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German Pages 187 [192] Year 1950
DIE Q E I S T I Q E M I T T E Umrisse einer abendländischen Kulturmorphologie von F. Adama van Scheltema
1950
VERLAG VON
R.OLDENBOURG
MÜNCHEN
Copyright 1950 by R. Oldenbourg Verlag München Sdirifl : Korpus Renner Antiqua. Druck rnd Buchbinderei R. Oldenbourg, Graph. Betriebe G. m. b. H. München
VORWORT Die vorliegende Schrift faßt die Ergebnisse einer umfangreichen Kunstgeschichte des Abendlandes zusammen, die durch den Krieg und seine Folgen in Manuskript liegen blieb. Grundlegend war der Gedanke, daß die menschliche Kultur zu jeder Zeit eine alle individuellen Erscheinungsformen übergreifende innere Struktur besitzt, die sich am sinnfälligsten in der Kunst offenbart und deren fortwährende Wandelbarkeit wir am leichtesten aus der Kunstentwicklung ablesen. Versuche, die Stilgeschichte als Strukturgeschichte und die Kunstentwicklung als Geistesentwicklung zu deuten, wurden schon von befugter Seite und namentlich von deutschen Kunstforschern durchgeführt. Daß trotz glänzender Teilergebnisse der große, zusammenfassende Griff niemals unternommen wurde, erklärt sich wohl daraus, daß die junge kunsthistorische Disziplin noch zu sehr in ihrem deskriptiven Stadium steckt, um sich zielbewußt um ihre Grundbegriffe zu kümmern und namentlich auch die aufschlußreichen frühesten Entwicklungserscheinungen zu beachten. Erst heute löst sich die Kunstwissenschaft zögernd aus dem Zustand, in dem die Biologie sich vor Jahrhunderten befand. Die Papierknappheit zwang zu einer kurz gedrängten, fast programmatischen Darstellung, die viele Fragen unbeachtet lassen mußte. Dennoch mag die kleine Schrift zu unverdrossener Weiterarbeit anregen und zeigen, welche bedeutsame Aufgabe der begrifflichen Kunstforschung zufallen kann bei der Beantwortung unseres Fragens nach dem Sinn der Menschheitsentwicklung, dem Sinn auch der schweren geistigen Krise, die wir heute erleben. Freilich wird auch die geplante umfangreiche Darstellung des gleichen Stoffes mit anderen Gebieten der modernen wissenschaftlichen Forschung gemeinsam haben, daß sie schließlich an Fragen heranführt, deren Beantwortung uns nicht gegeben ist. Gauting vor München. Ostern 1947.
F. Adama van Scheltema.
betonen, daß es sich dabei doch offenbar um eine Verquickung rein physikalischer, biologischer und psychologischer Phänomene im menschlichen Bewußtsein oder Unterbewußtsein handelt, um bildhafte Entleihungen aus der nahen und eindrucksvollen Sphäre der sexuellen Erfahrung, ohne daß gerade dort das offenbar tiefere und allgemein wirksame Urphänomen anzunehmen wäre. Noch ein Beispiel mag diese Überzeugung bekräftigen: wenn sowohl Goethe wie Schelling den geistigen Entwicklungsprozeß mit der Systole und Diastole des Herzschlags vergleichen, setzt diese Zusammenziehung und Wiederausweitung die Existenz einer Mitte voraus —vermutlich dieselbe, von der Goethe sagt: „und was die Mitte bringt, ist offenbar das, was zu Ende bleibt und anfangs war". Eine so umfassende Konzeption geht aber doch über jede geschlechtliche Bestimmung und Beschränkung jenes geheimnisvollen mittleren Punktes hinaus. Und auch wenn der Dichter sich nachträglich veranlaßt fühlen sollte, dort das Ewigweibliche, das uns hinanzieht, zu lokalisieren, so bleibt das eine Übertragung aus dem sinnlich bestimmten Erfahrungskreis auf die schlechthin unbestimmbare Mitte. Um einen festeren Boden zu gewinnen und zu der kunsthistorischen Bedeutung des hier angedeuteten Urphänomens zu gelangen, greifen wir auf eine frühe, seitdem aber nie mehr verlorengegangene kulturgeschichtliche Situation zurück. Schon der Mensch der diluvialen Urzeit, der Jäger und Sammler der Altsteinzeit, besaß trotz seiner streifenden Lebenshaltung wenigstens vorübergehend eine gemeinsame und zur Ruhe einladende Mitte. Dieser Mittelpunkt und recht eigentlich der „Brennpunkt" der urzeitlichen Gemeinschaft war das im Freien, unter einem Felsschutz oder in einer Höhle brennende, wärmende, schützende und zur Bereitung der Speise unentbehrliche F e u e r . So wenig wir über die urzeitliche Arbeitsteilung wissen, können wir doch mit Sicherheit annehmen, daß die Jagd und der Kampf dem Mann überlassen blieben, während die Sorge um die Kinder, um Speise und Bekleidung zu den wichtigsten Beschäftigungen der Frau im nahen Umkreis des Lagers und des Feuers gehörte. 8
VORZEIT
Sehr viel eindringlicher wird das Kulturbild nach der Wende vom nomadisierenden Jägertum der Altsteinzeit (Paläolithikum) zum seßhaften Bauerntum der Jungsteinzeit (Neolithikum). Es mag vermittelnde Übergangsformen zwischen beiden Arten der frühen Lebensgestaltung gegeben haben, aber das Endergebnis setzt eine tiefgehende, sinnfällig greifbare Wandlung der geistigen Struktur voraus. Denn die Seßhaftigkeit des Menschen bedeutet an sich schon, daß er sein Leben einer unverrückbaren Mitte zuordnet, die er in Gestalt der W o h n u n g allseitig von der natürlichen Umwelt abgrenzt und mit seiner Persönlichkeit erfüllt. Wir müssen das nun entstehende Kulturbild durch den umzäunten Hof ergänzen und durch die mehrere Wohnbauten umfassende, durch Palisaden, Wälle und Gräben geschützte Dorfanlage: der Zaun und der umzäunte Bezirk sind unlöslich mit den Anfängen des Bauerntums verbunden; die Wurzel unseres „Gartens" und „Gürtels" findet sich in sämtlichen indogermanischen Sprachen. Durch die vier Hauswände und den Zaun wurde die sichere Grenze zwischen innen und außen gezogen. Innerhalb dieser Grenze lag der Bereich menschlicher Kultur, das keineswegs geographisch bedingte Midgard spätgermanischer Vorstellung, der Ort des Friedens, der Freundschaft, der Freude. Außerhalb war die freie Wildbahn, die als feindlich empfundene Natur, das nicht geheure Utgard. Obwohl der primitive Hackbau wesentlich Frauenarbeit war, ergibt sich das altbekannte, bis in die Gegenwart gültige Bild: wenn der Mann abends von der Jagd, vom Fischfang, vom Kampf nach Hause zurückkehrte, näherte er sich bis zur nächtlichen Ruhestatt dem Tätigkeits- und Herrschaftsgebiet der Frau. Denn noch im spätgermanischen Altertum hatte die Frau „den allerinnersten Platz des Friedens" inne (Grönbech). Das Wort „wohnen" aber hängt ursprünglich mit „sein, bleiben", mit „sich freuen, lieben" zusammen, und aus der gleichen Wurzel „wen" stammt das 9
Wort Venus. Dagegen mußte der Mann schon immer „hinaus ins feindliche Leben, muß wirken und streben — " . Dem Wechsel des äußeren Lebensbildes vom peripherstreifenden Jägernomadentum der Urzeit zum seßhaften Bauerntum der Vorzeit entspricht eine Umschichtung der geistigen Struktur, die wir uns am besten durch den Begriff der Konzentration, der Wende zu einer geistigen Mitte vergegenwärtigen. Schon der österreichische Prähistoriker Hoernes unterschied scharf zwischen der k o n s u m t i v e n Wirtschaftsform des urzeitlichen Jägers und Sammler«, der die jagdbaren Tiere erlegt und die Früchte des Feldes verzehrt, und der p r o d u k t i v e n Wirtschaftsform des Bauern, der sorgsam und auf lange Sicht die Tiere und Pflanzen hegt und pflegt, damit sie sich vermehren und die Nahrungssorge verringern. Dazu betonte Hoernes die Wende von der d e s t r u k t i v e n zur k o n s t r u k t i v e n Technik. Zerstörend war die urzeitliche Technik, insofern sie bei der Herstellung des Geräts aus Feuerstein, Knochen und Holz oder der Kleidung aus Tierfellen nur Überflüssiges entfernte, um den brauchbaren Kern, die hüllende Decke zu gewinnen. Dagegen wurde bei den neuen neolithischen Techniken der Töpferei, des Webens und Flechtens, des Wohnbaus das Arbeitsprodukt nach einer fertigen inneren Vorstellung völlig neu aus dem formlosen Ton, aus Pflanzenfasern, Tierhaaren, zugerichteten Balken zusammengestellt. In beiden Fällen, bei der produktiven Wirtschaftsform und der konstruktiven Technik des Bauerntums, handelt es sich um einen Übergang vom E r g r e i f e n zum B e g r e i f e n , um einen Prozeß zentralgeistiger Ablösung und Synthese, indem der menschliche Geist nicht mehr unmittelbar und augenblicklich auf die periphere Umwelt reagiert, sondern einen inneren Bezugspunkt gewinnt, in dem er den sinnlichen Erfahrungsstoff einfängt und nicht nur aufspeichert, sondern zu einem spezifisch Geistigen und Neuen umgestaltet. Das Erlöschen der erstaunlich naturalistischen Tierdarstellung an den Höhlenwänden und auf Knochenstücken der Urzeit ist unter dem gleichen Gesichtspunkt zu verstehen. Denn das Wiedererscheinen und die unmittelbare Wiedergabe der in 10
dem urzeitlichen Jägergehirn tief eingeprägten und aufbewahrten Gedächtnisbilder der Tiere wurde nicht mehr möglich, als der menschliche Geist sich nicht mehr peripher greifend, sondern zentral gestaltend auf die Umwelt bezog. Die unserer Kinderzeichnung sehr nahestehenden Tier- und Menschendarstellungen der späteren Bauernkultur sind keine Gedächtnis- oder Anschauungsbilder mehr, sondern begriffliche Konstruktionen, Begriffsbilder, die sich auf die wichtigsten Kennzeichen der mehr mitgeteilten als wiedergegebenen Gestalt beschränken. Man wird immer darüber streiten können, wann die Kulturentwicklung ihren Anfang nahm. Mit vollem Recht kann man sagen, daß der Anfang des Menschentums und der menschlichen Kultur durch die erste Erfindung und Verwendung des Geräts und des Feuers im Altpaläolithikum bezeichnet wird. Sobald wir dagegen den Begriff „Kultur" im eigentlichen Sinn mit der planenden und bauenden Umgestaltung der menschlichen Umwelt verbinden, kann die Zäsur nur zwischen dem urzeitlichen Jägertum und dem vorzeitlichen Bauerntum angenommen werden. Danach können wir jetzt das Werden der Kultur als die Gewinnung einer geistigen Mitte bestimmen, die von da an die zentralgeistige Struktur des Menschen bedingt. Zu dieser keineswegs ursprünglichen, sondern nach Jahrhunderttausenden gewonnenen „Mitteständigkeit" der Kulturgestalt ist zu sagen, daß sie durch die Loslösung des Menschen aus seiner urtümlichen Naturunmittelbarkeit von vornherein Sinnbild ist der Befreiung und der Freiheit. Weiter vermerken wir, daß mit der Gewinnung und Betonung eines zentralgeistigen Orts sowohl die peripherzentrale als die männlich-weibliche Polarisierung zum Inbegriff der Kultur gehört. Endlich ist der Anfang des B a u e n s , die Errichtung eines umfriedeten Bezirks in Gestalt des Wohnbaus und des Zaunbaus unmittelbar aus der errungenen geistigen Mitteständigkeit zu verstehen. Indem wir die geistige Struktur des frühen Bauerntums scharf von der der Jägerstufe abgrenzten, bezogen wir uns zum ersten Male nicht auf einen sich gleich bleibenden, naturgegebenen Zustand, sondern auf ein historisches, sei 11
es auch vorgeschichtliches Werden, auf das Werden der Kultur. Im folgenden wird dauernd vom historischen Geschehen, von der Selbstwandlung unserer Kulturgestalt die Rede sein. Es kann dabei nicht die Absicht sein, diese eigentümlich komplizierte und noch immer nicht entfernt verstandene Dynamik unserer Kulturgeschichte in sämtlichen über- und untergeordneten Entwicklungsstufen aufzuzeigen. Es soll aber der Nachweis erbracht werden, daß der Durchbruch einer zentralgeistigen Besinnung sich mit den jeweils möglichen Mitteln und in der jeweils erreichten Bewußtseinsebene regelmäßig wiederholt und offenbar das Gesamtsystem der historischen Entwicklung bedingt. Dabei wird sich zeigen, daß die Wendung zur Mitte immer eine Begegnung mit der Frau bedeutet, und daß uns regelmäßig eine bestimmte weibliche Gestalt als Hüterin des jeweils erschlossenen zentralgeistigen Bezirks entgegentritt. Wir berichten zunächst über dieses Ereignis innerhalb der Kultur der abendländischen Vorzeit.
Bronzezeit
Bekanntlich unterscheidet der Prähistoriker in unserer Vorzeit drei Hauptstufen, nämlich eine Steinzeit, eine B r o n z e z e i t und eine E i s e n z e i t . Nachdem wir fanden, daß der wichtigste Meilenstein in der Geschichte der Menschheit die Wende zwischen dem Jägertum der Altsteinzeit und dem Bauerntum der Jungsteinzeit bezeichnet, kann nur von dieser Jungsteinzeit oder dem Neolithikum als erster Periode des vorzeitlichen Bauerntums die Rede sein. Diese Unterscheidung und Benennung von Kulturstufen nach dem wichtigsten Werkstoff der Geräte und Waffen war ein Notbehelf, denn sie fragt nicht nach dem, was in der Kulturgeschichte eigentlich geschieht, nicht nach dem Wandel der Kulturgestalt. Trotzdem bleibt die Unterscheidung einer jüngeren Steinzeit und einer Bronzezeit 12
aufschlußreich, weil der Metallguß — ähnlich wie vorher die textilen Techniken und die Töpferei — schon als technische Leistung eine eigenartige geistige Umstellung oder Umstülpung voraussetzt. So vollendet die Steinbearbeitung im nordischen Neolithikum sich gestaltete, wurde doch nach wie vor für jedes einzelne Gerät ein in der Natur aufgelesener Stein benötigt und durch Beseitigung der überflüssigen Teile zu der zweckdienlichen Form umgestaltet. Völlig anders verhält es sich beim Bronzeguß: im Gegensatz zum Stein, Holz, Knochen, aber auch zum Ton der neolithischen Gefäße war die Bronze überhaupt nicht in der Natur greifbar, sondern ein naturfremdes, synthetisches und damit geistiges Produkt, das sich erst aus der Mischung des weichen Kupfers mit dem härtenden Zinn ergab. Soweit sie nicht gehämmert wurde, mußte die Bronze aber zuerst in eine flüssig formlose Masse verwandelt werden, die darauf in eine aus Stein oder Ton hergestellte Hohlform gegossen wurde. Wir können hier das oft recht komplizierte Verfahren mit Hilfe eines Wachskerns übergehen; wesentlich ist, daß zwischen die aus der Natur bezogene, aber künstlich veredelte Substanz und das fertige Produkt eine an sich gar nicht brauchbare, aber unentbehrliche Form eingeschaltet wird. Daß wir diese Hohlform, die das flüssige Metall in sich aufnimmt, um dann serienweise das Gerät aus sich zu entlassen, als spezifisch weiblich empfinden und als eine „ M a t e r " bezeichnen, mag im Zusammenhang mit späteren Ausführungen wichtig sein, kann hier aber unberücksichtigt bleiben. Wesentlich ist jedoch gegenüber der Steinbearbeitung die eigenartige Ein- und Umstülpung des technischen Denkens: durch die Verwendung der synthetischen Bronze und eines Models oder einer Mater als vorher gar nicht vorhandener, sorgfältig geplanter Hilfsform erweist sich die neue Technik nicht mehr als peripher greifend, sondern als zentral gestaltend. Es gibt, vielleicht abgesehen von der Erfindung der Töpferei und Weberei, in der Geschichte kaum ein zweites Beispiel, daß die Technik sich so eindeutig an der geistigen Struktur der Zeit beteiligt. Bevor wir uns wichtigeren Kulturmerkmalen zuwenden, kann 13
hier eine weitere technische Neuerung angeführt werden. Unter den schwedischen Felsbildern der Bronzezeit finden wir häufig die Darstellung des von einem Mann gelenkten, von Rindern gezogenen Pfluges oder auch des von Pferden gezogenen Wagens. Wann und wo genauer die Erfindung des Pfluges geschah, mag noch ungewiß sein. Sicher ist dagegen, daß der primitivere Hackbau ebenso bezeichnend ist für die Jungsteinzeit wie der Pflug- und Ackerbau f ü r die Bronzezeit. Die allgemeine Verwendung des Pfluges bedeutet aber nicht nur eine Intensivierung der bäuerlichen Wirtschaftsform, sondern den Einsatz einer völlig neuen, vom Menschen nur noch gelenkten Naturkraft, und zwar der Zugtiere. Welche tiefe geistige Bedeutung diese Neuerung gewann, geht aus so vielen späteren Riten und Sagen hervor, die uns zeigen, daß das Pflügen — und die Pflugtiere — namentlich dem Kult der weiblich empfangenden, mütterlich gebärenden und nährenden Erde zugeordnet wurden. Deutlicher als die befreiende Durchgeistigung des Arbeitsprozesses zeigt das gesamte Kulturbild besonders der nordischen Bronzezeit die Tendenz und das Ergebnis der vollzogenen Wandlung. Vorausgeschickt muß werden, daß die Verbreitung, die Form und Verzierung der neolithischen Tongefäße eine beträchtliche Vielheit und relative Beweglichkeit einzelner Stämme in Europa erkennen lassen. Die Forschung neigt heute zu der Annahme, daß das Germanentum aus der Verschmelzung zweier solcher Stämme, vermutlich der stärker beweglichen Einzelgrab- oder Streitaxtleute des schnurkeramischen Kreises und Jütlands mit dem konservativeren Megalithgrabvolk, hervorging. Ist es — nach bedeutsamen Ausführungen Helmut Friedeis — gestattet, bei diesem Verschmelzungsprozeß einen tragenden und einen treibenden Teil zu unterscheiden, so würde sich der neue, biologisch und kulturell überaus lebenstüchtige Organismus von vornherein als in sich selbst polarisiert herausstellen. Jedenfalls war die Bronzezeit, die höchste und reinste Blütestufe des nordischen Bauerntums, zugleich die Zeit der Geburt und der inneren Organisation des Germanentums. Im Gegensatz zu der 14
beweglichen Mannigfaltigkeit der neolithischen Volksgruppen und erst recht zu der späteren Aufspaltung und Zerstreuung der germanischen Stämme seit der Völkerwanderungszeit zeigt die urgermanische Bronzezeit in Norddeutschland und Skandinavien ein überraschend homogenes, fest in sich geschlossenes und friedliches Kulturbild — im Vergleich zu den vorangehenden und folgenden Perioden treten die großen Befestigungsanlagen auffallend zurück. Was wir hier beobachten, ist also ein Vorgang schöpferischer Synthese, die Entstehung eines neuen Kulturganzen aus der ursprünglichen Mannigfaltigkeit einzelner Stämme. Denken wir die spätere Differenzierung des urgermanischen Kulturorganismus in eine Vielheit stark beweglicher, über ganz Europa sich ergießender Stämme hinzu, so ergibt sich für die gesamte Vorzeit das Bild der Integration und Desintegration, der Zumittung und Abmittung oder — nach Goethe und Schelling — der Systole und Diastole. Daß die K u n s t der nordischen Bronzezeit eindeutig die vollzogene geistige Wandlung aufzeigt, ist nicht verwunderlich; offenbart sich doch im künstlerischen Formgefüge die geistige Struktur eines Zeitalters so rein und unmittelbar, daß wir die vertiefte Kunstforschung geradezu als geistige Strukturforschung definieren können. Für die gesamte Vorzeit handelt es sich in erster Linie um die Ornamentik, um die an sich zwecklose Verzierung der Geräte. Für diese frühe Vorherrschaft der Ornamentik gibt es verschiedene Gründe, die mit der eigentümlichen Erfüllung, aber auch Beschränkung des vorzeitlichen Kulturgeistes zusammenhängen. So verstehen wir, von welcher ungeheuren Bedeutung für den noch naturverbundenen Menschen diese Geräte und Waffen waren, die ihm in seinem fortgesetzten Kampf mit der Natur das Leben schützten und erleichterten, und wie schon aus diesem Grunde die künstlerische Absicht zu allererst auf die Ausstattung solcher Gegenstände gerichtet war. Weiter ist zu bedenken, daß insbesondere die Töpferei der Jungsteinzeit und der Bronzeguß der frühen Metallzeit wichtige technische Errungenschaften waren und Zeugen der vollzogenen schöpferischen Konzentration, die in der ornamentalen Auszeichnung zuerst der Tongefäße, 15
dann der Bronzen ihre ausdrückliche künstlerische Bestätigung erfuhr. Es handelt sich an dieser Stelle um die Wandlung der ornamentalen Form zwischen der Jungsteinzeit und der Bronzezeit, und zwar um den Übergang von der g e r a d e n zu der g e k r ü m m t e n Linie, die erst dann von besonderer Bedeutung erscheint, wenn wir bedenken, daß die Verzierung der Tongefäße durch die Jahrtausende der jüngeren Steinzeit im Norden sich auf die waagrechte, senkrechte und schräge Linie beschränkte. Die Erklärung dieser zumeist noch immer falsch verstandenen frühen Ornamentik liegt nahe, denn solange der künstlerische Kommentar sich auf die Unterstreichung der äußeren und inneren Formgrenzen, auf die Betonung des gleichmäßig in sich zurückkehrenden Umlaufs des Gefäßkörpers oder dessen senkrechte Erhebung beschränkte, konnte das Ergebnis nur ein starres System aus geraden Linien, Punktreihen, Dreiecksketten u. dgl. sein. Auch wenn sich in einer fortgeschrittenen Stilphase weiter ausholende Diagonalen, Zickzackstreifen, teppichartige Muster hinzugesellen, bleibt die Form grundsätzlich streng geometrisch, geradlinig und, man kann sagen, physikalisch geartet. Denn diese ganze frühe Formentfaltung ist der Kristallbildung vergleichbar, insofern die zuerst nackte Gefäßwand als formloses, undifferenziertes Fluidum erscheint, das zunächst an den vorhandenen Reizstellen, z. B. den äußeren Rändern, Form gewinnt, der sich weitere Formkomplexe anschließen, bis die gesamte Oberfläche wie auskristallisiert erscheint. Im Verlauf der früheren Bronzezeit stellt sich das Ornament aber auf die krumme Linie um; wir finden konzentrische Kreise, Spiralen, eine reiche Verschiedenheit endlos sich ergänzender Wellenbandmuster, Wirbelformen, zuletzt auch gliederlose, aus Kurven aufgebaute Tiermotive. Diese Formwandlung geschieht so allgemein, mit solcher Entschiedenheit und sie wird so sehr bis zu den letzten Konsequenzen ausgeschöpft, daß sie nicht aus der zufälligen Einwirkung äußerer Einflüsse, sondern nur als das Ergebnis einer revolutionären inneren Wandlung zu verstehen ist. Immerhin interessiert hier der Versuch des 16
finnischen Forschers Ringbom, diese kurvilinearen Muster aus der Erfindung des Schnurzirkels zu erklären, d. h. zweier durch eine Schnur verbundener Stifte, von denen sich der eine um den anderen feststehenden bewegt. Infolgedessen entsteht ein Kreis oder, wenn die Schnur sich aufwickelt, eine Spirale, während die komplizierteren Wellenbandmuster der späteren Stilphase über zwei feststehende Polpunkte konstruiert werden. Schon nach dieser technischen Erklärung ist die neue ornamentale Form als mitteständig oder mittewendig zu bezeichnen, dazu als polarisiert, insofern die sich gleich bleibende oder auch fortgesetzt wechselnde Spannung zwischen einem zentralbeharrenden und einem peripher-beweglichen Element in die Form hineingetragen wird. Und zwar ist dieser bei den Kreismotiven immer betonte, sonst nur vorauszusetzende Mittelpunkt das Element, das die Ganzheit, den unlösbaren funktionalen Zusammenhang aller Teile des Musters bedingt; ein Inneres, das die sichtbare äußere Form dauernd auf sich bezieht; die Seele, die sich als lebendig in der Eigenbeweglichkeit des Formkörpers manifestiert. Hier liegt der letzte Grund für die unverkennbare Verwandtschaft der gesamten kurvilinearen, nicht mehr physikalisch und rationalistisch, sondern irrational gearteten Formentwicklung der Bronzezeit mit der Entfaltung des organischen Lebens, von den ersten einzelligen Organismen bis zu der eindeutigen Tiergestalt. Im Zusammenhang mit der vermeintlichen Bedeutung des Schnurzirkels hat der Verfasser auf die eigenartige Tatsache hingewiesen, daß bei gewissen Volkstänzen, z. B. dem oberbayerischen „Bändltanz", der Reigen der Tänzer gleichfalls durch Bänder mit einer feststehenden Achse verknüpft bleibt. Ringbom ist diesem Sachverhalt näher'nachgegangen und hat die Vermutung ausgesprochen, daß bei den nordischen Labyrinthen — Trojaspielen, Babylonien usw. — eine solche Verbindung des Tänzers, der den Windungen des Labyrinths folgte, und einer Person in der Mitte bestand. Damit gelangen wir zum Kultbau und Kulttanz unserer Vorzeit und zu dem wichtigen Nachweis, daß der Antithese zwischen dem peripher-beweglichen und dem 2 Scheltema, Geistige M.tle
