaft angenommene Streben nach Unabhängigkeit zum zweiten sowie die sich gesellschaftlich als notwendig erweisende, schmerzhafte Initiation der Individuen zum dritten –, so gelangen wir zu dem folgenreichen Verdacht, dass gesellschaftliche Insti­ tutionen einen mindestens dreifachen Zweck zu erfüllen haben: Sie überneh­ men erstens eine kompensatorische Auffangfunktion, indem sie die Wieder­ herstellung einer ursprünglichen »Sphärensicherheit« in Aussicht stellen.114 Sie müssen zweitens so beschaffen sein, dass sie neben den kompensierten Sicherheitsbedürfnissen zugleich auch den erwachten Unabhängigkeitsbe­ strebungen der für immer getrennten Subjekte Rechnung tragen, indem sie individuelle Spielräume schaffen für ein selbstbestimmtes, kreatives Eingrei­

112 | Castoriadis (1984), S. 514f. 113 | Der Song heißt wohl nicht zufällig »Jenseits von Eden«. 114 | Dazu Sloterdijk (1989): »Die großtechnische Zivilisation, der Wohlfahrtsstaat, der Weltmarkt, die Mediasphäre: All diese Großprojekte zielen in schalenloser Zeit auf Nachahmung der unmöglich gewordenen imaginären Sphärensicherheit. Nun sollen Netze und Versicherungspolicen an die Stelle der himmlischen Schalen treten« (S. 25).

Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehr theit

fen in die Welt.115 Drittens schließlich haben sie so eingerichtet zu sein, dass sie den offenkundigen Widerstreit der beiden gegensätzlichen Tendenzen – re­ gressive Neigungen zum gemeinsamen Rückzug einerseits, »überschüssige« Kräfte kreativer Neugestaltung anderseits – derart in geordnete soziale Bahnen lenken können, dass der Fortbestand des gesellschaftlichen Lebens insgesamt sichergestellt ist.116 Folglich wohnt so unterschiedlichen sozialen Institutionen wie Freund­ schaften und Fußballvereinen, Moralordnungen und Märkten, Solidargemein­ schaften und Staaten nicht nur ein komplexer Kompromiss, sondern immer auch eine geradezu überschwängliche Utopie inne. Sie sollen (a) als weltliche Kompensationsform dienen, mit der die seinerzeit verloren gegangene Sorglo­ sigkeit ansatzweise und trotz aller verbleibenden Melancholie wiederherge­ stellt wird. Sie funktionieren (b) als Bewegungsform, die dem vergesellschaf­ teten Subjekt Freiräume verschaffen soll, mit seinen Verlusten, aber auch den überschüssigen Triebpotenzialen eigenständig, sinnstiftend und kreativ um­ zugehen. Schließlich dienen soziale Institutionen (c) als übergeordnete Kanalisationsform, durch die gesellschaftliches Leben überhaupt erst möglich wird, indem die beiden widersprüchlichen Tendenzen im klassischen Sinne »aufge­ hoben« werden. Man rufe sich in diesem Zusammenhang die Schlussworte aus Ernst Blochs Prinzip Hoffnung in Erinnerung: »Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.«117

Bloch scheint gar nicht recht zu ahnen, wie sehr der Mensch tatsächlich noch in seiner »Vorgeschichte« lebt, d.h. in seiner nicht bloß archaisch-mythischen, sondern eben auch lebensgeschichtlichen Erinnerung. Man hätte Blochs uto­ pische Philosophie des Noch-Nicht zu radikalisieren, d.h. an ihrer Wurzel zu fassen, und in ein Nicht-Mehr zurückzuübersetzen, denn dann würde deutlich werden, worauf das Prinzip Hoffnung zielt und inwiefern das gesellschaft­ lich-utopische Denken von einem Gedächtnis zehrt, das zwar verschüttet ist, 115 | Castoriadis (1984), S. 519ff. 116 | Ebd., S. 528f. 117 | Ernst Bloch (1959/1985): Das Prinzip Hoffnung, 3 Bände, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 1628.

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aber dennoch entsprechende Tagträume ermöglicht. Der Ort, an dem angeb­ lich »noch niemand war«, wäre so als jene buchstäblich in die Kindheit schei­ nende »Heimat« zu identifizieren, die, scheinbar für immer verloren, in der gesellschaftspolitischen Utopie, dem Phantasma einer durch Menschenhand geschaffenen, aus nicht-entfremdenden Institutionen bestehenden Demokra­ tie bis auf weiteres der Restaurierung harrt. Auf ganz ähnliche Weise ließe sich dann auch die untergründige Meta­ physik des politischen Denkens Hegels in Metapsychologie transformieren, wodurch sich die von ihm angestoßene Philosophie der Anerkennung motiva­ tionstheoretisch unterfüttern ließe.118 Im frühkindlichen Urzustand, so würde Castoriadis sagen, ist die Monade selbst noch in persona oder besser in personis der Prototyp all jener Verknüpfungen, die der Mensch zukünftig in un­ terschiedlichste Richtungen einzugehen bestrebt sein wird.119 Die spätestens postnatal einsetzende Sehnsucht nach intersubjektiv verfasster Intaktheit wird im Verbund mit dem etwa zur selben Zeit erwachenden Autarkiestreben in einem nicht selten verzweifelten Wunsch nach unverzerrten Anerkennungs­ verhältnissen ihr Echo finden und in entsprechenden zwischenmenschlichen Beziehungstypen, etwa in der Liebe, in der Rechtsgemeinschaft oder auch in Solidarbeziehungen, Befriedigung suchen.120 Folglich ist die dreifache Funk­ tion von Beziehungen wechselseitiger Anerkennung  – Kompensationsform, Bewegungsform, Kanalisationsform  – als konstitutiv sowohl für die Entste­ hung als auch für die Aufrechterhaltung eines zugleich intakten und selbstän­ digen Lebenszusammenhangs einzustufen. Somit entspringt der Kampf um Anerkennung einerseits jener strukturbedingten und auf Wiedervereinigung hoffenden Melancholie des Menschen, andererseits dessen vermutlich ebenso starker Sehnsucht nach Autarkie, und er steht im Bann eines phantasmati­ schen Wunschbildes sozialer Beziehungen, in denen diese beiden Bestrebun­ gen annähernd zur »Versöhnung« kämen. Nicht zuletzt deren Widerstreit setzt eine soziale Dynamik in Gang, die zur Herausbildung immer neuer, immer passenderer Institutionen führt. Da zudem viele Formen von Anerken­ nungsbeziehungen einen zunächst fragilen Charakter aufweisen – z.B. Part­ nerschaften, moralische Gemeinschaften oder auch Solidarbeziehungen  –, mag der Mensch nach einer zunehmenden Stabilisierung und Institutionali­ sierung dieser Beziehungen streben – in diesem Fall nach der Ehe, der Rechts­ 118 | Selbst noch für die logische Struktur von Hegels Phänomenologie des Geistes wäre dies lohnenswert, die bekanntlich von einer ursprünglichen und zunächst undifferenzierten Einheit ausgeht, die aus innerer Notwendigkeit zerbricht, um dann in schmerzhaften Prozessen und auf immer höherer Stufe wiederhergestellt zu werden. 119 | Castoriadis (1984), S. 495. 120 | Diese Dreiteilung stützt sich auf Honneth (1992). Wir werden in Abschnitt 4.2 ausführlicher darauf zu sprechen kommen.

Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehr theit

gemeinschaft und dem Wohlfahrtsstaat – und Stufen »höherer Sittlichkeit« zu erklimmen versuchen. Folglich darf ein direkter schädlicher Zusammenhang zwischen dem dau­ erhaften Scheitern von sozialen Anerkennungsbeziehungen und dem Verlust menschlicher Intaktheit und Selbständigkeit behauptet werden.121 Hier schlägt die kompensatorische, bewegungsstiftende und zugleich kanalisierende Wir­ kung fehl, die von intakten sozialen Formationen auszugehen vermag. In diesem Lichte sind soziale Missstände und Fehlentwicklungen auf die Abwe­ senheit eines funktionierenden Netzes von sozialen Anerkennungsbeziehun­ gen zurückzuführen, in denen der Mensch für tragische, frühkindliche Tren­ nungserfahrungen entschädigt wäre, aber zugleich auch Freiräume kreativer Selbstbestimmung eingeräumt bekäme. Sollten diesen Spekulationen nicht völlig abwegig sein, so hätten wir am Ende dieses Abschnitts zu einem fol­ genreichen sozialpathognostischen Schluss zu kommen: Eine Gesellschaft ist dann als pathologisch einzustufen, wenn sie in ihrer dreifachen Funktion als Kompensations-, Bewegungs- und Kanalisationsform versagt. Sie darf es (a) nicht versäumen, ihren Mitgliedern Sicherheit und Schutz zu gewähren. Sie hat (b) für genügend Spielräume zu sorgen, in denen Individuen ihre Selbstän­ digkeit ausspielen können. Sie muss (c) beide dieser Bestrebungen auf mög­ lichst gewaltlose Weise miteinander vereinbaren können. Dieser noch vorläufigen sozialpathognostischen Positionsbestimmung sei sogleich ein defensiver Kommentar angefügt: Wenn die Sozialphilosophie dem Ideal einer »höheren Sittlichkeit« die Kraft zutrauen will, für primordia­ le Verlusterfahrungen zu entschädigen und zugleich für Spielräume kreativer Selbstbestimmung zu sorgen, so wird sie sich rasch mit dem Vorwurf konfron­ tiert sehen, sie wolle das Individuum mit der Gesellschaft »zwangsversöhnen«. Für gewöhnlich soll dieser Vorwurf faschistische oder auch stalinistische Ver­ gangenheiten wachrufen. Dazu sei angemerkt, dass selbstredend weder der Faschismus noch der sogenannte real existierende Sozialismus auch nur an­ nähernd als gelungene Realisierung jenes Mit-Seins gedeutet werden können, welches hier im Raume steht. Faschismus und real existierender Sozialismus müssen vielmehr als Verlust der Intersubjektivität durch Preisgabe des Subjekts gedeutet werden, während man im Übrigen deren ebenso wahnhaften Gegen­ pol, den neuzeitlichen Besitzindividualismus oder auch »real existierenden Neoliberalismus« als Verlust der Intersubjektivität durch Preisgabe des Anderen zu beschreiben hätte. Was jedoch am fernen Horizont unserer Überlegungen aufscheinen sollte, das ist das wie immer utopische Ideal einer kollektiven, solidarischen Lebensform, in der sich das Subjekt und die Anderen in Intersubjektivität zu verwirklichen vermochten. Eine nicht-pathologische Gesellschaft

121 | Siehe Honneth (1990c).

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würde es möglich werden lassen, um es mit Hegel zu sagen, Mit-den-Ande­ ren-bei-uns-selbst zu sein. Diese normativ hoch anspruchsvolle und überaus schwer zu greifende Vision von einem Gemeinschaftsleben in Abhängigkeit und Selbständigkeit hätte als positive Kontrastfolie für ein sozialpathognosti­ sches Deutungsunternehmen zu dienen, das unser doppeltes Bedürfnis nach Unversehrtheit und Unabhängigkeit auf dessen psychophysische Wurzeln zurückführte. In Anlehnung an Sloterdijk könnte ein solches Unternehmen »kritische Gynäkologie« der Gesellschaft heißen.

5. Z urück zur I ntegrität Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir die tiefenpsychologischen Überlegungen dieses Rekurses noch etwas deutlicher als bisher mit dem in den ersten drei Kapiteln umrissenen Integritätsbegriff vermitteln sollten, da­ mit klar werden kann, worum es im zweiten Teil dieses Buches gehen wird. Während der erste Teil zu einer Antwort auf die Frage führen sollte, inwieweit personale Integrität als ein schwieriges Selbstverhältnis beschrieben werden muss, wird es in den nächsten drei Kapiteln um die für das Geschäft der Sozi­ alphilosophie mindestens ebenso bedeutsame Frage gehen, inwiefern Integri­ tät zugleich auch als ein schwieriges Verhältnis zu anderen zu beschreiben ist. Der Rekurs sollte diesbezüglich eine Brücke bilden, die von der integren Sub­ jektivität zur »integren Intersubjektivität« hinüberführt. Doch bevor wir diese Brücke verlassen und das Ufer des zweiten Teils betreten können, müssen wir zunächst in doppelter Hinsicht »zurück« zur Integrität: Erstens haben wir die hier angestellten Vermutungen über den entwicklungspsychologischen Ur­ sprung der Sehnsucht nach Ganzheit und Unversehrtheit so auf den Begriff der Integrität zurückzubeziehen, dass erkennbar wird, wie sich diese Speku­ lationen zur Gesamtheit der in den vorangegangenen Kapiteln aufgefächerten Begriffsdimensionen verhalten. Der Aspekt der Ganzheit und Unversehrtheit deckte bislang ja nur eine, wenn auch wichtige Bedeutungsschicht ab. Zwei­ tens muss sich dabei die Vermutung plausibel machen lassen, dass der tiefen­ psychologische Rückgriff auf ein phantasmatisches Begehren für das integre Leben insgesamt das zentrale biographische Paradigma darstellt. Der Integri­ tätsbegriff hat sich demnach in seiner ganzen Komplexität als restaurativ und intersubjektiv strukturiert zu erweisen. Zunächst jedoch ist ein Einschub in methodologischer Absicht vonnöten: Wenn von der Integrität einer Person die Rede ist, dann ist eine komplexe Mo­ dalität gelingenden Lebens gemeint, über die der Mensch – das sollte hier deut­ lich werden – zugleich verfügen und nicht verfügen kann. Damit ist die the­ matische Ausrichtung, aber auch die methodische Schwierigkeit des Rekurses benannt. Zuvor schien die Explikation des Integritätsbegriffes weitgehend im

Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehr theit

Rückgriff auf ein eher herkömmliches Vokabular personaler Selbstbestimmung möglich. Inzwischen ist aber bereits auf vorgeburtlicher Ebene eine intersub­ jektive Spur der Sehnsucht nach Ganzheit und Unversehrtheit nachgewiesen. Daher wird der Integritätsbegriff von nun an auch solche Aspekte des gelin­ genden Lebens in sich aufnehmen müssen, die den Rahmen einer Analyse anhand des Selbstbestimmungsvokabulars sprengen. Dabei ist vor allem zu bedenken, dass der Aspekt der Unverfügbarkeit personaler Inte­grität nicht al­ lein den jeweils konkreten Vollzug integren Lebens betrifft, sondern stets auch den Versuch, eben diesen Aspekt in philosophische Begriffe zu kleiden. Für das, was an der Integrität nicht auf Selbstbestimmung beruht, fehlen der Phi­ losophie noch weitgehend die Worte. Damit kommen wir zu einer methodischen Spannung dieses Buches, die an so mancher Stelle des Rekurses in Prosa aufgelöst wurde, weil sie philoso­ phisch noch nicht tilgbar schien. Die grobe Richtung einer an primordialen Allianzen sowie an vorsprachlichen Erinnerungen orientierten Integritäts­ analyse ist jedoch klar: Es ginge dabei um eine Art philosophische Tiefenher­ meneutik, die das Wirkungsfeld psychoanalytischen Denkens auf das Gebiet diskursiver philosophischer Sprachspiele ausdehnt. Ich selbst habe mich in diesem Rekurs darum bemüht, das philosophische Sprachspiel und die Gren­ zen des expressiv Möglichen in das Unvordenkliche vorgeburtlicher Zwei-inEinheit auszudehnen. Wollte man die Betrachtung der Integritätskategorie als Erzählung fortschreiben, so wäre von nun an nicht mehr das autonome und souveräne Individuum der Held, sondern das Paar in seiner Verbundenheit und Trennungsarbeit. Im Rahmen einer dezidiert philosophischen Analyse verbleibt jedoch ein gravierendes Darstellungsproblem. Der Sprachzuwachs, den besonders die pränatale Tiefenpsychologie der philosophischen Theorie­ bildung beschert, sieht sich umgehend mit dem positivistischen Vorwurf kon­ frontiert, hier würden empirische Behauptungen über empirisch nicht weiter zu belegende Tatsachen aufgestellt. Ich würde es mir an dieser Stelle nur zu gerne einfach machen und feststellen, dass der philosophische Rückgriff auf das vorgeburtliche Leben grundsätzlich nicht viel spekulativer geartet ist als so manches andere philosophische Gedankenexperiment; man denke hier nur an den berühmten »Urzustand« eines Schleiers des Nichtwissens bei John Rawls. Im Gegensatz dazu, so würde man meinen, haben wir den intrau­ terinen Zustand wenigstens erlebt. Gleichwohl wird sich das philosophische Publikum mit einem solchen Hinweis kaum begnügen. Die Überlegungen dieses Rekurses müssen daher bis auf weiteres auf geneigte Leserinnen und Leser hoffen. Fahren wir fort: Wir haben den Integritätsaspekt der Ganzheit und Unver­ sehrtheit am Ende von Kapitel 2 als jene Begriffsdimension interpretiert, die den psychophysischen Gefühlscharakter integren Lebens hervorhebt und den Umstand der Verletzbarkeit personaler Integrität in den drei zuvor diskutier­

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ten Hinsichten der Selbsttreue, der Rechtschaffenheit und der Integriertheit akzentuiert. Am Ende des Rekurses müssen wir diese Deutung nun insofern korrigieren, als wir anzuerkennen haben, dass die Stimmung der Ganzheit und Unversehrtheit in genetischer bzw. entwicklungspsychologischer Hin­ sicht nicht nur Resultat, sondern zugleich auch Grund ist: Die Verwendung des Integritätsbegriffes im Sinne der Ganzheit und Unversehrtheit ist von den übrigen Begriffsdimensionen zwar insofern »abkünftig«, als damit eine anfällige existenzielle Grundstimmung gemeint ist, die das Resultat einer Lebensführung sein soll, in der die Bedingungen der Integrität umfassend erfüllt wären. Die Idee der Intaktheit ist aber zugleich auch in dem Sinne als »ursprünglich« zu verstehen, dass sie der Kern einer überaus früh einset­ zenden Sehnsucht ist, durch die der Prozess einer auf die Wiederherstellung primordialer Ganzheit zielenden Lebensführung – nach Art einer utopischen Initialzündung – überhaupt erst in Gang gerät. Erst an dieser Stelle kann der bereits in Abschnitt 2.4 angedeutete konzeptionelle Widerspruch der Ganz­ heitsidee zur Auflösung kommen: Als phantasmatisch erinnerte, d.h. ehe­ malige Unversehrtheit ist die Ganzheitsidee Bedingung eines entsprechenden Strebens im späteren Leben. Als wiederherzustellende Unversehrtheit ist sie zugleich aber auch dessen Ergebnis. Da dieses Streben, wie zuletzt gezeigt wurde, von Beginn an eine markante Spur der Zweisamkeit aufweist, ist der sogenannte Andere demnach in doppelter Hinsicht als konstitutiver Bestand­ teil personaler Integrität aufzufassen. Das Leben in Integrität zehrt nicht nur von der Erinnerung an frühere Allianzen, es bleibt darüber hinaus zeitlebens notwendig auf intakte Sozialbeziehungen angewiesen. Erläutern wir diesen letzten Punkt unter Einbeziehung jedes einzelnen der vier zentralen Inte­ gritätsaspekte, damit die Einheit in der Vielheit der unterschiedlichen Bedeu­ tungsdimensionen erkennbar wird. Blicken wir zunächst noch einmal auf das Streben nach Ganzheit. Es dürf­ te deutlich geworden sein, dass darin eben jene Sehnsucht aufgehoben ist, die zurückbleibt, wenn der Mensch den mindestens dreistufigen Prozess seines Zur-Welt-Kommens psychophysisch überstanden hat. Das Begehren nach Ganzheit ist dem Menschen buchstäblich »angeboren«. Er kommt damit zur Welt. Ein späteres Leben in Integrität wäre ein solches, in dem die ursprüng­ lich fraglos gegebene Vertrautheit mit sich und dem Anderen ersatzweise wie­ derhergestellt wäre und zudem von außen möglichst unbeschadet bliebe. Im Rückgriff auf die psychophysischen Urszenarien, die für das Integritätsbedürf­ nis relevant sind, wird zudem deutlich, warum es sich bei der Integrität um eine als körperlich erfahrene »Gespürssache« handelt: Der Infant bringt aus seinen frühesten Entwicklungsstadien eine »Unzahl von Erfahrungen über sich selbst und seine Integrität oder Zersetzung im gespürten Austausch mit seiner Mutter« mit, die im späteren Integritätsstreben wiederhallen. Dadurch nimmt ein psychophysischer, d.h. »ganzheitlicher Empfindungskomplex« Ge­

Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehr theit

stalt an, der auf die Wiederherstellung ursprünglicher Ganzheit und Unver­ sehrtheit zielt.122 An dieser Stelle offenbart sich der Bezug zum Integritätsaspekt der Selbst­ treue. Die frühkindlichen Trennungserlebnisse zwingen das heranwachsende Subjekt, seine Umwelt, d.h. äußere Objekte und insbesondere andere Subjekte, mit seinen Sehnsüchten zu »besetzen«. Das Kleinkind wird die Chance auf eine Befriedigung seiner ursprünglichen Lust von nun an vor allem in den sozialen und institutionalisierten Gegebenheiten seiner Umgebung wittern. Zugleich aber muss es zunehmend auch eine Diskrepanz erfahren zwischen dem phantasmatisch eingefärbten Wunsch nach totaler Wiedervereinigung und der Art und Weise, wie es mit diesem utopischen Wunsch in seiner Um­ welt Anklang findet. Gelingt es dem Heranwachsenden, ein hinreichendes Maß an Ich-Stärke auszubilden, werden diese sich schmerzlich wiederholen­ den Kontrasterfahrungen das Bedürfnis in ihm wach halten, trotz der sozi­ alen Widerstände »standhaft« zu bleiben, d.h. an seinem sehnsuchtsvollen Wunschbild festzuhalten und Gelegenheiten zu suchen, auf die bestehenden Lebensbedingungen verändernd einzuwirken  – so lange, um es mit Bloch zusagen, bis diese zur »Heimat« werden. Hier nimmt das Integritätsstreben nach Selbsttreue und Unbestechlichkeit Gestalt an. Der Andere ist in diesem Streben immer schon aufgehoben, wenn auch auf Anhieb nicht immer gleich wiederzuerkennen: »Die bedingungslose Besetzung der geschlossenen Selbstvorstellung der ursprünglichen psychischen Monade findet sich in der grenzenlosen Wichtigkeit, die das Individuum der Integrität seines Bildes beimißt – in der Selbstvorstellung als dem letzten Träger alles Sinns und aller Bedeutung – zugleich gerettet und doch radikal verändert.«123

Der sich ebenfalls sehr früh entfaltende Begriffszusammenhang der Aspekte Ganzheit und Rechtschaffenheit ist genauso unschwer einsehbar: Der Wunsch nach Rückkehr in intime Allianzen führt zu der Einsicht, dass die Aufrechter­ haltung intakter Austauschverhältnisse mit anderen Subjekten, die als ebenso autonom und manchmal auch widerständig erfahren werden, notwendig auf Spielregeln angewiesen ist. Die an kompensatorischen Wechselbeziehungen Beteiligten tragen reziproke Verhaltenserwartungen an sich heran, die jeweils zu ihrem Recht kommen müssen, damit von intakten Sozialbeziehungen die Rede sein kann. Vor allem moralische Regeln sollen dies sicherstellen. Die Be­ teiligten fühlen sich an solche Regeln nicht allein deshalb gebunden, weil sie im Fall der Devianz schmerzhafte Sanktionen zu befürchten hätten. Der inter­ subjektive Kern der Integrität, der in diesem Rekurs aus tiefenpsychologischer 122 | Sloterdijk (1998), S. 454. 123 | Castoriadis (1984), S. 522.

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Sicht herausgeschält wurde, muss als derart tief in das menschliche Selbst­ verständnis eingelassen verstanden werden, dass er aus dem nach Ganzheit strebenden Selbstverständnis der Subjekte gar nicht wegzudenken ist. Der Standpunkt der Moral, so wurde in Kapitel 2 behauptet, liegt nicht irgendwo »außerhalb« des mit konkreten sozialen Anforderungen konfrontierten Indivi­ duums, er ist vielmehr konstitutiver Bestandteil jedes ethischen Selbstbildes. Am Ende des Rekurses lässt sich diese Behauptung entwicklungspsychologisch unterfüttern: Die moralische Sicht des Anderen und auf den Anderen bleibt nach der ursprünglichen Trennung imaginär als Wunsch nach Wiedervereini­ gung präsent, und erst die dadurch bewirkten Spiegelungsprozesse generieren das ethisch-existenzielle Selbstbild der in Zukunft nach Integrität strebenden Person. Demnach verwickelt sich der unmoralische Mensch nicht bloß in Wi­ dersprüche zu den Erwartungen anderer, sondern immer auch in Selbstwidersprüche.124 Zwar wird er sich bisweilen dazu gezwungen sehen, die Grenzen der Moral zu überschreiten. Da ihm aber die Aufrechterhaltung kompensato­ rischer Sozialbeziehungen ein nahezu strukturell notwendiges Anliegen ist, werden ihn diese Selbstwidersprüche häufig genug dazu anhalten, ein in mo­ ralischer Hinsicht möglichst rechtschaffenes und von anderen als unbeschol­ ten eingestuftes Leben zu führen. Die Unumgänglichkeit derartiger ethisch-existenzieller Selbstwidersprü­ che lässt dann auch den genetischen Zusammenhang von Ganzheit und Inte­ griertheit hervortreten. Um psychophysisch »überleben« zu können, d.h. um Situationen einer ursprünglichen Zwei-in-Einheit – zumindest ansatzweise – wiederherstellen zu können, muss sich das Kind nicht nur auf die Regeln der Moral, sondern stets auch auf einen Kampf um Anerkennung einlassen, in dessen Verlauf sich die vorhandenen sozialen Spielräume gemäß des eigenen phantasmatischen Wunschbildes erweitern lassen. Dieser Kampf stellt sich nicht nur als ein rein äußerlicher Kampf zwischen Subjekten dar, sondern immer auch als ein gravierender intrapsychischer Konflikt: Die Dialektik von Abhängigkeit und Unabhängigkeit konstituiert eine bereits anthropologisch gegebene »Zerrissenheit« der Person, die von nun an, und zwar vor allem auf dem Wege ethisch-existentieller Selbstverständigung, verständlich und hand­ habbar gemacht werden muss. Die Desintegrationen, die sich im Zuge früh­ kindlicher Erfahrungsbrüche ereignen, lassen die Notwendigkeit, »die Dinge zusammenzuhalten«, zum ersten Mal aufkommen. Demnach ist personale Integrität schon aus entwicklungspsychologischer Perspektive auf die Her­ ausbildung autobionarrativer Kompetenzen angewiesen, die auf Integriertheit und Kohärenz zielen, indem sie den Verlusterfahrungen und Ambivalenzkon­ flikten des Kindes einen ersten Sinn abzutrotzen versuchen.

124 | Dazu mehr in Abschnitt 4.1.

Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehr theit

Insgesamt lassen diese kursorischen Überlegungen zum genetischen Zusammenhang der unterschiedlichen Integritätsaspekte deutlich werden, dass wir es bei der philosophischen Suche nach den lebensgeschichtlichen Ursprüngen personaler Integrität mit einer doppelten Zumutung zu tun ha­ ben: Zum einen muss das integre Leben in seiner ganzen Komplexität von der fetalen Situation im uteralen Strom her gedacht werden. Zum anderen ist dabei die Einsicht zu berücksichtigen, dass aufgrund der psychophysischen Nachwirkungen pränataler Allianz ein »integres Alleinzurückbleiben«125 stets ein Ding der Unmöglichkeit sein wird. Das Leben in Integrität, so die anti-libe­ ralistische Überzeugung, wird sich niemals allein in Begriffen von Autonomie und Selbstbestimmung adäquat fassen lassen, weil dieses Leben sich, seinem ganzen Wesen nach, als ein konfliktreiches Wechselspiel von Bestrebungen nach Selbständigkeit und Abhängigkeit darstellt. Biographisches Vorbild ist jene einst für Ganzheit und Sicherheit sorgende integre Dualform, die früh verloren gegangen ist und die den Menschen Zeit seines Lebens auf integrie­ rende und ergänzende andere Personen angewiesen sein lassen: »Das werdende Subjekt kann sich als es selbst, wie es scheint, nur integer entfalten, wenn der Bezug auf den Fundus eines intim liierten Parallel-Lebens möglich ist, aus dem ihm nährende, stützende, prophetische Zeichen zufließen, die ihm ein Gedeihen in Verbundenheit und Freiheit versprechen.«126

Entsprechend wird man aus psychopathologischer Sicht feststellen können, dass die soziale Beziehungsfähigkeit des Menschen notwendig zum Funda­ ment jeder intakten Gesamtperson gehört und dass die Beeinträchtigung oder gar Abwesenheit einer solchen »authentischen« Kontaktfreude zur Konstituie­ rung einer vielgestaltigen Klasse von Persönlichkeitsstörungen beiträgt. Doch werden wir auf derartige psychopathologische Integritätsstörungen erst im Schlusskapitel ausführlicher zu sprechen kommen. Zunächst ist hier allein von Belang, dass integres Leben sowohl in genetischer Hinsicht als auch auf der Ebene des späteren Vollzugs notwendig auf gelingende Sozialbeziehungen an­ gewiesen ist, da der Erfahrungsgehalt jenes frühkindlich erworbenen Phantas­ mas, das den Menschen zeitlebens nach Integrität streben lässt, immer schon eine intersubjektive Spur aufweist. Menschliches Leben ist von Anfang an ein soziales Miteinander, aus dem das Kind im Zuge seines Zur-Welt-Kommens gewaltsam gerissen wird, dessen Verlust ihm aber lebenslang, wenigstens un­ terbewusst, präsent bleibt. Der vermittelt durch diesen Verlust einsetzende In­ dividuierungsprozess ruft zeitgleich ein Streben nach Integrität auf den Plan, das auf eine Wiederherstellung der ursprünglichen Zwei-in-Einheit zielt. Das 125 | Sloterdijk (1998), S. 473. 126 | Ebd., S. 402.

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wahrhaft integre Leben wäre demnach als der Ausgleich eines existenziellen Defizits sowie als Besänftigung einer anthropologisch tiefsitzenden Melancho­ lie zu verstehen, von der wir seit jeher gezeichnet sind und die wir im Leben auf menschenmögliche Weise zu besänftigen versuchen. Auch wenn wir uns auf der Konzertbühne des Lebens immer schon als »unfreiwillige Solisten« vorfinden, so werden wir doch einsehen müssen, dass die erste Geige niemals ohne Mitspieler auskommt.127 Kommen wir zum Schluss dieses Rekurses noch einmal auf die philoso­ phiegeschichtlichen Überlegungen zurück, mit denen wir begonnen haben. Längst dürfte deutlich geworden sein, wie die zu Beginn aufgeworfene, dop­ pelt modernitätskritische These zu verstehen ist, das dezentrierte Subjekt gehe aus den Wirren des Unbewussten (Psychoanalyse) sowie aus den Netzen des Sozialen (Sprachphilosophie) allererst hervor. Der postmetaphysische Versuch, dem idealistischen Prinzip autonomer Selbstdurchsichtigkeit die Vorstellung eines in eher undurchsichtige Beziehungen zu anderen und anderem eingelas­ senen Selbst entgegenzustellen, lässt sich nunmehr auf einen biographischen Urzustand zurückbeziehen, in dem ein primordiales Miteinander spürbar war, dessen Verlust im Leben unbewusste Spuren hinterlassen hat. Der Indi­ viduierungsprozess und die mit ihm auf brechende Sehnsucht nach Integrität sind aus entwicklungspsychologischer Sicht als Reaktion auf ein frühkindli­ ches Drama zu deuten, mit dem eine frühe Einheit zerbricht, die ursprünglich Zweiheit war und die im Gedächtnis subliminal als Phantasma aktiv bleibt. Daraus folgt: Im Lichte der Sehnsucht nach Intaktheit sind große Teile des Unbewussten selbst als verdrängte Erinnerung an jene frühe, weitgehend un­ versehrte Zwei-in-Einheit zu deuten, von der gezeigt wurde, dass in ihr der autobionarrativ vermittelte Erlebnisvollzug des späteren Lebens sein sprachlo­ ses Vorbild hat. Die heute vor allem aus interaktionistischer Sicht behauptete Gleichursprünglichkeit von Subjektivität und Intersubjektivität, lässt sich daher, bedenkt man den biographischen Richtungsindex solcher Mutmaßungen über ursprüngliche Fusionen, als Gleicheisprünglichkeit enttarnen. Mit einem Vorschlag zur weiteren Begriffsverwendung soll dieser Rekurs beschlossen werden: War hier verschiedentlich von zwei entgegengesetzten anthropologischen Bestrebungen  – nach Wiedervereinigung und Autarkie  – die Rede, so wäre für ein entsprechendes subjektives Vermögen, beide dieser Bestrebungen in Einklang zu bringen, der Begriff »Autonomie« zu reser­ vieren. Autonomie muss als zentrale Meta-Kompetenz personalen und inte­ gren Lebens verstanden werden, die darin zum Ausdruck kommt, dass die Person nicht trotz, sondern auf Grundlage ihrer sie unbewusst dirigierenden Regungen einerseits, ihrer Verflechtungen in soziale Abhängigkeiten ander­

127 | Sloterdijk (1998), S. 473f.

Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehr theit

seits ein alles in allem selbstbestimmtes Leben in Einklang mit dem eigenen ethisch-existenziellen Wollen zu führen vermag. Die im Leben autonom er­ wirkten Handlungsspielräume sind demzufolge sowohl als renovierte Gedenk­ stätten einer ursprünglichen Allianz wie auch als selbstbezogene Spielräume der menschlichen Selbständigkeit zu verstehen, die für den Preis entschädigen sollen, der beim frühkindlichen Eintritt in das gesellschaftliche Platzkonzert gezahlt wurde. Nur wer das spätere Echo auf den kakophonischen Verlust ei­ nes vorgeburtlich weitgehend harmonischen Miteinanders zu vernehmen und richtig zu deuten vermag, wird ahnen können, wie sehr autonome Integrität von der unbewussten Erinnerung an eine frühere Ganzheit im »Mit« zehrt. Zwar hatte es am Ende von Kapitel 1 mit sozialpathognostischem Blick auf das gesellschaftliche Leben insgesamt geheißen, dass »die Integration seiner Teilnehmer nicht auf Kosten der Integrität dieser Teilnehmer« gehen dürfe, doch haben wir im Verlauf dieses Rekurses einsehen müssen, dass bei der ur­ sprünglichen Aufnahme des Menschen in die Gesellschaft gravierende Fol­ gekosten unausweichlich sind. Ohne den Verlust jener wahrhaft intakten In­ teraktivität frühkindlicher Zwei-in-Einheit kann von Gesellschaft keine Rede sein. Entsprechend hat aber auch für das Streben nach Integrität zu gelten, dass der Mensch erst durch die mit seinem Zur-Welt-Kommen verbundenen Desintegrationserfahrungen in jene Defensive gelockt wird, die auf die Wie­ derherstellung einer verlorenen Einheit und auf die lebenspraktische »Vernei­ nung der Verneinung« zielt, die etymologisch im Wortstamm »integ« verbor­ gen liegt. Wir haben Folgendes festzustellen: Vor der erzwungenen, wenn auch notwendigen Subjektwerdung des Menschen ist das Problem der Inte­grität noch keines. Erst die im Zuge der Individuierung anfallenden Verluste lassen die Sehnsucht nach Integrität aufkommen.

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4 . Interaktion und Invasion: Integrität als schwieriges Verhältnis zu anderen Die mit dem Integritätsbegriff verknüpfte Idee einer intakten Einheit des ethisch-existenziellen Lebenszusammenhangs beruhte bis gegen Ende von Ka­ pitel 3 noch weitgehend auf der Voraussetzung von psychophysisch klar unter­ scheidbaren Individuen, die selbstbewusst und selbstbestimmt, d.h. als unver­ tretbare Einzelne, ihr je eigenes Leben zu führen haben. Im Verlauf des Rekurses jedoch ist deutlich geworden, dass die vermeintlich markanten Grenzen der In­ tegrität sehr viel durchlässiger sind als zuvor gedacht. Zwar existiert zwischen einzelnen Individuen insofern ein unüberbrückbarer psychophysischer Graben, als jedes für sich eine ganz eigene seelische und leib­liche Erfahrungswelt dar­ stellt. Daher mag durchaus der Eindruck singulärer Einheiten entstanden sein. Doch dieser Eindruck sollte den Umstand nicht verwischen, dass von Person zu Person immer auch vielfältige Abhängigkeiten bestehen. Die mutmaßliche Au­ ßengrenze der Integrität darf nicht als eine lückenlose Umzäunung aufgefasst werden, die jedem Ansturm trotzte. Sie muss vielmehr als eine Pforte begriffen werden, die niemals gänzlich zu schließen ist. Die Scheidelinie zwischen Per­ sonen ist Schauplatz eines unentwegten Austauschs, der sich sowohl positiv als auch negativ auf die Integrität einzelner auswirken kann. Die immer bloß rela­ tive Separation von Personen ist zugleich auch relative Offenheit sowohl für för­ derliche Hilfsmaßnahmen der Zuwendung, Unterstützung und Anerkennung als auch für bedrohliche Akte der Trennung, Aggression und Missachtung. Eine Theorie der Integrität wird ihren Gegenstand demnach nicht bloß als eine »innere« Angelegenheit konzipieren können, wie es vor dem Rekurs viel­ leicht noch möglich schien. Dazu sind Menschen als einzelne, selbst wenn sie selbstbestimmt und integer sind, viel zu sehr auf andere angewiesen. Nun berücksichtigen zwar viele Beiträge zur Integritätsdebatte den Umstand, dass die existenzielle »Sorge um sich« immer auch die moralische »Sorge um ande­ re« einschließt, doch wird daraus nur selten die überaus naheliegende Konse­ quenz gezogen, dass personale Integrität das Resultat einer Sorge ist, die uns von anderen zuteil wird. Bereits der Rekurs hat zeigen sollen, dass allein die­ jenige Person, die das Echo auf eine sehr frühe Zweisamkeit zu vernehmen vermag, spüren wird, wie tief die Integrität ihres Selbst in Intersubjektivität

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eingelassen ist. Das nun folgende Kapitel wird die sich daraus ergebende Ab­ hängigkeit personaler Integrität von integren Sozialbeziehungen noch etwas deutlicher hervorheben. Zunächst jedoch muss darauf hingewiesen werden, dass die Überzeugung, Menschen seien voneinander »abhängig«, mindestens acht verschiedene Aus­ legungen zulässt: (1) In erkenntnistheoretischer Hinsicht darf als unstrittig an­ gesehen werden, dass Individuen zu einem Bewusstsein ihrer selbst überhaupt nur dann gelangen können, wenn sie sich im Rahmen einer intersubjektiv geteilten Alltagspraxis, d.h. in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung von konkreten anderen Subjekten, als jeweils eigene psychophysische En­ titäten erfahren. (2) Aus entwicklungspsychologischer Perspektive ist der Um­ stand zu berücksichtigen, dass es des Schutzes, der Fürsorge und auch der Achtung seitens enger Bezugspersonen bedarf, damit sich eine weitgehend stabile Ich-Identität herausbilden kann. (3) Auf der ethisch-existenziellen Ebene des späteren Lebensvollzugs sind und bleiben Individuen auf den Schutz, die Zuwendung und den Respekt ihrer Mitmenschen angewiesen. (4) Damit eng verwandt ist der Umstand, dass zu den integralen Selbstverpflichtungen eines jeden Menschen stets auch spezifisch soziale Lebensvollzüge, z.B. gewachse­ ne Bindungen oder auch gemeinsame Gruppenzugehörigkeiten, gehören. (5) In autobionarrativer Hinsicht ist zu bedenken, dass der ethisch-existenzielle Selbstverständigungsprozess nicht rein »monologisch« abläuft, sondern oft auch auf den Dialog mit einem konkreten Gegenüber angewiesen ist. (6) Da­ mit ist zugleich die sprachtheoretische Einsicht berührt, dass uns das wichtigste Instrumentarium der autobionarrativen Selbstverständigung, die Sprache, nur insoweit zur freien Verfügung steht, als wir diese von anderen erlernen und mit ihnen teilen. (7) Aus kulturalistischer Perspektive darf dabei die Tatsache nicht vergessen werden, dass die ethisch-existenziellen Wertbindungen, die unserem Selbstbild jeweils konkrete Umrisse verleihen, einem gemeinsamen Wertehorizont entnommen werden. (8) In gesellschaftstheoretischen Zusam­ menhängen schließlich ist der Umstand von Belang, dass die Reproduktion der gemeinsam geteilten Lebenswelt dauerhaft auf gelingende Kooperations­ verhältnisse angewiesen ist. Auch wenn diese lockere Auflistung unterschiedlicher formaler Aspekte sozialer Abhängigkeit noch immer unvollständig sein dürfte und nicht alle die­ se Bestimmungen für die Frage der Integrität gleichermaßen von Bedeutung sein werden, so treten damit doch die Grundrisse einer Art »transzendenta­ len Sozialität«, also unhintergehbare soziale Voraussetzungen existenziellen Selbstseinkönnens hervor, angesichts derer man, in Anlehnung an Heideg­ ger, von »Interexistenzialen« sprechen könnte.1 Erst vor dem Hintergrund der 1 | In diesem Abschnitt folge ich wesentlich Thomas Rentsch (1990): Die Konstitution der Moralität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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unumgänglichen Einbindung in vielfältige gesellschaftliche Strukturzusam­ menhänge kann das Phänomen ethisch-existenzieller Singularität hervortre­ ten und verständlich werden. Demzufolge wird im Zusammenhang der Inte­ gritätsproblematik von besonderem Interesse sein, dass der ethisch-­existenzielle Lebenszusammenhang einer Person allein insofern als eine auf Ganzheit zie­ lende Einheit aufgefasst werden kann, als diese in intersubjektivem Austausch zugleich hervorgebracht wird und bewahrt werden muss, sodass dabei stets schon von einer durchaus prekären Zwei- oder gar Mehrheit zu sprechen wäre. Ist personale Integrität in Kapitel 3 primär als ein schwieriges Selbstverhältnis gedeutet worden, so muss die Analyse ihrer Konstitutionsbedingungen nun­ mehr in eine Erörterung ihrer spezifisch sozialen Voraussetzungen übergehen, damit deutlich werden kann, inwiefern Integrität zugleich auch als ein schwie­ riges Verhältnis zu anderen zu verstehen ist. Die entscheidende Frage lautet also: »Wie ist erfüllte Ganzheit im gemeinsamen Leben möglich?«2 Im Zuge der Erörterung dieser Frage muss der bereits im Rekurs ange­ schnittene Aspekt der »Unverfügbarkeit« integren Lebens mit besonderer Wucht hervortreten: Personale Integrität, so wird die These lauten, ist durch eine intersubjektiv bedingte Fragilität und Anfälligkeit gekennzeichnet, die nicht nur Resultat, sondern stets auch Bedingung zwischenmenschlicher In­ teraktionen ist. Individuen sind generell, selbstredend nicht nur als integre Personen, in ein Netz sozialer Beziehungen eingebunden, in denen sie Schutz und Anerkennung benötigen und auch suchen. Sie werden in intersubjektiven Verhältnissen nicht nur als Individuen konstituiert, sie können in diesen auch ernsthaft Schaden nehmen. Auch wenn konkrete Antworten auf die Frage, was als adäquater Schutz bzw. als hinreichende Form der Anerkennung zu zählen hätte und welche Handlungen und sozialen Praktiken entsprechend als Verlet­ zungen zu werten wären, von Kultur zu Kultur variieren mögen, lässt sich mit Blick auf den Umstand, dass Menschen Schutz und Anerkennung benötigen, wohl zweifellos von einer anthropologische Konstante sprechen, die im Folgen­ den nun näher beleuchtet werden soll.3 Im ersten Schritt wird sich zeigen, dass wir eben jene gesellschaftliche Si­ cherheitsvorkehrung, die den elementaren Schutz der psychischen und physi­ schen Unversehrtheit des Menschen gewährleisten soll, »Moral der Unpartei­ lichkeit« nennen können, wobei jedoch erneut, wie schon in Kapitel 2, fraglich werden wird, in welchem genaueren Verhältnis Integrität und Moral zueinan­ der stehen (4.1). Im zweiten Schritt wird zu demonstrieren sein, dass – über diesen elementaren moralischen Schutz hinaus  – unterschiedliche Formen sozialer Anerkennung auf eine umfassende Konsolidierung personaler Integrität zielen, wobei aber auch hier erst noch zu klären sein wird, wie weit integre 2 | Rentsch (1990), S. 140. 3 | Vgl. Habermas (2001), bes. S. 62f.

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Personen tatsächlich auf soziale Anerkennung angewiesen sind (4.2). Gleich­ wohl ergibt sich daraus eine doppelte Abhängigkeit des Menschen, und zwar von moralischem Schutz und sozialer Anerkennung, aus der zahlreiche Inte­ gritätsgefährdungen resultieren, die im Rahmen einer phänomenorientierten Skizze typischer »invasiver« Übergriffe – gemeint sind zwischenmenschliche Verletzungsakte – anschaulich gemacht und systematisiert werden sollen (4.3). Im Schlussabschnitt wird dann, ähnlich wie schon gegen Ende von Kapitel 3, ein Blick auf jene zentralen Gefühlslagen im Leben geworfen, die einer Person anzuzeigen vermögen, dass ihre Integrität, und zwar diesmal von außen, in Gefahr gerät. Dabei werden Erfahrungen von »Scham« und »Schuld« im Mit­ telpunkt stehen (4.4).

4.1  M or albe wusstsein und M or alverle t zung : G eschüt z t werden wollen Bereits in Kapitel 2 sind wir mit der Frage konfrontiert gewesen, welchen Platz moralische Erwägungen und Restriktionen im Rahmen des integren Lebens einzunehmen haben. Die vorläufig der Integritätsdebatte entnommene Ant­ wort lautete: Um einer Person Integrität im Sinne der Rechtschaffenheit und Unbescholtenheit attestieren zu können, muss diese Person einer doppelten moralischen Mindestanforderung genügen: Sie hat sich erstens zu einer Pra­ xis ethisch-existenzieller Selbstrechtfertigung bereit zu zeigen. Und zweitens müssen ihre Lebensvollzüge und Selbstverpflichtungen innerhalb der Tole­ ranzgrenzen herrschender Sittlichkeitsvorstellungen liegen. Wenn im Folgen­ den jedoch umfassender deutlich werden soll, welchen Stellenwert die Moral im Rahmen personaler Integrität besitzt, müssen wir die Innenperspektive der moralischen Akteure um die Rücksicht auf die Erfahrungswelt derjenigen Personen erweitern, die von moralischen oder eben unmoralischen Handlun­ gen betroffen sind. Da mit der Integritätsanforderung der Rechtschaffenheit offenkundig das Gebot der Rücksicht auf den schutzbedürftigen ethisch-exis­ tenziellen Lebenszusammenhang anderer Menschen einhergeht, erweist sich der durch Normen geregelte intersubjektive Lebenszusammenhang als Quelle moralischer Verletzungen.4 Eben darum sollten wir die Frage, wie genau sich unmoralische Handlungen auf die Integrität derjenigen auswirken, die unmo­ ralisch agieren, für einen Moment zurückstellen, um mit der Klärung des Pro­ blems zu beginnen, welche Konsequenzen unmoralische Akte für die Integri­ tät jener Personen haben, die unter solchen Handlungen leiden. Erst wenn mit dem Streben nach Integrität nicht nur der motivationale Ausgangspunkt der

4 | Dazu Wingert (1993), Kap. 5.

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Moral, sondern zugleich auch deren begründungstheoretische »Hinsicht« an­ gedeutet ist, d.h. das schützenswerte Gut, werden wir uns erneut dem Problem zuwenden können, ob und wie personale Integrität moralisch zu restringieren ist. Kurzum: Die Frage nach dem Moralisch-Sein erfordert Vorklärungen in Be­ zug auf die Frage nach dem von Unmoral Betroffen-Sein. Wenn hier bereits verschiedentlich die scheinbar triviale Annahme ange­ klungen ist, Moral habe etwas mit dem Umstand zu tun, dass der intersubjek­ tive Lebenszusammenhang »Quelle moralischer Verletzungen« sei, dann ist damit bereits unmerklich eine bestimmte philosophische Begründungsrich­ tung eingeschlagen, die im Rahmen der längst unüberschaubar gewordenen Debatte über das Wesen und die Reichweite des moralischen Standpunktes der Unparteilichkeit keineswegs unumstritten ist.5 Der Hinweis auf die seelische und leibliche Verletzungsanfälligkeit des Menschen zielt nämlich auf eine in­ sofern »materialistisch« angehauchte Rechtfertigung der Moral, als es dabei primär um die sich aus der anthropologischen Grundsituation ergebenden Kreatürlichkeit des Menschen ginge, d.h. um dessen Versehrbarkeit, Abhängigkeit, Gebrechlichkeit und Leidensfähigkeit.6 Zu verstehen ist die Moral demnach »als konstruktive Antwort auf Abhängigkeiten und Angewiesenheiten, die in der Unvollkommenheit der organischen Ausstattung und der fortbestehenden Hinfälligkeit der leiblichen Existenz (besonders deutlich in Phasen von Kindheit, Krankheit und Alter) begründet sind. Die normative Regelung interpersonaler Beziehungen lässt sich als poröse Schutzhülle gegen Kontingenzen verstehen, denen der versehrbare Leib und die darin verkörperte Person ausgesetzt sind. Moralische Ordnungen sind zerbrechliche Konstruktionen, die beides in einem schützen, die Physis gegen körperliche und die Person gegen innere und symbolische Verletzungen. […] Die Abhängigkeit vom Anderen erklärt die Verletzbarkeit des Einen durch den Anderen. Die Person ist Verwundungen in den Beziehungen am schutzlosesten ausgesetzt, auf die sie zur Entfaltung ihrer Identität und zur Wahrung ihrer Integrität am meisten angewiesen ist.« 7

Ganz ähnlich wie manch andere moraltheoretische Begründungsfigur, man denke hier etwa an utilitaristische oder auch an strikt kantianische Ansätze, will auch diese Auffassung vom Wesen der Moral der unumstrittenen Tat­ sache gerecht werden, dass sich Menschen bei dem Versuch, ihre jeweiligen 5 | Für einen ersten Überblick siehe Konrad Ott (2001): Moralbegründungen zur Einführung, Hamburg: Junius. Eine Klärung der Frage, was überhaupt »Begründung« von Moral heißt, unternimmt Rainer Forst (1999): »Praktische Vernunft und rechtfertigende Gründe«, in: Gosepath (1999). 6 | Einen solchen Ansatz vertritt heute z.B. Alasdair MacIntyre (2001): Die Anerkennung der Abhängigkeit, Hamburg: EVA/Rotbuch. 7 | Habermas (2001), S. 62f.

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Interessen und Lebenspläne zu verfolgen, so sehr in die Quere kommen kön­ nen, dass es ihnen schwer oder gar unmöglich wird, ihren Selbstverpflich­ tungen und Wertbindungen nachzukommen. Besondere Betonung erhält in diesem Fall jedoch die anthropologisch tief ansetzende Einsicht, dass die psy­ chophysische Intaktheit ethisch-existenzieller Lebenszusammenhänge derart leicht zu erschüttern ist, dass sich die Moral als Erstes und hauptsächlich um deren elementaren Schutz zu kümmern hat, bevor dann, wenn überhaupt, an­ spruchsvollere moralische Forderungen formuliert werden können. Folglich operiert eine sich derart auf die Verletzungsanfälligkeit und Leidensfähigkeit menschlicher Wesen konzentrierende Moraltheorie zunächst mit einer relativ bescheidenen Prämisse: Dass der Mensch vor nicht zu rechtfertigenden An­ griffen auf seine psychische und physische Intaktheit und Unversehrtheit be­ wahrt werden muss, dürfte selbst unter Moralphilosophen kaum strittig sein.8 Ziehen wir genau an dieser Stelle den Begriff der Integrität heran, wie er in der ersten Hälfte dieses Buches in seine unterschiedlichen Dimensionen zerlegt wurde, dann gerät jedoch ein in normativer Hinsicht entsprechend dif­ ferenzierter Standpunkt der moralischen Rücksichtnahme ins Blickfeld.9 Die­ ser hätte von der zweifellos elementaren und maßgeblichen Forderung nach psychischer und physischer Unversehrtheit seinen Ausgang zu nehmen, um dann aber zu nuancierteren Ansprüchen fortzuschreiten, die sich aus den drei übrigen Integritätsanforderungen der Selbsttreue, Rechtschaffenheit und In­ tegriertheit ergeben. Zwar kann ein solcher moraltheoretischer Begründungs­ versuch hier nicht schon in aller Breite unternommen werden, doch wäre dabei von Beginn an das folgenschwere Missverständnis zu vermeiden, dass dabei der Moral die sie letztlich überfordernde Aufgabe zugewiesen wird, das integre Leben insgesamt zu garantieren. Wie bereits in Kapitel 3 deutlich geworden sein dürfte, kann personale Integrität niemals gänzlich, sondern allenfalls in einem noch näher zu bestimmenden Ausmaß vom Wohlverhalten anderer Menschen und damit dann auch von der Moral abhängig sein. Schließlich haben Perso­ nen immer auch selbst darauf zu achten, dass sie ihre Integrität nicht kom­ promittieren, sodass ihnen aus Sicht der Moraltheorie eine gewisse Eigenver­ antwortung bei der Bewahrung ihrer Integrität zugeschrieben werden muss. Insofern ist die »ethische« Idee personaler Integrität als normativ anspruchs­ voller aufzufassen als die sich daraus möglicherweise ergebenden, spezifisch »moralischen« Forderungen. Die Moral muss sich lediglich um den Schutz der sozialen Bedingungen integren Lebens kümmern. Damit hat die Idee der Inte­ grität zwar als zentrale »Hinsicht« der Moral zu gelten, aber nicht schon als ein 8 | In Kapitel 1 war diesbezüglich bereits von einem »minimalistischen« Begründungsansatz die Rede, wie man ihn heute z.B. bei Judith Shklar, Richard Rorty und Avishai Margalit findet. 9 | Vgl. Seel (1996a).

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von dieser bereitzustellendes Verteilungsgut, auf das Personen insgesamt einen legitimen Anspruch anzumelden hätten.10 Des Weiteren wird sich folgende Unterscheidung als unerlässlich erweisen: Als »Verletzungen« der Integrität haben, ganz allgemein, all jene Angriffe auf eine Person zu gelten, durch die deren Bemühen um einen insgesamt intak­ ten Lebensvollzug zumindest zeitweise erschwert oder blockiert wird. Dage­ gen sind als spezifisch »unmoralische« Verletzungen allein solche Eingriffe in den ethisch-existenziellen Lebenszusammenhang einer Person zu werten, die sich ihr gegenüber nicht mit hinreichend guten Gründen rechtfertigen las­ sen.11 Die Notwendigkeit dieser Unterscheidung mag zwar nicht unmittelbar einsichtig sein, doch muss hier auf den Umstand aufmerksam gemacht wer­ den, dass nicht jede Verletzung der Integrität einer Person zwangsläufig als unmoralisch einzustufen ist. In Fällen medizinisch-chirurgischer Eingriffe etwa oder auch im Rahmen des Strafvollzuges kommt es auf je verschiedene Weise zu Verletzungen der Integrität der von diesen Handlungen Betroffenen. Dennoch mögen derartige Verletzungen im konkreten Einzelfall moralisch zu rechtfertigen sein. Auch wenn die Überzeugungskraft der dabei angeführten Argumente stets von den jeweiligen Umständen und auch von der konkreten Sittlichkeit der jeweiligen Gesellschaft abhängen wird, ist die Annahme, dass es kein unbedingtes Recht auf Schutz der Integrität geben kann, kaum von der Hand zu weisen. Diese konzeptionelle Einschränkung bedeutet lediglich, dass es Fälle geben mag  – wie eben im Rahmen einer medizinischen Operation, wo es schlicht notwendig ist, die Integrität des Patienten zeitweilig anzutasten, nur um sie mittelfristig wiederherzustellen  –, in denen eine Person ihr morali­ sches Recht auf Schutz der Integrität partiell abgibt. Vollständig darf ihr dieses Recht natürlich niemals abgesprochen werden.12 Zudem sollte ausdrücklich das Missverständnis vermieden werden, dass nur wahrhaft integre Personen oder auch nur Personen im Allgemeinen einen Anspruch auf Schutz ihrer In­ tegrität hätten. Denkt man an Menschen, von denen die Bedingungen integren Personseins, ja, nicht einmal die Kriterien des Personseins vollständig erfüllt werden, z.B. an Kinder, Schwerbehinderte oder auch Altersdemente, so haben selbstredend auch sie ein Recht auf Schutz der sozialen Bedingungen integren Lebens, auch wenn diese Menschen personale Integrität in einem umfassen­ den Sinne »noch nicht«, »nicht vollständig« oder auch »nicht mehr« vorzuwei­

10 | Wir werden später, in den Kapiteln 5 und 6, auf diesen Punkt zurückkommen. 11 | Vgl. Wingert (1993), bes. S. 173. 12 | Siehe dazu und für das Folgende auch Rinderle (1994).

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sen haben. Moralischer Schutz zielt lediglich auf Freiräume zu einem Leben in Integrität – ganz gleich, ob diese faktisch genutzt werden können oder nicht.13 Demnach sind unmoralische Angriffe auf die Integrität einer Person durch eine nicht weiter zu rechtfertigende Rücksichtslosigkeit gegenüber den ethisch-existenziellen Bedürfnissen der Betroffenen charakterisiert. Sie werden sich als eine Verschlechterung der Aussichten, das eigene Leben »be­ jahen« zu können, bemerkbar machen. Wenn man es genau nimmt, müsste man allerdings sagen, dass sie sich als eine solche Verschlechterung bemerk­ bar machen können, denn es gilt: Der Versuch ist straf bar. Wer z.B. einen an­ deren Menschen belügt, ohne dass dieser sich von der Lüge ernsthaft tangiert fühlt, handelt unmoralisch, auch wenn dabei kein ernsthafter Schaden eintritt. Ein unmoralischer »Angriff« auf die Integrität einer Person liegt bereits dort vor, wo ein solcher Schaden gewollt ist oder doch zumindest in Kauf genom­ men wird. Zu einer moralischen »Verletzung« kommt es hingegen erst dann, wenn dieser Schaden tatsächlich eintritt. Das moralische Regelwerk der Ge­ meinschaft soll dieser Unterscheidung gerecht werden, indem es sowohl in präventiver als auch in reparativer Hinsicht auf beides zielt: Mit Blick auf po­ tenzielle Täter sind solche unmoralischen Angriffe zu verhindern, zu ahnden und zu sanktionieren, mit Blick auf deren potenzielle Opfer müssen hingegen Verletzungen versorgt, kompensiert oder gar wiedergutgemacht werden. Fassen wir die bisherigen Überlegungen zusammen, so zielt die aus phi­ losophischer Sicht gemeinhin mit der Moral assoziierte Idee der »Unpartei­ lichkeit« auf eine anthropologisch tief und unterschiedslos ansetzende Gleich­ stellung aller versehrbaren Menschen durch ein »gleiches Recht auf Schutz der Integrität unvertretbarer Einzelner«.14 Demnach gibt das Bedürfnis des Menschen nach einem Leben in Integrität den materialen Bezugspunkt mora­ lischen Handelns ab, und entsprechend hätte ein komplexer Integritätsbegriff als Kernstück einer Moraltheorie der Unparteilichkeit zu fungieren. Die damit angedeutete moraltheoretische Begründungsfigur würde wie folgt lauten: In­ sofern jedem Menschen ein Bedürfnis nach Integrität unterstellt werden kann, ist zugleich auch ein allgemeines Interesse an deren sozialen Ermöglichungsbe­ dingungen zu konstatieren. Weil sich dieses Interesse jedoch allein in Wech­ selseitigkeit wird realisieren lassen, da jeder die für seine Integrität erforder­ lichen Sozialleistungen – z.B. den Verzicht auf verletzende Übergriffe – nur 13 | Die Integrität eines Menschen kann paradoxerweise selbst dann noch verletzt werden, wenn sie (momentan) gar nicht vorhanden ist, und zwar dadurch, dass sich die bloßen Möglichkeiten zu einem integren Leben verschlechtern. Wäre dem nicht so, würde man einem Menschen ohne Integrität beliebig schaden können, ohne sich dabei eines Vergehens schuldig zu machen – was zweifellos eine absurde Konsequenz wäre. Mehr dazu in Kapitel 5. 14 | Wingert (1993), S. 253.