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zentral-beharrenden Prinzip eine geschlechtliche Polarität entsprach, die den Grundgedanken der vorzeitlichen Naturreligion in sich enthält. Es gibt mehrere Stellen in der spätgermanischen Edda, die sogenannten Brautfahrtsagen, die in unverkennbarer Übereinstimmung den gleichen Vorgang schildern: die müksame Werbung eines Gottes oder Helden um eine Jungfrau. So wirbt der Gott Freyr um Gerd, Swipdag um Menglod und später Sigurd um Brünhild. Jedesmal befindet sich die Jungfrau in einem umhegten Bezirk; Gerd heißt die „Umgürtete", und dieser Gürtel oder Zauberring, der von.dem Bewerber unter großer Gefahr durchschritten werden muß, um zu der Jungfrau in der Mitte zu gelangen, sie zu befreien oder zur Liebe zu zwingen, besteht aus einer kunstvoll errichteten Mauer, einem Flammenkreis, einer Schildburg. Die Frage nach dem Sinn dieser Brautwerbungssagen wird verschiedentlich beantwortet werden, je nachdem der Forscher sich strikt an den Wortlaut der Eddadichtung hält, oder nach dem gemeinsamen, weit zurückliegenden Grund- und Kerngedanken fragt, der von den späten Skalden überhaupt nicht mehr verstanden oder auch als noch allgemeinverständlich vorausgesetzt wurde, um nachträglich eine sehr freie und wechselnde Umgestaltung zu erfahren. An sich ist Sigurd natürlich nicht identisch mit Swipdag oder mit Freyr, der im Norden als ein Himmels- und Fruchtbarkeitsgott verehrt wurde. Aber schon die Verquickung von mythischen und historischen Zügen in der Sigurd-Brünhildsaga zeigt, daß es sich um die spätere Ausgestaltung eines älteren, tief eingewurzelten Gedankens handelt, den wir erwarten können, im Göttermythus wiederzuerkennen. Wie tief eingewurzelt der Grundgedanke der Brautfahrtsagen im vorzeitlich bäuerlichen Bewußtsein war und noch heute ist, geht aus den unzähligen Volksmärchen und den entsprechenden Volks- und Kindertänzen hervor, denen das gleiche Motiv zugrunde liegt, sei es, daß der junge Held einen Berg — Glasberg — ersteigen muß, um seine Braut zu erringen, oder daß diese im Zauberschlaf versunken sich in einem Schloß mit Dornhecke, in einem Turm oder auch nur auf einem Stein befindet. Nebenbei kann die allgemeine Verbreitung von Skan18
dinavien bis Italien und von England bis Rußland als Beweis gelten, daß der Grundgedanke des „Dornröschenmotivs" schon vor der Aufspaltung der germanischen Stämme, d. h. in der nordischen Bronzezeit bekannt war. Zweifellos ist es möglich, schon an Hand der bekannten Sagen und Märchen zu einer an Sicherheit grenzenden Deutung zu gelangen, und man versteht nicht gut, daß diese schon in der deutschen Romantik vorgetragene Sinndeutung des Brautfahrtmotivs später wieder in den Hintergrund treten konnte. Gehen wir von der nie angefochtenen Voraussetzung aus, daß der altgermanische Göttermythus sich auf das Naturgeschehen bezog, und fragen wir, welches Naturereignis dem nordischen Bauern das bedeutsamste war und dasjenige, das seine Existenz, seinen ganzen Lebensrhythmus bestimmte, so kann die Antwort nur lauten, daß dies die alljährliche Rückkehr der Sonne war und die Auferweckung der im Winterschlaf erstarrten Erde zu neuem Leben. Es mögen weitere Vorstellungen hinzugetreten sein. Die tägliche Auferweckung der Erde durch die aufgehende Sonne' dürfte schon früh als Parallelerscheinung aufgefaßt worden sein. In dem späteren, kriegerisch bewegten Zeitalter, als namentlich der Kult der von Tacitus erwähnten Mutter Erde — der Nerthus — zurücktrat und die Zahl der Götter sich durch eine fortgesetzte Differenzierung und Spezialisierung ihrer Funktionen oder durch die Aufnahme stammverwandter Gottheiten — der Asen — ständig vermehrte, mag der Grundgedanke sich aufgespalten und verflüchtigt haben. Und doch hätten schon die den beiden Personen der Brautfahrtsagen zukommenden Namen, Funktionen und Attribute zu der Überzeugung führen müssen, daß es sich bei der zentral-beharrenden weiblichen Gestalt um eine chthonische Gottheit, um die zum Leben erweckte, fruchtgebärende Erdenmutter handelt, bei der peripherbeweglichen, von außen in den weiblich-chthonischen Bezirk eindringenden männlichen Gestalt um den zeugenden Himmels- oder Sonnengott. Noch in spätgermanischer Zeit wurde die Erde als ein Weib gedacht, „das empfängt und gebiert, das Menschen und Dinge in ihrem Schöße oder in ihrem Leib birgt" (Grönbech). Dagegen gilt die Sonne nicht nur i
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in den griechischen, lateinischen, romanischen Sprachen, sondern auch im Englischen als männlich, wie es auch noch im Mittelhochdeutschen ein Maskulinum sunno gab. Infolge dieser männlichen Charakterisierung konnte die Sonne sowohl in der altchristlichen Antike wie im nordischen Mittelalter zum Sinnbild Christi erhoben werden. *
Es bleibt die Frage, in welcher Stufe der Vorzeit das naturreligiöse Grundgesetz, d. h. der Gedanke der das gesamte Naturgeschehen beherrschenden kosmischen Ehe zwischen Himmel und Erde, seinen Ursprung und seine höchste Geltung fand. An sich liegt es nahe, hier an das goldene Zeitalter der nordischen Bauernkultur zu denken, an jene Bronzezeit zwischen etwa 1 8 0 0 und 6 0 0 v. Chr., die schon zu Tacitus' Zeit zu einer fernen Vergangenheit gehörte. Wir kennen die zahlreichen skandinavischen Felsenzeichnungen dieser Zeit, die sich auf den Fruchtbarkeitskult, d. h. auf den Sonnen- und Erdkult beziehen. Es gibt auch aus der nordischen Bronzezeit manche gegenständlichen Formen, die zweifellos die Bedeutung des Sonnenkults bezeugen: goldgeschmückte Scheiben, Räder und Wagen, Pferde und Vögel. D a ß wir aber, abgesehen von einigen seltenen Statuetten nackter Frauen, keine sicheren Götterdarstellungen aus dieser Stufe kennen und keine Symbole, die sich eindeutig auf den Kult der Mutter Erde beziehen ließen, erklärt sich unmittelbar aus dem reinen Charakter der frühen nordischen Naturreligion. Denn die noch durch Tacitus ausdrücklich festgestellte Bildlosigkeit des Kults hat nichts mit einer besonders geistigen, abstrakten Auffassung der Naturgötter zu tun, sondern umgekehrt: solange das religiöse Bewußtsein und damit auch die Kulthandlung unlösbar mit den konkreten Naturerscheinungen verknüpft blieb, mußte die anthropomorphe Darstellung und sogar die sinnbildliche Vergegenwärtigung der natürlich-göttlichen Potenzen als eine unmögliche und unnötige Abstraktion abgelehnt werden. Am ehesten noch konnten für die Sonne stellvertretende Formen eingesetzt werden, weil es sich hier um einen zwar sinnlich erfaßbaren, aber fernen, ungreifbaren und beweg20
liehen Gegenstand handelte, der auf lange Zeit gänzlich verschwand und dann sehnsüchtig herbeigewünscht und wohl auch herbeigezaubert wurde. Anders verhält es sich mit den Erscheinungsformen der Mutter Erde, weil so viele der Erde verhaftete, greifbare Dinge dauernd gegenwärtig blieben und unmittelbar in den Kult einbezogen werden konnten. Dazu gehörten Hügel, Felsen, Steine, Bäume, Quellen, Sümpfe, Teiche, all diese Dinge, die der Volksglaube noch heute als Aufenthalt der noch ungeborenen Kinder bezeichnet und danach als Erscheinungsformen der lebenspendenden Mutter Erde betrachtet. Obwohl der Sonnenkult unbedingt die Existenz eines Erdkults voraussetzen dürfte und beide erst im Fruchtbarkeitskult einen sinnvollen Zusammenhang gewinnen, verstehen wir jetzt, wie schwer es fallen muß, für die frühere Vorzeit mit Sicherheit die allgemeine Verbreitung des Kults der Mutter Erde nachzuweisen, weil es den ihr zugeordneten konkreten Naturdingen, soweit sie erhalten blieben, überhaupt nicht anzusehen ist, welche religiöse Würde sie einst in sich trugen. Hier liegt aber auch der Grund, weshalb die berühmteste Kultstätte der euro-
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Plan der Gesamtanlage mit Ringgraben und
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päischen Vorzeit, der Stonehenge-Tempel in der Nähe von Salisbury, so lange keine erschöpfende Deutung gefunden hat, obwohl dieses Heiligtum den Schlüssel zum Verständnis der späten Brautfahrtsagen und wohl überhaupt der reinen vorzeitlichen Naturreligion in sich enthält. (Abb. 1.) Stonehenge war keine germanische Kultstätte,' aber es wurde unter ähnlichen kulturellen und geographischen Bedingungen wie im germanischen Norden erbaut, und zwar als das Werk einer gleichfalls neuen biologischen Einheit, die sich aus der Verschmelzung eines kontinentalen Stammes — d e r „Becherleute" — mit der einheimischen Bevölkerung der Steinzeit ergab. Dieser um 1500 v. Chr. in der Bronzezeit erbaute Tempel ist ein offener Rundplatz mit etwa 90 Meter Durchmesser, der durch einen Wall und Graben von der Außenwelt abgegrenzt wird. Nach innen folgten mehrere, jetzt verschwundene Steinkreise, dann das noch gut erkennbare Innenwerk: ein Kranz aus riesigen, durch Decksteine verbundenen Steinsäulen, dann ein Kreis aus kleineren Menhirs, ein hufeisenförmig geöffneter Ring aus paarweise verbundenen Steinsäulen und endlich noch ein ähnliches Hufeis'en aus kleineren Steinen um den mittleren „Altarstein". Den Öffnungen der beiden inneren Hufeisen entspricht im äußeren Ringwall eine Lücke, in die eine Zugangsstraße einmündet. Durch diese Straße und die Öffnungen im Ringwall und in den inneren Steinkreisen enthält die gesamte konzentrische Anlage eine deutlich betonte Achse, und zwar bezeichnet diese nach Nordost den Punkt am Horizont, wo die Sonne, am Tag der Sommersonnenwende aufging und ihre ersten Strahlen in das Heiligtum entsandte. Noch heute wartet das Volk in der Nacht vom 20. zum 21. Juni in Stonehenge andächtig auf diesen Augenblick, da der Altarstein unter den ersten Sonnenstrahlen aufglüht. Diese kurzen Angaben mögen genügen, um die außerordentliche Bedeutung von Stonehenge im Zusammenhang mit den Brautfahrtsagen der Edda zu ermessen; ist es doch das gleiche herbeigesehnte Geschehen, das uns in der gleichen, durch die späten Sagen so nachdrücklich betonten Inszenierung hier wie dort entgegentritt: das mühsame, einmal jährlich gelingende Eindringen der Sonnenstrahlen in ein teme22
nos, einen sicher umfriedeten und gegen die Umwelt abgeschlossenen Bezirk. Damit erhellen Stonehenge und die germanischen Brautfahrtsagen sich gegenseitig, zunächst in diesem wichtigen Punkt, daß als das peripher-bewegliche, männlich-solare Naturprinzip ursprünglich nicht ein menschlich gedachter Sonnengott oder Held, sondern das Sonnengestirn selber erschien. Umgekehrt ergibt sich aber aus den Sagen die wichtigere Schlußfolgerung: dieser gewaltige, 4,4 Meter lange lagernde Stein, der nachweisbar aus Südwales herangeschleppt worden war, um die herrschende Mitte des konzentrischen Kreissystems zu bilden, war kein beliebiger Altarstein, sondern Sitz und Sinnbild des weiblich-tellurischen Naturprinzips, ein „lectulus Brunihildae", den wir als „Brunholdisstuhl", „Brünhildenbett", „Kremheldenstein" usw. auch aus Deutschland kennen. Danach war Stonehenge also nicht nur ein Sonnentempel, sondern vor allem die im Sonnenkult unentbehrliche „Empfangsstation"; der heilige Bezirk der noch bildlos verehrten Erdgöttin; die Kultstätte, in deren Mitte die kosmische Ehe zwischen Himmel und Erde sich vollzog. Welche Kulthandlung diesen Vorgang begleitete, wissen wir nicht, aber einen wichtigen Fingerzeig bietet die Mitteilung des Griechen Pytheas im 4. Jahrhundert v. Chr. über einen Tanz, der in dem „Apollotempel der Hyperboräer" ausgeübt wurde. Man hat diesen Sonnentempel mit Stonehenge identifizieren wollen; eine Tatsache ist jedenfalls, daß Stonehenge durch die erstaunlich zähe volkstümliche Überlieferung mit einem Tanz verknüpft wird und daß ein ähnlicher Zusammenhang regelmäßig für die in Skandinavien und Norddeutschland verbreiteten Steinkreise, Labyrinthe, Osterberge usw. angenommen wird. Die Benennung solcher Anlagen als „Jungfertanz", „Adamstanz" usw. oder der Glaube, daß es sich bei den Steinkreisen um Hochzeitsgäste handelt, die wegen ihres zügellosen Treibens in Stein verwandelt wurden, lassen darauf schließen, daß schon ursprünglich namentlich der Mann und die Frau den beiden höchsten Naturprinzipien zugeordnet wurden und daß der makrokosmischen Ehe zwischen Himmel und Erde die Verbindung der Geschlechter entsprach. So führt ein 23
verbindender Faden vom Stonehengekult zu den germanischen Hochzeitstänzen — z. B. der Westfranken im 5. Jahrhundert nach Apollinaris Sidonius — und zu den Hochzeitsreigen unseres Mittelalters. So erklärt sich die Ähnlichkeit der bekannten Volks- und Kindertänze, die ausdrücklich das Sigurd-Brünhildmotiv (ein Faröertanz) oder die Geschichte von Dornröschen, der Jungfrau Marlen usw. veranschaulichen, mit einem schwäbischen Hochzeitstanz, bei dem der junge Ehemann auf einer hölzernen Gabel um die konzentrischen Kreise der Burschen und Mädchen herumreitet und durch die Lücken hindurchschlüpfen muß, um sein Frauchen in der Mitte zu erreichen. Ein anderer Faden führt von der Nordost-Lücke im Ringwall des Stonehenge-Tempels und dem gleich orientierten Sonnenloch in der hohen Felsenkammer der Externsteine zu dem Ostfenster, das nach Perceforest, der alten französischen Fassung der Dornröschensage, ausdrücklich so angebracht war, daß der Sonnengott das schlafende Mädchen erwecken könne. Von dort führt der Weg weiter: zum Turm der Jungfrau Marlen, dem Turm, an dem nach der Manessischen Handschrift der Minnesänger auf einer Leiter emporsteigt, um die Geliebte zu erreichen. Hier schließt sich wahrscheinlich das oberbayerische „Kammerfensterl" an, das sich ursprünglich nicht in der Bauernwohnung befand, sondern im oberen Stockwerk der germanischen Vorratshäuser, in dem die heiratsfähigen Töchter während des Sommers schliefen. *
Der Verfasser ist diesen Zusammenhängen an anderer Stelle ausführlicher nachgegangen und hat dabei neben den Sagen ein so umfangreiches archäologisches und volkskundliches Material herangezogen, daß das Ergebnis dieser Forschung hier in den folgenden Sätzen zusammengefaßt werden darf: Aus unzähligen zerstreuten Fragmenten, die uns aus den immer noch zu sehr getrennten Gebieten der Germanistik, der prähistorischen Forschung und der Volkskunde zufielen, ist auf die einstige Existenz einer ganzheitlich in sich geschlossenen und umfassenden naturreligiösen Weltanschauung zu schließen. Dieses naturreligiöse Begriffssystem fand 24
seine höchste und reinste Ausbildung keineswegs in der germanischen Spätzeit, sondern in der Bronzezeit, in diesem mittleren Alter unserer Vorzeit, das wir auch im Hinblick auf die gewaltigen Kultstätten und auf die umfassenden, fest organisierten Kultverbände, ohne welche die Errichtung dieser Bauten undenkbar wäre, recht eigentlich als das „Mittelalter" der nordischen Vorzeit bezeichnen dürfen. Der Grundgedanke dieser Weltanschauung beruhte auf der Antithese zwischen dem chthonisch-weiblichen und dem astralmännlichen Naturprinzip, einer bipolaren Welt- und Lebensordnung, der vor allem das Weib und der Mann, dann aber die verschiedensten, vielleicht sämtliche Dinge der Natur und des praktischen Zwecklebens sub specie terrae et solis symbolisch zugegliedert wurden. In diesem Sinn entspricht der urgermanische Weltbegriff strukturgemäß der erwähnten kurvilinearen Ornamentik der gleichen Kulturstufe, auch dann, wenn das ornamentale Muster durchweg eine rein künstlerische und keine begrifflich-symbolische Funktion erfüllt. Wie diese künstlerische Formsprache setzt der bipolare Weltbegriff der Bronzezeit den Durchbruch eines neuen Mittelpunktbewußtseins voraus, das aber in diesem Fall seine sehr bestimmte, wenn auch keineswegs rationalistische, vielförmige und doch eindeutige Ausgestaltung in einer weiblichen Gottheit erfuhr. Das war die Mutter Erde, die zentrale Dominante der ihr geheiligten Kultplätze und Kulttänze. Nach dem L a g e r f e u e r des Jägernomaden und dem W o h n b a u der Jungsteinzeit bietet der reine K u n s t - und K u 11 b a u der nordischen Bronzezeit das dritte Beispiel für die zentralgeistige Umstrukturierung der Kulturgestalt und die Auszeichnung der neu erschlossenen geistigen Mitte. Kulturgeschichtlich mögen die beiden ersten Fälle bedeutsamer sein, denn sie bezeichnen den Anfang der menschlichen Kultur überhaupt und die Wende zum seßhaften Bauerntum. Dagegen können wir sagen, daß die heilige weibliche Mitte nie zuvor eine so rein künstlerische architektonische Ausgestaltung, eine so betont religiöse Würdigung und bewußte weltanschauliche Sinndeutung erfuhr wie in der nordischen Bronzezeit, dem Mittelalter unserer Vorzeit. Der zentralen Erhöhung des weiblich-erdhaften Naturprin25
zips entsprach eine hochangesehene Stellung der Frau, die auch von einem so kritischen Berichterstatter wie Sophus Müller ausdrücklich betont wurcje. Diese besondere A u s zeichnung der Frau während der Bronzezeit geht aus der f a s t überladenen Ausstattung mit Schmuck hervor: riesigen, goldglänzenden und spiralverzierten Brustplatten, breiten Halskragen, Armgewinden, Spangen, dazu aber auch Waffen. Auch ist aus den Grabfunden auf ein monogames Verhältnis der Geschlechter zu schließen. Es ist möglich, diese hohe Würdigung der Frau — zusammen mit dem Kult der Mutter Erde! — bis in Tacitus' Germania zu verfolgen, während in der fürstlichen Ausstattung der Bauernbraut noch eine letzte Reminiszenz an den einstigen Fruchtbarkeitskult und an die symbolische Zuordnung der Frau zu der chthonischen Naturpotenz enthalten sein mag. Ob wir über solche Feststellungen hinaus von einer mutterrechtlichen, einer gynaikokratischen Periode innerhalb der nordischen Vorzeit reden dürfen, muß vorläufig dahingestellt bleiben. Dagegen kann nach unserer Wesensbestimmung der urgermanischen Bronzezeit kaum bezweifelt werden, daß wir hier im alten Norden die kulturgeschichtliche und zum Teil auch zeitlich entsprechende Parallele zu jener weiblich betonten „pelasgischen", vorhomerischen Kulturstufe vor uns haben, die Bachofen für das frühe Griechentum nachgewiesen hat. Infolge des langsamen Tempos der nordischen Kulturentwicklung ist dort allerdings die „homerische" Heldenzeit um etwa ein Jahrtausend später eingetreten als in der griechischen Welt. Wenn gesagt wird, daß das Griechentum im urzeitlichen Kult der gebärenden, hegenden und nährenden Naturkraft, der heiligen Tiefe, der Erde, seine Tiefendimension gewann, so mag wohl ein ähnliches Urteil auf die Bedeutung der Bronzezeit für das Germanentum zutreffen, freilich mit einer wichtigen Einschränkung: die Hinwendung zu einer geistigen Mitte und zur Tiefendimension des Kulturgeistes hat sich nicht nur innerhalb der nordischen Vorzeit, sondern auch in den historischen Stufen und in einer höheren Bewußtseinsebene durchgesetzt, um dann aber eine geistige Lage und Vorstellungswelt heraufzubeschwören, die wir auf26
fallend ähnlich schon in der Bronzezeit vorgeahnt und vorgezeichnet finden. Aus dieser Wiederholung der historischen Dynamik ergibt sich die bleibende Aktualität des fern zurückliegenden prähistorischen Geschehens, aber auch die Tatsache, daß die primitiv-vorzeitliche Symbolik so unmittelbar die Anteilnahme des einzelnen erweckt, dessen geistige Entfaltung offenbar der historisch-geistigen Entwicklung parallel läuft. Der Verfasser hat an anderer Stelle «ingehend diesen Gleichlauf der geistigen Ontogenese und Phylogenese verfolgt und darauf hingewiesen, daß die Kindheit des einzelnen, die selbstverständlich nicht den orientalischen oder antiken Hochkulturen, sondern der nordischen Vorzeit entspricht, eine mittlere Stufe in sich enthält, die der bronzezeitlichen Kulturstufe nicht nur strukturverwandt ist, sondern zu überraschend ähnlichen Vorstellungen führt. Das ist die Altersstufe zwischen etwa 6 und 12 Jahren, in der das Kind seine tiefste und bewußteste, religiös und kultisch gesteigerte Liebe zu der Mutter findet, auch als der herrschenden und hütenden Mitte des Heims mit all seinen vertrauten, nahen Dingen. Noch in der späten Kindheit geht diese innere Verbundenheit mit der Muttersphäre großenteils verloren, der Geist wird vor der Wende zum eigentlichen Jugendalter zentrifugal, und wenigstens der Knabe erlebt sein „Heldenzeitalter". Ein höchst merkwürdiges Beispiel für die bleibende Geltung uralter kollektiv-geistiger Symbolgedanken im Bewußtsein oder vielmehr Unterbewußtsein des einzelnen hat die moderne Psychologie erbracht, und zwar auf Grund der Traumdeutung. Es fehlt hier der Raum, um zu verfolgen, wie die von C. G. Jung in den Traumbildern eines erwachsenen Individuums wiedererkannte Mandala-Symbolik eine so verblüffende Ähnlichkeit mit dem Stonehenge-Kultgedanken und mit der gesamten Symbolik der vorzeitlichen Naturreligion aufweist, daß von einer zufälligen Übereinstimmung nicht mehr gesprochen werden kann. Um so unbegreiflicher ist es, daß Jung als frühere historische Parallelen zu den Traumbildern eines modernen Europäers zwar wiederholt die chinesische, indische und griechische Philosophie, die Gnosis und den spätantiken Synkretismus heranzieht, da27
gegen das so viel näher liegende und unvergleichlich wertvolle Belegmaterial aus der nordischen Vorzeit, dem germanischen Mythus und dem noch sehr lebendigen Volksglauben nicht berücksichtigt. Wenn aber diese Lücke in der wissenschaftlichen Erfahrung sowie politische Leidenschaft den bekannten Forscher neuerdings dazu verführten, dem deutschen Volk im Gegensatz zu anderen Völkern die Unkenntnis oder die Mißachtung des weiblichen Zentralsymbols vorzuwerfen, so möchten wir diesen Irrtum nur durch die Feststellung Jacob Grimms berichtigen, daß in keiner Mythologie so viele weibliche Gestalten auftreten wie in der deutschen. Schon Jacob Grimm ahnte aber sehr wohl, daß es sich bei diesen Frauengestalten im Grunde immer um die gleiche Persönlichkeit handelt: um die Große Mutter, die zentrale Gestalt der reinen nordischen Naturreligion.