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unter der Bedingung entsprechender Gegenleistungen wird erwarten können, lässt sich ein universelles und wechselseitiges Recht auf Schutz eben dieser sozialen Ermöglichungsbedingungen integren Lebens konstatieren.15 Wenn hier allerdings behauptet werden soll, personale Integrität sei als das Worumwillen der Moral aufzufassen, so ist damit eine hitzige und traditionsrei­ che philosophische Debatte berührt, die sich um die Frage rankt, wem im Kon­ fliktfall der »Vorrang« einzuräumen sei: der Moral oder dem guten Leben.16 Zu Beginn von Kapitel 2 ist darauf hingewiesen worden, dass sich der Ausbruch der im Anschluss an Williams geführten Integritätsdebatte einer Unzufrie­ denheit mit der damaligen Moralphilosophie verdankte, die rigoros zu fordern schien, dass im Zweifelsfall immer moralische Unparteilichkeitserwägungen über partikulare Bedürfnisse und Interessen zu obsiegen hätten. Dabei setzte die Kritik an diesem moraltheoretischen Rigorismus auf die nahezu alltägli­ che und wohl auch verallgemeinerbare Erfahrung, dass die Einhaltung mora­ lischer Gebote nicht selten auf Kosten individuellen Glücks geht, während das Streben nach einem subjektiv gelingenden Leben manchmal dazu verleitet, sich über die Moral hinwegzusetzen.17 Wenn man nun, wie das in dieser Ar­ beit geschieht, personale Integrität als eine der zentralen Bedingungen und Vollzugsweisen guten Lebens auffasst, so ist die sogenannte Vorrangfrage zwei­ fellos auch hier von Interesse. Nicht nur die Moralphilosophie, auch eine The­ orie der Integrität ist mit der Notwendigkeit konfrontiert, angeben zu müssen, wem im Konflikt das Primat einzuräumen ist: Wie verträgt sich der Wunsch, ein möglichst integres Leben zu führen, mit dem Wissen, dass uns andere Menschen bei dem Versuch, jeweils ihre Integrität zu bewahren, in die Quere kommen können? Besitzt das Streben nach Integrität Vorrang vor moralischen Normen oder verhält es sich gerade umgekehrt? Ja, lässt sich dieser Streit am Ende überhaupt eindeutig entscheiden? Will man diese Fragen klären, dann wird man eindeutiger, als es bislang in der besagten Diskussion geschehen ist, mindestens vier Aspekte jener phi­ losophischen Beziehungskrise von Moral und gutem Leben auseinanderhalten müssen: Erstens muss der Moral solange ein geeigneter Bezugspunkt fehlen, wie das Wohlergehen Einzelner nicht als eben jene Hinsicht erkannt wird, die es moralisch zu protegieren gilt. Demnach geht das integre und gute Le­ ben »vor« in dem Sinne, dass die Idee moralischer Gerechtigkeit genau hier ihren materialen Kern entdeckt.18 Zu bedenken ist zweitens, dass es aus der ethisch-existenziellen Sicht der vielen unvertretbaren Einzelnen letztlich diesen 15 | Vgl. Höffe (2002), Kap. 3.3.1. 16 | Dazu auch Pollmann (1999). 17 | Für eine kurze Philosophiegeschichte dieses »skandalösen Verhältnisses« siehe Seel (1995), Kap. 1. 18 | Vgl. Spaemann (1989); Nussbaum (1999); m.E. auch Seel (1995).

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selbst obliegt, inwieweit sie in ihre Selbstverständigungsprozesse spezifisch moralische Bedenken einfließen lassen. Da Personen primär ein integres bzw. gutes Leben führen wollen, erweist sich, wie oben bereits gezeigt, die ihnen gebotene Rücksicht auf andere Personen als nur eine, wenn auch zentrale Selbstverpflichtung neben anderen.19 Mag es in diesen beiden Hinsichten so scheinen, als sei die Idee der Moral vom Streben nach Integrität abkünftig, lässt sich aus den folgenden beiden Gründen genau das Gegenteil behaupten: Meint man drittens mit Moral eine Art Schutzvorrichtung, mit deren Hilfe die sozialen Voraussetzungen personaler Integrität überhaupt erst geschaf­ fen und zudem sichergestellt werden, kommt ihr im Alltag offenkundig eine wichtige präventive Kraft und damit eben auch Priorität zu. Das Gelingen ei­ nes bestimmten Lebens bedarf des Beistands, der Schonung und daher der Aufrechterhaltung einer durch Normen geregelten Gemeinschaft.20 Daraus er­ gibt sich viertens direkt auch die geltungstheoretische Forderung, dass sich der Standpunkt der Moral, wenn dieser der unparteilichen Berücksichtigung aller Betroffenen verschrieben sein soll, auch dann noch als begründet erweisen muss, wenn eine oder mehrere Personen dessen Allgemeingültigkeit gar nicht anerkennen wollen. Die Verbindlichkeit moralischer Rechte und Pflichten hat sich unabhängig von den tatsächlichen Motivationen Einzelner und deren kon­ kreten Vorstellungen von einem guten Leben zu erweisen. Auch insofern muss die Moral dem Letzteren also übergeordnet sein.21 Lässt man die Hoffnung fahren, dass Unterscheidungen dieser Art auf Dauer zu vertuschen sind 22, so wird man der Einsicht zu folgen haben, dass erstens »materiale« und zweitens »ethisch-existenzielle« Gründe für den Vor­ rang des Guten und der Integrität plädieren, während drittens »präventive« und viertens »geltungstheoretische« Argumente für das Primat der Moral sprechen. Daraus ergäbe sich die zunächst vermutlich paradox anmutende These von einem wechselseitigen Vorrang. Wie aber sollte diese These sich hal­ ten lassen? Bedenken wir zunächst, dass es uns im Zusammenhang der In­ tegritätsproblematik nicht primär um eine hinreichende Rechtfertigung des moralischen Standpunktes ging, sondern lediglich um die Identifizierung eines moralischen »Minimums«, d.h. um die Frage, warum und inwieweit in­ tegre Personen den moralischen Standpunkt einzunehmen bereit sein müs­ sen. Damit gerät die Moral nicht als Begründungsproblem, sondern in erster Linie als Motivationsproblem in den Blick: »Was bringt mich im konkreten Fall

19 | Vgl. James Griffin (1996): Value Judgement, New York: Oxford UP; Joas 1997. 20 | So die Ansicht z.B. von Rawls (1992b); Taylor (1993). 21 | Dazu Habermas (1991); Forst (1999). 22 | Manche Autorinnen und Autoren neigen dazu, das gute Leben mit der Moral zwanghaft versöhnen zu wollen. Siehe z.B. MacIntyre (1990); Korsgaard (1996).

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dazu, moralisch richtig zu handeln?«, lautet die entscheidende Frage.23 Zu­ nächst wäre an dieser Stelle noch einmal an die bereits mehrfach umrissene Einsicht zu erinnern, dass das Streben nach Integrität nicht selten anderen Gesetzen folgt als denen der Moral, auch wenn die prinzipielle Bereitschaft zur Reflexion moralischer Sachverhalte notwendig dazugehören mag. Wäh­ rend jedoch personale Integrität eine zumindest sporadische Nichtbeachtung gesellschaftlicher Normen nicht von vornherein ausschließt, sind wir bei der Moral gerade um einen friedenstiftenden Ausgleich divergierender Vorstellun­ gen vom guten Leben bemüht, sodass Abweichungen von geltenden Normen gar nicht zugelassen werden können. Insofern, so müssen wir feststellen, ist der präferenzielle Standpunkt der Integrität nicht schon identisch mit der per­ sonenübergreifenden Prüfinstanz des moralisch Richtigen. Zu einem Konflikt zwischen dem Wunsch nach einem Leben in Integrität und den Forderungen der Moral kann es nun allein deshalb kommen, weil die nach Integrität strebende Person das jeweilige Eigenrecht beider dieser Standpunkte – das Recht auf ein eigenes Leben, aber auch das Recht der Mo­ ral – implizit immer schon anerkennt, was zugleich bedeutet, dass sie jeweils auch die vier soeben benannten Vorrangthesen akzeptieren kann. Wie ist das möglich? Aufgrund der intersubjektiven Konstituiertheit menschlicher Sub­ jektivität und der folglich perspektivisch dezentrierten Struktur jeder reflek­ tierten ethisch-existenziellen Selbstbeziehung vermag der Mensch beide Ein­ stellungen simultan einzunehmen: die Haltung einer an seinem individuellen Wohlergehen interessierten ersten Person, aus der heraus der hier gemeinte Konflikt als ein präferenzieller zu beschreiben ist, sowie die hypothetisch zu beziehende Warte einer beliebigen zweiten Person, von der aus gesehen es sich um eine moralisch zu entscheidende Angelegenheit handelt. Aus eben diesem Grund lässt sich die naheliegende Frage, ob ein integrer Mensch ein mora­ lischer »Trittbrettfahrer«, ein »rationaler Egoist« oder gar eine unmoralische Bestie sein kann, sinnvoll allein im Rückgriff auf den Rekurs und die Annahme einer von vornherein dialogischen Grundstruktur menschlicher Subjektivität klären. Mit der frühkindlich verinnerlichten Perspektive erster enger Bezugs­ personen ist die Prüfinstanz des moralischen Richtigen, d.h. das Gebot der Rücksichtnahme auf andere Menschen, immer schon gesetzt; wobei sich diese moralische Prüfinstanz, wie schon George H. Mead in seinen bahnbrechen­ den Studien zur Ich-Identitätsentwicklung hat zeigen können, mit wachsen­ dem Abstand von den ersten Bezugspersonen und dem Auftreten zahlreicher

23 | Zu den Unterschieden siehe u.a. die Diskussionen in: Kurt Bayertz (Hg.) (2002): Warum moralisch sein?, Stuttgart: UTB.

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weiterer Personen allmählich zur Perspektive des generalisierten Anderen und eben damit zum Standpunkt der Unparteilichkeit erweitert.24 Solange Personen sozialisierte Wesen sind, kann es ein völliges »Außerhalb« der Moral schlichtweg nicht geben; nimmt man Fälle pathologischer Amoralität einmal aus.25 Die Stimme des Gewissens, d.h. die Stimme des generalisierten Anderen, ist immer schon hörbar. Allerdings kann die Prüfinstanz des mora­ lisch Richtigen an einem lauten Sprechen gehindert werden. Demnach wird sich ein ethisch-existenzielles Selbstverhältnis allein dann in einem starken Sinn als unmoralisch erweisen, wenn der innere Dialogpartner wiederholt und dauerhaft unterdrückt wird, etwa nach Art einer Selbst­täuschung, so als sei dieser Dialog­ partner gar nicht vorhanden.26 Der damit zwar nicht vollständig, aber gleich­ wohl nachhaltig unmoralische Mensch – erinnert sei an Eichmann, der von einer »Abspaltung« seines Wissens um die grauenhaften Konsequenzen seines Han­ delns sprach – verstrickt sich aufgrund der dialogischen Grundstruktur seines Selbstverhältnisses, mehr oder weniger bewusst, in Widersprüche, denn er ist gezwungen, die Stimme seines moralischen Gewissens dauerhaft zu überhören. Ein solcher Selbstbetrug lässt sich in jenen vier Hinsichten unterscheiden, in denen soeben ein wechselseitiger Vorrang von Moral und gutem Leben behaup­ tet wurde. So wird erkennbar, warum eine integre Person unmöglich eine im starken, nachhaltigen Sinn unmoralische Person sein kann: Wer erstens nicht hinreichend zu erkennen vermag, dass die Schaffung der sozialen Bedingungen integren Lebens die Pointe der Moral ausmacht, wird nicht einsehen können, warum er ihr überhaupt folgen soll. Wenn ein Mensch zweitens den Sinn der Moral zwar begreift, aber dennoch dauerhaft unmoralisch handelt, wird er jene früh verinnerlichte existenzielle Selbstverpflichtung kompromittieren, der zu­ folge er immer auch, zumindest in Maßen, als ein moralischer Mensch gelten möchte. Wer drittens partout nicht anerkennen will, dass die Moral den Schutz guten und integren Lebens gewährleisten soll, wird durch nachhaltig unmorali­ sches Handeln zu einer Erosion sozialer Lebenszusammenhänge beitragen, die der integre Mensch nicht wollen kann. Wer schließlich viertens den Umstand übersieht oder dauerhaft missachtet, dass die Gebote der Moral selbst dann Gel­ tung besitzen, wenn er ihnen momentan nicht folgt  – was gelegentlich dazu führen wird, dass er sein Handeln rechtfertigen muss –, wird verlernen, was es überhaupt heißt, den eigenen Lebensvollzug vor anderen Personen mit guten Gründen zu verteidigen. Zunächst ist damit allerdings nur geklärt, dass personale Integrität weder mit einem vollkommen amoralischen noch mit einem nachhaltig unmorali­ 24 | George H. Mead (1968): Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 25 | Die klinische Psychopathologie spricht hier vom »Soziopathen«. 26 | Vgl. Maeve Cooke (1994): »Postkonventionelle Selbstverwirklichung«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1/1994.

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schen Leben kompatibel ist. Doch stand dies beides hier gar nicht ernsthaft zur Debatte. Bereits in Kapitel 2 war deutlich geworden, dass konsequente Tritt­ brettfahrer, rationale Egoisten und »Bestien« keine Integrität besitzen können, zumindest dann nicht, wenn sie das oben spezifizierte moralische Minimum vermissen lassen. Im Übrigen galt dort Ähnliches auch für den Counterpart des Amoralisten: Personen, die in völliger moralischer und sittlicher Konformität leben, werden ebenfalls keine Integrität vorweisen können, da ihnen spe­ zifisch eigene Selbstverpflichtungen und Wertbindungen gänzlich abgehen. Im Anschluss an die soeben entwickelte These eines wechselseitigen Vorrangs von Moral und integrem Leben müssen wir an dieser Stelle erneut einsehen, dass der integre Mensch keineswegs zu einer kategorischen, sondern allenfalls zu einer weitgehenden Befolgung moralischer Normen verpflichtet ist. Ausnah­ men bleiben möglich, solange sich diese hinreichend gut begründen lassen. Entsprechend muss mit Blick auf die Integritätsproblematik aber auch das mo­ ralphilosophische Grundproblem noch einmal genauer spezifiziert werden. Die entscheidende Frage lautet nicht: »Warum überhaupt moralisch richtig handeln?« Denn wer es rein gar nicht tut, gehört in die Klinik oder ins Ge­ fängnis. Der moralphilosophische heikle Punkt ist: »Warum immer moralisch richtig handeln?« Der nach Integrität strebende Mensch wird von vornherein verneinen müs­ sen, dass ihm eine unbedingte Motivation zur Moral abverlangt werden kann. Wenn sein legitimes Bedürfnis nach personaler Integrität nicht schon a priori kompromittiert werden soll, muss entsprechend auch der Versuch einer Re­ konstruktion des moralischen Standpunktes die Einsicht integrieren können, dass Moral und Integrität weder deckungsgleich sind noch jemals sein sollen. Daraus ergibt sich eine Neubeschreibung der bereits in Kapitel 2 angedeuteten Spannung zwischen präferenziellen und moralischen Erwägungen: Die For­ derung, dass eine nach Integrität strebende Person die Interessen anderer in ihre Überlegungen einzubeziehen habe, ist moralischer Natur. Die Frage aber, inwieweit sie diese anderen in konkreten Handlungssituationen tatsächlich be­ rücksichtigen will, besitzt präferenziellen Charakter. Da jede Person jeweils beide dieser Einstellungen wahlweise einzunehmen vermag, lässt sie sich bei jedem dieser Perspektivenwechsel auf Gründe prinzipiell verschiedener Art ein, deren materiale, ethisch-existenzielle, präventive und geltungstheoreti­ sche Implikationen sich zwar auseinanderhalten, aber nicht schon wechselsei­ tig widerlegen lassen. Im Konfliktfall können präferenzielle und moralische Gründe zwar gegeneinander abgewogen werden, letztlich bedarf es jedoch ei­ ner Entscheidung zwischen ihnen. Das ist die Grundeinsicht einer »agonalen« Theorie der Integrität, die den Wettstreit zwischen den genannten Orientie­ rungen nicht schon von vornherein entscheiden will.27 27 | Ich lehne mich hier an Seel (1995) an. Vgl. aber auch Joas (1997), Kap. 10.

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Weder darf also die Moral bereits auf theoretischer Ebene den Sieg über die Integrität davontragen, noch sollte umgekehrt die Integrität gegenüber der Mo­ ral als prinzipiell vorrangig eingestuft werden.28 Wir haben hier vielmehr von einem konfliktreichen, manchmal aber auch fruchtbaren Wechselverhältnis auszugehen: Die Moral der Unparteilichkeit setzt der Integrität Grenzen, doch vermag letztere die zuerst genannte in ihrer rigoristischen Grundhaltung zu korrigieren. An dieser Stelle wird vielleicht der Vorwurf laut werden, dass eine Person, die derart zwischen präferenziellen und moralischen Erwägungen pendelt, am Ende eine eher »desintegrierte« Person sein muss. Dieser Vorwurf ist dann berechtigt, wenn die betreffende Person nach dem lediglich schwach evaluierenden Motto lebt: »Heute hier, morgen dort!« Wer sein Leben jedoch an starken Wertungen ausrichtet, der wird sich solche Entscheidungen nicht leicht machen. Bleibt die Person sich dabei treu und, das ist wichtig, der je­ weils unterlegenen Entscheidungsoptionen eingedenk, dann kann ein derarti­ ges Pendeln durchaus mit einem Leben in Integrität vereinbar sein. Personale Integrität ist stets auch als das Vermögen zu kennzeichnen, zu sich und seinen Präferenzen auf moralische Distanz zu gehen, um sich mit den Augen anderer als eine Person unter diesen anderen zu sehen. Das integre Personsein beruht demnach auf einem regelmäßig überprüften intrapersonalen Selbstverhältnis. Anhand dieser Überlegungen lässt sich dann auch der bereits in Kapitel 2 angedeutete Widerspruch aufklären, dass die Integritätsaspekte Selbsttreue und Rechtschaffenheit zugleich abhängig und unabhängig voneinander sind. Rechtschaffenheit ist insofern begrifflich in Selbsttreue impliziert, als der integre Mensch den Standpunkt moralischer und sittlicher Rücksichtnahme immer schon einnimmt. Rechtschaffenheit ist aber insofern von Selbsttreue be­ grifflich unabhängig, als dieser dem moralischen bzw. sittlichen Standpunkt nicht immer schon folgt. Die nach Integrität strebende Person weiß oder spürt, dass ihre tief verankerten und parteiischen Selbstverpflichtungen integritäts­ stiftend sind. Sie weiß oder spürt zugleich, dass die spezifisch moralischen Verpflichtungen, die an sie herangetragen werden, auf die Gewährleistung eben jener sozialen Bedingungen zielen, die den Besitz integritätsstiftender Selbstverpflichtungen auch für andere möglich machen sollen. Nicht immer, aber eben manchmal muss sie sich zwischen diesen beiden Orientierungen entscheiden. In konzeptioneller Hinsicht verschärft sich das Problem, wie im Folgenden deutlich werden soll, wenn wir bedenken, dass der Ausdruck »für andere« sowohl einige als auch alle anderen meinen kann.

28 | Es mag durchaus Momente im Leben geben, in denen man sich gezwungen sieht, der eigenen Integrität Schaden zuzufügen, weil man einsieht, dass die Moral es von einem verlangt. Ein Beispiel: Eine Frau mittleren Alters »opfert« Jahre ihres Lebens, um den schwer kranken, kaum geliebten Vater zu pflegen.

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4.2 A nerkennungsbedürfnis und A nerkennungsverlust : G eschät z t werden wollen Wenden wir uns zunächst noch einmal der bereits zu Beginn von Kapitel 2 diagnostizierten Mehrdeutigkeit des Moralbegriffs zu. In dem soeben durch­ schrittenen Abschnitt ist primär die Frage verhandelt worden, wie sich das ethisch-existenzielle Integritätsstreben mit der heute vor allem im Anschluss an Kant vorgetragenen Überzeugung verträgt, dass moralische Fragen auf eine unparteiliche Berücksichtung der Interessen beliebiger anderer zielen. Dar­ aus ergab sich zunächst das für die Integrität zentrale Spannungsverhältnis zwischen »präferenziellen« Selbstverpflichtungen und »moralischen« Ver­ pflichtungen gegenüber der Allgemeinheit. In der jüngeren Vergangenheit ist jedoch im Rahmen einer inzwischen weitverzweigten Kritik an der zeitgenös­ sischen Moralphilosophie wiederholt der Verdacht geäußert worden, dass die Annahme, der Mensch wisse, was Moral sei, weil er sich auf den neutralen Standpunkt der Unparteilichkeit zu stellen vermag, revidiert werden müsse. Feministisch inspirierte Debatten um eine Moralphilosophie der »Fürsorge«29, aber auch das wieder erwachte Interesse an einer Theorie der »Liebe«30 haben deutlich werden lassen, dass ein Großteil ganz alltäglicher moralischer Intui­ tionen und Erfahrungen gar nicht angemessen vom Standpunkt des view from nowhere31 zu erfassen ist. So gilt unser fürsorglicher oder eben auch liebender Blick schwerlich irgendeiner abstrakten Allgemeinheit, sondern stets den indi­ viduellen Eigenarten jeweils enger Bezugspersonen, denen wir in bestimmten Hinsichten unseres Lebens jederzeit den Vorzug vor anderen geben würden. Ja, im Rahmen derart affektiver moralischer Bindungen muss sich der unpar­ teiische Standpunkt einer Moral der »Gerechtigkeit« nur zu oft als gänzlich unangebracht erweisen.32 Da intersubjektive Bindungen, in denen partikulare Neigungen und Ge­ fühle im Spiel sind, nicht von vornherein in den Bereich des Außermorali­ schen verbannt werden können, muss entgegen der kantianischen Tendenz, moralische Fragen immer schon als Probleme neigungsfreier Unparteilichkeit zu diskutieren, die moralische Perspektive selbst noch einmal aufgefächert werden. Wir haben zu unterscheiden zwischen unparteiischen moralischen Verpflichtungen, wie sie z.B. in Fragen der Gerechtigkeit, des Rechts oder des moralischen Respekts zur Debatte stehen, und genuin parteiischen moralischen 29 | Dazu exemplarisch die Beiträge in: Herta Nagl-Docekal/Herlinde Pauer-Studer (Hg.) (1993): Jenseits der Geschlechtermoral, Frankfurt a.M.: Fischer. 30 | Siehe z.B. Robert E. Lamb (Hg.) (1997): Love Analyzed, Boulder: Westview. 31 | So die berühmte Formulierung bei Thomas Nagel (1992): Der Blick von Nirgendwo, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 32 | Honneth (2000c), bes. Abschnitt II.

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Verpflichtungen, wie sie etwa in Fürsorge- und Liebesbeziehungen, aber auch in Freundschaftsverhältnissen oder im Patriotismus zum Tragen kommen. Dadurch gestaltet sich der Konflikt zwischen präferenziellen und moralischen Erwägungen aus Sicht der Integrität freilich noch etwas komplizierter, da nun­ mehr auch noch unterschiedliche Arten von moralischen Forderungen mit­ einander konkurrieren. Betrachten wir zunächst ein Beispiel und erinnern uns dazu an jene im Anschluss an Williams viel diskutierte Geschichte eines Schiffsunglücks. Nehmen wir Folgendes an: Der Schiff brüchige, der seine Frau und andere Passagiere über Bord gehen sieht, spielt für einen kurzen Mo­ ment mit dem Gedanken, dass er erleichtert oder gar froh wäre, wenn ihm sei­ ne Ehefrau abhanden käme (präferenzielle Erwägung). Selbstredend reißt er sich umgehend wieder zusammen, und ihm wird klar, dass er sie zu retten hat, und zwar als Erste, eben weil sie seine Frau ist (parteiische moralische Erwä­ gung). Sodann mag ihm aber in den Sinn kommen, und er zögert, dass ja auch die anderen Passagiere ein Recht, und zwar ein gleiches Recht, auf Rettung haben (unparteiische moralische Erwägung). Wie würden Sie entscheiden? In den zweifellos meisten Fällen dürfte es ohne jedes weitere Zögern zu einer Rettung des Ehepartners kommen. Für gewöhnlich werden Fälle dieser Art dann so interpretiert, dass partikulare Bindungen im Sinne ethischer Präferenzen den Vorzug erhalten. Auch eine Umdeutung des Problems in eine letzt­ lich dann doch unparteiische Erwägung, nach der ein jeder das gleiche Recht habe, seinen Ehepartner als erstes zu retten, wäre möglich. Beide Deutungen konzipieren den Konflikt als eine Entscheidung zwischen präferenziellen und moralischen Erwägungen. Dagegen ist es jedoch angemessener, von einem Streit innerhalb der Moral zu sprechen: Hier tragen parteiische über unpartei­ ische moralische Erwägungen den Sieg davon. Die Moral partei­ischer, parti­ kularer Bindungen (»Ich muss meine Frau natürlich als Erstes retten«) muss sich demnach weder mit den Geboten der Unparteilichkeit (»Alle haben das gleiche Recht auf Rettung«) noch – was im Zusammenhang der Integritätspro­ blematik ebenso wichtig ist – mit den eigenen momentanen Präferenzen (»Ich würde meine Frau ganz gerne loswerden«) decken. Damit sind wir innerhalb der moralischen Perspektive mit einem »Anderen der Gerechtigkeit« konfron­ tiert, dessen Berücksichtigung zu einer spannungsreichen Wechselbeziehung zwischen moralischen Ansprüchen der »Gleichheit« einerseits und der »Dif­ ferenz« anderseits führt: Ein erweiterter moralischer Standpunkt hätte auf der Einsicht aufzubauen, dass Menschen nicht nur als Gleiche unter Gleichen, sondern immer auch als Besondere moralische Rücksicht und Wertschätzung erfahren wollen, ja, müssen, um ein insgesamt gelingendes Leben führen zu können.33

33 | Honneth (2000c)

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In zahlreichen sozialen Konstellationen, z.B. in Familienbeziehungen, Rechtsordnungen oder auch Solidargemeinschaften, sind moralische An­ sprüche auf Gleichbehandlung mit ebenso moralischen Ansprüchen auf Ungleichbehandlung in Einklang zu bringen.34 Die nach Integrität streben­ de Person dürfte Erfahrungen, in denen auch sie zwischen parteiischen und unpartei­ischen moralischen Überlegungen hin und her gerissen ist, gut ken­ nen. Ihre Mitmenschen tragen stets beides an sie heran: die Forderung nach fairer Gleichbehandlung – man nehme das Beispiel einer Arbeitgeberin, die angesichts einer zu vergebenden Stelle eine gerechte Entscheidung zwischen unterschiedlichen Bewerberinnen zu treffen hat –, aber auch das Ansinnen be­ sonderen Bevorzugung – man bedenke den Fall, dass eine der Bewerberinnen die Tochter einer guten Freundin ist. Spätestens angesichts von Konfliktsitu­ ationen dieser Art verwandelt sich die zunächst allgemeine Frage nach dem Standpunkt der Moral in die spezifischere Erwägung, was genau Personen an anderen zu respektieren oder auch wertzuschätzen haben, wenn sie sich die­ sen gegenüber moralisch korrekt verhalten wollen. Worauf genau zielen Akte der Fairness, des Respekts und der Gleichbehandlung einerseits, der Fürsorge, Liebe, Freundschaft und des Patriotismus andererseits? Und inwiefern sind Personen, auch die integren, darauf angewiesen, dass sie in bestimmten Hin­ sichten des Lebens gleich, in anderen hingegen ungleich behandeln und be­ handelt werden? Damit sind wir bei Fragen einer Philosophie der Anerkennung angelangt.35 Deren traditionsreiche Prämisse lautet bekanntlich wie folgt: Menschliche Subjekte können zu einem angemessenen Bewusstsein ihrer selbst allein in Auseinandersetzung mit konkreten anderen Subjekten gelangen, indem sie lernen, sich in deren reaktiven Blicken, Gesten, Äußerungen und Handlungen zugleich zu erkennen und anzuerkennen. Wer einen anderen Menschen aner­ kennt, gibt diesem zu verstehen, dass er ihn nicht bloß zur Kenntnis nimmt, sondern auch respektiert. Der Tendenz nach zielt intersubjektive Anerken­ nung auf Reziprozität. Sie ist allein dann vollwertig gegeben, wenn die jeweils anerkannte Person die jeweils anerkennende Person ebenfalls für hinreichend anerkennungswürdig hält. Damit ist ein interaktionistischer, mal Freiheit verbürgender, mal Freiheit bedrohender Abhängigkeitszusammenhang von kognitiven Wahrnehmungen und normativen Wertungen behauptet, aus de­ nen Subjekte, wie es im Rekurs hieß, gleichursprünglich hervorgehen. Da der Prozess wechselseitiger Individuierung und Vergesellschaftung in ein verwi­ ckeltes Geflecht unterschiedlichster Interaktionsbeziehungen eingelassen ist, 34 | Dazu Wingert (1993). 35 | Zum derzeitigen Stand der Debatte: Mattias Iser (2004): »Anerkennung«, in: Gerhard Göhler/Mattias Iser/Ina Kerner (Hg.) (2004): Politische Theorie, Wiesbaden: VS/ UTB.

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die nicht immer nur intakt, sondern oftmals auch gestört sind, kann, wie es in der berühmten Formulierung Hegels heißt, von einem »Kampf um Aner­ kennung« die Rede sein, dessen sowohl kognitive als auch normative Implika­ tionen im Rahmen von Ethik, Moralphilosophie, Politischer Philosophie und Sozialphilosophie heute auf sehr unterschiedliche Weise fruchtbar gemacht werden.36 Mit Blick auf die Integritätsproblematik wäre zunächst mit der überaus grundsätzlichen Frage zu beginnen, was genau anerkannt werden soll, wenn Menschen um Anerkennung ringen. Im Zuge des sozialpathognostischen Ka­ pitels 1 war von der derzeit profiliertesten Theorie der Anerkennung bereits die Rede, und zwar von der Sozialphilosophie Axel Honneths, der im Anschluss an den jungen Hegel drei Stufen von Anerkennung unterschieden hat, aus denen wir entsprechende Hinsichten der Anerkennung herauslesen können.37 Von der in ontogenetischer Hinsicht basalsten Form der Anerkennung ist eben bereits die Rede gewesen. Gemeint ist die Liebe oder auch Fürsorge, die in frühkindlichen Primärbeziehungen und später auch in ent­w ickelten Partnerund Freundschaften zum Tragen kommt. Die emotionale Zuwendung, die einem Menschen in Liebes- und Fürsorgebeziehungen zufließt, ist vor allem leiblich vermittelt. Es geht um den wechselseitigen Austausch von Zärtlichkei­ ten und Gefühlen sowie um Akte einer insofern besonderen Verbindlichkeit, als diese Handlungen auf die Einzigartigkeit der ethisch-existenziellen Be­ dürfnisse der jeweils geliebten Person zugeschnitten sind. Im intimen Nahfeld einer solchen, weithin bedingungslosen Zuwendung, lernt der Mensch, sich derart positiv auf sich selbst zurückzubeziehen, dass es zur Herausbildung und Bewahrung existenziellen Selbstvertrauens kommt. Diese »ontologische Sicherheit«38 kann durch gravierende Erfahrungen der Missachtung, in denen die seelische und leibliche Unversehrtheit eines Menschen auf dem Spiel steht, tiefgreifend verletzt oder gar zerstört werden; z.B. im Zuge von Missbrauch, Misshandlung oder Vergewaltigung. Auch die zweite Grundform der Anerkennung ist oben bereits angerissen worden. Es ist der in moralischen Unparteilichkeitserwägungen zum Aus­ druck kommende und in den Strukturen des modernen Rechts verbürgte An­ spruch eines jeden Menschen auf »Achtung«. Gegenüber Liebe und Fürsorge, die auf die Anerkennung von Differenz zielen, betont der in rechtlicher und moralischer Hinsicht wechselseitig zu zollende Respekt, der mit Achtung ein­

36 | Dazu mehr in: Arnd Pollmann (2008): »Anerkennung«, in: Stefan Gosepath/Wilfried Hinsch/Beate Rössler (Hg.) (2008): Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Berlin u. New York: de Gruyter. 37 | Zum Folgenden siehe Honneth (1992). 38 | Der Ausdruck stammt von Laing (1972).

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hergeht, den Aspekt menschlicher Gleichheit.39 Nicht dass Menschen gleich sind, soll hier behauptet werden, sondern lediglich, dass sie gleiche Rechte ha­ ben. Und indem der Mensch in Moral- und Rechtssysteme hineinwächst, die auf diesem reziproken Achtungsanspruch auf bauen, lernt er mehr und mehr, sich im Lichte universeller Normen als ein prinzipiell gleichberechtigtes Mit­ glied seiner Gemeinschaft zu verstehen. Wenn er sich von anderen Personen hinreichend respektiert und geachtet sieht, nimmt sein Selbstverhältnis die Form der Selbstachtung an, die für das Gelingen eines Lebens ebenso uner­ lässlich ist wie das ontogenetisch gleichwohl basalere Selbstvertrauen. Im Fall von gravierenden rechtlichen und moralischen Benachteiligungen kann auch diese Form der ethisch-existenziellen Selbstbeziehung in sich zusammenbre­ chen; z.B. im Zuge von Übervorteilung, Diskriminierung oder gar Entrech­ tung. Der dritte Anerkennungstypus stellt laut Honneth insofern eine Misch­ form der beiden ersten Formen von Anerkennung dar, als es dabei um die Berücksichtigung der Tatsache geht, dass Personen in der jeweiligen Gemein­ schaft, der sie angehören, für gewöhnlich nicht nur als Gleiche bzw. Gleich­ berechtigte, sondern immer auch in ihrer Besonderheit, d.h. mit ihren beson­ deren Leistungen Beachtung und Akzeptanz erfahren wollen. Dieser dritte Typus von Anerkennung setzt ein kooperatives Gemeinschaftsleben voraus, in dem jedes Mitglied seinen individuellen Beitrag zum Gelingen des großen Ganzen beisteuert. Gemeint sind gesellschaftliche »Solidarverhältnisse« die sich, wie es heute oft heißt, durch Gemeinwohlorientierung oder auch Ge­ meinschaftssinn auszeichnen. Das einzelne Gesellschaftsmitglied will in diesen Solidargemeinschaften mit seinen besonderen Eigenschaften und Fä­ higkeiten, also in seiner spezifischen Individualität Wertschätzung erfahren. Wenn ihm diese soziale Wertschätzung zufließt und er lernt, sich selbst als ein wertvolles Mitglied der eigenen Gemeinschaft wiederzuerkennen, nimmt seine ethisch-existenzielle Selbstbeziehung die Gestalt der Selbstwertschätzung an. Diese Gewissheit, ein geschätzter gesellschaftlicher Kooperationspartner zu sein, kann getrübt werden oder geht verloren, wenn es zu Akten der Demü­ tigung, der Stigmatisierung oder gar zum Ausschluss kommt. Im Zusammenhang der Integritätsproblematik ist nun vor allem von Inte­ resse, dass die genannten drei Anerkennungstypen – Zuwendung durch Liebe und Fürsorge, Achtung durch Moral und Recht sowie Wertschätzung durch gemeinwohlorientierte Solidarität  – zusammen die soziale Infrastruktur bil­ den, vor deren Hintergrund Individuen ein unverzerrtes Selbstverhältnis und damit ihre Integrität zu erwerben und zu bewahren versuchen.40 Demnach übernimmt das hier in formaler Hinsicht gesponnene Netz unverzerrter 39 | Vgl. auch Margalit (1997). 40 | Dazu Honneth (1990c).

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Anerkennungsverhältnisse eine für das gelingende Leben notwendige Siche­ rungs- und Auffangfunktion: Ein Mensch wird sich nur dann zu einer reifen und selbstbestimmten Persönlichkeit entwickeln können, wenn er sich zu­ gleich auch von anderen hinreichend als solche geachtet weiß. Hier wird ein Bild personaler Integrität gezeichnet, dem zufolge das integre Leben intern auf ein Zusammenspiel von Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstwertschät­ zung angewiesen ist. In diesem anerkennungstheoretischen Sinn sind Men­ schen demnach dreifach voneinander abhängig, sodass es einer Person bereits dann schwer fallen oder gar unmöglich werden kann, ein positives Selbstbild und damit Integrität zu bewahren, wenn ihr in einer der drei genannten Hin­ sichten Anerkennung versagt bleibt.41 Nun kann auch eine Antwort auf die Frage formuliert werden, was aner­ kannt werden soll, wenn Menschen um Anerkennung ringen. Hegelianisch formuliert: Jeder Mensch muss in den drei Hinsichten der »Einzelheit«, der »Allgemeinheit« und der »Besonderheit« Beachtung und Akzeptanz erfah­ ren, um Integrität besitzen zu können. Während Liebe und Fürsorge auf die Anerkennung der Einzigartigkeit des je individuellen Lebens zielen, gilt der moralische Respekt dem Status jeder Person als gleicher unter Gleichen, wäh­ rend soziale Wertschätzung auf den Status von Gesellschaftsmitgliedern zielt, unter diesen Gleichen noch einmal Besondere zu sein. Wenn man im nächsten Schritt bedenkt, dass Menschen in diesen drei Hinsichten zweifellos nicht nur Erwartungen und Ansprüche hegen, sondern gegenüber anderen Subjekten, die sich ebenfalls nach Anerkennung sehnen, entsprechend auch Verpflich­ tungen verspüren, so gerät ein Nebeneinander von nunmehr drei moralischen Einstellungen in den Blick, die mit jeweils eigenen Ansprüchen, Verbindlich­ keiten, positiven Selbstverhältnissen sowie entsprechenden Verletzungsgefah­ ren verknüpft sind.42 Damit ist ein dreigeteilter moralischer Standpunkt markiert, der die en­ gen Grenzen der kantianischen Unparteilichkeitsmoral sprengt, indem er auf eine umfassendere Konsolidierung personaler Integrität abzielt: Weder Liebe und Fürsorge noch Formen gemeinwohlorientierter, solidarischer Wertschät­ zung können auf den view from nowhere reduziert werden. Vielmehr korrigie­ ren sie dessen »Differenzblindheit«, indem sie am Menschen die Aspekte des Einzigartigen (Liebe und Fürsorge) und Besonderen (Solidarität und Gemein­ schaftssinn) hervorheben, von denen hier deutlich werden sollte, dass sie nicht weniger moralische Relevanz besitzen als der Aspekt des menschlichen Allge­ meinen (Moral und Recht). Um in der eigenen Integrität umfassend Anerken­ nung erfahren zu können, bedarf es also mehr als nur des moralischen Schut­ zes elementarer menschlicher Ansprüche auf ein gleichberechtigtes Leben 41 | Vgl. Harris (1999), bes. S. 6-9. 42 | Axel Honneth (2000e): »Zwischen Aristoteles und Kant«, in: ders. (2000c).

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frei von tiefgreifenden moralischen Verletzungen. Das Leben in Integrität fußt immer auch auf dem Anspruch und dem Recht auf ein ganz eigenes, zugleich einzigartiges und besonderes Leben in selbstgewählter Übereinstimmung mit dem, was der betreffenden Person existenziell wichtig und dringlich erscheint. Gleichwohl ist bei genauerem Hinsehen fraglich, ob auch für fürsorgliche und solidarische Sozialbeziehungen der mit Blick auf die Unparteilichkeits­ moral überaus signifikante Zusammenhang von »Rechten« und »Pflichten« maßgeblich ist.43 Fraglos haben die meisten Menschen ein Bedürfnis nach Liebe und Solidarität, aber besitzen sie deshalb auch schon einen legitimen Anspruch darauf, geliebt und solidarisch unterstützt zu werden, so wie sie An­ spruch auf die Einhaltung der Unparteilichkeitsmoral oder auch des Rechts haben? Kann von einer »Pflicht« zur liebevollen Zuwendung oder zur solidari­ schen Wertschätzung die Rede sein, so wie es üblich ist, von Pflichten gegen­ über dem Gesetz zu sprechen? Nur damit hier kein Missverständnis entsteht: Auch Verpflichtungen der Liebe und der Solidarität können von denjenigen, die sie verspüren, als volitionale Notwendigkeit im Sinne Harry Frankfurts verstanden und empfunden werden. Deren Nichterfüllung kann sowohl bei denen, die das Versäumnis zu verantworten haben, als auch bei jenen, die da­ von betroffen sind, äußerste Bestürzung hervorrufen. Doch sind solche Ver­ pflichtungen deshalb schon als derart strikt verbindlich anzusehen, dass ihre Erfüllung allgemein erwartet werden kann? Führen wir uns dazu ein durchaus heikles Beispiel vor Augen: Eltern ha­ ben die Pflicht, so würde man sagen, angemessen für ihr Kind zu sorgen und ihm die für seine Entwicklung notwendige emotionale Zuwendung zukom­ men zu lassen. Aber haben sie diese Pflicht wirklich immer und ausnahmslos? Bedenken wir den dramatischen Fall, dass wir es mit dem Kind eines Verge­ waltigers zu tun haben. Die Mutter hat aus christlichen Motiven von einem Schwangerschaftsabbruch abgesehen. Ist von dieser Mutter in einem starken Sinne zu verlangen, dass sie ihr Kind liebt? Selbst wenn wir die Frage mit »ja« beantworten würden, weil wir meinen, davon ausgehen zu können, dass die Mutter in dem Moment, in dem sie sich für und nicht gegen ihr Kind entschie­ den hat, ganz konkrete Fürsorgeverpflichtungen eingegangen ist, so können wir doch die Mutterliebe als solche, wenn sie einmal nicht vorhanden ist, weder einfordern noch einklagen. Wir wissen, auch aufgrund weit weniger drasti­ scher Erfahrungen: Entweder wir lieben einen Menschen oder wir lieben ihn

43 | Der Kürze wegen lasse ich den Umstand außen vor, dass diese wechselseitige Durchdringung von Rechten und Pflichten allein für den Kreis von Personen gilt. Kinder, Schwerbehinderte, Altersdemente oder auch Tiere haben zwar moralische Rechte, aber allenfalls eingeschränkt korrespondierende Pflichten. Dazu Habermas (1991), Kap. 6; Seel (1995), Kap. 3.

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nicht. Entweder wir hegen einem Menschen gegenüber solidarische Gefühle oder wir tun es nicht. Zwar können sich aus zwischenmenschlichen Beziehungen, sobald wir diese eingehen, Fürsorge- oder auch Solidaritätspflichten ergeben, deren Erfül­ lung andere dann auch von uns erwarten dürfen; dennoch können wir uns nicht schon »zu« Liebe und Solidarität verpflichten. Menschen können sich zwar so verhalten, als ob sie Liebe und Solidarität verspüren – sie können hin­ gebungsvolle Eltern mimen oder jeden Morgen ihrem Lieblingsbettler in der U-Bahn ein paar Cents zuwerfen –, aber inwieweit sie wirklich liebevoll und solidarisch sind, d.h. inwieweit ihr Verhalten emotional und ethisch-existen­ ziell verankert ist, wird vielleicht fraglich sein. Wer nicht wirklich liebt oder nicht wirklich solidarisch ist, der mag zwar, objektiv gesehen, einzelne Für­ sorge- oder Solidaritätspflichten erfüllen, aber er erfüllt sie nicht aus Liebe und Solidarität. Im Zusammenhang der Integrität ist dies vor allem deshalb von Interesse, weil es aus Sicht derjenigen, die sich nach Liebe und Solidari­ tät sehnen, einen psychologisch schwerwiegenden Unterschied macht, ob die Erfüllung konkreter Fürsorge- bzw. Solidaritätspflichten wahrhaftig auf Liebe bzw. Solidarität beruht oder nicht. Ein Kind wird vermutlich leiden, falls es spürt, dass die Liebe der Eltern nicht »echt« ist. Und einer hilfsbedürftigen Person dürfte es keineswegs egal sein, ob ihr Wohltäter aus aufrichtigem Mit­ gefühl oder bloß aus Eitelkeit spendet. Aus anerkennungstheoretischer Sicht muss mehr als fraglich sein, ob sich im Fall lediglich simulierter Liebe bzw. geheuchelter Solidarität überhaupt ein angemessenes Selbstvertrauen bzw. ein ausreichendes Selbstwertgefühl wird einstellen können.44 So wichtig konkrete Verpflichtungen, die sich aus Liebesbeziehungen und Solidaritätsverhältnissen ergeben, für eine jede gelingende Persönlichkeitsent­ wicklung auch sein mögen, sie besitzen die Eigenart, dass ihre wahrhaftige Erfüllung auf Seiten jener, die sich verpflichtet fühlen, von »günstigen« in­ neren Umständen abhängt. Die emotionalen und motivationalen Grundlagen von Liebes- und Solidaritätspflichten stehen niemals gänzlich in der Macht der Betroffenen, sodass sie sich die wechselseitige Erfüllung dieser Pflichten nicht schon auf ähnliche Weise garantieren können wie etwa die Befolgung der Gebote von Unparteilichkeitsmoral und Recht. Verpflichtungen der Liebe und der Solidarität sträuben sich gegen eine Festschreibung in Vertragsform, und zwar deshalb, weil ihre wahrhaftige Erfüllung von motivationalen Faktoren

44 | Man mag der Ansicht sein, dass simulierte Liebe bzw. Solidarität immer noch besser ist als gar keine, doch das ist ein Irrtum. Die nachträgliche Einsicht, derart gravierend von einem anderen Menschen getäuscht worden zu sein, kann sich auf das eigene Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl weit zerstörerischer auswirken, als wenn der Anschein von Liebe und Solidarität gar nicht erst aufgekommen wäre.

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abhängt, die uns als moralisch Handelnden auf besondere Weise unverfüg­ bar sind. Aus Sicht des Rechts und der Unparteilichkeitsmoral dürfte es eher gleichgültig sein, ob Rechtssubjekte die Gebote aus tiefgreifenden Überzeu­ gungen oder aus opportunistischen Erwägungen heraus befolgen. Aus Sicht der Liebe und der Solidarität ist dies jedoch alles andere als egal. Sind Liebe und Solidarität nicht schon vorhanden, helfen weder hehre Versprechungen noch simulierte Akte der Anerkennung. Auch das Einklagen einer entspre­ chenden Pflichterfüllung käme uns zugleich verständlich und doch sinnlos vor. Die Fragen: »Warum liebst du mich nicht?« oder »Warum bist du nicht solidarisch?« lassen den Befragten ratlos zurück. Die Einhaltung des Rechts können wir uns gegenseitig garantieren, auf Liebe und Solidarität hingegen muss der Mensch hoffen. Dass uns Liebe und Solidarität auf besondere Weise unverfügbar sind, weil wir sie nicht voneinander verlangen können, bedeutet selbstredend nicht, dass sie nicht dennoch in einem ethischen Sinne allgemein wünschenswert sind. Ganz im Gegenteil: Die anerkennungstheoretische Diskussion hat gezeigt, dass personale Integrität nicht nur auf Moral und Recht, sondern stets auch auf Liebe und Solidarität angewiesen ist. Dennoch führt kein direkter Weg vom Sein menschlicher Bedürftigkeit zum Sollen einer umfassenden Wert­ schätzung, die Liebe und Solidarität einschließen würde. Zwar müssen Men­ schen auf weitgehend intakte Anerkennungsverhältnisse bauen können, doch haben sie mit Blick auf die Moral und den Verantwortungsbereich der Gesell­ schaft nicht schon ein legitimes Recht auf Erbringung aller entsprechenden Leistungen. Somit ist im Hinblick auf die sozialen Bedingungen der Integrität ein moraltheoretischer Perspektivenwechsel angezeigt, der besonders deutlich werden lässt, warum und inwieweit das integre Leben als »schwieriges Ver­ hältnis zu anderen« zu beschreiben ist: Die Abhängigkeit der Integrität vom Wohlverhalten anderer ist als gravierender einzustufen, als man es zunächst vermuten würde, da Menschen sich zu ganz bestimmten Formen der von ih­ nen als notwendig erachteten Anerkennung weder verpflichten noch entschlie­ ßen können. Menschen sind nicht bloß wechselseitig aufeinander angewiesen, sie sind sich zugleich auch »wechselseitig entzogen«.45 Mit der menschlichen Anerkennungsbedürftigkeit geht stets auch die Gefahr eines unfreiwilligen Verzichts auf letztlich unverfügbare Bindungen der Liebe und Solidarität ein­ her, für deren Fehlen oder auch Verlust niemand zur Rechtschaffenheit gezo­ gen werden kann, selbst wenn es dabei zu tiefgreifenden und desintegrieren­ den Schmerzerfahrungen kommt.46 45 | Rentsch (1990), S. 187ff. 46 | An dieser Stelle wird die bereits im Rekurs angedeutete Annahme verständlich, dass uns die Liebe auf besondere Weise für Verletzungen anfällig macht. In der intimen, wechselseitigen Zuneigung fühlt sich der Mensch dazu ermutigt, sich dem anderen

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Damit stehen im Hinblick auf die Integritätsproblematik mindestens zwei massive Fragen im Raum: Zunächst wäre zu fragen, ob nicht die Integrität Ein­ zelner – gewissermaßen aus Konsistenzerwägungen heraus – immer schon ak­ tiv Liebe und Solidarität vorweisen können muss, wenn diese doch umgekehrt als soziale Bedingungen integren Lebens zu gelten haben. Dies ist zu vernei­ nen. Es wäre zwar wünschenswert, wenn ein Mensch die Liebe und Solidarität, die ihm gegebenenfalls zufließt, stets auch zu erwidern vermochte. Dennoch sollten entsprechende Fürsorge- und Solidaritätspflichten nicht schon als notwendiger Bestandteil jenes moralischen Minimums aufgefasst werden, das wir in Kapitel 2 als integrales Charakteristikum der Integrität identifiziert haben. Vielmehr ist ein Paradox zu formulieren: Eine Person muss nicht lieben oder solidarisch sein, um Integrität besitzen zu können, auch wenn es so aussieht, als müsse im Gegenzug sie geliebt und solidarisch behandelt werden. Die emo­ tionalen Grundlagen von Liebe und Solidarität jedoch sind und bleiben – auch dem integren Menschen – unverfügbar. Die zweite Frage betrifft das in der philosophischen Anerkennungsdebatte nur selten einmal ausdrücklich untersuchte Problem, ob der nach Integrität strebende Mensch denn nun wirklich umfassend oder auch nur weitgehend auf die Anerkennung seiner Mitmenschen, d.h. auf Zuwendung, Achtung und Wertschätzung, angewiesen ist oder ob sich am Ende nicht doch auch ent­ sprechende Anerkennungsdefizite mit einem Leben in Integrität vereinbaren lassen. Auf ontogenetischer Ebene wird ein überaus enger und konstitutiver Zusammenhang von Anerkennung und Integrität nicht ernsthaft bezweifelt werden können. Dafür sprechen nicht zuletzt die Erkenntnisse der psycho­ analytischen Objektbeziehungstheorie, die den Verdacht erhärtet haben, dass ein Mensch in seinem Leben nur schwerlich Integrität wird ausbilden kön­ nen, wenn er im Zuge seiner frühen Persönlichkeitsentwicklung nicht ein ausreichendes Maß an Anerkennung genossen hat.47 Doch auf der Ebene der späteren Verteidigung von Integrität sind wir mit einem fast gegenteiligen Phä­ nomen konfrontiert, auf das schon Mead in seinen berühmten Studien zur Ich-Identitätsentwicklung hingewiesen hat. Es kann das Schicksal herausra­ gender Persönlichkeiten sein – Mead denkt hier z.B. an große Künstler oder visionäre Staatsmänner  –, ihrer Zeit insofern »voraus« zu sein, als ihnen der gebührende Ruhm leider erst posthum zufließen wird. In ihrer eigenen Gesellschaft bleibt ihnen eine angemessene Anerkennung zu Lebzeiten ver­ wehrt. Dieser Umstand mag zu Frustration und Verzweiflung oder gar zu ei­ nem völligen Rückzug der Betroffenen aus dem sozialen Leben führen. Doch gegenüber bis in seine tiefsten Persönlichkeitsschichten zu entäußern. Der drohende Verlust der geliebten Person mag da das Schlimmste befürchten lassen: den völligen Verlust auch noch der eigenen Person. 47 | Siehe dazu auch die entsprechenden Ausführungen in Abschnitt 1 des Rekurses.

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in anderen Fällen kann ein derart akuter Anerkennungsmangel direkt auch als Ansporn dienen, mit ganzer Kraft und jetzt erst recht an dem festzuhalten, wovon man überzeugt ist.48 An eben diesem Punkt, so müssen wir im Anschluss an Mead vermuten, kann sich das Bedürfnis nach Integrität mit ganz besonderer Vehemenz mel­ den, und zwar als der an das eigene Selbst gerichtete Appell, sich gegen alle Widerstände der Gesellschaft treu zu bleiben, auf den eigenen Selbstverpflich­ tungen und Grundvorhaben zu beharren und diese buchstäblich ins Werk zu setzen. Manch großer Künstler, z.B. Robert Musil, hatte nicht einmal genug Leser, um überhaupt von seiner Kunst leben zu können, doch war ihm sein »Schreiben eine unbedingte, absolute, innere und unteilbare Tätigkeit: Das Werk musste die Integrität seines Ich ausdrücken«.49 Hier zeigt sich erneut das weiter oben bereits mehrfach angeschnittene Problem, dass personale In­ tegrität sich nicht selten erst im Aufprall auf konkrete Widerstände erweisen muss. Mead hatte das Problem auf konzeptioneller Ebene durch den Hinweis zu lösen versucht, dass sich Personen, die unter einem akuten Anerkennungs­ defizit leiden, dazu gezwungen sehen werden, sich in Richtung einer zukünf­ tigen, besseren Gemeinschaft von Gleichgesinnten zu entwerfen, in denen sie für ihr Schaffen Anerkennung finden würden : »Die einzige Methode, durch die wir die Mißbilligung der ganzen Gemeinschaft umgehen können, liegt darin, daß wir eine höhere Gemeinschaft errichten, die in gewissem Sinn die von uns vorgefundene Gemeinschaft überstimmt. Eine Person kann den Punkt erreichen, wo sie sich der ganzen Umwelt in den Weg stellt.« 50

Gleichwohl ist damit nicht schon das mit dem Integritätsbegriff benannte Pro­ blem standhaltenden Wollens vom Tisch. Wenn sich, so wie Mead das hier anzunehmen scheint, ein faktischer Anerkennungsmangel durch eine bloß antizipierte, imaginäre Anerkennung kompensieren ließe, und zwar restlos, stünde das Problem ethisch-existenzieller Selbsttreue hier gar nicht zur De­ batte. Es würde eine Person, die gesellschaftliche Widerstände verspürt, kaum Mühe kosten, die eigene Integrität zu bewahren, wenn sie jederzeit in das Wunschbild unverzerrter Anerkennungsverhältnisse fliehen und sich einre­ den könnte, dass die hiesige Welt noch nicht für sie »bereit« sei. Dass solche Ausflüchte langfristig zu einer erheblichen Desintegration führen können, 48 | Mead (1968), Teil III. 49 | Wilhelm Genazino (2002): »Eine Gabe, die fehlgeht. Über literarische Erfolglosigkeit«, in: Neue Zürcher Zeitung, 9./10. November 2002. 50 | Mead (1968), S. 210. In vielen Fällen mag auch die Anerkennung einiger weniger Freunde und »Gönner« im unmittelbaren Nahfeld der Person bzw. in deren Peergroup für die sonst ausbleibende Anerkennung entschädigen.

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wissen Menschen nicht nur aus den mitunter tragischen Geschichten und Selbstzeugnissen großer Persönlichkeiten, sondern auch aus ihrem jeweiligen Alltagsleben. Wenn es in schwierigen, festgefahrenen oder gar aussichtslos erscheinenden Lebenssituationen nicht immer wieder dazu käme, dass die Betroffenen mit großer Beherztheit und Konsequenz gegen diese Widerstän­ de auf begehrten, würden sich die eigenen Lebensumstände niemals oder al­ lenfalls zufällig zum Besseren kehren. Der Kampf um Anerkennung, in dem um eigene Integritätsansprüche gestritten wird, wäre gar kein Kampf, wenn es nicht immer wieder zu schmerzlichen Verlusten an Anerkennung käme, die man nicht hinzunehmen gewillt ist. Wir können daher Folgendes festhalten: Zwar ist für ein Leben in Inte­ grität, zumindest aus entwicklungspsychologischer Sicht, ein ausreichendes Maß an Zuwendung, Achtung und Wertschätzung wichtige Voraussetzung, dennoch verbleibt im Leben der integren Person ein echtes Spannungsver­ hältnis: Nur zu oft muss das integre Leben gegen versagte Anerkennung verteidigt werden, ja, häufig wird dieses Leben überhaupt erst im Verlaufe dieses Kampfes deutlicher an Konturen gewinnen. Auch hier stoßen wir also auf ein Paradox der Integrität: Die integre Person muss im Laufe ihrer Ent­ wicklung genügend Anerkennung »getankt« haben, um für die Durstrecken eines Leben gewappnet zu sein, das nicht immer ein ausreichendes Maß an Zuwendung, Achtung und Wertschätzung für sie bereit halten wird. Allein wer diesen vermeintlichen Widerspruch in sich aufzunehmen vermag, wird einen Gedanken verständlich und erträglich finden, der von Karl Kraus ein­ mal wie folgt notiert wurde: »Man könnte größenwahnsinnig werden: so we­ nig wird man anerkannt!«

4.3 Z ur P hänomenologie invasiver Ü bergriffe : G eschont werden wollen Die zu Beginn dieses Kapitels formulierte anthropologische Grundannah­ me einer unvermeidlichen Schutz- und Anerkennungsbedürftigkeit des Menschen sollte im Durchgang durch moralphilosophische Standortbestim­ mungen und anerkennungstheoretische Bedürfniserhebungen konzeptio­ nell ausreichend unterfüttert worden sein. Wenn Moral und Anerkennung als zentrale soziale Bedingungen personaler Integrität zu verstehen sind, so müssen die in Kapitel  2 diskutierten Integritätsaspekte der Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Inte­g riertheit und Ganzheit rückblickend als allgemeine Vollzugsmodi integren Lebens verstanden werden, die in moralisch schützen­ den und Anerkennung vermittelnden Interaktionsverhältnissen überhaupt erst möglich werden. Der mit der Integrität notwendig verknüpfte Wunsch nach existenzieller Schonung kann allerdings erst dann wirklich einsich­

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tig werden, wenn wir uns genauer der Frage zuwenden, welche konkreten Verunsicherungen und Verletzungen das Leben in Integrität bedrohen, er­ schweren oder gar zerstören. Da dieses Kapitel von der Integrität als einem schwierigen Verhältnis zu anderen handelt, muss nun von jenen Angriffen auf den ethisch-existenziellen Lebenszusammenhang einer Person die Rede sein, die diesen von außen antasten. Von »invasiven«51 Eingriffen in den ethisch-existenziellen Lebenszusam­ menhang von Personen wird im Folgenden immer dann die Rede ein, wenn es tatsächlich zu gravierenden Verletzungen kommt. Im Zuge der Erläuterung entsprechender Versehrtheitserfahrungen sollten wir aber stets jene Einsicht im Hinterkopf behalten, die uns bereits im Zusammenhang des Kampfes um Anerkennung gedämmert ist: Ganz ohne soziale Konflikte und entsprechende Verletzungserfahrungen wird personale Integrität wohl nicht zu haben sein. Diese Erfahrungen sind auf Dauer nicht nur unausweichlich, sie müssen gera­ dezu als Bedingung der Möglichkeit einer jeden gelingenden Persönlichkeitsent­ wicklung verstanden werden. Die Sehnsucht nach Integrität, d.h. der Wunsch nach einem intakten Lebensvollzug, kann einem überhaupt erst in solchen Momenten zu Bewusstsein kommen, in denen konkrete Versehrtheiten dro­ hen. Solange der Boden, auf dem wir stehen, nicht bebt, so lautete der in Kapi­ tel 3 formulierte pragmatistische Vorbehalt, kann von dem Auf brechen einer Sehnsucht nach Integrität und dem Bemühen um ihre Wiederherstellung kei­ ne Rede sein. Integrität zeigt sich nicht als völliges Unberührtsein von jegli­ cher Art invasiver Übergriffe, sondern als die Art und Weise, wie die Betrof­ fenen ihre lebensgeschichtlich unvermeidlichen Versehrtheiten durchstehen, überleben und ausheilen. Daher ist mit Blick auf das mit personaler Integrität assoziierte Intaktheitsbedürfnis eine Dialektik von Besitz, Verlust und Wieder­ gewinnung zu konstatieren. Gleichwohl müssen Grenzfälle markierbar sein, an denen die Integrität einer Person derart gravierend gefährdet ist, dass ihr völliger Verlust droht. Auch wenn an dieser Stelle keine umfassende Gesamtschau aller nur erdenk­ lichen Versehrtheitserfahrungen geleistet werden kann, sollen dennoch eini­ ge typische invasive Eingriffe zur Darstellung kommen, deren Auflistung in der Reihenfolge der vier zentralen Integritätsaspekte und mit ansteigendem Schweregrad erfolgen wird.52 Wenn ich dabei wiederholt auf das deutsche Strafgesetzbuch (StGB) zurückgreife, so folge ich der Annahme, dass die mit 51 | Mit dem Begriff »invasiv« soll die buchstäbliche Eindringlichkeit derartiger Verletzungen hervorgehoben werden. Das Roche Lexikon Medizin versteht darunter Eingriffe »unter Verletzung der Körperintegrität«. 52 | Ich überspringe die Ebene der Bedingungen integren Lebens, d.h. die Ebene von Moral und Anerkennung, und gehe sogleich zu der Frage über, welche Verletzungen den Vollzug eines Lebens in Integrität gefährden.

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einer langen Tradition versehene Strafrechtsdogmatik eine immer wieder mit der Zeit gehende Typologie schwerwiegender zwischenmenschlicher Verlet­ zungsakte zusammengetragen hat, die sich anhand des Integritätsvokabulars reformulieren und philosophisch anschlussfähig halten lässt. Ähnlich wie schon in Kapitel 2 sei meine eigene Systematik, der besseren Übersicht wegen, auch hier vorab in einem Schaubild dargestellt.

Abb. 2

Typische Integritätsverletzungen (eigene Tabelle)

Selbsttreue

Rechtschaffenheit

Integriertheit

Ganzheit

Bestechung

üble Nachrede

Täuschung

Körperverletzung

Nötigung

Verleumdung

Lüge

Missbrauch

Erpressung

falsche Verdächtigung

Hinterhältigkeit

Vergewaltigung

Zwang

falsche Verurteilung

Indoktrination

Folter

Wenden wir uns zunächst dem Integritätsaspekt der Selbsttreue zu. Hier treten uns vornehmlich solche Übergriffe auf den ethisch-existenziellen Lebensvollzug vor Augen, durch die eine Person davon abgehalten wird, in Übereinstimmung mit ihren integralen Selbstverpflichtungen und Grund­ vorhaben zu leben. Als ein eher harmloser, wenn auch typischer Fall darf der Vorgang der »Bestechung« gelten, wie er in § 334 StGB geregelt ist und in Kapitel 2 bereits zur Erwähnung kam. Durch die Offerte von Geld oder sonstigen Vergünstigungen soll eine Person so weit von ihrem ethisch-exis­ tenziellen Kurs abgebracht werden, dass sie ihr Verhalten zugunsten desje­ nigen ändert, der den Bestechungsversuch unternimmt. Erinnern wir uns an den verschuldeten Beamten im Tief bauamt, der einer Baufirma gegen Bares lukrative städtische Aufträge zuschanzt. Der Fall der Bestechung ist mit Blick auf die Integritätsproblematik deshalb als eher harmloser Angriff einzustufen, weil er der betroffenen Person in der Regel die Freiheit lässt, das »unmoralische Angebot« abzulehnen, ohne dass sie dadurch einen ethisch-existenziellen Verlust erleiden würde – von der ihr dabei angebote­ nen Vergünstigung einmal abgesehen. Massivere Akte der Willensmanipulation kommen dann in den Blick, wenn man sich einen berühmten Mafia-Filmklassiker ins Gedächtnis ruft

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und bedenkt, dass es Angebote gibt, die man »nicht ablehnen kann«.53 Geht mit dem Versuch einer Einflussnahme die »Drohung mit einem empfindli­ chen Übel« einher, wie es in § 240 StGB heißt, so haben wir es mit einem Fall der »Nötigung« zu tun. Hier soll die betroffene Person nicht durch das Angebot von Geld oder sonstigen Verlockungen, sondern schlicht durch Androhung von Gewalt zu einer »Handlung, Duldung oder Unterlassung« gedrängt werden. Wenn dem Beamten im Tief bauamt vorausgesagt wird, sein eben erst erbautes Haus oder gar Teile seiner Familie würden ernsthaft Schaden nehmen, wenn er sich nicht gefügig zeige, so mag der Mann sich gezwungen sehen, von seinen sonst festen Prinzipien zurückzutreten, nur um das drohende Unheil von sich und seiner Familie abzuwenden. Ähnlich geartet ist auch der dritte Typ von Integritätsverletzung, und zwar die in § 253 StGB geregelte »Erpressung«. Auch hier wird dem Opfer mit Gewalt oder einem ähnlichen Übel gedroht, um die Person zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu drängen. Von Fällen der Nötigung unterscheidet sich die Erpressung aber dahingehend, dass der Täter mit dem Vorsatz handelt, sich an dem Besitztum seines Erpressungsopfers zu bereichern. Hat eine Kollegin und Büronachbarin des verschuldeten Beamten rein zufällig mit­ bekommen, dass dieser sich von der Bauindustrie »schmieren« lässt, mag sie selbst eine Chance zur Auf besserung ihrer finanziellen Lage wittern. Sie wird dem Kollegen dann unter Umständen drohen, ihn bei der Polizei anzu­ zeigen, wenn er ihr nicht pünktlich jeden Monat eine fest verabredete Sum­ me zu zahlen bereit ist. Während es die Erpressung und auch die Nötigung zunächst bei der Androhung von Gewalt bewenden lassen, so nimmt der damit verknüpfte Versuch der Willensmanipulation seine direkteste Form an, wenn es tat­ sächlich zur Anwendung unmittelbarer Gewalt kommt, d.h. wenn das zu­ vor angedrohte »empfindliche Übel« eintritt; z.B. der Brand des Neubaus oder gar die Entführung eines der Kinder des Beamten. In Fällen dieser Art gehen mit Bestechung, Nötigung und Erpressung weitere Einzelstraftaten einher, die sich unter dem Stichwort direkten »Zwangs« zusammenfassen lassen: z.B. Sachbeschädigung (§ 303), Diebstahl (§ 242), Freiheitsberau­ bung (§ 239), Körperverletzung (§ 223) und unter Umständen sogar Mord (§ 211) und Totschlag (§ 212). In letzteren Fällen wird die Verletzung oder gar Vernichtung der Integrität zweifellos in einem ganz basalen Sinne offen­ kundig (s.u.). Bereits mehrfach ist in dieser Arbeit als notwendige Bedingung der Selbst­ treue das Vermögen ausgezeichnet worden, einen freien Willen zu formieren

53 | Don Vito Corleone, genannt Der Pate (USA 1971, Regie: Francis Ford Coppola), verspricht: »Ich werde ihm ein Angebot machen, das er nicht ablehnen kann!“

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und in Übereinstimmung mit diesem Willen zu leben. Der mal eher verdeck­ te, mal offene Zwang, der in Akten der Bestechung, Nötigung, Erpressung oder gar der direkten Gewaltanwendung ausgeübt wird, wirkt sich doppelt schädlich auf die Integrität des Menschen aus. Dieser Zwang verhindert nicht nur die freie Übereinstimmung von ethisch-existenziellem Selbstbild und praktischem Lebensvollzug, sondern setzt tiefer an: »Angriffe gegen die freie Willensbildung«, wie es in den einschlägigen Kommentaren zum StGB oft heißt, sabotieren bereits jene Selbstverständigungsprozesse, in denen sich ein eigenes ethisch-existenzielles Selbstbild erst noch herausbilden muss. Wird eine Person bestochen, genötigt, erpresst oder mit Gewalt gezwungen, so kann von einem wahrhaft freien Willen kaum mehr die Rede sein. Dabei muss es sich nicht einmal um vorsätzliche, d.h. gezielt unternommene Repressionsver­ suche von Seiten konkreter einzelner Mitmenschen handeln. Wenn man die strafrechtliche und moralische Problematik invasiver Integritätsverletzungen sozialpathognostisch wendet, so geraten neben Formen direkter, interpersona­ ler Gewaltausübung sofort auch »strukturelle« Zwänge des gesellschaftlichen Lebens in den Blick, deren Mechanismen eher indirekt und hinter dem Rü­ cken der beteiligten Akteure wirken, als dass stets ein klarer Aggressor auszu­ machen wäre.54 Dass es dabei zu ähnlichen Integritätsschäden kommen kann, machen einfache Beispiele deutlich, in denen die Zwangsmechanismen, die die Selbst­ treue unterminieren, nur schwer verantwortlich zuschreibbar sind: Eine kri­ tische Intellektuelle mag sich angesichts des Wissens um die ökologischen Folgekosten des westlichen Lebensstandards von dessen Annehmlichkeiten bestochen fühlen. Mancher Langzeitarbeitslose sieht zunehmend weniger Sinn in einem Leben, dessen sozioökonomische Umstände ihn dazu nötigen, tatenlos herumzusitzen, statt einer nützlichen Betätigung nachzugehen. Ein chronisch Kranker, dessen Krankendaten elektronisch gespeichert und wei­ tergereicht werden – der sogenannte gläserne Patient –, kann sich durch den Umstand, dass Unbefugte, z.B. sein Arbeitgeber, in den Besitz dieser intimen Kenntnisse gelangen könnten, erpressbar fühlen. Die sogenannte Apparatem­ edizin, die sich ökonomisch rentieren muss, mag einer Patientin nahezu ge­ waltsam eine Therapie aufzwingen, die sie im Grunde ablehnt. Beispiele wie diese, so willkürlich sie auf den ersten Blick auch anmuten mögen, stärken den Verdacht, dass die Erfahrung, sich massiv bestochen, ge­ nötigt, erpresst oder auch gezwungen zu fühlen, im Alltagsleben vieler Men­ schen ein vertrautes Phänomen darstellt. Auch wenn es sich dabei nicht immer gleich um strafrechtlich relevante Fälle, ja, nicht einmal um direkte interper­

54 | Die Unterscheidung »personale« und »strukturelle Gewalt« hat Johan Galtung populär gemacht. Siehe ders. (1975): Strukturelle Gewalt, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

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sonale Akte handeln muss, so kann eine Person sich doch in ein Zwangskor­ sett sozialer, ökonomischer, kultureller, religiöser, geschlechts­ spezifischer, politischer oder auch beruflicher Verhaltensorientierungen eingepfercht und von ihren Lebensumständen derart korrumpiert fühlen, dass sie mit Blick auf das Bedürfnis nach einem integren Leben gar nicht mehr die Möglichkeit zu haben scheint, einen freien Willen auszubilden und sich entsprechend treu zu bleiben. Hier kommt vielmehr eine bis in die Strukturen der Lebenswelt eingelassene Entmündigung zum Vorschein, deren Auswüchse sich ähnlich depersonalisierend auf die Integrität Einzelner auswirken können wie direkte zwischenmenschliche Manipulationsversuche. Auch lebensweltliche Struk­ turzwänge können moralische Ansprüche auf ein selbstbestimmtes Leben missachten, Prozesse der Willensbildung blockieren und ethisch-existenzielle Kursabweichungen erzwingen. Dieser strukturbedingte Paternalismus kann vom »sanften« Zwang demokratischer Wohlfahrtsstaaten über die »normative Kraft« spätkapitalistischer Fakten bis hin zur offenen Gewalt autoritärer Regi­ me reichen. Auch für den zweiten Integritätsaspekt, den der Rechtschaffenheit, lässt sich ein solcher Zusammenhang von strukturbedingten Zwängen einerseits und ethisch-existenziellen Integritätsverlusten andererseits behaupten. Be­ ginnen wir jedoch auch hier mit direkten, d.h. interpersonalen Verletzungen. Rechtschaffenheit ist in Kapitel 2 als das Streben nach einem Leben in Über­ einstimmung mit moralischen Mindeststandards gedeutet worden. Dieses Le­ ben hatte sich in der deliberativen Rücksicht auf die Interessen des jeweiligen sozialen Umfelds sowie in der vernünftigen Selbstbeschränkung auf solche Lebensvollzüge zu erweisen, die innerhalb der eigenen Gemeinschaft als sitt­ lich tolerabel gelten. Entsprechend müssen invasive Eingriffe in die moralische Integrität einer Person ein eben solches Leben schwer oder gar unmöglich ma­ chen. Sie stellen die moralische und sittliche Verträglichkeit des betreffenden Lebenszusammenhangs massiv in Frage und nehmen der Person damit die Möglichkeit, sich weiterhin als ein rechtschaffenes und unbescholtenes Mit­ glied der Gemeinschaft erfahren zu können. Von Angriffen auf die Rechtschaffenheit und Unbescholtenheit einer Per­ son kann immer dann die Rede sein, wenn der sittliche Leumund eines mora­ lischen Akteurs auf ungerechtfertigte Weise beschädigt oder beschmutzt wird, d.h. wenn es zur Verunglimpfung des moralischen Ansehens einer Person kommt. Ziel einer solchen Rufschädigung ist es zumeist, die Person dauerhaft zu stigmatisieren, sie an den Rand der sittlichen Gemeinschaft zu drängen oder gar aus dieser auszuschließen. Zum »Gelingen« einer moralischen Ve­ runglimpfung bedarf es freilich der Aufmerksamkeit eines Publikums. Eine ungerechtfertigte Schuldzuweisung, die lediglich »unter vier Augen« vorgetra­ gen wird, mag die beschuldigte Person zwar empören, aber nicht schon um ihr moralisches Ansehen bringen, solange der Vorwurf nicht nach außen dringt.

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Wenn der gesellschaftliche Ruf einer Person geschädigt werden soll, muss die­ ser Ruf von anderen öffentlich vernommen werden können. Zur ersten Kategorie typischer Fälle gehören Akte »übler Nachrede« nach § 186 StGB. Hier geht es um die Behauptung oder Verbreitung von unbewiese­ nen Tatsachen, die darauf abzielen, eine Person »verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen«. Nehmen wir das folgende Beispiel: Der Urologe H. äußert in Kollegenkreisen wiederholt den Verdacht, in der Praxis der Internistin M. gehe es »nicht mit rechten Dingen zu«. Dort werde unsauber abgerechnet. Zudem bekämen Patienten zu Testzwecken ein noch nicht zugelassenes Medikament verabreicht. Nehmen wir an, H. äußere diesen Verdacht aufgrund bloß schwacher Indizien, d.h. ohne echte Beweise zu haben. Das Gerücht sei ihm selbst nur durch eine seiner Patientinnen zu­ getragen worden. Dann wäre zweifellos auf einen Fall von übler Nachrede zu entscheiden, denn H. bringt die Kollegin M. auf unverantwortliche Weise öf­ fentlich in Misskredit. Schwerer noch wiegt der Fall der »Verleumdung«, mit dem wir es laut § 187 StGB dann zu tun haben, wenn H. willentlich und »wider besseres Wissen« handelt, d.h. wenn er vorsätzlich eine falsche Anschuldigung ausspricht, ob­ gleich er weiß, dass diese gar nicht zutreffend ist. Nehmen wir an, H. selbst ist von der Lauterkeit seiner Kollegin überzeugt, nimmt es ihr aber noch im­ mer sehr übel, dass sie damals, zur Zeit des gemeinsamen Studiums, sein charmantes Werben kalt zurückgewiesen hat. Wenn der Urologe sich also bloß rächt, indem er M. verächtlich zu machen versucht, handelt er absichtsvoll aus niederen Beweggründen und begeht eine Straftat. Der Schaden, den er der mo­ ralischen Integrität seines Opfers zufügt, mag unter Umständen schwer zu be­ heben sein. Er kann umso gravierender ausfallen, wenn die Verleumdung die Form einer »falschen Verdächtigung« nach § 164 StGB annimmt.55 In diesen Fällen wird eine Person wegen eines bloß vermeintlichen Vergehens und wider besseres Wissen bei einer dafür zuständigen Behörde angezeigt; z.B. bei der Polizei, beim Staatsanwalt oder auch, wie in unserem Fall denkbar, bei der Ärz­ tekammer. Im strafrechtlichen Sinne verfolgt eine falsche Verdächtigung das Ziel, ein »Verfahren oder andere behördliche Maßnahmen gegen [die Person] herbeizuführen oder fortdauern zu lassen«. Aus der Verleumdung wird damit eine als moralisch verwerflich einzustufende Denunziation, die zur Folge ha­

55 | Fraglich ist, ob auch im Zuge einer gerechtfertigten Schuldzuweisung, z.B. im Fall der strafrechtlichen Verfolgung eines überführten Verbrechers, von einer Verletzung moralischer Integrität zu reden ist. Ich denke, man muss dies bejahen. Im Anschluss an die oben getroffene Unterscheidung zwischen »Verletzungen« und spezifisch »moralischen Verletzungen« ist festzustellen, dass nicht alle invasiven Eingriffe per se verwerflich sind.

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ben kann, dass Ermittlungen gegen das unschuldige Opfer eingeleitet werden und es zu einem Verfahren kommt, bei dem der Leumund der in Wahrheit rechtschaffenen Person selbst dann noch bleibende Schäden zurückbehält, wenn längst gerichtlich oder amtlich deren Unschuld erwiesen worden ist.56 Während die drei bislang genannten Angriffe auf die Rechtschaffenheit ei­ ner Person – üble Nachrede, Verleumdung und falsche Verdächtigung – auf der Ebene von Vorverurteilungen verbleiben, selbst wenn sie juristische Ermittlun­ gen nach sich ziehen mögen57, wird es zu der vermutlich verhängnisvollsten Schädigung moralischer Integrität dann kommen, wenn sich ein sogenannter Justizirrtum ereignet, d.h. wenn es tatsächlich zu einer »falschen Verurtei­ lung« kommt. Dann nämlich wird ein Mensch aufgrund falscher Anschuldi­ gungen, vorgetäuschter Sachverhalte oder bloß schwacher Indizien rechtskräf­ tig verurteilt und bestraft. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich die Reputation einer Ärztin, die aufgrund zweifelhafter Anhaltspunkte und Zeugenaussagen eine Bewährungsstrafe erhält und daraufhin ihre Zulassung verliert, anschlie­ ßend nicht mehr wiederherstellen lässt. Da die Rufschädigung in dem Sin­ ne »amtlich« geworden ist, dass das vermeintliche Vergehen aktenkundig ist und bleibt, nimmt der gewaltsam und zu Unrecht erlittene Inte­gritätsverlust eine neue Qualität an: Aus der falschen Verdächtigung wird ein verbriefter Urteilsspruch, der auf Seiten des unschuldigen Justizopfers zu einem Struktu­ relement seines biographischen Lebenszusammenhangs gefriert, aus dem zu entfliehen ihm kaum noch möglich sein wird. Da die zuständigen Richter bzw. die verantwortlichen Amtspersonen nicht als private Einzelpersonen, sondern als Vertreter des Staates agieren, in dessen Namen sie ihre Entscheidungen treffen, nimmt die unrechtmäßige Rufschädigung eine institutionelle Gestalt und Gewalt an, durch die jeder Versuch eines völligen »Neuanfangs« von vorn­ herein zunichte gemacht ist.58 Damit sind wir bei öffentlich institutionalisierten Diskreditierungsformen angelangt, denen freilich nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Kollektive 56 | Das seit einigen Jahren unter dem Stichwort »Missbrauch mit dem Missbrauch« diskutierte Phänomen falscher Verdächtigungen im Bereich des Kindesmissbrauchs bietet reichlich Anschauungsmaterial für die Vermutung, dass sich die Integrität einer zu Unrecht mit derart gravierenden moralischen Vorwürfen belasteten Person kaum mehr regenerieren wird. 57 | Dass der strafrechtlich faire Grundsatz, ein Mensch habe solange als unschuldig zu gelten, wie er nicht rechtskräftig verurteilt ist, im Zusammenhang moralischer Inte­ gritätsverletzungen keine Berücksichtigung findet, liegt schlicht daran, dass es das Ziel von Akten der Verunglimpfung ist, einen anderen Menschen vorzuverurteilen. 58 | Besonders gravierend dürfte sich eine falsche Verurteilung dann auswirken, wenn sie auf nicht-rechtsstaatlichem Boden erfolgt. Man denke hier etwa an willkürliche Inhaftierungen politischer Gefangener in diktatorischen Regimen.

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zum Opfer fallen können, ohne dass dies stets mit rechtlichen Konsequenzen verbunden wäre. Denkt man an gesellschaftlich marginalisierte Gruppen wie Homosexuelle, Ausländer, Juden oder auch Frauen, so geht die öffentliche Un­ terstellung ganz bestimmter negativer, identitätsstiftender Merkmale regelmä­ ßig mit der moralischen Stigmatisierung dieser Gruppen einher. So werden Homosexuelle leicht mit pädophilen Neigungen in Verbindung gebracht, Aus­ länder als potenzielle Straftäter behandelt, Juden für die Ermordung Christi und Frauen für den Sündenfall verantwortlich gemacht. Das wirkmächtige Ressentiment, man habe es mit einer ethisch minderwertigen Lebensform zu tun, scheint beinahe unentwirrbar mit der moralischen Vorverurteilung ver­ knüpft zu sein, die betroffene Gruppe habe eine Art Erbschuld auf sich geladen, die es zu sühnen gilt.59 Derart lebensweltlich verankerte Diskreditierungsme­ chanismen erweisen sich immer dann als besonders perfide, wenn Menschen durch die ihnen auferlegten Lebensumstände nicht nur vorverurteilt, sondern beinahe schon dazu gedrängt werden, moralische Verfehlungen zu begehen. Hier kommt ein subtiler negativer Anpassungsdruck zum Vorschein, der die Mitglieder diskriminierter Gruppen zu Handlungsweisen zwingt, mit denen sich die ihnen entgegengebrachten Vorurteile nachträglich zu bewahrheiten scheinen. Hier kann man z.B. an das Los so manches Asylbewerbers denken, der keiner ordentlichen Beschäftigung nachgehen darf, solange er nicht amt­ lich als politisch verfolgter Flüchtling anerkannt ist, sodass er auf die fatale Idee kommen mag, seinen minimalen Lebensstandard auf illegale Weise auf­ zubessern.60 Selbstredend darf hier kein kausaler Zusammenhang zwischen strukturellem Zwang und moralischen Vergehen behauptet werden, der die betroffenen Akteure gänzlich aus der Verantwortung entlassen würde. Es geht hier lediglich um die nicht gänzlich von der Hand zu weisende Vermutung, dass lebensweltliche Strukturzwänge zu unmoralischen Delikten verleiten können, wodurch sich der ursprüngliche Verdacht, man habe es mit moralisch anrüchigen Menschen zu tun, auf zynische Weise zu erhärten scheint.61 Einem derart strukturbedingten Verlust moralischer Integrität muss nicht einmal eine konkret feststellbare Diskriminierung vorausgehen. Auch Perso­ nen, die weithin als unbescholten angesehen werden, können sich ganz plötz­ 59 | Die beste philosophische Analyse des moralischen »Ressentiments« findet sich noch immer bei Max Scheler (1912/1978): Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, Frankfurt a.M.: Klostermann. 60 | Mit Blick auf das antisemitische Ressentiment siehe die literarische Verarbeitung des Themas bei Max Frisch (1961): Andorra, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 61 | Slavoj Žižek spricht in ähnlichem Zusammenhang sehr treffend von einem »Gefangensein« des diskriminierten Opfers im angst- und neidbesetzten »Traum des Anderen«. Siehe ders. (1992): »Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Böse«, in: Lettre International, 18/1992.

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lich mit veränderten Lebensumständen konfrontiert sehen, durch die sie sich zu unmoralischen Handlungen genötigt fühlen; man erinnere sich an Heinz, den fürsorglichen Ehemann im gleichnamigen »Dilemma«, der aus finanzi­ eller Not und weil seine Frau schwer krank ist, in eine Apotheke einbricht. Beispiele dieser Art lassen erneut typische Rechtschaffenheitsverluste hervor­ treten, die bereits in Kapitel 2 erwähnt wurden und die von den eben erwähn­ ten noch einmal zu unterscheiden sind. Unter dem Druck lebensweltlicher Strukturzwänge kann eine Person in die verfängliche Situation geraten, sich die Hände »schmutzig« machen, also unmoralische Taten regelrecht begehen zu müssen. Demnach kann ein gesellschaftlich induzierter Verlust moralischer Integrität auf zweifachem Wege erfolgen: Entweder sieht sich eine Person so lange mit unberechtigten Anschuldigungen konfrontiert, bis ihre Vertei­ digungshaltung innerlich zusammenbricht und sie sich nicht einmal mehr selbst als rechtschaffen erfährt. Dieser Konflikt verbleibt zunächst auf der Ebe­ ne von Einstellungen. Oder aber die Person wird durch lebensweltliche Repres­ salien in moralische Zwangssituationen manövriert, in denen sie sich dazu gedrängt sieht, ihre moralische Integrität eigenhändig durch entsprechende Handlungen anzutasten. Im ersten Fall ist der Verlust der Rechtschaffenheit als weitgehend unverschuldet einzustufen, im zweiten hingegen als zumindest »mitverschuldet«, insofern selbstverantwortlich handelnde moralische Ak­ teure nur selten im strikten Sinne zu unmoralischen Handlungen gezwungen sind. Während man sich gegen unberechtigte Anschuldigungen und Akte des Rufmords, sobald diese ein öffentlichkeitswirksames Eigenleben zu führen be­ ginnen, nur noch schwer wehren kann, verbleibt in Handlungskonflikten der gemeinten Art zumeist ein – wenn auch schmaler – Entscheidungsspielraum, innerhalb dessen sich die moralische Integrität gegen äußeren Druck bewei­ sen muss.62 Wenden wir uns nun der dritten Kategorie von Integritätsverletzungen zu, und zwar jenen, die es Personen schwer bis unmöglich machen, autobionar­ rative Integriertheit zu erlangen. Invasive Übergriffe dieser Art zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre Opfer gezielt in die »Irre« führen, indem sie unter Vortäuschung falscher Tatsachen massive Konfusionen verursachen. Sie be­ wirken Störungen einer adäquaten Wirklichkeitsanpassung und treiben die Betroffenen in die Desintegration.63 Führen wir uns dazu noch einmal das in Kapitel 3 im Zusammenhang der Selbsttäuschungsproblematik diskutier­ te Beispiel des Ehebruchs vor Augen: Eine verheiratete Frau um die vierzig kommt des Abends immer häufiger ungewohnt spät nach Hause. Dass sie in 62 | Sieht man einmal ab von Fällen, in denen der Verlust der Rechtschaffenheit direkt interpersonal, z.B. durch Akte der Erpressung oder Nötigung, erzwungen wird; wie etwa in dem von Williams diskutierten Beispiel des Gefangenen Jim. 63 | Vgl. Paul Watzlawick (1976): Wie wirklich ist die Wirklichkeit?, München: Piper.

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letzter Zeit auch sonst einige eher merkwürdige Verhaltensweisen an den Tag legt, scheint ihr Mann, der momentan mit schwerwiegenden beruflichen Prob­ lemen zu kämpfen hat, gar nicht recht wahrzunehmen. Bislang schöpft er kei­ nen Verdacht, ja, vielmehr wähnt er sich ungebrochen in einer relativ intakten Ehe und glaubt, seiner Frau vertrauen zu können. Er wundert sich allenfalls geringfügig darüber, dass sie an seinen derzeitigen Sorgen nur wenig Anteil nimmt.64 Im Zusammenhang der Selbsttäuschungsproblematik stand die Frage im Mittelpunkt, ob der Ehemann unbewusst Gründe haben mag, seiner Frau erst gar nicht auf die Schliche kommen zu wollen; an dieser Stelle jedoch muss es darum gehen, mit welchen Maßnahmen die Ehebrecherin ihre Liaison geheim zu halten versucht. Von Strategien einfacher »Täuschung« kann sie Gebrauch machen, solange ihr Mann tatsächlich keinen Verdacht hegt. Im Rahmen einer Täuschung werden der betroffenen Person durch Vermeidung verdächtiger Si­ tuationen, durch Ablenkung und Ausflüchte, durch mimisches oder gestisches Ausdrucksverhalten oder auch durch simples Schweigen bestimmte Wahrhei­ ten schlicht vorenthalten.65 Die Ehefrau führt Telefonate mit ihrem Liebhaber allein in Abwesenheit ihres Mannes. Sie wechselt rasch das Thema, wenn sich der Ehemann nach den Qualitäten ihres Tennislehrers erkundigt. Auf diese Weise wiegt sie ihren Mann in falscher Sicherheit, indem sie ihm – zunächst wortlos, da ja ein echter Rechtfertigungsdruck noch gar nicht entstanden ist – die irreführende Botschaft vermittelt: »Es ist alles ist in Ordnung, mein Schatz!« Wenn der Ehemann aber bereits einen ersten Verdacht schöpft und wenn die Frau befürchten muss, dass sie sich durch die Bejahung eines mit ihrem süßen Geheimnis verknüpften Sachverhalts entlarven könnte, kommt es zu einer besonderen Form der Täuschung: der »Lüge«.66 Nehmen wir an, der beruflich gestresste Ehemann fragt seine gut gelaunte Frau bei deren später Heimkehr, wo sie so lange gewesen sei, und sie antwortet: »Ich war beim Ten­ nis.« Nun, sie mag am frühen Abend zwar tatsächlich beim Tennis gewesen sein, doch hat sie sich anschließend mit ihrem jugendlichen Liebhaber zum 64 | Im Hinblick auf die vier nun folgenden Integritätsverletzungen lässt uns das Strafrecht weitgehend im Stich. Es fällt auf, dass Akte des »Betrugs« oder der »Untreue« (§§ 263ff.) nur dann strafrechtlich relevant sind, wenn es dabei um Geld geht; d.h. wenn dem Opfer durch Vortäuschung falscher Tatsachen wirtschaftlicher Schaden zugefügt wird. Nicht-monetäre Integritätsverletzungen, die auf Irreführung beruhen, sind als solche (bislang) nicht strafbar, auch wenn sie im juristischen Streitfall Relevanz erlangen mögen; z.B. als Scheidungsgrund. 65 | Bok (1979); Alison Leigh Brown (1998): The Subjects of Deceit, Albany: State University of New York Press. 66 | Siehe auch Simone Dietz (2002): Der Wert der Lüge, Paderborn: Mentis.

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Schäferstündchen zurückgezogen. Demnach sagt sie zwar nicht die Unwahr­ heit, aber von der »ganzen Wahrheit« kann ebenso wenig die Rede sein. In Fällen dieser Art wird die Frage, ob es sich um eine Lüge handelt, zumindest zwischen den Beteiligten umstritten sein: Die Ehefrau mag anschließend be­ haupten, sie habe nicht gelogen, während ihr Mann das wohl bestreiten wird.67 Zu einer dezidierten Lüge kommt es immer dann, wenn Tatsachen, die zur Aufdeckung eines unangenehmen Sachverhalts führen können, ausdrücklich verneint oder wenn gezielt gegenteilige Sachverhalte behauptet werden. Die Lüge unterscheidet sich von einfachen Formen der Täuschung dadurch, dass die lügende Person ausdrücklich eine Unwahrheit konstatiert, während es zum Gelingen einer Täuschung ausreicht, dass die Täuschende die Wahrheit zu­ rückhält.68 Lässt sich der Argwohn des Ehemanns selbst durch wiederholtes Lügen nicht dauerhaft beschwichtigen, kann sich die Täuschungspraxis bis zur »Hin­ terhältigkeit« steigern. In der Hoffnung, den für sie gefährlichen Verdacht des Ehemannes ausräumen zu können, wird sich die Ehefrau dazu gezwungen sehen, und zwar über das notwendige Maß an Täuschung und Lüge hinaus, Maßnahmen zu ergreifen, mit deren Hilfe die gemeinsamen Lebensumstände so inszeniert werden, als habe der Ehemann gute Gründe, von seinem Verdacht abzurücken. Die Frau bittet ihre beste Freundin um ein falsches Alibi, sie wid­ met ihrem besorgten Mann plötzlich wieder erhöhte Aufmerksamkeit im All­ tag oder hat gar weiterhin mit ihm Geschlechtsverkehr. Anders als bei Lügen kommt es im Fall hinterhältiger Verhaltensweisen nicht nur darauf an, wirk­ lichkeitswidrige Tatsachen zu behaupten. Vielmehr geht es um das planvolle Unterfangen, das jeweilige Opfer durch geschickte Manipulation seiner Le­ bensumstände von jeglichen Sachverhalten abzuschotten, die erneut Verdacht erregen könnten. Die Hinterhältigkeit operiert weniger auf der Ebene direkter Kommunikation, sie manipuliert vielmehr die Bedingungen der Wahrheitsfin­ dung, und zwar so, dass es auf der Seite des Opfers schlicht zu irreführenden Fehlschlüssen kommen muss. Wenn selbst Strategien einer derart hinterhältigen Tatsachenmanipula­ tion fehlschlagen, kann es zu Formen der Irreführung kommen, in denen Wahrheiten nicht nur vorenthalten bzw. verdreht und die Bedingungen der Wahrheitsfindung insgesamt unterminiert werden, sondern gegenteilige 67 | Es ist kaum zu bezweifeln, dass es manchmal einer »Notlüge« bedarf, um die Integrität eines anderen Menschen nicht unnötig zu verletzen. Dennoch möchte ich an dem inhärent desintegrierenden Charakter der Lüge festhalten. Selbst noch diejenige Person, die durch eine Lüge verschont wurde, wird im Nachhinein die wie immer schwache Enttäuschung verspüren, seinerzeit belogen worden zu sein. 68 | Wie Bok treffend feststellt, kann eine Lüge auch mit Morse- oder Rauchzeichen verbreitet werden. Siehe dies. (1979), S. 14.

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Überzeugungen und Ansichten regelrecht »eingetrichtert« werden, solange bis das Opfer zwischen dem, was wahr, und dem, was unwahr ist, gar nicht mehr angemessen unterscheiden kann. Hier geschieht das, was man in ideologiekri­ tischer Perspektive »Indoktrination« nennt: eine umfassende und tiefgreifende Beeinflussung von Bewusstseinsvorgängen und Meinungsbildungsprozessen, in deren Zuge das Denken der Betroffenen derart fundamental eingeschüchtert und deformiert wird, dass diese die Frage nach der Wahrheit am Ende gar nicht mehr zu stellen wagen.69 Von einem eher subtilen Fall derartiger Indoktrination könnte man z.B. dann sprechen, wenn die Ehefrau im Beisein ihres Mannes von einem romantischen Urlaub oder gar von einem Kind zu träumen beginnt, und es ihr gelingt, den Ehemann glauben zu machen, dass er derjenige sei, mit dem sie diese Sehnsüchte teilt. Ihr Mann wird sich dann vermutlich bereits nach kurzer Zeit beschämt fragen müssen, wie er zu dem ungeheuerlichen Verdacht hat kommen können, dass seine Frau fremdgeht. Praktiken der Indoktrination können sich bis zur sogenannten Gehirn­ wäsche steigern, wenn dabei nicht nur einzelne Überzeugungen des Opfers in Frage gestellt und abweichende Ansichten eingeflüstert werden, sondern wenn dessen Wirklichkeitswahrnehmung insgesamt ins Schwimmen gerät.70 Nehmen wir an, dass die mehr und mehr unter Rechtfertigungsdruck stehen­ de Ehefrau in jedem eifersüchtigen Moment ihres Mannes sogleich furchtbar auf brausend wird, sich an ihr Psychologie-Studium erinnert und ihm ihrer­ seits den wütenden Vorwurf entgegenschleudert, seine »wahnhafte« Eifer­ sucht sei am Ende bloß als Symptom seines eigenen verdrängten Wunsches zu deuten, aus der Ehe auszuscheren. Gesetzt den Fall, es gelänge ihr, den Ehe­ mann mit derart irreführenden Suggestionen dauerhaft zu bearbeiten, so wird dieser vielleicht an seinem Verstand zu zweifeln beginnen und die Konfusion seines Selbst- und Weltbildes auf die vermeintliche Tatsache zurückführen, die gemeinsame Ehe habe tatsächlich wieder einmal Urlaub nötig. Fälle einer solchen Gehirnwäsche, die durchaus bis hin zur psychischen Folter reichen können – von der allerdings erst später die Rede sein wird –, zielen darauf ab, einer Person einzureden, »zwei und zwei sei fünf«.71 Sie können einen Men­ schen derart fundamental in seinem gesamten Denken, Fühlen und Handeln erschüttern, dass dieser Gefahr läuft, daran zu zerbrechen.72 69 | Vgl. Thomas Zschaber (1993): Manipulation und Indoktrination durch Sprache, Bern u.a.: Haupt. 70 | Noch immer illustrativ sind die Überlegungen von Watzlawick (1976). Einen »Leitfaden« zur gezielten Manipulation von Wirklichkeitsauffassungen entwickelt Hans Geißlinger (1992): Die Imagination der Wirklichkeit, Frankfurt a.M. u. New York: Campus. 71 | Im Anschluss an 1984 von George Orwell: Rorty (1989), Kap. 8, hier S. 288. 72 | Die hier vorausgesetzte Annahme eines engen Zusammenhangs von psychischer Krankheit und »unwahrhaftiger« Kommunikation wird durch klinische Forschung viel-

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Gleichwohl ist zusammenfassend festzustellen, dass in der Annahme ei­ ner pathologischen Dynamik der hier genannten Verwirrungstaktiken – Täu­ schung, Lüge, Hinterhältigkeit und Indoktrination  – auch ein konzeptionel­ les Paradoxon verborgen liegt: Je besser die interpersonale Täuschung gelingt, desto weniger wird sie Verunsicherung und Desintegration stiften. Daher ist fraglich, inwiefern manipulative Strategien dieser Art als Verletzungen der Integrität beschrieben werden müssen. Solange sich die betrogene Person in Sicherheit wiegt, weil die Simulation annähernd perfekt ist, kann von einer Verletzung ihrer Integrität augenscheinlich deshalb nicht die Rede sein, weil eine entsprechende Desintegration gar nicht verspürt wird. Warum ist man jedoch trotzdem geneigt, Phänomene der Täuschung, Lüge, Hinterhältigkeit und Indoktrination stets als Angriffe auf die Integrität der betroffenen Perso­ nen aufzufassen? Offenbar deshalb, weil der außenstehende Beobachter eines wie auch immer perfekten Betrugsszenarios damit rechnet, dass die betroge­ ne Person eines Tages aus ihren Illusionen »erwachen« könnte. Er antizipiert schmerzvolle Momente des Geständnisses oder der Entlarvung, in denen jene Verwirrung auch subjektiv spürbar werden wird, die im Zuge des einstigen Täuschungsmanövers bloß objektiv vorhanden war. Diese Ent-Täuschung, so müsste man sagen, wurde seinerzeit lediglich vertagt. Demnach besitzen Integritätsverluste, die durch Täuschung, Lüge, Hinter­ hältigkeit oder Indoktrination bewirkt werden, die Eigenart, zeitversetzt auf­ zutreten, also erst dann, wenn der Betrug auffliegt.73 Selbst wenn oder gerade wenn das ursprüngliche Vergehen eine Weile zurückliegt, mag gravierendes Leiden angesichts einer Tat spürbar werden, von der das Opfer lange Zeit keine Kenntnis hatte. Zusätzlich zur Wut oder Trauer über das damalige Vergehen stellt sich die Enttäuschung ein, gezielt und dauerhaft hinters Licht geführt worden zu sein. Der dadurch bewirkte Verlust der Integriertheit ist wie folgt zu beschreiben: Nach dem Geständnis der Ehefrau oder ihrer Überführung erwacht der Ehemann rüde aus dem Irrglauben, er habe ihr vertrauen können. Er wird sich bewusst, dass er lange Zeit von falschen Tatsachen ausgegangen, dass er getäuscht, belogen, hintergangen oder gar indoktriniert worden ist. Wenn sich herausstellt, dass der Mann die für ihn plötzliche Einsicht, einem Betrug zum Opfer gefallen zu sein, retrospektiv nicht in sein ethisch-existen­ zielles Selbstverständnis einzufügen vermag, kommt es zu des­integrierenden Fragen wie: Warum hat sie mir das angetan? Wie konnte sie mir derart offen fach belegt. Siehe z.B. Gregory Bateson u.a. (1969): Schizophrenie und Familie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp; Alfred Lorenzer (1973): Sprachzerstörung und Rekonstruktion, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 73 | Man kann der Ansicht sein, dass die Integritätsverletzung vermieden wird, wenn die verletzende Tat am Ende doch geheim gehalten wird. Leider kann ich diesen letztlich verfehlten Gedanken hier nicht weiter behandeln.

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ins Gesicht lügen? Und wieso war ich so dumm, die ganze Zeit nichts zu be­ merken? Der erst im Rückblick bewirkte Integritätsverlust variiert mit dem Schwere­ grad des Betruges, der, wie gezeigt, von bloßem Schweigen bis hin zur Gehirn­ wäsche reichen kann. Eine bloße Täuschung mag das Opfer schnell verkraften, eine gezielte Lüge weniger, dauerhafte Hinterhältigkeit kann eine Person in deren Grundfesten erschüttern, Indoktrinationsversuche schließlich bergen die Gefahr eines völligen Selbstverlustes. Übrigens gilt dies für interpersonale Akte einer gezielten Vortäuschung falscher Tatsachen ebenso wie für damit verwandte Phänomene einer eher strukturbedingten Desintegration. In Kapi­ tel 1 war bereits in ideologiekritischen Zusammenhängen die Überzeugung geäußert worden, dass ein ökonomisches, politisches, religiöses, kulturelles und auch massenmediales »System der Einflüsterung« die subjektiven Wel­ tanschauungen und Wertvorstellungen der Mitglieder einer Gesellschaft der­ art deformieren kann, dass diese einem falschen Bewusstsein und der Ent­ fremdung anheimfallen müssen. Auch wenn im Einzelfall genau zu prüfen ist, ob tatsächlich von einer systemisch bedingten Manipulation lebenswelt­ licher Meinungs- und Willensbildungsprozesse die Rede sein kann, so geben die hier diskutierten Integritätsverletzungen doch Leitbegriffe an die Hand, an denen sich eine Kritik struktureller »Verblendungszusammenhänge« zu orientieren vermag.74 Institutionalisierte Manipulationsmechanismen weben einen ideologischen Schleier, der sich derart flächendeckend über die Lebens­ welt und ihre Bewohner legt, dass sich zusammen mit deren Vermögen, ange­ messen zwischen Wirklichkeit und Schein zu unterscheiden, allmählich die Wirklichkeit selbst aufzulösen beginnt, um allerorts psychotische Gemütszu­ stände zurückzulassen.75 Während wir es hier bei diesen eher spekulativen Verdachtsmomenten be­ lassen müssen, so ist doch mit dem Hinweis auf pathogene Integritätsschäden bereits der Übergang zur vierten und letzten Kategorie von typischen Angrif­ fen geschaffen, die auf fundamentalster Integritätsebene das psychophysi­ sche Bedürfnis nach Ganzheit affizieren. Wenn wir zunächst nach jener wohl greif barsten Form invasiver Eingriffe in den ethisch-existenziellen Lebenszu­ sammenhang von Personen fragen und dabei erneut das Strafrecht zur Hand 74 | So ließe sich z.B. die Werbebranche der systematischen Täuschung bezichtigen, manche regierungsamtlich kontrollierte Kriegsberichterstattung der planmäßigen Lüge, die unsoziale Standortpolitik der Arbeitgebervertreter der organisierten Hinterhältigkeit und die Gesinnungsethik erzkonservativer Religionsgemeinschaften der anhaltenden Indoktrination. 75 | Zu dieser hyperbolischen These siehe z.B. Manfred Zaumseil/Klaus Leferink (Hg.) (1997): Schizophrenie in der Moderne – Modernisierung der Schizophrenie, Bonn: Das Narrenschiff.

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nehmen, so stoßen wir im Abschnitt über »Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit« unweigerlich auf das Delikt der »Körperverletzung«.76 Nach § 223 StGB kommt es zu einer Körperverletzung, wenn der Täter sein Opfer vorsätzlich körperlich schädigt oder anderweitig dessen Gesundheit beein­ trächtigt. Als »gefährlich« gilt die Körperverletzung laut StGB dann, wenn sie mit Hilfe einer Waffe oder durch Gift, im Zuge eines heimtückischen Über­ falls oder gemeinsam mit weiteren Tätern begangen wird. Als »schwer« ist sie dann einzustufen, wenn das Opfer lebensgefährlich verletzt wird oder wenn es ein wichtiges Körperteil bzw. eine wichtige Körperfunktion einbüßt. Be­ kommt also ein Barbesucher einen gezielten Faustschlag ins Gesicht, werden einer verhassten Nebenbuhlerin halluzinogene Drogen ins Getränk gemischt, verliert der Konkurrent am Arbeitsplatz seine rechte Hand, weil eine Maschine manipuliert worden ist, so haben wir es mit unterschiedlich schwer wiegen­ den Fällen direkter Körperverletzung zu tun, die bereits deshalb gravierende Integritätsverletzungen darstellen, weil mit der körperlichen »Hülle« integren Lebens zugleich dessen biologisch-existenzielle Grundlage angetastet wird. Wenn der Integritätsaspekt der Ganzheit hier bereits verschiedentlich mit einer fundamentalen Schutzbedürftigkeit des Menschen assoziiert worden ist, dann wurde dabei auf das Vorhandensein einer existenziellen Minimalg­ renze angespielt, deren psychophysische Wahrnehmung für die Integrität ei­ nes Menschen von herausragender Bedeutung ist. Personen müssen sich als weitgehend unversehrte Einheiten erfahren können, und zwar nicht zuletzt in Abgrenzung zu anderen. Menschen, die einer körperlichen Gewalttat zum Opfer fallen, machen die Erfahrung, dass mit der physischen Verletzung na­ hezu unablösbar auch ein spezifisch psychisches Leiden einhergeht. Der tätli­ che Angriff eines feindlich gesinnten Menschen wird als ein gewaltsamer und zumeist auch demütigender Kontrollverlust erfahren, der einen Bruch mit der sozialen und auch objektiven Realität bewirkt, von dem das »Urvertrauen« in die Welt erschüttert wird.77 Für die vorsätzliche Körperverletzung ist demnach ein überaus enger Zusammenhang von physischer Einwirkung und psychi­ scher Schädigung charakteristisch.78 76 | Zweifelsohne setzen »Straftaten gegen das Leben« (§§ 211-222 StGB) auf einer noch tieferen Ebene an als die im Folgenden diskutierten Fälle, weil sie, man denke hier nur an Mord und Totschlag, die Chancen auf ein integres Leben nicht nur verschlechtern, sondern zunichte machen. An dieser Stelle wird jedoch allein von solchen Integritätsverletzungen die Rede sein, mit denen das Opfer buchstäblich »leben« muss. 77 | Elaine Scarry (1992): Der Körper im Schmerz, Frankfurt a.M.: Fischer. 78 | Hiervon sind Fälle »fahrlässiger« Körperverletzung zu unterscheiden (§ 229 StGB). Der körperliche Schmerz wird bei vergleichbarem physischem Schaden zwar derselbe sein, die psychische Verletzung jedoch wird geringer ausfallen, wenn der Aspekt gewaltsamer Erniedrigung ausbleibt. Gleiches gilt für Verletzungen, an denen keine Personen,

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Ähnlich verhält es sich auch bei einem zweiten Typus leib-seelischer Ver­ sehrung: in Fällen des in den §§ 174ff. StGB geregelten »Missbrauchs«. Unter diesen Straftatbestand werden gemeinhin solche Delikte subsumiert, in de­ nen einwilligungsunfähige Schutzbefohlene, z.B. Kinder oder geistig Behin­ derte, von Erwachsenen bzw. Älteren unter Ausnutzung eines bestehenden Abhängigkeitsverhältnisses sowie unter Einsatz körperlicher und geistiger Überlegenheit zu sexuellen Handlungen »verführt« oder gedrängt werden. Kaum jemand wird heute noch ernsthaft bestreiten wollen, dass der psycho­ physische Schaden, den Missbrauchsopfer davon tragen, immens sein kann. Er reicht von akuten körperlichen Symptomen, z.B. Geschlechtskrankheiten oder ungewollter Schwangerschaft, über psychische Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsstörungen, z.B. Zwanghaftigkeit, Lernunwilligkeit oder gar Suizidalität, bis hin zu lebensgeschichtlich nicht selten ungeklärt bleibenden psychosomatischen Erkrankungen, z.B. schweren Allergien oder auch Essstö­ rungen.79 So unbestritten diese Erkenntnisse auch sind, mit Blick auf die In­ tegritätsproblematik erscheint es angebracht, die strafrechtliche Fokussierung der Missbrauchsproblematik auf das Feld von Sexualdelikten aufzuheben und einem breiter gefassten Begriff leib-seelischer Misshandlung zu folgen: Ver­ steht man unter Missbrauch jegliche Form der Bedrängung und Verführung, bei der es unter Ausnutzung eines Liebes-, Vertrauens-, Erziehungs-, Betreu­ ungs-, Ausbildungs-, Arbeits-, Amts- oder sonstigen Abhängigkeitsverhältnis­ ses zu Akten einer psychophysischen Instrumentalisierung und Schädigung kommt, die allein dem Ziel der Lustbefriedigung des Täters dient, so wird deutlich, dass entsprechende Verletzungserfahrungen nicht nur auf die Erfah­ rungswelt sexuell misshandelter Menschen beschränkt sind. Nicht allein der Trieb zur sexuellen Befriedigung, sondern auch sadistische Aggressionsschü­ be, brennender Hass, pathologischer Geltungsdrang, krankhafter Machtwahn oder ökonomische Habgier können Ursache für moralisch relevante Miss­ brauchsdelikte sein. Diese zeichnen sich allesamt dadurch aus, dass die auf der Opferseite bewirkte Integritätsverletzung als ein komplexes psychophysisches Erfahrungsgemisch aus Angst und Ohnmacht, Vertrauensverlust und Hilflo­ sigkeit, Entfremdung und Unterwerfung, Erniedrigung und Schändung, Wut und Verzweiflung, Scham und sogar Schuld durchlitten werden. Erfahrungen von Missbrauch führen zu einem Bruch im Selbst- und Weltverhältnis des Op­ fers, der so gravierend sein kann, dass ihm sowohl die Fähigkeit zu intimen und vertrauensvollen Sozialbeziehungen als auch das Vermögen zu einem un­ sondern ungünstige Umstände schuld sind. Vgl. Elisabeth List (1999): »Schmerz – Manifestationen des Lebendigen und ihre kulturellen Transformationen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 5/1999. 79 | Einführend zur Problematik: Dirk Bange/Wilhelm Körner (Hg.) (2002): Handwörterbuch sexueller Mißbrauch, Göttingen u.a.: Hogrefe.

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gestörten Selbstsein dauerhaft abhanden kommen. Damit ist dem Leben in Integrität der ethisch-existenzielle Boden entzogen. Besonders offenkundig wird dieser auf elementarster psychophysischer Ebene bewirkte Entzug ontologischer Sicherheit in Akten der »Vergewalti­ gung«. Aus strafrechtlicher Sicht fügen Vergewaltigungsdelikte dem Tatbe­ stand des sexuellen Missbrauchs den Aspekt »gewaltsamer Nötigung« hinzu. Laut §  178 StGB liegt ein Fall von Vergewaltigung dann vor, wenn der Täter durch Androhung oder Anwendung von Gewalt sein Opfer gegen dessen Wil­ len zu sexuellen Handlungen zwingt.80 Wer in der kalkulierten Unsichtbarkeit des nächtlichen Stadtparks oder auch des heimischen Wohnzimmers verge­ waltigt wurde, hat erfahren müssen, dass die intime körperliche Invasion, ne­ ben den rein physischen Schmerzen, als ein ganzheitlicher Verlust an Selbst­ bestimmung und Selbstkontrolle durchlitten wird, der mit einer tiefgreifenden Einbuße an Selbst- und Weltvertrauen einhergeht.81 Auch noch im Nachhinein erwächst diese schmerzvolle Verunsicherung aus der Erinnerung, schutz- und wehrlos dem niederträchtigen Trieb und Willen eines anderen Menschen aus­ geliefert gewesen zu sein: »Rape with profound brutality had initiated a maturational journey whereby sexual identity, sexual relations and social independence would have to be integrated again. This journey she approached tentatively, reservedly and with wounds. The rape threatened to destroy her relationships interpersonally and intrapsychically. […] It was not only a violation of her physical integrity, but also intrinsically of her inner integrity.« 82

In genau dieser Hinsicht weisen Vergewaltigungsfälle zahlreiche Ähnlichkei­ ten zur vierten und letzten der hier zu nennenden Integritätsverletzungen auf, und zwar zu Akten der »Folter«. Auch im Zuge einer Folterung soll ein Mensch mit äußerster Gewalt dazu gebracht werden, etwas zu tun, was er ansonsten 80 | Hier soll nicht ausnahmslos von Männern als Tätern und Frauen als Opfern die Rede sein, obgleich diese Konstellation zweifellos die häufigste ist. Man darf sich jedoch fragen, wie es kommt, dass dieselben Gewaltakte, wenn sie an Männern vollzogen werden (etwa Vergewaltigungen in Gefängnissen) aus gesellschaftlicher Sicht – strafrechtlich ist das inzwischen geändert worden – nicht gleichermaßen als Vergewaltigung anerkannt sind. Dies mag daran liegen, dass Männer sich in der öffentlichen Wahrnehmung schon deshalb nicht als Opfer »eignen«, weil sie normalerweise eben die Täter sind. Dazu auch Hans Peter Duerr (1993): Obszönität und Gewalt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, § 17. 81 | Dazu Keith Burgess-Jackson (Hg.) (1999): A Most Detestable Crime: New Philosophical Essays on Rape, New York u. Oxford: Oxford UP. 82 | Rose Hughes (1998): »Rape! The Violation of Integrity and Will«, in: Mair Reese (1998) (Hg.): Drawing on Difference, London u. New York: Routledge, S. 122.

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niemals tun würde, wobei das Opfer auch hier an einem zugleich körperli­ chen wie seelischen Übergriff zu zerbrechen droht. Von den zuletzt genannten Typen von Integritätsverletzungen und vermutlich selbst noch von der Ver­ gewaltigung unterscheidet sich diese vielleicht grausamste und destruktivste Invasion dadurch, dass gerade ihre sich langfristig auswirkende »Brechungs­ funktion« im Zentrum der Täterintentionen steht.83 Das Folteropfer soll nicht nur gequält und so dazu gebracht werden, einen ganz bestimmten Sachverhalt zu gestehen oder einer Überzeugung abzuschwören, es soll vielmehr so fun­ damental verletzt, ja, ruiniert werden, dass es auch lange nach dem Martyrium nicht mehr zu sich selbst zurückzufinden vermag. Wenn es dem Folterer allein um das erzwungene Geständnis ginge, so wäre zweifellos fraglich, warum Fol­ teropfer in der Regel eben nicht getötet werden, sobald sie getan haben, wozu sie gezwungen werden sollten.84 Zwar mag das vorkommen, und oft werden sich Folteropfer im Nachhinein geradezu wünschen, dass sie lieber gestorben wären, doch wird die Tatsache, dass es zahlreiche Überlebende der Folter gibt, kaum auf einen Restbestand an humanistischer Moral seitens der Täters zu­ rückzuführen sein. Im Zentrum steht vielmehr deren sadistische Intention, ihr Opfer mit der Erinnerung an die vernichtende Qual erneut in die Welt zu entlassen, wo sie sich dann kaum mehr zurechtfinden werden. Beispiele von Folter machen deutlich, »daß es noch Schlimmeres gibt, als Menschen so zu peinigen, daß sie vor Qual schreien: man kann die Qual so ausnutzen, daß die Gepeinigten auch dann, wenn die Qual vorbei ist, nicht wieder zu sich finden können. Man erreicht das dadurch, daß man sie dazu bringt, Dinge von einer Art zu tun oder zu sagen – möglichst auch zu glauben, zu wünschen, zu denken –, die es den Gequälten unmöglich macht, sich jemals damit abzufinden, daß sie dazu fähig waren.« 85

Fassen wir die vier hier erläuterten fundamentalen Verluste psychophysischer Ganzheit zusammen  – Körperverletzung, Missbrauch, Vergewaltigung und Folter –, dann mag es auf den ersten Blick so scheinen, als sei die in diesen Integritätsverletzungen zum Ausbruch kommende Gewalt als derart unmit­ telbar und notwendig interpersonal aufzufassen, dass die Möglichkeit, auch hier von Phänomenen »struktureller Gewalt« zu sprechen, von vornherein ausscheidet. Gleichwohl sind Gewaltakte zu verzeichnen, die sich von vorsätz­ 83 | Dazu Rorty (1989), Kap. 8; Scarry (1992), Kap. 1. Siehe aber auch die Beiträge in: Sepp Graessner/Norbert Gurris/Christian Pross (Hg.) (1996): Folter, München: Beck. 84 | Angesichts der Brutalität, die sich in der Folter durchsetzt, wird man sich mit der durchaus furchteinflößenden These abfinden müssen, dass die Gewalt umso stärker sein wird, je höher das Maß an Integrität auf Seiten des Opfers ist. 85 | Rorty (1989), S. 287f.

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lichen face to face -Delikten dahingehend unterscheiden, dass sie »im Namen« einer eher anonymen Institution oder auch eines Staates verübt werden. Politi­ sche Gefangene, die von einem Unrechtsregime dazu verurteilt werden, in ei­ nem Arbeitslager zu schuften, windige Unternehmen, die ihre Niedriglohnar­ beiter systematisch ausbeuten, Frauen, die im Krieg von feindlichen Soldaten vergewaltigt werden, mutmaßliche Straftäter, die von Polizisten durch Folter zu Geständnissen gezwungen werden: Für sie alle mag der Täter eine eher anonyme »Fratze« haben und die Verletzung dennoch gleich schwer wiegen. Dementsprechend kann auch hier, im Fall von Übergriffen auf die Ganzheit und Unversehrtheit von Personen, von strukturbedingten Integritätsverlet­ zungen die Rede sein. Insbesondere am letzten Beispiel, dem der Folter, wird deutlich, was zum Ende dieser phänomenologischen Skizze für alle der insgesamt sechzehn typi­ schen Integritätsverletzungen behauptet werden muss: Sie sollten keineswegs als völlig voneinander zu trennende Phänomene aufgefasst werden. Zunächst ist zu bedenken, dass invasive Eingriffe in die Integrität häufig nicht auf nur einen der vier zentralen Integritätsaspekte beschränkt bleiben. Das Beispiel der Folter zeigt, dass ein Verlust an psychophysischer Ganzheit mit einer Ein­ buße sowohl an Selbsttreue wie auch an Rechtschaffenheit und Integriertheit einhergehen kann. Das Folteropfer mag angesichts der körperlichen Qual mit dem Verlust seiner Ganzheit zugleich auch einen vehementen Kontrollverlust erleiden, der seine Selbsttreue untergräbt. Der Gefolterte mag zudem das Ge­ fühl der Rechtschaffenheit einbüßen, wenn er zu einem folgenreichen Verrat an der »gemeinsamen Sache« oder einem Mitmenschen gezwungen wird. Er mag sich überdies, und zwar im Nachhinein, außerstande sehen, die erlittenen Qualen und den begangenen Verrat retrospektiv in sein Selbstbild einzupas­ sen, wodurch ihm auch noch seine Integriertheit abhanden kommt.86 Darüber hinaus ist festzustellen, dass die Integrität von Personen zur sel­ ben Zeit gleich mehrere typische Verletzungen erleiden kann. Folter kann mit Vergewaltigung einhergehen, falsche Verdächtigung mit Hinterhältigkeit, Erpressung mit Körperverletzung, Missbrauch mit Lüge, Bestechung mit Verleumdung etc. Daher sind die hier aufgeführten sechzehn Integritätsver­ letzungen als analytische »Typen« zu betrachten, die sich jeweils primär auf eine der vier Integritätsdimensionen auswirken, die in der Praxis aber kei­ neswegs unabhängig voneinander auftreten müssen. Fassen wir zusammen: Angriffe auf die Selbsttreue einer Person  – Bestechung, Nötigung, Erpres­ sung und Zwang  – forcieren Kursabweichungen des Handelns, bis sich die Betroffenen am Ende nicht länger mit einem »eigenen« ethisch-existenziellen

86 | Aus Platzgründen bleibt mir hier lediglich die Behauptung, dass sich ähnliche Kombinationen für alle genannten Integritätsverletzungen konstruieren lassen.

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Lebensvollzug identifizieren können. Anschläge auf die Rechtschaffenheit einer Person – üble Nachrede, Verleumdung, falsche Verdächtigung und fal­ sche Verurteilung  – machen es einer Person dauerhaft unmöglich, sich als ein moralisch bzw. sittlich tolerables Mitglied der Gemeinschaft wertschätzen zu können. Attacken auf die Integriertheit einer Person  – Täuschung, Lüge, Hinterhältigkeit und Indoktrination – bewirken den Verlust eines kohärenten autobionarrativen Selbstbildes. Gewalttätige Akte gegen die Ganzheit einer Person – Körperverletzung, Missbrauch, Vergewaltigung und Folter – greifen derart tief in den ethisch-existenziellen Lebenszusammenhang ein, dass die für personale Integrität so wichtige »Bejahung« des eigenen Lebens selbst auf elementarster Ebene in Frage steht.

4.4 S cham und S chuld : D ie emotionale K ehrseite der A ussenansicht Als besonders grausam und schwer heilbar werden sich insbesondere die zu­ letzt genannten Integritätsverletzungen immer dann erweisen, wenn retros­ pektiv, also in der Erinnerung an erlittene psychische und körperliche Qualen, Gefühlzustände der Scham und Schuld auftreten, in denen sich das Opfer auf seltsame Weise als »Mittäter« erfährt. So wird etwa aus der therapeutischen Praxis der Behandlung von Vergewaltigungsopfern von nicht selten beklem­ menden Selbstvorwürfen berichtet, die von dem Verdacht, in der fraglichen Situation des Überfalls zu leichtsinnig gewesen zu sein, über das demütigende Gefühl, in den Augen Eingeweihter von nun als »armes Opfer« zu gelten, bis hin zu dem brutalen Eingeständnis reichen können, trotz aller Grausamkeit des Verbrechens dennoch auch sexuelle Erregung verspürt zu haben.87 Ver­ gleichbares gilt für Folteropfer, die noch lange nach dem grausamen Erlebnis mit dem schmerzvollen Wissen zu kämpfen haben, dass sie, wenn auch un­ ter Zwang, zu unverzeihlichen Geständnissen »fähig« waren. Als bestialisch wird von den Betroffenen nicht zuletzt auch die Erinnerung an jene Momente geschildert, in denen sie angesichts äußerster körperlicher und seelischer Ent­ würdigung und Selbstaufgabe schmachvoll den amüsierten Blicken der Täter ausgesetzt waren.88 Diese ohnehin schon dramatischen Scham- und Schuld­ gefühle der Opfer werden häufig durch das fehlende Verständnis oder gar das Misstrauen ihres sozialen Umfeldes nur noch verstärkt und können sich so zu martialischen Seelenqualen und Desintegrationen steigern, die es dem un­ 87 | Ich stütze mich auf Bettina S. Reher (1995): Schamgefühle von sexuell miß­ brauchten Mädchen und Frauen, Frankfurt a.M. u.a.: Lang. 88 | Ich verzichte auf ekelerregende Details. Siehe aber Wolfgang Sofsky (1996): Traktat über die Gewalt, Frankfurt a.M.: Fischer, Kap. 5.