Eisenzeit
Wenn wir von einer Mittewendigkeit oder von einer Zumittung der Kulturgestalt reden, ist zugleich ein Bewegungszug, ein Prozeß gemeint oder ein Geschehen, das sich wohl als dasjenige herausstellen könnte, was als Wesentliches in der Geschichte „geschieht". Wie die entsprechenden Begriffe der Integration, der Kontraktion, der Systole usw. setzt dieses Geschehen zwei polar gegensätzliche historische Zustände voraus: einen peripher gebundenen Zustand (A) und einen zentral gebundenen Zustand (B), dessen spezifisch geistiger, zumeist betont irrationaler Charakter ohne das vorhergehende Stadium äußeren, sinnlichen Weltergreifens gar nicht verständlich wäre. Denn ,,was man zusammenziehen will, muß man sich erst richtig ausdehnen lassen" (Laotse). Das nordische Altertum belehrt uns aber, daß der historische Prozeß mit dieser geistigen Zusammenziehung keineswegs abgeschlossen ist, und daß zumindest in der spätgermanischen Zeit ein unverkennbarer zentrifugaler Be28
wegungszug folgt. Der vollzogenen Systole folgt die D i a stole. Die Kulturgestalt desintegriert. Die Ganzheit der während der Bronzezeit in sich geschlossenen urgermanischen Bauernkultur spaltet sich auf in eine Vielheit selbständiger und sich vielfach bekämpfender Elemente: die germanischen Stämme. Der Eros des naturreligiösen Weltbegriffs, die den beiden polaren Gestalten eines Himmelsgottes und einer Erdgöttin zugeordnete Ganzheit des Naturgeschehens, verliert sich in einer Mannigfaltigkeit erotischer Beziehungen zwischen den vielen stark vermenschlichten und spezialisierten weiblichen und männlichen Gottheiten, in die das ursprüngliche kosmische Ehepaar sich auflöst. Schon in der ausgehenden nordischen Bronzezeit können wir Schritt für Schritt verfolgen, wie das kontinuierlich fließende, endlos sich selbst ergänzende Wellenbandmuster in eine Vielheit einzelner Tiergestalten aufbricht, deren abenteuerliches, konfliktreiches Schicksal sich in der bekannten spätgermanischen Tierornamentik erfüllt. Es würde hier zu weit führen, diese Merkmale fortschreitender Individualisierung, Differenzierung und Spezialisierung bis in die Technik, die soziale Schichtung, die Sprachentwicklung usw. nachzuweisen. Dagegen bleibt zum Verständnis der mittelalterlichen Geisteswende wesentlich, daß mit der radikalen Bewegung nach außen nicht nur die zuvor errungenen innergeistigen und ganzheitlichen Bindungen ihre Geltung verlieren, sondern daß mit dem Verblassen des zentralen, weiblich-chthonischen Symbols in dem extremmännlichen, kriegerisch bewegten „Heldenzeitalter" auch die primäre, schöpferische Naturverbundenheit, aus der die reine Bauernkultur unserer Vorzeit aufgeblüht war, verlorengeht. Dieser späte, selten richtig verstandene Herbst des nordischen Altertums, in dem Tiere, Menschen und Götter getrennt ihre eigenen Wege gehen und recht eigentlich den sicheren Naturboden unter den Füßen verlieren, ist zugleich das Zeitalter geistiger Entgründung und Entwurzelung. Auch in seiner meisterhaften Deutung des spätnordischen Geisteslebens berücksichtigt Grönbech zu wenig, daß es sich um sehr späte Entwicklungserscheinungen handelt; schon die nachweisbare Bedeutung des früheren Naturkults, der koi29
lektiven Kultstätten und der noch in Tacitus' Zeit bestehenden Kultverbände widerspricht dem Gedanken, daß die Sippe zu allen Zeiten die höchste sittliche und geistige Instanz gewesen sei, und so viele bedenkliche Züge des späten Heldenethos werden nur unter der Annahme verständlich, daß die germanische Welt einer äußeren und inneren Auflösung verfiel, die jeden einzelnen auf sich selbst verwies: die befremdende Grausamkeit, Gewalttätigkeit, Wortbrüchigkeit und Beutegier, aber gewiß auch die tiefe innere Tragik, die dieses Heldentum in seiner ruhelosen Dynamik und ziellosen Kraftentfesselung überschattete. Soweit diese frei streunende Energie, dieses Hinausgeworfen-Sein aus einstiger Geborgenheit sich kollektiv in der gewaltigen Bewegung der germanischen Wanderzüge und der nordgermanischen Wikingerfahrten offenbart, ist doch sehr zu bezweifeln, ob es der Forschung jemals gelingen wird, solche Erscheinungen erschöpfend aus der bloßen Einwirkung zufälliger äußerer Ursachen — einer Vermehrung der Bevölkerung, einem Klimawechsel, einer Bewegung asiatischer Nomadenstämme — zu erklären. Was gegen die kausalistische Erklärung solcher elementaren historischen Vorgänge spricht, ist nicht nur die schon kurz gestreifte eigenartige Wiederholung in der späten Kindheit des einzelnen, sondern auch die Tatsache, daß ein ähnlicher zentrifugaler Bewegungszug sich in den späteren, historischen Stufen periodisch wiederholt. In der ausgehenden Vorzeit führte diese Bewegung zu der Überflutung Europas durch die germanischen Stämme und zu der ersten Entdeckung Amerikas. Im Ausgang des Mittelalters führt die gleiche zentrifugale Dynamik zu der erneuten Entdeckung Amerikas und zur Expansion der abendländischen Kultur über die ganze Welt. Schon hier möchte man nach Sinn und Ziel der explosiven Kraftentfaltung fragen, die heute, in der kritischen Endstufe der Neuzeit, offenbar die gesamte Menschheit in tiefste Unruhe versetzt. Soweit das unserer nachgewiesen, daß Dreiperiodensystem stimmter geistiger 30
Untersuchung dienlich schien, haben wir dem seit einem Jahrhundert bekannten der nordischen Vorzeit ein sehr beRhythmus entspricht, in dem sich die
Lebenskraft der altnordischen Kultur vom frühen Neolithikum bis zu der ausgehenden Wanderkriegerzeit auswirkt. Es wäre nun denkbar, daß der historische Prozeß durch die ständige Wiederholung des gleichen Vorganges im gleichen Rhythmus bestimmt werde, d. h. daß der Zeiger der kulturhistorischen Uhr nach Beendung eines Umlaufes fortgesetzt den gleichen Zyklus absolviere. Unter solcher Voraussetzung müßten es immer die gleichen peripher-gebundenen, zentralgebundenen und zentrifugal-gelösten Situationen sein, die sich in der Geschichte ablösen, und damit wäre auch die innere Tiefenachse, der die Kultur sich jeweils zuwendet, um wiederum von ihr abzufallen, immer die gleiche. Daß der Prozeß fortgesetzter geistiger Selbstwandlung und Selbsterneuerung sich aber keineswegs in einer regelmäßigen Wiederholung der gleichen Stufenfolge erschöpft, braucht nicht gesagt zu werden, und schon die bisherige Betrachtung hat uns gezeigt, daß es offenbar nicht die gleiche Mitte ist, der sich der historische Geist in den Stufen des Jägernomadentums, des neolithischen Bauerntums und der urgermanischen Bronzezeit zuwendet, und daß die jeweils erfolgte Zumittung auch einen ganz verschiedenen, größeren oder kleineren Pulsschlag anzeigt. Der Urzeitjäger kannte die für die Menschwerdung ungeheuer wichtige Feuererzeugung und die Feuerstelle als Mitte der primitiven Gemeinschaft. Aber er kannte nicht den Wohnbau, der die unverrückbare Mitte der frühen Bauernkultur bildet und den Übergang zum eigentlichen Kulturzustand des Menschen bezeichnet. Der Neolithiker kannte die Wohnstätte, den umzäunten Hof, die umfriedete Siedlung als allgemeine und bis auf den heutigen Tag gültige Merkmale menschlicher Kultur; er kannte außerdem die umhegte Grabstätte, und aus den großen Grabbauten — Steinund Hügelgräbern — der Jungsteinzeit ist auf die allgemeine Verbreitung eines Totenkults zu schließen. Aber er kannte anscheinend nicht die gigantischen offenen Kultplätze des Stonehengetypus als Zeugen eines über den bloßen Ahnen- und Totenkult weit hinausgreifenden religiösen Bewußtseins und einer festgefügten Gemeinschaft, die weit 31
über den bloßen Sippen- oder Siedlungsverband hinauswuchs. Wir können hier, an Hand der Baukunst, das Entwicklungsbild noch einmal ergänzen, denn wenn wir sehen, daß mit der reinen Naturreligion und namentlich mit dem Kult der Mutter Erde auch die großen Kultstätten in der kriegerisch bewegten Spätzeit zurücktreten, dafür aber die für einzelne heldenhafte Persönlichkeiten errichteten Denksteine — Runensteine, Figurensteine — hervorragende Bedeutung gewinnen, so erkennen wir den bekannten vorzeitlichen Entwicklungsrhythmus: das Werden einer umfassenden, zentralregulierten Gemeinschafts- und Bauordnung während der Bronzezeit und ihrer Auflösung in der germanischen Eisenzeit. Hier wird wieder deutlich, daß die zentrale Symbolik des Stonehengegedankens sich in der Vorzeit erschöpft, daß sie den innerhalb unserer Vorzeit sich vollendenden geistigen Rhythmus bedingt und damit einen ganz anderen, einen offenbar viel geringeren Ordnungswert beanspruchen kann als das Lagerfeuer oder die Wohnstätte, die beiden größten Meilensteine in der menschlichen Kulturgeschichte. Umgekehrt ist es dem Kunstforscher möglich, namentlich an der äußerst empfindlichen, fortgesetzt wandelbaren Ornamentik der Vorzeit den Prozeß zentraler Bindung und zentrifugaler Lösung sowohl innerhalb der geradlinigen Form der Jungsteinzeit als auch der kurvilinearen Form der Bronzezeit und der spätgermanischen Tierornamentik nachzuweisen und damit die atmende geistige Bewegung über noch kürzere Strecken und in noch schnellerem Tempo zu verfolgen. Eine eingehende Beschreibung dieser neun Stilphasen der vorzeitlichen Kunstentwicklung würde hier zu weit führen, aber die Feststellung ist nötig, daß sich in jeder der hier erwähnten Vorzeitperiodep der Übergang von einer peripher gebundenen Formenvielheit zu einer zentral gebundenen Formganzheit sowie deren Wiederauflösung in einzelne isolierte Elemente vollzieht, und daß dieser Prozeß namentlich in der nordischen Bronzezeit so ergreifend klare Form gewinnt, daß wir die drei betreffenden Stil- oder Strukturtypen überhaupt zur schematischen Verdeutlichung der stän32
dig sich wiederholenden geistigen wählen möchten. (Abb. 2.)
A
B
Systole und
Diastole
C
Abb. 2: Schematische Darstellung des geistigen Entwicklungsrhythmus A: Der Zustand peripher-geistiger Bindung. B: Der Zustand zentralgeistiger Bindung. C: Der Zustand zentrifugal-geistiger Entbindung
Unter Vorwegnahme späterer Ausführungen können wir schon hier etwas tiefer auf den im Grunde sehr einfachen, in seiner Auswirkung aber äußerst komplizierten historischgeistigen Rhythmus eingehen; denn finden wir eine gesicherte genetische Reihe A-B-C, so haben wir uns darauf gefaßt zu machen, daß diese sich zu einer höher geordneten a- bzw. ß- oder y- Stufe zusammenschließt, während jede A-, B- oder C-Periode sich wiederum in eine untergeordnete Folge a-b-c aufgliedert. Aus dieser fortgesetzten Wiederholung des historischen Rhythmus in sich selbst geht hervor, daß eine absolut gültige Kennzeichnung irgendeiner Entwicklungserscheinung nicht möglich ist, weil es bei unserer Beurteilung ganz darauf ankommt, in welchen Zusammenhang wir sie eingliedern, d. h. innerhalb welchen „Feldes" wir sie wahrnehmen. Die ganze Zukunft einer zur Strukturforschung vertieften Geschichtsforschung hängt davon ab, ob sie sich als Feldforschung um die sichere Bestimmung der über- und untergeordneten Entwicklungsfolgen bemüht. Im Vergleich zu der naturgegebenen Wohnhöhle und dem Lagerfeuer des streifenden Jägertums erscheint die erste Bauernwohnung der Vorzeit als der zentralgeistige Ort, von dem aus die planende und bauende Betätigung des Menschen in seiner Umwelt erfolgt; unter diesem Blickpunkt verrät der Wohnbau seine reine B-Struktur. Innerhalb der Vorzeit erscheinen dagegen die zweckhaft bedingten Wohn- und Sied"
^ c b e l i e m « , G e i s t i g e Mitte
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lungsbauten als peripher bedingte A-Formen gegenüber dem kollektiven und rein künstlerischen Kultbau der Bronzezeit. Wir werden aber sehen, daß auch ein Stonehenge als ragendes Zentralsymbol unserer Vorzeit keine absolute B-Form darstellt, sondern als offene, naturverbundene Kultstätte den ausgeprägt peripheren, generell vorzeitlichen A - C h a rakter erkennen läßt, sobald wir zum Vergleich den allseitig geschlossenen Sakralbau des christlichen Mittelalters heranziehen. Obwohl wir hier leider nicht näher auf die sehr präzise Sprache der vorzeitlichen Ornamentik eingehen können, mag doch noch ein Beispiel den komplizierten Sachverhalt verdeutlichen. Wenn nämlich ein endlos sich selbst ergänzendes, kontinuierlich in sich selbst zurückflutendes Wellenbandmuster der nordischen Bronzezeit sich zuletzt in einzelne frei in der Fläche schwebende Tiergestalten auflöst, haben wir es mit einer reinen, zentrifugalen Spaltform, mit einer C-Form zu tun (vgl. die schematische Abb. 2). Diese Beurteilung gilt aber nur, wenn wir den Blick auf das bronzezeitliche Entwicklungsfeld beschränken, denn innerhalb des übergreifenden periodischen Systems Jungsteinzeit—Bronzezeit—Eisenzeit gehören diese schlangenartigen, gliederlosen Tiergestalten noch durchaus zu der kurvilinearen, zentral-orientierten Formsprache der Bronzezeit und sind somit echte B-Formen. Endlich ist zu bemerken, daß die gleichen Motive eine peripher-gebundene A-Form darstellen, insofern sie zu jener reinen, unlösbar dem Gerät und dem praktischen Lebenszweck verhafteten Ornamentik angehören, die sich nur für die Vorzeit und in klarem Gegensatz zum Mittelalter als die führende Kunstgattung darstellt. Danach stellen die gleichen ornamentalen Muster sich stilistisch als eine C-Form, morphologisch als eine B-Form, gattungsmäßig als eine A-Form heraus, je nachdem wir sie in ein engeres oder umfassenderes Bezugssystem, in einen kleineren oder größeren periodischen Umlauf einordnen. E s gibt „wheels within wheels", und jeder historische Umlauf enthält wiederum mehrere Umläufe in sich; soweit der dialektisch geartete Rhythmus der geistigen Entwicklung sich überhaupt mit einem Mechanismus ver34
gleichen läßt, kann unsere Uhr die hier gemeinte- historischgeistige Dynamik verdeutlichen. Denn während der Sekundenzeiger einen Umlauf absolviert, ist der Minutenzeiger erst um einen Strich weitergerückt, und beendet dieser seinen Umlauf, so bezeichnet der Stundenzeiger erst den nächsten Teilpunkt. Es mag'sein, daß die fortgesetzte Relativierbarkeit und der notwendige Wechsel unseres kulturbegrifflichen Urteils gewisse Anforderungen an das gewohnte Denken stellt und vielleicht ein Gefühl von Unsicherheit auslöst. Aber auch wenn die historischen Zustände und Erscheinungsformen sich niemals als absolut bestimmbar und gültig erweisen, ist um so mehr zu betonen, daß die innergesetzliche Dynamik des historischen Geistes sich selber als absolut, als in jedem Augenblick gültig und verpflichtend herausstellt und daß die innergesetzliche historische Periodizität undenkbar bliebe, wenn sie nicht sinnvoll und auf ein letztes, absolutes Ziel gerichtet wäre. Mit der Feststellung der beiden absoluten Polpunkte, zwischen denen die Menschheitsentwicklung sich vollzieht, vom animalischen Bewußtseinszustand zum Bewußtsein absoluter geistiger Freiheit, hat der Historiker sich nicht zu befassen. Unser Ziel soll sich vielmehr darauf beschränken, an Hand der konkreten Entwicklungserscheinungen die historische Periodizität für die immerhin umfangreiche Strecke von der frühen Vorzeit bis zur Gegenwart näher zu bestimmen.
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MITTELALTER
Daß die historischen Disziplinen einschließlich der Kunstgeschichte sich so selten oder mit zweifelhaftem Erfolg um die Erkenntnis des historischen Gefüges bemühen, bat seine besonderen Gründe. In Protest gegen die zu stark begrifflich abstrahierende Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus und als ihre Korrektur wandte das Interesse sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr vom historischen System ab und den einzelnen Tatsachen zu, bis Friedrich Engels 1878 behaupten konnte, daß die neueren Fortschritte der Natur- und Geschichtswissenschaften eine Natur- oder Geschichtsphilosophie überflüssig machten. Kant hatte die Anschauung ohne Begriff als blind, den Begriff ohne Anschauung als leer bezeichnet; auf die Geschichtsauffassung angewandt und unter der Voraussetzung, daß die Polzustände begriffsloser Anschauung und anschauungslosen Begriffs außerhalb jeder möglichen Geschichtsforschung liegen, dürfen wir sagen, daß das grandiose Geschichtsbild sogar eines Hegel noch zu wenig Wirklichkeitsgeltung besaß und damit zu leer war, um auf die Dauer genügen zu können, während umgekehrt die positive Tatsachenforschung mit der Anhäufung des empirischen Materials so problemblind wurde, daß ihr schließlich jeder Versuch einer umfassenden Periodisierung des Geschichtsablaufs als ein belangloses Unterfangen oder als eine willkürliche Konstruktion erschien. Heute stehen wir wiederum in einer Wende auch der Geschichtsdeutung, und zumindest die deutsche Kunstgeschichte zeigt mit ihrer Unterscheidung regelmäßig sich wiederholender historischer Stiltypen den fruchtbaren Ansatz zu einer neuen, diesmal tief in den Tatsachen verwurzelten umfassenden Deutung des historischen Geschehens. Inzwischen hat sich in einem Punkt nichts geändert: während Hegel den erst nach seinem Tode entdeckten und geordneten prähistorischen Stoff nicht kannte und seine Geschichtsphilosophie in bezug auf die Vorzeit in der Tat „leer" war, hat die spätere Forschung schon dadurch, daß sie die Behandlung der Vorzeit einer besonderen Disziplin überließ, die genetische Bedeu36
tung der abendländischen Vorzeit und ihre Stellung im historischen System so wenig wie die Geschichtsphilosophie des früheren 19. Jahrhunderts geahnt. Für die beschreibende, immer fragmentarische und höchstens die von Fall zu Fall gegebenen Kausalzusammenhänge beachtende Geschichtsforschung brauchte die Ausschaltung der Vorzeit keine schlimmen Folgen zu haben; um so verhängnisvoller muß sich diese Unterlassungssünde bei jedem Versuch einer umfassenden Geschichtsdeutung und -gliederung auswirken. Die Mängel in Spenglers überragender Geschichtskonzeption und vor allem in seinen vergleichenden kulturgeschichtlichen Tabellen erklären sich wesentlich daraus, daß auch er die wahrhaft grundlegende Bedeutung der Vorzeit für die abendländische Kulturgeschichte nicht erkannt hat, indem er diese vielmehr um das Jahr 1000 mit dem frühen Mittelalter anfängen läßt. Und doch hätte gerade Spenglers klare Unterscheidung verschiedener Kulturorganismen sowie seine entschiedene Ablehnung der üblichen sinnlosen Gliederung in Antike, Mittelalter und Neuzeit auf die richtige Spur führen können. Damit nähern wir uns dem wichtigsten Problem historischer Gliederung. Schon bei Hegel findet sich der Begriff „Abendland" im modernen Sinn als eine Kultureinheit, der er einen eigenen Entwicklungsrhythmus zuerkennt und als die „germanische" scharf von der orientalischen und der griechisch-römischen Antike abtrennt. Spengler spricht glücklich unterscheidend von einer morgenländischen, einer mittelländischen und einer abendländischen Kultur. Ganz gleich, zu welcher Bezeichnung wir greifen, erkennen wir erstens, daß es diesseits der Alpen eine gemein alteuropäische, vorzeitliche, bäuerlich-primitive Kultur gab, die sich als solche spezifisch und unverwechselbar von den z. T. gleichzeitigen Hochkulturen des Orients und der Antike unterscheidet. Und zweitens, daß wir in dieser bis zum Mittelalter sich erstreckenden Vorzeit eben die erste Entwicklungsstufe der später über die ganze Welt hinausgreifenden abendländischen Kultur vor uns haben. Wenn wir in dieser Untersuchung einen so unverhältnismäßig breiten Platz den urzeitlichen und vorzeitlichen Entwick37
lungserscheinungen einräumten, geschah das nicht nur, weil schon sie mit vorbildlicher Klarheit die komplizierte atmende Bewegung in der Geschichte veranschaulichen, sondern weil wir erst mit dem Ersatz der bloß chronologischen Gliederung Antike—Mittelalter—Neuzeit durch den organischen Ablauf Vorzeit—Mittelalter—Neuzeit die Gewähr haben, es mit der historischen Bewegung innerhalb einer und der gleichen Kultursubstanz, mit dem Räderwerk eines und desselben Uhrwerks zu tun zu haben. Spenglers Vtrdienst war nicht zuletzt, daß er — wie Hegel — die einzelnen Uhrwerke des Orients, der Antike und des Abendlandes deutlich auseinanderhielt. Sein Fehler war, daß er — wie schon Hegel — durch seine Nichtberücksichtigung unserer gesamten Vorzeit das sehr präzis funktionierende Räderwerk der abendländischen Uhr nicht erkannte. Diese ganze, grundlegend wichtige Frage historischer Gliederung und Feldbereinigung ist auch dadurch zu klären, daß wir schärfer zwischen „exogenen" und „endogenen" Entwicklungserscheinungen unterscheiden, d. h. zwischen einer Wandlung der Kulturgestalt durch Übertragung von außen und durch echte Entwicklung von innen heraus. Auch wenn bei der Geschichtsdeutung die Berücksichtigung der äußeren oder der inneren Wirkungsfaktoren gleich bedeutsam sein sollte, bleibt es jedenfalls ein methodischer Fehler, teils exogene und teils endogene EntwicklungsTolgen miteinander zu verketten. Eben das geschieht aber, wenn wir auf Grund der üblichen Gliederung Antike—Mittelalter—Neuzeit die gesamte griechisch-römische und womöglich noch orientalische Antike mit zwei Teilstufen der abendländischen Kulturgeschichte zu einer höheren Einheit verknüpfen. Erst mit der Unterscheidung der abendländischen Epochen Vorzeit, Mittelalter und Neuzeit erhalten wir eine reine endogene Entwicklungsreihe, ein homogenes Entwicklungsfeld als Gegenstand der Untersuchung. Hier liegt auch der Grund, weshalb der Nachweis einer Wiederholung des historischen Ablaufs in der Individualentwicklung zu keinem annehmbaren Ergebnis führen konnte, solange man, wie das seit der Romantik regelmäßig geschah, die 38
historische Parallele zu der Kindheit des einzelnen im alten Orient und in der Antike vermutete statt in unserer eigenen Vorzeit. Um möglichen Mißverständnissen entgegenzutreten, muß ausdrücklich betont werden, daß die Einschaltung unserer Vorzeit an Stelle der Antike aus rein methodologischen Gründen erfolgt und nicht das geringste mit einer rassisch oder gar national bedingten Selbstüberheblichkeit und knabenhaften Verherrlichung des alten Germanentums zu tun hat. Daß unsere frühen Ahnen noch während der Blüte des Hellenen- und Römertums auf der Stufe primitiver Naturverbundenheit verharrten, stimmt schon eher zur Selbstbescheidung, und insofern schon jede historische Stufung eine Wertung in sich enthält, kann das christliche Mittelalter nur als die höhere Geistesstufe gegenüber der Vorzeit verstanden werden. Dagegen ist es deutlich, daß wir mit der entschiedenen Betonung der endogenen Entwicklungskräfte dem abendländischen Kulturorganismus eine viel größere Selbständigkeit und Persönlichkeit zusichern als immer dann geschieht, wenn der'Forscher die epochalen Wendepunkte etwa zum Mittelalter oder später zur Neuzeit aus Einflüssen und Übertragungen aus dem Süden oder Osten erklärt. Selbstverständlich ist die Tatsache der Übertragung, sei es bei der Wende zum kirchlichen Christentum oder zum Renaissance-Humanismus, als solche nicht in Abrede zu stellen. Wie die schöpferische Persönlichkeit des einzelnen sich nicht in eigensinniger Verschließung nach außen, sondern in der fortgesetzten Assimilation fremden Gedankengutes manifestiert, so hat auch das Abendland dauernd — und nachweisbar schon längst vor dem Mittelalter! — auslesend, aufnehmend und verarbeitend auf den aus dem Süden und Osten zufließenden Kultur- und Kunststoff reagiert. Aber tvir dürfen nicht den äußeren Anlaß zu dem Entwicklungsprozeß mit dessen inneren Ursache verwechseln, und die Art und Weise, w i e das Abendland auf die alten Hochkulturen reagierte, welche Elemente es als geeignete geistige Nahrung aufgriff und zum Aufbau des eigenen Organismus verwendete, wird letztlich durch die eigene Bereit39
schaft bedingt und durch den inneren Zustand im Augenblick der Begegnung. Unter diesem Gesichtspunkt sind es nicht die zufällig wirksamen fremden Einflüsse, die den Wandel der Kulturgestalt erklären, sondern der zielstrebig bedingte Entwicklungsprozeß, der von Fall zu Fall die Möglichkeit fremder Einflüsse erklärt. .