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ter Selbstvorwürfen leidenden Vergewaltigungs- bzw. Folteropfer dauerhaft unmöglich machen, überhaupt noch zwischen Gut und Böse zu unterschei­ den. Nicht selten werden die schrecklichen Ereignisse dann so grundlegend psychisch verdrängt, dass die Betroffenen sich nach einer gewissen Zeit nicht einmal mehr selbst ganz sicher sein können, ob sie tatsächlich Opfer sind.89 Doch müssen wir nicht erst zu derart extremen Beispielen greifen, damit deutlich wird, inwiefern Gefühlszustände der Scham und Schuld für Inte­ gritätsverluste, die das interpersonale Außenverhältnis betreffen, typisch sind. Schon in weit weniger gravierenden Situationen, so wird sich nun zeigen, durchlebt der Mensch Gefühle der Scham und Schuld als sozial induzierte Störungen seiner Integrität. Anders jedoch als die in Kapitel 3 diskutierten Ge­ fühlskomplexe Angst und Selbstfremdheit ergeben sich Scham- und Schuld­ gefühle weniger aus der unmittelbaren introspektiven Selbstansicht, sondern vielmehr erst dann, wenn sich die Betroffenen mit den Augen anderer, d.h. aus der Außenansicht, betrachten. Scham und Schuld, so die heute gängige Über­ zeugung, sind genuin »soziale« Gefühle, denn sie entstehen gewissermaßen »zwischen« den Individuen.90 Es bedarf dazu auf Seiten der jeweiligen Schambzw. Schuldsubjekte eines dezentrierenden Perspektivenwechsels, der durch die reale oder doch zumindest vorgestellte Beobachtung und Beurteilung durch ein Publikum eingeleitet wird. Es sind stets konkrete oder wenigstens imaginierte Andere, vor denen wir uns schämen oder eben schuldig fühlen.91 Allerdings erschöpft sich der spezifisch soziale Charakter von Scham- und Schuldgefühlen nicht schon in einem für die Betroffenen als quälend empfun­ denen Sich-ertappt-Fühlen. Die Blicke anderer, ob wirklich oder bloß imagi­ niert, machen uns auf einen unangenehmen Sachverhalt mit möglicherweise weitreichenden sozialen Konsequenzen aufmerksam: Scham und Schuld fühlt der Mensch dann, wenn er befürchten muss, einen schwerwiegenden Fehler begangen zu haben, indem er gegen eine als gültig anerkannte Verhaltens­ erwartung verstoßen hat. Es ist stets die Verletzung gemeinsam anerkann­ ter Verhaltensstandards bzw. Normen, für die wir uns schämen bzw. schul­ dig fühlen, und entsprechende Gefühlsregungen vernehmen wir in solchen Momenten, in denen wir fürchten, in den Blicken der mutmaßlich erbosten oder gar empörten Anderen die Ankündigung sozialer Sanktionen ausmachen

89 | Vgl. Graessner/Gurris/Pross (1996). 90 | Vgl. Taylor (1985). 91 | Dass man Scham und Schuld selbst dann empfinden kann, wenn (noch) niemand von jenen Umständen weiß, aufgrund derer man sich schämt oder schuldig fühlt, spricht für die Annahme, dass die Antizipation des Entdeckt-Werdens ausreicht.

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zu können.92 Betrachten wir ein Beispiel und fragen uns, von welcher Art die Standards und Normen sind, deren Verletzung Scham- und Schuldgefühle auslösen kann. Dabei werden die Ähnlichkeiten, vor allem aber auch die Un­ terschiede zwischen beiden Gefühlen hervortreten. Man erinnere sich an unseren verschuldeten Beamten im Tief bauamt und stelle sich vor, dass der Bestechungsskandal, in den er sich hat verwickeln las­ sen, aufgeflogen ist. Eines Morgens betreten uniformierte Polizisten das Groß­ raumbüro im siebten Stock des Rathauses, erkundigen sich nach Herrn K., steuern seinen Schreibtisch an und teilen ihm mit, dass er festgenommen sei. Vor den Augen seiner entsetzten Kolleginnen und Kollegen wird der bis dato als gewissenhafter Mitarbeiter und unbescholtener Familienvater geltende K. in Handschellen abgeführt. Mit gesenktem Haupt wird er zum Fahrstuhl ge­ leitet. Da K. lange Zeit durchaus zu Recht als ein guter Beamter galt, der an­ ständig und verlässlich seine Arbeit verrichtete, bis er sich beim eigenen Haus­ bau finanziell übernahm, ist davon auszugehen, dass ihm seine Festnahme vor den versammelten Kolleginnen und Kollegen mehr als nur peinlich ist. Er wird sich vielmehr bodenlos schämen.93 Für was aber genau? K. ist in der Vergan­ genheit stets darum bemüht gewesen, als ein gewissenhafter Mitarbeiter aner­ kannt und geschätzt zu sein. Er hat also einen guten Ruf zu verlieren, sodass ihn der Gedanke, seine Kollegen könnten eben dieses Bild in Erinnerung be­ halten – K. in Handschellen, abgeführt von der Polizei –, quälen wird. Alles in ihm sträubt sich gegen die schmerzhafte Vorstellung, von diesem schwarzen Tag an auf das Image eines scheinheiligen und kriminellen kleinen Beamten festgelegt zu sein. Die Scham des Herrn K. ist demnach offenkundig das Resultat eben die­ ser drohenden Festlegung und »Objektivierung«: Angesichts des Umstandes, ertappt worden zu sein oder auch nur eines Tages ertappt werden zu können, muss das Schamsubjekt befürchten, dass ein ungewollt entstehendes Fremdbild von der eigenen Person plötzlich unbeeinflussbar und unrevidier­ bar wird.94 Deshalb richtet K., als man ihn abführt, seinen Blick zu Boden. Schamsubjekte tun dies in der nahezu kindlichen Hoffnung, den Augen der Zuschauer, die dieses Bild zu memorieren beginnen, dadurch ausweichen zu können.95 Aber folgen wir K. und den Polizisten weiter bis zum Fahrstuhl. Den konsternierten Blicken seiner Kolleginnen und Kollegen entronnen, be­ 92 | Zur Scham siehe den Literaturüberblick von Matthias Schloßberger (2000): »Philosophie der Scham«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 5/2000. Zur Schuld siehe Paul Ricœur (1994): Phänomenologie der Schuld, 2 Bände, Freiburg: Alber. 93 | Peinlichkeit kann als schwache Form der Scham verstanden werden. 94 | Dazu das berühmte »Schlüsselloch«-Beispiel bei Sartre (1952/1991), S. 467ff. 95 | Das typische Körperverhalten der Scham wird betont in: Hilge Landweer (1999): Scham und Macht, Tübingen: Mohr.

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ginnt K. mehr und mehr zu realisieren, was mit ihm geschieht. Vermutlich wird seine noch ahnungslose Familie bereits in wenigen Stunden erfahren, was für ein verantwortungsloser Ehemann und Vater er gewesen ist. Er wird sie alle ins Unglück stürzen. Spätestens in diesem Moment wird ein zweites heftiges Gefühl aufkommen, das von der Scham substanziell zu unterschei­ den ist: Schuld. Herr K. realisiert erst jetzt, dass er nicht nur gegen das Gesetz verstoßen, sondern dadurch vermutlich auch noch seine Familie ruiniert hat. Zuvor mag er deshalb bereits erste Gewissensbisse verspürt haben, nun aber verwandeln sich diese in heftige Schuldgefühle.96 Es ist nicht so sehr, wie bei der Scham, sein beschmutztes Fremdbild, dessen Unrevidierbarkeit K. beun­ ruhigt, es scheint vielmehr die Tat selbst zu sein, die nicht mehr rückgängig zu machen ist und eben darum Schuldgefühle auslöst. Die Gewissheit, dass K. kausal für eine gravierende Schädigung seiner Mitmenschen – und zwar selbst noch jener, die er liebt – verantwortlich ist, peinigt ihn so sehr, dass er sich »ohrfeigen« könnte oder gar am liebsten »tot sehen« würde.97 Setzen wir voraus, dass sich diese hier in aller Kürze vorgenommenen Cha­ rakterisierungen tatsächlich verallgemeinern lassen, so ist zunächst festzu­ stellen, dass ein und dasselbe Ereignis sowohl Scham- als auch Schuldgefühle auslösen kann. Wie aber genau muss zwischen ihnen unterschieden werden? Die Antwort lautet: In Situationen der Scham geht es darum, dass die betref­ fende Person durch ihr Verhalten ungewollt das Bild schädigt, das andere Per­ sonen von ihr haben, während Schuldgefühle sie darauf aufmerksam machen, dass sie unmittelbar diese anderen Personen verletzt. Scham ist jenes Gefühl, mit dem der Mensch auf schwerwiegende und nicht selten selbstverschuldete Trübungen jenes Bildes reagiert, von dem er hofft, dass andere es von ihm ha­ ben. Scham kratzt an dem, was man das »ideale soziale Selbst« nennen kann. Hier geht es um die nach Außen verkörperte, soziale Identität einer Person. Wer Scham empfindet, spürt, dass sich sein ideales soziales Selbst anderen gegenüber nicht weiter aufrechterhalten lässt. Schuld hingegen muss als jene schmerzhafte Empfindung verstanden werden, die auf die Einsicht folgt, dass wir mit unserem Verhalten nicht nur uns selbst, sondern vor allem anderen Personen gravierend zum Nachteil gereichen. Wir sind moralisch oder recht­ lich dafür verantwortlich zu machen, dass sich deren Chancen, ein gutes Le­ ben zu führen, aufgrund unserer Verfehlungen verschlechtert haben. Hand­ lungen, mit denen wir Schuld auf uns laden, indem wir uns an der Moral oder

96 | Gewissensbisse sind als schwache Form der Schuld aufzufassen. 97 | Vgl. Max Scheler (1924/1954): »Reue und Wiedergeburt«, in: ders. (1954): Vom Ewigen des Menschen, Bern: Francke.

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auch am Recht vergehen, beschmutzen unser »ideales moralisches Selbst« und hinterlassen Flecken auf unserer »weißen Weste«.98 Demnach müssen beide Gefühle, Scham nicht weniger als Schuld, auf die Enttäuschung von sozialen Verhaltenserwartungen zurückgeführt werden, wenngleich auf je spezifische Weise: Mit Scham reagiert der Mensch auf den Umstand, seinem Ansehen in den Augen jener geschadet zu haben, die bis­ lang davon ausgehen durften, dass er diesem Ansehen gerecht werden wür­ de. Schuldgefühle hingegen resultieren aus der Verletzung von moralischen und rechtlichen Normen, von denen die anderen erwarten konnten, dass der betreffende Mensch sie einhalten würde. Psychoanalytisch ausgedrückt und zugleich auch in das Integritätsvokabular übersetzt: Mit Scham reagiert eine Person auf eine nach außen hin sichtbar werdende Abweichung vom eigenen »Ich-Ideal«, d.h. auf ein Abschweifen von ethisch-existenziellen Selbstver­ pflichtungen. Hier ist vor allem der Integritätsmodus der Selbsttreue berührt. Demgegenüber beruht Schuld auf einer Diskrepanz zum »Über-Ich«, d.h. auf Abweichungen vom moralisch Gebotenen. Dabei steht primär der Integritäts­ modus der Rechtschaffenheit in Frage. Bedenken wir aber, dass ein Mensch sich in der Scham deshalb als minderwertig erlebt, weil er nicht so ist, wie er zu sein hofft, und er sich in der Schuld insofern fremd vorkommt, als er nicht glauben kann, dass er derjenige ist, der die betreffende Tat begangen hat, so dürfte offenkundig sein, dass in Scham- und Schuldsituationen die Integrität insgesamt, d.h. samt der Modi Integriertheit und Ganzheit, ins Wanken gerät. Ein Mensch, der tiefgreifende Erfahrungen von Scham und Schuld durchlei­ det, fühlt sich, wie es oft heißt, nicht mehr wohl in seiner »Haut«. Dies kann als deutliches Symptom für einen Integritätsverlust gedeutet werden, der mal kürzer, mal länger andauern kann. Beide Gefühle bewirken spürbar einen Riss im ethisch-existenziellen Selbstbild: Auf der einen Seite sehen wir uns ei­ nem idealen Selbst gegenüber, das wir gerne sein möchten und als das wir von anderen wahrgenommen werden wollen, auf der anderen Seite sind wir jedoch stets auch mit einem realen Selbst konfrontiert, das sich selbst und anderen Schaden zufügen kann. Damit sind Scham- und Schuldgefühle zwar grundsätzlich als Anzeichen einer fundamentalen Integritätsbedrohung aufzufassen, doch sind sie aus Sicht der Integritätsanalyse darum nicht schon per se als negativ einzustufen. Ähnlich wie die Gefühle der Angst und der Selbstfremdheit können auch Scham und Schuld eine wichtige Warnfunktion übernehmen: Angesichts der stets gegebenen Gefahr, dass die Kluft zwischen idealem und realem Selbst so groß wird, dass die Integrität der betreffenden Person auseinander

98 | Zu diesen Unterscheidungen siehe auch Arnd Pollmann (2001b): »Scham, Norm, Selbst«, in: Ethik und Sozialwissenschaften, 3/2001.

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bricht, kann die von außen bewirkte, zunächst zweifellos als unangenehm erfahrene Perspektivenverschiebung einen gleichwohl positiven Reintegra­ tions- und Revisionsdruck ausüben. Personen, die Scham und Schuld emp­ finden, ahnen bereits, dass sie der Desintegration anheim zu fallen drohen und zudem das Wohlwollen ihrer Mitmenschen aufs Spiel setzen. Scham und Schuld halten uns dazu an, Entgleisungen im Umgang mit anderen Menschen in Grenzen zu halten und möglichst zu vermeiden. Die Scham weist uns darauf hin, dass der Mensch mit seinem Selbstbild stets auch einen sozialen Ruf zu verlieren hat. Schuldgefühle informieren uns darüber, dass wir durch abstrakte Normen hindurch immer auch konkrete andere Men­ schen verletzen können. Dazu noch eine wichtige Unterscheidung: Mit Blick auf jene Menschen, von denen sich Scham- und Schuldsubjekte ertappt fühlen, wird sich die Scham »Vergessen« wünschen, während die Schuld um »Vergebung« bitten muss.99 Da diese doppelte Nachsicht dem Scham- und Schuldsubjekt aber allenfalls dann zuteil werden wird, wenn es selbst diesen anderen gegenüber Einsicht zu demonstrieren vermag, muss eine bewusste Konfrontation mit diesen so unangenehmen wie aufschlussreichen Gefühlen aus Sicht per­ sonaler Integrität weit eher angebracht erscheinen als der Versuch, sie zu verdrängen. Eine Person, so ist zu vermuten, wird überhaupt erst dann zu gelingenden Sozialbeziehungen fähig sein, wenn sie diese soziale Gefühle zu verspüren und richtig zu deuten vermag. Sie zeigen uns die Grenzen der eigenen Selbstkontrolle auf. Das Leben in Integrität wird daher auf die prin­ zipielle Offenheit gegenüber scham- und schuldauslösenden anderen Perso­ nen, d.h. auf die Gefahr eines nicht selten »höllischen« Eindringens fremder Blicke100, kaum verzichten können. Auch in dieser Hinsicht muss also die oben bereits mehrfach korrigierte Annahme eines vermeintlichen Strebens nach vollkommener Ganzheit revidiert werden. Erst starke, verstörende Emo­ tionen dieser Art lassen die Umrisse eines von anderen Personen psychophy­ sisch abgrenzbaren »Behälters« erkennen,

99 | Richard Wollheim (1999): On the Emotions, New Haven: Yale UP, S. 156. Im Hinblick auf die Rolle konkreter anderer Personen sollten zudem auslösende und vermeidende Verhaltensweisen unterschieden werden: Während Akte der Bloßstellung, Schmähung oder Erniedrigung Scham auslösen, kann dies in brenzligen Situation durch Takt, Mitgefühl und Toleranz vermieden werden. Während Akte der Empörung, Inkriminierung und Denunziation zu Schuldgefühlen führen, werden diese durch Großzügigkeit, Vergebung oder Freispruch abgewendet. 100 | Dieser feindliche Blick wird in Sartres Stück Geschlossene Gesellschaft bekanntlich mit folgenden Worten bedacht: »Die Hölle, das sind die anderen«.

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Integrität »dessen Wände vor der Außenwelt schützen, aber zugleich für die Suche nach deren Unterstützung durchlässig sind. Natürlich ist das Selbst niemals autark, und die Bilder, die Stoiker gern verwenden – Bilder von Geschlossenheit, Festigkeit, Undurchdringlichkeit – sind nicht nur ungenau, sondern ziemlich gefährlich für jemanden, dessen Leben sich in einer Welt abspielt, die voller wirklicher Gefahren und dringlicher Bedürfnisse nach äußeren Gütern ist.«101

101 | Nussbaum (2000), S. 101f.

5 . Die nähere Verwandtschaft der Integrität: Würde und Ehre, Freiheit und Autonomie, Authentizität und Wahrhaftigkeit Bevor wir uns dem Problem zuwenden werden, wie das Verhältnis des Be­griffs personaler Integrität zu verwandten, wenngleich traditionsreicheren Idealen der Praktischen Philosophie beschaffen ist, sollten wir die bisherigen Ergebnis­ se dieses Buches Revue passieren lassen. Kapitel 1 begann mit einer Skizze des normativen Begründungsproblems zeitgenössischer Sozialphilosophie, durch die wir zu der Annahme geführt worden sind, dass die Sozialpathognostik un­ serer Tage fast ausnahmslos auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einer for­ malen Idee ungestörten Selbstseins rekurriert. Für eben diese Idee bot sich der Terminus »Integrität« als passendes Etikett an. Daraufhin diente das begriffs­ klärende Kapitel  2 dem Aufweis unterschiedlicher philosophischer Verwen­ dungsweisen des Integritätsbegriffs, von denen behauptet wurde, dass sie je nach disziplinärem Kontext variieren. Aus ethischer, moralischer, psychologi­ scher und sozialphilosophischer Sicht wurden der Integritätsdebatte genau vier zentrale Bedeutungsdimensionen entnommen: das Prinzip der »Selbsttreue und Unbestechlichkeit« als der Übereinstimmung von ethisch-existenziellem Selbstbild und individuellem Lebensvollzug; das Gebot der »Rechtschaffenheit und Unbescholtenheit« im Sinne einer moralischen Mindestanforderung, die auf die deliberative Berücksichtigung berechtigter Interessen anderer sowie auf die sittliche Tolerierbarkeit des je eigenen Lebensvollzuges pocht; das Ideal der »Integriertheit und Kohärenz«, mit dem ein auf autobionarrativem Wege gewonnenes, möglichst einheitliches Selbstbild angesteuert wird; schließlich das psychophysisch erfahrene Streben nach »Ganzheit und Unversehrtheit«, dem an der Intaktheit des je eigenen existenziellen Lebenszusammenhangs gelegen ist. Entgegen der zunächst naheliegenden Vermutung, es handele sich dabei um differierende Begriffe von Integrität, sollten deren unterschiedliche Kontex­ tualisierungen von Beginn an als Aufweis verschiedener Aspekte oder besser Modi ein und derselben Sache begriffen werden. Damit konnte im Folgenden – Schritt für Schritt – ein komplexerer Integritätsbegriff Gestalt annehmen, für

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den genau vier zentrale Merkmale kennzeichnend sind: Personen besitzen Inte­grität in einem umfassenden Sinn nur dann, wenn es ihnen möglich ist, von inneren und äußeren Zwängen relativ unbehelligt, (a) ein Leben in Ein­ klang mit dem eigenen standhaltenden Wollen, (b) in den Grenzen des sittlich Tolerablen sowie (c) auf Basis eines integrierten ethisch-existenziellen Selbst­ verständnisses zu führen, wobei sich insgesamt (d) eine Stimmung der Ganz­ heit einstellen muss, als deren Minimalbedingung seelische und körperliche Unversehrtheit zu gelten hat. Anders gesagt: Personale Integrität geht mit ei­ ner psychophysischen Gemütslage der Intaktheit einher, die auf der Gewiss­ heit beruht, dass die betreffende Person weitgehend so lebt, wie sie leben will, was nicht nur voraussetzt, dass sie tatsächlich weiß, wie sie leben will, sondern auch, dass sie sich annähernd im Klaren darüber ist, ob sie mit Rücksicht auf andere Menschen auch so leben wollen sollte. Mit diesen Unterscheidungen war angezeigt, dass die unterschiedlichen Verwendungen der Integritätskategorie bzw. deren unterschiedliche Modi er­ sichtlich nicht auf gleicher begrifflicher Ebene liegen, obwohl sie notwendig aufeinander verweisen: Selbsttreue meint die Übereinstimmung des Lebens­ vollzuges mit dem ethisch-existenziellen Selbstbild einer Person. Rechtschaf­ fenheit, d.h. moralische Integrität, ist als internes Korrektiv der Selbsttreue aufzufassen, von dem der ethisch-existenzielle Lebensvollzug insgesamt in die Grenzen moralischer Zulässigkeit verwiesen wird. Der Aspekt der Inte­ griertheit ist kategorial ganz anders geartet. Ihm ist an einer kohärenten Ein­ heit in der Vielheit divergierender Lebensvollzüge gelegen, und zwar sowohl in der horizontalen Dimension des eigentlichen Lebensvollzuges als auch in der vertikalen Dimension einer nicht selten in sich disparaten Lebensgeschichte. Der Aspekt der Ganzheit schließlich ist den drei übrigen Integritätsdimen­ sionen insofern übergeordnet, als er eben jene psychophysische Stimmung meint, die sich einstellen kann, wenn – und nur wenn – Integrität in jeder der drei zuvor genannten Hinsichten vorhanden ist. Vorerst musste der Aspekt der Ganzheit daher als »Resultat« der drei übrigen Integritätsmodi aufgefasst werden. Kapitel 3 vertiefte diesen begriffssystematischen Zusammenhang dann zu­ nächst anhand der Frage, inwieweit personale Integrität als ein schwieriges »Selbstverhältnis« beschrieben werden muss. Im ersten Schritt führte der Ver­ such einer Klärung dessen, was es heißt, Werte zu haben, zur Einsicht in einen ersten prototypischen Integritätsmangel: Wer der unhintergehbaren, aus dem Widerstreit von divergenten Wertbindungen resultierenden Konflikthaftigkeit des Lebens durch Verdrängung, Vertagung oder ähnliche Strategien dauerhaft ausweicht, legt »Konfliktscheue« an den Tag. Er widersetzt sich Lernprozessen, tritt auf der Stelle und kommt daher als Kandidat für die Zuschreibung von Integrität kaum mehr in Frage. Im zweiten Schritt sollte verständlich werden, was es heißt zu wissen, wie man leben will. Dabei stießen wir auf ein zweites er­

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hebliches Integritätsdefizit: das Phänomen der »Selbsttäuschung«. Es kommt dort vor, wo sich Personen aus – zumeist nachvollziehbaren, wenngleich letzt­ lich irrationalen  – Gründen sträuben, Informationen adäquat zur Kenntnis zu nehmen, die für sie relevant, aber zugleich auch unangenehm sind. Im dritten Schritt ging es dann um die Frage, was es bedeutet, tatsächlich so zu leben, wie man leben will. Hier kam als dritter typischer Integritätsmangel das philosophisch altehrwürdige Problem der »Willensschwäche« zum Vorschein. Personen, so lautete das Ergebnis, haben als willensschwach und daher auch als nicht integer zu gelten, wenn sie sich regelmäßig in ethisch-existenziellen Konfliktsituationen, ohne dass sie durch innere oder äußere Umstände dazu gezwungen werden, zugunsten jener Gründe entscheiden, die sie letztlich auch selbst für die schlechteren halten. Noch im selben Kapitel ergab sich dann die Notwendigkeit der Klärung, inwieweit es angesichts der drei diskutierten typischen Integritätsdefizite notwendig zu einem Leben in Integrität gehören muss, die eigene Existenz »bejahen« zu können. Aus der Einsicht, dass mit den Phänomenen Konfliktscheue, Selbsttäuschung und Willensschwäche existen­ zielle »Aporien« markiert sind – einerseits können wir diese ethisch-existen­ ziellen Schwachpunkte im Leben »nicht wirklich wollen«, andererseits kön­ nen wir jedoch genau so wenig auf sie verzichten  – ergab sich erstmals die vorsichtige Affirmation der vielleicht grundlegenden Aporie integren Lebens: Die im Bedürfnis nach Integrität zum Ausdruck kommende Sehnsucht nach »vollständiger« Ganzheit im Sinne der Abwesenheit von Konflikt, Unklarheit oder auch Scheitern wird niemals gänzlich zu befriedigen sein. Bevor diese Einsicht in Kapitel 4 auf das Problem übertragen werden konn­ te, inwieweit personale Integrität immer auch als ein schwieriges Verhältnis zu anderen beschrieben werden muss, sollte uns der Rekurs zu den biogra­ phischen Wurzeln der Integritätssehnsucht zurückführen und mit der Frage konfrontieren, welchen genaueren Inhalt dieses »Heimweh« hat. Im Rückgriff auf neueste entwicklungspsychologische Forschungsergebnisse wurde für die Annahme argumentiert, dass sich das Streben nach Integrität einem biogra­ phisch früh und auf schmerzliche Weise erworbenen Phantasma primordialer Interaktivität verdankt. Die verschüttete Erinnerung an faktisch erfahrene, pränatale Behaglichkeitszustände im Beisein eines beschützenden »Anderen« bleibt lebensgeschichtlich als phantasmatische Kontrastfolie bedeutsam, vor deren Hintergrund alle im späteren Leben erlittenen Integritätsverletzungen nur einen früheren Verlust intakter »Zwei-in-Einheit« widerhallen lassen. An dieser Stelle wurde deutlich, dass der Integritätsmodus der Ganzheit und Un­ versehrtheit, wie schon gegen Ende von Kapitel 2 vermutet, nicht nur als Resultat gelingender Lebensführung gedeutet werden muss, sondern immer auch, und zwar in Gestalt einer phantasmatisch erinnerten früheren Einheit, als Voraussetzung für ein entsprechendes Streben im späteren Leben. Demnach war der ominöse Andere fortan in doppelter Hinsicht als konstitutiver Bestandteil

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personaler Integrität aufzufassen: Das integre Leben zehrt von der Erinnerung an frühere Allianzen und bleibt daher zeitlebens notwendig auf integre Sozial­ beziehungen angewiesen. Damit war die Brücke zu Kapitel 4 geschlagen, in dem das Feld einer im­ mer schon gebrochenen Intersubjektivität sowohl als Ort der Möglichkeit in­ tegren Lebens wie auch als Schauplatz gravierender Verletzungserfahrungen ausgewiesen wurde. Ausgehend von der anthropologischen Prämisse, dass der Mensch ein schutz- und anerkennungsbedürftiges Wesen ist, wurde zunächst die elementare Sicherungsfunktion einer Moral der Unparteilichkeit bestätigt. Sie soll den Schutz der elementaren Grundbedingungen integren Lebens ge­ währleisten. Damit war erneut das Problem eines moralischen Minimums der Integrität berührt: Zwar kann personale Integrität im Ausnahmefall mit un­ moralischen Handlungen vereinbar sein, nicht aber mit Unmoral als solcher. Anschließend konnte geklärt werden, inwieweit uns das menschliche Grund­ bedürfnis nach Anerkennung zu wechselseitigen Erwartungen der Liebe und der Solidarität verleitet, die zwar den Rahmen einer reziproken Moral der Un­ parteilichkeit sprengen, auf deren Erfüllung das Leben in Integrität jedoch ebenfalls notwendig angewiesen ist. Daraufhin ließen sich mit Blick auf die vier Grundmodi der Integrität – Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit – zahlreiche prototypische Verletzungserfahrungen benennen, phänomenologisch erhellen und ihrem Schweregrad nach ordnen. Angesichts aggressiver Akte, die bis hin zu gewalttätigem Zwang, falscher Verurteilung, Gehirnwäsche oder gar Folter reichten, wurde anschaulich, wie nachhaltig destruktiv sich »invasive« Eingriffe in das integre Leben auf die betroffenen Personen auswirken können und wie entscheidend deren Integrität auf intakte Sozialbeziehungen und intersubjektive Schonung angewiesen ist. Soweit also die bisherigen Ergebnisse. Bevor wir uns in Kürze einer genau­ eren Abgrenzung dieses nunmehr komplexen Integritätsbegriffes zu verwand­ ten philosophischen Termini zuwenden werden, müssen jedoch zunächst noch einmal ausdrücklich genau sechs konzeptionelle Einschränkungen der Integritätsanalyse vorgenommen werden, die bereits an verschiedenen Stellen dieses Buches angeklungen sind, ohne jedoch zusammenhängend festge­ schrieben worden zu sein: (1) Es kann dem hier umrissenen Integritätsbegriff nicht schon gelingen, konkrete Meßmethoden zu liefern, anhand derer sich im Einzelfall exakt be­ stimmen ließe, ob angesichts einer durch Selbst- bzw. Fremdverschulden be­ wirkten Integritätsverletzung von einer graduellen Einbuße oder aber von ei­ nem völligen Verlust der Integrität die Rede zu sein hat. Manchmal summieren sich viele kleinere Integritätsmängel sukzessive zu einem Totalverlust, in an­ deren Fällen kann dazu eine einzige durchschlagende Verletzung ausreichen. Zuweilen ist die Integrität einer Person derart stabil, dass sie einen heftigen Schlag gut wegsteckt, ein anderes Mal jedoch derart brüchig, dass die Person

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schon bei kleineren Verletzungen aus der Bahn ihrer Integrität geworfen wird. Von außen lässt sich jedenfalls nur schwer beurteilen, inwieweit ein Mensch de facto Integrität besitzt. Gleichwohl gibt uns die Integritätsanalyse Begriffe und Kategorien an die Hand, mit deren Hilfe zumindest die Betroffenen selbst einzuschätzen vermögen, ob und inwieweit ihre Integrität gesichert oder aber durch Selbst- bzw. Fremdverschulden bedroht ist. (2) Aus der Differenz von partieller Einbuße und vollständigem Verlust er­ gibt sich konzeptionell die Notwendigkeit, zwischen einem bloß situativen und einem kontextübergreifenden Gebrauch der Integritätskategorie zu unterschei­ den. Es mag Momente geben, in denen eine Person auf nahezu vorbildliche Weise Integrität zu demonstrieren scheint, ohne dass sich jedoch mit Blick auf ihre gesamte Lebensführung tatsächlich von einer integren Person sprechen ließe. Auf der anderen Seite legen Personen bisweilen temporäre Integritäts­ defizite an den Tag, obwohl sie im Großen und Ganzen Integrität aufweisen. Auch hier kann nicht schon vorab und aus theoretischer Sicht vorentschieden werden, wie viele situative Integritätsbeweise uns dazu berechtigen, auch von einem kontextübergreifenden Besitz der Integrität ausgehen zu können. Eben­ so wenig ist bereits im Vorhinein abzuschätzen, wie oft sich eine langfristig stabile Integrität temporär »Ausnahmen« gönnen darf. Ein einziger Fehltritt kann die Integrität einer Person zerstören, in anderen Fällen jedoch mögen uns schon einige wenige vorbildliche Verhaltensweisen dieser Person dazu an­ halten, ihr auch umfassend Integrität zu attestieren. (3) Mit eben dieser Unterscheidung zwischen situativer und kontext-über­ greifender Begriffsverwendung geht die Einsicht einher, dass personale Inte­ grität zwar als zentrale Bedingung guten Lebens aufzufassen ist, dass diese Bedingung aber nicht stets schon in vollem Umfang erfüllt sein muss, damit wir von einem guten Leben reden können. Die Integrität einer Person hat kei­ neswegs auf lückenlose Weise Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Inte­griertheit und Ganzheit aufzuweisen. Sie muss nicht vollkommen frei von Integritäts­ mängeln der Konfliktscheue, Selbsttäuschung und Willensschwäche sein. Sie braucht auch nicht schon umfassend durch die Moral geschützt und durch Anerkennung nachhaltig abgesichert zu sein. Vielmehr reicht es aus, wenn all diese Voraussetzungen weitestgehend erfüllt sind. Die hier präsentierte Idee der Integrität ist lediglich als ein – wenn auch anspruchsvolles – »Leitbild« zu verstehen. Es muss durchaus graduelle Abstufungen zulassen, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil seine vollständige Verwirklichung aufgrund so mancher aporetischen Implikation dieses Ideals in diesem Leben ohnehin nicht erwar­ tet werden kann. Nicht alle Menschen haben Integrität, aber alle haben das Bedürfnis nach Integrität. Man sollte sich die Idee der Integrität daher weniger – klassifizierend  – als eine Eigenschaft vorstellen, die man entweder hat oder aber vermissen lässt, sondern – eher prozesshaft – als einen in Realisierung begriffenen »Anspruch« an sich selbst und andere.

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(4) Aus den zahlreichen Einzelbestimmungen der Integrität ergibt sich zweifellos ein insgesamt komplexes Abhängigkeitsverhältnis zwischen den je­ weiligen Charakteristika. Auch in lebenspraktischer Perspektive können die unterschiedlichen Integritätsaspekte kaum isoliert voneinander betrachtet werden, da Einbußen und Defizite in einzelnen dieser Hinsichten auf andere durchgreifen: Ein Verlust an Selbsttreue kann zu einem Verlust der Integriert­ heit führen, eine Einbuße an Rechtschaffenheit zu einem Verlust der Ganz­ heit. Konfliktscheue kann Willensschwäche mit sich bringen, Willensschwä­ che wiederum mag Selbsttäuschungen provozieren. Moralische Verletzungen können mit Anerkennungsverlusten einhergehen, unterschiedliche invasive Übergriffe mögen miteinander verzahnt sein. Der Versuch einer evaluativen Skalierung all dieser Integritätsmerkmale wäre daher unangebracht. Sie alle benennen notwendige Bedingungen der Integrität. Im Einzelnen brauchen sie zwar keineswegs zu jeder Zeit vollständig erfüllt zu sein, ihre völlige Nicht-Er­ füllung kann jedoch durch keinen der jeweils anderen Aspekte kompensiert werden. (5) Die hier bereits verschiedentlich umrissene Forderung, die Integrität habe mit ihren eigenen »Schwächen« zu rechnen, muss mit der nicht weniger zwingenden Erkenntnis einhergehen, dass sie zugleich auch zu übertriebenen »Stärken« neigen kann. Wenn Selbsttreue in ideologischen Rigorismus aus­ artet, Rechtschaffenheit in sittliche Konformität, Integriertheit in psychische Zwang­haftigkeit oder Ganzheit in psychophysische Steifheit, dann schlägt der Besitz von Integrität in deren Verlust um. Eine Person, die sich niemals Aus­ nahmen und Illusionen gönnt, die sich von anderen Menschen nie irritieren lässt, ja, diesen anderen gegenüber nicht einmal die geringste Angriffsfläche bietet, eine solche Person zwängt ihre Integrität in ein Korsett, das ihr jegliche Vitalität und Spontaneität abschnürt. (6) Zu guter Letzt sollten mit Blick auf die anthropologischen Implikatio­ nen des hier umrissenen Integritätskonzeptes drei zentrale Problemstellungen unterschieden werden: (a) die Annahme eines menschlichen Bedürfnisses nach Integrität, (b) die Frage nach einem menschlichen Vermögen zur Inte­grität so­ wie (c) ihr spezifischer Besitz. Nur in der ersten Hinsicht, d.h. im Zuge der An­ nahme eines buchstäblich angeborenen Bedürfnisses, handelt es sich um eine anthropologische Prämisse im starken Sinn. Dagegen ist die Unterstellung, Menschen hätten prinzipiell auch ein Vermögen zur Integrität, allenfalls in ei­ nem schwachen Sinn als anthropologisch aufzufassen, da wir davon ausgehen müssen, dass nicht alle Menschen, sondern in erster Linie eben nur Personen die »volle« Chance auf Integrität besitzen. Folgerichtig kann auch ihr Besitz nicht schon als anthropologische Konstante gesetzt sein. Nicht alle Menschen und nicht einmal alle Personen haben umfassend Integrität. Um ein Leben in Integrität führen zu können, müssen zahlreiche Bedingungen erfüllt sein, die wir nicht schon als »von Natur aus gegeben« betrachten können. Vielmehr

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lässt sich aus der hier sechsten und vorerst letzten Einschränkung der Integri­ tätsproblematik der folgende Schluss ziehen: Die normative Dringlichkeit der Integritätsidee wächst proportional zum Abnehmen anthropologischer Garan­ tien. Aber kommen wir nun endlich zu jenem bereits mehrfach angekündig­ ten Spaziergang durch die unmittelbare Nachbarschaft des Integritätsbegrif­ fes. Wir werden uns dabei auf lediglich drei besonders traditionsreiche Be­ griffspaare konzentrieren müssen. Zunächst wird der Zusammenhang von »Würde und Ehre« erläutert werden. Hier werden sich vor allem mit Blick auf den Aspekt menschlicher Verletzbarkeit große Ähnlichkeiten mit dem Inte­ gritätsbegriff aufweisen lassen (5.1). Anschließend wird es um das Verhältnis von »Freiheit und Autonomie« gehen, wobei der Gesichtspunkt willentlicher Selbstbestimmung im Vordergrund steht (5.2). Daraufhin werden wir uns dem Begriffspaar »Authentizität und Wahrhaftigkeit« zuwenden. Dabei wird der Aspekt des Einklangs von Lebensvollzug und ethisch-existenziellem Selbst­ bild als Bezugspunkt zur Integritätsidee hervortreten (5.3). Allerdings sollen die systematischen Berührungspunkte zwischen dem Integritätsbegriff und den drei verwandten Begriffspaaren erst abschließend ausdrücklich und aus­ führlich herausgearbeitet werden (5.4). Dass wir uns diesen Vergleich für den Schlussteil des Kapitels aufheben, geschieht in der Absicht, die konkur­ rierenden Termini nicht schon von vornherein durch die Brille der Integri­ tätsanalyse zu lesen. Die nähere Verwandtschaft des Integritätsbegriffes soll zunächst in ihrem jeweiligen normativen Eigenrecht zur Geltung kommen. Damit soll nicht zuletzt der Eindruck vermieden werden, eine noch so kom­ plexe Integritätskonzeption könne sämtliche der konkurrierenden Begriffe in sich »aufheben«.

5.1 W ürde und E hre Wenden wir uns zunächst dem Begriff »Würde« zu, dem in den Moral- und Rechtsvorstellungen der Moderne ein zweifellos fundamentaler Stellenwert zukommt. So beginnt Artikel 1 des wohl symbolträchtigsten Dokuments der modernen Moral- und Rechtsentwicklung – gemeint ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 – mit den Worten: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren«, und zwar, so fügt Artikel 2 hin­ zu, »ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand«. Aber auch das etwa zur selben Zeit verfasste Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nimmt seinen Ausgang von der Idee einer Würde, von der es heißt, sie komme dem Menschen unterschiedslos als solchem zu. So lautet Artikel 1, Absatz 1:

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So sehr der Würdebegriff aber nach dem Zweiten Weltkrieg mehr und mehr in den Rang einer Fundamentalnorm gehoben worden ist, so unklar ist bei genauerem Hinsehen doch bis heute, was exakt darunter zu verstehen sein soll. Wer die Aussage »Die Würde des Menschen ist unantastbar« einmal ge­ nauer unter die Lupe nimmt, wird sogleich feststellen, dass, wie vertraut uns der Wortlaut des Satzes auch immer erscheinen mag, im Alltag durchaus auch gegenteilige Ansichten geläufig sind, ja, vielmehr kann überhaupt gar nicht bestritten werden, dass die Würde des Menschen faktisch antastbar ist.1 So verbleiben hinsichtlich der in Artikel 1 festgeschriebenen Unantastbarkeit der Menschenwürde mindestens drei Interpretationsmöglichkeiten: (1) Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten Recht, stattdessen irren unsere Alltags­ intuitionen, denn die Würde des Menschen ist tatsächlich unantastbar; (2) Die Väter und Mütter des Grundgesetzes sind im Irrtum gewesen, stattdessen stimmen unsere Alltagsintuitionen, denn die Würde des Menschen ist buch­ stäblich antastbar; (3) Beide haben Recht und Unrecht zugleich, da Artikel 1 lediglich eine gezielt eingebaute grammatikalische Ungenauigkeit beinhaltet. Die Indikativform »ist unantastbar« soll das Bestehen eines Sachverhaltes bloß suggerieren. Wäre die Würde tatsächlich unantastbar, müsste sie nicht eigens unter Schutz gestellt werden. In Wirklichkeit ist keine Tatsache im strikten Sinn gemeint, sondern lediglich eine besonders starke Forderung, nach der die Würde des Menschen unter gar keinen Umständen angetastet werden darf. Diese vermittelnde Position ist dann auch die in rechtsdogmatischer Hinsicht noch immer geläufigste.2 Verbleibt aber vielleicht dennoch die Möglichkeit, dass der Indikativ in Ar­ tikel 1 nicht bloß moralische und rechtliche Sollgeltung besitzt, sondern auch einen spezifischen kognitiven Wahrheitsgehalt? Was aber genau hätte er dann zu bedeuten? Eine Antwort auf diese Frage lässt sich vermutlich erst dann formulieren, wenn zuvor geklärt ist, was überhaupt den Inhalt der Würdeidee ausmacht. Blickt man zunächst auf die historischen Quellen, aus denen sich 1 | Siehe Franz Josef Wetz (1998): Die Würde des Menschen ist antastbar, Stuttgart: Klett-Cotta. Es gibt ein älteres Buch mit demselben Titel: Ulrike Meinhof (1994): Die Würde des Menschen ist antastbar, Berlin: Wagenbach. 2 | Trotz der heftig umstrittenen Neukommentierung des Artikel 1 durch Matthias Herdegen im prominentesten aller Grundgesetzkommentare: Theodor Maunz/Günter Dürig u.a. (Hg.) (1958/2003): Grundgesetz. Kommentar, München: Beck (42. Ergänzungslieferung). Einschlägig war bislang der Vorläufer-Kommentar von Günter Dürig. Siehe aber auch ders. (1956): »Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde«, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 81/1956.

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die heutige Verwendung des Würdebegriffs speist, so offenbart sich ein Be­ deutungswandel, der sich, grob gesehen, in drei Phasen vollzogen hat.3 In der römischen Antike zielte der Würdebegriff (lat. dignitas) auf die herausgehobe­ ne Stellung einer besonderen Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Staats­ männer und Politiker genossen aufgrund der verantwortlichen Ämter, die sie innerhalb ihres Gemeinwesens bekleideten, einen besonderen Ruf, der ihre Würde begründete. Im Rahmen der mittelalterlichen Theologie jedoch wur­ de jene die privilegierte Stellung einer einzelnen Persönlichkeit betreffende Bedeutung des Würdebegriffs auf die herausgehobene Stellung des Menschen übertragen, die dieser innerhalb der göttlichen Gesamtordnung einnehmen soll. Von nun an kam dem Menschen als solchem, d.h. ungeachtet all seiner Unterschiede, eine besondere Dignität zu, weil ihm als dem »Ebenbild Got­ tes« eine gegenüber allen übrigen Lebewesen bevorzugte Rolle im göttlichen Schöpfungsplan zuerkannt worden war. Im Zuge von Renaissance und Auf­ klärung schließlich, und zwar zunächst durch Pico della Mirandola und später dann durch Immanuel Kant, wird dieser universalistisch gewendete Würdebe­ griff säkularisiert, d.h. von theologischen Begründungslasten »befreit«. Der Mensch besitzt Würde fortan nicht mehr deshalb, weil aus dem Jenseits ein göttlicher Glanz auf ihn fällt, sondern weil er sich im Diesseits als ein Erden­ bürger wie jeder andere erweist, der ein durch Vernunft geleitetes, selbstbe­ stimmtes Leben zu bestreiten hat. Wenn in unseren Tagen von Würde die Rede ist, dann ist zumeist einer der beiden zuletzt genannten Bedeutungshorizonte, der theologische oder aber der säkulare, im Spiel.4 Glauben die einen Interpreten, bei der Bestimmung des Würdebegriffs gar nicht ohne Bezug auf eine göttliche Instanz auskom­ men zu können, die allein die Autorität besitzen soll, dem Menschen Würde einzuhauchen, gehen andere davon aus, dass eine plausible Begründung der Würdeidee auch ohne theologische Argumente gelingen muss, wenn sie in der modernen, pluralistischen Welt überzeugen können soll.5 Aber ganz gleich, wie man sich hier entscheiden mag: Unter den verschiedensten Interpreten des Würdebegriffs herrscht heute doch weitgehend Einigkeit darüber, dass ein universalistischer Gattungsbegriff der Menschenwürde auf spezifisch anthro­ pologische Charakteristika verweisen muss, die es gerechtfertigt erscheinen 3 | Vgl. Kurt Bayertz (1995): »Die Idee der Menschenwürde: Probleme und Paradoxien«, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 4/1995. 4 | Aber auch die erste Bedeutung hat überlebt; z.B. in der Wendung »in Amt und Würden«. 5 | Für die erste Position: Robert Spaemann (1987a): »Über den Begriff der Menschenwürde«, in: ders. (1987b): Das Natürliche und das Vernünftige, München: Piper. Für die zweite: Otfried Höffe (2001): »Wessen Menschenwürde?«, in: Christian Geyer (Hg.) (2001): Biopolitik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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lassen, eine besondere Dignität der eigenen Lebensform zu behaupten. Um welche Eigenschaften aber handelt es sich? Als philosophiegeschichtlich bedeutendster Kronzeuge eines solchen universalistischen Würdeverständnisses gilt Immanuel Kant. Dieser hatte den Würdebegriff in einen notwendigen Zusammenhang mit dem spezi­ fisch menschlichen Vermögen der moralischen Selbstbestimmung gebracht. Nach Kant kommt dem Menschen deshalb Würde zu, weil dieser sich zum Herrscher über die eigenen Triebe, Affekte und Neigungen oder, um es mit Freud zu sagen, zum »Herrn im eigenen Haus« aufzuschwingen vermag. Das Vermögen der moralischen Selbstgesetzgebung, d.h. zur Einsicht in den ka­ tegorischen Imperativ, begründet die Würde des Menschen: »Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.«6 Während bis heute zahlreiche Interpreten an dieses kantianische Würdever­ ständnis anknüpfen, ist es doch von anderen verschiedentlich für die darin vorgenommene Engführung auf Fragen der Moral kritisiert worden.7 Vielmehr lasse sich die Würde des Menschen an der Art und Weise ablesen, ob und wie der Mensch seine unterschiedlichsten, d.h. nicht nur moralischen Interessen und Lebenseinstellungen miteinander in Einklang zu bringen vermag, ohne gegebene Konflikte zwischen ihnen von vornherein zugunsten des Sittenge­ setzes zu entscheiden.8 Ganz gleich jedoch, ob man hier Kant oder seinen Kri­ tikern folgen will: Der Würdebegriff zielt in beiden Fällen auf eine Art menschliches Minimum, an dem eine Person partizipieren können muss, wenn sie ein wahrhaft menschenwürdiges Leben führen will. Wie aber genau ist der Inhalt dieses Minimums beschaffen? Wenn man sich zunächst fragt, wie es zu der heutigen Prominenz des Würdebegriffs hat kommen können, so ist dessen Boom von langer Hand vorbereitet worden, und zwar durch den historischen Niedergang eines ver­ wandten und einst wohl nicht weniger bedeutsamen normativen Leitbegriffs. Gemeint ist der Begriff »Ehre«, der seine Blütezeit in den traditionellen, d.h. hierarchisch und ständisch gegliederten Gesellschaften des 18. und frühen 19. Jahrhunderts gehabt haben dürfte. Erst mit dem im 20. Jahrhundert vollzoge­ nen Übergang zu stärker egalitären Sozialordnungen scheint der Ehrbegriff

6 | Immanuel Kant (1786/1984): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Stuttgart: Reclam, S. 89 (Ak. 436). 7 | Der erste war Friedrich Schiller (1793/o.J.): Über Anmut und Würde, in: Werke, Bd. 12, Berlin u. Leipzig: Bong & Co. 8 | Dazu Brad Stetson (1998): Human Dignity and Contemporary Liberalism, Westport: Praeger.

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allmählich dem Würdebegriff Platz zu machen.9 Wodurch aber unterscheiden sich diese beiden Begriffe und in welcher Beziehung stehen sie zueinander? Um ihre jeweiligen Charakteristika etwas genauer hervortreten zu lassen, lohnt eine Differenzierung anhand der folgenden fünf Fragen: (a) Welches »Spezifikum« des Menschen bildet jeweils die Grundlage dafür, dass wir ihm Ehre bzw. Würde zusprechen?; (b) Welche Form der »Anerkennung« lassen wir der Person dabei jeweils zukommen?; (c) Welches spezifische »Selbstver­ hältnis« wird ihr dadurch vermittelt?; (d) Wie genau kommt dieses Selbstver­ hältnis zum »Ausdruck«?; (e) Welcher Art von »Übergriffen« sind Personen, die nach Ehre bzw. Würde streben, ausgesetzt? (a) Es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass sich der Würdestatus eines Menschen ungeachtet all seiner spezifischen Eigenarten zu erweisen hat, d.h. allein aufgrund der Tatsache, dass er, wie jeder andere Mensch auch, ein prinzipiell gleichwertiges Mitglied der Menschengemeinschaft ist. Es ist demnach schlicht das Menschsein als solches, welches den Bezugspunkt der Würde abgibt. Demgegenüber stand und steht der Begriff der Ehre  – heute würde man wohl eher von »Ansehen«, »Prestige«, »Image« oder auch »Ruf« sprechen  – für den nicht selten umstrittenen, ja, umkämpften Status eines jeweils bestimmten Individuums im Rahmen einer ebenso bestimmten Ge­ meinschaftsordnung.10 Während dem Menschen Würde unterschiedslos als einem gleichen unter Gleichen zukommt, beansprucht er Ehre, insofern er un­ ter diesen Gleichen immer auch eine besondere Person ist, die sich vor dem Hintergrund der Wertvorstellungen ihrer Gemeinschaft jeweils ganz spezielle Verdienste zu erwerben versucht. Während also Würde ein prinzipiell unver­ äußerliches Gut darstellt – Menschen sind und bleiben eben Menschen – fra­ gen der Ehrbegriff und seine modernen Pendants nach dem verantwortlichen Beitrag, den Einzelne zum Bestand und Gelingen des »großen Ganzen« bei­ steuern.11 (b) Fragt man nach dem eigentümlichen Charakter einer spezifischen Eh­ rerweisung – man denke z.B. an ein Lob, an die Verleihung einer Verdienst­ medaille oder auch an eine feierliche Grabrede –, so wäre von »sozialer Wert­ schätzung« zu sprechen, die einer Person aufgrund von gesellschaftlichem Ansehen oder Prestige entgegengebracht wird. Ein ehrenhafter Mensch hat 9 | Hier soll kein völliges Verschwinden des Begriffs, sondern lediglich dessen Ausder-Mode-Kommen behauptet werden. Siehe dazu den einschlägigen Exkurs in: Peter L. Berger/Brigitte Berger/Hansfried Kellner (1975): Das Unbehagen in der Modernität, Frankfurt a.M. u. New York: Campus. Vgl. auch die Beiträge in: Ludgera Vogt/Arnold Zingerle (1994): Ehre, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 10 | Zum »Kampf um Ehre« siehe die ethnologischen Abschnitte in: Pierre Bourdieu (1976): Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 11 | Vgl. dazu und für dass Folgende Honneth (1992); Margalit (1997).

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den Wunsch oder gar den Anspruch, in seinen je besonderen Leistungen be­ stätigt und anerkannt zu werden. Dagegen nennen wir die dem Würdebegriff korrespondierende Form der Anerkennung für gewöhnlich »Achtung«. Wenn sich eine Person in dem Sinn menschenwürdig behandelt fühlt, dass sie von anderen als ein ebenbürtiges Wesen »aus Fleisch und Blut«, und nicht als Tier, Ding oder als Maschine, wahrgenommen wird, dann mag sie spüren, dass sie als gleiche unter Gleichen Bestätigung findet, also geachtet wird. (c) Diese beiden Formen der Anerkennung  – erinnert sei an Kapitel 4  – sind unabdingbare Voraussetzungen dafür, dass Individuen ein unverzerrtes Selbst- und Weltverhältnis ausbilden können. Sie müssen sich zugleich geach­ tet und wertgeschätzt wissen, um mit anderen reziproke Wechselverhältnisse der Selbständigkeit und Abhängigkeit unterhalten zu können. Dabei nennen wir jene Form der existenziellen Selbstbeziehung, die durch Ehrerweisungen bzw. durch soziale Wertschätzung vermittelt wird, »Selbstwertgefühl« oder auch »Selbstwertschätzung«. Werden wir hingegen menschenwürdig behan­ delt, d.h. als gleichwertige Menschen geachtet und respektiert, stellt sich das Gefühl der »Selbstachtung« ein.12 (d) Müssen Selbstachtung und Selbstwertschätzung zunächst als »innere« Einstellungen beschrieben werden, die das eigene Selbstverhältnis charakteri­ sieren, so können diese Einstellungen zum Ausdruck kommen, wenn eine Per­ son sie auch anderen gegenüber glaubhaft zu »verkörpern« vermag. Gemeint ist hier das äußere Erscheinungsbild bzw. das soziale Auftreten einer Person, welches der inneren Überzeugung, achtens- und schätzenswert zu sein, mal mehr, mal weniger adäquat sein kann. Im Fall von Würde und Selbstachtung loben wir dann gegebenenfalls die »würdevolle Haltung«, die ein Mensch an­ nimmt, wir attestieren ihm »Rückgrat« oder einen »aufrechten Gang«.13 In Fällen von verkörperter Ehre und Selbstwertschätzung spricht man hingegen gern von »Stolz«; man denke hier z.B. an das zufriedene Lächeln, das einem Schulterklopfen folgt, oder auch an das selbstbewusste Tragen der oben verlie­ henen Verdienstmedaille. (e) Der Umstand, dass Menschen ihre Würde und Ehre nach außen hin verkörpern wollen, macht sie anfällig für Angriffe und Verletzungen. Dort, wo eine Person »menschenunwürdige« Lebensbedingungen vorfindet, stellt sich unweigerlich die Frage, wie die eigene Selbstachtung aufrechterhalten werden kann, wenn die Person nicht zugleich auch den sozialen Freiraum besitzt, ihr gemäß leben und agieren zu können. Ähnliches gilt für die Ehre: Wie soll ein Mensch sein Selbstwertgefühl bewahren, wenn er gar nicht erst die Möglich­ keit eingeräumt bekommt, zum Gelingen der Solidargemeinschaft beitragen 12 | Margalit (1997), bes. Kap. 3 u. 4. 13 | So die zentrale Metapher bei Ernst Bloch (1961): Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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zu dürfen? Angriffe auf jenen Freiraum, den die Würde braucht, werden »De­ mütigung«, »Erniedrigung« oder auch »Diskriminierung« genannt. Sie ma­ chen dem Menschen den gleichen Wert als Mensch streitig. Verletzungen von Ehre und Prestige heißen hingegen »Kränkung«, »Beleidigung« oder auch »Verunglimpfung«. Sie schaden dem Ansehen eines Menschen, der stolz auf seine besonderen Leistungen und Eigenschaften ist. Kehren wir im Anschluss an diesen knappen Begriffsvergleich zunächst zu unserer Ausgangsfrage nach dem genaueren Inhalt der Würdeidee zurück.14 Wenn wir die genannten fünf Definitionsmerkmale zusammenziehen, ergibt sich ein auf den ersten Blick eher befremdliches Bild: Auch wenn die Men­ schenwürde (a) einen universellen Wert darstellt, an dem jedes Individuum bereits qua Menschsein partizipiert und der uns (b) in der Achtung durch an­ dere zuteil wird, so ist dieser Wert doch nur dann wirklich vollständig reali­ siert, wenn (c) die betroffene Person von einem entsprechenden Gefühl der Selbstachtung getragen ist, wenn sie (d) dieses Gefühl nach außen hin zu ver­ körpern vermag und dabei (e) adäquate Lebensumstände vorfindet, in denen ihr ein »aufrechter Gang« möglich ist. Diese komplexe Begriffsbestimmung mag deshalb auf Anhieb strittig anmuten, weil sie die Annahme zu beinhalten scheint, dass die Würde des Menschen nicht zuletzt eine auf Selbstachtung basierende »Haltung« darstellt.15 Folglich könnte eine konkrete Einbuße an Würde von einer sozialen Missachtungserfahrung zwar angestoßen werden, letztlich aber müsste sie wohl als das Ergebnis eines Mangels an Selbstachtung gedeutet werden.16 Zunächst ein Beispiel: Eine ehemaligen KZ-Insassin antwortet in einem Fernsehinterview auf die Frage, wie sie das Grauen des Konzentrationsla­ gers hat überleben können, mit den Worten: »Weil ich niemals meine Würde verloren habe.« Diese Äußerung mag zunächst irritieren, denn es sind doch schlichtweg keine schlimmeren, eben »unwürdigeren« Lebensbedingungen denkbar als jene innerhalb der nationalsozialistischen Todeslager. Gehen wir aber davon aus, dass die Frau den Sinn des Würdebegriffes nicht verfehlt hat, so deutet ihr ohne Zweifel extremes Beispiel auf die Möglichkeit hin, dass ein Mensch äußersten Gräueltaten ausgesetzt sein kann, diese am Ende aber den­ noch mit »erhobenem Haupt«, d.h. ohne vollständigen Verlust der Selbstach­ tung, zu überleben vermag. Auch wenn die Wahrung der Würde in solchen Situationen nahezu unmöglich sein muss, so kann sie sich schließlich doch als nicht vollkommen unmöglich erweisen. 14 | Man braucht das Folgende bloß anhand des Begriffs der Selbstwertschätzung zu variieren, um zu entsprechenden Bestimmungen des Ehrbegriffs zu gelangen. 15 | Bereits Schiller sprach in diesem Zusammenhang von Würde als »Ausdruck«. 16 | Dazu vor allem Niklas Luhmann (1965): Grundrechte als Institution, Berlin: Duncker & Humblot, Kap. 4; Spaemann (1987a).

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Wenn dies aber richtig ist, dann wären dem ohnehin schon komplexen Be­ griffsbild noch zwei weitere wichtige definitorische Würdemerkmale hinzuzu­ fügen. Dramatische Beispiele17 dieser Art zeigen, dass (f) die Bewahrung der eigenen Würde immer zumindest auch von den Betroffenen selbst abhängt und es eben darum (g) keinen direkten Automatismus geben kann zwischen dem Angriff auf die Würde eines Menschen und ihrem tatsächlichen Verlust. Damit deutet sich auf überraschende Weise die Möglichkeit an, dass die Wür­ de des Menschen tatsächlich in einem ganz bestimmten Sinn unantastbar »ist«. Zwar sind Menschen nicht selten massiven Übergriffen ausgesetzt. Da­ durch können sie Gefahr laufen, aufgrund der ihnen versagten Anerkennung schließlich auch ihre Selbstachtung einzubüßen. Aber ihre Würde kann ihnen nicht schon gänzlich von außen genommen werden, weil ihre Selbstachtung einen Rest an Unzugänglichkeit aufweist. So hart es klingen mag: Letztlich sind sie es, die angesichts ihrer sozialen Lebensumstände Würde bewahren müssen.18 Allerdings muss an dieser Stelle sogleich das Missverständnis vermieden werden, dass eine entsprechende Einbuße an Selbstachtung bereits so etwas wie eine Teilschuld am Verlust der eigenen Würde bewirkt. Aus Gründen, die überwiegend nicht in ihrer Macht liegen, besitzen manche Menschen schlicht mehr Kraft als andere, ihre Selbstachtung zu bewahren. Behauptet werden soll an dieser Stelle lediglich: Es gibt keinen Verlust der Würde ohne Verlust der Selbstachtung. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Betrof­ fenen darum schon allein oder auch nur weitgehend für die Bewahrung ih­ rer Würde verantwortlich wären. Es gilt durchaus: Ein Mensch kann Würde dann – und nur dann – besitzen, wenn er von nichts und niemandem in sei­ nen Lebensvollzügen derart beeinträchtigt wird, dass er seine Selbstachtung einbüßen muss. Missachtung, Demütigung oder Diskriminierung sind und bleiben eine Gefahr für die Menschenwürde, eben weil sie dem Betroffenen jenen sozialen Freiraum streitig machen wollen, innerhalb dessen er seine Selbstachtung aufrecht zu erhalten und zu verkörpern versucht. Demnach liegt eine menschenunwürdige »Behandlung« überall dort vor, wo dem Men­ schen dieser Freiraum genommen werden soll; z.B. in Form von körperlicher Gewalt oder auch durch den Entzug der Privat- bzw. Intimsphäre. Von einer faktischen »Verletzung« der Würde können wir immer dann sprechen, wenn, bedingt durch soziale Umstände, das Leben in Selbstachtung unwahrschein­ licher wird. Ein vollständiger »Verlust« der Würde kann jedoch erst dann ein­ treten, wenn die betroffene Person ihre Selbstachtung verliert. Das bedeutet 17 | Man denke hier auch an die zahlreichen Darstellungen des ans Kreuz geschlagenen Jesus Christus, dessen Antlitz, trotz des Leidens, nur zu oft als »würdevoll« beschrieben wird. 18 | Vgl. Spaemann (1987a).

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auch, dass es ein spezifisches Grund- oder Menschenrecht allein auf »Schutz« der Würde geben kann, und zwar im Sinne eines Schutzes des Freiraums der Würdedarstellung, nicht aber ein Recht »auf« Würde. Der wie auch immer geringe Eigenanteil bei der Bewahrung der Würde macht es den Menschen unmöglich, sich die Menschenwürde als solche gegenseitig zu garan­tieren. Sie werden sich allenfalls deren bestmöglichen Schutz zusichern können.19 Eben dieser letzte Rest an Unvertretbarkeit scheint mitzuschwingen, wenn es heißt: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Aufgabe aller stattlichen Gewalt.« Angesichts dieses Würdebegriffes – Würde als eine durch soziale Anerkennung vermittelte Haltung verkörperter Selbstachtung  – stellt sich allerdings so­ gleich die Frage, wie sich diese Begriffsbestimmung in die aktuelle Würde­ debatte eintragen lassen soll, die derzeit vor allem im Bereich der »Bioethik« geführt wird.20 Zum Problem müssen die obigen Definitionsmerkmale spä­ testens in dem Moment werden, wo wir es mit menschlichen Lebensformen zu tun haben, denen es gewissermaßen »von Natur aus« an Selbstachtung und der Möglichkeit einer adäquaten Würdedarstellung mangelt. So haben die biomedizinischen Debatten um Abtreibung, Sterbehilfe, In-Vitro-Fertilisation, Stammzellforschung, Klonen, Präimplantationsdiagnostik, Gentherapie etc. unweigerlich die Frage nach dem Umfang des Adressatenkreises aufgeworfen, dem wir Würde und Würdeschutz zuzuerkennen haben. Wenn Würde auf ver­ körperter Selbstachtung beruht und uns diese durch Anerkennung überhaupt erst vermittelt wird, müssen dann nicht menschliche Embryonen, aber auch geistig schwer bzw. komplex Behinderte oder sogenannte Wachkomapatienten, von vornherein aus dem Adressantenkreis der Menschenwürde herausfallen? Zum Abschluss werden wir uns – in gebotener Kürze und in Form eines State­ ments – genau diesem Problem zuwenden.21 Aus den definitorischen Bestimmungen (a) bis (g) ergibt sich folgende Fas­ sung des Problems: Der Mensch, und zwar jeder Mensch, hat an der Wür­ de teil, insofern er qua Menschsein an einem Potenzial partizipiert, welches sich typischerweise oder besser idealiter durch den Besitz eines Selbstach­ tung generierenden Freiraums auszeichnet. Allerdings kann es sein  – des­ halb »idealiter« – dass die Nutzung dieses Freiraums im konkreten Einzelfall entweder »noch nicht«, wie bei Embryonen, »nicht vollständig«, wie z.B. bei 19 | Vgl. Ronald Dworkin (1994): Die Grenzen des Lebens, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, bes. S. 324, Fn. 56. 20 | Dazu exemplarisch Otfried Höffe u.a. (2002): Gentechnik und Menschenwürde, Köln: Dumont; Gregor Damschen/Dieter Schönecker (Hg.): Der moralische Status menschlicher Embryonen, Berlin u. New York: de Gruyter. 21 | Das Folgende habe ich ausgeführt in: Arnd Pollmann (2004): »Menschenwürde«, in: Göhler/Iser/Kerner (2004).

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geistig schwer bzw. komplex Behinderten, oder auch »nicht mehr«, wie etwa bei Wachkomapatienten, möglich ist.22 All diese Mitglieder der menschlichen Spezies partizipieren an der Würde, auch ohne sie bereits bzw. zurzeit bzw. in vollem Ausmaß realisieren zu können. Nicht jeder Mensch hat die volle Würde, aber jeder Mensch hat an der Würde teil. Deren Idee ist somit nicht auf ein fak­ tisch vorhandenes, aktualisiertes Vermögen verkörperter Selbstachtung bezo­ gen, sie lebt vielmehr von der Unterstellung eines Lebensideals, dem auch jene oben genannten Menschen folgen würden, wenn und insoweit sie es könn­ ten. Die Tatsache, dass die Verantwortlichen in Recht und Medizin sich häufig doch dafür entscheiden, auch diesen menschlichen Lebensformen, trotz ihrer natürlichen Einschränkungen, Würdeschutz zuzusprechen und sie entspre­ chend zu behandeln, lässt zwei Dinge deutlich werden: Erstens sollten wir auch in solchen Grenzfällen noch von der prinzipiell gegebenen Möglichkeit zu einem Leben in Selbstachtung und Würde ausgehen, ohne dass dieses Leben jedoch Wirklichkeit zu sein hat, damit wir entsprechend respektvoll mit ihm umgehen. Zweitens geben derart schwerwiegende Beeinträchtigungen der in­ dividuellen Chance auf ein Leben in Würde den philosophischen Prüfstein ab, an dem zwar fraglich wird, aber nicht schon ausgeschlossen ist, ob es sich noch um ein im Ganzen menschenwürdiges Leben handelt oder nicht. Demnach sind alle menschlichen Lebensformen insofern als gleich zu achten, als wir a priori unterstellen können, dass ihnen allen an einem Le­ ben in Würde und Selbstachtung gelegen ist bzw. wäre. Menschen sind jedoch graduell verschieden in dem Ausmaß, in dem sie Würde und Selbstachtung faktisch ausbilden und verkörpern. In der bioethischen Debatte wäre stärker als bisher die Einsicht zu berücksichtigen, dass bei der Frage nach dem Um­ fang des Adressatenkreises der Menschenwürde zwei Probleme unbedingt auseinandergehalten werden müssen: die Frage, ob und in welchem Maße ein Mensch Würde besitzt, und die davon grundverschiedene, ob ihm ein gleiches Recht auf Schutz der Würde zusteht. Es hätte unmissverständlich deutlich zu werden, dass jede menschliche Lebensform an der Würde teilhat, wenngleich auf unterschiedliche Weise, und dass daher das Grund- und Menschenrecht auf Würdeschutz tatsächlich allgemein und uneingeschränkt gilt, ganz gleich, ob das menschenwürdige Leben im Einzelfall vollständig realisiert ist oder bloß eingeschränkt. Die Menschenwürde ist ein zerbrechliches Gut  – eben deshalb ist sie auf rechtliche Sicherung angewiesen. Wir brauchen ein solches unbedingtes Recht auf Würdeschutz, gerade weil Menschen nicht schon alle im selben Maße Würde besitzen. Die grund- und menschenrechtliche Wür­ deschutzgarantie soll Freiräume schaffen, in denen möglichst alle Menschen ein ungehindertes Leben in Selbstachtung zu führen vermögen. Die medi­

22 | Vgl. Dworkin (1994).

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zinisch-technischen Entwicklungen unserer Zeit bringen diese Freiräume in Gefahr. Insbesondere dort, wo der reproduktionsmedizinische Fortschritt heute sogar einen »verbrauchenden« Zugriff auf das frühe menschliche Leben fordert, droht er dem werdenden Leben schlichtweg alles zu nehmen, was der Mensch zu einer würdevollen Existenz benötigen würde.

5.2 F reiheit und A utonomie Ob in der Politik oder im Recht, ob in Debatten über Ethik und Moral, ob in Wirtschaft, Werbung oder Kunst, wohl kaum ein Terminus wird heute derart strapaziert wie der Begriff »Freiheit«. Von der Warte postmetaphysischen Denkens aus mag man den Eindruck gewinnen, als habe man es hier mit einer der wenigen geschichtsphilosophischen Residualkategorien zu tun, die das von der sogenannten Postmoderne ausgerufene Ende der »großen Erzählun­ gen« haben überleben können. Dass der Mensch frei sein will und frei sein soll, scheint auch nach der historischen Diskreditierung heilsversprechender Utopien unumstritten zu sein. Auch wenn heute kaum noch jemand gewillt ist, von Emanzipation zu sprechen, deren Bezugspunkt, menschliche Freiheit oder auch »Autonomie«, wie es oft gleichbedeutend heißt, ist im Visier der Ge­ sellschaftskritik geblieben. Doch so grundlegend und überdies traditionsreich beide Begriffe auch sein mögen, philosophische Antworten auf die Frage nach ihrem genauen Inhalt fallen denkbar abwechslungsreich aus. Sie reichen von der als »individualistisch« oder gar als »libertinär« verpönten Auffassung, der Mensch sei allein dann wahrhaft frei und autonom, wenn er tun und lassen könne, was er wolle, bis zu der mit den Etiketten »kollektivistisch« oder auch »kommunitaristisch« versehenen und mancherorts nicht weniger verschmäh­ ten Überzeugung, echte Freiheit und Autonomie finde der Mensch lediglich dann, wenn er ganz in den Wertvorstellungen und Interessenlagen seiner Ge­ meinschaft aufgehe.23 Innerhalb der im engeren Sinn philosophischen Diskussionen ist es in­ zwischen zum Standard geworden, an eine terminologische Unterscheidung anzuknüpfen, die Isaiah Berlin in seinem berühmten Essay »Two Concepts of Liberty« aus dem Jahre 1958 etabliert hat. Gemeint ist die Differenzierung zwischen »negativen« und »positiven« Freiheitsbegriffen.24 Diese so populä­ re wie bis heute unscharf gebliebene Kontrastierung kann, so soll hier vorge­ schlagen werden, auf mindestens zweifache Weise interpretiert werden. Berlin 23 | Einen ersten Einblick in die traditionsreiche Debatte erhält man bei David Miller (1991) (Hg.): Liberty, Oxford: Oxford UP. 24 | Dt. Isaiah Berlin (1995a): »Zwei Freiheitsbegriffe«, in: ders. (1995b): Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt a.M.: Fischer.

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selbst hatte sie hauptsächlich auf politische Zusammenhänge gemünzt und da­ bei als Gegensatz zwischen »privater« und »öffentlicher« Freiheit verstanden. Diesbezüglich darf Benjamin Constant als wichtigster Vordenker dieses dua­ listischen Freiheitsverständnisses gelten.25 Inzwischen hat aber die gemeinte Unterscheidung eine ethisch-existenzielle Bedeutungserweiterung erfahren. Dabei ist der Unterschied zwischen »Handlungs-« und »Willensfreiheit« in den Vordergrund gerückt, was wohl vor allem einer entsprechenden Kritik von Charles Taylor zu verdanken sein dürfte.26 Wir werden uns der Reihe nach die­ sen drei Autoren zuwenden. Zuvor jedoch ein kurzes Wort zur Terminologie: In der nun folgenden Darstellung werden die Begriffe Freiheit und Autonomie zunächst weitgehend synonym verwendet, so wie das in der philosophischen Diskussion zumeist geschieht. Am Ende dieses Abschnitts wird jedoch eine Akzentsetzung vorgeschlagen werden, die einen differenzierteren Wortge­ brauch nahe legt.27 Wie bereits angedeutet: Es war Isaiah Berlin, der die schier unüberschau­ bar gewordene Vielzahl philosophischer Freiheitskonzeptionen seinerzeit nach einem verblüffend einfachen Begriffsmuster zu sortieren versucht hat. Philoso­ phische Theorien der Freiheit, so Berlin, geben Antworten auf eine der beiden folgenden Fragen: Wie groß und von welcher Art ist der Spielraum, der dem Mensch eingeräumt werden muss, damit dieser, von anderen ungehindert, tun und lassen kann, was er will? Und von wem oder was geht die Kontrolle über sein Leben und Handeln aus? Der zunächst kaum augenfällige Unterschied beider Fragestellungen tritt erst dann hervor, wenn man die Art der Antworten vergleicht, die möglich sind. In der Regel haben wir es im ersten Fall, so Berlin, mit der zumeist gegenüber dem Staat und seinen Institutionen vertretenen Forderung nach Nicht-Einmischung zu tun. Die Frage nach einem Spielraum menschlichen Handelns zielt auf den Schutz vor staatlichen Übergriffen und auf die Abwesenheit äußeren Zwangs, und zwar vor allem in jenen Bereichen des Lebens, die unter dem Stichwort »Privatsphäre« zusammengefasst wer­ den. Diese Ansätze sind, wie Berlin es ausdrückt, »negativ« gehalten, womit lediglich gemeint sein soll: Negative Freiheitsbegriffe kreisen um die Idee ei­ nes zunächst defensiv gefassten Freiseins von etwas. Ihr Ziel ist die Abwehr und

25 | Benjamin Constant (1819/1972): »Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen«, in: ders. (1972): Politische Schriften, Werke IV, Berlin: Propyläen. 26 | Charles Taylor (1988d): »Der Irrtum der negativen Freiheit«, in: ders. (1988b). 27 | Vorab soll der Hinweis erfolgen, dass ich dabei insgesamt von der mir bis heute unerklärlich gebliebenen kantianischen Zuspitzung des Autonomiebegriffes auf spezifisch moralische Angelegenheiten absehen werde. Autonomie wird hier durchweg im Sinne ethisch-existenzieller Selbstbestimmung verstanden werden.

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Beseitigung all jener gesellschaftlichen Hindernisse und Schranken, die für das Individuum und seine freie Entwicklung schädlich sind.28 Was aber genau es bedeuten würde, diese Freiräume dann auch aktiv zu nutzen, das wird von negativen Freiheitskonzeptionen traditionsgemäß offen gelassen. Ihnen gemein ist die anti-paternalistische Grundüberzeugung, dass jedes einzelne Individuum selbst zu entscheiden habe, ob und wie es seine Freiheit ausgestalten will. Wichtig ist solchen Ansätzen nur, dass überhaupt derartige Spielräume existieren und dass diese dann auch rechtlich garantiert sind. An der hier gleichwohl verbleibenden Leerstelle haken »positive« Frei­ heitskonzeptionen ein. Auch sie setzten ein individuelles Recht auf Selbstbe­ stimmung voraus, doch geht es ihnen weniger darum, äußere Hindernisse der Freiheit zu erkunden. Sie sind vielmehr daran interessiert, den genaueren Vollzug der Freiheit zu charakterisieren. Ihr Hauptaugenmerk gilt nicht der Abwesenheit äußeren Zwangs, sondern der aktiven Ausgestaltung, d.h. der Praxis menschlicher Autonomie. Damit antworten positive Freiheitsbegriffe, im Gegensatz zu negativen, auf die zweite der beiden oben genannten Grund­ satzfragen, indem sie dem Subjekt der Kontrolle über das Leben nachspüren. Ihnen gemein ist die Forderung, dass der Mensch »sein eigener Herr« zu sein habe. Seine Entscheidungen dürfen nicht fremdbestimmt sein, d.h. von an­ deren gefällt werden. Ziel ist vielmehr die selbstbestimmte Umsetzung eigen­ händig gewählter Motive und die Realisierung eines autonom verfassten Le­ bensplans. Indem sie auf ein Leben in eigener Regie zielen, betonen positive Freiheitsbegriffe demnach das Freisein zu etwas.29 Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als nähmen beide Typen von Frei­ heitskonzeptionen lediglich unterschiedliche Akzentsetzungen im Rahmen ein und derselben Freiheitsidee vor. So hat Gerald MacCallum30 in einer frühen Replik auf Berlin darauf aufmerksam machen wollen, dass eine komplexe The­ orie der Freiheit ohnehin stets beide Aspekte aufzuweisen habe: den negativen Aspekt des Freiseins von etwas sowie den positiven eines Freiseins zu etwas. Sich konzeptionell auf die eine oder andere Seite zu schlagen, könne kaum an­ gebracht sein, so MacCallum. Eine angemessene Freiheitsformel müsse viel­ mehr immer schon die folgende umfassendere Struktur aufweisen: X ist frei von Y, um Z zu tun, wobei der erste Halbsatz ersichtlich die negative, der zweite dagegen die positive Dimension der Freiheit betonen soll. Berlin selbst versteht sich freilich in erster Linie als ein glühender Anhänger negativer Freiheitsthe­ orien, da diese dem Wertepluralismus der modernen Welt weit eher gerecht zu werden versprechen als positive Freiheitskonzeptionen, doch will er nicht schon bestreiten, dass auch letztere einem zentralen menschlichen Bedürfnis 28 | Berlin (1995a), S. 201ff. 29 | Ebd., S. 211ff. 30 | Gerald MacCallum (1967): »Negative and Positive Freedom«, in: Miller (1991).

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entgegenkommen.31 Die These von einem »Gegensatz« zwischen negativen und positiven Freiheitsideen ist von Berlin dann auch nicht in erster Linie begrifflich gemeint, sondern ideengeschichtlich und politisch. Berlin glaubt nicht, dass zwischen positiven und negativen Freiheitsbegriffen notwendig eine Spannung bestehen muss, er geht vielmehr davon aus, dass sich eine sol­ che Spannung historisch ergeben und zu einem Konflikt von weltpolitischer Bedeutung ausgeweitet hat. Was aber meint er damit? Berlin ist der Auffassung, dass beide Freiheitskonzeptionen ursprünglich eng miteinander verwoben waren, sich aber im historischen und politischen Prozess zunehmend verselbständigt haben, bis sie zuletzt direkt in ideologi­ schen Widerstreit geraten sind, als aus ihnen nämlich konkurrierende Ge­ sellschaftssysteme im Weltmaßstab erwuchsen. Damit liefert Berlin eine ideengeschichtliche Interpretation des »Kalten Krieges«: Während die negativ gehaltene Forderung nach Abwesenheit äußeren Zwangs zum Grundreper­ toire liberaler Rechtsstaatsauffassungen gehört, wie sie  – bis heute  – für die westliche kapitalistische Welt typisch sind, soll sich die positiv ausgerichtete Idee autonomer Selbstherrschaft in all jenen politischen und gesellschafts­ theoretischen Überzeugungen niedergeschlagen haben, die sich einst, so wie Sozialismus und Kommunismus, den hehren Anspruch auf Volksouveräni­ tät, d.h. auf kollektive Selbstregierung, auf die Fahnen schrieben.32 Spätes­ tens im Zuge des nach dem Zweiten Weltkrieg ausbrechenden ideologischen Kampfes zwischen Ost und West sei insbesondere die positive Freiheitsidee auf eigentümliche und fatale Weise pervertiert worden. Berlin, der als Kind in Lettland die kollektivistische Freiheitsauffassung des Kommunismus am eigenen Leibe erfahren hat33, nimmt hier die staatssozialistische Utopie kollek­ tiver Brüderlichkeit und Einhelligkeit ins Visier, die zu Unrecht die Aussicht auf eine tatsächlich von allen gemeinsam ausgeübte Freiheit erweckt habe. Als emphatischer Pluralist, der von der Unausweichlichkeit, ja, Wünschbarkeit von Wertkonflikten überzeugt ist, muss Berlin davon ausgehen, dass die Idee einer Volkssouveränität im strikten Sinne, d.h. einer wahrhaft konsensuellen Regelung aller politischen Streitfragen, ein in dieser Welt uneinlösbares und deshalb gespenstisches Versprechen bleibt. Zur politischen Propaganda ver­ kommen, müsse der Freiheitsdrang, der sich in dieser Utopie ausdrückt, am Ende nahezu notwendig in neue Formen der Despotie umschlagen. Im Diens­ te einer höheren Wahrheit könne nunmehr jede Form von staatlichem Zwang

31 | Dazu auch die Einleitung zu Berlin (1995b), bes. Abschnitt II. 32 | Ebd., bes. S. 210. 33 | Michael Ignatieff (1999): Isaiah Berlin, München: Bertelsmann.

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als Erziehung zu künftiger Einsicht gerechtfertigt werden.34 Dieser Tyrannei staatlich verordneter Homogenität sei der ideologische Counterpart des liberalen Nachtwächterstaates selbstredend vorzuziehen. Er mache Schluss mit der Idee »letzter Wahrheiten« und dem frommen Wunsch nach einer durch und durch rational eingerichteten Gesellschaftsordnung. Stattdessen schaffe er pri­ vate Spielräume für die wertpluralistische Einsicht, dass die Frage, was gut und schlecht ist, niemals endgültig, für alle verbindlich und schon gar nicht in Stellvertretung entschieden werden kann. Bereits aus dieser kurzen Darstellung seiner Überlegungen dürfte hervor­ gehen, dass die verschiedentlich an Berlin geübte Kritik, dass auch er letztlich den Freiheitsbegriff verstümmele, indem er einseitig dessen positive Konnota­ tionen diskreditiere, am Kern seiner Überlegungen vorbeigeht.35 Berlin wen­ det sich nicht etwa per se gegen die positive Freiheitsforderung nach Selbst­ bestimmung, sondern lediglich gegen deren historische Verabsolutierung zu Ungunsten komplementärer negativer Freiheitsrechte. Gleichwohl schenkt Berlin, damit ganz in liberaler Tradition stehend, der positiven Freiheitsidee inhaltlich keine weitere Aufmerksamkeit. Wie ein »dünner« Begriff positi­ ver Freiheit beschaffen sein müsste, um mit negativen Freiheitskonzeptionen vereinbar zu sein, bleibt auch bei Berlin im Dunkeln. Mit dieser Leerstelle in seinen Überlegungen ist unmittelbar noch eine zweite Interpretationsschwie­ rigkeit verbunden, die Frage nämlich, ob Berlins Unterscheidung ausschließ­ lich für politische Kontexte Gültigkeit beanspruchen soll oder ob er sie auch in ethisch-existenzieller Hinsicht für fruchtbar hält. Was ist der Unterschied? Berufen wir uns noch einmal auf jene Formel, nach der Freiheit bedeutet: X ist frei von Y, um Z zu tun. Die hier vorliegende Verschachtelung negativer und positiver Freiheit kann ebenfalls auf zweifache Weise verstanden werden: Entweder sie betrifft die gesellschaftspolitische Frage, ob der Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern eine von institutionellen Übergriffen freie Privat­ sphäre lässt (negativ), ihnen zugleich aber auch einen rechtlich garantierten Anspruch auf kollektive Selbst- bzw. Mitbestimmung einräumt (positiv). Die Politische Philosophie nennt dies für gewöhnlich das Zusammenwirken von »privater« und »öffentlicher« Autonomie. Oder aber die Formel ist auf eher individuelle, d.h. ethisch-existenzielle Lebenszusammenhänge gemünzt und soll den in philosophischer Hinsicht nicht weniger traditionsreichen Unter­ schied von »Handlungs-« und »Willensfreiheit« hervortreten lassen. Hier steht die Frage im Vordergrund, ob eine Person durch äußeren Zwang oder ähnliche Hindernisse davon abgehalten wird (negativ), Handlungen auszuführen, die 34 | Vgl. auch Ferenc Tallár (1996): »Zwang zur Freiheit?«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 2/1996. 35 | Vgl. Rainer Forst (1996): »Politische Freiheit«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 2/1996.

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in ihrem freien Willen liegen, was allerdings die weitere Ermittlung notwen­ dig macht, ob dieser Wille selbst als das Ergebnis zwangloser Meinungs- und Willensbildungsprozesse aufgefasst werden kann (positiv). Wenden wir uns zunächst genauer der ersten Unterscheidung zu. Im Jahre 1819 hält der Literat und Politiker Benjamin Constant eine Rede vor dem Pariser Athénée Royal, in der er, spürbar unter dem Eindruck von Re­ volution und Restauration stehend, Bilanz zu ziehen versucht: Die in Frank­ reich herrschende innenpolitische Situation, so Constant, sei das letztlich zwar wünschenswerte Ergebnis einer in ihren Auswüchsen jedoch weit weniger be­ grüßenswerten Entwicklung.36 Constant hat hier die noch junge konstitutionelle Monarchie vor Augen. Hervorgegangen aus den Wirren einer nicht zuletzt durch den jakobinischen Terror geprägten Revolutions- und Reaktionszeit, stelle das neue Herrschaftssystem einen blutigen Kompromiss dar, für den, so der Kern von Constants These, eine unzulässige Vermengung zweier sich di­ rekt widerstreitender politischer Freiheitsideen verantwortlich zu machen sei: einer »alten«, d.h. antiken, und einer »neuen«, d.h. modernen, Freiheitsauf­ fassung. Was aber ist spezifisch neu an der zu Constants Zeiten auf blühenden modernen Freiheitsidee? Erst mit dem neuzeitlichen Staatsdenken, so Cons­ tant, ist die Idee »individueller Rechte« zum Durchbruch gekommen, nach der schlicht alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger den gleichen Anspruch auf einen gesetzlich garantierten Spielraum anmelden dürfen, in dem alle Ein­ zelnen ihr ganz privates Glück verfolgen dürfen, ohne von anderen oder dem Staat daran gehindert zu werden. Diese Freiheitsidee richtet sich vor allem ge­ gen die Gefahr staatlicher Willkürakte, durch die ein gleiches Recht auf ethi­ sche Selbstbestimmung sowie der legitime Anspruch, niemand anderem als sich selbst und den geltenden Gesetzen unterworfen zu sein, massiv in Frage gestellt werden würden. Demnach bedeutet moderne Freiheit vorwiegend »pri­ vate« Autonomie im Sinne persönlicher Freiheit.37 Demgegenüber sei das Freiheitsverständnis der Antike von einer völlig an­ deren Überzeugung geleitet gewesen. Den »Alten«, wie Constant sagt, ging es nicht etwa darum, das private Individuum aus den Angelegenheiten seiner politischen Gemeinschaft herauszuhalten, sondern schlicht um das genaue Gegenteil: Die politischen Systeme Spartas, Roms oder auch Athens fußten auf dem Recht, ja, der Pflicht ihrer Mitglieder, sich so aktiv wie möglich an den öffentlichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Die antike Idee von Freiheit und Autonomie zielte nicht, wie es die moderne Auffassung zu fordern scheint, auf eine Befreiung von staatlichen und institu­ tionellen Vorgängen, sondern auf die direkte Partizipation an solchen Prozes­ 36 | Dazu und für das Folgende Constant (1819/1972). 37 | Das ist das inzwischen klassisch liberale Freiheitsverständnis im Anschluss an Autoren wie Thomas Hobbes, John Locke und John Stuart Mill.

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sen. Alte Freiheit meinte demnach »öffentliche« Autonomie im Sinne einer kollektiven Selbstregierung. Aus der resümierenden Sicht Constants weisen jedoch beide Freiheitsideen jeweils einen entscheidenden Nachteil auf: Die Alten stuften den Anspruch auf kollektive Selbstregierung als derart wertvoll ein, dass sie für dessen Realisie­ rung Einbußen an privatem Glück in Kauf zu nehmen bereit waren. Die Men­ schen der Moderne hingegen bezahlen ihre auf die Verfolgung egoistischer Privatinteressen ausgerichtete Freiheit mit einem fast vollständigen Verzicht auf das Recht der Teilhabe an öffentlichen Entscheidungsprozessen.38 Damit, so Constant, ist eine erste gravierende Unvereinbarkeit der beiden Freiheitside­ ale angedeutet. Der Mensch kann sich in der Regel nicht zugleich in die Privat­ sphäre individueller Interessensverfolgung zurückziehen und auf vielfältige Weise an kollektiven Entscheidungsprozessen partizipieren. Auf den ersten Blick scheint daher eine Entscheidung zwischen diesen beiden Freiheitsideen notwendig zu sein. Nach Constant jedoch hat sich diese Entscheidung – his­ torisch gesehen  – längst erledigt. Auch wenn Constant nicht ohne Wehmut auf das kommunale Leben der Antike zurückblickt39, so lässt er doch keinen Zweifel daran, dass er das Freiheitsverständnis der Alten für anachronistisch hält. Zum einen hat sich die antike Freiheitsidee historisch nur so lange halten können, wie sich die Zahl der politischen Entscheidungsträger noch überbli­ cken ließ. Verglichen mit den Stadtstaaten der Antike sind die modernen Staa­ tengebilde viel zu groß, als dass die demokratische Einbindung wirklich aller Bürgerinnen und Bürger überhaupt noch sinnvoll möglich wäre. Zweitens, so Constant, ist der Bevölkerung längst jene Zeit und Muße genommen, und zwar vor allem durch die Abschaffung der Sklaverei, die notwendig wäre, um sich, freigesetzt von den Mühen alltäglicher Verrichtungen, vollständig auf die Angelegenheiten des öffentlichen Lebens konzentrieren zu können. Drittens schließlich hat die Ausweitung des nationalen und internationalen Handels­ verkehrs eine Pluralisierung privater Bedürfnislagen mit sich gebracht, die der aufkommende Kapitalismus nicht bloß zu wecken, sondern darüber hinaus auch noch zu decken verspricht.40 Obgleich das antike Freiheitsideal mit dieser dreifachen Entwicklung einst­ weilen erledigt zu sein scheint, so ist es doch für einen kurzen historischen Moment noch einmal zu fragwürdiger, ja, fataler Prominenz gelangt. Die kriti­ sche Zeitdiagnose von Constant lautet wie folgt: Einflussreiche Revolutionäre, allen voran Jean-Jacques Rousseau, haben der irrsinnigen Überzeugung an­ gehangen, dass sich die antike Idee der Volkssouveränität ohne Umstände in 38 | Constant (1819/1972), S. 368f. u. 392f. 39 | Heute gilt dies z.B. für republikanisch gesinnte »Kommunitaristen« wie Michael Sandel und Alasdair MacIntyre. 40 | Constant (1819/1972), S. 373f.

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die Moderne retten lasse. Damit haben sie »unendliche Übel« über das Land gebracht. Ähnlich wie schon Hegel wenige Jahre zuvor geht auch Constant da­ von aus, dass sich die Grande Terreur der jakobinischen Schreckensherrschaft als nahezu logische Konsequenz aus einer kollektivistischen Freiheitsauffas­ sung ergeben musste, die sich mit der Zeit zur Wahnidee verselbständigt hat­ te: Wer den absoluten Freiheitsanspruch auf konsensuelle Volkssouveränität ungeschmälert wahren will, wird all jene Gesellschaftsmitglieder, die nicht zu partizipieren bereit sind, zu ihrem Glück zwingen oder am Ende gar beseitigen müssen.41 Gleichwohl will Constant, obgleich er selbst ein emphatischer Anhänger des modernen Freiheitsideals ist, nicht vollends auf Anleihen beim antiken Gedankengut verzichten. Er sieht durchaus, dass die Rechtmäßigkeit einer politischen Ordnung, will diese einen starken Anspruch auf private Selbstbe­ stimmung proklamieren, von einer zumindest symbolischen Ausübung auch öffentlicher Freiheitsrechte abhängig ist. Die Adressaten einer politischen Rechtsordnung, so heißt es heute, müssen sich immer zugleich auch als Au­ toren dieser Rechtsordnung begreifen können, damit von einer zugleich lega­ len und legitimen Gesellschaftsformation die Rede sein kann.42 Für Constant folgt daraus ein Lob der Errungenschaft konstitutioneller Monarchie. Deren repräsentativer Parlamentarismus soll dem individuellen Anspruch auf pri­ vate Autonomie gerecht werden, ohne die Idee kollektiver Mitbestimmung gänzlich unter den Tisch fallen zu lassen.43 So zeigt sich Constant am Ende seiner Rede weitaus optimistischer als Berlin, etwa 150 Jahre später, wenn es um die Frage nach einer möglichen Versöhnung beider Freiheitsideale geht.44 Beide Autoren diagnostizieren eine fatale historische Verstrickung. Während Berlin jedoch von einer letztlich unausweichlichen Rivalität überzeugt bleibt, vermutet Constant eine historisch-dialektische Stufenfolge, an deren Ende die jeweils wünschenswerten Aspekte beider Freiheitsideale in der konstitutionel­ len Monarchie zusammenwirken. Dennoch ist festzuhalten, dass Constants Unterscheidung zwischen einer antiken und einer modernen Freiheitsidee in Berlins Differenzierung zwischen positiven und negativen Freiheitsbegriffen

41 | Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1807/1986): Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, bes. S. 431ff. Dazu auch Charles Taylor (1978): Hegel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 528-545. 42 | Habermas (1992). 43 | Constant (1819/1972), S. 391ff. 44 | In der Zwischenzeit ist es vor allem Karl Marx, der an der Idee einer Versöhnung von »Bourgeois« und »Citoyen« festhalten will. Dazu ders. (1844b/1956): Zur Judenfrage, in: MEW, Bd. 1, Berlin: Dietz.

Die nähere Ver wandtschaf t der Integrität

ihr Echo findet. Beide Autoren meinen den politischen Gegensatz von öffentli­ cher und privater Autonomie.45 Doch es ist, wie oben angedeutet, keineswegs notwendig, Berlins Gegen­ überstellung von positiven und negativen Freiheitskonzeptionen allein in die­ sem Constantschen Sinne zu deuten. In einer viel beachteten Kritik an Berlin hat Charles Taylor den blinden Fleck liberalistischer Freiheitsauffassungen kenntlich zu machen versucht, die sich heute nur zu oft auf Berlin berufen.46 Taylor hat hier vor allem solche Positionen im Visier, die sich der von Berlin vermeintlich vorgegebenen Diskreditierung positiver Freiheitsbegriffe direkt anschließen, um sich mit einem Plädoyer für negative Freiheit zufrieden zu ge­ ben. Das Motiv für diese liberale Bescheidenheit liegt für Taylor auf der Hand. Zu groß sei die Gefahr, im Zuge einer affirmativen Erläuterung positiver Frei­ heitsbegriffe vorschnell in den Verdacht zu geraten, der gewaltsamen Etablie­ rung einer »klassenlosen Gesellschaft« und am Ende gar einem neuen Furor der Freiheit das Wort zu reden. Stattdessen zieht man sich auf die gemeinhin unproblematische Überzeugung zurück, dass wohlverstandene Freiheit in der Abwesenheit äußerer Hindernisse bestehe. Damit jedoch sitzen negative, li­ berale Freiheitstheorien einem mindestens dreifachen »Irrtum« auf: Erstens verfehlen sie die für freiheitsliebende Menschen durchaus zentrale Intuition, dass echte Autonomie mehr wäre als der bloß passive Besitz privater Spielräu­ me, und zwar immer auch deren aktive Nutzung. Zweitens muss das negativ gehaltene Plädoyer für die Abwesenheit äußeren Zwangs den folgenschweren Umstand übersehen, dass Menschen häufig auch aufgrund innerer Hindernis­ se und Zwänge von der Realisierung ihrer Freiheitspotenziale abgehalten wer­ den. Damit eng verknüpft ist drittens der Verdacht, liberale Freiheitstheorien neigten zu dem kaum haltbaren Optimismus, dass der Mensch sich über das, was er wirklich will, stets im Klaren sei, wo doch nur zu oft die Erfahrung zu machen ist, dass menschliches Wollen massiver Fremdbestimmung unterlie­ gen kann.47 Nach Taylors Interpretation verstehen liberale Ansätze unter Freiheit dem­ nach (a1) die passiv gegebene Möglichkeit, (b1) von äußeren Zwängen unge­ hindert, (c1) einen rationalen Lebensplan zu verfolgen. Diese Auffassungen sind durchaus nicht völlig falsch, so Taylor, sondern lediglich einseitig. Da­ her gilt es, die philosophiegeschichtlich verdrängten Grundintuitionen posi­ tiver Autonomievorstellungen zu rehabilitieren. Diesen gehe es (a2) um die 45 | Es ist anzumerken, dass diese Terminologie in der Freiheitsdebatte keineswegs einheitlich ausfällt. Manchmal wird das, was auch ich hier »private« Freiheit nenne, »bürgerliche« Freiheit genannt. An anderer Stelle wird »öffentliche« Freiheit mit »politischer« Freiheit gleichgesetzt. 46 | Dazu und für das Folgende Taylor (1988d). 47 | Taylor (1988d), S. 119-125.

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aktive Verwirklichung einer (b2) auch von inneren Hindernissen befreiten, (c2) authentischen Bedürfnisstruktur. Mit dem Ziel, die Stärken beider Freiheits­ verständnisse zu integrieren, wird Berlins Unterscheidung negativer und po­ sitiver Freiheitsbegriffe von der Ebene politischer Zusammenhänge auf den Kontext ethisch-existenzieller Lebensführung heruntergebrochen. Im Mittel­ punkt steht bei Taylor somit nicht mehr die Frage, inwieweit Staaten ihren Bürgerinnen und Bürgern Freiheiten zu garantieren haben, sondern das eher alltagspraktische Problem, was es heißen würde, ein wahrhaft freies Leben zu führen. Um die Komplexität von Taylors Freiheitskonzeption genauer nachvoll­ ziehen zu können, sei hier zunächst noch einmal an dessen Unterscheidung zwischen »schwachen« und »starken« Wertungen sowie an den ebenfalls im Anschluss an Harry Frankfurt thematisierten Zusammenhang von »Wunsch« und »Wille« erinnert.48 Wendet man diese Begrifflichkeit direkt auf das Frei­ heitsthema an, so gelangt man zu einer folgenreichen Unterscheidung. Wir können nämlich nicht nur fragen, ob die willentlichen Handlungen einer Per­ son frei sind, sondern auch, ob sich der Wille der handelnden Person selbst aus freien Stücken hat bilden können. Taylor diskutiert den Fall eines Drogenab­ hängigen: Auch wenn niemand anderes seine Drogensucht verhindern will, mag sich der Abhängige doch von einem Willen angetrieben fühlen, mit dem er sich nicht »identifizieren« kann. Er fühlt sich von einem Willen beherrscht, den er selbst nicht als den eigenen empfindet, sondern als irgendwie fremd und unfrei.49 Beispiele dieser Art machen deutlich, dass Personen auf zweifache Weise unfrei sein können: Entweder sie sehen sich aufgrund äußerer oder in­ nerer Zwänge daran gehindert, einen Wunsch, den sie im starken Sinne beja­ hen können, in entsprechende Handlungen umzusetzen, oder aber sie fühlen sich von Wünschen getrieben, die sie gar nicht als zu sich gehörig betrachten und deshalb gerade nicht im starken Sinne bejahen können. Handlungsfreiheit, so lässt sich Taylor deuten, bezieht sich auf die Frage, ob jemand davon abge­ halten wird, jene Handlungen zu vollziehen, die er tatsächlich auch vollziehen will. Willensfreiheit hingegen hat mit der Frage zu tun, ob der den Menschen effektiv anleitende Wille tatsächlich auch jener ist, den er sich in einem starken Sinne wünscht.50 Anders ausgedrückt: Entweder man fühlt sich unfrei, weil man sich einen Wunsch, den man sich erfüllen will, faktisch nicht erfüllen

48 | Taylor (1988c). 49 | Man denke hier auch an Menschen, die von einer irrationalen Furcht, z.B. vor Tunneln oder Fahrstühlen, terrorisiert werden. 50 | Vgl. Bieri (2001). Dort findet sich auch eine ausführliche Behandlung des traditionsreichen Determinismusproblems, das derzeit unter neurobiologischen Vorzeichen neu diskutiert wird. Ich werde diese Debatte außen vor lassen müssen.

Die nähere Ver wandtschaf t der Integrität

kann, oder aber man fühlt sich unfrei, weil man sich einen Wunsch erfüllen muss, den man im Grunde gar nicht haben will.51 Erst mit positiven Freiheitsbegriffen, so Taylor, kommt die Möglichkeit von ethisch-existenziellen Selbstzwängen ins Spiel, von denen frei zu sein zu unse­ rem Verständnis von Autonomie nicht weniger gehört als die negativ gehaltene Idee äußerer Hindernisfreiheit. Taylor zufolge bestünde menschliche Freiheit in einem von äußeren und inneren Zwängen befreiten Leben, in dessen Verlauf es zur aktiven Verwirklichung eines wahrhaft authentischen Willens kommt. Freilich bringt die hier zuletzt anklingende Idee der »Authentizität« eine ganz eigene philosophische Diskussion mit sich, zu der wir dann gleich auch über­ wechseln werden. Zuvor jedoch sei, wie zu Beginn angekündigt, noch ein Vor­ schlag zur Unterscheidung der Termini Freiheit und Autonomie vorgelegt. Da beide Begriffe nur zu oft synonym Verwendung finden, scheint eine klare Ab­ grenzung ihrer Wesensgehalte und Phänomenbereiche nur schwer möglich.52 Wir sollten es daher bei einer Akzentsetzung belassen, die sich aus der Diffe­ renz von negativen und positiven Freiheitskonzeptionen ableiten lässt. Bereits ein Blick auf den Alltagssprachgebrauch legt die Vermutung nahe, dass der Begriff der Autonomie den Aspekt willentlicher »Selbstbestimmung« hervor­ heben soll. Nach der altgriechischen Herkunft des Begriffes geht es um das menschliche Vermögen, sich seine »eigenen Gesetze« zu geben. Ein autono­ mer Mensch lässt sich von anderen nicht schon diktieren, was er zu denken, zu wollen oder zu tun hat – dies wäre Heteronomie. Er lebt vielmehr wohlüber­ legt, rational prüfend und eigenverantwortlich. Demnach betont der Autonomiebegriff den aktivischen Charakter der Frei­ heit, wie er in positiven Freiheitskonzeptionen zum Ausdruck kommt. Es geht um das Subjekt der »Kontrolle«, wie Berlin sagt. Wichtig ist, dass dies sowohl in politischer als auch in ethisch-existenzieller Hinsicht gilt. Politisch autonom sind Personen dann, wenn sie an Prozessen kollektiver Selbstgesetzgebung partizipieren. In einem ethisch-existenziellen Sinne autonom sind diese Per­ sonen außerdem, wenn ihr individuelles Leben auf einem wahrhaft eigenen Willen beruht. Demnach wäre der Autonomiebegriff für die positive Rede über öffentliche Freiheit zum einen, Willensfreiheit zum anderen zu reservieren. Als nur wenig hilfreich würde es sich indes erweisen, den Freiheitsbegriff ent­ sprechend allein auf seine negativen Hinsichten festzulegen. Der Terminus der Freiheit stellt vielmehr die übergeordnete Begriffskategorie dar, die sowohl negative als auch positive Aspekte umfasst, sodass der Autonomiebegriff als genuiner Bestandteil der Freiheitsidee zu gelten hätte.

51 | Vgl. Frankfurt (1988d), Abschnitt III. 52 | Man vergleiche in diesem Zusammenhang die entsprechenden Einträge im Historischen Wörterbuch der Philosophie, die jede Abgrenzung vermissen lassen.

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5.3 A uthentizität und W ahrhaf tigkeit Im Rahmen der modernen Praktischen Philosophie hat das Freiheits- bzw. Autonomieideal lange Zeit als beinahe konkurrenzlos gelten dürfen, doch ist in jüngerer Vergangenheit verschiedentlich der Verdacht geäußert worden, dass mit der späten oder zeitgenössischen Moderne ein alternativer norma­ tiver Leitstern zu funkeln begonnen hat, der jenen ersten zunehmend in den Schatten stellt. Versteht man unter Autonomie, wie soeben geschehen, das Ver­ mögen, gemäß eigener, rationaler Prinzipien ein Leben in Selbstbestimmung zu führen, so steht heute in direkter Konkurrenz zu dieser Idee das Wunschbild ethisch-existenzieller »Authentizität«, dem zufolge sich das gelingende Leben als Selbstverwirklichung nach Maßgabe eines jeweils unverwechselbaren Per­ sönlichkeitskerns zu beweisen hätte.53 Freilich lässt sich ein echter Widerstreit zwischen diesen beiden Idealen nur dann behaupten, wenn man den Auto­ nomiebegriff  – entgegen der von uns im letzten Abschnitt vorgenommenen Begriffsklärungen – von vornherein in kantischer Tradition liest, d.h. als eine Orientierung strikt an moralischen Normen. Dann lässt sich leicht zeigen, so wie wir das hier auch verschiedentlich getan haben, dass eine authentische Realisierung originären Selbstseins mit den Geboten der Moral in Konflikt geraten kann. Gleichwohl ist die Diagnose, dass dem Authentizitätsideal in zeitgenössischen Diskussionen eine stetig wachsende Bedeutung zukommt, schwerlich von der Hand zu weisen, sodass wir uns nach dessen genauerem Inhalt erkundigen sollten. Hören wir dazu den amerikanischen Literaturkriti­ ker Lionel Trilling, der die akademische Debatte um den Begriff der Authenti­ zitäts angestoßen hat: »Wenn wir mit Bezug auf das menschliche Dasein von Authentizität, Echtheit sprechen, dann verwenden wir das Wort so wie im Museum Fachleute, die prüfen, ob Kunstwerke wirklich sind, was sie zu sein scheinen oder sein sollen, ob sie den für sie geforderten Preis wert sind oder ob sie, wenn der schon gezahlt ist, die Bewunderung verdienen, die man ihnen entgegenbringt. Daß das Wort in den Moraljargon unserer Tage Eingang gefunden hat, weist darauf hin, wie sehr wir unsere Existenz als problematisch empfinden und um die Glaubwürdigkeit unseres individuellen Lebens besorgt sind. Was uns dabei beunruhigt, hat ein Ästhetiker des achtzehnten Jahrhunderts bündig formuliert: ›Wie

53 | Siehe dazu vor allem die drei folgenden Autoren: Taylor (1993, 1994 u. 1995); Christoph Menke (1996): Tragödie im Sittlichen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp; Alessandro Ferrara (1998): Reflective Authenticity, London u. New York: Routledge. Dazu insgesamt kritisch Beate Rössler (2001): Der Wert des Privaten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 109ff.

Die nähere Ver wandtschaf t der Integrität kommt es‹, sagt Edward Young, ›daß wir als Originale geboren werden und als Kopien sterben?‹« 54

Insbesondere Charles Taylor hat Trillings Idee einer durch die Moderne zu­ gleich hervorgebrachten und bedrohten »Originalität« menschlichen Daseins aufgegriffen und unter Bewahrung ihrer ursprünglich zeitkritischen Intenti­ onen systematisch auszuarbeiten versucht. Mit der Moderne, so Taylor, ist in ideengeschichtlicher, aber auch in lebenspraktischer Hinsicht eine Auffassung vom Guten zur Vorherrschaft gelangt, der zufolge das gelingende Leben auf dem Vermögen beruht, sich frei von inneren und äußeren Zwängen auf seine je eigenen tiefsten Bedürfnisse und Selbstverpflichtungen zu besinnen, um diese authentisch verwirklichen zu können. Leider, so fährt Taylor fort, ist die nüchterne Realität unserer spätkapitalistischen Lebenswelt noch immer weit von der Verwirklichung dieses Ideals entfernt. Und nicht nur das: Insbeson­ dere dort, wo heute die Vormachtstellung einer »instrumentellen« Weltsicht die Unterdrückung der »romantisch-expressiven« Quellen unseres moder­ nen Selbstverständnisses bewirkt, droht das Ideal der Authentizität zu einem sinnentleerten und narzisstischen Credo zu verkommen. Daher muss es eine dringliche philosophische Aufgabe sein, das Authentizitätsideal noch einmal unverkürzt zur Darstellung zu bringen.55 Aus ideengeschichtlicher Sicht verdankt sich die Idee authentischer Selbstverwirklichung einem allumfassenden, neuzeitlichen Subjektivierungs­ prozess, den Taylor als »Wende in die Innerlichkeit« begreift: Spätestens im 18. Jahrhundert kommt es in Literatur und Philosophie, z.B. bei Rousseau und Herder, zur Entdeckung einer »inneren Natur« des Menschen, die als uner­ schöpfliche Quelle belebender Impulsive und kreativer Intuitionen aufgefasst wird und von der es heißt, dass sie bislang völlig unzureichend angezapft worden sei. Die Menschen der Moderne, so Taylor, lernen erst langsam, dass sie Wesen von außergewöhnlicher Tiefe sind, ausgestattet mit einem ureige­ nen Empfinden für das, was im Leben zählt. Erst leise vernehmen sie jene noch zaghafte innere Stimme, die etwas Ursprüngliches über das »Wesen« der menschlichen Existenz zu berichten weiß. Mehr und mehr erwacht dabei der Wunsch nach Aufnahme einer möglichst unverzerrten Beziehung zu eben dieser inneren Natur – ein Wunsch, der zugleich tiefe Sehnsucht nach einer je einzigartiger »Selbsttreue« ist: »Sich selbst treu sein heißt nichts anderes als: der eigenen Originalität treu sein, und diese ist etwas, was nur ich selbst artikulieren und ausfindig machen kann. Indem ich sie artikuliere, definiere ich zugleich mich selbst. Damit verwirkliche ich eine Möglichkeit, 54 | Lionel Trilling (1980): Das Ende der Aufrichtigkeit, München: Hanser, S. 91. 55 | Dieses Ziel verfolgt die groß angelegte Studie: Taylor (1994).

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Integrität die ganz eigentlich mir selbst gehört. Dies ist die Auffassung im Hintergrund des modernen Authentizitätsideals und der Ziele »Selbsterfüllung« oder »Selbstverwirklichung«, in deren Sinne das Ideal normalerweise formuliert wird.« 56

Nach dieser ideengeschichtlichen Rekonstruktion des modernen Authentizi­ tätsideals muss jede Person, die ein gutes Leben zu führen beabsichtigt, be­ strebt sein, ihrer inneren Stimme zu lauschen und dieser Gehör zu verschaffen. Denn sonst wird sie niemals herausfinden können, was es heißt, sie selbst zu sein. Für gewöhnlich, so Taylor, vollziehen sich Prozesse einer solchen Selbst­ entdeckung in Akten der »Selbstartikulation«: Wer ergründen möchte, welche Daseinsmöglichkeiten in ihm angelegt sind, muss sein Innerstes »nach außen« kehren und seiner Originalität sprachlich Ausdruck verleihen.57 Allerdings soll­ te die expressive Freilegung ungenutzter Persönlichkeitspotenziale nicht bloß als Aufdeckung, sondern immer auch als kreative Neuschöpfung verstanden wer­ den. Diejenigen, die ihr Innerstes zu artikulieren beginnen, werden von dessen Thematisierung kaum unberührt bleiben. Darin ist der Prozess der Selbstfin­ dung dem nicht selten diffizilen Akt der Schaffung eines Kunstwerks ähnlich, bei dessen Herstellung die authentischen Intentionen des Künstlers ja auch in einem Zug ausgedrückt und modelliert werden.58 Das Bemühen, sich von sei­ ner inneren Stimme dazu »aufrufen« zu lassen, in äußerster Selbsttreue eine je eigene Art des Menschseins zu verwirklichen, muss daher als ein durchaus nicht immer glückender Schaffensprozess verstanden werden, bei dem für je­ den Betroffenen viel auf dem Spiel steht: »Es gibt eine bestimmte Art, Person zu sein, die meine Art ist. Ich bin aufgerufen, mein Leben in dieser Art zu leben und nicht das Leben eines anderen nachzuahmen. Diese Vorstellung verstärkt den Grundsatz, sich selbst treu zu sein. Bin ich mir selbst nicht treu, so verfehle ich die Aufgabe meines Lebens; ich verfehle das, was Humanität für mich bedeutet. […] Nicht nur, daß ich mein Leben nicht nach den Erfordernissen äußerlicher Konformität gestalten soll – außerhalb meiner selbst kann ich gar kein Modell dafür finden, wie ich mein Leben leben soll. Ich kann dieses Modell nur in mir selbst finden. Mir treu sein bedeutet: meiner eigenen Originalität treu sein, und sie kann nur ich allein artikulieren und entdecken. Indem ich sie artikuliere, definiere ich mich. Ich verwirkliche eine Möglichkeit, die ganz meine eigene ist.« 59

Die hier von Taylor propagierte Idee einer Art Persönlichkeitssubstanz, die es auf je eigene authentische Weise zu verwirklichen gilt, mag rasch unter 56 | Taylor (1995), S. 39. 57 | Dies nennt Taylor die Idee des »Expressivismus«. Siehe ders. (1994), Kap. 21. 58 | Taylor (1995), S. 72f. 59 | Taylor (1993), S. 19f.

Die nähere Ver wandtschaf t der Integrität

Metaphysikverdacht fallen, will man darunter die Annahme verstanden wis­ sen, dass in jedem einzelnen Menschen, gewissermaßen von Natur aus, eine jeweils originäre Weise des Menschseins als Aufgabe angelegt sei. Dass Tay­ lor selbst seine Überlegungen jedoch stets in kulturhermeneutische Kontexte einlässt, indem er davon ausgeht, dass sich ethisch-existenzielle Prozesse der Selbstartikulation niemals außerhalb eines kulturellen Raums bereits vorhan­ dener Sinnangebote vollziehen können, ist bereits in Kapitel 1 deutlich gewor­ den. Dennoch droht Taylors leicht romantisch verklärter Blick auf die ideen­ geschichtliche Tradition den Zugang zu einem eindeutig postmetaphysisch ansetzenden Authentizitätsbegriff zu verstellen. In geistiger Nähe zu Taylor hat Alessandro Ferrara, vor allem im Rückgriff auf psychoanalytisches For­ schungsmaterial, zentrale Charakteristika authentischen Menschseins auf et­ was formalere Weise auszuzeichnen versucht.60 Demnach lasse sich der Grad der Authentizität eines personalen Lebenszusammenhangs an den folgenden vier Merkmalen ablesen: Gelingt es einer Person, ihre verschiedenartigen und sich zum Teil widerstreitenden Lebenserfahrungen narrativ in einen möglichst sinnvollen Gesamtzusammenhang zu bringen, so weist ihr Leben »Kohärenz« auf. Vermag die Person aus einem stabilen Selbstwertgefühl heraus spontan, euphorisch und genussvoll zu agieren, so ist ihr Leben von »Vitalität« getragen. Erweist sie sich als hinreichend selbstreflexiv, autonom und selbstgenügsam, dann besitzt ihre Existenz »Tiefe«. Ist die Person zudem genügend weltoffen, erträgt sie emotionale Ambivalenzkonflikte mit Gelassenheit sowie das Wis­ sen um die eigene Endlichkeit mit Humor, so legt sie »Reife« an den Tag. So verschiedenartig die ideengeschichtlichen Reflexionen Taylors und die psychoanalytisch informierten Überlegungen Ferraras auf den ersten Blick auch sein mögen, so weisen sie doch große Gemeinsamkeiten dahingehend auf, dass mit personaler Authentizität eine möglichst dauerhafte und zwang­ lose, auf schöpferisch vitale Weise herzustellende Kongruenz von äußerem Er­ scheinungsbild und innerstem Persönlichkeitskern gemeint ist. Die Originali­ tät bzw. »Echtheit« authentischen Lebens erweist sich daran, ob der Mensch auf unvertretbare und unverwechselbare Weise ein Leben führt, das seinem »tiefs­ ten Innern«, dem »wahren Selbst« entspricht. So schwierig dies im Einzelnen auch festzustellen sein dürfte, der Authentizitätsbegriff erhält seine Empha­ se durch die Unterstellung einer dynamischen Übereinstimmung von Innen und Außen. Nicht nur muss der äußerlich erscheinende Lebensvollzug Rück­ schlüsse auf ein konvergierendes Innenleben zulassen. Die nach Authentizität strebende Person hat diese Kongruenz immer auch aktiv herzustellen, indem sie ihr Innenleben entsprechend in Sprache und Handlungen transformiert

60 | Siehe für das Folgende neben Ferrara (1998) auch ders. (1992): »Postmodern Eudaimonia«, in: Praxis International, 4/1992.

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und nach außen dringen lässt. Kurzum: Der authentische Mensch muss im doppelten Sinne als »Urheber« seines Lebens wirken und erkennbar sein.61 Nachdrücklicher noch als Ferrara, warnt Taylor nun aber vor der durchaus nahe liegenden Gefahr, die Idee der Authentizität narzisstisch oder »atomis­ tisch« misszuverstehen, als sei die Entfaltung und Realisierung eines unver­ wechselbaren Wesenskerns die Angelegenheit sozial und kulturell isolierter Individuen, die dabei allein aus ihrem Innersten schöpfen. Stets, so Taylor, findet sich der Mensch in vielfältige gesellschaftliche Zusammenhänge ein­ gebunden, deren weitgehende Intaktheit als Bedingung authentischen Lebens aufgefasst werden muss.62 Die nach Authentizität strebenden Individuen sind bei der ethisch-existenziellen Selbstartikulation auf vielfältige Weise auf­ einander angewiesen. Sie können sich dabei wechselseitig zur Seite stehen, befruchten und gegebenenfalls auch korrigieren. Das soziale Leben gibt den »unentrinnbaren Horizont« an geteilten Lebensvollzügen, Wertvorstellungen und Sinnangeboten ab, dessen Bandbreite einer Verflachung und Trivialisie­ rung individueller Reifungsprozesse vorbeugt. Dennoch, so Taylor, befindet sich die westliche Kultur in der prekären Lage, dass die befürchtete Atomisie­ rung der Lebenswelt längst eingetreten ist. Das liegt nicht etwa daran, dass die Menschen nunmehr anderen Idealen folgen. Vielmehr ist ein monologisch pervertiertes Authentizitätsideal zur Vorherrschaft gelangt, das ein egoisti­ sches »Abgleiten« in narzisstische Selbstverwirklichungsideologien bewirkt hat: Der Wunsch nach authentischer Selbsterfüllung in Auseinandersetzung mit anderen ist in das egozentrische Bedürfnis nach völliger Unabhängigkeit nicht nur von diesen anderen, sondern auch von jeder Form transzendenter »Hyper-Werte«, wie »Gott« oder auch »Natur«, umgeschlagen. Fatal ist daran, so Taylor, dass die überaus hehre Idee der Authentizität dabei als Ganze in Misskredit geraten ist, sodass ihre bislang unausgeschöpften Potenziale wei­ terhin verschüttet bleiben.63 So eindringlich diese sozialpathognostischen Überlegungen auch klingen mögen, bei genauerem Hinsehen ist fraglich, und zwar sowohl in ideenge­ schichtlicher als auch in lebenspraktischer Perspektive, ob die von Taylor als vermisst gemeldete Kontextgebundenheit des authentischen Lebens begriff­ lich notwendig zum Authentizitätsideal dazu gehört. So hat Christoph Men­ ke darauf hingewiesen, dass sich der Siegeszug des Authentizitätsideals doch gerade einem Rückzug aus den engen Konventionen traditionellen Gemein­ schaftslebens zu verdanken hat. Das Recht auf ein je eigenes, eben »authenti­ 61 | Aus etymologischer Sicht bezeichnet das altgr. Wort authentes den »Mörder« oder »Urheber« einer Tat. In Abwandlung eines Ausspruchs von Erich Kästner könnte man sagen: »Es gibt nichts Wahres, außer man war es.« 62 | Taylor (1993). 63 | Taylor (1995), bes. Kap. 6.

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sches« Leben, so Menke, musste gegen gesellschaftliche Zwänge überhaupt erst noch erkämpft werden. Zwar ist damit nicht schon ausgeschlossen, dass sich das authentische Leben auf dem Wege der Realisierung gemeinschaft­ licher Werte verwirklichen kann, doch es mag seine Ansprüche häufig auch gerade im Zuge sozialer Renitenz oder gar Indifferenz einlösen. Entsprechend wäre der ideologische Hauptkonflikt der zeitgenössischen Moderne weniger als eine abnorme Vereinseitigung des Authentizitätsprinzips zu deuten, son­ dern als fundamentaler Widerstreit zwischen dem tendenziell individualisti­ schen Authentizitätsideals und jenem um sozialen Frieden besorgten Prinzip einer spezifisch moralischen Autonomie.64 Diese Deutung hat den großen Vorteil, dass sie Einsichten eines alterna­ tiven Strangs der Authentizitätsdebatte berücksichtigen kann, dem zufolge das authentische Leben nicht durch ein »zu wenig«, sondern ein »zu viel« an Sozialität bedroht ist. Seit Rousseaus mitreißenden Analysen der amour-propre, jener gesellschaftlich induzierten Eitelkeit, die erwacht, sobald der »wilde« Einzelgänger Mensch den Naturzustand verlässt und mit seinen Artgenossen wechselseitig um die Gunst des jeweils anderen zu konkurrieren beginnt, spä­ testens aber seit den bahnbrechenden soziologischen Studien Erving Goffm­ ans über ganz alltägliche Interaktionsrituale wissen wir, dass das gesellschaft­ liche Leben eine Bühne ist, auf der gilt: »Wir alle spielen Theater.«65 Demnach muss die soziale Arena nicht nur als ein Ort der Verwirklichung authentischen Lebens, sondern immer auch als ein der Originalität abträglicher Schauplatz der Inauthentizität oder, wie es bei Heidegger heißt, der »Uneigentlichkeit«66 verstanden werden. Direkt im Anschluss an Heidegger war es Sartre, der mit einem überaus scharfsinnigen Beispiel anschaulich zu machen versucht hat, wie sich eine sozial induzierte Uneigentlichkeit bis tief hinein in das psycho­ physische Empfinden des Menschen auszuwirken vermag.67 Unter dem Titel »La mauvaise foi« schildert und interpretiert Sartre  – auf bloß oberflächlich chauvinistisch anmutende Weise – das Verhalten einer jungen Frau, die sich zu einer ersten Verabredung einfindet. Das Rendezvous hat noch gar nicht recht begonnen, da meint die junge Dame bereits zu ahnen, dass der attraktive Herr, der ihr gegenüber sitzt und ihr unentwegt Komplimente macht, Absich­ ten hegt, die über diesen netten Plausch hinausgehen. Sie wird also früher oder später eine Entscheidung treffen müssen. Aber sie ist verwirrt:

64 | Menke (1996), S. 192-201. 65 | Erving Goffman (1969): Wir alle spielen Theater, München: Piper. 66 | Heidegger (1927/1993), § 38. 67 | Siehe für das Folgende Sartre (1952/1991), S. 132-137. Statt des so häufig diskutierten Falls des den Kellner mimenden Kellners, wähle ich ein subtileres, aber aus naheliegenden Gründen weit weniger diskutiertes Beispiel.