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Bei Beantwortung der Frage, ob die Abfolge der großen Epochen Vorzeit—Mittelalter—Neuzeit in der Tat einen periodischen Umlauf darstellt, haben wir den Blick auf ein anderes und größeres Zifferblatt der historischen Uhr zu richten als vorher bei der Beurteilung der Vorzeit. Dabei wechselt notwendigerweise unsere Deutung der vorzeitlichen Kulturgestalt: jetzt interessiert nicht mehr, daß diese in der Bronzezeit mittewendig wird, um zuletzt wiederum von dieser Mitte abzufallen; sondern die Frage ist, ob nicht sämtliche Gliedstufen der Vorzeit sich zu einer höher geordneten peripher-gebundenen Geistesepoche zusammenschließen, von der sich das Mittelalter als die entsprechende zweite Stufe zentral-geistiger Besinnung abhebt. Obwohl diese Frage schon durch die bloße Gegenüberstellung der beiden Epochen bejaht werden dürfte, mögen ein paar Beispiele näher zeigen, wie eindeutig sich die Beziehung zwischen Vorzeit und Mittelalter gestaltet. Bei der unlösbaren Verknüpfung der Begriffe Mittelalter, Kirche und Christentum liegt es nahe, vom neuen, vom christlichen Gottesbegriff auszugehen. Danach ist Gott das „absolut", das „transzendent" Geistige, also ein von der Welt geschiedenes, von aller sinnlichen Erfahrung abgelöstes und diese überschreitendes Prinzip. Dagegen blieb die vorzeitliche Naturreligion als solche naturverbunden; auch in der höchsten Gestalt des Sonnen-Erdkults blieb das religiöse Bewußtsein so unmittelbar der sinnlichen Naturerfahrung verhaftet, daß eine „Darstellung" der höchsten göttlichen Gewalten gar nicht in Frage kam. Geht später der Grundgedanke der kosmischen Ehe, der Kerngedanke der bäuerlichen Naturreligion verloren und verlieren die vielen, immer stärker differenzierten und 40
individualisierten Naturgottheiten ihren Naturgrund unter den Füßen, so ist auch diese an sich bedeutsame Auflösung der reinen Naturreligion noch keineswegs als eine Wendung zu der christlichen, reinen Geistesreligion zu verstehen. Ohne Berücksichtigung der nordischen Vorzeit bestimmte Hegel die beiden ersten Stufen der „Weltgeschichte" dahin, daß die erste das „Versenktsein des Geistes in die Natürlichkeit", die zweite „das Heraustreten desselben in das Bewußtsein seiner Freiheit" darstelle. Ein Seitenblick auf den in der griechischen Philosophie schon bei den Vorsokratikern (Xenophanes) ausgebildeten rein geistigen Gottesbegriff zeigt, wie viel klarer die beiden ersten Stufen des historischen Prozesses in den abendländischen Epochen Vorzeit und Mittelalter als in der Abfolge Antike—Mittelalter hervortreten. Weitere Beispiele für die radikale Wende vom periphernaturhaft zum zentral-geistig gebundenen Zustand der historischen Bewegung liegen zum Greifen nahe. Wenn wir von einer Kultur des vorzeitlichen „Bauerntums" reden, ist damit gesagt, daß der Bauer, dessen Lebenskreis sich in engster, schöpferischer Verbundenheit mit der Natur schließt, zugleich den reinen Kulturtypus urd vollgültigen Kulturträger unserer Vorzeit darstellt. Auch im spätgermanischen Altertum verwandelte sich nicht jeder Bauer in einen abenteuerlichen Krieger, denn sonst gäbe es nicht die zahllosen Beispiele für das Fortleben der vorzeitlichen Naturreligion im heutigen Bauerntum. Spaltet sich aber zuletzt von der wohl nach wie vor tragenden bäuerlichen Kulturschicht eine dünne kriegerische Herrenschicht ab, oder begeben ganze Stämme sich auf die Wanderschaft, so mag in dieser Loslösung aus der ursprünglichen Naturverbundenheit ein bedeutsames Anzeichen für die nahe Geisteswende zu erblicken sein. Aber auch dann ist der neue Typus des naturentwurzelten und ambulanten, rühm- und beutelustigen Kriegertums immer noch grundverschieden von dem neuen, mittelalterlichen Menschen, so wie auch die in heldenhafter Selbstzucht und Askese gewonnene, aber ziel- und richtungslose Freiheit nicht das geringste mit der weltflüchtigen Askese des Mönchtums und mit der 41
im Gottesbewußtsein ruhenden Freiheit des Christenmenschen zu tun hat. Daß der Gedanke eines nationalen Staates unseren frühen Ahnen unbekannt blieb, erklärt sich wiederum aus der peripher-gebundenen Struktur der Epoche. Das streng regulierte soziale Bewußtsein beschränkte sich auf die durch Blutsbande bedingte Sippengemeinschaft, darüber hinaus auf die in der Kult- und Thingordnung gleichfalls konkret gegebene, sinnfällig faßbare Stammesgemeinschaft; dagegen überschritt die Idee eines nationalen Staates, der sich über völlig unbekannte Landstriche und niemals gesehene Menschen erstreckt, die sinnliche Erfahrung und damit das vorzeitliche Sozialbewußtsein. Wenn dagegen auch dem Mittelalter der nationale Staatsgedanke widersprach und namentlich das erste deutsche Kaisertum keineswegs national bedingt war, so erklärt sich das aus der polar entgegengesetzten, zentralgeistigen Struktur des Mittelalters: als Nachfolge des römischen Imperiums und weltliche Ergänzung des Papsttums beanspruchte das mittelalterliche Kaisertum eine universale Herrschaft über die gesamte Christenheit, der gegenüber der nationale Gedanke zunächst als eine sinnlose Beschränkung erscheinen mußte. Aus der bleibenden sinnfälligen Gebundenheit der vorzeitlichen Kultur ist gleichfalls der „prähistorische" Charakter der Epoche zu verstehen, das Fehlen einer Geschichtsschreibung, aber auch die Unbekanntschaft mit der Schrift überhaupt. Daß — nach Hegel — in der „Vorgeschichte" keine geistige Bewegung, keine Entwicklung und damit keine Geschichte stattgefunden habe, kann heute nur noch als ein grober Irrtum bezeichnet werden. Eine ganz andere Frage ist aber, ob das unablässige geistige Werden, das das komplizierte periodische System der Vorzeit bedingt, auch irgendwie zum Bewußtsein kam, und ob der Geist unserer frühen Ahnen nicht vielmehr deshalb ahistorisch geartet war, weil er dem sinnfällig erlebbaren Augenblick, der konkreten Situation des Hier und Jetzt verhaftet blieb. Schon aus diesem Grunde fehlte eine Geschichtsschreibung, aber auch die Kenntnis einer ton- und bildlosen, sym42
bolischen Lautschrift, die als solche viel zu stark von der Wirklichkeit abstrahierte, um dem konkreten Bedürfnis entsprechen zu können. Deshalb galt nur die lebendige, mündliche Überlieferung — das „Singen und Sagen" — , während die auf den Kult bezogenen Felszeichnungen der schwedischen Bronzezeit eine Art Bilderschrift darstellen. Sehr bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, daß die erst spät — im 3. Jahrhundert n. Chr. — aus fremden Alphabeten entstandene Runenschrift eine reine Epigraphik darstellt, d. h. an bestimmte, konkrete Gegenstände wie Spangen, Waffen, Denksteine gebunden bleibt, über die sie eine Aussage machen, z. B. von wem sie angefertigt oder für wen sie errichtet wurden. Einen völlig anderen Sinn erfüllt die erst seit dem Mittelalter und durch die Kirche verbreitete Schrift. Im Gegensatz zu den Runeninschriften, die einem bestimmten Gegenstand dienten, war das Kirchenbuch ein Gegenstand, der selbstlos einer bestimmten Schrift, der Heiligen Schrift, diente: der Festlegung und Verbreitung einer aller Wirklichkeitserfahrung entrückten, aus dem Jenseits offenbarten und diktierten absoluten Wahrheit. Und während die Runeninschriften in den vertrauten Volkssprachen abgefaßt wurden, bediente die Schrift sich des Kirchenlateins, der „Buchsprache" — wie es im alten Norden hieß —, als der geheiligten, gleichsam, aus dem Jenseits tönenden Sprache Gottes. Nach dieser Deutung handelte es sich nicht um eine „Überfremdung" aus dem Süden, nicht um ein von außen herantretendes Fremdes, das die mittelalterliche Geisteswende hervorrief, sondern umgekehrt: nach dem bereits erfolgten Verlust der in der Vorzeit möglichen inneren Bindungen griff die erwachte transzendentale Sehnsucht aus innerstem Bedürfnis nach dem Fernen und Fremden, weil dieses von vornherein die Würde des absolut, des jenseitig Geistigen zu beanspruchen schien. So wurde jenseits der Alpen das ferne Rom als die herrschende geistige Mitte der universalen Christengemeinschaft anerkannt, und so erschien auf den mittelalterlichen Radkarten das noch fernere Jerusalem als die heilige Mitte des Weltalls. Wie tief innerlich diese historischen Erscheinungen begründet sind, zeigt ihre 43
merkwürdige Wiederholung in der Individualentwicklung. Denn auch dort erfolgt nach dem Abfall des Kindes von der geheiligten Muttersphäre und nach den kritischen Pubertätsjahren regelmäßig die Begegnung mit dem großen Fremden, der in das Leben des Jugendlichen tritt und mit einer absolut gültigen, geistigen Autorität bekleidet wird. Wir greifen aus der Fülle der Entwicklungserscheinungen nur noch die Wandlung der Kunst heraus, weil diese besonders deutlich zeigt, wie unsere Beurteilung eines historischen Phänomens wechselt, je nachdem wir es innerhalb eines unter- oder übergeordneten Entwicklungsfeldes betrachten. Es sei nochmals daran erinnert, wie beispielhaft die krummlinige Ornamentik der nordischen Bronzezeit — des „vorzeitlichen Mittelalters!" — den Durchbruch eines neuen, irrationalen Mittelpunktbewußtseins veranschaulichte. Aber dieser Prozeß vollzog sich eben innerhalb des ornamentalen Denkens und einer Zierkunst, die den Gegenständen des täglichen Bedarfs äußerlich wie innerlich verbunden blieb. Das hätte an sich nichts zu besagen, weil es auch später und bis in die Gegenwart - eine Geräteornamentik gegeben hat; aber entscheidend ist, daß nur in der Vorzeit — oder nur noch in der Bauernkunst — die tiefsten und feinsten Regungen der künstlerischen Phantasie durch die Form des Zweckgeräts ausgelöst wurden, nur dort die künstlerische Verherrlichung des Zweckgedankens die Führerschaft in der Rangordnung der Kunstgattungen bestimmt. Hier zeigt sich der epochale Unterschied zum Mittelalter, in dem durchaus nicht die Geräteornamentik, sondern die zweckentbundene kirchliche Baukunst, die Kirche als „die bauende Mutter aller Künste" (Pinder) die Führerschaft übernimmt und erst im Spätmittelalter allmählich wieder verliert. Unter besonderer Berücksichtigung der Baukunst stellt sich noch klarer heraus, daß eine Kunstschöpfung, die im Umlauf der vorzeitlichen Geistesbewegung nur als eine ausgeprägte zentralgeistige B-Form beurteilt werden kann, sofort ihren peripher-gebundenen A-Charakter verrät, wenn wir sie in dem umfassenden epochalen Zusammenhang Vorzeit—Mittelalter—Neuzeit betrachten. Bezeichnen wir das steinzeitliche 44
Hügel- oder Steingrab, den Kultplatz der Bronzezeit und den für eine ruhmwürdige Persönlichkeit errichteten Denkstein der Eisenzeit als die führenden Bautypen der drei Vorzeitstufen, so erscheint uns die oft gigantische und vielfach in sich gegliederte Kultstätte der Stonehengegruppe nicht nur als der absolute Höhepunkt der vorzeitlichen Baukunst, sondern auch als das eindrucksvolle Bekenntnis zu dem zentralgeistigen, weiblich-chthonischen Prinzip in scharfer Abgrenzung von der äußeren Umwelt, aber in polarer Beziehung zu dem von außen eindringenden männlich-astralen Element. Es ist wahrscheinlich, daß diese vorzeitlichen Kultstätten als Sammelpunkt der Gemeinschaft, Thingstätte oder Marktplatz einen praktischen Zweck erfüllten; abgesehen davon aber bezeugen auch diese gewaltigen Sakralbauten unserer Vorzeit ihren bleibend peripher-gebundenen, und zwar naturverbundenen Charakter dadurch, daß sie — dem Naturkult entsprechend — eine o f f e n e Platzgestaltung waren und in diesem Sinn nur einen umhegten Ausschnitt aus der natürlichen Landschaft darstellten. Gegenüber dieser offenen Raumgestaltung und -gliederung, die sich auch bei den heiligen Hainen, den Kultwegen, Kultbergen, Labyrinthen u. dgl. als ein Bauen an und in der Natur erweist, war der christliche Sakralbau ein allseitig in sich beschlossenes, von der natürlichen Umwelt gänzlich geschiedenes und verschiedenes, nur von dem absoluten, göttlichen Geist erfülltes Gehäuse: Sinnbild der neu erschlossenen geistigen Mitte, des nur bei sich selbst verweilenden und in sich selbst ruhenden Geistes, der sich im Bewußtsein absoluter Freiheit aller peripheren Wirklichkeitserfahrung gegenüberstellt. Für die beschreibende Kunstforschung ist die mittelalterliche Kirche eine mit dem Christentum eingeführte, schon in der Antike vorgebildete Bauform. Nach dem organischen Entwicklungsbegriff ist die mittelalterliche Kathedrale das ragende Sinnbild der nach der Vorzeit vollzogenen geistigen Selbsteinkehr: des „Heraustretens des Geistes aus der Natürlichkeit in das Bewußtsein seiner Freiheit". Danach sehen wir: auf dem kleineren Zifferblatt Steinzeit—Bronzezeit—Eisenzeit erscheint Stonehenge als eine 45
reine zentral-geistige B-Form. Auf dem großen Zifferblatt Vorzeit—Mittelalter—Neuzeit stellt sich die gleiche Bauform als eine typische peripher-gebundene A-Form heraus. Gleichzeitig wird nun verständlich, weshalb wir die Bronzezeit als das „Mittelalter unserer Vorzeit" bezeichneten, denn innerhalb der Vorzeit gebärdet sich die Bronzezeit als die mittlere und mitteständige Geistesstufe ähnlich wie das Mittelalter in dem epochalen Umlauf Vorzeit—Mittelalter— Neuzeit. Daß es sich dabei nicht um eine müßige Begriffskonstruktion, sondern um eine empirisch nachweisbare Stufenverwandtschaft handelt, zeigt die für die Bronzezeit bezeugte höchste Blüte der reinen Naturreligion, des umfassenden naturreligiösen Begriffssystems, der gewaltigen Sakralbauten und großen Kultverbände. Unter dem gleichen Gesichtspunkt bildet die germanische Eisenzeit trotz aller epochalen Unterschiede die vorzeitliche Parallele zu der historischen Neuzeit. Die mannigfaltigen Desintegrationserscheinungen während der späten Vorzeit, das Auseinander- und Gegeneinandertreten der zuvor zusammengeballten Kräfte, die Aufspaltung des urgermanischen Kulturganzen in die vielen Stämme und Stammeskönigtümer, der fortschreitende Individualismus und die für die späte Vorzeit bezeugte religiöse Skepsis, dieser ganze Abfall von der inneren Tiefenachse ist schon ein frühes Vorspiel von dem, was sich seit dem Zerfall der mittelalterlichen Kulturganzheit zugetragen hat. Auf solche stufenverwandtschaftliche Beziehungen, die sich als ein dichtes Netz aus der Periodizität der historisch geistigen Bewegung ergeben, werden wir noch öfters zurückkommen müssen. Man wird die Frage, ob die heilige geistige Mitte, der das Mittelalter sich zuwandte, als weiblich empfunden wurde, zunächst verneinen wollen. Auch wenn der christliche Gottesgedanke über jeden geschlechtlichen Gegensatz und über jede in dieser Welt mögliche Gegensätzlichkeit erhaben war, bleibt doch der Begriff des Gottvaters und seines Gehäuses, des domus domini, unmißverständlich. Der Menschheit offenbart hat sich Gott in der männlichen Gestalt des Erlösers; das Kreuz — als Sinnbild der erhöhten geistigen Mitte! — trägt seinen Körper, und in der göttlichen Trinität ist kein 46
Platz für eine weibliche Gestalt. Und dennoch, es gibt auch andere unmißverständliche Tatsachen. D a s gleiche Kirchengebäude, das als das Haus des Herrn galt, war Sitz und Sinnbild der Ecclesia, die als eine Frau dargestellt wurde und als die Mutter Kirche die Gemeinschaft der Gläubigen in ihrem Schoß barg. Und seit dem Konzil von Epbesos (431) wurde Maria ausdrücklich als die Theotokos, die Gottesgebärerin, bezeichnet und verehrt, um von da an vielfach als die herrschende Mitte der Apsismosaiken zu erscheinen. Übrigens haben bei der Bekehrung der Germanen zum Christentum Frauen bekanntlich eine bedeutsame Rolle gespielt, während später Dante nur eine Frau, seine Beatrice, dazu auserwählte, ihn durch die höchsten Sphären des Paradieses zu führen. Bevor wir näher auf diese merkwürdigen Widersprüche eingehen, wollen wir die Antithese Vorzeit—Mittelalter noch in einem besonderen Punkt ergänzen, nämlich in der Bewertung des Körpers und der spezifisch männlich-aktiven körperlichen Betätigung. D a es sich jetzt um den generellen Gegensatz zwischen Vorzeit und Mittelalter handelt, wäre es nicht richtig, nur den späten Typus des kriegerischen Helden oder gar des germanischen Berserkers dem des christlichen Missionars und Priesters gegenüberzustellen. Immerhin zeigte sich die einseitige Bewertung des peripher beweglichen, männlich aktiven Prinzips nicht nur in der Verherrlichung von Krieg und Kampf, sondern zu den Ruhmestiteln des Mannes gehörte überhaupt die körperliche K r a f t und Geschicklichkeit in Spiel und Sport, die — nachweisbar im Zusammenhang mit dem Kult — von jung und alt, von Bauern, Königen und Göttern, im Diesseits und im Jenseits geübt wurden. Allgemein wichtiger ist bei der Beurteilung der vorzeitlichen Bauernkultur die einzigartige Bewertung der produktiven körperlichen Arbeit, die z. B. beim Pflugbau in den Bereich des Kults erhoben werden konnte; es ist bekannt, daß die Bedenken der heidnischen Bauern gegen die Annahme des Christentums nicht zuletzt auf der Zumutung beruhten, einen bestimmten Tag, den Sonntag, ausgerechnet durch Einstellung der Arbeit zu heiligen. Dagegen war für einen Thomas vonAquino die Arbeit so bedeutungs47
los wie das Essen und Trinken, und noch Luther rechnete neben dem Fasten und Wachen auch das Arbeiten zu den Werken, die den innerlichen Menschen nicht berühren. Schon aus solchen Beobachtungen geht hervor, daß mit der mittelalterlichen Hinwendung zu einer abstrakt-geistigen Mitte der Akzent logischerweise von dem peripher-männlichen, aktiv-beweglichen auf das zentral-beharrende, passiv-weibliche Prinzip verschoben wurde. Während der heidnische Germane, seine Waffen mit ins Grab bekam und auch im Jenseits seine kriegerische Tätigkeit fortsetzte, entsteht im frühen Christentum die Darstellung der menschlichen Seele in Gestalt einer Frau mit ausgebreiteten Händen, d. h. in der Haltung der Orante, die so oft auch der Mutter Gottes oder dem Bild der triumphierenden Kirche zugedacht wurde. In der später üblichen Gebetshaltung des Knienden mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf wird jede aktive Beziehung zur Umwelt verneint; in seiner Selbsteinkehr kehrt der Gläubige gleichsam wieder zu seinem pränatalen, im Mutterleib geborgenen Zustand zurück. Und mögen auch die Vertreter der Ecclesia militans im germanischen Norden streithafter Natur gewesen sein, so konnte die neue Lehre zunächst schon deshalb als befremdend und bedenklich erscheinen, weil das betont weibliche Gewand des christlichen Priesters und Mönches jede männliche Aktivität verleugnete. Es ist nicht nötig, sich allzu weit in das Labyrinth der theologischen Spekulation, der volkstümlichen Vorstellungen und der oft heretischen alchymischen Lehren zu begeben, um sich zu vergegenwärtigen, wie das Mittelalter, seiner eigenen zentralgeistigen Struktur gemäß, in auffallendem Widerspruch zum Wortlaut der Evangelien immer wieder und in immer stärkerem Maße zu einer Heiligung, wenn nicht Vergöttlichung des weiblichen Prinzips schreitet. Obwohl es sich hier nicht um die Entwicklungserscheinungen im antiken Christentum handelt, ist doch daran zu erinnern, daß schon die oft reichlich abstruse christliche Gnosis den göttlichen Personen wiederholt eine weibliche Gestalt zuordnet und die geschlechtliche Antithese in den Gedanken der Schöpfung und der Erlösung hineinträgt. So ist in der Lehre des 48
Valentinus, des bedeutendsten gnostischen Lehrers im frühen 2. Jahrhundert, eine ganze Reihe von Paarungen vorgesehen, bis die Erlösung dadurch vorbereitet wird, daß der Bythos (der Abgrund, die Tiefe) mit der Sophia (Weisheit) den Christos erzeugt, der sich mit dem weiblich gedachten Heiligen Geist vermählt. Aus beider Vereinigung geht der auf Erden erscheinende Jesus hervor. In der Lehre der Ophiten erscheint die Sophia auch als die Schwester und zugleich als die Braut Christi. Während Paulus die Maria überhaupt nicht erwähnt, findet sich schon bei ihm die später geläufige Vorstellung von der geheimnisvollen Ehe zwischen Christus und der Kirche. Nach dem Konzil von Ephesos setz'e sich aber die Verehrung der Mutter Gottes durch, und im Mittelalter ist es die nur in den ältesten Apokryphen ausführlicher erwähnte, konkret weibliche Gestalt der Maria, die über die abstrakt begriffliche Ecclesia oder Sophia und die zahlreichen weiblichen Heiligen oder Personifikationen hinaus das tief innere Bedürfnis nach einer weiblichen Ausgestaltung der zentralgeistigen Symbolik erfüllt: als Königin der Heiligen, Königin des Himmels, als die mater und zugleich die sponsa Dei und als die zweite Eva zu Christus, dem zweiten Adam. In der Krönung Mariä findet der mystische Ehebund seine höchste Bestätigung: ,,Es ist der Augenblick, da nach langer Trennung der himmlische Bräutigam seine Braut heimführt zu nie endender Vereinigung und ihr die Krone der unlösbaren Verbindung aufs Haupt setzt" (Sauer). Das mögen kühne theologisch-spekulative Gedanken scheinen, aber diese entsprechen zugleich so sehr dem volkstümlich religiösen Empfinden, daß wir zweifellos von einer allgemeinen Ergänzung der christlichen Gottheit durch die weibliche Gestalt der Maria reden müssen. So klagt Luther in dem wieder spezifisch männlichen Zeitalter der Reformation: ,,aber nun findet man wohl etliche, die bei ihr (Maria) wie bei einem Gott Hilfe und Trost suchen, daß ich besorge, es sei Abgötterei jetzt mehr in der Welt, denn je gewesen i s t " (Luther in seinem Magnifikat). Was bei diesen Entwicklungserscheinungen vor allem interessiert, ist eben die in den christlichen Gottesbegriff hineingelegte geschlechtliche Polarität und die zentrale Stellung, 4
Scheltema, Geistige Mitte
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die dabei der göttlich-weiblichen Gestalt zuerkannt wurde. Wiederholt wurde dabei auf ältere, vorchristliche Gedanken zurückgegriffen. Als Anregung zu dem mystischen Brautverhältnis gilt das Hohelied Salomonis, Hochzeitslieder, die nachträglich zu der Beziehung zwischen Christus und der Gemeinde oder der Seele umgedeutet wurden. Wie gesagt, wurde in der Marialogie des Mittelalters Christus auch als der zweite Adam, Maria als die zweite Eva gedeutet. Bezeichnenderweise tritt aber auch die solar-tellurische Gegensätzlichkeit hinzu: nicht nur im frühen Christentum wurde Christus vielfach mit der Sonne verglichen oder sogar verwechselt, auch im nordischen Mittelalter galt die Sonne als Sinnbild Christi. Ihm gegenüber wurde der Mond als Sinnbild der Kirche sowie der Maria aufgefaßt, die aber durch Augustin als die jungfräuliche, noch nicht durch den Regen befruchtete Ackererde — illa terra virgo nondum pluviis rigata — bezeichnet worden war. Hier wird verständlich, wie leicht sich der Anschluß an die Symbolik gerade auch der alten nordischen Naturreligion vollzog, und wie unlösbar beide Symbolgruppen ineinanderfließen mußten. Wohl am auffallendsten geschieht das bei dem Verkündigungsmotiv: Maria sitzt in einem umhegten Gärtleinoder in ihrem Kämmerlein, der Engel Gabriel tritt ein und spricht den Gruß, während der von Gottvater gesandte Heilige Geist in Gestalt der Taube auf goldenem Lichtstrahl in den jungfräulichen Bezirk eindringt. Ohne noch die Tatsache zu berücksichtigen, daß auch der Gott Freyr einen Diener, den als Sonnenstrahl gedeuteten Skirnir, zu der Gerd schickte, oder daß der Vogel ein bekanntes Sonnensymbol in der Vorzeit war, kommt das Bild des sicher umhegten, weiblichchthonischen Tabubezirkes, in den von außen das männlichastrale Element eindringt, uns so geläufig vor, daß wir von einer neuen, vergeistigten Wiederholung des uralten Dornröschenmotivs, der auf der Stonehenge-Kultbühne vollzogenen kosmischen Ehe reden dürfen. Wie der Gedanke der mystischen Ehe Christi wird hortus clausus oder conclusus der Verkündigung Hohelied zurückgeführt, aber die Übereinstimmung Grundgedanken der nordischen Naturreligion ist 50
auch der auf das mit dem so groß,
daß auch nach dort verbindende Fäden mit Sicherheit anzunehmen sind. Das heißt selbstverständlich nicht, daß das biblische und christliche Verkündigungsmotiv aus dem nordischen Stonehengegedanken abgeleitet werden könnte. Die Frage ist aber, ob die im Volksglauben lebendig gebliebene Symbolik der Naturreligioii nicht die Verbreitung des Madonnenkults wesentlich erleichtert, dazu aber auch die Bildung zahlloser vorzeitlich-mittelalterlicher, heidnischchristlicher Mischformen begünstigt hat. Es ist bekannt, wie die Kirche die alten Naturfeste, Kultstätten und Kultbräuche übernahm und mit einem christlichen Sinn erfüllte, um sie unschädlich zu machen. Auch dadurch wurde es möglich, daß so viele Kirchenheilige wie die Barbara, Luzia, Notburga, dazu der hl. Georg und Michael, Leonhard, Martin, Nikolaus u. a. nachträglich die Funktion germanischer Naturgottheiten, d. h. letzten Endes die des früheren kosmischen Brautpaares übernehmen. Unter diesen Umständen war es geradezu unausbleiblich, daß im ländlichen Volksglauben namentlich die Mutter Gottes an die Stelle der Mutter Erde trat und als Schützerin des Wachstums, der Ernte, der Kinder, des Spinnens und Webens, oder durch ihre Namengebung an Kräuter und Bäume, Quellen und Brunnen mit ihr verbunden bleibt. Wie das Marienbild des Fronleichnamsumzuges wurde schon die Nerthus durch die Fluren getragen, um Fruchtbarkeit zu spenden. Das kegeloder dreieckförmige Schema, zu dem besonders das Gnadenbild unserer Wallfahrtsorte so gerne reduziert wird, ist als weiblich-chthonisches Zentralsymbol seit der nordischen Bronzezeit nachweisbar und lebt von dort noch vielfach in den bekannten Varianten der Weihnachtspyramide weiter. Inzwischen gilt unser Interesse hier nicht dieser an sich höchst merkwürdigen Zurückschaltung auf die Vorzeit und nicht den nur im Bauerntum möglichen Formen eines vorzeitlich-mittelalterlichen Synkretismus. Wesentlich für die historische Betrachtung ist vielmehr die wahrhaft „epochale" Wandlung, die die zentral-weibliche Gestalt der Vorzeit im Mittelalter erfährt: in der Maria, der zarten, jungfräulichen, christlichen Gottesmutter wird die fruchtgebärende, liebesfrohe, robuste Gestalt der Nerthus-Freya4*
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Gerd-Brünhild über die Stufe vorzeitlicher Naturverbundenheit hinaus in einer rein geistigen Sphäre aufgehoben.