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Integrität »Sie ahnt ja nicht, was sie wünscht: sie ist zutiefst empfänglich für die Begierde, die sie erregt, aber diese rohe und nackte Begierde würde sie erniedrigen und ihr Abscheu einflößen.« 68

Da die Frau das Begehren des Mannes durchaus genießt, möchte sie ihre Ent­ scheidung noch ein wenig hinauszögern. Dies gelingt nur, wenn sie sowohl das Begehren des Mannes als auch die Einsicht in die Dringlichkeit ihres Ent­ schlusses  – nach Art einer temporären Selbsttäuschung  – von sich fernhält. Sie muss die Avancen, die der Mann ihr macht, rational »entschärfen«. Ihre Scham, aber auch ihre Angst vor der eigenen Begierde, nötigen die Frau dazu, den sexuellen Subtext der Begegnung geflissentlich zu übersehen und statt­ dessen jedes Wort des Mannes, etwa sein Kompliment »Ich bewundere Sie sehr«, so zu nehmen, wie es auf der Oberfläche erscheint: als eine bloße Res­ pektbekundung. Und dennoch, so Sartre, würde die Frau »nichts Reizvolles an einem Respekt finden, der einzig und allein Respekt wäre«. Damit der erregen­ de Moment nicht seinen Reiz verliert, darf die Verdrängung der nunmehr of­ fenbar gemeinsamen sexuellen Absichten keinesfalls vollständig sein. Die Frau muss das untergründige, nicht »gewusste« Gefühl, von ihrem Gegenüber kör­ perlich begehrt zu werden, in ambivalenter Schwebe halten. Sie darf es nicht vertreiben, denn sie will ja darin verharren. Ganz plötzlich jedoch spitzt die Situation sich zu, da der Mann ihre Hand ergreift. Nun scheint die Frau abrupt und endgültig vor die Entscheidung ge­ stellt zu sein, entweder dem Verführungsversuch des Mannes nachzugeben, indem sie ihre Hand preisgibt, oder aber ihre Hand zurückzuziehen und da­ mit wohl unwiderruflich auch jene Wonneangst69 zu vertreiben, die sie in Er­ regung versetzt hat. Wie es ihr am Ende aber dennoch gelingt, selbst dieser Entscheidungssituation elegant auszuweichen, schildert Sartre auf wahrhaft unnachahmliche Weise: »Man weiß, was nun geschieht: die junge Frau gibt ihre Hand preis, aber sie merkt nicht, daß sie sie preisgibt. Sie merkt es nicht, weil es sich zufällig so fügt, daß sie in diesem Moment ganz Geist ist. Sie reißt ihren Gesprächspartner zu den höchsten Regionen der Gefühlsspekulation mit, sie spricht vom Leben, von ihrem Leben, sie zeigt sich unter ihrem wesentlichen Aspekt: eine Person, ein Bewußtsein. Und inzwischen ist die Scheidung von Körper und Seele vollbracht; die Hand ruht inert zwischen den warmen Händen ihres Partners: weder zustimmend noch widerstrebend – ein Ding. […] Kurz, während sie die Gegenwart ihres eigenen Körpers zutiefst spürt – vielleicht bis zur Erregung –, 68 | Sartre (1952/1991), S. 133. 69 | Als »Wonneangst« lässt sich jenes Gefühl beschreiben, mit dem ein Kind beim Versteckspielen in seinem Schlupfloch verharrt, darauf hoffend, gefunden und doch nicht gefunden zu werden.

Die nähere Ver wandtschaf t der Integrität realisiert sie sich als jemand, der sein eigener Körper nicht ist, und sie betrachtet ihn von ihrer Höhe herab als einen passiven Gegenstand, dem Ereignisse zustoßen können, der sie aber weder hervorrufen noch vermeiden kann, weil alle seine Möglichkeiten außerhalb von ihm liegen.« 70

Die auf Angst- und Schamgefühlen, sozialen Verhaltenserwartungen und ge­ sellschaftlichen Zwängen beruhende Zerrissenheit der jungen Frau dringt, für den Mann zunächst unmerklich, als Diskrepanz zwischen innerem Erle­ ben und äußerem Erscheinungsbild nach außen.71 Zweifelsohne lebt das Bei­ spiel von der Evokation, dass sich die Frau deshalb inauthentisch verhält, weil sie sich gegen das Wissen, was tatsächlich mit ihr los ist, sträubt. Sie flüchtet sich in eine Selbsttäuschung, durch die ihr ein ambivalentes Pendeln zwi­ schen Scham und Lust möglich wird. Wenn diese Interpretation zutreffend wäre, ergäbe sich daraus ein paradoxer Befund: Da das äußere Erscheinungs­ bild der Frau nunmehr mit dem propositionalen Gehalt der Selbsttäuschung übereinstimmt, d.h. mit dem, was die Frau in diesem Moment tatsächlich über sich denkt (»Ich bin eine reine, ehrenhafte junge Dame«), hätten wir, genau genommen, von einer authentischen Verwirklichung eben dieser Selbsttäu­ schung zu sprechen. Damit wäre ohne Zweifel gegen die wichtige Intuition verstoßen, dass Authentizität Selbsttäuschungen ausschließt. Authentisch ist ein Verhalten dann, und nur dann, wenn das äußere Erscheinungsbild der Per­ son mit ihrem »wahren« Selbst konvergiert. Daher ist eine weitere wichtige Unterscheidung vonnöten, die dem Authentizitätsbegriff das Ideal der »Wahr­ haftigkeit« zur Seite stellt.72 Was mit Wahrhaftigkeit gemeint ist, kann man, mit Martin Walser, den »Karatgehalt« der Rede nennen. Hier geht es darum, »wie sehr oder wie wenig der Redner oder Schreiber in seiner Sprache enthalten ist«.73 Im Hinblick auf sprachliche Äußerungen, aber auch auf Handlungen oder sonstiges Verhalten tritt der Unterschied zwischen Authentizität und Wahrhaftigkeit immer dann 70 | Sartre (1952/1991), S. 134. 71 | Auf die sich hinter der Maske der Unwahrhaftigkeit verbergende »Spaltung« der Frau wird der Mann unbewusst dadurch reagieren, dass er in seinen Handlungen und Äußerungen fortan beide Seiten der Frau aufgreift; je nachdem, ob diese gerade mehr »Körper« oder mehr »Seele« ist. Damit zieht die junge Frau den sie begehrenden Mann in ihre eigene Spaltung hinein. Hier zeigt sich der furchteinflößende Umstand, dass tiefgreifende Desintegrationen »ansteckend« sein können. Ich werde in Kapitel 6 darauf zurückkommen. 72 | Die im Folgenden umrissene Auffassung von Wahrhaftigkeit entspricht in etwa der von Habermas (1981a), Bd. 1, z.B. S. 69. Siehe aber auch Bernard Williams (2003): Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 73 | Martin Walser (2000): »Über das Selbstgespräch«, in: Die Zeit, 3/2000.

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hervor, wenn wir differenzieren zwischen (a) psychophysischen Regungen oder Zuständen im Innern einer Person, (b) Meinungen und Ansichten, die sie im Hinblick auf diese Regungen und Zustände ausbildet und (c) sprach­ lichen Äußerungen, Handlungen oder sonstigen Verhaltensweisen, in denen die psychophysischen Gemütsbewegungen aus (a) samt der ihnen korrespon­ dierenden subjektiven Ansichten aus (b) hörbar bzw. sichtbar zum Ausdruck kommen. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: (a) Eine Person verspürt ganz plötzlich eine heftige Aggression gegenüber ihrem Lebenspartner. Sofort löst das Scham- und Schuldgefühle in ihr aus, sodass sie ihre Aggressionen zu ver­ drängen sucht. (b) Sie sagt sich immer wieder: »Ich habe überhaupt gar keinen Grund, so sauer zu sein!« Langsam wandelt sich ihre Stimmung dabei in eine diffuse, depressive Laune. (c) Von ihrem Lebenspartner gefragt »Ist was? Geht es dir nicht gut?«, antwortet sie: »Es ist nichts. Mir geht es gut.« Im Umgang mit anderen zeigt sich die Authentizität einer Person als Wahrhaftigkeit immer dann, wenn auf dem Weg von (b) nach (c) von einer adäquaten, d.h. Kongruenz herstellenden Transformation von Meinungen und Absichten in Äußerungen und Handlungen die Rede sein kann. Wahrhaftig verhält sich die Person, wenn sie tatsächlich meint und beabsichtigt, was sie sagt und tut. Folglich ist eine Person dann unwahrhaftig, wenn sie andere Men­ schen belügt oder ihnen etwas »vormacht«. Damit jedoch von Authentizität im vollen Sinne die Rede sein kann, muss zur Wahrhaftigkeit ein wichtiger Aspekt hinzutreten. »Wahrhaft authentisch« verhält oder gibt sich eine Person allein in solchen Momenten, in denen ihre Äußerungen und Handlungen nicht nur ihren momentanen Meinungen und Ansichten, sondern auch ihren innersten psychophysischen Gemütszuständen entsprechen. Hier geht es also um den viel längeren Weg von (a) über (b) nach (c). Man kann sich offensichtlich täu­ schen, wenn man glaubt, keinen Grund zur Wut zu haben oder eine ehrenwer­ te junge Frau ohne schlüpfrige Hintergedanken zu sein. Die Frage der Authentizität bezieht sich demnach nicht nur auf die wahr­ haftige Transformation subjektiver Meinungen und Ansichten in entspre­ chende Äußerungen und Handlungen, sondern auch, und zwar vorgängig, auf die aufrichtige Transformation innerer Erlebniswelten in eben jene subjek­ tiven Meinungen und Ansichten, die es wahrhaftig zu äußern gilt. Um es auf eine kurze Formel zu bringen: Authentizität ist Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst plus Wahrhaftigkeit gegenüber anderen. Demnach kann man wahrhaf­ tig sein, ohne zugleich authentisch sein zu müssen. Eine Person kann an das glauben, was sie sagt, ohne dass sie dabei in Einklang mit ihrer »wahren« Gemütslage steht. Ebenso denkbar ist es, dass eine Person aufrichtig zu sich selbst ist, ohne zugleich wahrhaftig zu anderen zu sein. Wir brauchen nicht immer gleich zu sagen oder zu tun, was wir wirklich meinen. Wahrhaftig­ keit ist ein Anspruch auf Ehrlichkeit im Umgang mit anderen. Dagegen bein­ haltet das umfassendere Ideal der Authentizität stets auch die Erfüllung des

Die nähere Ver wandtschaf t der Integrität

Anspruchs auf Ehrlichkeit gegenüber dem eigenen Selbst. Wahrhaft authen­ tisch ist demnach allein jenes Leben, das frei von Täuschungen und Selbst­ täuschungen ist. Allerdings ist mit Blick auf den normativen Status der Forderung nach Au­ thentizität die eher ernüchternde Einsicht angeraten, dass authentisches Le­ ben weit eher »geschieht«, als dass es das Resultat einer Anstrengung, eines Bemühens wäre. Man kennt die buchstäblich utopische Anspruchshaltung, die in der Aufforderung zum Ausdruck kommt: »Sei authentisch!«. Allein schon diese Aufforderung macht das angezielte Ergebnis unmöglich. Wer zu viel nachdenkt, zu lange zögert und sich selbst zu sehr beobachtet, der läuft sogar Gefahr, einer besonders grotesk wirkenden Form der Uneigentlichkeit zum Opfer zu fallen: einer inszenierten Authentizität. Hier ist die Authentizität dann selbst das Stück, das auf dem Theater gespielt wird.

5.4 D er I ntegritätsbegriff im K reise seiner V erwandten Man könnte mit der Aufzählung verwandter normativer Leitkategorien fort­ fahren, z.B. mit Begriffspaaren wie »Identität und Selbstverwirklichung« oder auch »Souveränität und Gelassenheit«, doch es scheint, als seien wir ohnehin schon zu weit von unserem Kurs, d.h. von der Integritätsproblematik, abge­ kommen. Dass davon jedoch keine Rede sein kann, wird deutlich, wenn wir die Ideale der Würde und Ehre, Freiheit und Autonomie, Authentizität und Wahr­ haftigkeit, deren Darstellung hier zunächst unabhängig von der Integritätspro­ blematik erfolgen sollte, damit sie in ihrem jeweiligen normativen Eigenrecht zur Geltung kommen, nunmehr mit dem Integritätsbegriff zu vergleichen be­ ginnen. Das in diesem Buch umrissene Integritätskonzept soll anhand jener insgesamt sechs verwandten Konzepte noch einmal nach besonders charakte­ ristischen Merkmalen abgeklopft werden, um einer in der bisherigen Debatte versäumten Eingliederung der Integritätskategorie in das normative Begriffs­ feld der Praktischen Philosophie den Weg zu bahnen. Wir werden uns dabei auf einige wenige zentrale Berührungspunkte, vor allem aber auf die Vorzüge des Integritätsbegriffes konzentrieren müssen. Die Frage lautet also: Was hat der Integritätsbegriff mit den Idealen Würde und Ehre, Freiheit und Autono­ mie, Authentizität und Wahrhaftigkeit gemein und was genau hat er ihnen voraus? Sehen wir zunächst, wie das Begriffspaar Würde und Ehre zur Integritäts­ problematik passt. Würde war hier als eine durch soziale Anerkennung ver­ mittelte Haltung der Selbstachtung definiert worden, während entsprechend Ehre als eine durch soziale Anerkennung vermittelte Haltung der Selbstwertschätzung aufzufassen war. Die insbesondere für die Würdeproblematik cha­ rakteristische Notwendigkeit einer »Verkörperung« entsprechender positiver

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Selbstverhältnisse war es, die den Menschen für Verletzungen und Verluste anfällig macht. Es wurde behauptet: Ein Mensch kann Würde nur dann be­ sitzen, wenn er von nichts und niemandem in seinen Lebensvollzügen derart beeinträchtigt wird, dass er seine Selbstachtung einbüßt; wobei Entsprechen­ des für den Zusammenhang von Ehre und Selbstwertschätzung zu konsta­ tieren wäre. Nun war bereits in Kapitel 4, und zwar im Zusammenhang der phänomenologischen Skizze typischer Integritätsverletzungen, ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass auch das integre Leben auf einen vor frem­ den Übergriffen sicheren Spielraum angewiesen ist, in dem sich die Bedürf­ nisse nach Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit verkör­ pern können. Wird dieser Spielraum von anderen eingeengt oder angegriffen, wird der Vollzug personaler Integrität schwer oder gar unmöglich. Analog zur Würde- bzw. Ehrproblematik hat demnach auch für die Integritätsanalyse zu gelten: Eine Person wird ein Leben in Integrität dann, und nur dann, führen können, wenn sie von nichts und niemandem in ihren Lebensvollzügen derart beeinträchtigt wird, dass sie an Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit einbüßt. Demnach betonen alle drei Begriffe – Würde, Ehre und Integrität – die fundamentale Verletzbarkeit des Menschen. In ihrem defensiven Gebrauch sind sie sich daher überaus ähnlich. Damit sind wir sogleich auch bei einem zweiten wichtigen Berührungs­ punkt angelangt. Im Zusammenhang des als universell und doch graduier­ bar deklarierten Würdebegriffs war die Überzeugung geäußert worden, dass zwar nicht schon jeder Mensch im vollen Sinne Würde besitzen kann, dass Rechtsgemeinschaften aber dennoch dafür Sorge zu tragen haben, dass die gesellschaftlichen Ermöglichungsbedingungen der Würde möglichst für alle sichergestellt werden. Der Mensch, und zwar jeder einzelne, hat an der Würde teil, weil er qua Mensch an einem Potenzial partizipiert, welches sich idealiter durch den Besitz und die Nutzbarmachung eines Selbstachtung generierenden Freiraums auszeichnet. Und eben dieser Freiraum ist menschenrechtlich zu garantieren. Gleiches gilt für die Integrität, von der hier ja ebenfalls behauptet werden sollte, dass sie in vollem Umfang nur Personen zukommen kann. Em­ bryonen, geistig schwer bzw. komplex Behinderte oder auch Altersdemente be­ sitzen zwar keine Integrität im normativ umfassenden, d.h. personalen Sinn, doch auch sie partizipieren an einem Potenzial zum menschlichen Wohlerge­ hen, das idealiter durch den Besitz von Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integ­ riertheit und Ganzheit gekennzeichnet ist. Auch ihnen steht darum ein Recht auf »Schutz« jener sozialen Bedingungen zu, unter denen allein sich ein in­ tegres Leben entfalten kann, so weit dies eben möglich ist. Der Würdedebatte lässt sich demnach das folgende Argument entleihen: Nicht nur Personen und schon gar nicht bloß jene Personen, die bereits integer sind, haben Anspruch auf Schonung. Vielmehr müssen gerade diejenigen, denen es an Integrität mangelt, mit den rechtlichen und sozialen Leistungen versorgt werden, deren

Die nähere Ver wandtschaf t der Integrität

Fehlen das ohnehin schon schwierige Leben für sie nur noch aussichtsloser erscheinen lassen würde. Allerdings ergeben sich trotz dieser Gemeinsamkeiten zwischen den Kate­ gorien Integrität und Würde bzw. Ehre auch zwei entscheidende Unterschiede. Zunächst ist daran zu erinnern, dass Würde als Resultat sozialer »Achtung«, Ehre als das Ergebnis sozialer »Wertschätzung« gedeutet wurde. Demgegen­ über erweist sich der Integritätsbegriff insofern als normativ anspruchsvol­ ler, als er immer schon beide, ja, drei Formen der Anerkennung voraussetzt: Achtung, Wertschätzung und, wie in Kapitel 4 und vor allem auch im Rekurs gesehen, Liebe bzw. Fürsorge. Hier zeigt sich also der erste entscheidende Un­ terschied zwischen den Begriffen Würde, Ehre und Integrität: Der Würdebe­ griff konzentriert sich auf den Aspekt der Achtung bzw. Selbstachtung, gerade weil er sich im Zuge der Auszeichnung eines universellen Prinzips von der Frage besonderer sozialer Wertschätzung unabhängig machen möchte. Beim Ehrbegriff verhält es sich gerade umgekehrt. Hier wird gezielt der Aspekt der Gleichheit ausgeblendet, gerade weil die je konkreten Leistungen eines beson­ deren Gesellschaftsmitglieds Wertschätzung erfahren sollen. Beide Begriffe sind darüber hinaus »politisch« in dem Sinne, dass sie die Kontexte einer jeden partikularen Binnenmoral intimer Beziehungsformen transzendieren. Perso­ nale Integrität hingegen benötigt alle drei Formen der Anerkennung, wenn sie gelingen soll: Achtung, durch Zuerkennung von Würde, Wertschätzung, durch Zuerkennung von Ehre, aber immer auch Liebe, wie sie dem Menschen allein von Seiten enger, »ergänzender« Bezugspersonen zufließen kann. Die normative Überlegenheit des Integritätsbegriffes ergibt sich aber nicht nur aus dieser Kombination dreier unterschiedlicher Anerkennungsbedin­ gungen. Der zweite entscheidende Unterschied resultiert aus dem Umstand, dass das für den Vollzug integren Lebens charakteristische Geflecht aus ethisch-existenziellen Ansprüchen der Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Inte­ griertheit und Ganzheit auf weit mehr zielt als das, was für ein »bloß« würde­ volles bzw. ehrenwertes Leben notwendig wäre. Integrität ist ein höherstufiger Modus »guten« Lebens. Ein hinreichendes Maß an Würde und Selbstachtung bzw. Ehre und Selbstwertschätzung hat als elementare Voraussetzung für das inte­gre Leben zu gelten. Anders ausgedrückt: Ein Mensch kann Würde bzw. Ehre besitzen, ohne dass ihm deshalb schon Integrität attestiert werden muss.74 Dass aber umgekehrt ein Mensch Integrität besitzen könnte, ohne dass ihm zugleich auch Selbstachtung und Selbstwertschätzung zukämen, ist schwer­ lich vorstellbar.

74 | Im ersten Fall wäre z.B. an ein Unfallopfer zu denken, das mit seiner Unversehrtheit nicht schon die Menschenwürde verliert; im zweiten Fall an einen hochgeschätzten Mafiosi, der Ehre, aber keine Rechtschaffenheit aufweist.

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In welcher Beziehung jedoch stehen die Begriffe Freiheit und Autonomie zur Integritätsproblematik? Die negative und positive Freiheitsaspekte umfas­ sende Kurzformel »X ist frei von Y, um Z zu tun« ist hier in politischer Pers­ pektive als Gegensatz von privater und öffentlicher Freiheit, in ethisch-exis­ tenzieller Hinsicht als Wechselspiel von Handlungs- und Willensfreiheit interpretiert worden. Dabei war »Freiheit« als die übergeordnete Kategorie verhandelt worden, die jeweils beide Komponenten umfasst, während der Be­ griff »Autonomie« den aktivischen Charakter der Freiheit, d.h. den positiven Aspekt willentlicher Selbstbestimmung im Zuge von öffentlicher Freiheit und Willensfreiheit hervorgehoben hat. Insgesamt war unter Freiheit die Chance verstanden worden, in Abwesenheit von inneren und äußeren Zwängen genau das Leben zu führen, zu dem man sich »aus freien Stücken« entschlossen hat. Hier wird die Nähe zum Integritätsbegriff offenkundig. Auch personale Inte­ grität war zuvor verschiedentlich als das Vermögen charakterisiert worden, frei von inneren Zwängen und äußeren Übergriffen, in Einklang mit dem eigenen ethisch-existenziellen Wollen zu leben. Die in Kapitel 3 deklarierten Prototypen selbstinduzierter Integritätsmängel  – Konfliktscheue, Selbsttäu­ schung, Willensschwäche – können als Störungen des Wechselspiels von Wil­ lens- und Handlungsfreiheit reinterpretiert werden, während die in Kapitel 4 diskutierten Prototypen sozial induzierter Integritätsverletzungen, und zwar insbesondere jene, die dort »strukturbedingt« genannt wurden, auf ein zer­ störtes Verhältnis von privater und öffentlicher Freiheit schließen lassen.75 Kurzum: Die Ideen von Integrität einerseits, Freiheit und Autonomie ande­ rerseits überschneiden sich dort, wo es um die Frage nach einem von inneren und äußeren Widerständen möglichst unbehelligten, selbstbestimmten Le­ bensvollzug geht. Allerdings vermag der Integritätsbegriff auch den Kategorien Freiheit und Autonomie zwei entscheidende Gesichtspunkte hinzuzufügen. Zum einen ist in diesem Buch wiederholt darauf aufmerksam gemacht worden, dass sich die Integrität einer Person oftmals eben gerade angesichts von Hindernissen oder äußerem Druck, d.h. angesichts von Unfreiheit beweisen muss. Als Kraft, auch gegen heftige Widerstände an dem festzuhalten, was man für richtig hält, ist Integrität, wie es in Kapitel 2 hieß, durch ein hohes Maß an »Beherztheit« charakterisiert. Demnach wird Integrität nicht nur erforderlich, wenn Freiheit fehlt, sondern oftmals gerade dann erst möglich. Ein Leben ohne jegliche Wi­ derstände und Konflikte, so war vermutetet worden, würde eine integre Gegen­ wehr gar nicht erforderlich machen. Zum anderen ist im selbigen Kapitel fest­

75 | Dies bedarf sicherlich noch der weiteren Erläuterung. Fraglich ist vor allem, ob das integre Leben notwendig auch auf öffentliche Autonomie im Sinne kollektiver Selbstregierung angewiesen ist. Ich denke, dies ist zu verneinen.

Die nähere Ver wandtschaf t der Integrität

gestellt worden, dass personale Integrität neben dem Aspekt der Beherztheit immer auch ein hohes Maß an »Konsequenz« verlangt. Darunter war über die bloße Möglichkeit einer Realisierung ethisch-existenzieller Selbstverpflichtun­ gen hinaus vor allem auch deren tatkräftige Realisierung verstanden worden. Die integre Person, so hieß es, verspürt die Metaverpflichtung, ihren Einzel­ verpflichtungen auch insoweit treu zu bleiben, dass sie deren Verwirklichung entschlossen anstreben muss. Dagegen müssen wir dem freien und autono­ men Menschen, auch in konzeptioneller Hinsicht, die Freiheit einräumen, die­ se Realisierung freiwillig auch unterlassen zu können. Zwar sollten autonome Handlungen und Äußerungen stets auf autonomen Meinungsbildungspro­ zessen beruhen, doch erzwingen umgekehrt autonome Meinungsbildungs­ prozesse nicht schon konsequente Handlungen und Äußerungen. Freie Men­ schen haben die Freiheit, auf die Verwirklichung ihrer Freiheit zu verzichten, solange sie ihnen als Möglichkeit erhalten bleibt. Für integre Menschen gilt das hingegen nicht im gleichen Maße. Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriert­ heit und Ganzheit müssen im existenziellen Lebensvollzug performativ »zum Ausdruck« kommen. Ein Mensch, der Integrität besitzt, will nicht nur das, was er sagt und tut, er sagt und tut auch das, was er will. Bleibt die Realisierung eines freien Willens letztlich »freiwillig« aus, d.h. ohne dass innerer oder äu­ ßerer Zwang vorläge, mag das zwar nicht schon ein Problem für die Freiheit der betreffenden Person sein, für deren Integrität im Zweifel schon.76 Damit ist der Übergang zum dritten und letzten Begriffspaar bereitet  – Authentizität und Wahrhaftigkeit  –, von dem ja ebenfalls behauptet wurde, dass es ethisch-existenzielle Konsequenzen »in beide Richtungen« impliziere. Es hieß, dass der authentische Mensch in einem doppelten Sinne als Urheber seines Lebens erkennbar sein muss. Einerseits sollten seine äußerlich wahr­ nehmbaren Handlungen, Äußerungen und sonstigen Verhaltensweisen Rück­ schlüsse auf ein konvergierendes Innenleben zulassen. Andererseits kann das Innenleben einer authentischen Person nicht bloß Innenleben bleiben, es muss sich »expressiv« in entsprechenden Äußerungen, Handlungen und sonstigen Verhaltensweisen niederschlagen. Der Begriff »Authentizität« wurde hier zur Kennzeichnung eben dieser möglichst zwanglosen doppelten Kongruenz von äußerem Erscheinungsbild und innerstem Persönlichkeitskern herangezogen, während »Wahrhaftigkeit« als systematischer Bestandteil des Authentizitätsi­ deals aufzufassen war. Authentizität zeigt sich als Wahrhaftigkeit immer dann, wenn von einer adäquat nach außen dringenden Transformation von Meinun­ gen und Absichten in entsprechende Äußerungen und Handlungen die Rede sein kann. Damit jedoch Authentizität im vollen Sinne vorliegt, muss ein

76 | Die These kann auch so formuliert werden: Die von der Integrität geforderte Konsequenz liegt außerhalb der Freiheitsidee. Vgl. Raz (1986), S. 381-385.

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entscheidender Aspekt zur Wahrhaftigkeit hinzutreten. Authentizität meint nicht nur die wahrhaftige Transformation subjektiver Meinungen und Absich­ ten in entsprechende Äußerungen und Handlungen, sondern – bereits vorab – die aufrichtige, selbsttäuschungsfreie Transformation innerer Erlebniswelten in eben jene subjektiven Meinungen und Absichten, die es gegenüber anderen wahrhaftig zu äußern gilt. In genau dieser Hinsicht weist das Authentizitätsideal, verglichen mit all den anderen verwandten Begriffen, die größte Nähe zur Integritätsidee auf. Beide zielen auf den zwanglosen Einklang und die wechselseitige Durchdrin­ gung von ethisch-existenziellem Lebensvollzug und »innerstem« Selbstbild. Gleichwohl zeigen sich bei genauerem Hinsehen auch hier zwei wichtige Unterschiede. Während personale Integrität ein integriertes, d.h. ein rational begründbares und auf autobionarrativem Wege geordnetes Selbstverständnis voraussetzt, können Menschen nicht selten auch auf eher bewusstlose und in­ kohärente Weise authentisch bzw. wahrhaftig sein. Personen, die authentisch bzw. wahrhaftig sind, brauchen für ihr Reden und Tun gar keine Begründun­ gen. Oftmals sind sie sogar auf überaus authentische Weise »sprunghaft«. Die bloße Feststellung einer temporären Kongruenz von äußerem Erscheinungs­ bild und innersten Motivlagen setzt nicht voraus, dass diese Motive selbst lang­ fristig stabil oder gar ihrer Wichtigkeit nach geordnet sein müssen. Personale Integrität hingegen fordert sowohl die bloße Übereinstimmung von Lebens­ vollzug und innerstem Selbstverständnis als auch den Rückgriff auf ein hin­ reichend reflektiertes, d.h. horizontal und vertikal integriertes Selbstbild. Eine Person, die sich, sobald sie wegen ihrer Äußerungen und Handlungen unter Begründungsdruck gerät, regelmäßig mit dem schlichten Hinweis rechtfer­ tigt: »So bin ich eben!«, mag zwar authentisch und wahrhaftig sein, aber nicht integer. Vor allem aber ist zu bedenken, dass der Integritätsbegriff aufgrund sei­ ner moralischen Mindestanforderungen einen Kreis um zulässige, d.h. sitt­ lich tolerable Lebensvollzüge zieht, während dies für die Ideen der Authen­ tizität und Wahrhaftigkeit nicht gilt. Letztere sind demnach in einem noch viel stärkeren Maße als die Integrität in einem vormoralischen Sinne zu verste­ hen: Zwar kann eine Person auf authentische Weise z.B. ein Priester sein, der wahrhaftig die Gebote Gottes verkündet. Doch ist nicht auszuschließen, dass ein anderer Mensch auf ebenso authentische Weise ein menschenverachten­ der Sektenführer ist, der wahrhaftig die Regeln des Teufels predigt. Die Ide­ en der Authentizität und der Wahrhaftigkeit sind derart formal gehalten, dass sie gänzlich beliebige Inhalte zulassen, solange der geforderte Einklang von innerem Persönlichkeitskern und äußerem Erscheinungsbild wahrnehmbar bleibt. Authentizität und Wahrhaftigkeit kennen keine moralischen Grenzen. Mit personaler Integrität hingegen sind nachhaltig unmoralische Lebensvoll­ züge unvereinbar:

Die nähere Ver wandtschaf t der Integrität »Thus, there is no denying the closeness of the concepts of integrity and authenticity. Nevertheless, the concepts of integrity and authenticity do come apart. […] An authentic individual may be a moral monster, but a person of integrity may not.« 77

Dieser zweifellos knappe Aufweis fundamentaler Berührungspunkte und Un­ terschiede zwischen dem Integritätsbegriff und seinen Verwandten mag den Eindruck erweckt haben, als solle der Sozialpathognostik im nun folgenden letzten Kapitel ein allzu anspruchsvolles und am Ende unrealistisches Ideal überantwortet werden. Reicht es denn nicht aus, so könnte man sich fragen, in aller Bescheidenheit auf Würde und Ehre zu pochen, wenn doch mit deren Schutz weit mehr gewonnen wäre als mit dem Scheitern eines utopischen In­ tegritätsideals? Genügt denn nicht der kritische Bezug auf Freiheit und Auto­ nomie, wenn man bedenkt, dass es den Individuen letztlich selbst überlassen bleiben muss, ob sie ihre Freiheit auch tatsächlich nutzen wollen? Fordern Authentizität und Wahrhaftigkeit nicht ohnehin schon viel zu viel, als dass auch noch die sozialen Bedingungen eines wahrhaft integrierten Selbstsein­ könnens einzufordern wären? Dazu lässt sich abschließend das Folgende sa­ gen: Zwar sollten in diesem Buch gute Gründe für eine komplexe Konzeption personaler Integrität versammelt werden, doch darf dies nicht schon als Plä­ doyer für ein völlig konkurrenzloses normatives Leitbild missverstanden wer­ den. Sämtliche der hier diskutierten Begriffe haben theoretische, aber auch lebenspraktische Vor- und Nachteile.78 Der Integritätsbegriff kann nicht schon all diese Konzepte in sich »aufheben«, auch wenn einige Berührungspunkte und sogar Vorteile ausgemacht werden konnten. Dennoch ist und bleibt er ein kritischer Konkurrenzbegriff, der sich in ein konzeptionelles Nebeneinander divergierender normativer Leitbilder einzufügen hat, die sich wechselseitig zu ergänzen und zu korrigieren vermögen. Erst dieses Nebeneinander konstitu­ iert einen wünschenswerten Pluralismus unterschiedlicher Perspektiven auf letztlich ein und dieselbe Sache: das menschliche Wohlergehen.

77 | Cox/La Caze/Levine (2003), S. 12. 78 | Ein differenzierter Vergleich würde deutlich werden lassen, dass die Konzepte inhaltlich immer näher zusammenrücken, je »dicker« sie verfasst sind.

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6 . Angewandte Sozialphilosophie als Psychopathognostik der Integrität Der Bericht zur gegenwärtigen Lage der Sozialphilosophie in Kapitel 1 schloss mit der Beobachtung, dass die zeitgenössische Sozialpathognostik in begrün­ dungstheoretischer Hinsicht durchgängig auf einen »dünnen« Begriff des menschlichen Wohlergehens rekurriert, für den sich die Integritätskategorie als passendes Etikett anbot. Der dort lediglich vorläufig skizzierte Kritikmaß­ stab des ungestörten Selbstseins wurde dann zwar gegen Ende des in Kapitel 2 folgenden Überblicks über unterschiedliche Verwendungsweisen des Integri­ tätsbegriffes in dessen vierter Bedeutungsdimension – Ganzheit und Unver­ sehrtheit  – wiedergefunden. Spätestens im Verlauf von Kapitel 3 gewann je­ doch ein derart komplexer und normativ anspruchsvoller Begriff der Integrität Konturen, dass der Eindruck entstehen musste, als sei der mit diesem Buch verknüpfte Anspruch, eine kritische sozialpathognostische Richtschnur ab­ zumessen, maßlos überzogen. Personale Integrität, so stellte sich heraus, ist immer auch von ganz bestimmten individuellen Faktoren und Fähigkeiten ab­ hängig – man denke hier etwa an die Vermeidung der typischen Integritäts­ mängel Konfliktscheue, Selbsttäuschung und Willensschwäche –, die von der Gesellschaft und ihren Institutionen offenbar nicht schon bereitgestellt oder garantiert werden können. So ist man rückblickend zu der ernüchternden so­ zialphilosophischen Einsicht angehalten, dass die Integrität nicht schon als Ganze in den Verantwortungsbereich der Gesellschaft gestellt werden kann. Zwar haben wir im weiteren Verlauf der Untersuchung, zunächst im Rekurs und dann auch in Kapitel 4, mindestens ebenso zahlreiche Aspekte einer fak­ tischen Abhängigkeit der Integrität von intakten Sozialbeziehungen zusam­ mengetragen, dennoch dürfte hinreichend deutlich geworden sein, dass es ver­ messen wäre, der Gesellschaft ganz allein die Verantwortung für die Integrität ihrer Mitglieder aufzubürden. Daraus ist folgender Schluss zu ziehen: Ganz gleich, wie anspruchsvoll man den Integritätsbegriff in ethisch-existenzieller Hinsicht ausstatten möch­ te, die legitimen moralischen Ansprüche, die aus sozialpathognostischer Sicht einzuklagen sind, können sich offenbar allein auf jene Güter, Leistungen, Verbindlichkeiten und Abwehrrechte erstrecken, deren Bereitstellung die

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Mitglieder einer Gesellschaft mittels politischer, sozialer, rechtlicher und ökonomischer Institutionen mit hinreichend guten Gründen wechselseitig voneinander erwarten dürfen. Die Sozialpathognostik kann sich nicht schon um die Integrität insgesamt kümmern. Ihr geht es einzig um deren soziale Ermöglichungsbedingungen, sofern diese im gerechtfertigten Interesse eines je­ den Mitglieds der Gesellschaft liegen. Eine am Integritätsbegriff orientierte Sozialpathognostik hätte sich demnach primär an dessen spezifisch sozialen Aspekten auszurichten. Gleichwohl besteht kein Anlass dafür, all jene Inte­ gritätsaspekte, deren soziale Implikationen nicht gleich einsichtig sind, darum auch schon aus den Augen zu verlieren. Denkt man hier etwa an durchaus zen­ trale Charakteristika integren Lebens wie »Beherztheit«, »Konsequenz« oder auch »Kohärenz«, so mag einem zwar auf den ersten Blick nicht unmittelbar einleuchten, dass auch diese eine sozialphilosophische Relevanz besitzen. Auf den zweiten Blick kann sich jedoch schnell herausstellen, dass es sehr wohl, etwa aus entwicklungspsychologischer Perspektive, einer Vielzahl sozialer Be­ dingungen bedarf, damit sich ein solches Leben überhaupt entwickeln kann. Der in diesem Buch als normativ komplex ausgewiesene Integritätsbegriff sollte daher nicht schon als das »Gut« aufgefasst werden, das es gesellschaftlich zu verteilen gilt, sondern als zentrale »Hinsicht«, an der soziale Verteilungspo­ litik sich auszurichten hätte. Entsprechend wird die Sozialpatho­gnostik nicht schon Integrität als Ganze einklagen können, aber sie kann und sollte bei ihrer Kritik Integrität als Ganze berücksichtigen. In Erinnerung an die gegen Ende von Kapitel 5 vorgenommene Unterscheidung zwischen einem allgemeinen Recht »auf« Integrität, das es niemals geben kann, und einem universellen Recht auf »Schutz« der Integrität, von dem wir sehr wohl ausgehen dürfen, ergibt sich daher folgende allgemeine Fassung des sozialpathognostischen Grundproblems: Eine Gesellschaft wäre dann als pathologisch einzustufen, wenn es ihr nicht gelingt, die sozialen Voraussetzungen jenes Freiraums si­ cherzustellen, in dem allein sich ein Leben in Integrität zu entfalten vermag. Inwiefern, so lautet die entscheidende Frage, machen ganz bestimmte gesell­ schaftliche Missstände und Fehlentwicklungen ein Leben in Integrität schwer, wenn nicht sogar unmöglich? Diese Frage lässt sich offenbar nur dann sinnvoll behandeln, wenn die Darstellung und Analyse sozialer Ermöglichungsbedingungen von Integrität zu einer Diagnose und Kritik jener gesellschaftlich induzierten Bedrohungen fortschreitet, die das integre Leben heute erodieren lassen. Man mag sich zwar damit begnügen, aus dem komplexen Integritätsbegriff, der hier erarbeitet worden ist, besonders schützenswerte soziale Bedingungen – etwa Moral und Anerkennung – formal herauszustreichen, doch bliebe ein solches Vorgehen weitgehend abstrakt und sozialpathognostisch unsituiert. Zum einen lassen sich zahlreiche konkrete Phänomene integren Lebens gar nicht unabhängig von den jeweils bestimmten Umständen, in denen sie auftreten, analysieren

Angewandte Sozialphilosophie als Psychopathognostik der Integrität

und bewerten; so können etwa extreme Formen couragierten Handelns, man denke an politische Attentate, in einer menschenverachtenden Diktatur Aus­ druck von Integrität sein, während sie in einem vergleichsweise friedlichen Rechtsstaat als kriminell oder verrückt einzustufen sind. Zum anderen sollte die begriffliche Analyse personaler Integrität deshalb stets von einem empi­ rischen Wissen um ihre momentanen Verwirklichungschancen geleitet sein, damit sie nicht über das Ziel hinausschießt und konkreten Alltagserfahrungen gegenüber den Anschluss verliert. Zur Analyse personaler Integrität gehört zwar einerseits die Phantasie, wie das integre Leben unter geeigneten Lebens­ umständen auszusehen hätte, andererseits aber auch eine Kritik jener Miss­ stände, die einer Verwirklichung dieser anspruchsvollen Idee hier und jetzt im Wege stehen. Wer von den sozialen Chancen der Integrität spricht, darf von ihren gesellschaftlichen Risiken nicht schweigen.1 Im vorliegenden Schlusskapitel soll daher, in Form eines Ausblicks, der Versuch unternommen werden, die hier gewonnene Integritätskonzeption eindeutiger als bisher in jenen größeren Zusammenhang zeitdiagnostischer Erwägungen einzubinden, mit denen wir begonnen hatten. Weil das Integri­ tätsthema nicht allein in personaler Perspektive behandelt werden kann, wie in Kapitel 3 geschehen, weil dazu aber auch die direkt zwischenmenschliche Perspektive nicht ausreicht, die wir in Kapitel 4 eingenommen haben, bedarf es der Einbeziehung jener gesamtgesellschaftlichen Strukturzusammenhänge, die das einzelne Individuum samt seines Verhältnisses zum unmittelbar Nächs­ ten übersteigen: »The problem with the accounts of integrity discussed so far has not been a failure to recognize the contingency of individual identities upon social structures or the compatibility of radical contingency with a notion of adequate selfhood; rather, it is a failure to recognize that some social structures are of the wrong sort altogether for some individuals to be able to pursue personal integrity and that questions about the moral nature of a society often need to be asked first before questions about personal integrity can properly be raised.« 2

Eine Sozialpathognostik, die sich am Integritätsbegriff auszurichten gedenkt, muss auf empirische Missstände, aber auch auf reale Missstimmungen zu­ rückgreifen können, die ihr anzeigen, dass die sozialen Ermöglichungsbe­ dingungen der Integrität auch tatsächlich in Frage stehen. Zunächst werden wir daher dem Problem nachspüren müssen, ob sich die Frage der Integrität heute überhaupt auf besonders dringliche Weise stellt; dabei werden wir das 1 | Vgl. Cox/La Caze/Levine (2003), bes. S. 148-153. 2 | Babbit (1996), S. 117. Vgl. William M. Sullivan (1995): Work and Integrity, New York: Harper Collins, bes. S. 220.

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Inte­gritätsproblem – vermutlich wenig überraschend – als Effekt spätmoderner Individualisierungsschübe deuten (6.1). Anschließend werden dann zunächst genau vier konzeptionelle Wege erörtert, die einer am Begriff der Integrität orientierten Sozialphilosophie grundsätzlich offen stehen (6.2). Das Plädoyer für die vierte Form von Sozialpathognostik, die ihr medizinisch-klinisches Begriffsinstrumentarium beim Wort nehmen will, wird das Vorhaben einer »Psychopathologie« der Integrität einleiten. Im ersten Schritt werden klinische Persönlichkeitsstörungen, die für unsere Zeit als typisch gelten – namentlich »Depression«, »Narzissmus« und »Borderline«  – versuchsweise in das Inte­ gritätsvokabular übersetzt (6.3). Anschließend wird dann anhand des Integri­ tätsbegriffs ein programmatischer Brückenschlag zwischen Fragen der Psycho­ pathologie und Problemen der Sozialphilosophie versucht, mit dem die Idee einer »Wahlverwandtschaft« von spätmodernen Lebensmöglichkeiten und psy­ chopathologischen Lebenswirklichkeiten zur Diskussion gestellt wird (6.4).

6.1 D as spätmoderne R ingen um I ntegrität Soll mit Blick auf die Disziplin der Sozialphilosophie eine programmatische Relevanz des Integritätsbegriffes ausgewiesen werden, so hätte dies mit min­ destens drei aufwendigen Nachweisen einherzugehen, die den Rahmen die­ ses Schlusskapitels sprengen würden. Wir werden es daher bei Andeutungen bewenden lassen müssen: Zunächst hätte deutlich zu werden, dass die in Kapitel 1 skizzierten begründungstheoretischen Bemühungen gegenwärtiger Sozialphilosophie sinnvoll auch noch unter jenen komplexen Begriff der Inte­ grität zu bringen sind, der im Verlauf dieser Abhandlung entwickelt worden ist. Damit wäre die diskursstrategische Annahme einer Anschlussfähigkeit der hier umrissenen Integritätskonzeption plausibel gemacht. Zweitens müsste er­ sichtlich werden, dass die Sozialphilosophie mit Recht davon ausgehen kann, dass sich mit Blick auf spätmoderne Lebenswirklichkeiten tatsächlich von ei­ ner verschärften Integritätsproblematik sprechen lässt. Damit wäre die soziohistorische Vermutung belegt, dass das Bedürfnis nach Integrität erst in jün­ gerer Vergangenheit wirklich massenwirksam hervortritt, und zwar schlicht durch dessen umfassende und fortwährende Frustration. Drittens schließlich wäre der Verdacht zu erhärten, dass in den sozialen Auseinandersetzungen und Missmutsäußerungen unserer Tage tatsächlich ein enttäuschtes Ver­ langen nach Integrität zum Ausdruck kommt. Die Klärung dieses Problems diente dem empirischen Nachweis eines in das praktische Alltagsleben vieler einzelner Betroffener eingelassenen »utopischen Überschusses« an integri­ tätsbezogenen Ansprüchen und Erwartungen.3 3 | Vgl. Honneth (1994c).

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Während wir auf den ersten Punkt der diskursstrategischen Anschluss­ fähigkeit erst ganz am Ende zu sprechen kommen werden, finden wir einen vielversprechenden Hinweis auf den Zusammenhang des soziohistorischen und des empirischen Arguments in einem Aufsatz des Soziologen Claus Offe. Gegen Mitte der 1980er-Jahre hatte dieser in einer zwischen Modernisierungs­ euphorie und Modernitätsskepsis vermittelnden Zeitdiagnose die Annahme plausibel zu machen versucht, dass eine neue, seinerzeit noch weithin diffuse Protestbewegung auf den Plan getreten sei, die angesichts eines zunehmend in Kontingenz, Ineffizienz und Zerstörung ausartenden Spätkapitalismus einen für die Moderne ungeahnten Bedarf an »Selbstbeschränkungen« einzuklagen begonnen habe.4 Offe hat hier augenscheinlich die ökologischen, pazifistischen und feministischen »sozialen Bewegungen« der damaligen Zeit vor Augen, de­ ren Protest »neue Schmerzempfindlichkeiten und Unversehrtheitsansprüche« offenbare und auf eine »Modernisierung zweiter Ordnung« dränge, im Zuge derer es zu einer massiven Zügelung und vermehrten Steuerung entfesselter Reproduktionsverhältnisse kommen soll. In bislang unbekanntem Ausmaß, so Offe, konzentriert sich dieser Protest auf »das Thema des Schmerzes, der sich aus Übergriffen und der Bedrohung der physischen (oder im weitesten Sinne »ästhetischen«) Integrität des Körpers, des Lebens oder einer Lebensweise ergibt«. 5

Um verständlich zu machen, worum genau es bei diesem Protest geht und inwiefern es sich dabei um eine »neue« Form des Widerstandes handelt, greift Offe zu einer soziohistorischen Entwicklungsthese, nach der nicht bloß auf dem Gebiet professioneller Gesellschaftskritik, sondern auch in den Arenen des politischen Protestes selbst die normativen Maßstäbe gewechselt haben. Wenn die kritischen Sozialwissenschaften nunmehr, wie von Offe vorgeschla­ gen, die Begriffe »Schmerz« und »Integrität« ins Zentrum rücken, so reagie­ ren sie damit unmittelbar auf eine veränderte politische Großkampflage. Blickt man zurück auf die Geschichte des modernen politischen Protestes, so rich­ tete sich dieser zunächst vor allem gegen die Privilegien und die Willkür vor­ bürgerlicher politischer Eliten. Erst mit den bürgerlichen Revolutionen des 18. Jahrhunderts und dem sukzessiven Übergang zu stärker egalitären und bald auch demokratischen Rechtsstaaten formierte sich dann im Schatten der kapi­ talistischen Industrialisierung eine Arbeiterbewegung, deren Protest vor allem gegen wirtschaftliche Armut und soziale Ungerechtigkeit gerichtet war. Als auch diese ökonomischen Probleme mit dem keynesianischen Wohlfahrtsstaat 4 | Claus Offe (1987): »Die Utopie der Null-Option«, in: Peter Koslowski/Robert Spaemann/Reinhard Löw (Hg.) (1987): Moderne oder Postmoderne?, Weinheim: VCH. 5 | Ebd., S. 156.

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ab Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend eingedämmt schienen, kamen mehr und mehr auch empfindlichere Bedrohungen der Integrität zum Vor­ schein, die, auf die vorangegangenen Protestformen auf bauend, auf ein gesteigertes ethisch-existenzielles Bedürfnisniveau hindeuteten: »Die Protagonisten dieses Protestthemas stehen somit in einer Kontinuität mit Motiven und Errungenschaften der bürgerlich-demokratischen und der proletarisch-sozialistischen Bewegungen. Ohne deren akkumulierte Errungenschaften hätte es weder Anlässe noch Möglichkeiten gegeben, Verletzungen, Übergriffe und Schmerz­e rfahrung bzw. den Schutz von Leben und Lebensweise gegen solche Übergriffe zum erfolgreichen Mobilisierungsthema zu machen.« 6

Diese soziohistorisch gestufte These Offes sollte keineswegs dahingehend missverstanden werden, dass die genannten neuen Schmerzempfindlichkei­ ten jene älteren Erfahrungen der politischer Ohnmacht einerseits, ökonomi­ scher Ungerechtigkeit andererseits vollständig abgelöst hätten, so als habe man es bei der Forderung nach Schutz der Integrität mit einem »Luxusproblem« zu tun. Von einer restlosen Beseitigung staatlicher Willkür oder auch distri­ butiver Ungerechtigkeiten kann zumeist offenkundig keine Rede sein. Den­ noch sind die damit verknüpften gesellschaftlichen Probleme, zumindest zeit­ weise, in den Hintergrund getreten, sodass neue Schmerzempfindlichkeiten und Verlusterfahrungen zum Vorschein und auch zu Bewusstsein kommen konnten, die zu den älteren hinzutraten. Fragen der legitimen Machtverteilung und der distributiven Gerechtigkeit sind selbstredend auch für ein Leben in Inte­grität von fundamentaler Bedeutung, doch sind im Rahmen des Kampfes um dessen soziale Ermöglichungsbedingungen nunmehr weitere Ansprüche hinzugekommen.7 Folglich können die beiden älteren Stufen des gesellschafts­ politischen Protestes zwar als historisch notwendige Phasen einer umfassen­ den Bewusstwerdung komplexer Integritätsansprüche verstanden werden, auf denen jeweils neue Protestformen auf bauen können, doch sollte das Auf­ kommen anspruchsvollerer Identitätsbedürfnisse nicht als das Resultat einer »Sättigung« verstanden werden, sondern als spätmoderne »Verfeinerung« des Gespürs für gesellschaftliche und kulturelle Problemlagen. Die Forderung nach Schutz der sozialen Bedingungen integren Lebens summiert politische Ohnmachtserfahrungen, ökonomische Unrechtsempfindungen sowie ein wachsendes Bewusstsein für darüber hinaus reichende Verletzungsrisiken zu einem insgesamt komplexen Anspruchsniveau, dass sich der Gefahr von 6 | Ebd., S. 156. 7 | Die Frage, ob der Kampf um Verteilungsgerechtigkeit heute nicht längst wieder offen ausgebrochen ist, und zwar nicht zuletzt auch auf globaler Ebene, wird wohl bejaht werden müssen. Dennoch ist das Integritätsthema damit keineswegs vom Tisch.

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invasiven Eingriffen in den ethisch-existenziellen Lebenszusammenhang von Personen auf ganzer Breite entgegenstemmt. Wenn im Folgenden von der »Spätmoderne« die Rede sein wird, von der es heißt, sie habe das Bedürfnis nach Integrität in besonderem Maße wachgerüt­ telt, dann ist damit zunächst bloß ein vager Begriff für einen Epochenabschnitt angeboten, in dem sich ein Erschlaffen der vormals euphorisierenden Kräfte der kapitalistischen »Moderne« konstatieren lässt. Unter Moderne wiederum kann, ebenso vage, eine epochale Phase der K‑R‑I‑S‑E verstanden werden, d.h. ein weitreichender und durchgreifender Prozess der Kapitalisierung, Rationa­ lisierung, Individualisierung, Säkularisierung und Enttraditionalisierung.8 Aus Sicht der nach Integrität strebenden Individuen dürfte der gemeinte Er­ müdungsvorgang, der es berechtigt erscheinen lässt, dem Begriff der Moderne das Präfix »Spät-« hinzuzufügen, nicht allein auf die sozialwissenschaftlich und sozialpsychologisch hinreichend diskutierte Beobachtung zurückzufüh­ ren sein, dass die Moderne mit dem hehren Versprechen einer Befreiung der Subjektivität angetreten ist, welches sich bis dato bloß unzureichend oder le­ diglich in pervertierter Form eingelöst findet. Vielmehr hat der fundamentale Strukturwandel der Moderne zu völlig neuen Formen der Unfreiheit geführt, die von den Betroffenen inzwischen kaum noch zu ertragen sind, sodass der durch Individualisierung vermeintlich bewirkte Autonomiegewinn für viele moderne Menschen lediglich fiktiv geblieben sein dürfte.9 Wenn man bedenkt, dass »Individualisierung« ein überaus schillernder Be­ griff für einen komplexen soziohistorischen Prozess ist, der sowohl positive als auch negative Entwicklungsmomente umfasst  – und zwar erstens Autonomisierung im Sinne einer Erweiterung selbstbestimmter Handlungsspielräume, zweitens Individuierung, also die Vervielfältigung existenzieller Lebensstilopti­ onen, sowie drittens Vereinzelung im Sinne des Zerfalls schützender Gemein­ schaftsbindungen10  – so ist längst unübersehbar, dass aus Sicht der zuneh­ mend auf sich selbst gestellten spätmodernen Individuen das Selbst als solches zur riskanten Aufgabe geworden ist, die es nunmehr ohne festen sozialen Halt unvertretbar zu bewältigen gilt. Die Freisetzung aus »sozialintegrierten, aber durch Abhängigkeiten geprägten, gleichzeitig orientierenden und schützenden wie auch präjudizierenden und unterdrückenden Lebensverhältnissen« wird 8 | Die Frage, was die Moderne ausmacht, ist derart umstritten, dass ich es selbst bei einer subjektiven Aufzählung dieser zentralen Merkmale und jenem Abkürzungsversuch, der nicht zu ernst genommen werden sollte, belassen will. 9 | Wichtige Paten dieser Diskussion sind: Ulrich Beck (1986): Risikogesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp; Giddens (1991). Siehe zudem: Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.) (1994): Riskante Freiheiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 10 | Vgl. Axel Honneth (1994d): »Aspekte der Individualisierung«, in: ders. (1994e): Desintegration, Frankfurt a.M.: Fischer.

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von den Betroffenen als überaus ambivalent und häufig auch als bedrückend erfahren.11 Das aus gewachsenen Zusammenhängen herausgerissene Subjekt blickt mit einem beunruhigenden Gefühl emotionaler Heimatlosigkeit auf eine Gesellschaft, in der es fast alles erreichen könnte, wenn es nur nicht so allei­ ne und ohnmächtig wäre. Einer maßlos gewachsenen Optionsvielfalt steht ein ebenso massiver Mangel an Rückhalt gegenüber, angesichts dessen die Chance auf Nutzbarmachung neuer Optionen und Handlungsspielräume nicht nur zu einer utopischen Wunschvorstellung verkommt, sondern zugleich auch in ei­ nen das Subjekt zunehmend überfordernden Individualisierungsdruck ausartet. Im Lichte des Rekurses kann diese Entwurzelung und Heimatlosigkeit als fortschreitendes Versagen moderner Gesellschaften gedeutet werden, ein früh erworbenes Phantasma intimer Solidarität zu kompensieren, deren Verlust im späteren Leben auf immer höherer sittlicher Stufe aufgefangen werden muss, damit sich personale Integrität einstellen und selbstbestimmt entwickeln kann. Demnach bringt die Spätmoderne einen stetig wachsenden Verlust an gesell­ schaftlicher Integration und damit eine strukturbedingte Erosion der intersub­ jektiven Bedingungen gelingender Persönlichkeitsentwicklung mit sich. Aus sozialpsychologischer Sicht verschärft sich mit dem vor allem sozioökonomisch bewirkten Mangel an langfristigen, intimen und auch solidarischen Nahbezie­ hungen das ohnehin als weit verbreitet anzunehmende Unvermögen, stabile Verhältnisse wechselseitiger Anerkennung und Unterstützung ausbilden zu können, in denen allein sich ein hinreichend widerstandsfähiges und zugleich für andere empfängliches Selbst zu formieren vermag. Es ist paradox: Je stärker das spätmoderne Individuum auf sich selbst zurückgeworfen ist, desto weniger gelingt ihm eine hinreichend klare und gesunde Abgrenzung zwischen Ich und Nicht-Ich, zwischen dem eigenen Selbst und dem der Anderen. Das spätmoder­ ne Subjekt fühlt sich von fremden, anonymen Mächten aufgesogen. Je eindeu­ tiger sich der Kampf um Anerkennung zu einem psychophysischen »Überle­ benskampf« zurückbildet, desto stärker verblasst die eigene Demarkationslinie, angesichts derer der Andere noch »als« Anderer erkennbar ist.12 Bedenkt man darüber hinaus den bereits von Max Weber diagnostizierten Verlust traditioneller bzw. religiöser Sinnangebote sowie den nicht vollends von der Hand zu weisenden Verdacht, dass diese keineswegs ersatzlos wegge­ fallen sind, sondern durch die quasi-religiöse Verheißungsideologie der kapita­ listischen Reproduktionsverhältnisse lediglich abgelöst wurden13, so lässt sich ein spätmodernes Desintegrationsszenario skizzieren, das für die mutmaßlich 11 | Habermas (1988a), S. 234. 12 | Christopher Lash (1984): The Minimal Self, New York: Norton, bes. S. 15f. 13 | Dazu Alexander Rüstow (2001): Die Religion der Marktwirtschaft, Münster: Lit; Christoph Deutschmann (2001): Die Verheißung absoluten Reichtums, Frankfurt a.M. u. New York: Campus.

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befreiten Subjekte längst zu einem neuen Gefängnis geworden ist. Dazu hier nur einige knappe, anhand der vier zentralen Integritätsmodi auszuführende Thesen: (a) Zwar mag die Pluralisierung ethisch-existenzieller Lebensstiloptionen neue Chancen auf eine zugleich autonomisierte und individuierte Selbsttreue in Aussicht stellen, doch kann der ernüchternde Blick auf die realen Zwänge des Alltagslebens und die zum Teil äußerst beschränkten Realisierungsmög­ lichkeiten, die sich dem spätmodernen Individuum bieten, verstörende und depersonalisierende Gefühle der Ohnmacht, Minderwertigkeit und Korrum­ piertheit wachrufen;14 (b) Zwar wandert mit der Autonomisierung ethisch-existenzieller Lebens­ vollzüge ein wichtiges Element der Freiwilligkeit in soziale Nahbeziehungen ein, man denke an Familien oder Partnerschaften, doch korrespondiert dieser Entwicklung auch ein allgemeiner Zuwachs an moralischer Unverbindlich­ keit, der als Abkehr von der Orientierung an sittlichen Rechtschaffenheits­ ansprüchen interpretiert werden muss;15 (c) Zwar bietet die spätmoderne Dezentrierung und Diversifizierung ethisch-existenzieller Lebensvollzüge reichlich Stoff für unverwechselbare autobionarrative Selbstbildungsprozesse, doch resultiert aus dem bereits fest­ gestellten Defizit an »gesunden« gesellschaftlichen Integrationsmechanismen sowie aus der lebenspraktischen Überforderung entwurzelter Individuen auch ein direkter Verlust an lebensgeschichtlich integrierten Persönlichkeitsstruk­ turen;16 (d) Zwar tritt erst im Zuge der Spätmoderne ein spezifisches Recht auf Schutz der intersubjektiven Bedingungen des auf Ganzheit und Unversehrt­ heit zielenden Lebensvollzuges hervor, doch muss die Notwendigkeit der Pro­ klamation eines solchen Rechts als unmittelbares Resultat jenes desintegrie­ renden Zerfalls intakter Sozialbeziehungen gedeutet werden, durch den das seelische Selbst-Management spätmoderner Individuen allmählich in einen psychopsychischen Überlebenskampf ausgeartet ist. Nehmen wir einmal an, dass diese recht spekulativ gehaltenen sozialpa­ thognostischen Thesen unmittelbar einleuchten: Muss sich nicht dennoch unweigerlich die Frage stellen, ob die Sozialphilosophie überhaupt derart um­ standslos einen direkten Zusammenhang von soziohistorischen Fehlentwick­ lungen und individuellen Integritätsverlusten behaupten darf? Gerade dies soll im Folgenden bestritten werden, und zwar aus mindestens zwei Gründen: Zum einen ist gar nicht ausgemacht, dass tatsächlich ein kausaler Zusammenhang 14 | Vgl. Richard Sennett (1998): Der flexible Mensch, Berlin: Berlin. 15 | Viel zu optimistisch ist Anthony Giddens (1993): Wandel der Intimität, Frankfurt a.M.: Fischer. 16 | Vgl. Castoriadis (1984), bes. S. 164f.

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zwischen spätmodernen Lebenswirklichkeiten und beobachtbaren Integritäts­ verlusten rekonstruiert werden kann. Zum anderen sollte eine am Leitbegriff der Integrität orientierte Sozialpathognostik den Eindruck vermeiden, mit ih­ ren Analysen  – an sämtlichen sozialphilosophischen Debatten unserer Tage »vorbei« – gänzlich von vorne beginnen zu wollen. Sie hat sich zu eben diesen Diskussionen vielmehr konzeptionell und inhaltlich in Beziehung zu setzen, damit deutlich werden kann, dass sie tatsächlich mehr als bloß intuitive sozial­ kritische Mutmaßungen anzubieten hat, die das bereits etablierte sozialphilo­ sophische Diskussionsniveau bloß unterlaufen. Daher sollen hier zunächst die denkbaren konzeptionellen Alternativen ausgelotet werden, die uns bei dem Versuch, den umrissenen Integritätsbegriff an zeitgenössische sozialpathog­ nostische Debatten »anzuschließen«, offen stehen.

6.2 A lternativen einer S ozialphilosophie der I ntegrität Einer »angewandten« Sozialphilosophie, die den Begriff der Integrität als sozi­ alkritisches Diagnoseinstrument einsetzte, stehen mindestens vier Strategien zur Auswahl, wenn sie den Anschluss an bereits vorhandene zeitdiagnostische Diskussionen wahren will: (1) Insbesondere im anglo-amerikanischen Sprachraum ist in der Vergan­ genheit verschiedentlich die Überzeugung vertreten worden, dass die Charak­ tereigenschaft der Integrität eine jener zentralen »Tugenden« sei, deren tief­ greifenden Verlust die moderne westliche Welt zu beklagen und zu verkraften habe.17 Zumeist kommt diese Kritik aus dem christlich-konservativen Lager. Beklagt wird ein Schwinden personaler Integrität in dem Sinne, dass Men­ schen immer seltener zu einem Leben in Selbsttreue und Rechtschaffenheit gewillt oder auch nur fähig seien. Dies müsse zu einer allgemeinen Orien­ tierungskrise und zum Verfall verlässlicher Gemeinschaftsbindungen führen. Nicht nur sei das integre Leben im individuellen Einzelfall von intakten inter­ subjektiven Lebenszusammenhängen abhängig, auch umgekehrt gelte, dass Gemeinschaften und deren Institutionen, um funktionieren zu können, auf ein Reservoir an integren Charakterstrukturen zurückgreifen können müs­ sen; man denke hier etwa an Familien und Nachbarschaften, Kindergärten und Schulen, Krankenhäuser und Banken, an den Staatsdienst oder auch an Polizei und Militär. Das Gelingen des gemeinschaftlichen Lebens, so heißt es,

17 | Die These vom »Verlust der Tugend« hat MacIntyre (1995) populär gemacht. Siehe zudem Hess (1978); Anita Louise Spencer (1996): A Crisis of Spirit, New York: Insight Books; Carter (1997).

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sei in vielfältiger Hinsicht auf verlässliche, loyale, patriotische, religiöse oder eben integre Mitbürger angewiesen. Was im Rahmen dieser christlich-konservativen Kulturkritik in den Blick gerät, ist eine Sozialphilosophie spätmoderner Dekadenz. Hier wird personale Integrität zur knappen sittlichen »Ressource« stilisiert. Ein solcher Kritikan­ satz hat zweifellos den Vorteil, überaus suggestiv zu sein und klare Verantwort­ lichkeiten abzustecken. Für den diagnostizierten gesamtgesellschaftlichen Mangel an Integrität werden letztlich die Betroffenen selbst haftbar gemacht, von denen es heißt, sie frönten aus rein egoistischen Nutzenerwägungen he­ raus einem das gesellschaftliche Zusammenleben erodierenden Lebensstil, von dem die Tugend der Integrität notwendig korrumpiert werde. Was aber ist von einem solchen Kritikansatz zu halten? Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass der als »Tugend« veranschlagte Integritätsbegriff offensichtlich nur einen Teil jenes umfassenden Bedeutungsspektrums abdeckt, das in diesem Buch aufgefächert worden ist, und zwar fast ausschließlich die Begriffsdimension der Rechtschaffenheit. Vor allem aber ist an solchen sozialpathognostischen Diagnosen irreführend, dass darin der eigentliche Befund zur Krankheitsur­ sache erklärt und der Geschädigte dabei einseitig zum Täter gemacht werden soll. Der durchaus zu Recht konstatierte allgemeine Integritätsverlust wird hier nicht etwa als das Resultat spätmoderner Lebenswirklichkeiten, sondern stattdessen als der maßgebliche Grund der beklagten spätmodernen Misere ge­ deutet. Die egoistischen, korrumpierten und gottlosen Individuen selbst sind schuld am fortschreitenden Zerfall schützender Gemeinschaftsbindungen. (2) Nun könnte eine Sozialpathognostik der Integrität zweifellos auch um­ gekehrt verfahren, indem sie die Gesellschaft einseitig für individuelle Krank­ heitssymptome bzw. Integritätsverluste verantwortlich macht. Führt man sich zeitdiagnostische Befunde vor Augen, wie sie heute unter Überschriften wie »Kommerzialisierung«, »Entfremdung«, »Vereinzelung«, »Entsolidarisie­ rung«, »Ungleichheit«, »Ungerechtigkeit«, »Missachtung« oder auch »Demü­ tigung« ausgiebig diskutiert werden, so ließe sich fragen, ob und inwiefern es sich dabei jeweils um Verfallserscheinungen personaler Integrität handelt. Die in dieser Untersuchung entwickelten Integritätsbestimmungen könnten so als pathognostische Diagnosetools dienen, anhand derer das bereits vorhan­ dene sozialphilosophische Forschungsmaterial noch einmal neu zu sichten wäre. Die zentrale Frage würden dann lauten: Wie genau ist der Schaden zu beschreiben, den die gemeinten Phänomene der Integrität von Personen zu­ fügen? Inwiefern handelt es sich um invasive Eingriffe in das integre Leben? Dieses Programm hätte augenscheinlich den enormen Vorteil, auf einen inzwischen reichhaltigen Fundus an sozialphilosophischen Phänomenbe­ schreibungen zurückgreifen zu können, die dann lediglich anhand des Inte­ gritätsvokabulars reformuliert zu werden brauchten. Mindestens die folgenden beiden Nachteile sollten jedoch auch berücksichtigt werden: Zum einen käme

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es dabei zu einer unzulässigen und unnötigen Engführung sozialphilosophi­ scher Diagnostik auf die normativen Implikationen der Integritätsproblematik. Gegen Ende von Kapitel 5 ist bereits die Überzeugung vertreten worden, dass eine Konkurrenz unterschiedlicher normativer Perspektiven auf das mensch­ liche Wohlergehen durchaus wünschenswert ist. Es ist zu vermuten, dass je­ weils bestimmte sozialphilosophische Zeitdiagnosen, etwa der Entfremdung, Ungleichheit oder Demütigung, so sehr auf verwandte normative Leitbegriffe zugeschnitten sind, und zwar in diesem Fall auf die Begriffe Authentizität, Au­ tonomie und Würde, dass eine Übersetzung in die Integritätsproblematik nicht nur künstlich, sondern letztlich wohl auch kontraproduktiv wäre. Zum anderen wäre ein solches sozialpathognostisches Übersetzungsvorhaben ständig der Gefahr ausgesetzt, ein schwerwiegendes konzeptionelles Defizit zu reproduzie­ ren, das heute unzähligen sozialphilosophischen Zeitdiagnosen anhaftet: Ganz gleich, ob nun im Einzelnen von Kommerzialisierung, Entfremdung, Indivi­ dualisierung, Vereinzelung o.ä. die Rede ist, zumeist werden die betroffenen Subjekte einseitig und unkritisch zu »Opfern« stilisiert. Wer für die jeweils in Frage stehenden pathologischen Missstände letztlich die Verantwortung tra­ gen soll, wird häufig ebenso wenig geklärt wie die Frage, ob die vermeintlichen Opfer am Ende nicht auch selbst eine Art »Mitschuld« an ihrer Misere tragen. (3) Man könnte daher auf eine dritte sozialphilosophische Strategie verfal­ len, die der Frage der Verantwortung dadurch auszuweichen versucht, dass sie von der Ebene der sozialphilosophischen Diagnostik ohne Umschweife zur Ebene geeigneter Therapievorschläge wechselt. Allerdings sind in der bisheri­ gen Integritätsdebatte bloß vereinzelt konkrete politische Maßnahmen – etwa für die Bereiche Bildung, Entbürokratisierung und soziale Umverteilung  – vorgeschlagen worden, von denen man sich die Schaffung und Verbesserung jener notwendigen gesellschaftlichen Bedingungen erhofft, unter denen das Leben in Integrität gelingen könnte.18 Dabei geht es um die überaus konkrete Frage, wie die vorhandenen gesellschaftlichen Institutionen – Familien, Kin­ dergärten, Schulen, Verwaltungen, Arbeitsverhältnisse, Wirtschaftsunterneh­ men etc. – so umzugestalten sind, dass sie der Herausbildung und dem Erhalt personaler Integrität nicht länger im Wege stehen. Dieser sozialphilosophische Ansatz hätte zweifellos den Vorzug einer deut­ lichen Anwendungsbezogenheit. Allerdings ist bereits in Kapitel 1 die Sorge ge­ äußert worden, dass sich die Sozialphilosophie vermutlich viel zu viel zutrauen

18 | Siehe z.B. Donna H. Kerr (1984): Barriers to Integrity, Boulder: Westview; Albert W. Musschenga (2001): »Education for Moral Integrity«, in: Journal for Philosophy of Education, 2/2001. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Ausdrücklich im Namen der Integrität führt die Nichtregierungsorganisation Transparency International einen weltweit organisierten Kampf gegen Korruption in Verwaltung, Politik und Wirtschaft.

Angewandte Sozialphilosophie als Psychopathognostik der Integrität

würde, wenn sie glaubte, ihren »Patienten« nach dessen Anamnese auch noch behandeln zu können. Zwar mag sie einen konkreten Veränderungs- oder auch Regelungsbedarf feststellen, doch hätten entsprechende Reformprozesse das Resultat öffentlicher Auseinandersetzungen zu sein, an denen die Sozialphi­ losophie mit ihren Vorschlägen allenfalls beteiligt wäre. Aber selbst wenn sie es sich zutrauen würde, derart konkrete Vorschläge zur Verbesserung der ge­ samtgesellschaftlichen Integritätsbedingungen zu unterbreiten, wäre sie doch deshalb nicht schon von ihren – im engeren Sinne – diagnostischen Pflichten entbunden. Bevor die Sozialkritik zu Therapievorschlägen fortschreiten kann, muss sie sich zunächst, und zwar nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit ihren empirischen Nachbardisziplinen, darüber aufklären, ob die von ihr ins Auge gefassten Pathologien überhaupt sinnvoll in das Integritätsvokabular übersetzt werden können. Das Diagnoseinstrument der Integrität sollte sich vorab an empirischen Fakten bewährt haben, wenn man daraus ein Behandlungsinstrument machen möchte. (4) Ein vielversprechender Mittelweg zwischen übereilter Anwendungsbe­ zogenheit und empirischer Enthaltsamkeit, der überdies einseitige Schuldzu­ weisungen zu vermeiden sucht, gerät erst dann in den Blick, wenn sich die sozialpathognostische Integritätsanalyse dazu entschließt, ihre klinischen Me­ taphern beim Wort zu nehmen. Der im Folgenden zu erläuternde Vorschlag lautet: Eine Pathognostik der Integrität hat sich auf das Gebiet gravierender »In­ tegritätskrankheiten« vorzuwagen. In Kapitel 1 sind wir zu der Überzeugung gelangt, dass eine kritische Sozialphilosophie sowohl dem Individuum als auch der Gesellschaft jeweils eine eigene Entwicklungslogik zubilligen muss. Die Rede von »Pathologien des Sozialen« erweist sich allein dann als gerecht­ fertigt, wenn der mikroskopische Blick auf das verletzbare Individuum mit der makroskopischen Perspektive auf die ebenso störanfälligen gesellschaftlichen Strukturzusammenhänge so verschränkt wird, dass wechselseitige Störungen vor Augen treten können.19 Dann erst würde deutlich werden, dass Gesellschaf­ ten zwar nicht buchstäblich erkranken, dass es in diesen aber zu folgenreichen Fehlentwicklungen kommen kann, die einen das Wohlergehen ihrer Mitglieder beeinträchtigenden oder gar krankheitserregenden Einfluss ausüben. Der kli­ nische Sprachgebrauch der Sozialpathognostik folgt der Tatsache, dass Gesell­ schaften bisweilen Leid produzieren und ihre Mitglieder von den herrschenden Lebensumständen nicht bloß formiert, sondern eben auch deformiert werden. Wir haben außerdem festgestellt, dass sich der für die Sozialpathognostik sonst typische dekonstruktive Charakter im Hinblick auf deren normative Grund­ lagen nicht vollständig durchhalten lässt. Die kritische Gesellschaftsanalyse

19 | Vgl. Alexander Mitscherlich u.a (Hg.) (1972): Der Kranke in der modernen Gesellschaft, Köln: Kiepenheuer & Witsch.

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bedarf eines konstruktiven Fundaments, von dem aus gesellschaftliche Miss­ stände gerechtfertigt als Pathologien dia­gnostiziert werden können. So wurde gegen Ende von Kapitel 1 eine philosophische Konzeption des menschlichen Wohlergehens in Aussicht gestellt, die anschließend unter dem Begriff der In­ tegrität ausgearbeitet worden ist. Die richtungsweisende Grundfrage einer am Begriff der Integrität orientierten Sozialpathognostik lässt sich demnach wie folgt fassen: Inwiefern drohen ganz bestimmte gesellschaftliche Missstände und Fehlentwicklungen das Leben in Integrität schwer oder gar unmöglich zu machen? Demnach ist eine Gesellschaft dann als pathologisch einzustufen, wenn sie nicht jene sozialen Freiräume zu schaffen vermag, die für das integre Le­ ben notwendig sind. Diese Prämisse setzt jedoch die Klärung der weiteren Frage voraus, ob überhaupt ein sinnvoller Zusammenhang zwischen der in diesem Buch entwickelten Integritätsproblematik und dem sozialphilosophi­ schen Gebrauch klinischer Termini herzustellen ist. Will man das klinische Vokabular der Sozialpathognostik seiner bisherigen Metaphorik entkleiden, so bedarf es einer Forschungsperspektive, die anhand des Integritätsbegriffes zu­ gleich pathogene Persönlichkeitsstrukturen und pathogene Sozialstrukturen sowie deren gemeinsame Wechselwirkungen sichtet. Wenden wir uns dazu zunächst dem individuellen bzw. mikroskopischen Pol dieses reziproken Be­ dingungsverhältnisses zu, bevor wir dann anschließend auf dessen strukturel­ le bzw. makroskopische Aspekte eingehen. Dabei werden wir zu dem Ergebnis gelangen, dass das Krankenverhältnis von Individuum und Gesellschaft auf merkwürdige Weise »parasitär-symbiotisch« eingerichtet ist.

6.3 P sychopathologie der I ntegrität : D epression , N arzissmus , B orderline In diesem Abschnitt soll auf Phänomene psychopathologischer Persönlichkeitsstörungen eingegangen werden, von denen es heißt, sie seien »für unsere Zeit typisch«. Im Zuge solcher Diagnostik ist in mehrfacher Hinsicht Vorsicht ge­ boten. Wenn die Sozialphilosophie der Ansicht ist, auf unproblematische Wei­ se an klinische Forschungsergebnisse anknüpfen zu können, so ist sie rasch mit der Behauptung konfrontiert, dass das Vorhaben einer medizinischen Klassifikation, gesellschaftlichen »Organisation« und humanwissenschaftli­ chen Explikation psychischer Störungen und Krankheiten, historisch gesehen, etwas Neues sei und daher selbst als integraler Bestandteil des Modernisie­ rungsprozesses gedeutet werden müsse.20 Einer dekonstruktivistischen Lesart 20 | Dazu vor allem Foucault (1969). Siehe aber auch die Beiträge in: Heiner Keupp/ Manfred Zaumseil (Hg.) (1978): Die gesellschaftliche Organisierung psychischen Leidens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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dieser These zufolge ist die Moderne ein pathologisierendes Projekt, das auf die Diskriminierung und den Ausschluss devianter Lebensformen ziele. Demzu­ folge entstehe seelische Krankheit überhaupt erst in dem Moment, in dem das nicht zu integrierende oder zu »normalisierende« Leben als gestört oder krank bezeichnet werde.21 Einer alternativen Lesart zufolge hätten wir es bei der Mo­ derne an sich schon mit einem pathologischen Projekt zu tun, in dessen Verlauf Phänomene psychischer Krankheiten deshalb in den Blick von Medizin und Wissenschaft geraten sind, weil sie sich nunmehr in einer gesteigerten und nicht mehr zu verleugnenden Qualität und Dringlichkeit zeigen.22 Inwieweit diese beiden Überlegungen eine jeweils eigene Berechtigung haben, braucht an dieser Stelle aber nicht geklärt zu werden, da im Fol­ genden lediglich die weniger anspruchsvolle These vorausgesetzt wird, dass es innerhalb der Moderne zu einem Wandel an zeittypischen Persönlich­ keitsstörungen gekommen ist. Zunächst ist dazu allerdings eine genauere Abgrenzung der Begriffe »Krankheit« und »Persönlichkeitsstörung« von­ nöten. Wenn von psychischer Krankheit die Rede ist, so ist damit ein ers­ tes konzeptionelles Übersetzungsproblem berührt. Der Begriff der psy­ chischen Krankheit verdankt sich einer Analogiebildung zur somatischen Krankheit, wobei bekanntlich bereits deren Konzeptionalisierbarkeit strittig ist. Wer in einem »objektiven« Sinne von Krankheit sprechen will, braucht offenbar ebenso objektive Kriterien menschlicher »Gesundheit«. Letztere jedoch wird häufig schlicht als »Abwesenheit von Krankheit« interpretiert, wodurch man erst einmal in einem begrifflichen Zirkel gefangen ist. Den­ noch haben die diesbezüglichen Debatten zu einem wichtigen Ergebnis geführt: Ganz gleich, ob nun somatische oder aber psychische Krankheit gemeint sein soll, in der konkreten Anwendung des Krankheitsbegriffes sollte stets zwischen einer »wissenschaftlichen« Beurteilung, die von au­ ßen vorgenommenen wird, und einer »lebensweltlichen« Diagnose, die aus der Binnenperspektive der Betroffenen heraus vollzogen wird, unterschie­ den werden. Aus der objektivierenden Perspektive des Arztes wird unter Krankheit gemeinhin eine schwerwiegende Beeinträchtigung »normaler« oder »typischer« Funktionsweisen des psychischen oder physischen Appa­ rates verstanden. Aus der subjektiven Sicht des Patienten hingegen geht es um als leidvoll erfahrene seelische und körperliche Beeinträchtigungen des individuellen Wohlergehens.23 Da das Problem einer notwendigen Verzahnung dieser beiden Perspek­ tiven eine ganz eigene, umfassende Erörterung notwendig machen würde, 21 | Dazu der Überblick bei Schramme (2000), Kap. II. 22 | Vgl. Volker Roelcke (1999): Krankheit und Kulturkritik, Frankfurt a.M. u. New York: Campus. 23 | Dazu und für das Folgende siehe vor allem Schramme (2000).

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muss ich es an dieser Stelle bei einer zunächst vagen Definition belassen: Als »psychische Krankheit« soll hier eine seelisch bedingte, schwere Beein­ trächtigung subjektiven Wohlergehens bezeichnet werden, die von außen als eine ebenso gravierende Abweichung von einem Zustand typischer Funkti­ onstüchtigkeit beschrieben werden kann. Wenn dies als erste Hilfsdefinition ausreicht, so ist mit Blick auf die Frage, was demgegenüber als »psychische Persönlichkeitsstörung« zu bezeichnen wäre, anzunehmen, dass eine Persön­ lichkeitsstörung zwar nicht schon eine Krankheit ist, jedoch als »Tendenz« zur psychischen Krankheit beschrieben werden muss. Unter einer Persön­ lichkeitsstörung kann ein mit charakteristischen Symptomen behaftetes, re­ lativ stabiles Erfahrungs- und Verhaltensmuster verstanden werden, dessen typisches Erscheinungsbild immerhin so deutlich von der erwartbaren Norm abweicht, dass ein subjektiver Leidensdruck seitens der Betroffenen und ein nachteiliger Einfluss auf ihre soziale Umwelt angenommen werden müssen.24 Da ein »Abgleiten« in Krankheit nicht ausgeschlossen werden kann und häu­ fig sogar befürchtet werden muss, dürfen Persönlichkeitsstörungen daher als Dispositionen zur Krankheit verstanden werden. Von Krankheitszuständen im engeren Sinn unterscheiden sie sich dadurch, dass sie minder schwerwiegend sind und das Realitätsbewusstsein der betroffenen Personen weit weniger stark trüben. Die mit Persönlichkeitsstörungen einhergehende Beeinträch­ tigung der subjektiven Befindlichkeit ist keineswegs als derart gravierend einzustufen, dass von individuellem Wohlergehen überhaupt gar keine Rede mehr sein kann. Zugleich ist die von außen zu beobachtende Funktionstüch­ tigkeit des seelischen Apparates noch nicht so stark beschädigt, dass eine völlige Abwesenheit der psychischen Voraussetzungen »normalen« Lebens festzustellen wäre. Auf die Gefahr grober Vereinfachung hin, trennt Krankheit und Persön­ lichkeitsstörung in etwa das, was nach gängiger psychologischer Auffassung auch »Psychosen« und »Neurosen« unterscheidet: erhöhte Abnormität, Hef­ tigkeit und Zerrüttung. Gleichwohl dürfte mit diesen unterschiedlichen Be­ griffsbestimmungen ein Kontinuum von Phänomenen angedeutet sein, das von eher harmlosen, noch gesund zu nennenden Fällen psychoneurotischer Störungen bis hin zu gravierenden und weit weniger häufig auftretenden psy­ chotischen Krankheitsbildern reicht. Wenn die Annahme eines solchen Konti­ nuums nicht vollends von der Hand zu weisen ist, dürfte auch die Vermutung plausibel erscheinen, dass prinzipiell jeder menschliche Charakter spezifische Elemente psychischer Persönlichkeitsstörungen aufweist, ohne dass diese da­ rum auch schon bei jedem oder auch nur bei vielen ein krankhaftes Ausmaß

24 | Thomas Bronisch (2000): »Persönlichkeitsstörungen«, in: Hans-Jürgen Möller u.a. (Hg.): Psychiatrie und Psychotherapie, Berlin u.a.: Springer.

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anzunehmen bräuchten.25 Soll dieses Kontinuum aber für die philosophische Integritätsproblematik fruchtbar gemacht werden, so sind wir sogleich mit einem zweiten konzeptionellen Übersetzungsproblem konfrontiert: Wer die Übersetzbarkeit medizinischer bzw. psychiatrischer Phänomene in das Vo­ kabular einer philosophischen Idee des Wohlergehens behaupten will, wird zugleich die Frage beantworten müssen, inwiefern der klinische Zugang zum kranken bzw. zum gesunden Patienten überhaupt mit dem spezifisch phi­ losophischen Blick auf das menschliche Wohlergehen in Beziehung gesetzt werden kann. Hier offenbart sich nämlich das methodische Problem, dass die psychiatrische Diagnostik einem »szientistischen« Erkenntnisinteresse folgt, da sie maßgeblich an Fragen der Klassifikation von Krankheiten interessiert ist, während es im Rahmen einer Ethik bzw. Sozialphilosophie des Wohlerge­ hens auf einen »hermeneutischen« Zugang zum Subjekt ankommt, bei dem aus der Binnensicht der Betroffenen die individuellen Schwierigkeiten, ein gelingendes Leben zu führen, erkennbar werden. Ich werde es hinsichtlich dieses methodischen Problems bei einigen wenigen Andeutungen bewenden lassen müssen.26 An der Schnittstelle von psychiatrischer Begutachtung und philosophi­ scher Diagnose hätte sich eine Art psychophilosophische Tiefenhermeneutik zu bewegen, die es sich zutrauen würde, unter Bezugnahme auf die Binnenper­ spektive von Betroffenen verallgemeinernde Hypothesen über das Wesen see­ lischer Krankheit und Gesundheit zu formulieren. Wenn wir uns daran erin­ nern, dass die in diesem Buch umrissene Integritätskonzeption von Beginn an als eine sozialphilosophisch inspirierte Theorie des »ungestörten Selbst­ seins« angelegt war, so wäre eine Sozialpathognostik der Integrität offenbar nichts anderes als der Versuch, eben jenes intuitive Verständnis der zentralen Merkmale und Bedingungen eines verfehlten bzw. gelingenden Lebens ein­ zuholen, das in klinischen Zusammenhängen immer dann expliziert wird, wenn von Krankheit bzw. Gesundheit die Rede ist. Dass eine solche konzep­ tionelle Parallelisierung zulässig ist, dafür spricht der überaus aufschlussrei­ che Umstand, dass nicht nur Ärzte auf einen objektiven Krankheitsbegriff und Sozialphilosophen auf eine objektive Theorie des Wohlergehens zurück­ greifen können müssen, um zu ihren Diagnosen zu gelangen. Auch die be­ troffenen Patientinnen und Patienten selbst legen bei der Beurteilung ihrer Lage, wenn auch zumeist weitgehend unbewusst, allgemeine Annahmen über »das« gelingende Leben zugrunde, in deren Licht ihre eigene Existenz dann gegebenenfalls Defizite offenbart.27 An der gemeinsamen Schnittstelle 25 | Dazu König (1999). 26 | Weiter Anregungen bei Evelyn Hanzig-Bätzing (1996): Selbstsein als Grenzerfahrung, Berlin: Akademie. 27 | Auch hier folge ich Schramme (2000).

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von (a) ärztlicher Begutachtung, (b) sozialphilosophischer Diagnose und (c) der jeweiligen Selbsteinschätzung betroffener Individuen ist demnach die geteilte Unterstellung auszumachen, dass ein Leben, dem an Wohlergehen gelegen ist, immer dann ein gravierendes Übel oder Defizit aufweist, wenn darin einzelne zentrale Aspekte des ungestörten, integren Selbstseins nicht mehr angemessen zu verwirklichen sind. Der Gebrauch der Konzepte Inte­ grität und Gesundheit bzw. Integritätsverlust und Krankheit überschneidet sich immer dann, wenn es dabei um zentrale Aspekte des menschlichen Wohlergehens bzw. um gravierende Beeinträchtigungen geht. Wie schwierig es im Einzelnen auch immer erscheinen mag, wahrhaft verallgemeinerbare Aussagen über das menschliche Wohlergehen zu formulieren, es sind dem­ nach die gemeinsamen Überzeugungen von Ärzten, Sozialphilosophen und Betroffenen, dass solche Aussagen möglich sind, welche die Übersetzbarkeit der gemeinten Konzepte garantieren. Kehren wir zunächst, mit diesen zweifellos noch unzureichenden metho­ dischen und begrifflichen Bestimmungen im Gepäck, zur zeitdiagnostischen Ausgangsüberlegung dieses Abschnitts zurück. Wenn hier von Krankheitsbil­ dern bzw. Persönlichkeitsstörungen die Rede sein soll, von denen es heißt, sie seien für unsere Zeit »typisch«, dann ist damit offenbar die generelle Ver­ mutung verknüpft, dass unterschiedliche historische Phasen jeweils unter­ schiedliche charakteristische Persönlichkeitsstörungen und Krankheitsbilder aufweisen. Und tatsächlich ist in den letzten Jahren von klinischer Seite aus ein solcher Wandel zeittypischer seelischer Erkrankungen vielfach behauptet worden; und zwar insbesondere für das 20. Jahrhundert.28 Zu dessen Beginn, so heißt es, seien Krankheitsbilder der Hysterie und der sogenannten Konver­ sionsneurosen vorherrschend gewesen, von denen behauptet wird, sie hätten jene Charaktereigenschaften ins krankhafte Extrem gesteigert, die mit der da­ maligen Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft assoziiert werden müssen, wie Enthaltsamkeit, Arbeitsdisziplin und unterdrückte Sexualität. Die damit einhergehenden seelischen Störungsbilder wurden Gegenstand der ursprüng­ lichen, der Freudschen Psychoanalyse. Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhun­ derts jedoch sei ein vermehrtes Aufkommen sogenannter »Ich-Störungen« zu beobachten gewesen, die weniger als Resultat zivilisationsbedingter Repres­ sion denn als Ergebnis frühkindlich gestörter Interaktionen zu deuten sind. Mit Ich-Störungen sind depersonalisierende Selbstentfremdungstendenzen gemeint, die sich durch das bedrohliche Gefühl eines Verschwimmens klarer Grenzen zwischen Selbst und Nicht-Selbst sowie durch das desintegrierende

28 | Ein früher Hinweis stammt von Allen Wheelis (1958): The Quest for Identity, New York: Norton, S. 40f. Zur Diskussion insgesamt siehe Christopher Lasch (1995): Das Zeitalter des Narzißmus, Hamburg: Hoffmann & Campe, S. 72ff.

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Gefühl auszeichnen, anonymen Mächten unterworfen zu sein.29 Der unter ei­ ner Ich-Störung leidende Mensch hat große Schwierigkeiten, die widersprüch­ lichen Gegebenheiten seines Lebens auf ein einheitliches integriertes Selbst zu beziehen. Wollte man die damit umrissene psychohistorische Di­agnose in aller Kürze zusammenfassen, so wäre im Rahmen der psychischen Konfliktbe­ wältigung von einer allgemeinen Tendenz zum unbewussten Strategiewechsel zu sprechen: weg vom Mechanismus der »Verdrängung«, hin zu einer ver­ stärkten »Abspaltung«.30 Bevor wir uns nun einigen dieser Ich-Störungen im Detail zuwenden, um erstens deren typische Symptome, zweitens deren lebensgeschichtliche Anamnese und drittens deren Übersetzbarkeit ins Integritätsvokabular zu klären, muss darauf hingewiesen werden, dass die These eines historischen Index psychopathologischer Krankheitsbilder nicht dahingehend missver­ standen werden sollte, als tauchten völlig neue Krankheitsbilder auf, wäh­ rend andere Persönlichkeitsstörungen von der Bildfläche verschwunden wären. Es ist lediglich davon auszugehen, dass zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Krankheitsbilder vorherrschend sind, sodass, absolut gese­ hen, durchaus eine eher beständige Anzahl psychopathologischer Störungs­ typen angenommen werden kann. Kulturelle Entwicklungen erzeugen keine Krankheiten, aber sie bestimmen die Formen ihrer Erscheinungen sowie das Ausmaß ihres Auf kommens.31 Die naheliegende Frage, ob in der Spät­ moderne tatsächlich mehr Menschen psychisch krank sind als zu anderen Zeiten, muss an dieser Stelle freilich offen bleiben. Verlässliche Vergleichs­ zahlen fehlen, und der Umstand, dass faktisch ein erhöhtes Ausmaß an psychischer Krankheit zu vermelden ist, muss immer auch auf die banale Tatsache zurückgeführt werden, dass heute sehr viel mehr Menschen als früher psychotherapeutische bzw. psychiatrische Hilfe in Anspruch neh­ men (können).32

29 | Vgl. Ulrich Streeck (1983): »Abweichungen vom »fiktiven Normal-Ich«: Zum Dilemma der Diagnostik struktureller Ich-Störungen«, in: Zeitschrift für psychosomatische Medizin und Psychoanalyse, 29/1983. 30 | Klaus Leferink (1997): »Sympathie mit der Schizophrenie – Die Moderne und ihre Krankheit«, in: Zaumseil/Leferink (1997). 31 | Vgl. Zaumseil/Leferink (1997). Die Tatsache, dass heute dennoch immer mehr Krankheitsbilder bekannt und auch benannt werden, ist vermutlich weniger die Folge einer Entstehung gänzlich neuer psychischer Persönlichkeitsstörungen als vielmehr das Ergebnis einer verfeinerten Diagnostik und Klassifizierung. 32 | Auch der Verdacht, dass eine immer genauere Diagnostik zu »Normalisierungszwängen« führt, vor deren Hintergrund immer mehr Menschen das stigmatisierende Prädikat »krank« erhalten, muss hier unberücksichtigt bleiben.

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Beginnen wir mit dem Krankheitsbild der Depression, von dem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sagt, es handele sich, weltweit gesehen und somatische Krankheiten eingeschlossen, um die »Volkskrankheit Nr. 1«.33 Symptomatisch für depressive Personen ist ein von Niedergeschlagenheit, Sorge, Melancholie, Trauer, Selbstmitleid, Pessimismus und Verzweiflung gekennzeichneter Lebensvollzug.34 Depressive Menschen fühlen sich unglück­ lich, antriebsschwach, wertlos, bedroht und hilflos. Sie neigen zu Selbstvor­ würfen und schlechtem Gewissen. Gefühle der Schuld, Scham und Reue sind ihr ständiger Begleiter. Den Eindruck der eigenen Minderwertigkeit kompen­ sieren sie häufig dadurch, dass sie den Wünschen und Erwartungen ihrer Mit­ menschen gerecht zu werden versuchen. Denn wer sich selbst für schlecht und ungenügend hält, wird dies vermutlich allein dann ertragen können, wenn wenigstens andere ihn für wertvoll halten. Das eigene Bedürfnisniveau flacht zunehmend ab, kommt zum Verschwinden, sodass am Ende von »eigenen In­ teressen« oder einem »eigenen Willen« kaum mehr die Rede sein kann. Dieser für den depressiven Menschen typische Hang zur Selbstaufgabe, der in der gehobenen Alltagssprache auch als »Krankenschwester-Syndrom« bekannt ist, muss als Ausdruck einer quälenden emotionalen Kluft zwischen Selbst und Nicht-Selbst aufgefasst werden. Der depressive Mensch will sich um andere kümmern, so wie er selbst gern von diesen umsorgt werden würde. Freilich hat er längst aufgehört, von anderen Menschen viel zu erwarten, ja, im Grunde erwartet er von seinen Mitmenschen immer nur das Schlimmste. Das Gefühl der eigenen Minderwertigkeit wird durch soziale Anerkennung allenfalls temporär gemindert, was wiederum zu einer Verstärkung der allge­ meinen Frustration des Depressiven führt. Aber auch wenn die Strategie der Selbstaufopferung dauerhaft fehlschlägt, bleibt dem depressiven Menschen oftmals schlicht kein anderer Ausweg, als sich den Bedürfnissen anderer un­ terzuordnen  – vom Selbstmord einmal abgesehen. Der zentrale psychische Konflikt der depressiven Person lässt sich aus der Binnensicht demnach wie folgt charakterisieren: Sie ist hin und her gerissen, und zwar letztlich hoff­ nungslos, zwischen der unerfüllten Sehnsucht, dass andere sich um sie sor­ gen, und dem am Ende ebenso frustrierten Bedürfnis, sich stattdessen um andere zu kümmern.35

33 | Dazu die WHO-Studie von Christopher J. L. Murray/Alan D. Lopez (Hg.) (1996): The Global Burden of Disease, Cambridge: Harvard UP. 34 | Bei der Darstellung der Symptome der in diesem Abschnitt behandelten drei Störungsbilder orientiere ich mich wesentlich an dem diesbezüglich einschlägigen Diagnostic and Statistical Manual (DSM-IV). 35 | Vgl. Riemann (1961/1995).

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Sieht man hier einmal von medizinischen Erklärungsversuchen ab, de­ nen zufolge die »endogene« Depression schlicht genetisch bedingt sei36, wer­ den aus entwicklungspsychologischer Sicht als Ursachen für Depressionen zumeist mangelnde frühkindliche Zuwendung und Anerkennung verant­ wortlich gemacht.37 Depressive haben in frühester Kindheit »gelernt«, sich fortwährend schlecht und minderwertig zu fühlen, weil sie offenbar den Verhaltenserwartungen ihrer engsten Bezugspersonen nicht gerecht zu wer­ den vermögen, die ihre Enttäuschung wiederholt durch offene Ablehnung zeigen. Deren Frustrationen übertragen sich auf das Kleinkind und verwan­ deln sich dort in eine massive Angst vor Liebesentzug und dem Alleinsein. Die Aussicht auf ein neuerliches und stetiges Versagen wird fortan mit der Gefahr, verlassen zu werden, assoziiert. Dies führt im späteren Leben pa­ radoxerweise dazu, dass intime Nähe zunehmend als Bedrohung empfun­ den wird, und zwar als Ankündigung eines schwerwiegenden Verlustes. Die psychoanalytische Forschung konzentriert sich bei der Erklärung depressi­ ver Persönlichkeitsstörungen auf Unzulänglichkeiten des frühkindlichen Versorgungsverhältnisses. Ein Baby kann sowohl angemessen und liebevoll als auch unzureichend und nachlässig ernährt und gepflegt werden. Wenn eine solche zunächst materielle Unterversorgung mit emotionaler Depriva­ tion einhergeht und über längere Zeit hinweg anhält, werden im Kind Ge­ fühle tiefster Frustration, Abhängigkeit und Machtlosigkeit geweckt.38 Der Eindruck, zu »kurz« zu kommen, ist von dem Eindruck, für andere nicht wertvoll genug zu sein, fortan kaum mehr zu trennen. Ein derart dauerhafter Missmut blockiert gesunde Abnabelungsprozesse, in denen sich das Kind als ein zunehmend eigenverantwortliches und selbstsicheres Individuum er­ fahren könnte. Das Gefühl emotionaler Ausweglosigkeit und Abhängigkeit sowie die wiederholt als frustrierend erfahrenen Reaktionen der unmittel­ baren Außenwelt, rufen in dem heranwachsenden Kind eine Art negativen Größenwahn wach, der für depressive Personen besonders typisch ist: »Ich bin selbst an allem Schuld.«39

36 | Dazu etwa Siegfried Kasper/Hans-Jürgen Möller/Franz Müller-Spahr (2002): Depression. Diagnose und Pharmakotherapie, Stuttgart: Thieme. 37 | Vgl. Nicolaus Hoffmann/Henning Schauenburg (2000): Psychotherapie der Depression, Stuttgart: Thieme. 38 | Demnach ist es kein Zufall, dass Depressionen im späteren Leben sehr häufig mit Essstörungen einhergehen. Vgl. Riemann (1961/1995); König (1999). 39 | Nach Riemann (1961/1995) kann ein Mensch aber auch dadurch depressiv werden, dass man ihn in seiner Kindheit zu sehr verwöhnt. Verglichen mit der totalen Versorgung des Elternhauses muss dann die Unwirtlichkeit des späteren Lebens als anhaltende Enttäuschung erfahren werden.

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Bereits im Zuge einer derart knappen Charakterisierung depressiver Per­ sönlichkeitsstrukturen wird deutlich, inwiefern die depressive Störung als ein massiver Integritätsverlust gedeutet werden kann. Erörtern wir dies anhand der vier zentralen Integritätsmodi. Mit der Forderung nach Selbsttreue haben Personen, die an Depressionen leiden, ein mindestens doppeltes Problem: Sie sind nicht nur grundlegend antriebsschwach, sodass es zu einer performativen und konsequenten Umsetzung ihrer Selbstverpflichtungen und Grundvorha­ ben ohnehin nur in geringem Maße kommen kann. Vielmehr kann von einem gehaltvollen ethisch-existenziellen Selbstbild erst gar nicht die Rede sein, denn die Weltsicht depressiver Personen ist für gewöhnlich derart sinnentleert, dass so etwas wie ein eigener, fester Wille überhaupt nicht erkennbar wird. Dem­ gegenüber wird der Integritätsaspekt der Rechtschaffenheit in übertriebenem Ausmaß vorhanden sein. Depressive neigen häufig dazu, die Verhaltenserwar­ tungen ihrer Mitmenschen über Gebühr zu erfüllen, sodass statt von Recht­ schaffenheit wohl eher von einer selbstaufopfernden Konformität zu sprechen wäre. Der Modus der Integriertheit weist bei depressiven Persönlichkeiten al­ lein schon deshalb gravierende Defizite auf, weil der schwermütige Blick zu­ rück auf das, was war, die Sicht auf Gegenwart und Zukunft so sehr überschat­ tet, dass ein vitaler Lebensvollzug, der auf klaren Zielvorstellungen beruhte, ebenso unmöglich wird wie jeder Versuch einer planvollen Vorsorge. Die Stim­ mung lebensbejahender Ganzheit schließlich wird sich bei depressiven Men­ schen allenfalls in negativer Form einstellen, insofern diese dazu tendieren, ihre Existenz als Ganze abzulehnen. Denkt man an die hohe Suizidbereitschaft depressiver Menschen, so scheint ihnen eine Affirmation des eigenen Lebens oft nicht einmal auf fundamentalster Ebene möglich zu sein. Ziehen wir an dieser Stelle die in Kapitel 3 diskutierten prototypischen Integritätsmängel heran, dürften zwei davon für Depressionen nahezu cha­ rakteristisch sein: Das Leben depressiver Menschen ist zum einen durch ein hohes Maß an Konfliktscheue gekennzeichnet. Ihre Angst vor sozialen Unan­ nehmlichkeiten, etwa vor Ablehnung, Frustration und Liebesentzug, verleitet sie dazu, jeder Art von angstauslösender Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Zum anderen wird aber auch das Phänomen der Willensschwäche in einem be­ drückenden Ausmaß vorliegen. Der depressive Wille ist derart schwach, dass er nicht nur selten umgesetzt wird, sondern nicht einmal als ein echter Wille bezeichnet werden kann. Klare, selbstbestimmte Konturen lässt er nicht erken­ nen. Das dritte typische Integritätsdefizit, das der Selbsttäuschung, ist hinge­ gen nicht in besonderem Maße kennzeichnend für depressive Persönlichkei­ ten. Eher noch ist das Gegenteil der Fall: Depressive neigen vielmehr dazu, sich selbst und auch den Rest der Welt derart schonungs- und illusionslos zu betrachten, dass für sie die Fähigkeit, auch einmal »Fünfe gerade sein« zu las­ sen, durchaus förderlich wäre. Im Lichte des Rekurses muss diese allgemeine Desillusionierung, die mit Gefühlen der Ohnmacht und Abhängigkeit einher­

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geht, als Folge einer frühkindlichen Ernüchterung im Zuge des nur schlecht kompensierten Verlustes frühester Totalversorgung interpretiert werden. Im Lichte von Kapitel 4 hingegen ist das wachsende Misstrauen gegenüber sich selbst und der Welt als ein tiefgreifender Mangel an Selbstbewusstsein, Selbst­ achtung und Selbstwertschätzung zu deuten, für den ein bloß kümmerlich vorhandener moralischer Schutz sowie unzureichende Anerkennung in frü­ hester Kindheit verantwortlich sind. Alle späteren Sozialbeziehungen werden von diesem frühkindlich erworbenen Mangel geprägt bleiben, denn depressive Personen bemühen sich unentwegt, wenn auch letztlich vergeblich, eben die­ sen Mangel in sozialen Nahbeziehungen aufzuheben. Darüber hinaus dürfen die in diesem Buch als wichtigste, emotionale Indikatoren für einen drohenden oder bereits eingetretenen Integritätsverlust diskutierten Gefühle der Angst, Selbstfremdheit, Scham und Schuld genau als jene vier Gefühle interpretiert werden, aus denen das emotionale Grundgerüst depressiver Persönlichkeiten zusammengesetzt ist.40 Aber sehen wir nun, wie sich dieser begriffliche Integritätszusammen­ hang im Fall der zweiten hier zu behandelnden Persönlichkeitsstörung, also im Fall des Narzissmus darstellt. Es muss allerdings vorausgeschickt werden, dass man das psychopathologische Narzissmus-Konzept nicht mit der alltags­ sprachlichen Verwendung des Begriffs verwechseln sollte. Für gewöhnlich ver­ steht man unter einem Narzissten einen Menschen, der übertriebene Selbstlie­ be und ein nahezu exzessives Maß an Selbstbespiegelung an den Tag legt. Die psychopathologische Sicht klärt uns jedoch darüber auf, dass die wahren Grün­ de für ein solches Verhalten mitnichten in übertriebener Selbstliebe, sondern stattdessen in dem Gefühl einer beängstigenden inneren Leere auszumachen sind. Die narzisstische Person mag zwar nach außen hin ego-zentriert, eitel und arrogant wirken, hinter dieser Fassade verbergen sich jedoch emotionale Abgründe mangelnder Selbstliebe und Selbstgewissheit.41 Im direkten sozialen Austausch demonstrieren narzisstische Persönlichkeiten eine Art expressiven Egoismus: Ähnlich wie auch Depressive stürzen sie sich in soziale Nahbezie­ hungen, von denen sie sich ein hohes Maß an Anerkennung erhoffen. Sie sind regelrecht süchtig nach Respekt und Bewunderung. Doch im Vergleich zu De­ pressiven sind sie oft diejenigen, die ihre Partner unterwerfen und schließlich auch verlassen, wenn diese »ausgedient« haben und emotional »ausgesaugt« sind. Der Narzisst zeigt in unterschiedlichen Gradabstufungen eine dem Selbstschutz und der Zerstreuung verpflichtete Oberflächlichkeit, Bindungs­ losigkeit und Skrupellosigkeit. Er ist getrieben von dem alles beherrschenden 40 | Dies geht auch aus zahlreichen Berichten Betroffener hervor. Dazu exemplarisch Andrew Solomon (2001): Saturns Schatten, Frankfurt a.M.: Fischer. 41 | Heinz Kohut (1973): Narzißmus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp; Otto F. Kernberg (1978): Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Wunsch, sich möglichst viele Optionen offen zu halten. Ständig bereit, rasch alles hinter sich zu lassen, wenn neue Reize locken, ist er unfähig zu tiefen sozialen Bindungen, wie Liebe, Loyalität, Dankbarkeit und Selbstlosigkeit, weil ein völliger Mangel an jeder Form von Empathie und Sympathie vorliegt. Frei­ lich vermag er Sympathie und Verständnis zu heucheln, solange er sich davon etwas verspricht. Werden soziale Beziehungen »unproduktiv« und überflüs­ sig, wird die andere Person einfach abgestoßen. Der grundlegende Konflikt der narzisstischen Persönlichkeit lässt sich aus der Binnensicht demnach wie folgt charakterisieren: Sie weiß nicht, ob sie auf die Bewunderung und Liebe anderer Personen angewiesen sein will oder ob es nicht doch besser wäre, von diesen anderen völlig unabhängig zu sein.42 Fragt man nach den lebensgeschichtlichen Ursachen für Narzissmus, muss auch im Fall der Entwicklung narzisstischer Persönlichkeiten eine gra­ vierende frühkindliche Versorgungslücke angenommen werden. Diese dürfte sich jedoch noch umfassender ausgewirkt haben als bei der depressiven Per­ son. Im Zuge der Entwicklung narzisstischer Charaktere führt ein kindlicher Mangel an Zuwendung und Anerkennung weniger zu Frustration und Re­ signation als vielmehr zu starker Wut und Aggression.43 Die unmittelbaren Bezugspersonen, die derart negative Gefühle auslösen, werden nicht nur als »böse«, sondern oft auch als strafend erfahren. Einer narzisstischen Persön­ lichkeit bleibt dann oft kein anderer Ausweg, als die Flucht in eine imaginäre heile Welt anzutreten, in der diese bösen Menschen, aber auch Enttäuschung und Wut schlicht nicht vorhanden wären oder besser sind. Narzissten regredie­ ren in einen phantasmatischen Zustand unversehrter Vollkommenheit, in dem die Erinnerungen an frühere Allianzen zugleich aufgehoben und solipsistisch verschoben sind. Im Lichte des Rekurses muss man sagen: Das Kind ersetzt die ursprüngliche Vollkommenheit »durch den Auf bau eines grandiosen und exhibitionistischen Bildes des Selbst: das Größen-Selbst«.44 Die blasse Erinne­ rung an frühere Verbindlichkeiten wird im weiteren Verlauf des Lebens durch Phantasien unbegrenzter Macht, unendlichen Erfolges, später dann auch ei­ gener Brillanz und Schönheit ersetzt, mit denen die konkrete Gegenwart stö­ render anderer Menschen schlicht verneint wird. Beim Narzissten muss dem­ nach, anders als beim Depressiven, von einem positiven Größenwahn die Rede sein: Die narzisstische Person hält sich für derart außergewöhnlich, dass sie glaubt, zu allem fähig und berechtigt zu sein. Diesem aufgeblasenen Popanz an Selbstgefälligkeit korrespondiert jedoch eine faktische Entleerung des Ich. Das »wahre« Ich des Narzissten wird unter den unwirklichen Ansprüchen 42 | Dazu die schonungslose Selbstanalyse des bekennenden Narzissten Sam Vaknin (1999): Malignant Self Love, Skopje: Narcissus. 43 | Dazu und für das Folgende siehe Kernberg (1978). 44 | Kohut (1973), S. 43.

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eines »falschen« Größen-Selbst begraben, bis es zum völligen Absterben eines jeden authentischen Selbstseins kommt. Will man diese psychopathologische Symptomatik in das Integritätsvoka­ bular übersetzen, so wird von narzisstischer Selbsttreue schon deshalb nicht die Rede sein können, weil ein echtes Selbst gar nicht mehr erkennbar ist. Stattdessen wird unaufhörlich ein falsches omnipotentes Selbst konstruiert, dem die Person im Grunde gar nicht treu sein kann, weil es aufgrund über­ zogener Ansprüche ohnehin »unwirklich« ist. Auch mit Blick auf die Forde­ rung nach Rechtschaffenheit erweist sich der Narzisst als Totalausfall. Sein Unvermögen zu Empathie und Sympathie, gepaart mit seinem pathologischen Drang nach völliger Autarkie, lassen darauf schließen, dass er vermutlich nicht einmal weiß, was es bedeuten würde, moralisch zu sein. Was aber den Inte­ gritätsmodus der Integriertheit angeht, so scheint das narzisstische Selbst, zu­ mindest auf den ersten Blick, zunächst ein relativ integriertes und kohärentes Bild abzugeben. Narzisstische Personen erwecken den Eindruck, recht genau zu wissen, was sie wollen, und jedes noch so unwichtige Vorkommnis in ihr grandioses Selbstbild einfügen zu können. Bei genauerem Hinsehen jedoch ist ihnen diese megalomanische Selbst- und Weltintegration allein auf Basis einer Aufspaltung ihrer Persönlichkeit in Größen-Selbst und Rest-Selbst mög­ lich. All das, was nicht in ihr grandioses Selbstbild passt, muss schlechthin verdrängt oder aber rationalisiert werden.45 Hinsichtlich des für personale Integrität maßgeblichen Strebens nach Ganzheit schließlich lässt sich nahezu eine Verselbständigung dieser Sehn­ sucht diagnostizieren. Das Faktum eines unumgänglichen sozialen Wechsel­ spiels von Abhängigkeit und Unabhängigkeit wird vom Narzissten schlicht verneint. Ihm fehlt das Vermögen, eine durchlässige psychophysische Demar­ kationslinie zu ziehen und zu beachten. Andere werden entweder aufgesaugt oder aber gänzlich verleugnet. Im Rückgriff auf den Rekurs ist daher anzuneh­ men, dass auch der Narzissmus das Resultat eines überaus frühen Scheiterns kindlicher Individuierungsprozesse sein muss. Der Übergang vom gesunden »primären« zum ungesunden »sekundären« Narzissmus ist als Misslingen des Versuchs zu interpretieren, die richtige Balance zwischen Symbiose- und Trennungswünschen zu finden und auch zu etablieren.46 Ein frühkindliches Defizit an intakten Sozialbeziehungen, demnach ein Mangel an moralischem Schutz und Anerkennung, führen auch hier zu einem »Minus« an Selbstwert­ gefühl, Selbstachtung und Selbstwertschätzung. Im späteren Leben werden narzisstische Persönlichkeiten dieses Minus dadurch auszugleichen versu­ chen, dass sie von einem trotzigen, ja, beinahe rachsüchtigen Autarkiewahn stets wieder von ihren nächsten Mitmenschen losgerissen werden, sobald diese 45 | Vgl. Kohut (1973). 46 | Dazu Lasch (1995), S. 335ff.

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ihre Zwecke erfüllt haben. Die Ausbildung dauerhaft intakter Interaktionsver­ hältnisse ist ihnen unmöglich. Mit Blick auf die prototypischen Integritätsmängel aus Kapitel 3 kann auch für narzisstische Persönlichkeiten behauptet werden, dass bei ihnen zwei der drei Integritätsdefizite besonders stark ausgeprägt sind. Zum einen werden sie auf überaus fundamentale Weise zur Konfliktscheue neigen. Ethisch-existen­ zielle Widerstände und Widersprüche dürfen in ihrem grandiosen und om­ nipotenten Selbstbild gar nicht vorkommen, sodass sie ihnen für gewöhnlich aus dem Weg gehen werden. Zum anderen tendieren Narzissten aus ebenso nahe liegenden Gründen zu Praktiken der Selbsttäuschung. Sie müssen sich dauerhaft gegen die nüchterne Einsicht in die Existenz eines wahren Selbst abschirmen, das im Schatten ihres illusionären Größen-Selbst allmählich ver­ kümmert. Das Integritätsdefizit der Willensschwäche hingegen ist kein typi­ sches Merkmal der narzisstischen Persönlichkeit. Eher ist das Gegenteil der Fall: Eine große Konsequenz und Skrupellosigkeit bei der Durchsetzung ihrer Interessen, bei der Verfolgung ihrer egoistischen Pläne und der Inszenierung ihres äußeren Erscheinungsbildes lässt sich Narzissten kaum absprechen.47 Abschließend sei auch hier das emotionale Grundgerüst der narzisstischen Person skizziert: Zwar dürften Scham-, ja, sogar Schuldgefühle, stärker aber noch Angst und Selbstfremdheit auch bei Narzissten vorhanden sein, im Ge­ gensatz aber zu Depressiven sind diese Gefühle bei ihnen fast vollständig ver­ drängt und unbewusst. Es überwiegen »falsche« positive Gefühle einer ver­ meintlichen Grandiosität.48 Kommen wir nun zur dritten Persönlichkeitsstörung: dem sogenannten Borderline-Syndrom. In der psychotherapeutischen Praxis diente der Aus­ druck »Borderline« lange Zeit als Verlegenheitsdiagnose für psychisch ge­ störte Patientinnen und Patienten, die stärker zu leiden schienen als bei ei­ ner herkömmlichen Neurose, aber zugleich auch weniger stark als bei einer voll ausgebildeten Psychose, sodass deren Störungsbild zwischen diesen Kate­ gorien, d.h. an deren »Grenze« anzusiedeln war.49 Erst langsam gewann im Rahmen fortgesetzter Diagnostik und Theoriebildung ein eigenes typisches Krankheitsbild Konturen, das erst auf den zweiten Blick sehr viel mehr mit dem Begriff der Grenze zu tun hatte, als zunächst anzunehmen war.50 Der sogenannte Borderliner legt extrem widersprüchliche Verhaltensweisen und

47 | Vaknin (1999). 48 | Vgl. Kernberg (1978). 49 | Christa Rohde-Dachser (1979): »Das Borderline-Syndrom«, in: Psyche, 33/1979. 50 | Bahnbrechend war Kernberg (1978). Aus der neueren Literatur ragt Mertz (2000) hervor. Aus philosophischer Sicht siehe Hanzig-Bätzing (1996).

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überaus rasch wechselnde Stimmungsbilder an den Tag.51 Hat er soeben noch lethargisch, ja, nahezu autistisch gewirkt, kann er schon im nächsten Moment ein impulsives oder gar exzessives Verhalten zeigen. Borderliner demonstrie­ ren in kurzen Abständen sowohl eine Neigung zu emotionalen Ausbrüchen als auch einen Hang zur völligen Zurückgezogenheit und zu vollständigem Verstummen. Dabei offenbaren sich charakterliche Widersprüche, emotionale Sprunghaftigkeit und mangelnde Impulskontrolle, die den Borderliner ständig zwischen Zuständen emotionaler Betäubung und Momenten größter Aufge­ wühltheit pendeln lassen. Er kann somit als der Anti-Aristoteliker unter den psychisch Gestörten betrachtet werden: Eine »goldene Mitte« kennt er nicht. Vielmehr liegt ein anhaltend instabiles, inkonsistentes und bis zur Unkennt­ lichkeit des­integriertes Selbstbild vor, das so deutlich schizoide Züge aufweist, dass es seinen Mitmenschen nicht selten so vorkommt, als lebte der Border­ liner in mehren Welten zugleich.52 Besonders augenfällig ist seine »Als ob«-Persönlichkeit.53 Auf einen eher integrierten Charakter wirken Borderliner oft »unwirklich« und inauthentisch, so als simulierten sie alles bloß – selbst ihre Gefühle. Die Borderliner-Person kann den Anblick des Vollmonds bewundern, ohne wirklich etwas dabei zu empfinden; sie mag demonstrativ genüsslich ein exotisches Essen verspeisen, ohne wirklich etwas zu schmecken; sie wird den Eindruck erwecken, den se­ xuellen Verkehr zu genießen, ohne wirklich von ihm berührt zu sein. Es ist davon auszugehen, dass Borderliner die Kunst, anderen Menschen etwas vor­ zumachen, bis zur Perfektion steigern können. Dass man geneigt sein mag, im jeweils eigenen sozialen Umfeld auf Anhieb keine Person ausfindig ma­ chen zu können, auf die diese Beschreibung zutrifft, kann auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass der Borderliner oftmals deshalb nicht als solcher zu erkennen ist, weil er tendenziell ein »Totalsimulant« ist, der im Bewusstsein 51 | Wegen der noch immer nicht eindeutigen Symptomatik schwanken Schätzungen bezüglich des Anteils von Borderline-Persönlichkeiten an der Gesamtbevölkerung zwischen 0,2 und 15 % (!). Siehe www.borderline‑plattform.de/index.php/statistik (Stand 21. Januar 2018). 52 | Die Schizophrenie-Rate liegt laut statistischer Erhebungen – kulturell unterschiedslos – bei etwa 1 % der Gesamtbevölkerung. Da diese Befunde eher für die Annahme eines genetischen Defekts als für den Verdacht einer gesellschaftlich bedingten Krankheit sprechen, scheint das psychotische Krankheitsbild der Schizophrenie, das vom Borderline-Syndrom unterschieden werden muss, selbst kein interessantes sozialphilosophisches Problem zu sein. Anderer Auffassung sind z.B. Gilles Deleuze/ Félix Guattari (1974): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 53 | Dazu Helene Deutsch (1934): »Über einen Typus der Pseudoaffektivität«, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 20/1934.

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der eigenen sozialen Unverträglichkeit soziale Verträglichkeit zu inszenieren vermag.54 Besonders gravierend wirkt sich die »Als ob«-Persönlichkeit des Bor­ derliners auf sein intimes Nahfeld aus. Eine wahrhaftige Orientierung an Gepflogenheiten der Liebe, Freundschaft oder auch Solidarität ist kaum an­ zutreffen. Da er zu echten und stabilen Bindungen gar nicht fähig ist, aber dennoch recht genau weiß, was andere von ihm erwarten, hat er gelernt, sich diesen gegenüber so zu verhalten, als habe er moralische Orientierungen vor­ zuweisen. Im Grunde, hier sei an Kapitel 2 erinnert, ist der Borderliner ledig­ lich ein scheinheiliger Soziopath. Hinter seiner sozialen Maske verbirgt sich eine radikale Selbstbezogenheit. Ferner ist zu beobachten, dass der Borderliner seine Mitmenschen entweder zu idealisieren oder aber gänzlich zu entwerten geneigt ist. Der fundamentale Konflikt des Borderliners stellt sich aus der Bin­ nenperspektive folgendermaßen dar: Er liebt die Abhängigkeit, aber er hasst sie auch. Entsprechend wirkt er auf andere Personen entweder distanzlos oder abwesend. Auch hier erweist er sich als Anti-Aristoteliker: Da der Borderliner eine gesunde Grenze zwischen dem eigenen Selbst und dem der anderen gar nicht auszumachen vermag – eine Borderline, der er sich langsam zu nähern, von der er sich aber auch wieder behutsam zu entfernen vermochte –, sieht er sich beinahe ständig gezwungen, derartige Grenzen künstlich zu markieren, nur um sie dann sogleich wieder zu überspringen: Entweder zieht er sich ganz in sich selbst zurück, oder er verschmilzt mit der idealisierten Imago seines Gegenübers. Entsprechend können sich beim Borderliner größte Anhänglich­ keit und Leidenschaft fortwährend mit übermäßiger Wut und streitsüchtigem Verhalten abwechseln.55 Im Laufe des Lebens manifestiert sich ein charakteristisches Muster von letztlich zwar instabilen, aber äußerst intensiven oder extremen Beziehungen. Einerseits kann sich ein nahezu verzweifeltes Bemühen bemerkbar machen, ein reales oder bloß imaginiertes Verlassenwerden zu verhindern, andererseits stößt der Borderliner seine engsten Bezugspersonen immer wieder auf ver­ letzende Weise zurück, sobald diese ihm »zu nahe« kommen. Die Fähigkeit zu anhaltenden, authentischen Nahbeziehungen ist nicht nur gestört, sondern schlechthin nicht vorhanden.56 Entsprechend lebt der Borderliner mit seinen unmittelbaren Mitmenschen permanent in einer Art widerstrebenden Fügung: Erhöht sein Gegenüber den Intimitätsdruck, tritt der Borderliner den Rückzug an. Zieht der Andere sich selbst zurück, beginnt der Borderliner zu klammern. Je stärker die Beziehung auseinander treibt, umso inniger seine psychophysi­ sche Verflechtung. Daher kann das Borderline-Syndrom als das pathologische 54 | Mertz (2000). 55 | Vgl. Kernberg (1978). 56 | Mertz (2000).

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Sinnbild des Scheiterns wechselseitiger Anerkennungsbeziehungen gedeutet werden, wie sie heute, im Anschluss an Hegel, in philosophischen Theorien der Intersubjektivität erläutert werden. Der Kampf um Anerkennung verstetigt sich beim Borderliner zu einem kurzschlusshaften Regress aus aktiver Über­ wältigung und passiver Unterwerfung, durch den sein gesamtes Umfeld auf Spannung gehalten wird, solange seine Mitmenschen nicht auf Totalabstand gehen. Aus anamnestischer bzw. lebensgeschichtlicher Perspektive muss ange­ nommen werden, dass der Borderliner in entscheidenden Phasen frühester Kindheit nicht bloß mangelnde Zuwendung – wie die depressiven und nar­ zisstischen Persönlichkeiten auch –, sondern zudem ein Klima subtiler oder gar offener Aggression erfahren hat.57 Das Selbst des Borderliners bleibt im Zuge seiner Individuierung auf »halbem Wege« stecken: In Momenten der Ablösung, in denen das Kind auf das Vertrauen seiner Bezugspersonen ange­ wiesen gewesen wäre, hat es wiederholt Liebesentzug, Kälte oder Aggression erfahren.58 Das Kind macht die radikal widersprüchliche Erfahrung einer »guten« Mutter der Verschmelzung und einer »bösen« Mutter der Abstoß­ ung, und es läuft Gefahr, an diesem Gegensatz zu zerreißen.59 Es weiß nicht mehr, »ob vor oder zurück«, ob es also in der Verschmelzung verbleiben oder gänzlich in Ablösung gehen soll. Als »Lösung« des Konfliktes bietet sich dem Kind allein die Möglichkeit, diesen äußeren Widerspruch zu verinnerlichen und das eigene Ich in gute und böse Anteile aufzuspalten. Fortan zwischen Sehnsüchten der Abhängigkeit und Unabhängigkeit pendelnd, verbleibt, nach Art einer Kompromissbildung, eine fundamentale Ich-Schwäche, die sowohl der Vermeidung von Individuation als auch der Verhinderung von Nähe dient. Der Borderliner nimmt die durchlebten Widersprüche in sich auf, um sie für den Rest seines Lebens zu reproduzieren. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus im Hinblick auf die vier zentralen Integritätsmodi? Selbsttreue ist dem Borderliner schon deshalb nicht möglich, weil von einem einheitlichen Selbstbild, dessen tatkräftige Verwirklichung angestrebt werden könnte, gar keine Rede sein kann. Realisiert sich die eine Hälfte seiner Persönlichkeit, wird die andere im Gegenzug beschädigt. Auch eine wahrhaftige Orientierung an 57 | Nach Mertz (2000) haben therapeutische Befragungen ergeben, dass Mütter von Borderline-Kindern zumeist selbst Borderliner sind, die bereits während der Schwangerschaft größte Schwierigkeiten hatten, ihr Kind emotional anzunehmen. Hier bestätigt sich die idealistische Spekulation, dass das Subjekt niemals Subjekt sein kann, wenn es nicht wahrhaftig als ein solches und von einem solchen anerkannt wird. 58 | Hanzig-Bätzing (1996), bes. S. 137. 59 | Dieser Gedanke geht vor allem zurück auf Margaret Mahler (1979): Studien über die ersten drei Lebensjahre, Frankfurt a.M.: Fischer.