Gotik
Was hier über die christliche Heiligung des weiblich-geistigen Prinzips bemerkt wurde, bezieht sich auf die gesamte Epoche des Mittelalters und nicht auf dessen einzelne Entwicklungsstufen. Bei der Erhöhung der Sophia in der christlichen Gnosis, dem Paulinischen Gedanken des mystischen Brautverhältnisses zwischen Christus und der Ecclesia, der Heiligung der Maria seit dem 4. Jahrhundert, handelt es sich sogar um altchristliche Vorstellungen, die durch die theologische Spekulation des gesamten abendländischen Mittelalters übernommen und ausgebaut wurden. Ein anderes Bild ergibt sich, wenn wir das Mittelalter nicht als umfassende Epoche auf die Vorzeit beziehen, sondern den historischen Pulsschlag innerhalb des Mittelalters verfolgen und fragen, ob dieses — ähnlich wie die Vorzeit — noch einmal in sich eine gut ausgeprägte zentralgeistige und spezifisch weiblich betonte Stufe enthält. In den dadurch bedingten Perioden des frühen, des hohen und des späten Mittelalters würde dann das hohe Mittelalter der mittleren Stufe der Vorzeit, d. h. der Bronzezeit, periodisch entsprechen, und wie dort ist es auch hier zweifellos die Wandlung der Kunstform, die am eindringlichsten den Prozeß geistiger Konzentration veranschaulicht: in der Vorzeit handelt es sich um die Wende von der geradlinigen zur kurvilinearen Ornamentik, im Mittelalter um den Übergang vom romani sehen zum gotischen Bausystem. Wir möchten indessen die kunsthistorische Beurteilung dieser Entwicklungserscheinungen noch einen Augenblick zurückstellen, um gleich auf das überhaupt treffendste historische Beispiel f ü r die Erhöhung der Frau hinzuweisen. Denn der bis zum religiösen Kult erhobene Dienst an der Frau, der ritterliche Frauendienst, entspricht zeitlich und geistig nicht dem frühen Mittelalter. 52
sondern der Frühgotik im späteren 12. und im 13. J a h r hundert. Vor dem späten nordischen Mittelalter im 15. Jahrhundert folgt aber noch im 14. das „mystische" Zeitalter, die höchst potenzierte zentralgeistige und am stärksten weiblich betonte Kulturstufe der gesamten abendländischen Geschichte. Zur Vergegenwärtigung dieses einzigartigen Phänomens genügen einige wenige Angaben. Die höfische Liebeslyrik der provinzialischen Dichtung findet ihre Blüte etwa 1 1 5 0 bis 1 2 5 0 . Der deutsche Minnesang ertönt gleichfalls seit dem späteren 12. Jahrhundert; Gottfried von Straßburgs Tristan und Isolde, das Hohelied der deutschen Minne, wurde kurz nach 1 2 0 0 gedichtet. Die neue weibliche Gestalt, die dieses Zeitalter des Frauendienstes und Minnesangs beherrscht, ist die „Frau Minne". Der neue Tanz, der sich neben den alten, kollektiven Reigentänzen durchsetzt und im Norden zunächst als lächerlich abgelehnt wurde, war der Liebestanz und Paartanz als spontaner Ausdruck des persönlichen Liebesgefühls. So wie die Liebeslyrik die ganze Skala von einer derbsinnlichen Erotik bis zum rein geistigen Eros durchläuft, zeigt die Frau Minne Züge, die sowohl an die Erdenmutter wie an die Gottesmutter, an die Frau Venus — wie sie jetzt heißt — , wie an die Jungfrau Maria erinnern. Wenn man bedenkt, daß auf dem kleinen Zifferblatt der Vorzeit und auf dem des Mittelalters die beiden mittleren Stufen, Bronzezeit und Gotik, unmittelbar strukturverwandt sind, so wird verständlich, weshalb so viele Stoffe, die seit etwa zwei Jahrtausenden nur noch im ländlichen Volkstum aufbewahrt blieben, jetzt aus der Versenkung hervorgeholt werden und in einer freilich abgeänderten und eben mittelalterlichen Form wieder auferstehen. So verhält es sich mit der neuen Fassung der Brautfahrtsagen; in dem Schwan Lohengrins ist der altgeheiligte Sonnenvogel nur noch zu vermuten, und für Tannhäuser wird der weiblich-chthonische Bezirk zum Venusberg. Eigenartig ist vor allem das Schicksal des Brautfahrtmotivs im Nibelungenepos. Schon Siegfried-Sigurd war seit der Völkerwanderungszeit eine halb mythische, halb historische Gestalt geworden; durch die Einschaltung wei53
terer Personen, des Königs Gunther (Gunnar) und vor allem der Kriemhild (Gudrun), wird der alte naturreligiöse Gedanke nur noch zum Vorspiel endloser historischer und „moderner" seelischer Verwicklungen. Bei der Beurteilung der Gotik ist aber die religiös verklärte Form der Frauenverehrung wichtiger als die sehr bedingte Renaissance des vorzeitlichen Brautfahrtmotivs. Die geschlechtliche Differenzierung wird zu einem geistig vertieften und religiös bestätigten Eros, der vielleicht nur dem Jugendlichen, in dem diese Entwicklung sich so auffallend ähnlich wiederholt, ganz verständlich ist. In ihrer geistig sublimierten Form zeigt sich der Minnedienst als Gottesdienst, der Frauendienst als Mariendienst. Der zuvor abstrakt-begriffliche Gedanke der Ehe zwischen Christus und der Kirche, der Seele oder Maria findet erst seit der Gotik allgemeinere Verbreitung, zugleich aber eine konkretere, erotische Deutung. Der mystische Ehebund wiederholt sich im Brautverhältnis der Nonne zu Christus, ihrem Bräutigam; die Heilige Jungfrau wird zum Ziel und Zentrum des Frauendienstes, und in ihrem Namen vollbringt der Ritter und Kreuzfahrer seine Taten. In dieser zentralgeistigen Stufe des Mittelalters gelangt die Marienverehrung z. T. auch durch die Franziskaner zur höchsten Blüte, und zugleich wandelt sich die Mariengestalt: anstatt des zumeist würdigen, älteren oder nach dem Alter unbestimmbaren Typus, der wohl mehr den Begriff der Frau schlechthin veranschaulichte, gibt die Gotik die Maria gerne als junges, liebliches Mädchen, das sich aber schon dadurch als ein lebendiges, natürliches Geschöpf erweist, daß es in den nächsten Jahrhunderten Stufe um Stufe zu einer reifen Frau und Mutter aufwächst. Dabei kann die der Maria zugewiesene zentrale Stelle eindringlich betont werden: an den Kathedralen von Paris und Amiens steht die Maria vor dem mittleren Pfosten der Querschiffportale; in Reims, Straßburg, Freiburg i. Br. dagegen rückt sie zur herrschenden Mitte des westlichen Hauptportals auf, wo sie Christus vom Mittelpfeiler verdrängt. In England bezeugen namentlich die Lady Chapels, die Achsenkapellen der großen Kathedralen 54
{Bristol, Salisbury, Canterbury, St. Albans, Chichester, alle im 13. Jahrhundert) die zunehmende Marienverehrung. Bei der Betrachtung der Vorzeit wurde darauf hingewiesen, daß der Prozeß geistiger Bindung und Lösung sich noch einmal innerhalb der drei vorzeitlichen Perioden durchsetzt und die Wandlung der geradlinigen Ornamentik der Jungsteinzeit, der krummlinigen Ornamentik der Bronzezeit und der germanischen Tierornamentik bedingt. Obwohl die Unterscheidung gerade dieser untergeordneten Struktur- oder Stiltypen von ganz besonderem kunsthistorischem Interesse ist, durften wir nicht weiter auf diese Erscheinungen eingehen, weil es nur einer umfassenden kunsthistorischen Untersuchung möglich wäre, diesen kleinwelligen Rhythmus der historischen Bewegung von der Vorzeit bis zur Gegenwart systematisch aufzuzeigen. Zur Vereinfachung unserer Darstellung verzichten wir auch in bezug auf das Mittelalter auf den Nachweis der geistigen Dynamik innerhalb des frühen, des hohen und des späten Mittelalters, obwohl besonders eine klare Unterscheidung der Früh-, Hoch- und Spätromanik im frühen Mittelalter kunstbegrifflich äußerst wichtig ist und wesentlich zum Verständnis der Wende zur Gotik beitragen würde. So ist allein schon aus dem „gebundenen System" des hochromanischen Kirchsnbaus die zentralgeistige B-Stufe des frühen Mittelalters abzulesen, weil die Vierung, der Herzraum des Kirchengebäudes, als Mitte und Maß die gesamte, einheitlich durchgeführte Ordnung der Raumteile bedingt. Und so auch ist der zentrifugal gelöste, wildwuchernde Bauschmuck der Spätromanik von der organisch dem Bauwerk eingegliederten gotischen Baubildnerei ebenso verschieden, wie die für das ausgehende frühe Mittelalter so kennzeichnende derbe Erotik sich von dem neuen, geistigen Eros der Gotik unterscheidet. Indessen möchten wir hier nur noch auf eine eigenartige Tatsache hinweisen, die sich mit zwingender Logik aus der fortgesetzten Wiederholung des historischen Rhythmus in sich selbst ergibt. Erkennen wir nämlich in der großen epochalen Abfolge Vorzeit—Mittelalter—Neuzeit das Mittelalter und innerhalb des Mittelalters die Gotik als die zweite Stufe der geistigen 55
Dynamik, so ergibt sich, daß der zentralgeistige Gehalt des abendländischen Kulturgeistes in der zweiten und mittleren Stufe der Gotik dreifach potenziert erscheint, d. h. daß die Stufe tiefster zentralgeistiger Besinnung innerhalb der Gotik zu erkennen sein muß. Über die zeitliche und begriffliche Bestimmung dieser der Frühgotik folgenden Stufe geistiger Einkehr kann kein Zweifel bestehen, denn hier handelt es sich offenbar um das „mystische Zeitalter" im späteren 13. und dem größeren Teil des 14. Jahrhunderts. Es ist die Zeit, da namentlich die großen deutschen und niederländischen Mystiker in gedrängter Zahl nicht mehr von der kirchlichen Lehre, sondern von dem unmittelbaren, persönlichen Gotteserlebnis künden: Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Johannes Tauler, Jan van Ruysbroek, Geert Groote. Die Zeit der großen Kathedralen ist nun vorüber, ihre Blüte entsprach dem scholastischen Lehrgebäude, nicht der persönlichen, mystischen Gottesschau. Unabwendbar und nicht ohne wiederholten Protest tritt die Kirche als irdische Heilsvermittlerin zurück; bei den Mystikern bezieht sich der Erosgedanke nicht auf die Ehe zwischen Christus und der Ecclesia oder der Maria als sponsa Christi, sondern auf die Sehnsucht der liebenden Seele nach Vereinigung mit Gott. In dieser transzendental gesteigerten „geistigen Minne", die sich aber vielfach der Terminologie der Liebeslyrik bedient, erscheint also die menschliche Seele als die ausdrücklich weiblich betonte geistige Mitte und mag auch hier — nach Meister Eckhart und entsprechend dem Verkündigungsgedanken — der Punkt sein, wo Gott von neuem geboren wird, so wird doch im mystischen Eros zugleich Gott oder Christus als das der Seele polar entgegengesetzte, peripher-bewegliche und männliche Element verstanden. So verfaßte Ruysbroek seine ,,Zierde der geistigen Hochzeit" unter Anschluß an das Matthäuswort: Ecce sponsus venit, exite obviam ei. Und so mochte nach dem Vorbild der Katherina von Siena vor allem die Frau, zumindest die weibliche Heilige, in der mystischen Ehe mit Christus ihre letzte Bestimmung erblicken. Bei Dante, dem italienischen Zeitgenossen Meister Eckharts, läßt das weibliche Zentralsymbol sich verschieden deuten. Als die Mitte einer großen Rose trägt 56
Beatrice zugleich die Züge der irdischen Geliebten und der Himmelskönigin, ist aber gegenüber der in Virgil verkörperten menschlichen Vernunft Sinnbild der Theologie, aber wohl auch der tieferen seelischen Funktionen. Es ist wie bei Durandus' Interpretation des Kirchenfensters, das sich nach innen ausweitet als Zeichen, daß der innere Sinn tiefer und weiter ist als der äußere. Dante selber wußte um eine solche Vertiefung der Sinndeutung vom Gegenständlichen zum Poetischen und zum Mystisch-Allegorischen. Es war von der zentralen Auszeichnung der Maria im Bildschmuck der Kirchenportale die Rede. Uberhaupt ist zu erwarten, daß die weibliche Signatur der Frühgotik und des mystischen Zeitalters sich besonders deutlich in der Kunst offenbart, und zwar sowohl rein ikonographisch als auch stilistisch und psychologisch. Zu den stark vermehrten Darstellungen der Maria, der weiblichen Heiligen, der Kirche und Synagoge usw. bot die erwähnte Stelle in Matthäus (25) die Gelegenheit, in den fünf törichten und den fünf klugen Jungfrauen am Portalgewände die weibliche Idealgestalt gleich zehnfach abzuwandeln. Dazu kommt die alle Formkonflikte bewußt vermeidende weiche, weibliche Formgebung, namentlich auch in Gestalt des weit nach Norden ausstrahlenden sienesischen Stiles. Freilich ist das der besondere geistige Ausdruck des 14. Jahrhunderts, und diesem gehört auch die äußerlich gar nicht glanzvolle, aber von einer tiefen inneren Glut erfüllte deutsche Holzbildnerei an, die sich — dem Werkstoff entsprechend — von der äußeren, steinernen Diktatur der Kirche loslöst und z. B. in der Gruppe des Christus mit Johannes so ganz den sanften Geist der Bodenseemystik widerspiegelt. Schon im späteren 14. Jahrhundert, im Mosesbrunnen Claus Sluters, erkennen wir eine ganz andere, eine ausgeprägt männliche geistige Struktur. *
So aufschlußreich die ikonographische Betrachtung und psychologische Beurteilung der Kunstentwicklung bleibt, ist es doch wichtiger, die Wende von der Romanik zur Gotik schärfer begrifflich zu erfassen. Eine erschöpfende Würdigung ist in diesem kurzen Überblick allerdings nicht mög57
lieh, aber wie fruchtbar die streng begriffliche Deutung der gotischen Kunstwende sich gestalten kann, mögen einige wenige Beispiele erweisen. Wir gehen zunächst auf den allbekannten Gegensatz zwischen dem gotischen Spitzbogen und dem romanischen Rundbogen ein, obwohl es sich in beiden Fällen nur um ein besonderes Formelement und keineswegs um den Grundbegriff der Baukunst handelt. Beide Male ist eine rein technische Erklärung möglich und somit auch üblich: der aus dem antiken Steinbau übernommene Rundbogen ist die konstruktiv einfachste Wölbeform, während erst der Spitzbogen die Möglichkeit bietet, Raumteile über willkürlich rechteckigem Grundriß einzuwölben, indem man die Bogen über den Lang- und Kurzseiten zu der gleichen Scheitelhöhe emporführt. So berechtigt solche technischen Erklärungen bleiben, berühren sie nicht den rein formalen Charakter und damit die kunsthistorische Bedeutung, die der Rund- und der Spitzbogen als unzweifelhafte Kunst- und Stilformen beanspruchen. Nach seinem formalen, zugleich ästhetischen, psychologischen und kunsthistorischen Gehalt erscheint uns die romanische Rundbogenarkade als ein allseitig von der Umwelt geschiedener, in sich selbst erhöhter und geschlossener geistiger Ort, also recht eigentlich als Sinnbild der Kirche überhaupt. In den unzähligen Fällen, da die Arkade in der Bildnerei und Malerei durch eine Heiligendarstellung ausgefüllt wird, erkennen wir in ihr noch deutlicher das „geistige Gehäuse", dessen erhöhte Mitte dem Kopfe der heiligen Persönlichkeit entspricht. Werden auf beiden Seiten zwei weitere, niedrigere Arkaden hinzugefügt, so entsteht eine Dreiergruppe, die in der Bau- und Bildkunst immer wieder hervortretende „monarchische Gruppe", die noch eindringlicher den Gedanken der betonten geistigen Mitte veranschaulicht. Verschiebt man diese monarchische Gruppe in der Tiefenachse oder läßt man sie in der vertikalen Achse um sich selbst drehen, so entstehen Raumformen, und zwar das basilikale Langhaussystem mit tonnengedeckten Mittelund Seitenschiffen bzw. ein Zentralraum mit Kuppelgewölbe und tonnengedecktem Umgang. Schon in der Spätromanik erscheint — ohne technische Er58
klärungsmöglichkeit — der Spitzbogen infolge der gegenseitigen Durchdringung und Überschneidung zweier Rundbogenarkaden. Nach dieser rein formalen Beurteilung ist der Spitzbogen als eine Konjunktionsform zu verstehen, als das Gemeinsame zweier Rundbogen. Zu einer ähnlichen Deutung führt die Einsicht, daß der gotische Spitzbogen nicht wie der romanische Rundbogen über einem, sondern über zwei Mittelpunkten konstruiert wird. Je weiter diese Mittelpunkte sich nach beiden Seiten von der romanischen Bogenmitte entfernen, um so steiler gestaltet sich der Spitzbogen. Nach dieser Betrachtung entsteht der gotische Bogen aus einem Prozeß der Entzweiung, der Aufspaltung oder Differenzierung im romanischen Kern. Im Gegensatz zu dem romanischen Bogen ist der gotische somit b i p o l a r ; er erscheint als die aus einer betonten Zweiheit gewonnene Einheit oder Ganzheit, als Vereinigung zweier gegensätzlicher Prinzipien: als Sinnbild jenes geistigen Eros, den wir aus der theologischen Spekulation und dem Minnedienst des Zeitalters kennen. Es ist tief beachtenswert, daß die Polarisierung der Kunstform wiederholt und an den genau entsprechenden Stellen des historischen Systems nachzuweisen ist. Für die Bronzezeit, die zentralgeistige Periode unserer Vorzeit, ist die technische Deutung Ringboms heranzuziehen, denn nach dieser werden die Kreis- und Spiralmotive der ersten Stufe des krummlinigen Ornaments mit Hilfe e i n e s Mittelpunktes, die ineinander verschränkten Wellenbandmuster der zweiten Stufe dagegen über z w e i Mittelpunkten gezeichnet. Dort entsprach die neue Form vermutlich der höchsten Blüte des bronzezeitlichen Eros, dem Gedanken der kosmischen Ehe zwischen Himmel und Erde. Und noch einmal wiederholt sich das gleiche Spiel in der zentralgeistigen Stufe der Neuzeit, insofern die für das Barock Zeitalter als Bildfeld, Bogen- und Gewölbeform stark bevorzugte Ellipse nicht einen, sondern zwei Brennpunkte besitzt. Dort handelt es sich um den Durchbruch des barocken Erosgedankens, über den wir noch zu berichten haben werden. An eine erschöpfende Deutung der gotischen Baukunst ist hier nicht zu denken, aber wir greifen noch ein paar weitere 59
Wesensmerkmale auf, zunächst im Zusammenhang mit dem neuen Raumgefühl. Entspricht die gotische Baukunst der zentralen Struktur des Zeitalters, so kann das nur heißen, daß das Raumerlebnis selber nicht mehr peripher, sondern zentral geartet ist, d. h. daß der Raum kernhaft, von innen nach außen und nicht von außen nach innen erlebt wird. Wir gehen hier nicht näher auf die bedeutsame Folge ein, daß der gotische Kirchenraum sich als eine kernhaft gewachsene, in sich differenzierte Ganzheit grundsätzlich von der romanischen Vielheit isolierbarer Raumteile unterscheidet. Wesentlicher in diesem Zusammenhang ist jedoch, daß das gotische Raumerlebnis nicht mehr durch die peripheren Raumgrenzen bedingt wird, nicht mehr, wie in der Romanik, ein Wanderlebnis ist, und daß damit Wände und Decke des Kirchenraums einen ganz anderen Sinn erhalten. Statt der fest aus Steinquadern gefügten Scheidewand zwischen innen und außen, zwischen dem gotterfüllten Raum und der natürlichen Umwelt, verliert die Raumschale den Charakter einer sicheren Grenzsetzung. Sie kann in den zwischen den äußeren Strebepfeilern eingebauten Kapellen als sekundäre Wand nach außen verschoben werden, kann in den Triforiengalerien scheinbar verdoppelt und damit unbestimmbar werden. Sie kann vor allem aber auch durch riesige Glasfenster ersetzt, beseitigt und entstofflicht werden. Aus dieser Beobachtung ergibt sich die Eigenart der gotischen Fenstermalerei als einer fast besonderen Kunstgattung gegenüber der romanischen Wand- und Buchmalerei oder der erst später bedeutsam hervortretenden Altar- und Tafelmalerei. Indem das gotische Fenster einerseits als Bestandteil der kirchlichen Architektur den Wandgedanken noch in sich enthält, diesen aber gleichzeitig aufhebt und in seiner wandweiten Ausdehnung das Licht einströmen läßt, erscheint es als eine Synthese der beiden gegensätzlichen Elemente, des Innen und Außen, aus deren gegenseitigen Durchdringung als etwas gänzlich Neues und Imaginäres die bunte, figurenreiche Welt der Fenstermalerei aufleuchtet. Bemerkenswert ist hierzu die sekundäre, vom Theologen ersonnene Symbolik des gotischen Kirchenfensters, weil nach ihr die Sonne als Sinnbild Christi aufgefaßt wird und da60
durch die Wahrheit enthüllt, daß sie in den dunklen Kirchenraum einströmt. Wir sehen, wie eng sich diese Interpretation mit der Vorstellung der mystischen Ehe zwischen Christus und der Ecclesia berührt, wie aber auch der uralte Stonehengegedanke des in den geheiligten Bezirk eindringenden Sonnenlichtes hier seine mittelalterliche Abwandlung erfährt. Eine noch deutlichere Sprache redet das gotische Kirchenportal. Wie so oft schreckt die kirchlich-symbolische Deutung auch in diesem Fall nicht vor Widersprüchen zurück. So deutet sie die Kirchentür in Anschluß an Johannes 10. 9 als den Heiland; als erhöhte geistige Mitte erscheint die Gestalt Christi schon in den häufigen Gerichtsdarstellungen oder als Majestas Domini im Bogenfeld der romanischen Portale oder vor dem mittleren Portalpfeiler der gotischen Kathedralen. Wie erwähnt, kann aber diese Stelle auch der Gottesmutter vorbehalten bleiben, und so gibt es auch die Deutung der Kircheniir als Sinnbild der Gnadenmutter und Gottesgebärerin, durch die das Heil in die Welt kam; als die pörta clausa oder porta caeli, wiederum in Beziehung zu der Heiligen Jungfrau, weil durch deren Leib die Erlösung geschah. Aber maßgebend ist uns doch nicht die abgeleitete theologische Symbolik, sondern der primäre Formbegriff, nach dem die Tür als Eingang zum Kircheninnern mehr noch als das Fenster d i e kritische Stelle ist, an der die innerkirchliche und außerkirchliche Welt, das geistige Jenseits und das natürliche Diesseits sich unmittelbar berühren und ineinander übergehen. D a s ist allgemein der Grund, weshalb der abstrakt geistige, steinerne Kosmos der Kirche an dieser ganz besonderen Stelle der äußeren Raumschale am leichtesten naturhafte Form gewinnt und schon in der Romanik zuerst die Türe selber, dann das Kirchenportal an den Laibungen reichen Bild- und Ornamentschmuck erhalten. Sämtlichen innerhalb der Romanik gegebenen Entwicklungsmöglichkeiten stellt sich nun das gotische Figurenportal schon dadurch gegenüber, daß die abgestufte Laibung sich in ein schräges Gewände verwandelt mit der Folge, daß der Gang von außen nach innen und von den Seiten zur Mitte sich als eine kontinuierlich fließende Bewegung gestaltet. Dazu kommt noch, daß besonders an 61
den französischen Kathedralen die breiten Portaleingänge den gesamten unteren Teil der Westfront für sich beanspruchen; wie die gotischen Fenster die Kirchenwand ersetzen, bis nur noch die steinernen Stützen und das Maßwerk übrigbleiben, so löst sich die einst gebieterisch der Außenwelt entgegengehaltene Fläche der Westfront in diese Zugänge auf, die wie tiefe Schluchten in den .Kirchenkörper hineinführen. Auch wenn wir uns nicht zu einer einseitig sexualistischen Deutung bequemen, müssen wir hier doch feststellen, daß von einer porta clausa nicht gut mehr gesprochen werden kann, sondern daß die Kirche sich weit der drängenden, natürlichen Umwelt öffnet und diese willig in sich aufnimmt. Und besonders in diesem Augenblick und an dieser Stelle erkennen wir in der Kirche die „bauende Mutter aller Künste", denn als die sublime Frucht dieser organischen Verbindung zwischen Kirche und Umwelt sind vor allem die Gewändefiguren des gotischen Kirchenportals zu verstehen, die sich gegenüber der spätromanischen Portalbildnerei zugleich durch ihre ganz neue, persönliche Lebendigkeit und ihre organische Bindung an die Architektur auszeichnen. Die hier ausgewählten Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, wie eindeutig unser Begriff der gotischen Baukunst dem des gotischen Eros und der gotischen Mystik entspricht, wie aber zugleich der Grundgedanke der vorzeitlichen Naturreligion hier wieder zum Durchbruch gelangt. Freilich geschieht das in einer höheren, in der mittelalterlich geistigen Ebene, indem die Wechselbeziehung zwischen Peripherie und Mitte nicht mehr als eine in der Natur gegebene, solartellurische begriffen wird, sondern als die das gesamte Naturgeschehen transzendierende Spannung zwischen Gott und Natur, Jenseits und Diesseits, Kirche und Welt. Aber eben da liegt die Parallele zur Stonehengesymbolik und die enge Beziehung zum gotischen Eros und zur Mystik, daß die Beziehung zwischen dem zentralen und dem peripheren Prinzip nicht wie im frühen Mittelalter als eine bloße Gegensätzlichkeit verstanden wird, sondern als echte Polarität; nicht als eine starre und statische Gegebenheit, sondern als eine ständig sich vollziehende dynamische Spannung. 62
Das absolut Geistige wird in der Kirche nicht mehr gesetzt und der Natur entgegengehalten, sondern beide, Geist und Natur, Gott und Mensch treten zueinander in eine lebendige, ganzheitliche Beziehung, in jene Konjunktion, die wir als Eros bezeichnen, und aus dem sowohl die Gotik wie die Mystik emporblüht. Nach einer dem Scholastiker geläufigen Vorstellung haben wir es mit einer zwiefachen Bewegung zu tun, die sich aufwärts vom Menschen zu Gott, abwärts von Gott zum Menschen vollzieht. Wir können sagen: dort, wo diese beiden Bewegungen sich kreuzen, steht die Gotik und steht der gotische Mensch. *
Bevor wir uns den späteren und neuzeitlichen Entwicklungserscheinungen zuwenden, ist es angebracht, einen Blick auf die kulturhistorische Uhr zu werfen, um uns zu vergegenwärtigen, welche Stunde sie geschlagen hat. Aus der Tatsache, daß der Prozeß geistiger Zumittung und Abmittung sich in sich selbst in größeren und kleineren Wellenabläufen wiederholt, folgt die eminent dialektische Beschaffenheit der Geschichte und die Relativierbarkeit jeder begrifflichen Deutung eines Kulturphänomens. Ein Lagerfeuer des diluvialen Jägertums, ein Wohnbau des neolithischen Bauern, eine Kultstätte oder auch ein krummliniges Muster der Bronzezeit kann so als Vorbild und Sinnbild schöpferisch geistiger Einstülpung erscheinen, oder auch als ein noch durchaus äußerlich, natur- und zweckhaft gebundenes Kulturgebilde, je nachdem wir dieses in ein engeres oder weiteres Entwicklungsfeld eingliedern. Die mittelalterliche Hinwendung zum absoluten Gottesbegriff muß zunächst wohl als das absolut gültige Beispiel zentralgeistiger Besinnung bezeichnet werden. Auch da aber müssen wir unser Urteil revidieren, sobald wir die gotische Verinnerlichung, Vergeistigung und Befreiung erkennen, die sich diesmal nicht gegen die äußere Naturwirklichkeit durchsetzt, sondern zuallererst gegen die gleichfalls konkrete, äußerlich gegebene, steinharte Realität des Kirchengebäudes und des kirchlichen Dogmas: bis zu jenem innersten Punkt der Seele, an dem nach der Vorstellung des Mystikers die lebendige Verbindung mit Gott sich vollzieht. Die schon 63
angedeutete Folge ist aber, daß die zentralgeistige Struktur des mystischen, des 14. Jahrhunderts sich nicht nur innerhalb der Gotik oder des Mittelalters, sondern auch innerhalb des gesamten epochalen Zusammenhanges Vorzeit— Mittelalter—Neuzeit als eine a b s o l u t e , nicht weiter relativierbare erweist, d. h. daß sämtliche vorher möglichen zentralgeistigen Bindungen sich in bezug auf diese Geistesstufe irgendwie als äußerlich bedingt herausstellen, alle späteren Bindungen dagegen als das Ergebnis zentrifugaler Aufspaltung. Freilich gilt auch diese Bestimmung nur, wenn wir das Feld unserer Beobachtung auf die Kulturgeschichte seit der frühen Vorzeit und bis zu der kritischen Gegenwart, dem vermutlichen Ende der Neuzeit beschränken. Richtet sich das Auge über diese Grenzen hinaus auf die noch nicht systematisch erfaßbaren urzeitlichen und die noch unbekannten künftigen Entwicklungserscheinungen, so mag wohl auch die christliche Mystik des 14. Jahrhunderts eine andere Beurteilung erfahren.