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Rechtschaffenheitsansprüchen lässt der Borderliner vermissen. Da er zu ech­ ten moralischen Bindungen nicht fähig ist, obgleich er weiß, was andere von ihm erwarten, hat er gelernt, scheinheilig so zu agieren, als habe er moralische Orientierungen vorzuweisen. Auch autobionarrative Integriertheit ist nicht ge­ geben, da die Spaltung des Borderliners sein ureigenster Persönlichkeitszug ist, der ihn dauerhaft zur Desintegration zwingt. Seine ganze Persönlichkeit basiert auf der Unmöglichkeit einer diesbezüglichen Versöhnung. Allein das wäre sicherlich schon ausreichend, um eine Stimmung der Ganzheit niemals aufkommen zu lassen. Darüber hinaus mündet die fast unbändige, aggressive Wut des Borderliners nicht selten sogar in Akten autodestruktiven Verhaltens, mit denen er seine psychophysische Intaktheit auf ganz fundamentaler Ebene selbst antastet.60 Auch die Borderline-Persönlichkeit weist, so wie die depressive und die narzisstische, nur zwei der drei prototypischen Integritätsmängel auf. Wäh­ rend aber der depressive Mensch wenig Sinn für Selbsttäuschungen hat und die narzisstische Person kaum unter Willensschwäche leidet, fehlt dem Bor­ derliner der Aspekt der Konfliktscheue. Angesichts der fundamentalen Wider­ sprüchlichkeit seiner gesamten Existenz und des hohen Maßes an Wut und Aggression muss regelrecht festgestellt werden, dass der Borderliner ein ein­ ziger Konflikt ist. Die Konflikthaftigkeit des Lebens ist das Medium, in dem sich der Borderliner wie ein Fisch im Wasser fühlt. Selbsttäuschungen und Willensschwäche hingegen dürften ihm vertraut sein. Zum einen muss die Aufspaltung seiner Persönlichkeit vor der jeweils anderen Hälfte verborgen bleiben. Es ist dem Borderliner nur dann möglich, zwischen Sehnsüchten der Verschmelzung und der völligen Autarkie hin und her zu springen, wenn ihn bei jedem dieser Grenzüberschreitungen eine Art Amnesie überfällt. Zum an­ deren ergibt sich die für die Willensschwäche durchaus typische Lähmung, weder vor noch zurück zu können, als entwicklungsgeschichtliches Resultat einer für den Borderliner lebensnotwendigen Kompromissbildung. Hin- und hergerissen zwischen den Polen Nähe und Distanz leidet die Borderline-Per­ sönlichkeit strukturell an dem ihre Ich-Schwäche begründenden Unwissen, was besser für sie wäre. Wie schon angedeutet, muss diese Ich-Schwäche als Reaktion auf ein frühes Scheitern von Anerkennungsbeziehungen gedeutet werden. Damit fehlen auch in der Entwicklung des Borderliners fundamentale soziale Er­ möglichungsbedingungen personaler Integrität. Allerdings kommt es da­ bei offenbar nicht bloß zu Defiziten an Selbstwertgefühl, Selbstachtung und Selbstwertschätzung, sondern zu deren völliger Abwesenheit. Ein einheitliches Selbst kann gar nicht erst Konturen gewinnen. Die Schwere der Zerrüttung und die besondere Symptomatik der Störung lassen gar vermuten, dass in frü­ 60 | Mertz (2000).

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hester Kindheit nicht nur ein gravierender Mangel an Anerkennung zu ver­ zeichnen gewesen sein muss, sondern auch ein in fundamentaler Hinsicht unzureichender moralischer Schutz: Nur zu häufig legt die therapeutische Anamnese mit Blick auf die Kindheit der Patientinnen und Patienten direkte invasive Übergriffe – z.B. Akte der Misshandlung oder gar des Missbrauchs – frei.61 Entsprechend werden auch beim Borderliner Gefühle der Angst und Selbstfremdheit sowie der Scham und Schuld zur emotionalen Grundausstat­ tung gehören, wenngleich wir davon auszugehen haben, dass Wut, Aggression und oft auch Hass im Vordergrund stehen werden. Fassen wir zusammen, bevor wir uns im Anschluss daran erneut Fragen der Sozialphilosophie zuwenden, damit deutlich wird, inwieweit die drei hier dargestellten psychopathologischen Persönlichkeitsstörungen tatsächlich als für unsere Zeit »typisch« behauptet werden dürfen. Zumindest aus der Sicht psychoanalytischer Forschung und Praxis sind alle drei der hier dargestell­ ten Persönlichkeitsstörungen auf ein Scheitern jenes im Rekurs erläuterten lebensgeschichtlichen Experiments zurückzuführen, ein tragendes Wechsel­ verhältnis von Abhängigkeit und Selbständigkeit zu etablieren. Gleichwohl müssen die drei Störungsbilder Depression, Narzissmus und Borderline als divergierende Reaktionsweisen auf eben dieses Scheitern gedeutet werden. Der depressive Mensch tritt aufgrund der von ihm frühkindlich durchlitte­ nen Mangelsituationen resigniert und voller Wehmut den Rückzug an. Die narzisstische Person flüchtet stattdessen voller Trotz in einen sie schützenden Größenwahn. Der Borderliner schließlich internalisiert die durchlittenen Wi­ dersprüche, um seine Spaltung für den Rest seines Lebens an anderen Men­ schen auszulassen.62 Sollen nun diese drei klinischen Konzepte sozialpathognostisch frucht­ bar gemacht werden, mag sich ein entsprechendes Vorgehen aber schon des­ halb als problematisch erweisen, weil die genannten Ich-Störungen soeben als Ergebnis primär frühkindlicher Notlagen gedeutet wurden. Ein domi­ nanter Einfluss der Gesellschaft bei der Entstehung dieser Störungen hat bisher gar nicht erkennbar werden können. Zwar sind schädliche Einflüsse des gesellschaftlichen Ensembles selbst auf früheste Mutter-Kind-Beziehun­ gen kaum auszuschließen, doch kausale Erklärungen (»Die Spätmoderne macht krank!«) wirken übereilt und nur wenig plausibel, wenn man bedenkt, dass die neurotische oder gar psychotische Familie immer auch ein Ort der

61 | Birger Dulz/Maren Jensen (1997): »Vom Trauma zur Aggression – von der Aggression zur Delinquenz«, in: Persönlichkeitsstörungen, 4/1997. 62 | Eine detaillierte Analyse hätte freilich erst noch zu zeigen, in welcher Phase genau es bei wem zu welcher dieser drei Störungen kommt.

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Privatheit ist.63 Bereits in Kapitel 1 sind wir davon ausgegangen, dass die kri­ tische Zeitdiagnostik zu weit ginge, wollte sie der Gesellschaft allein die Ver­ antwortung für das in ihr vorhandenen Leiden zuschreiben, wo doch, wie nun deutlich geworden ist, primär die Familie der Ort des krankheitsverursachen­ den Geschehens ist. Zugleich würde die Kritik aber zu kurz greifen, wenn sie die Gesellschaft gänzlich aus dieser Verantwortung entließe. Wie, so lautet nun die Frage, kann in methodischer Hinsicht ein sinnvoller Zusammenhang zwischen individuellen Psychopathologien und gesellschaftlichen Fehlent­ wicklungen hergestellt werden, der weder zu weit geht noch zu kurz greift? Dazu ist es notwendig, den mikroskopischen Blick auf das unter psychischen Störungen leidende Individuum mit der makroskopischen Perspektive auf gesellschaftliche Strukturzusammenhänge insoweit zu verschränken, dass dabei wechselseitige Störungen vor Augen treten können. So erst vermag deut­ lich zu werden, dass es zu gesellschaftlichen Missständen kommen kann, die einen krankheitsbedingenden Einfluss besitzen. Zugleich jedoch wird sich der Verdacht erhärten lassen, dass bestimmte Persönlichkeitsstörungen – mehr als andere  – den derzeit herrschenden Lebensbedingungen besonders »ent­ gegenkommen«.

6.4 S ozialpathognostik als K ritik spätmoderner »W ahlverwandtschaf ten « Wenn nun im Schlussabschnitt dieses Buches ein enger Zusammenhang zwischen psychopathologischen Integritätsstörungen und gesellschaftlichen Miss­ständen aufgedeckt werden soll, so wird es dabei ausdrücklich nicht um kausale Ableitungen gehen. Zu Beginn des letzten Abschnitts hieß es, dass zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Persönlichkeitsstörungen do­ minant und typisch seien. Damit ist bereits eine gewisse Eigenlogik sowohl des Psychopathologischen als auch des Gesellschaftlichen behauptet. Zugleich klingt die Annahme einer Art Wechselwirkung an: Ganz bestimmte Zeiten scheinen ganz bestimmte Störungsbilder stärker zu begünstigen als andere, während umgekehrt gelten dürfte, dass spezifische Persönlichkeitsstörungen zu spezifischen Zeiten besser »passen« als zu anderen. Was aber genau soll hier behauptet werden? In Kapitel 1 war die These vertreten worden, dass die Verwendung des Begriffs »Sozialpathognostik« ausschließlich dann ange­ bracht ist, wenn sich die kritische Analyse eine echte Vermittlung zwischen pathogenen gesellschaftlichen Einflüssen und individuellen Krankheitsphä­

63 | Dazu exemplarisch Ronald D. Laing/Aaron Esterson (1982): Wahnsinn und Familie, Köln: Kiepenheuer & Witsch.

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nomenen zutraut. Um eine Gesellschaft insgesamt als krank bezeichnen zu können, so könnte die These einer psychopathologisch inspirierten »Epide­ miologie«64 lauten, muss immer beides gezeigt werden können: dass der ge­ sellschaftliche Strukturzusammenhang ungünstige Auswirkungen auf das Wohlergehen seiner Mitglieder hat, aber auch, dass letztere seelische Präde­ formationen aufweisen können, die solchen schädlichen Einflüssen mal mehr, mal weniger gelegen kommen. Nun ist jedoch die Annahme weit verbreitet, man habe es bei psychopa­ thologischen Persönlichkeitsstörungen, wie eben Depression, Narzissmus und Borderline, nicht bloß mit devianten, sondern mit gänzlich dysfunktionalen Le­ bensformen zu tun, die im gesellschaftlichen Gesamtkörper ausschließlich als schädliche Stör- und Kostenfaktoren wirken  – ansonsten würde man sie vermutlich gar nicht als Krankheiten bezeichnen.65 Zunächst mag daher der Versuch nahe liegen, die Sozialpathognostik konzeptionell so auszurichten, dass sie eben diese Dysfunktionalität psychisch Kranker, d.h. deren gesamt­ gesellschaftlichen Ausfall, zu beklagen hätte. Doch wäre ein solcher Ansatz verschenkt und überdies nur wenig originell. Im Anschluss an die weiter oben vorgenommene Unterscheidung zwischen »Krankheit« und »Persönlichkeits­ störung« muss vielmehr der folgenreiche Umstand Berücksichtigung finden, dass die behauptete Dysfunktionalität in Fällen schwerer Krankheit zwar tat­ sächlich vorliegen mag, nicht aber bereits dann, wenn die Krankheiten Depres­ sion, Narzissmus und Borderline, wie das weitaus häufiger der Fall ist, in der schwächeren Form von Persönlichkeitsstörungen lediglich angelegt sind. In der Diagnostik des Einzelfalls können die Grenzen zwischen eher harmlosen neurotischen Prägungen und hochproblematischen psychotischen Zuständen verschwimmen. Zwischen den Polen von Gesundheit und Wahnsinn, darauf ist eben bereits hingewiesen worden, erstreckt sich ein Kontinuum. Jedes In­ dividuen ist demnach immer schon mehr oder weniger depressiv, tendiert mal stärker, mal weniger stark zum Narzissmus, ist immer schon weiter oder we­ niger weit entfernt von der sogenannten Borderline. Menschen haben für ge­ wöhnlich eine in vielen Hinsichten ähnliche frühkindliche Geschichte hinter sich, die jedoch unterschiedlich schwer auf ihrer Seele lastet. Damit ist der generalisierende Verdacht einer weitverbreiteten »Tendenz« zur Krankheit formuliert. Im Folgenden soll behauptet werden, dass sich diese Tendenz in weniger schweren Fällen nicht etwa als gesellschaftlich zwecklos, sondern als überaus funktional erweist. Die kapitalistische Spätmoderne, so 64 | So nennen Mediziner die Wissenschaft von der Entstehung, Verbreitung und Bekämpfung von Epidemien, zeittypischen Massenerkrankungen und Zivilisationsschäden. Dazu Leon Gordis (2001): Epidemiologie, Marburg: Kilian. 65 | Vgl. Jerome Wakefield (1992): »The Concept of Mental Disorder«, in: American Psychologist, 3/1992.

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die These, geht mit psychischen Persönlichkeitsstörungen eine Art parasitä­ re Symbiose ein. Kein kausaler Ableitungszusammenhang soll hier behauptet werden, sondern die Tatsache einer wechselseitigen Affinität und eines rezi­ proken Nutzens. Spätmoderne Lebenswirklichkeiten und psychopathologische Charakterstörungen haben eine aufschlussreiche Sympathie füreinander, so als läge eine stillschweigende Abmachung vor, die auf wechselseitigen Interes­ sen beruht. Die doppelte Frage, die nun das Ende dieses Buches einläutet, lau­ tet demnach wie folgt: Inwiefern ist die Spätmoderne von Charakterstrukturen abhängig, die als latent pathologisch eingestuft werden müssen? Und inwie­ weit sind Personen, die wenigstens eine der drei genannten Persönlichkeitsstö­ rungen aufweisen, »verrückt« nach der Lebenswirklichkeit der Spätmoderne? Es gibt für die Annahme einer wechselseitigen Anziehungskraft ein schö­ nes Bild. Es war Max Weber, der im Anschluss an den gleichnamigen Roman von Johann Wolfgang von Goethe, von einer »Wahlverwandtschaft« zwischen Protestantismus und kapitalistischer Wirtschaftsethik sprach, um deren wech­ selseitige Affinität anschaulich und für die soziologische Analyse fruchtbar zu machen.66 Weber hatte mit dieser Denkfigur weit weniger im Sinn als die An­ nahme einer kausalen, deterministischen Entwicklungslogik, in deren Rah­ men sich Kapitalismus und Protestantismus gegenseitig hervorgebracht hätten. Zugleich aber war er davon überzeugt, dass es sich um mehr als bloß ein zu­ fälliges Aufeinandertreffen handeln musste. Vielmehr ging Weber von einem Prozess der wechselseitigen und dynamischen Beförderung aus. In direkter Anknüpfung an Weber soll auch hier von einer Wahlverwandtschaft die Rede sein, und zwar zwischen der spätmodernen Lebenswirklichkeit einerseits und den psychopathologischen Störungsbildern Depression, Narzissmus und Bor­ derline andererseits. Ihnen kann ein Verhältnis der gegenseitigen Anziehung, Durchdringung und Begünstigung unterstellt werden. Dadurch tritt die bizar­ re Funktionalität dieser drei Persönlichkeitsstörungen zu Tage.67 Wir beginnen erneut mit dem Fall der Depression. Nach Auffassung des französischen Soziologen Alain Ehrenberg muss die Spätmoderne als eine Art Brutkasten depressiver Persönlichkeitsstörungen aufgefasst werden.68 Perso­ 66 | Max Weber (1904/1963): »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«, in: ders. (1963): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen: Mohr. Zu Goethes Zeiten war der Begriff in der Chemie geläufig. Gemeint waren chemische Prozesse, bei denen kleinste Teilchen spontan schwächere Verbindungen zugunsten stärkerer aufgeben. 67 | Ich habe diese Idee zusammen mit Deniz Sertcan, dem ich diesbezüglich für vieles verpflichtet bin, erstmals in einem gemeinsamen Vortrag mit dem Titel »Self-Seeking« im Mai 1999 auf der Konferenz Philosophy and Social Sciences in Prag vorgestellt. 68 | Alain Ehrenberg (2004): Das erschöpfte Selbst, Frankfurt a.M. u. New York: Campus.

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nen, die zu Depressionen neigen, schleppen, das ist auch hier schon deutlich geworden, frühe Erfahrungen frustrierender Abhängigkeiten mit sich herum. Diese in ihnen nahezu strukturell angelegte Enttäuschung blockiert emanzi­ pative Individuierungsprozesse. Sie lieben die Abhängigkeit, aber hassen sie auch. Angesichts der steten Angst, ein eigenes Selbst ausbilden zu müssen, und der Ohnmacht, es ohnehin nicht zu können, muss sich die aus schützen­ den Zusammenhängen herausgerissene depressive Person der Spätmoderne gänzlich überfordert zeigen von dem für unsere Zeit behaupteten Zuwachs an ethisch-existenziellen Orientierungsmöglichkeiten, die ihr als unerträglicher Individuierungsdruck erscheinen müssen. Freiheit ist eine schwere Bürde, die zu schwer für die depressive Person ist. Sie fühlt sich krank und minderwertig bei dem Gedanken, was ihr in dieser Welt alles möglich wäre, wenn sie doch bloß einmal ihren »Arsch hochkriegen würde«.69 Während der typische Kon­ versionsneurotiker zu Lebzeiten Freuds, also zu Beginn des 20. Jahrhunderts, an einem gesellschaftlich erzwungenen Verzicht erkrankte, leidet der depressi­ ve Mensch vielmehr an der Illusion günstiger Gelegenheiten, angesichts derer ihn jedoch die lähmende »Müdigkeit, man selbst zu sein«, überfällt.70 Genau an diesem Punkt jedoch kommt der geschundene Depressive dem Reproduktionssystem der kapitalistischen Spätmoderne direkt entgegen. Da sich das hehre Versprechen der modernen Freiheit bei genauerem Hinsehen ohnehin als trügerisch erweist, bedarf es zur Reproduktion eines Systems, das de facto alte und neue Unfreiheiten und Ungerechtigkeiten aufweist, sowie zur Überwindung periodisch aufkommender Legitimationskrisen einer Vielzahl von Charakteren, die nicht bloß bescheiden in ihren Ansprüchen sind, son­ dern regelrecht unwillig, sich gegen ihr drohendes oder bereits eingetretenes Schicksal aufzulehnen. Der depressive Mensch wird für gewöhnlich dazu nei­ gen, in einer ressentimentgeladenen privaten Neidhaltung zu verharren und darüber zu verzweifeln, dass andere genau das haben, was ihm selbst verwehrt ist. Durch diesen ohnmächtig bleibenden Protest trägt er massiv zur Siche­ rung des sozialen Friedens, d.h. zur Stillegung sozialer Kämpfe bei. Zugleich aber steigert die eher passiv bleibende Aggressivität dieser Zu-kurz-Gekomme­ nen, wie wir seit Friedrich Nietzsche wissen, das schlechte Gewissens auf Sei­ ten jener, die sich für das Leid ihrer depressiven Mitmenschen verantwortlich fühlen. Damit gibt ein hohes gesellschaftliches Aufkommen an Depressiven stets auch Anlass zu Maßnahmen ausgleichender Gerechtigkeit, d.h. zu öko­ nomischer und sozialer Umverteilung.71

69 | Mündliche Mitteilung eines diagnostizierten Depressiven. 70 | Ehrenberg (2004). 71 | Dazu Arnd Pollmann (2001c): »Neid und Nivellierung«, in: Berliner Debatte Initial, 3/2001.

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Da latent depressive Menschen allenfalls dann eine kurzzeitige Entlas­ tung von ihren Sorgen erfahren, wenn sie die Wünsche anderer zu befriedi­ gen vermögen, sind sie darüber hinaus in besonderem Maße prädisponiert für bestimmte Sparten der Arbeitswelt. Sie sind als fügsame und verlässliche Mitarbeiter bekannt und zudem häufig in Pflegeberufen sowie in der Sozialar­ beit anzutreffen. Depressive neigen dazu, keinen klaren Trennstrich zwischen Arbeit und Freizeit zu ziehen, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil ihnen die Arbeit weniger schwer fällt als ein Zuviel an Freizeit. Hier wären sie doch bloß mit ihrem bodenlosen Mangel an Eigeninitiative konfrontiert. Folglich sind depressive Menschen gern dazu bereit, all die Lasten und Aufgaben zu über­ nehmen und zu erfüllen, die man ihnen zuweist. Eine Ablehnung würde sie in den Augen der anderen vermutlich vollends entwerten. Die Nicht-Erfüllung dieser Aufgaben steigerte ihr ohnehin schon übertrieben schlechtes Gewissen. Dadurch sind latent Depressive zu einer nahezu rigiden Selbst- und Arbeits­ disziplin angehalten. Man nennt dies auch das Phänomen der »Workaholics«. Das spätmoderne Programm der Selbstverwirklichung heißt unter depressi­ ven Vorzeichen Selbstaufopferung.72 Aufgrund eben dieser von außen altruis­ tisch anmutenden Charakterzüge werden depressive Menschen von anderen häufig geschätzt und gebraucht, ebenso oft aber auch belächelt. Die depressive Sorge um das Wohl anderer, so ist gezeigt worden, ist als das unmittelbare Re­ sultat jener nicht zu kompensierenden Sehnsucht, umsorgt zu werden, aufzu­ fassen. Die spätmoderne Lebenswelt, die mit Enttäuschungen, aber auch mit unzähligen Möglichkeiten der Selbstaufopferung aufwartet, bietet demnach ausreichend Gelegenheit, um in nagenden Gefühlen der eigenen Minderwer­ tigkeit zu verharren. Die wachsende spätmoderne Isolation der aus schützen­ den Lebenszusammenhängen freigesetzten Individuen bildet den Nährboden für einen psychischen Konflikt, der den depressiven Menschen stetig zwischen seiner unbändigen Sehnsucht nach Geborgenheit und dem Bedürfnis, in den Interessenlagen anderer aufzugehen, pendeln lässt. Demnach müssen De­ pressive in einem kapitalistischen Reproduktionssystem, das nicht zuletzt auf Ausbeutung und Bedürfnisfrustration beruht, annähernd »optimale«, d.h. in diesem Fall krankheitserhaltende Lebensbedingungen vorfinden. Kurzum: Die kapitalistische Spätmoderne tut dem Depressiven gut, weil sie ihn braucht und umgekehrt. Ähnliches gilt für die Wahlverwandtschaft zwischen Spätmoderne und Narzissmus. Den beherzten Studien von Christopher Lasch73 ist es zu ver­ danken, dass die psychoanalytische Narzissmus-Forschung Einzug in die sozial­philosophischen Debatten unserer Tage halten konnte. Laut Lasch ist mit der Freisetzung moderner Individuen aus Orientierung stiftenden, aber 72 | Vgl. Riemann (1961/1995); König (1999). 73 | Siehe dazu und für das Folgende Lasch (1984) u. ders. (1995).

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auch Grenzen setzenden Lebenszusammenhängen – und zwar insbesondere im Zuge des Zerfalls traditioneller Familienstrukturen und der Schwächung väterlicher Autorität – ein neuer, permissiver Sozialisationstypus entstanden, der das frühkindliche Scheitern emanzipativer Abgrenzungsprozesse in das gesellschaftliche Leben hinein verlängert. Damit soll ein doppeltes Versagen angezeigt sein: das Unvermögen der Familie, Individuen mit einem gesunden Über-Ich hervorzubringen, aber auch das Scheitern der gesamten Gesellschaft, diesen Verlust an väterlichen Grenzziehungen durch externe Kontrollmecha­ nismen zu kompensieren. Damit, so Lasch, ist dem narzisstischen Persönlich­ keitstypus, der keine andere Autorität anerkennt als die gottähnliche eigene, die Bahn gebrochen. Was man den »real existierenden Neoliberalismus« nen­ nen könnte – ein gesellschaftliches Reproduktionssystem, das durch Besitzin­ dividualismus, Karrierismus, Bindungslosigkeit und Massenkonsum gekenn­ zeichnet ist – lässt die Welt als eine Art Selbstbedienungsladen erscheinen, in dem stets der Stärkere als Erster an der Kasse ist. In einem allgemeinen Klima der »splendid isolation« wird der frühkindliche Konflikt der narzisstischen Person, hin- und hergerissen zu sein zwischen ihrer Sucht nach ego-stärken­ der Anerkennungszufuhr und dem ebenso starken Bedürfnis, von anderen Menschen völlig unabhängig zu sein, zur conditio humana. In kurzlebigen Sozialbeziehungen und oberflächlichen Vergnügungen, in konsumistischem Zwangsverhalten und selbstinszenierten Authentizitätskulten kann der latent narzisstische Mensch sein grandioses Selbst austoben, um nicht in die Ab­ gründe seines sinnentleerten Rest-Ichs schauen zu müssen. Da der ethisch-existenzielle Hohlraum im Innern des Narzissten auch durch noch so viel Anerkennung und Konsum niemals gänzlich aufzufüllen sein wird, da sein Ego-Tank frühkindlich Leck geschlagen hat, muss sich der latent narzisstische Mensch in einen endlosen Regress von Ego-Zufuhr und Langeweile verstricken. Damit ist genau jenes Verhaltensmuster benannt, das der kapitalistischen Spätmoderne überaus gelegen kommt. Zum einen ist die Verwirklichung des kapitalistischen Prinzips grenzenloser Akkumulation auf latent narzisstische Konsumenten angewiesen, deren Bedürfnisniveau »nach oben offen« ist, sodass sie weder anhaltend zu befriedigen noch von der stän­ digen Suche nach Abwechslung und Zerstreuung abzubringen sein werden. Zum anderen muss das spätkapitalistische Reproduktionssystem auf flexible und mobile Produzenten bauen können, denen es eher unwichtig ist, was für eine Arbeit sie konkret leisten, solange diese zu einer Anhäufung von Geld und vor allem Status beiträgt.74 Da fügt es sich gut, dass auch narzisstische Persön­ lichkeiten, ähnlich wie die depressiven, durch und durch neidvolle Charaktere sind, wenngleich sie einen gänzlich anderen Neidtypus verkörpern. Während 74 | Siehe dazu auch die Darstellung des »Netzwerkopportunisten« in: Luc Boltanski/ Ève Chiapello (2003): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK.

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der Depressive als passiver »Ressentiment-Typ« bezeichnet werden kann, ist der Narzisst vom aktiven Typus des »Rivalen«.75 Der unbändige Wunsch, mit seinen Konkurrenten in Sachen Geld und Status gleichzuziehen, ja, diese so­ gar noch zu überflügeln, trägt zu jenem Aufkommen an motivationalen Res­ sourcen bei, die das kapitalistische Wirtschaftssystem unaufhörlich in Gang halten. Das Zusammenwirken von Massenkonsum und reproduktiver Rivalität lässt jene Nährlösung entstehen, in der die narzisstische Persönlichkeit gedei­ hen kann. In ihrem beständigen Streben, sich von sich selbst zu distanzieren und stattdessen ein falsches Größen-Selbst zu inszenieren, genießt sie das un­ begrenzte Warenangebot der kapitalistischen Konsumwelt als vielversprechen­ de Optionsvielfalt und die Rivalität der Arbeitswelt als letztlich schützende Bindungslosigkeit. Die Sozialwissenschaften verwechseln dies nur zu oft mit postmodernem Hedonismus einerseits, mit »gesundem« Konkurrenzdenken andererseits. Stattdessen ist ein narzisstisches Zwangsverhalten zu diagnos­ tizieren, das psychisch schwer gestörten Menschen die Möglichkeit lässt, bei Vermeidung eines Blicks in die eigene innere Leere sowie auf Kosten ihrer Mitmenschen, ein letztlich größenwahnsinniges Selbstbild aufrechtzuerhal­ ten. Der allein tiefenpsychologisch zu verstehende Umstand, dass sich narzis­ stische Selbstbefriedigung keinen Aufschub gönnen darf und dazu stets alle Optionen offen halten muss, fügt sich nahtlos in einen beschleunigten und hy­ perflexiblen »Netzwerkkapitalismus« ein, in dem Bindungen, Arbeitsverhält­ nisse, Konsumaktivitäten etc. von immer kürzerer Dauer sind.76 Auch im Fall der narzisstischen Persönlichkeitsstörung gilt also: Die kapitalistische Spät­ moderne ist dem Narzissten nützlich, weil sie ihn braucht und umgekehrt. Kommen wir schließlich zur dritten Wahlverwandtschaft und fragen wir nach der parasitär-symbiotischen Wechselbeziehung, die die Spätmoderne mit dem Borderline-Syndrom eingegangen ist. Der Psychotherapeut J. Erik Mertz hat in einer schonungslosen und beinahe gespenstisch anmutenden Analyse eigener Praxiserfahrungen den Versuch unternommen, die Borderline-Stö­ rung als das in zwischenmenschlicher Hinsicht verhängnisvollste Symptom unserer Zeit zu deuten.77 Die beziehungskulturelle Substanz spätmoderner Gesellschaften sei weitgehend aufgebraucht, so Mertz. Zurück bleibe eine in ihren Ausmaßen bislang noch schwer abzuschätzende Verwahrlosung des Seelenlebens. Der Verlust »authentischer« Bindungsfähigkeit, der spätmoder­ ne Hang zum Single-Dasein sowie die technologisch unterstützte Ausbreitung prothetischer Beziehungssurrogate kämen dem frühkindlich ruinierten Bor­ derliner unmittelbar entgegen. Dessen psychischer Grundkonflikt, zugleich 75 | Zu dieser an Max Scheler angelehnten Unterscheidung siehe Pollmann (2001c). 76 | Boltanski/Chiapello (2003). 77 | Dazu und für das Folgende Mertz (2000).

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abhängig und unabhängig sein zu wollen, lasse sich in Kurzzeitjobs, Wochen­ endbeziehungen, hastigen Liaisons, beim Blind-Date, am Telefon oder auch über das Internet ideal ausleben, ohne je thematisch oder gar aufgelöst werden zu müssen. Je anonymer die herrschenden Lebensverhältnisse, desto penet­ ranter jedoch der simulierte Authentizitäts- und Intimitätskult. Was die Post­ moderne als Siegeszug der patchwork-identity feiert, ist nur der Durchmarsch einer schizophrenieförmigen Grundverfassung spätmodernen Seelenlebens, in dessen Rahmen sich das Selbst solange kunstvoll als individuell und zu­ gleich sozial »fingiert«, bis es szenisch in ein gutes Licht rückt. Der Border­ liner verkommt zum totalsimulativen Selbst- und Beziehungsdarsteller, der die eigene Zerrissenheit als bunten Flickenteppich arrangiert, um dann von einem Leben als Kunstwerk zu schwärmen. Authentizität verrottet zur beliebi­ gen Fragmentmontage, Intimität verkommt zum Possenspiel. Demnach sitzt die Reproduktion der spätmodernen Lebenswelt parasitär auf einer tendenziell autistischen Persönlichkeits- und Beziehungskultur auf, in der Identität, Sozialität, Moralität und Kommunikation vielerorts bloß simu­ liert werden. Spätmoderne Gesellschaften, so Mertz, sind zugleich Gehäuse und Vehikel »einer stetig wachsenden Subpopulation existenzieller Außensei­ ter, die krankheitsbedingt keinen Beitrag zur Substanz unserer Beziehungs­ kultur leisten können«.78 Die damit angedeutete Nutzlosigkeit des Borderliners betrifft jedoch allein das Feld authentischer Nahbeziehungen. Auf dem das spätmoderne Leben beherrschenden Arbeitsmarkt stellt sich die Situation voll­ kommen anders dar. Da die fragile Persönlichkeit des Borderliners die Konsis­ tenz von Wackelpudding aufweist und er gelernt hat, seine Inkohärenzen vor sich und anderen zu verbergen, vermögen Borderliner sich nahezu perfekt in eine kapitalistische Arbeitswelt einzupassen, in der »Flexibilität« und »Mobili­ tät« als wichtigste soft skills gelten. Da der Borderliner derart inauthentisch ist, dass von einem integrierten, echten Selbst gar keine Rede sein kann, lässt er sich beliebig und ohne jeden Persönlichkeitsverlust in sämtliche nur erdenk­ liche Arbeitsstrukturen integrieren. Corporate identity zu mimen, fällt ihm leicht. Der Borderliner braucht sich nicht zu verbiegen, weil er sich überhaupt nicht verbiegen kann.79 Insofern Borderliner überaus grundsätzliche Schwierigkeiten haben, sich selbst und ihrer Existenz Form zu geben, kommt ihnen der spätmoderne Kul­ turbetrieb mit vielfältigen Gestaltungsvorschlägen entgegen. Schmerzhafter 78 | Mertz (2000), S. 305. 79 | Man nehme das Beispiel einer durch Aktienbesitz am Stammkapital des eigenen Unternehmens beteiligten Mitarbeiters, dessen Wunsch nach einer Wertsteigerung seines Aktienpakets mit seinen Arbeitnehmerinteressen kollidieren kann. Unter Umständen hätte er Verständnis dafür aufzubringen, dass sein eigener Arbeitsplatz rationalisiert wird.

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Körperschmuck, exzessive Schönheitschirurgie, sadomasochistische Sexu­ alpraktiken, Extremsport  – dies sind nur besonders drastische Beispiele für einen spätmodernen Zuwachs an Körpertechniken, mit denen eine Grauzone zwischen Selbstbeherrschung und Selbstverstümmelung betreten ist. Dem Borderliner geht es darum, jene psychophysischen Grenzziehungen zwischen Ich und Außenwelt buchstäblich spürbar werden zu lassen, die stets aufs Neue zu verblassen drohen.80 Auch psychopathologische Modekrankheiten wie Bu­ limie und Anorexie, aber auch das autodestruktive »Ritzen«, bei dem sich Kinder und Jugendliche Schnittwunden am eigenen Leib zufügen, lassen sich entsprechend als »Identitätsarbeit am eigenen Fremdkörper« deuten.81 Der auffällige Zuwachs82 solcher disziplinarischer Selbsttechniken mag zwar aus Sicht der Akteure auf neu gewonnene Freiheiten zurückgeführt werden, vieles aber spricht dafür, darin die destruktive Schlagseite einer Dialektik scheitern­ der Grenzziehungsversuche am Werke zu sehen, die der Borderliner am eige­ nen Körper exekutiert. Im Zuge einer für Druckausgleich sorgenden, nahezu wahnhaft kontrollierten Selbstaneignung wird die Rückeroberung der eigenen Integritätsgrenzen, d.h. die Wiedergewinnung eines Abstands zur Außenwelt vorangetrieben, bis sich der Borderliner im Abstandhalten erschöpft. Da die Ich-Schwäche des Sozialität bloß vortäuschenden Borderline-Au­ tisten in den »explodierenden anonymen und simulativen Mechanismen der Spätmoderne erstmals eine annähernd optimale Lebensumwelt vorfindet«, darf vermutet werden, dass die Zahl der Borderliner in den nächsten Jahren stetig anwachsen wird.83 Eine derart gewagte sozialpathognostische Diagnose, die in vergleichbarer Form auch für die Persönlichkeitsstörungen Depressi­ on und Narzissmus erstellt werden kann, bekäme allerdings erst dann sozial­ wissenschaftliche Rückendeckung, wenn sie durch eine umfassende Gesell­ schaftstheorie der Spätmoderne ergänzt werden würde. Daran hätte deutlich zu werden, warum die drei genannten Persönlichkeitsstörungen erst jetzt, d.h. 80 | Dazu auch Anzieu (1991), bes. Kap. 9. 81 | Mertz (2000), S. 229ff. 82 | Dass jüngst das Mitgliedermagazin einer großen deutschen Krankenkasse mit dem Thema »Harmlos oder gefährlich? Körperschmuck« aufmachte und die unfreiwillig komisch wirkende Empfehlung aussprach: »Schminke auf Wasser-Basis wird für die Körperbemalung besonders gern benutzt«, mag als Indiz für das sich zunehmend auch ökonomisch auswirkende Problem herhalten. 83 | Mertz (2000), S. 301. Damit ist ein beunruhigendes Phänomen mit erheblicher epidemiologischer Relevanz angezeigt: Untersuchungen über die »Weitergabe« von Persönlichkeitsstörungen haben deutlich werden lassen, dass mit psychischen Krankheiten ein nicht geringes Ansteckungsrisiko verbunden ist. Wer einmal eingehender mit Borderlinern, aber auch mit Depressiven oder Narzissten zu tun gehabt hat, wird gespürt haben, dass der enge Kontakt mit ihnen die eigene Seele kaum unberührt lässt.

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in der Spätmoderne, breitenwirksam zum Aus- und Durchbruch kommen, wo doch die für ursächlich erklärte, allgemeine Verwahrlosung der Beziehungs­ kultur weiter oben als Begleiterscheinung moderner Individualisierungsschübe gedeutet worden ist. Wir werden uns auch hier mit einer eher vagen Spekula­ tion begnügen müssen. Sie lautet: Der von der Sozialphilosophie als pathogen diagnostizierte Einfluss der Moderne wird vermutlich erst jetzt weithin sicht­ bar, weil das Erbe traditioneller Lebenswirklichkeiten  – stratifizierte Gesell­ schaftsordnungen, rigide Sittlichkeit, patriarchale Familienstrukturen, unter­ drückte Sexualität u.ä. – bislang noch immer nicht vollkommen aufgebraucht war. »Ältere« psychische Krankheiten wie Hysterien und Konversionsneuro­ sen, die mit der konventionalistischen Struktur vormoderner Gesellschaften verflochten waren, mögen daher ein gewisses Beharrungsvermögen gezeigt und damit den Depressiven, Narzissten und Borderlinern der Spätmoderne eine Art Latenzzeit verschafft haben. Der behauptete Wandel hin zu pathologi­ schen Ich-Störungen hat sich erst langsam vollzogen. Solange epidemiologische Spekulationen dieser Art nicht durch eine plau­ sible Theorie der Spätmoderne gestützt werden können, wird eine sozialphi­ losophisch inspirierte Psychopathognostik der Integrität auf das vorhandene modernitätskritische Forschungsmaterial der Sozialwissenschaften, auf Ent­ wicklungsfortschritte im Rahmen der psychopathologischen Theoriebildung, auf Forschungsergebnisse der medizinischen Epidemiologie, vor allem aber auf konkurrierende sozialphilosophische Kritikansätze angewiesen bleiben. Das vorliegende Schlusskapitel hat auf dem Wege einer äußerst thesenhaf­ ten Verknüpfung zeitdiagnostischer Erwägungen mit psychopathologischen Krankheitsbildern Umrisse einer am Begriff der Integrität orientierten Sozialpathognostik spätmoderner Wahlverwandtschaften erkennbar werden lassen, in de­ ren Rahmen die klinische Metaphorik der zeitgenössischen Sozialphilosophie beim Wort genommen werden sollte. Blicken wir zurück: Im Vergleich zu den in Kapitel  1 »kulturalistisch« genannten Begründungsansätzen hat die hier umrissene Sozialpathognostik den erheblichen Vorteil, mit dem Integritätsbe­ griff bereits einen relativ klaren Kritikmaßstab in den Händen zu halten. Al­ lerdings wäre sie von der sogenannten immanenten Kritik empirisch erst noch darüber zu belehren, ob sie zurecht davon ausgehen kann, dass die von ihr pro­ pagierte Auffassung vom menschlichen Wohlergehen tatsächlich breitenwirk­ sam in das spätmoderne Alltagsleben eingelassen ist. Aus ideologiekritischer Sicht wäre zu prüfen, ob am Ende nicht auch die Integritätstheorie selbst unter Ideologieverdacht zu fallen droht, wenn sie behaupten will, ihre philosophi­ sche Idee des Wohlergehens auf ein postmetaphysisches Fundament gestellt zu haben. Die Kulturhermeneutik wird unter Umständen eine problematische Vergangenheit des Integritätsbegriffes aufdecken, die im Rahmen der hier präsentierten systematischen Begriffsanalyse übersehen worden ist. Von der hyperbolischen Sozialkritik schließlich wäre zu lernen, eine Sehnsucht nach

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Ganzheit und Unversehrtheit spürbar und relevant werden zu lassen, ohne sie sogleich reifizierend beim Namen zu nennen. Gegenüber jenen vier Kritikansätzen, die in Kapitel 1 »ethisch-moralisch« genannt wurden, hat eine Sozialpathognostik der Integrität den begründungs­ theoretischen Vorzug, dass die von ihr propagierte und empirisch anschluss­ fähig gehaltene Richtschnur personaler Integrität das richtige normative Maß zu halten scheint. Indem hier ein zentraler Modus des menschlichen Wohlergehens ausgezeichnet wird, ist eine Sozialpathognostik der Integrität in normativer Hinsicht anspruchsvoller ausgestattet und begrifflich differen­ zierter gefasst als jene äußerst formal gehaltenen sozialphilosophischen Be­ gründungsversuche, die aus anti-paternalistischer Vorsicht heraus sämtliche Inhalte gelingenden Lebens von vornherein ausklammern wollen. Sie ist je­ doch zugleich normativ bescheidener konzipiert als solche Theorieansätze, deren substanzielle Vorstellungen vom guten Leben ein sozialphilosophisches Anspruchsniveau etablieren wollen, das sich schlicht als überzogen erweisen muss. Gleichwohl kann die Integritätsanalyse auch von all diesen Ansätzen etwas lernen: In direkter Auseinandersetzung mit der gerechtigkeitsorientierten Sozial­philosophie wäre zu klären, wie genau das Verhältnis von Gerechtigkeit und Integrität beschaffen ist. In Konfrontation mit der minimalistischen Sozi­ alkritik müsste geprüft werden, ob die Annahme, mit dem Begriff der Men­ schenwürde sei das momentan dringlichere Interesse angezeigt, am Ende nicht doch berechtigt ist. In direktem Vergleich zu intersubjektivistischen Be­ gründungsansätzen wäre zu untersuchen, wie genau sich der Integritätsbe­ griff zur Idee unverzerrter Verständigungs- bzw. Anerkennungsbeziehungen verhält. In Auseinandersetzung mit neoeudaimonistischen Begründungsver­ suchen wäre schließlich die Frage zu beantworten, ob die Sozialpathognostik zu Recht von einem substanziellen Begriff guten Lebens absieht, um sich auf einen normativ zwar weniger anspruchsvollen, aber empirisch leichter auszu­ weisenden Modus des menschlichen Wohlergehens zu konzentrieren. Fassen wir das Schlusskapitel dieses Buches zusammen: Wenn behaup­ tet worden ist, dass ein spätmoderner Mangel an Integrität, d.h. an intakten ethisch-existenziellen Selbstverhältnissen zu verzeichnen sei, dann war damit die These verbunden, dass dieser Mangel als Resultat einer grassierenden Bin­ dungsunfähigkeit gedeutet werden muss, die sich aus psychopathologischer Sicht an einem erhöhten Aufkommen der Störungsbilder Depression, Narziss­ mus und Borderline ablesen lässt. In Erinnerung an den Rekurs wäre festzustel­ len, dass damit letztlich ein Phantasma früher Zweisamkeit zum ethisch-mo­ ralischen Leitbild der Gesellschaftskritik avanciert. Fragt die Sozialphilosophie nach den sozialen Ermöglichungsbedingungen von Integrität, so erteilt sie all solchen metakritischen Begründungsversuchen eine Absage, die das mensch­ liche Wohlergehen primär in Begriffen von Freiheit, Autonomie oder Selbstver­ wirklichung fassen wollen. Gleichwohl zielen die programmatischen Schlüsse,

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die hier am Ende angedeutet wurden, ausdrücklich nicht auf die Frage, ob das gesellschaftliche Ensemble direkt kausal für die Zerstörung enger Sozialbe­ ziehungen verantwortlich ist. Die Idee der »Wahlverwandtschaften« konsta­ tiert lediglich ein frappierendes parasitär-symbiotisches Wechselverhältnis: Einerseits ist ein wachsendes Aufkommen an psychopathologischer Latenz zu diagnostizieren, das von den herrschenden gesellschaftlichen Lebensverhält­ nissen zwar beeinflusst wird, ohne aber direkt aus ihnen abgeleitet werden zu können. Anderseits ist ein ausgeprägtes Interesse der Spätmoderne an einer Mobilmachung eben dieser psychopathologischen Latenz zu vermerken, was den drei hier diskutierten Persönlichkeitsstörungen aber durchaus gelegen kommt. Demnach will die hier umrissene Psychopathognostik der Integrität eine wechselseitige Durchdringung von Interessenslagen analysieren: Die spätmoderne Verwahrlosung ethischer Selbstverhältnisse passt zur spätkapita­ listischen Lebenssituation und umgekehrt. Die Spätmoderne zehrt von latent psychopathologischen Integritätsstörungen, die ihrerseits in den sozial ver­ waisten Verhältnissen unsere Zeit gedeihliche Lebensbedingungen vorfinden. Der Integritätsbegriff, so habe ich in diesem Buch zu zeigen versucht, ist der Schlüssel, der uns zu derartigen sozialphilosophischen Einsichten Zugang verschafft. Eine psychopathognostische Sozialkritik personaler Integrität, die Anschluss nicht nur an die sozialphilosophischen Debatten der Gegenwart, sondern auch an klinisch-psychologische Theorien zeittypischer Persönlich­ keitsstörungen sucht, ergibt somit einen doppelten Sinn: Sie ist zum einen als das philosophische Unterfangen zu kennzeichnen, die Bedingungen der Möglichkeit von Integrität, demnach ihr Wesen und ihre Grenzen, auszuloten. Sie ist zum anderen als der Versuch zu verstehen, intelligent disobedience zu üben, d.h. aus Sicht der Integrität all jene gesellschaftlichen Missstände und Fehlentwicklungen zu diagnostizieren, die es den Betroffenen schwer oder gar unmöglich machen, ein Leben in Integrität zu führen. Ersteres ist in diesem Buch versucht worden. Letzteres, die Arbeit der Blindenhunde, steht noch aus. Solange die hier umrissene Integritätskonzeption ihrer sozialpathognosti­ schen Anwendung im Rahmen einer Epidemiologie spätmoderner Persönlich­ keitsstörungen harrt, muss sie eine, wenn auch stichhaltige, Vision bleiben.

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Sachregister Abnabelung  198, 210, 214, 216, 219, 221, 224, 355 Achtung  58, 60, 240, 256ff., 301f., 299, 302f., 329 Anerkennung  63f., 71, 98, 102, 197 (Fn. 43), 220, 222-229, 234, 239242, 253-265, 294ff., 301-305, 327, 329, 336, 342, 354f., 357ff., 359, 363ff., 371 Angst  119, 141, 149, 175-180, 190, 194f., 198, 205-208, 211f., 355ff., 360, 365, 369 Aporie, existenzielle  20, 167-173, 293 Autarkie  155, 223-228, 236, 290, 359, 364 Authentizität  43, 45, 49f., 70, 235, 311f., 316-327, 331ff., 359, 361f., 371ff. Autobionarration  109, 111-115, 119, 124, 130, 138, 141-147, 150-153, 164, 167, 169, 174, 177f., 187f., 192, 206-209, 234, 236, 240, 273-276, 332, 343, 364 Autonomie  20, 44ff., 70, 144f., 155, 184ff., 223, 233, 235-237, 300, 307318, 323, 330ff., 341, 343 Bedürfnisse (Def.)  84, 134 Beherztheit  90f., 102, 131, 157f., 161, 164, 171f., 264, 330f., 336 Bejahung des Lebens  119, 128f., 165173, 246, 284, 293, 356

Bestechung/bestechlich  14, 83, 9295, 107, 122-126, 139, 233, 266ff., 283, 286 Borderline  360-366, 372-375, 376 Borniertheit  87, 93, 139 Depersonalisation  83, 88f., 95, 112, 118, 150, 179, 269, 343, 352 Depression  87f., 145, 178, 196, 354358, 364-371, 375 Desintegration – sozial  10-12, 342f. – individuell  83, 113f., 124, 128, 143, 145, 147, 167f., 176, 179, 192, 206, 211, 234, 237, 252, 261, 263, 273, 277f., 284, 289, 325 (Fn. 71), 352f., 361, 364 Dilemma  103, 136, 273 Dogmatismus  45, 51, 70, 87, 139ff. Ehre  297-303, 227ff., 333 Entfremdung  38, 43ff., 67, 70, 77, 88, 118, 178f., 228, 278, 280, 345f., 352 Entzweiung  83, 119, 122, 124, 126, 174 Erpressung  266-268, 273 (Fn. 62), 283 Ethik (Def.)  77ff. ethisch-moralische Kritik  53-69, 71, 376f.

400

Integrität

falsche Verdächtigung  266, 270f., 283 falsche Verurteilung  266, 271f., 284 Fanatismus  87, 96, 139 Folter  58, 121, 266, 276, 281-286, 294 Freiheit  85f., 118, 130ff., 140, 155, 158f., 176ff., 255, 307-318, 330f., 333, 341, 368, 376 Fürsorge  79, 190ff., 198, 201, 204, 206, 210f., 213, 222, 240, 253f., 255-262, 329 Ganzheit  12-15, 18, 72, 81, 83, 116122, 124, 127f., 151, 172-180, 183, 186-189, 198, 206, 210, 223, 230237, 241, 266, 278-284, 288-296, 335, 343, 356, 359, 364, 376 Geburt  189-225, 231, 237 gerechtigkeitsorientierte Kritik  53-57 Gesundheit/Gesundheitsbegriff 30, 32-35, 66f., 69-72, 74 (Fn. 131), 349-352, 367 Grundvorhaben (Def.)  84-86, 129f., 135f. Hinterhältigkeit  266, 275-278, 283 hyperbolische Kritik  50-53, 70, 375f. Ideale (Def.)  134 (Fn. 14) Ideologiekritik  42-46, 51f., 70, 147, 276, 375 immanente Kritik  38-42, 45f., 70, 375 Indoktrination  266, 276ff. Inkohärenz  83, 113f., 145, 332, 373 Intaktheit  12f., 19f., 72ff., 81, 115-122, 124, 126, 128, 151, 173f., 176f., 179, 183, 186, 188f., 208, 222, 224, 228f., 232, 235ff., 244f., 265, 291f., 364, 376 Integriertheit  15, 82f., 107-115, 118, 121, 124, 126, 128, 141f., 146, 153,

168, 173, 179, 186, 234, 252, 266, 273, 277, 283f., 288, 291f., 296, 332f., 343, 353, 356, 359, 361, 364, 373 Intersubjektivität (Def.)  209f. intersubjektivistische Kritik  60-65, 71, 376 Intimität  20, 190, 204, 208-, 210215, 222f., 233, 256, 261f. (Fn. 46), 280f., 304, 329, 342, 349, 355, 362, 373 invasive Übergriffe (Def.)  265 Kohärenz  15, 108-115, 138, 143, 150, 152, 284, 292, 332, 359 Kompromiss 138-141 Konfliktscheue  115, 138-141, 165, 167ff., 172, 292, 295f., 356, 360, 364 Konformität  48, 79f., 88, 94, 108, 179, 251, 296, 356 Konsequenz  91, 102, 131f., 139, 163, 264, 331, 336, 356, 360 Körperverletzung  266, 278f., 282f., 284 korrupte Person  92f., 123ff. Krankheit/Krankheitsbegriff 26, 30-37, 69, 186, 276 (Fn. 72), 345, 347-354, 366f., 370 kulturalistische Kritik  38-53, 70, 375 kulturhermeneutische Kritik  4650, 52, 70, 375 Liebe  64f., 68, 79, 211, 218-225, 228, 253, 256-262, 294, 324, 329, 355ff., 358, 362f. Lüge  93 (Fn. 43), 94, 103f., 147, 246, 266, 274-278, 283f. minimalistische Kritik  58ff., 68, 71, 244 (Fn. 8), 376

Sachregister

Missachtung  239, 256, 304, 345 Missbrauch  256, 266, 271 (Fn. 56), 280-284, 365 Moral (Def.)  77-80, 95-97, 242-253 moralische Integrität (s. Rechtschaf­ fenheit) Narzissmus  49, 190, 195, 210, 216, 221, 319, 322, 357-360, 363ff., 361f., 370-372, 374ff. neoeudaimonistische Kritik  65-69, 71, 75, 376f. Nötigung  266ff., 273 (Fn. 62), 281, 283 Paradiesmythos  195f., 199-205, 218ff. Pathologiebegriff (Def.)  30-37, 347f. Phantasma  20, 189, 199, 205-208, 216f., 221f., 228, 230-236, 293, 342, 358, 376 Plazenta  195f., 213-216, 220, 222 Präferenzen (Def.)  84, 131f., 134 präferentiell  79, 96-102, 105, 249254 radikaler Wandel  110, 143, 154 Recht/Rechte  17, 58, 64f., 92, 98f., 115, 121, 144, 243-249, 253-261, 305f., 328, 336, 343 Rechtschaffenheit  15, 83, 98-107, 110ff., 118, 121, 139, 179, 232f., 242, 244, 252, 261, 266, 269, 273, 283f., 288, 291f., 296, 343ff., 356, 359, 364 Respekt  101f., 240, 253, 255-258, 302, 306, 324, 357 Scham  119, 280, 284-290, 324ff., 354, 357, 360, 365 Scheinheiligkeit  83, 103f., 112, 286, 362, 364

schmutzige Hände  83, 103ff., 112, 273 Schuld  103f., 280, 284-290, 326, 347, 354f., 357, 358, 360, 365 Selbstachtung  58, 64, 257f., 302306, 327ff., 357, 359, 364 Selbstbestimmung  20, 66, 70f., 73, 77, 117f., 132, 154f., 158, 166, 177, 223, 226, 229, 231, 235, 237, 239, 258, 269, 281, 299f., 308-317, 330, 341f., 356 Selbstfremdheit  119, 178-180, 285, 288, 357, 360, 365 Selbsttäuschung  147-151, 162-165, 169f., 172f., 179, 250, 273f., 293, 295f., 324-327, 332, 356, 360, 364 Selbsttreue  15, 18, 81, 83, 87-97, 110ff., 118, 121, 127, 233, 252, 263, 266ff., 283, 288, 291f., 296, 319f., 343f., 356, 359, 263 Selbstverpflichtungen (Def.)  84-95, 130-136 Selbstvertrauen  64, 211f., 256f., 258ff., 279 Selbstverwirklichung  72, 117, 130, 318ff., 322, 327, 370, 376 Selbstwertgefühl  64, 257f., 260, 302f., 321, 327f., 329, 357, 359, 364 Separation, psychische  112f. Solidarität  10, 64, 71, 79, 92, 229f., 257-262, 294, 302, 342, 362 Sozialpathognostik (Def.)  36f. Spätmoderne (Def.)  341 Symbiose, frühkindliche  190f., 195, 199, 209, 221, 223, 225, 359 Täuschung  147ff., 266, 271-278, 327 Toleranz, sittliche  99, 100ff., 105, 111, 137, 242, 289 (Fn. 99), 287f., 291, 327 tragische Konflikte  135-139, 168 (Fn. 78)

401

402

Integrität

Trauma  147, 187, 188f., 192-196, 199f., 205, 208, 216f., 221 üble Nachrede  266, 270f., 284 Unbescholtenheit  83, 97ff., 100-107, 122, 125f., 234, 242, 269-273, 291 Unbestechlichkeit  14, 83, 92-95, 107, 122-126, 233, 291 Unschuld  98, 103f., 125, 202, 271 Unversehrtheit  12ff., 72ff., 80, 83, 115 (Fn. 95), 119-126, 128, 173f., 180, 183, 186-189, 216f., 222f., 226, 230-233, 236, 241, 244, 256, 278283, 291f., 293, 329 (Fn. 74), 335, 339, 343, 358, 376 Vergewaltigung  256, 259, 266, 281-285 verkommene Person  92f. Verletzung/Verletzlichkeit  13, 21, 73, 83, 115f., 119-125, 176, 189, 231, 241-246, 256, 258f., 265-270, 273, 277-284, 286f., 288f., 293-297, 302, 304, 328, 330, 340, 347 Verleumdung  266, 270f., 283f.

Wahlverwandtschaft (Def.)  368f., 377 Wahrhaftigkeit  142, 260f., 325ff., 331ff., 362f. Wertbindungen (Def.)  130-141 Werte (Def.)  130-134 Werterevision 140-143 Wertschätzung  254, 257ff., 261f., 301f., 329 Widersprüche, existenzielle  107-115, 117, 136f., 163, 173, 234, 250, 353f., 360, 364 Willensschwäche  155-167, 171ff., 293, 296, 330, 325, 356, 360, 364 Wohlergehen  12, 33, 36f., 59f., 65f., 68-75, 117, 120, 138 (Fn. 19), 247, 249, 328, 333, 335, 346-352, 367, 375f. Würde  58, 297-307, 327-329, 333, 346 Zwang  12, 39, 44, 49, 86f., 90, 117f., 121, 132, 136, 140f., 143, 154f., 158, 164, 266, 267ff., 272f., 283f., 292, 294, 308-312, 315ff., 319, 323, 325, 330ff., 343, 371f.

Ausführliches Inhaltsverzeichnis E inleitung 9

1. Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben einer Pathognostik des Sozialen 23 1.1 Zur Idee einer kritischen Sozialphilosophie 1.2 Das klinische Instrumentarium einer Pathognostik des Sozialen 1.3 Kulturalistische Formen der Gesellschaftskritik 1.4 Ethisch-moralische Ansätze der Gesellschaftskritik 1.5 Sozialpathognostik: Eine Frage der Integrität

26 30 38 53 69

2 . Bedeutungsdimensionen der Integrität: Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit 77 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Selbsttreue und Unbestechlichkeit Rechtschaffenheit und Unbescholtenheit Integriertheit und Kohärenz Ganzheit und Unversehrtheit Etymologische Spurenlese

83 95 108 115 122

3 . Selbstverständigung und Desintegration: Integrität als schwieriges Selbstverhältnis 127 3.1

Kursbestimmung ohne Konfliktscheue: Was es heißt, Werte zu haben

129

404

Integrität

3.2 Selbstaufklärung contra Selbsttäuschung: Wissen, wie man leben will 3.3 Beherztheit versus Willensschwäche: Leben, wie man leben will 3.4 Affirmation trotz Widerspruch: Das eigene Leben bejahen 3.5 Angst und Selbstfremdheit: Die emotionale Kehrseite der Innenansicht

141 154 165 173

Rekurs: Die Sehnsucht nach Unversehrtheit oder »Die Schwierigkeit zu sagen, was fehlt« 183 1. 2. 3. 4. 5.

Das Trauma der Trennung Das Phantasma der Einheit Die Spur der Zweisamkeit Trennungsgerüchte und soziale Institutionen Zurück zur Integrität

188 199 209 223 230

4 . Interaktion und Invasion: Integrität als schwieriges Verhältnis zu anderen 239 4.1  Moralbewusstsein und Moralverletzung: Geschützt werden wollen 4.2 Anerkennungsbedürfnis und Anerkennungsverlust: Geschätzt werden wollen 4.3 Zur Phänomenologie invasiver Übergriffe: Geschont werden wollen 4.4 Scham und Schuld: Die emotionale Kehrseite der Außenansicht

242 253 264 284

5 . Die nähere Verwandtschaft der Integrität: Würde und Ehre, Freiheit und Autonomie, Authentizität und Wahrhaftigkeit 291 5.1 Würde und Ehre 5.2 Freiheit und Autonomie

297 307

Ausführliches Inhaltsverzeichnis

5.3 Authentizität und Wahrhaftigkeit 5.4 Der Integritätsbegriff im Kreise seiner Verwandten

318 327

6 . Angewandte Sozialphilosophie als Psychopathognostik der Integrität 335 6.1 Das spätmoderne Ringen um Integrität 338 6.2 Alternativen einer Sozialphilosophie der Integrität 344 6.3 Psychopathologie der Integrität: Depression, Narzissmus, Borderline 348 6.4 Sozialpathognostik als Kritik spätmoderner »Wahlverwandtschaften«366

L iteraturverzeichnis 379 Sachregister 399 Ausführliches Inhaltsverzeichnis 403

405

Philosophie Andreas Weber

Sein und Teilen Eine Praxis schöpferischer Existenz August 2017, 140 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3527-0 E-Book PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3527-4 EPUB: 12,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3527-0

Björn Vedder

Neue Freunde Über Freundschaft in Zeiten von Facebook März 2017, 200 S., kart. 22,99 € (DE), 978-3-8376-3868-4 E-Book PDF: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3868-8 EPUB: 20,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3868-4

Jürgen Manemann

Der Dschihad und der Nihilismus des Westens Warum ziehen junge Europäer in den Krieg? 2015, 136 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3324-5 E-Book PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3324-9 EPUB: 12,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3324-5

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Philosophie Hans-Willi Weis

Der Intellektuelle als Yogi Für eine neue Kunst der Aufmerksamkeit im digitalen Zeitalter 2015, 304 S., kart. 22,99 € (DE), 978-3-8376-3175-3 E-Book PDF: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3175-7 EPUB: 20,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3175-3

Franck Fischbach

Manifest für eine Sozialphilosophie (aus dem Französischen übersetzt von Lilian Peter, mit einem Nachwort von Thomas Bedorf und Kurt Röttgers) 2016, 160 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3244-6 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3244-0

Claus Dierksmeier

Qualitative Freiheit Selbstbestimmung in weltbürgerlicher Verantwortung 2016, 456 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3477-8 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3477-2 EPUB: 17,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3477-8

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