Spätgotik
Für den geschärften kunsthistorischen Blick setzt die zentrifugale Bewegung schon in der späteren H ä l f t e des 14. J a h r hunderts ein, bestimmt dann aber die Physiognomie der n o r dischen Spätgotik im 15. Jahrhundert. Die Abwendung von dem steinernen Kosmos des Kirchengebäudes und der Untergang der universal umfassenden Kathedralkunst sind an sich noch nicht entscheidend; schon das frühere 14. Jahrhundert war kein eigentlich bauendes Zeitalter mehr; so wie der Mystiker sich in seinem persönlichen Gotteserlebnis von dem scholastischen Lehrgebäude loslöst, sind auch die vorzüglichsten Schöpfungen der deutschen Plastik im 14. Jahrhundert wie die holzgeschnitzten Vesperbilder oder ChristusJohannesgruppen schon stofflich nicht mehr am Kirchengebäude beteiligt. Diese Befreiung der Kunst von der Kirche 64
bzw. von der kirchlichen Architektur setzt sich fort, auch im Steinbildwerk. Claus Sluters Formgebung setzt sich durch gegen den weichen und weiblichen Stil der Mystik; der Blick wendet sich von innen nach außen, die geistige Innenschau wandelt sich zur Naturschau in den überaus männlichen Gestalten seines „Mosesbrunnens" in Dijon, von denen namentlich der Moses eine völlig in sich ruhende, energisch plastische, zugleich f a s t aggressiv auf die Umwelt bezogene Persönlichkeit gewinnt. Ohne hier eine schärfere Grenze gegen die Spätgotik des 15. Jahrhunderts zu ziehen, haben wir doch diese letzte, der Romanik und der Gotik zuzuordnende Periode des Mittelalters gesondert zu betrachten. Es ist die Zeit eines emsigen bürgerlichen Baubetriebes, der in den städtischen Rathaus- und Wohnbauten zwar immer noch vom geistigen Kapital der Kathedralbauten zehrt, dieses aber zugleich in kleinere Münze umprägt. In seiner ausführlichen Darstellung der deutschen Plastik des späteren Mittelalters und der Renaissance hat Pinder besonderes Gewicht auf die Ablösung der Bauhütte durch die bürgerliche Meisterwerkstatt gelegt. Das ist ein unmißverständliches Beispiel zentrifugaler Entbindung: die Bauhütte des gotischen Münsters, die als eine zentral umfassende Organisation Arbeiter und Künstler von weither an sich zog zum gemeinsamen Dienst an der Mutter Kirche, verliert ihre bindende K r a f t und spaltet sich auf in eine Vielheit bürgerlicher Werkstätten, deren Meister uns zum erstenmal mit Namen und in großer Zahl als die uns wohlbekannten Maler und Schnitzer entgegentreten. D a s Tätigkeitsfeld dieser Künstlerpersönlichkeiten ist aber die Altarmalerei und -Schnitzerei, die zwar nicht erst im 15. Jahrhundert entstehen, aber doch in dieser Spätgotik eine solche Blüte erleben und so sehr die künstlerische Energie auf sich ziehen, daß wir sie als Kennformen des Zeitalters betrachten dürfen. Wesentlich ist, daß die o f t gewaltigen nordischen Flügelaltäre, vom Genter Altar der van Eycks bis zum Isenheimer Altar Grünewalds, in der umfassenden Darstellung des Heilsgedankens den kirchlichen Bau- und Bildorganismus geradezu ersetzen. Obwohl sie noch zum kirchlichen Mobiliar gehören, sind diese Altäre als selb5 Sehellema, Geistige Mitte
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ständige, vom Kirchenbau losgelöste Organismen zu verstehen, die nach fernen Ländern transportiert werden konnten und die den gebauten Kosmos der Kirche nur noch als ferne und unverbindliche Erinnerung in sich tragen, wenn sie diese in den deutschen Schnitzaltären oder auf den gemalten Altartafeln als schmückende Umrahmung verwenden. Es ist begreiflich, daß man im Hinblick auf diese weitgehende Befreiung der bildenden Künste, die sich schon technisch in der Erfindung der Ölmalerei offenbart, die gesamte Kunst der nordischen Spätgotik vielfach bereits zu der Neuen Zeit rechnet, um so mehr, als die gleichzeitige Kunst des Quattrocento in Italien zweifellos schon zur Renaissance gehört. Dennoch ist die Auffassung der niederländischen und deutschen Altarmalerei des 15. Jahrhunderts als einer frühen, „primitiven" Stufe der Malerei unserer Neuzeit grundsätzlich verfehlt und nur geeignet, den Begriff der nordischen Kunstentwicklung im 16. Jahrhundert — der Aufgabe Dürers! — zu verwirren. Wie insbesondere die nordische Baukunst des 15. Jahrhunderts im Gegensatz zu der italienischen Frührenaissance seit Brunelleschi beweist, ist die Spätgotik in der Tat eine späte Abwandlung der Gotik. Die Malerei dieser Zeit ist aber durchaus keine anfängliche, primitive Kunstübung; sondern nach der romanischen Wandmalerei und der gotischen Glasmalerei ist die spätgotische Altarmalerei die letzte, reife Frucht, die dieser „Herbst des Mittelalters" (Huizinga) hervorgebracht hat. Auf den inneren geistigen Rhythmus der Spätgotik, die z. B. in Flandern deutlich nachweisbar in dem Werk Jan van Eycks, Rogier van der Weydens und Hieronymus Boschs zutage tritt, können wir hier nicht näher eingehen. Vermerkt sei aber, daß ein so unbefangen urteilender Forscher wie Pinder in Hinsicht auf die beiden ersten Stilphasen der Spätgotik ein Bild gebraucht, das unserem Begriff geistiger Zumittung vollkommen entspricht. Er weist nämlich nach, daß, wie so oft in der Kunstentwicklung, die „Klappe nach der Außenwelt" zunächst weit geöffnet wird, um ein bestimmtes Maß von Erscheinungswelt neu einzulassen, dann aber wieder geschlossen wird, damit der aufgenommene Wirklichkeitsstoff innerlich verarbeitet werden 66
kann. In bezug auf die letzte Stufe der Spätgotik, die in der deutschen Sondergotik noch über die Jahrhundertwende hinausgreift, ist zu bemerken, daß die extreme Dynamik, die radikalen Entbindungs- und Entladungserscheinungen namentlich in der deutschen Holzbildnerei des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts völlig unverständlich bleiben, wenn man diese Kunst schon der frühen Neuzeit zurechnet oder sogar als „barock" bezeichnet, statt in ihr die letzte, expressionistisch geartete Stilstufe des Mittelalters zu erblicken. Es sei nicht geleugnet, daß in dem eigentümlichen spätgotischen Naturalismus schon die neue Weltbejahung des kommenden Zeitalters angelegt und vorbereitet erscheint. Auf dieses auch sonst wiederholt zu beobachtende Phänomen des geschichtlichen „Vorgriffs", der Vorwegnahme späterer Möglichkeiten in der Endstufe eines Entwicklungsablaufs, hat auch Huizinga gerade im Zusammenhang mit der Kultur des ausgehenden Mittelalters hingewiesen. Selbstverständlich ist es dem Kunstforscher möglich, den grundlegenden Unterschied zwischen dem spätmittelalterlichen und dem frühneuzeitlichen Naturalismus — etwa zwischen einem Frauenbildnis van Eycks und Holbeins -— genau zu bestimmen. Man kann sich aber allgemeiner den Unterschied zwischen beiden Arten von Wirklichkeitsbejahung vergegenwärtigen: Wenn nach Beendung des Gottesdienstes der Gläubige sich aufmacht, die Kirche zu verlassen, kommt der Augenblick, da er durch die geöffnete Kirchentür die Welt draußen vor sich ausgebreitet sieht. Dieser Blick in die Welt, aber noch vom kirchlichen Standort und gleichsam im Rahmen des Kirchenportals — solche Darstellungen sind in der Tat häufig! — kennzeichnet den spätgotischen Naturalismus. Geht der Heimkehrende aber weiter und überschreitet er die Schwelle der Kirchentür, so befindet er sich plötzlich inmitten dieser Welt, auf die er sich als handelnde und leidende Persönlichkeit unmittelbar bezogen fühlt. Dieser unmittelbaren, persönlichen Weltbeziehung entsprechen der Naturalismus und Realismus der beginnenden Neuzeit. Im ersten Fall liegt die Welt als eine divergierende Mannigfaltigkeit im Strahlungsfeld eines Kegels, dessen Spitze im 5*
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Kircheninnern liegt. Im zweiten Fall liegt die Kegelspitze vielmehr in endloser, dem Beschauer entgegengesetzter Ferne, und die weltliche Mannigfaltigkeit konvergiert scheinbar auf diesen gemeinsamen Bezugspunkt: auf den Fluchtpunkt der regelrichtig durchgeführten geometrischen Perspektive.
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NEUZEIT
In der reinen, endogenen Entwicklungsreihe Vorzeit—Mittelalter—Neuzeit ist die Neuzeit als Ganzes die zentrifugale Epoche, das Zeitalter geistiger Entmittung. Nach der mittelalterlichen Geborgenheit in sich selbst tritt der Geist wieder aus sich heraus, um sich im Außen zu verwirklichen, freilich auch —• aber das gilt nur vom mittelalterlichen Standpunkt — zu verlieren. Jedenfalls ist die Fülle, die die Neuzeit hervorgebracht hat, so unermeßlich, daß wir nicht von einem geistigen Verlust reden und ein absolutes Werturteil aussprechen dürfen, das keiner historischen Stufe gegenüber berechtigt ist. Eher kann uns das neue Zeitalter überhaupt die innere Berechtigung der zentrifugalen Geistesstufen verdeutlichen, die darin liegt, daß mit der Abwendung vom sinnlich Wirklichen immer die Gefahr eines geistigen Leerlaufs droht und einer bloßen Verneinung der Wirklichkeit, die noch keineswegs deren geistige Durchdringung und Überwindung bedeutet. Gewiß hatte schon der abstraktgeistige kirchliche Kosmos sich bis zur Selbstauflösung mit Wirklichkeitsstoff erfüllt; jetzt tritt der Mensch ohne kirchliche Rückendeckung der Natur- und Lebenswirklichkeit als geistige Persönlichkeit gegenüber, als Subjekt, das die ihm zugehörige Objektwelt zu begreifen und zu deuten hat. Die allgemeinen Wesensmerkmale der Neuzeit sind uns so gegenwärtig, daß hier eine kurze Charakterisierung genügt. Als ein Zeitalter zentrifugaler Entladung kennzeichnet sich die Neuzeit durch die bis in die Gegenwart fortgesetzten Entdeckungszüge, kolonisatorischen Gründungen und Massenemigration. Es ist eine von innen nach außen gerichtete Dynamik, die an die letzte, strukturverwandte Stufe unserer Vorzeit erinnert, an die Ausstreuung germanischer Stämme aus dem nordischen Kernraum. Nur führte dieser Streuungsprozeß der späten Vorzeit zur Germanisierung Europas, während die epochale Wiederholung die Erschließung und Besetzung der gesamten Erde durch die abendländische Kultur zur Folge hat. Trotzdem ist diese Wiederholung auffallend: 69
wie gesagt, wurde zum zweitenmal seit der Wikingerzeit Amerika endeckt! Im Gegensatz zu den mittelalterlichen Kreuzzügen, die im Namen der Christenheit veranstaltet wurden, und — zentripetal —• auf die heilige Mitte des Weltalls (Jerusalem) gerichtet waren, hatte die neue Welteroberung eine ausgesprochen zentrifugale Tendenz. Sie erfolgte von den einzelnen Ländern aus nach allen Richtungen, und zwar wesentlich im Namen, zum Nutzen und zur Ehre der Nationen. Hier zeigt sich die geistige Entladung zugleich als ein Entbindungsprozeß, als ein Auseinander- und Gegeneinandertreten von Kräften: die Kirche tritt als allein gültiger Kulturträger zurück; an Stelle der in der Kirche vereinten Christenheit treten mehr und mehr die einzelnen Nationen als selbständige leib-seelische Organismen, die sich von da an in endlosen Kriegen gegeneinander durchsetzen und ihren politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Führungsanspruch geltend machen. Ganz allgemein erweist sich die Zuwendung zum Wirklichen und Konkreten als eine unabwendbare Auflösung zuvor gültiger ganzheitlicher Bindungen. Luthers Reformation war der Auftakt zu einer sofort einsetzenden, immer weiterschreitenden konfessionellen Aufspaltung. Die Befreiung der empirischen Forschung von der kirchlichen und theologischen Bevormundung führt zur Entstehung einer Vielheit getrennter und selbständiger wissenschaftlicher Disziplinen. Sehr ähnlich verselbständigen sich die einzelnen Künste; die Baukunst verzichtet auf ihre Suprematie zu Gunsten der bildenden Künste, die eben dadurch f r e i werden, daß sie sich aus der künstlerischen Totalität des kirchlichen Bauwerkes loslösen und in Gestalt des allseitig umrahmten Tafelbildes oder des graphischen Blattes, der freistehenden Sockelstatue oder der Bronze ihre völlige Ungebundenheit bezeugen. Nach dieser Betrachtung war die bewußte Anlehnung an die Antike nicht die Ursache, sondern eine Folge der vollzogenen Strukturwandlung, die sich vielfach auch nachweisbar — z. B. bei einem Brueghel — ganz unabhängig von der Antike vollzog. Aber vorbildliche Bedeutung konnte nunmehr die Antike, oder genauer die antike Neuzeit seit etwa 500 v. Chr. deshalb gewinnen, weil sie die 70
gleiche schöpferische Welt- und Lebensbejahung vertrat, um die sich die abendländische Neuzeit bemühte. Das gilt für den Humanismus, für das nicht mehr geistliche, sondern geistige und menschliche, z. T. national betonte Bildungsideal. Es gilt für die Renaissance in der Baukunst, für die künstlerische Besinnung auf die rationalen Grundlagen des baulichen Gefüges. Und es gilt für die Renaissance in der figürlichen Darstellung, für den Begriff namentlich der menschlichen Gestalt als einer kernhaft gewachsenen, in sich selbst gegliederten und bewegten Ganzheit. Trotz bedeutsamer periodischer Gegenströmungen blieben diese Charakterzüge der Neuzeit so allgemein gültig, daß wir sie bis heute als selbstverständlich empfinden. So behielt der nationale Staat seine Würde als letzte rechtliche und sittliche Instanz. So blieb durch sämtliche Stufen der Neuzeit das Ansehen des vereinzelten Rahmengemäldes —• zumindest als Porträt — oder des graphischen Blattes gewahrt. Ebenso selbstverständlich blieb es, daß die einzelnen Wissenschaften selbstherrlich ihren eigenen Weg verfolgten, indem sie jede für sich einen bestimmten Ausschnitt der peripheren, naturhistorischen oder kulturhistorischen Realität zur Untersuchung wählten. So auch blieb die ganze Neuzeit einschließlich des Barockzeitalters und der Romantik eine Zeit fortgesetzter Ausrichtung nach der Antike, eines chronischen Klassizismus und Rationalismus. Um noch einen sehr wesentlichen Zug hinzuzufügen: seit durch die großen Entdeckungen die Kugelgestalt der Erde festgestellt wurde, konnte kein heiliger Ort mehr als die Mitte des Erdkreises oder des Weltalls bezeichnet werden. Seitdem Kopernikus das geozentrische Weltbild durch das heliozentrische ersetzte, verlor die Erde ihre zentrale Würde, und später teilte sogar die Sonne dieses Schicksal. Es ist ein Prozeß fortschreitender Entmittung, dem nacheinander Jerusalem, die Erde, die Sonne zum Opfer fallen, bis sich heute die Annahme eines lokalisierbaren zentralen heiligen Ortes als eine unhaltbare Fiktion herausstellt: in so hohem Grade entspricht das exakt wissenschaftliche Weltbild unserer Weltanschauung, die erkannte physikalische Struktur des Kosmos der geistigen Struktur des erkennenden Forschers 71
und seines Zeitalters. Der mathematisch-physikalischen Forschung bleibe es vorbehalten, die letzte Konsequenz aus solchen Beobachtungen zu ziehen; der Laie kann nur ahnen — was seltsamerweise aber schon ein Nikolaus Cusanus ausgesprochen hat —, daß die Konzeption des grenzenlosen Weltraums und der endlos in sich selbst kreisenden Bewegung zwangsläufig zu der Annahme eines gänzlich neuen, zentralen Bezugspunktes führen muß, und zwar im Inneren jeder einzelnen Persönlichkeit, die hier den tiefsten, den metaphysischen Rechtsgrund f ü r ihre Freiheit findet. Jedenfalls aber sehen wir, wie auch in bezug auf das wissenschaftliche Weltbild die gesamte Neuzeit sich zu einer eindeutig bestimmbaren, zentrifugal-geistigen Epoche zusammenschließt; daß wir heute vermutlich die Endkrise dieser fortgesetzten geistigen Entmittung erleben, und wohl auch, daß besonders die stetig fortschreitende, durch keine menschlichen Leidenschaften getrübte exaktwissenschaftliche Forschung dazu berufen scheint, uns über Richtung und Sinn der jetzigen Kulturwende aufzuklären. Nach dem bisher gewonnenen Entwicklungsbegriff ist von vornherein anzunehmen, daß die abendländische Neuzeit ihren eigenen geistigen Rhythmus besitzt, und daß die Beurteilung einer geschichtlichen Tatsache aus dem 16. bis 20. Jahrhundert grundlegend wechselt, wenn wir den Blick nicht mehr auf den epochalen Ablauf Vorzeit—Mittelalter— Neuzeit richten, sondern auf das neuzeitliche Feld beschränken. Es ist das Verdienst namentlich der modernen Kunstwissenschaft, das besondere Verdienst Heinrich Wölfflins, die Wandlung der geistigen Struktur wenigstens zwischen den beiden ersten Perioden der Neuzeit klar erkannt und aufgezeigt zu haben. Wenn trotz des anfänglich starken Erfolges Wölfflins Gedanken nicht die bleibende Beachtung gewannen, die ihnen gebührt, so liegt das nicht nur an der Problemblindheit der immer noch nicht zur Wissenschaft fortgeschrittenen kunsthistorischen Forschung, sondern sicher auch daran, daß Wölfflin sich mit einer zu oberflächlichen Andeutung seiner „Grundbegriffe" begnügt hat. Infolgedessen war schon die begriffliche Formulierung des von ihm erkannten Stilwandels zwischen Renaissance 72
und Barock ungenügend, während die so naheliegende einheitliche Zusammenfassung der vorgeschlagenen Stilkategorien nicht erfolgte: seltsamerweise spielt der für den Kunsthistoriker unentbehrliche und ungemein fruchtbare Begriff g a n z h e i t l i c h e r Formgestaltung bei Wölfflin keine Rolle. Wäre der bahnbrechende Forscher zu einer weiteren klärenden Vereinfachung seiner Stilbegriffe geschritten, so hätte er vermutlich erkannt, daß es sich bei der geistigen Bewegung von der Renaissance zum Barock um den uns längst bekannten Prozeß zentralgeistiger Integration, um die Goethe-Schellingsche Systole handelt. Damit wäre aber ihm und einer immer noch blind tastenden Kunstforschung die weitere Erkenntnis zugefallen, daß nach der R e n a i s s a n c e oder f r ü h e n N e u z e i t und dem B a r o c k oder der m i t t l e r e n N e u z e i t die gesamte s p ä t e N e u z e i t seit der Aufklärung die genetisch zugehörige, historisch-logische d r i t t e P e r i o d e zentrifugaler Entäußerung, der Desintegration oder Diastole darstellt. Vor allem aber auch weigerte sich die „klassische" Denkart und klare Selbstbeschränkung Wölfflins, die aufgefundenen Stilbegriffe durch den Nachweis zu relativieren, daß jede Stufe noch einmal die gleichen Formgegensätze in sich enthält. In der Tat mag mancher die Wölfflinschen Stilbegriffe überhaupt als nicht gültig zurückgewiesen haben, weil er sie als nicht absolut gültig erkannte. Einige konkrete Beispiele sollen diese kritischen Einwände verdeutlichen und zugleich in das periodische System der Neuzeit einführen. Indem Wölfflin seinen Blick auf das Zifferblatt der Neuzeit richtete, erkannte er die erste umfassende Periode, d. h. die Renaissance, als die Stufe peripheren Weltergreifens, die zweite Periode, das Barockzeitalter, als die entsprechende Stufe zentralgeistiger Synthese. Aus diesem Prozeß geistiger Zumittung ergeben sich sämtliche von Wölfflin nachgewiesene Formgegensätze, von denen er übrigens selber behauptet, daß sie nur verschiedene Seiten eines und des gleichen Entwicklungsvorganges beleuchten. So gelangt er zu der — nicht sehr glücklichen — Unterscheidung einer v i e l h e i t l i c h e n und einer e i n h e i t l i c h e n E i n h e i t ; die klassische Form der Renaissance beruht auf 73
der Ordnung der einzelnen, aus der N a t u r aufgegriffenen Formelemente; der barocke Bau- und Bildorganismus wird von vornherein als ein Ganzes erfaßt, dem alle Teile f u n k t i o nell eingebunden bleiben. Der Unterschied zwischen der g e s c h l o s s e n e n Form der Klassik und der o f f e n e n barocken K u n s t f o r m ergibt sich unmittelbar aus der Beobachtung, daß letztere sich von einer Mitte aus, d. h. von innen nach außen entfaltet, und damit eine Strahlungsform ist, die sich ohne feste Grenzen nach außen verliert. Ein Vergleich mit dem gotischen, gleichfalls zentralgebundenen Raumerlebnis verdeutlicht die Tatsache, warum das barocke Bildgefüge keine feste äußere Grenzsetzung anerkennt. Die gewiß nicht einwandfreie Unterscheidung zwischen u n b e d i n g t e r und b e d i n g t e r F o r m k l a r h e i t wird verständlich, wenn wir bedenken, daß die Renaissance ein Nebeneinander und Gegeneinander individueller, also leicht bestimmbarer Formen in einer einfachen, o f t symmetrischen oder gereihten Ordnung gibt. Freilich kann diese vielheitliche Formgebung auch zu einer verwirrenden Mannigfaltigkeit führen, die in der barocken Formsynthese, sei es auch auf Kosten der individuellen Formklarheit und Bestimmbarkeit, überwunden wird: f ü r den trockenen, in elementaren Gegensätzen denkenden Geist hat das ganzheitliche Formgefüge einer B-Stufe immer den Charakter des Irrationalen und Unklaren. Wölfflins Gegensatz zwischen f l ä c h e n h a f t e r und t i e f e n h a f t e r Gestaltung kann auf den ersten Blick befremden, weil gerade der Renaissancekünstler sich nach seiner Entdeckung der Perspektive o f t in der übertriebenen Betonung der räumlichen und körperlichen Tiefenerstreckung nicht genug tun kann. Dennoch erweist die Unterscheidung sich als richtig, insofern der Renaissancemaler seine Figuren vorzugsweise in einer flachen, vorderen Bühne ausbreitet, der er weitere parallele Raumschichten zugesellt, während der Barockkünstler unter Betonung der Tiefendiagonale diese Raumschichten zu einem Raumkontinuum verschmilzt. Die flächenhafte Raumkonzeption in der Renaissance geht gerade aus der so stark betonten Perspektive hervor, weil diese selber nichts anderes ist als die Projektion des Raumes in eine vordere, geo74
metrische Fläche. Dazu kommt die vielleicht bedeutsamste Stilkategorie des L i n e a r e n und M a l e r i s c h e n , die sämtliche hier angedeutete Stilgegensätze in sich enthält, zugleich aber den Prozeß zentralgeistiger Synthese verdeutlicht. Denn das malerische Sehen ist immer ein simultanes Sehen, eine Zusammenschau, in der die zuvor sukzessiv erf a ß t e und geordnete Vielheit einzelner Formen und Formteile zu einer Einheit verschmilzt, während auch die frühere, linear betonte Grenze zwischen Figur und Grund aufgehoben wird, indem beide Elemente in eine unlösliche, fließende Verbindung treten. Wir kommen auf diese und andere, von Wölfflin weniger oder nicht beachteten Merkmale der barocken K u n s t f o r m noch zurück. Für den Kenner der italienischen Renaissance ist nun von vornherein verständlich, in welchem P u n k t die Wölfflinschen Gedanken einen berechtigt-unberechtigten Widerspruch erwecken mußten. Im Gegensatz zum Norden, wo die Neuzeit erst im 16. Jahrhundert einsetzt, gehört in Italien schon das Quattrocento seit Brunelleschi, Masaccio, Donatello zur Renaissance, die in den zwei Jahrhunderten ihrer Herrschaft, und zwar in den Stufen der Früh-, der Hoch- und der Spätrenaissance, mit vorbildlicher Klarheit den periodischen Ablauf der geistigen Bewegung veranschaulicht. Nur nebenbei kann hier vermerkt werden, daß die Entwicklung der Renaissance in ihrer unerschöpflichen Fülle zu einer weiteren Stufenunterscheidung zwingt; so namentlich im Quattrocento, wo Leon Battista Alberti nach Brunelleschi nur als der große synthetische D e n k e r und Vorläufer der Hochrenaissance verständlich wird, während z. B. Spätquattrocentisten wie Botticelli oder Filippino Lippi als Vertreter einer durchaus nicht unbedenklichen geistigen Entmittung erscheinen, durch die sie sich dem Manierismus der Spätrenaissance nähern. Aber lassen wir diese kleineren Periodizitäten auf sich beruhen, so muß gesagt werden, daß Wölfflin auch f ü r den bedeutsamen Ablauf Früh-, Hoch-, Spätrenaissance nur wenig Verständnis zeigte, indem er die Frührenaissance trotz ihres eigenwilligen, stilstarken C h a r a k t e r s nur als einen A u f t a k t zum „klassischen" Stil des Cinquecento verstand, dagegen den 75
vielumstrittenen Manierismus der Spätrenaissance als einen Ausklang der Renaissance oder Übergang zum Barock betrachtete. Dadurch, daß Wölfflin den übergreifenden Stilgegensatz Renaissance—Barock vorzugsweise mit Hilfe der Hochrenaissance verdeutlicht, während der kritische Beobachter die gleiche Hochrenaissance unwillkürlich auch der Frührenaissance gegenüberstellt, war der Anlaß zu endlosem Mißverständnis gegeben, weil die klassische Form der Hochrenaissance eine geradezu entgegengesetzte Beurteilung erfährt, je nachdem wir sie auf den Barock oder auf die Frührenaissance beziehen. Im ersten Fall zeigt die Klassik des früheren 16. Jahrhunderts sämtliche Züge einer ersten, peripher-gebundenen Stilstufe; im Vergleich zu der Frührenaissance des Quattrocento veranschaulicht sie vielmehr schon die typischen, von Wölfflin dem Barock zugesprochenen Merkmale einer zweiten Stilstufe. Solche Beobachtung setzt allerdings voraus, daß die nicht sehr präzis formulierten Stilbegriffe Wölfflins in hohem Maße relativierbar sind. Es gibt ganz verschiedene Grade und Möglichkeiten einheitlicher, tiefenhafter, malerischer Gestaltung. *
Ein bekanntes Beispiel kann diesen scheinbar etwas komplizierten Sachverhalt verdeutlichen. Kommt man von den traditionellen, aus den Klosterrefektorien bekannten Darstellungen des letzten Abendmahls zu Leonardos Wandbild in S. Maria della Grazie in Mailand, so erscheint dieses als Inbegriff zentralgeistiger, ganzheitlicher Gestaltung gegenüber der peripher-vielheitlichen Ordnung etwa bei Ghirlandajo. Statt einer verschwenderischen Ausbreitung des Stoffes, den der Quattrocentist dem biblischen Bericht und der nahen Wirklichkeit des Florentiner Lebens entnimmt, konzentriert Leonardo seine Aufmerksamkeit ganz auf die Gestalt des Herrn in seiner zentral dominierenden Beziehung zu den Jüngern. Statt des gereihten Nebeneinander der zwölf Männer hinter dem Tische, denen nur der Judas seitlich gegenübersitzt, gibt Leonardo einen unendlich reich in sich selbst gegliederten, beseelten und bewegten Bildorganismus; die Isolierung des Judas in den älteren Darstellungen ist 76
eine sehr äußerliche, stofflich begründete, die zentrale Aussonderung des Herrn bei Leonardo beruht auf einer geistigen, dem mystischen Opfer sehr nahen Sinngebung des Stoffes, und diese oestimmt das gesamte Bildgefiige: die strahlende Selbstentäußerung der herrschenden Mitte, des Herrn; die Bewegung nach außen, die in den bewegten Dreiergruppen der Jünger weitergetragen wird, dann aber wieder auf die Bildmitte zurückflutet. Und so groß ist diese strahlende Gewalt der Mitte, daß sie sogar die gesamte Architektur, die vorher nur schmückendes und rahmendes Beiwerk war, ergreift, sie gleichsam dramatisiert, bis sie den tiefsten Gedanken der heiligen Handlung in ihrer abstrakt gesetzlichen Sprache wiederholt. Gewiß ist hier, auf dem Gebiet der Abendmahlsdarstellung, von einem Prozeß zentralgeistiger Abstraktion und Synthese zu sprechen; Abstraktion, weil in dieser tief durchdachten, bauenden Gestaltung kein Platz mehr ist für den zufälligen Sinnenreiz, für das Zusammenpflücken von Wirklichkeitsstoff, das das quattrocentistische Bild zu einem bunten Strauß gestaltete; Synthese, weil in dieser überwirklich gesteigerten Darstellung des Themas eine endlose Fülle einzelner Wahrnehmungen enthalten und verschmolzen ist. Nur wird man bei näherem Zusehen erkennen, daß Leonardos „klassische" Darstellung erst möglich wurde, weil sie — immer im Vergleich zum Quattrocento — schon sehr wesentliche, angeblich „barocke" Stilmerkmale besitzt. Das trifft auf die einheitliche Einheit — besser Ganzheit — der Darstellung zu gegenüber der vielheitlichen, gereihten Ordnung der Frührenaissance. Es gilt für die entschieden tiefenhafte Durchgestaltung der Dreiergruppen mit den sich überschneidenden Figuren im Vergleich zu der früheren flächenhaften Stoffausbreitung. Aber es bezieht sich nicht zuletzt auch auf die Überwindung streng linearer Formbegrenzung zu Gunsten einer beginnenden malerischen Formverschmelzung, ohne die eine übersichtliche Gliederung der Männergruppen nicht möglich gewesen wäre. Leonardos, dann Correggios sfumato ist das erste Zeichen, daß der abendländische Künstler in der Abstufung von Licht und Schatten das Ineinanderfließen von Form und Form, Figur und Grund als ein kon77
tinuierliches Geschehen erfaßt. Auch in Venedig sind die Anfänge des dort später intensiv gepflegten malerischen Stiles zweifellos bis in das frühe Cinquecento, die Zeit Giorgones und des frühen Tizian zurückzuverfolgen. Was hier in Kürze über Leonardos Meisterwerk gesagt werden konnte, ist grundlegend für die gesamte Klassik der italienischen Hochrenaissance. Es ist das von Alberti schon in der zweiten Stufe der Frührenaissance formulierte Ideal der concinnitas, des harmonischen Einklangs aller Teile miteinander und mit dem Ganzen, das erst jetzt allgemein die künstlerische Vorstellung bestimmt. Es ist das neue Mittelpunkt- und Ganzheitsbewußtsein, das in der heroisch gesteigerten Körperdarstellung und Ausdrucksbewegung den Menschen als einen kernhaft gewachsenen und beseelten Organismus erfaßt, um aber — bei Leonardo, Raffael, Michelangelo — sofort über den einzelnen Menschen hinaus zu dem wiederum ganzheitlich gegliederten Gruppenorganismus zu schreiten. Es ist die gleiche Betonung einer herrschenden Mitte, die wir in Bramantes Zentralbauten erkennen; das gleiche synthetische Formgefühl, das die Baugeschosse • in seiner „großen Ordnung" zusammenfügt. Dazu kommt, wie schon bei Leonardo, der Zusammenklang zwischen der Figur oder Figurengruppe mit der gemalten Architektur: durch. Raffael in den Stanzen des Vatikans, durch Michelangelo in der Sixtinischen Decke. Infolge solcher Verbindung wird die Menschendarstellung einer höheren Gesetzlichkeit zugeordnet, sie wächst an der Architektur, die ihrerseits eine menschliche Gebärde erhält. Die naheliegende Folge ist, daß sich zwischen den einzelnen Künsten ein Bündnis vollzieht, das in dem vielseitigen Ingenium der drei großen Meister seine ausdrückliche Bestätigung findet. Man kann angesichts der von Michelangelo nur zum Teil ausgeführten Planungen für die Lorenzofassade und die Medicigräber in Florenz, das Juliusgrab in Rom noch nicht von einer eigentlichen Konjunktion zwischen Bau- und Bildkunst sprechen, aber wohl ist die gegenseitige Annäherung und Verständigung eine viel innigere als im Quattrocento. Schon eher weist die klassische concinnitas auf die barocke conjunctio hin, wenn Correggio in seinen Kuppel78
fresken in Parma zur illusionistischen, endlosen Raumerweiterung schreitet. Hier, in Oberitalien, führt der Weg von Mantegna über Correggio zu Tiepolo; genauere Beobachtung ergibt, daß die Synthese zwischen Baukunst und Malerei sich etappenweise in den zentralgeistigen Stufen und Unterstufen der Neuzeit vollzieht: in der zweiten Stufe der Frührenaissance, in der zweiten Hauptstufe der Renaissance und schließlich im Barock, der zweiten umfassenden Periode der gesamten Neuzeit. Bei der Frage, ob auch in der Hochrenaissance die Wendung zur geistigen Mitte eine Begegnung mit der Frau bedeutet, darf nicht vergessen werden, daß die gesamte Neuzeit im Gegensatz zum Mittelalter eine männliche Signatur besitzt, und daß namentlich wiederum die erste Periode, das Zeitalter der Renaissance, des Humanismus und der Reformation, nur entschieden männlich betont sein kann. In wie hohem Grade das auch für den Norden zutrifft, kann man sich an den Gestalten Luthers, Ulrich von Huttens oder Erasmus' vergegenwärtigen und gewiß auch an der überaus männlichen Kunst Dürers, Holbeins oder Brueghels. Trotzdem ist die Frage berechtigt, ob nicht gegenüber dem linear umgrenzenden, sachlichen und gewiß männlichen Stil der Quattrocentisten die malerische Auflockerung der Form und die sinnlich weiche Formgebung Leonardos oder Correggios als spezifisch weiblich bezeichnet werden darf und als besonders geeignet zur Darstellung der Frau. Untrennbar damit verknüpft ist eine weitere Beobachtung: die neue, tiefer geistige Würde und zugleich sinnliche Fülle, die die Frauengestalt im Cinquecento gewinnt. Leonardos Mona Lisa hat da als Porträtdarstellung vielleicht weniger zu besagen, obwohl sie als das erste innerlich beseelte Bildnis der abendländischen Kunst bezeichnet werden konnte. Aber das gleiche selbstbewußte und zugleich hingebungsvolle Frauenlächeln ist auch Leonardos heiligen Frauen zu eigen, und wenn nun allgemein die weibliche Idealgestalt nicht mehr wie so oft in der Frührenaissance als ein junges Mädchen, sondern als eine junge Frau aufgefaßt wird, so heißt das eben, daß jetzt, bei Raffael, Michelangelo und del Sarto, bei Leonardo, Correggio und den 79
Venezianern, die biologische und psychologische Frauenreife zum Gegenstand des tiefsten künstlerischen und geistigen Interesses erhoben wird. Nur so wird begreiflich, daß die italienische Hochrenaissance in Raffaels Madonnen und in den venezianischen Venusdarstellungen Giorgones und Tizians einen bleibend gültigen Typus der bekleideten und der nackten weiblichen Idealgestalt schuf. Ganz besondere Bedeutung gewinnt in diesem Zusammenhang die Gliederung des Bildorganismus schon bei Giorgone. Im Gegensatz zu der streng klassischen, symmetrischen Ordnung mit betonter Mittelachse zeigt Giorgones schlummernde Venus eine diagonale Aufteilung der länglich rechteckigen Bildfläche in zwei Dreiecke, von denen das untere, vordergründige die auf der Erde ruhende Frau umschließt, während das obere Dreieck den Himmel und die ferne Landschaft in sich enthält. Wir kommen näher auf diese für die Barockkunst so ungemein wichtige, umgekehrt symmetrische und damit bipolare Bildstruktur zurück, betonen aber, daß sie schon in der italienischen Klassik vorweggenommen wird und daß gerade dort die gegenseitige Ergänzung der beiden Dreiecke zur Bildeinheit unmißverständlich als erotische Beziehung ausgedeutet werden kann. Das geschieht z. B., wenn sich bei Tizian aus dem „himmlischen" Dreieck der Goldregen über die ruhende Gestalt der Danae ergießt oder wenn bei Correggio die Wolke im oberen Bildfeld sich in Jupiter verwandelt, der die Io umfaßt. Wir werden aber sehen, daß der spätere, barocke Eros seine reine Ausgestaltung auch ohne jede anthropomorphe Verdeutlichung oder figürliche Darstellung erfahren konnte. Unser Augenmerk galt dem Nachweis, daß die ungeheuer reichhaltige italienische Renaissance eine gut ausgeprägte zentralgeistige B-Stufe aufweist, die ohne die vorangehende Stufe peripheren Weltergreifens nicht verständlich sein würde. Denn „was man zusammenziehen will, muß man erst sich ausbreiten lassen" (Lao Tse). Die zugehörige dritte Stufe, die Spätrenaissance, kann uns hier nicht ausführlich beschäftigen. Aus der bloßen Kenntnis des Entwicklungsgesetzes und dem Begriff italienischer Klassik 80
geht aber die historische Berechtigung und die stilistische Eigenart einer Spätrenaissance hervor, die also etwas ganz anderes und viel mehr ist als ein bloßes Nachklingen der Klassik oder ein Übergang zum Barock. Vielmehr wird die nicht leicht bestimmbare Eigenart des viel umstrittenen und von Wölfflin kaum beachteten Manierismus des späteren 16. Jahrhunderts in Italien wie auch im Norden durch die Auflösung der gebundenen, klassisch-geistigen Struktur bedingt, die auch der neuen, barocken Synthese vielfach entgegengesetzt ist und die verschiedensten Spaltungserscheinungen heraufbeschwört. Man müßte zu den Abendmahlsdarstellungen der Frührenaissance und Leonardos die Behandlung des gleichen Stoffes durch Baroccio oder Tintoretto gesellen, um zu erkennen, wie das Interesse wiederum sich von der Mitte abwendet, nach den Seiten abfließt und — auch stofflich — das periphere Beiwerk hervorhebt. Vielfach wird eine kühle und glatte Formgebung bevorzugt, aber ebenso bezeichnend ist unter Ausnützung künstlicher Lichtquellen eine unruhig flackernde, malerische Formauflösung. Wie so oft in einer zentrifugalen Geistesstufe wandelt sich der Eros in eine tändelnde Erotik; in den überschlanken Frauenkörpern mit den kleinen Köpfchen scheint die zuvor zentral geballte Lebenskraft in die stark bewegten und verlängerten Gliedmaßen abzufließen. Man kann von einer geistigen Entleerung reden, aber zu der gleichen Zeit zeigt uns El Greco, wie der Geist sich auch von seinem natürlichen und sinnlichen Substrat ablösen kann, um zu einer ergreifenden, ekstatischen und exaltierten Ausdruckskunst zu führen, die erst in der strukturverwandten ausgehenden Neuzeit wiedererkannt wurde. Sicher ist es nicht immer leicht, eine scharfe Grenze zwischen dem Manierismus und dem Frühbarock zu ziehen. Trotzdem behalten die Entmittungs-, Entbindungs- und Entleerungserscheinungen der Spätrenaissance ihre stufenspezifische Eigenart unter dem allgemeinen Gesichtspunkt, daß der umfassende, synthetische Weltbegriff des Barockzeitalters sich erst durchsetzen konnte, nachdem die klassischen Bindungen des goldenen Zeitalters zerschlagen wurden.
6 Scheitern», «eistige Mitte
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Barock
Es ist verständlich, daß die Wandlung der geistigen Struktur sich in der periodischen Abfolge Frühe Neuzeit (Renaissance), Mittlere Neuzeit (Barock) und Späte Neuzeit (seit der Aufklärung) deutlicher ausprägt, als es innerhalb der Renaissance der Fall sein kann. Die zentralgeistige Qualität des Barock ist leichter erkennbar als die der Hochrenaissance; dies ist der Grund, weshalb Wölfflins Aufmerksamkeit zuerst durch die allgemeinen Stilgegensätze zwischen Renaissance und Barock gefesselt wurde und nicht durch die Stileigenart der einzelnen Renaissancestufen. Indem wir unserseits nachwiesen, daß der von Wölfflin f ü r den Barock in Anspruch genommene Durchbruch einer einheitlichen, tiefenhaften, malerischen Formgestaltung usw. sich schon in der Hochrenaissance im Vergleich zur Frührenaissance vollzieht, wurde die Beurteilung der barocken Stilwende schon zum wesentlichen Teil vorweggenommen. Nur ist der Übergang zum Barock noch etwas anderes als eine radikale Wiederholung der Wende von der Früh- zur Hochrenaissance, und so wird sich zeigen, daß wir an Hand der Wöliflinschen Stilkategorien zwar bedeutsame Merkmale, aber noch keineswegs die gesamte Eigenart der Barockkunst erfassen. Als die zweite, mittewendige Geistesstufe der Neuzeit erscheint uns das Barockzeitalter nicht nur chronologisch als das mittlere Alter, sondern auch geistesgeschichtlich als das „Mittelalter" unserer Neuzeit, ähnlich also wie die Bronzezeit als das Mittelalter unserer Vorzeit zu bezeichnen war. Auf dem kleineren Zifferblatt der Neuzeit und im großen Umlauf Vorzeit—Mittelalter—Neuzeit entsprechen sich die Stufen des Barock und des Mittelalters. Infolgedessen ergeben sich sympathische Beziehungen zum Mittelalter, die während der Renaissance, der Proteststufe gegen das Mittelalter, kaum denkbar wären. In diesem Zusammenhang ist allgemein an die Stärkung des kirchlichen Gedankens zu erinnern, an die durch die Jesuiten erneuerte und gefestigte Macht der katholischen Kirche und des 82
Papsttums, an den gleichfalls durch die Jesuiten vertieften Marienkult. Über den immerhin beschränkten Geltungsbereich des reformierten Katholizismus hinaus offenbart sich das neue Mittelpunktbewußtsein allgemein als eine Wendung zum Irrationalen und zu einer vertieften Religiosität: im protestantischen Pietismus, in der Mystik eines Jakob Böhme oder Angelus Silesius, in der Bewegung der Rosenkreuzler, aber zweifellos auch in den umfassenden Begriffssystemen der großen Rationalisten Descartes, Spinoza und Leibniz, die trotz der irreführenden Bezeichnung entschieden religiös und irrationalistisch gefärbt sind und innerhalb der Neuzeit wohl in der Tat das Gegenstück zu den großen Gedankengebäuden der mittelalterlichen Scholastik bilden. Obwohl die f ü r die gesamte Neuzeit bezeichnende kirchliche Spaltung nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte, ist es doch höchst bezeichnend, daß ein so universaler Geist wie Leibniz an eine Wiederherstellung der mittelalterlichkirchlichen Katholizität gedacht hat. Im Zusammenhang mit der Kunst wird die Philosophie des Barock noch hier und da zu berücksichtigen sein. Hier sei nur noch vermerkt, wie klar sich die zentralgeistige Struktur des Zeitalters in der Philosophie ausprägen kann, z. B. in Leibniz' Monadologie, die wir als ein allumfassendes, endlos in sich selbst abgestuftes Emanationssystem verstehen: jeder Körper ist eine Erscheinung von immateriellen, aber seelischen und strebenden Kraftzentren, von Monaden, die jede für sich das gesamte Universum spiegeln; jeder lebende Organismus wird von einer mit Selbstbewußtsein ausgestatteten Seelenmonade beherrscht, während sämtliche Monaden als Ausstrahlungen einer höchsten, zentralbeherrschenden „Monade der Monaden", d. h. Gottes, zu verstehen sind. Noch deutlicher greift gleichzeitig der Mystiker Angelus Silesius in seiner tiefreligiösen, dichterischen Schau immer wieder auf das Bild der Kreisperipherie und -mitte zurück: Ich weiß nicht, was ich bin, ich bin nicht, was ich weiß: Ein Ding und nicht ein Ding: ein Tüpfchen und ein Kreis. Oder: Setz dich in 'n Mittelpunkt, so siehst du all's zugleich, Was jetzt und dann geschieht, hier und im Himmelreich. «*
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Noch stärker: Als G o t t verborgen lag in eines Mägdlein Schoß, D a war es, daß der Punkt den Kreis in sich beschloß. In mancher Richtung ist die Parallele zum Mittelalter zu ergänzen. Obwohl von einem absoluten Führungsanspruch des Sakralbaüs oder der Baukunst im allgemeinen nicht mehr gesprochen werden kann, offenbart sich doch auch seit dem 17. Jahrhundert die geistige Selbsteinkehr in einer Besinnung auf die abstrakte Gesetzlichkeit der Architektur und in einer bauenden Energie, die noch heute das Antlitz der abendländischen Kultur großenteils bestimmt. D a s gilt für die überwältigend reiche Entfaltung des Kirchenbarocks in den katholischen Kult- und Klosterbauten; dazu kommt die höchste Steigerung auch des protestantischen Kirchenbaus, der ganze Reichtum der fürstlichen, die Natur und das Stadtbild zentraldominierenden Schloßbauten oder auch der monumentalen Bürgerbauten, in denen sich das stolze Selbstbewußtsein des städtischen Bürgertums ausdrückt. Die Peterskirche in Rom und die Paulskirche in London, das Versailles Ludwigs X I V . und das markgräfliche Karlsruhe, die fürstbischöfliche Residenz in Würzburg, das Rathaus zu Amsterdam sind einzelne bekannte Beispiele, die an die verschiedenen Gattungen dieser überragenden Baukunst erinnern. Unter diesen können wir das Fürstenschloß — trotz der schon in der Renaissance bestehenden Schloßbauten — als einen für das Barockzeitalter spezifischen, neuen Bautypus bezeichnen und als Sinnbild des neuen Staatsgedankens : der von Hobbes philosophisch begründeten a b s o l u t e n M o n a r c h i e . Im Gegensatz zum mittelalterlichen Kaisertum hatte dieser Absolutismus einen ausgesprochen nationalen bzw. territorialen Charakter. Sehen wir aber, wie Ludwig X I V . , der glänzendste Vertreter der unbeschränkten Machtvollkommenheit, die Universalherrschaft anstrebt, und wie sich um diesen „von Gott gegebenen" und als „Sonnengott" verehrten Herrscher ein äußerst komplizierter Kult entwickelt, so dürfen wir auch im barocken Absolutismus eine neuzeitliche Parallele zum Mittelalter und ein Wiederaufleben des mittelalterlichen Kaisergedankens 84
erkennen. Jedenfalls ist es deutlich, wie eigenartig sich auch im Politischen das neue Mittelpunktbewußtsein durchsetzt, und wie in diesem absoluten Herrschertum der Fürst zum Zentralsymbol eines streng regulierten, totalitären Systems erhoben wird, das sich über das gesamte Geistesleben, über Künste und Wissenschaften so gut wie über die Organisation des Handels und der Industrie erstreckt. Dazu mag in der sehr modern anmutenden Utopie des Abbé Saint Pierre wohl eher die mittelalterliche Idee der universalen Christengemeinschaft zu erkennen sein: als Begründer des Pazifismus tritt Saint Pierre gegenüber Ludwig XIV. mit dem Gedanken einer friedlichen Organisation aller Völker mit internationaler Polizeimacht hervor. Bei der Erwähnung der kulturgeschichtlichen Parallelen zum Mittelalter muß allerdings auffallen, daß die barocke Einheitsidee sich sehr verschieden ausgestaltet und zur Unterscheidung mehrerer Kulturbezirke zwingt, die zwar ineinander übergreifen, aber doch eine gesonderte Betrachtung erfordern. Eine nähere, auch für den Kunsthistoriker wichtige Bestimmung dieser Bezirke barockgeistiger Kultur wird durch einen eigenartigen Gedanken bei Leibniz erleichtert, wenn er das Verhältnis Gottes zu den Geistern und zu den Geschöpfen mit dem des Fürsten zu seinen Untertanen und des Vaters zu seinen Kindern vergleicht (Monadologie 84). Aus dieser mikrokosmisch-makrokosmischen Analogie ergeben sich drei um eine zentrale Herrschergestalt geordnete Systeme, denen wiederum drei Sondergebiete barocker Kunstbetätigung entsprechen: die übernationale, aber besonders in Italien und Süddeutschland blühende Kunst der katholischen Kirche; die durch das absolute Königtum diktierte französische Hof- und Staatskunst; die Kunst des protestantischen Bürgertums, vor allem in Gestalt der ganz dem Wohnraum dienenden niederländischen Tafelmalerei. Merkwürdigerweise steht die spanische Kunst in ihren höchsten Leistungen der niederländischen Tafelmalerei näher als dem Kirchenbarock oder der französischen Hofkunst. *
Der Reichtum des abendländischen Barock ist auf den Gebieten der Zierkunst und Werkkunst, der Baukunst, Bild85
nerei und Malerei so mannigfaltig, daß die gemeinsame zentralgeistige Struktur hier nur an einigen besonders sprechenden Beispielen verfolgt werden kann. Stellen wir — um von dem katholischen Sakralbau auszugehen — eine Reihe von Langbauten zusammen, die sich von Brunelleschis S. Lorenzo in Florenz über Albertis S. Andrea in Mantua, Spaventos S. Salvatore in Venedig und Vignolas II Gesu in Rom bis Guarinis S. Maria in Lissabon erstreckt, so finden wir, daß die Bewegung fortlaufend auf ein bestimmtes Ziel, auf die Gewinnung eines möglichst reich in sich gegliederten Raumganzen gerichtet ist. Diese Bewegung ist keine kontinuierlich fließende; der Wille zur ganzheitlichen Raumgestaltung setzt sich vielmehr stoßweise in den unter- und übergeordneten zentralgeistigen B-Stufen durch: in der zweiten Stufe der Frührenaissance (Alberti), in der Hochrenaissance (Spavento), im Frühbarock (Vignola) und endlich im Hochbarock (Guarini). Die Formulierung drängt sich auf, daß die Steigerung synthetisch-geistiger Energie zwar eine fortgesetzte, aber diskontinuierliche, quantenhaft geartete ist. Wir können hier nicht verfolgen, wie diese sprunghafte Bewegung sich mit immer neuen Mitteln durchsetzt, aber das Endergebnis ist in wenigen Worten anzudeuten: statt einer Vielheit klar voneinander getrennter, diskreter Raumteile (Brunelleschi) gibt der Barockkünstler einen kernhaft gewachsenen, einheitlichen Raumorganismus, dessen Teile — Haupt- und Nebenräume — sich gegenseitig durchdringen und unabgrenzbar dem Ganzen eingebunden bleiben. Es entsteht ein Organismus, wo — nach Kant — „jeder Teil durch alle übrigen und um dieser und des Ganzen Willen existiert, Ursache und Wirkung zugleich ist". Diese in der Baukunst kaum statthaft scheinende Wendung zum Organischen ist es, die allgemein den atektonischen, damit irrationalen Charakter barocker Baugestaltung bedingt; den Ersatz des statischen „Gerüsts" durch den lebendigen ,Atemzug" (Wölfflin); den Übergang einfacher geometrischer Gewölbeformen zu äußerst komplizierten, infinitesimalen Gebilden, und zwar zu der gleichen Zeit, als Leibniz und Newton die Grundlagen der Differentialrechnung schufen. Die gleiche irrationale Besinnung auf einen organi86
scheii Keimpunkt führt zur Vermeidung jedes rechteckigen, scharfkantigen Zusammenstoßens der Raumteile und Grenzen, zur Ausschaltung sogar jeder geraden Linie, nicht nur in dem genial übersteigerten italienisch-süddeutschen Kirchenbarock, sondern auch im Grundriß oder in der Verbindung von Wand und Decke profaner Innenräume: sogar der traditionelle Begriff der „vier Wände" wird aufgehoben. Der Struktur der Zeit gemäß entstehen zahllose Zentralräume, die allerdings seit der Renaissance keine Neuerung darstellen; erst im Barockzeitalter aber erfolgt die monumentale Ausgestaltung auch des protestantischen Zentralbaus (Frauenkirche in Dresden, Michaeliskirche in Hamburg). Eine völlige Neuschöpfung dagegen war seit Vignola der ovale oder rein elliptische Kirchengrundriß, in dem wir den Drang nach einer unerhört kühnen Synthese erkennen: nach Verschmelzung des Langbaus mit dem Zentralbau, des Aufgangs zur heiligen Mitte mit deren allseitiger Ausstrahlung. Den ovalen Grundrissen entsprechen ähnliche ellipsoide Gewölbeformen, aber die Wahl solcher Kurven ist viel allgemeiner. Wir finden den ovalen Grundriß in den großen Saalanlagen und kleinen Kabinetten der profanen Baukunst oder das Oval als den gar nicht durch den Grundriß bedingten Querschnitt der Gewölbe, auch allgemein als Bogen und Rahmen und sogar als Bildfeld der freien Tafelmalerei. Damit gewinnt die Ellipse eine Bedeutung, über die wir schon bei der Erwähnung des gotischen Spitzbogens (und bronzezeitlichen Wellenbandes) zu sprechen kamen: im Gegensatz zu dem allgemein verbreiteten Kreis oder Kreissegment der Renaissance wird die Ellipse nicht über e i n e n , sondern über z w e i Brennpunkte konstruiert, sie veranschaulicht eine aus einer betonten Zweiheit erwachsene Einheit, wird zum Sinnbild des b a r o c k en E r o s . Verwandte bipolare Strukturen in der Bildnerei und Malerei werden diese Auffassung noch bestätigen. Man könnte dagegen einwenden, daß im Gegensatz zum kreisrunden Deckenbild oder dem Tondo der Hochrenaissance schon die Spätrenaissance öfters ovale Bildfelder wählte. Gerade dieser Hinweis aber kann zum tieferen Begriff des Unterschiedes zwischen Manierismus und Barock führen und der Umkehrung der geistigen 87
Bewegung, die sich zwischen diesen Stufen vollzieht. Denn es ist etwas grundlegend anderes, ob nach der strengen Zentralordnung italienischer Klassik die zentrifugale Tendenz der Spätrenaissance zu einer Entzweiung in der Kernsubstanz und damit zum manieristischen Oval führt, oder ob im Barock die beiden getrennten und um zwei Polpunkte gelagerten Kernmassen in eine funktionale Beziehung zueinander treten und das Oval zum Wirkungsfeld einer dynamischen, nach Ganzheit strebenden Spannung erheben. Im ersten Fall erscheint das Oval als das Ergebnis geistiger Entmittung. Im zweiten Fall wird die gleiche Form zum Zeichen neuer geistiger Zumittung, zum Schauplatz des barocken Eros. *
Vom barocken Raumgefühl ist zu sagen, daß es — ähnlich wie das der Gotik — nicht peripher, sondern zentral geartet ist, nicht von außen nach innen, sondern umgekehrt gerichtet. Infolgedessen erscheinen die Raumgrenzen nicht mehr als ein primär Gegebenes, sondern als sekundäres Ergebnis; namentlich wenn die ganze Wand in konkavkonvexe Schwingung gerät, ist diese undulierende Bewegung nur so zu verstehen, daß der lebendig atmende, sich ausweitende und wiederum zusammenziehende Raumkörper von sich aus seine Grenzen zieht. Wie in der Gotik kann nun auch der barocke Strahlungsraum sich nach außen in unbestimmbaren, endlosen Fernen verlieren; nur geschieht diese Entstofflichung, Verneinung, Vergeistigung der Raumschale nicht durch die Glasmalerei, sondern in Gestalt der Wand- und vor allem einer Decken- und Kuppelmalerei, die den Kirchenraum durch den Himmelsraum mit seinen Heiligen erweitert. An sich war diese illusionistische Raumerweiterung, wie wir gesehen haben, nichts Neues; aber niemals wurde sie unter Zuhilfenahme des Lichtes, gemalter Scheinarchitekturen und plastischer Gestalten so hinreißend und einheitlich durchgeführt wie im Barockzeitalter, niemals wurde die Einheitssynthese zwischen Raumkörper und Raumgrenzen, zwischen Baukunst und Malerei, Diesseits und Jenseits, Wirklichkeit und Wunder so leidenschaftlich erstrebt wie im italienischen und, noch stärker, im süd88
deutschen Kirchenbarock. Es liegt nahe, daß die Kuppelmitte, auf die alle Bewegung hinweist und hinflutet, als die höchste geistige Mitte des Weltalls — und der barocken Weltanschauung — zumeist in der Darstellung der göttlichen Personen oder Symbole ihre besondere Sinndeutung erfährt. Damit ist auch die umgekehrte Bewegungsrichtung zu erkennen: der gesamte Kirchenraum wird zu einem Strahlungssystem, in dem — nach Leibniz! — Gott als die alles in sich schließende Monade der Monaden sich zuerst in den Kreis der Heiligen ergießt, um zuletzt auch alles greifbar Nahe und Wirkliche in seinen Bann zu ziehen. Fügen wir hinzu, daß auch die Bildnerei sich wirksam an der Verknüpfung von Bau- und Bildkunst beteiligt, während die Musik diese traumhafte Wirklichkeit mit rauschendem Leben erfüllt, so erkennen wir, wie das barocke Ganzheitsbewußtsein zu einer totalitären Verschmelzung aller Künste schreitet, wie sie später — etwa in der Romantik oder von Wagner — wohl noch gelegentlich versucht, aber niemals mehr erreicht wurde. Was über die innere Raumgestaltung und den Zusammenklang aller Kunstgattungen gesagt wurde, gilt vielfach auch für die profane Baukunst; nur ist es in den fürstlichen Palasträumen meistens nicht der christliche, sondern der antik-heidnische Himmel, der zur grenzenlosen Raumausweitung dient, während auch Spiegelwände und Fenstertüren zur Verneinung der stofflichen Raumgrenzen herangezogen werden. Dazu beanspruchen die barockfürstlichen Schloßbauten besonderes Interesse im Vergleich zum Palastbau der Renaissance. Wesentlich ist schon, daß die künstlerische Absicht sich in der Renaissance auf die Fassade oder die Ausstattung der einzelnen Räume beschränkte, deren Anordnung eine durch den praktischen Zweck diktierte Reihung oder Häufung einzelner Zellen blieb. Erst der Barockarchitekt faßt dieses Zellenkonglomerat zu einem einheitlich durchgestalteten, zentralregulierten Organismus zusammen, dessen Kern- und Herzraum eindrucksvoll betont wird: das ist das oft verschwenderisch mit Skulpturen und Malerei ausgestattete Treppenhaus als Ausgangspunkt der zugleich in die Tiefe, in die Höhe und nach den Seiten fließenden Be89
wegung. Diesem fast sakral anmutenden Kernraum entspricht im äußeren Baukörper das überhöhte und vorspringende Mittelrisalit. Gesellen sich dazu noch Eckrisaliten an den beiden Flügelenden, so ergibt sich die „monarchische" Gruppenordnung einer zentralen Dominante mit seitlichen Trabanten, die noch einmal eindringlich auf ihre gemeinsame Mitte hinweisen: der nach der Höhe, Tiefe und Breite abgestufte Baukörper wird zum Sinnbild des fürstlichen Absolutismus, des zentralen Herrschaftsgedankens, der aber zugleich weit über das Bauwerk hinausgreift. Bei dem dreiflügeligen französischen, aber auch in Deutschland weitverbreiteten Schloßtypus greift der Baukörper mit beiden Armen in die Außenwelt hinein. Bei dem vorbildlichen Versailles Ludwigs XIV. durchschreitet die dominierende mittlere Achse — die „Königsachse" — nicht nur die riesigen Ehrenhöfe, sondern erstreckt sich auch kilometerweit durch die rückwärtigen Gartenanlagen, wo die Kunst Lenotres der absoluten Herrschergewalt zum letzten Sieg verhilft, indem sie das monarchische Diktat auch auf die lebende Natur ausdehnt. In dieser Gartenkunst des Barock vollzieht sich die Synthese von Bauwerk und Natur zu einem unlösbaren Ganzen; der Schloßbau wirkt nicht nur durch seine Höfe, Terrassen, Freitreppenanlagen naturverbunden, sondern die bauende und ordnende Gewalt greift weiter durch, sie durchsetzt die Natur mit ihren Kanälen und Wasserkünsten, Pavillons, Sockelstatuen, Vasen, oder baut in den geschnittenen Hecken, den Lauben, Rasenplätzen und Blumenbeeten mit dem lebendigen Baustoff der Natur. Dazu kann der zentrale Herrschaftsgedanke auch das Stadtbild bestimmen. In Versailles entsendet die Schloßmitte ein Bündel radial geordneter Strahlen in den Park, drei weitere aber bis tief in die Stadt hinein. In Karlsruhe bildet das Schloß die herrschende Mitte einer radialen Anlage, die mit ihren 32 Strahlen nach Norden die Natur, nach Süden die Stadt durchgliedert. Diese zentralregulierende Kraft ging aber nicht nur vom Fürsten aus. Durch die Kolonnaden Berninis und die zugehörigen riesigen Platzanlagen greift die Peterskirche in Rom tief in das Stadtbild hinein. Durch die Bauleidenschaft der kirchlichen Bauherren wachsen die 90
Klosterkirchen mit ihren Wohn- und Wirtschaftsgebäuden zu gewaltigen Baukomplexen aus, die mit den durch Flügeltrakte umschlossenen Binnenhöfen und Gärten einen beträchtlichen Teil des Naturraums in sich hineinnehmen. Es ist in diesen Ausführungen der ganze Nachdruck gelegt auf den Durchbruch des barocken Mittelpunktbewußtseins und auf den einer geistigen Autorität, die sich von einem bestimmten Punkt und von der bestimmten Persönlichkeit des absoluten Monarchen — l'état, c'est moi! — allumfassend, totalitär auf die gesamte Umwelt erstreckt. Wir verzichten auf den Nachweis, wie dieses totalitäre Regime in der französischen Hofkunst unter der Diktatur Lebruns das ganze Gebiet der Baukunst, Bildnerei, Malerei und Gartenkunst, der Teppichwirkerei und Möbelschreinerei, der Tracht, der Festdekoration und des Feuerwerks ergreift und in den bildenden Künsten sogar zu einer Normierung der seelischen Ausdrucksformen fortschreitet, die übrigens auch dem Mittelalter keineswegs fremd war. Im Hinblick auf den westeuropäischen Klassizismus muß aber betont werden, daß die Barockkunst nicht immer die von Wölffliii aufgestellten Stilcharaktere zu zeigen braucht, in denen wir vielmehr nur einen besonderen Fall, eine besonders wichtige Möglichkeit barockgeistiger Synthese erkennen. Wenn seit Palladio und in dem besonders in England blühenden palladianischen Klassizismus die zusammenfassende große Gebärde des Barockbaumeisters sich in der alle Geschosse durchgreifenden Kolossalordnung bemerkbar macht, handelt es sich um einen schon in der Hochrenaissance (Bramante), ja in der zweiten Stufe der Frührenaissance (Alberti) ausgebildeten Baugedanken. Solche Beobachtung kann aber zur richtigen Deutung der im Abendlande oft wiederholten, nicht leicht verständlichen Klassizismen — und Rationalismen! — führen. Schon bei Alberti bedeutet „ K l a s s i z i s m u s " durchaus nicht nur rationale Besinnung auf die tragende und lastende Funktion der einzelnen Bauglieder, sondern Zusammenklang aller Bauglieder miteinander und mit dem Ganzen des Bauwerkes; seine Baukunst ist keine konstruktive Logik, sondern „Musik der Verhältnisse". Wenn auch die künstlerische 91
Ausgestaltung der bauenden Vernunft, der rationale Idealismus antiker Baugesinnung grundlegend für alle Klassizismen bleibt, kann dabei der Akzent doch sehr wohl auf dem Idealismus und nicht auf der Ratio liegen, auf der abstrakten Gesetzlichkeit und nicht auf der konstruktiven Zweckmäßigkeit. Das führt zur Deutung des barocken Klassizismus in Frankreich, England, Holland, Westdeutschland: innerhalb der zentralgeistigen Gestaltung des Barockzeitalters war nicht nur Platz für die stärker gefühlsmäßige, irrationale, erotische Formverschränkung und Verschmelzung, sondern auch für umfassende, streng regulierte Ordnungen, in denen das gleiche Ganzheitsbewußtsein seine rationale Ausprägung erfuhr. D e r Rückgriff auf die italienische Klassik ist da um so verständlicher, als die nordische Renaissance in dem kurzen Jahrhundert ihrer Geltung den langsam gereiften Ganzheitsstil der italienischen Hochrenaissance kaum gekannt hatte. D a ß aber der echt barocke Eros in der kühlen und klaren Atmosphäre klassizistischer Baukunst eine Heimat gefunden hätte, ist zu verneinen. Rembrandt sowohl wie Rubens hätten sich in Versailles nicht wohlgefühlt, und der an Rembrandt ergangene Auftrag, ein monumentales Gemälde für das stolze Rathaus zu Amsterdam anzufertigen, endete mit einer Tragödie. Zum klareren Begriff des barocken Klassizismus diene die Feststellung, daß dieser zwar mit höchstem Nachdruck den zentralen Herrschaftsgedanken herausstellt, dagegen die spezifisch barocke Konjunktion nicht anerkennt oder doch stark in den Hintergrund schiebt. Dieser Konjunktionsbegriff ist in der Kunstgeschichte keineswegs neu. Schon in bezug auf die Baukunst hat man die gegenseitige Durchdringung der Raumteile, aber auch des Raumes und der Raumschale, des Raumkörpers und des plastischen Baukörpers durch den Begriff der Konjunktion, der Vermählung, der Paarung verdeutlicht (Brinckmann, Frankl). Auch in der äußeren Baugestaltung ist die kurvilineare Schwingung einer Fassade, die tiefenhafte und malerische, Lichter und Schatten erzeugende Durchgestaltung der konstruktiven und dekorativen Elemente so zu verstehen, daß der Baukörper seine klare, plastische Abgrenzung gegen die 92
Umwelt verliert, Bau und Raum in eine fließende Verbindung, eine konjunktive Beziehung eintreten. Auf weitere Konjunktionen in der barocken Baukunst wurde hingewiesen, so auf die Verschmelzung von Baukunst und Malerei in der illusionistischen Deckenmalerei, sowie auf die Einschaltung der Bildnerei. Im folgenden ist noch ein Wort über die Manifestation des Eros, der barocken Konjunktion, in der Bildnerei und Malerei zu sagen. *
Für die Bildnerei gilt allgemein, was im Gegensatz zu der antiken und klassizistischen Stütze von der eigenartig barocken, spiralig in den Raum sich emporwindenden Säule — z. B. an Berninis Kathedra in der Peterskirche — zu sagen ist: die Raumsehnsucht, die über sich selbst hinausgreifende innere Dynamik, der Verzicht auf plastisches und persönliches Für-sich-Sein in der malerischen Auflösung linearer und flächenhafter Begrenzung. Es ist keine Frage, daß die Bildnerei damit die ihr als Gattung zufallende Verpflichtung, die Gestaltung des in sich geschlossenen Organismus, überschreitet und vielfach nach Mitteln greift, die eher zur Kompetenz der Malerei gehören. Im Zusammenhang mit der malerisch-optischen Auflösung des plastischen Volumens ist — ähnlich wie in der Gotik — die Vorliebe für faltenreiche, bewegte Gewandmassen zu erwähnen, für den wallenden Bart der Kirchenheiligen oder die Lockenperücke in der aristokratischen Porträtplastik, dazu für so viele schon an sich „malerische" Gegenstände, wie Palmwedel, Wölkchen, Stoffvorhänge, die dem Figürlichen zugesellt werden. Denn auch das ist wesentlich, daß die plastische Gestalt in der Sehnsucht nach überplastischen und überpersönlichen Bindungen nicht nur durch die weitausgreifende, erregte Gebärde und schraubenartige Körperdrehung in den Raum hinüberweist, sondern dort auch eine gegenständliche Ergänzung findet und das Ziel aller inneren und äußeren Bewegung. Das führt zum Verständnis der barocken F i g u r e n g r u p p e . Lorenzo Bernini, auf den manche Typen der Barockbildnerei zurückzuführen sind, schuf die Verzückung der hl. Therese, 93
die zeigt, wie der himmlische Bräutigam in Gestalt eines knabenhaften Engels sich der in Ekstase zusammengesunkenen Frau nähert und seinen goldenen Pfeil auf ihr Herz zielt. Lichtstrahlen aus vergoldeter Bronze, Marmorwölkchen, sogar ein gelbes Licht, das den Gruppenraum erhellt, erzeugen eine entschieden malerische Wirkung. Wie wenig die Gestalt der Therese im Sinne klassischer Plastizität empfunden wurde, zeigt ihre Kontur, die — z. B. im Gegensatz zu den vergleichbaren Medicifiguren Michelangelos — bizarr, unbestimmbar, bedeutungslos bleibt. Wir erkennen die eigentümliche, immer noch zu wenig berücksichtigte Beziehung zwischen Form und Inhalt, Stil und Stoff: der Ekstase der Frau, ihrer Hingabe und ihrem Außer-sich-Sein, entspricht der Verzicht auf plastische Sonderexistenz, die grenzenlose Beziehung zwischen Körper und Raum. Entscheidend ist aber, daß die weibliche Sehnsucht nach Ergänzung ihre Erfüllung findet in Gestalt des männlichen Partners. Damit wird Berninis Therese inhaltlich und formal zum Vorbild und Sinnbild des barocken Eros: nach vereinzelten Vorklängen in der Hochrenaissance (S. 80) bildet sich die deutlich diagonalgeteilte, bipolare Gruppe heraus, in der die beiden Gestalten der Nonne und des Engels sich zu einer Zweieinheit, zu einem überpersönlichen und überplastischen Ganzen zusammenschließen. In diesem Zusammenhang sind weiter die typisch barocken „Konjunktionsgruppen" (Brinckmann) zu erwähnen, etwa die allgemein beliebten Frauenraubdarstellungen, in denen wir wiederum ein zweieinheitliches, aus einer männlichen und einer weiblichen Gestalt gewonnenes, schräg geteiltes und fest in sich verschraubtes Gefüge erkennen. Umgekehrt kann die GruppendaTstellung sich auch immer lockerer gestalten, während, zumindest in der Kirchenkunst, die eindeutige erotische Beziehung ausgeschaltet wird. Zu der von Bernini geschaffenen Umhüllung der Kathedra Petri, einem gewaltigen Gruppenaufbau mit unzähligen Figuren, Wolken und Lichtstrahlen, gehören auch die beiden Hauptgestalten der Kirchenväter, die frei im Kirchenraum stehen und auf die gemeinsame heilige Mitte verweisen. Später können diese Gestalten zu beiden Seiten der Altäre sich verdoppeln 94
und immer weiter in den Kirchenraum hervortreten, mit der Folge, daß der weite, zwischen ihnen und dem Altar sich erstreckende, von geistigen Beziehungen erfüllte Gruppenraum immer weitere Teile des architektonischen Kirchenraums für sich beansprucht und mit diesem verschmilzt. Dazu gesellen sich weitere Verbindungen, und namentlich wenn im süddeutschen Kirchenbarock die freistehenden Heiligengestalten sich in ihrer weißgoldenen Fassung an der Farbe der Architektur beteiligen und weitere plastische Figuren den von ihnen und dem Altar gebildeten pyramidalen Aufbau bis in die Deckenmalerei fortsetzen, ergibt sich eine vielfältige und innige Synthese zwischen Baukunst und Bildnerei, eine Vermählung dieser Künste, als deren Frucht wir die muntere Schar der zahllosen im Kirchenraum verstreuten Engelchen und Engelköpfchen bezeichnen möchten. Abgesehen von solchen umfassenden Verknüpfungen treten die Altarfiguren auch paarweise zueinander in Beziehung; in ihrer pathetischen, oft tänzerischen Bewegung und Gegenbewegung entsprechen und ergänzen sie sich über einen weiten Raum hinweg. Man denkt an die barocke Musikform, an das concerto, bei dem sich zwei Klangkörper gegenüberstehen, mag auch gleichzeitig die symphonische Ordnung zusammen mit dem Altar, mit Malerei und Architektur an die tutti des concerto grosso erinnern. Außerhalb der Kirche, in der reizvollen Gartenplastik und in der kleinfigurigen Porzellankunst, kommt die antithetische, zweifigurige Gruppt auch ohne betonte heilige Mitte aus. Die beiden ausdrücklich als männlich und weiblich charakterisierten Gestalten der „lockeren" Gruppe treten sich wie im Menuett und oft als Tänzer im bewegten Spiel und Gegenspiel gegenüber. Die aus einer betonten Zweiheit gewonnene Einheit, der barockgeistige Eros, zu dem sich auch die Kirchenväter bekannten, wandelt sich in der Park- und Porzellanplastik des Rokoko in eine sehr weltliche Erotik. *
Wie das barocke Ganzheitserlebnis sich in der Malerei durchsetzt, ohne jede Angliederung an die Baukunst und abseits der Kirchen- und Hofkunst, zeigt vorzüglich die holländische 95
Tafelmalerei des 17. Jahrhunderts, die Kunst des protestantischen Bürgertums. Völlig isoliert ist dieses schon erwähnte Sondergebiet barocker Kunstbetätigung selbstverständlich nicht, es handelt sich nur um die sehr reine Pflege einer auch sonst allgemein verbreiteten intensiven Malkultur. Und vom Gesichtspunkt barocker Einheitssynthese könnte wohl Rubens, der alle Register beherrscht und vielfach Brücken zwischen dem katholischen Kirchenbarock, der aristokratischen Hofkunst und der bürgerlichen Tafelmalerei schlägt, als fesselnder erscheinen. Freilich waren dieser Allseitigkeit des großen Flamen Grenzen gezogen. Durch die französische Akademie wurde Rubens scharf abgelehnt und weit hinter den, übrigens völlig mißverstandenen und durchaus nicht höfischen Poussin gestellt. Ein Decken- und Kuppelmaler wie die italienischen und süddeutschen Großmaler ist Rubens nie gewesen, während nicht er, sondern Rembrandt sämtliche Gattungen der Tafelmalerei mit der gleichen Leidenschaft ergreift. Und versuchen wir, auf nordischem Boden und innerhalb der Tafelmalerei die geistige Wandlung zwischen der früheren und der mittleren Neuzeit zu ergründen, so greifen wir zuallererst nach Dürer oder Holbein oder Brueghel, aber dann nach Rembrandt. Der alte Brueghel füllte — wenigstens in dem früheren bunten Bilderbogenstil seiner „Sprichwörter", „Kinderspiele" u. dgl. — die Bildfläche mit zahllosen Einzelwahrnehmungen, die wir heute gerne im Ausschnitt als köstliche Einzelheiten betrachten, obwohl sie seinerzeit wohl mehr der Belehrung und Belustigung dienten. In seinem reifen Stil gibt Brueghel viel stärkere und stillere Zusammenhänge. Es gibt barocke Vorklänge, z. B. in den betonten Diagonalen seiner Bauernhochzeit oder des Blindengleichnisses und sogar in der Lichtwirkung (Marientod); dazu senkt sich der Horizont als Zeichen innerer Beruhigung und Vertiefung. Für die Durchgliederung der flämischen Kunst des 16. Jahrhunderts sind solche Feststellungen ausschlaggebend, aber auch in dieser zweiten Stufe bleibt Brueghels Stil vielheitlich und buntfarbig. Wie so viele seiner deutschen Malergenossen sieht Holbein den Menschen als eine völlig für sich bestehende, scharf von 96
der Umwelt geschiedene Persönlichkeit. Bei den bläulichgrünen Gründen der Bildnismalerei erfolgt über die Beschaffenheit dieser Welt keine Aussage, aber sie kann auch eine ausführliche, gegenständliche Ausdeutung erfahren als Wirkungsfeld des Menschen, von dem er zwar getrennt bleibt, aber zu dem er auch in handelnder, kausaler Beziehung steht. Diese Entdeckung und sehr positive Bestimmung des Menschen entspricht wohl dem humanistischen Gedanken; aber man fühlt sich auch an Luther erinnert, wenn dieser die völlige Freiheit des inneren Christenmenschen betont, seine Unabhängigkeit von der äußeren Welt und vom Werk, gleichzeitig aber zugeben muß, daß der Mensch nun einmal äußerlich in diese Welt hineingestellt ist und sich in seinem Wirken mit ihr und mit seinen Mitmenschen auseinanderzusetzen hat; von einer dritten Möglichkeit, von der barockgeistigen Synthese zwischen Mensch und Umwelt, konnte auch Luther noch nichts ahnen. Daß dieses sehr männliche und sachliche, positivistische Weltergreifen zu ungeteilter Freude gereichte, ist sicher zu verneinen. Sobald der Mensch seine Rückendeckung in der Kirche verlor und sich Auge in Auge der überwältigenden Mannigfaltigkeit der Welt gegenübergestellt sah, mußte die Frage nach dem Wie und Warum dieser endlosen Gegensätzlichkeit sich auftun, ohne zu einer befriedigenden Antwort führen zu können. Der große Dürer, der so unendlich vieles beigetragen hat zu der Entdeckung des Menschen und der Naturdinge, aber auch des Raumes, in dem die Auseinandersetzung zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Welt sich vollzieht, scheint in seinen Meisterstichen die verschiedenen Möglichkeiten menschlichen Verhaltens in dieser Stufe unmittelbarer, peripherer Weltbezogenheit dargestellt zu haben. In der „Melancholie": den Zustand leidvoller Abgezogenheit des Menschen, der in aussichtsloses Grübeln über die verwirrende Vielheit der Objektwelt versinkt. In „Ritter, Tod und Teufel": die heldenhafte Persönlichkeit, die unbekümmert um alle äußere Bedrohung ihrem Ziel nachgeht. In „Hieronymus im Gehäuse": wohl eher den freien Christenmenschen, der sich vom äußeren Wirrsal abwendet, um im Glauben zu ruhen. Aber in all diesen Fällen Scheliema, Geistige Mine
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behielt die Welt den Charakter einer betont gegenständlichen, dem Menschen entgegenstehenden Vielheit, und so blieb auch Dürers Kunstform eine „vielheitliche Einheit". Demgegenüber führt die versöhnende, barocke Synthese bei Rembrandt nicht zu einer „einheitlichen Einheit" (Wölfflin), sondern zu einer vielgliederigen Ganzheit, die unlösbar mit dem Begriff des Malerischen verbunden bleibt. Wir haben bei der Erwähnung der Wölfflinschen Stilkategorien schon bemerkt, daß das malerische Sehen unter allen Umständen ein zusammenfassendes Sehen ist und ein Zeichen geistiger Synthese. Gegenüber der linearen Umgrenzung, durch die das Figürliche als ein Absolutes scharf von seinem Grund getrennt wird, erzielt die malerische Kontur eine fließende Verbindung zwischen Figur und Grund, eine Zweieinheit, die sich schließlich in jedem malerischen Fleck wiederholt. Das ist auch deshalb wichtig, weil wir mit der Beziehung zwischen Figur und Grund zugleich die Frage der Tiefengestaltung und des völlig neuen barocken Raumerlebnisses berühren. Insofern nämlich Figur und Grund sich jeweils als das Nähere und Fernere verhalten, bedeutet ihre Verschmelzung, daß jeder einzelne Raumpunkt als eine Synthese zwischen Nähe und Ferne, der Raum selber als in ständigem Werden begriffen wird. Die geheimnisvolle Tiefe in Rembrandts Bildern beruht zweifellos auf der ständig wechselnden dynamischen Spannung in jedem Raumpunkt; sein Raum ist vollen Geschehens, auch wenn er völlig leer erscheint. Redet Wölfflin von der Fläche als dem Element der Linie, so ist hinzuzufügen, daß der Raum das Element des malerischen Fleckes darstellt. Auf die unlösbare Frage von Dürers Melancholie gibt Rembrandt die erlösende Antwort, weil seine malerische Weltanschauung alles Gegensätzliche und Gegenständliche in einer allumfassenden Einheit aufhebt. Man kann von den Selbstbildnissen Dürers und Rembrandts ausgehen, um zu verstehen, daß in der Malerei der Neuzeit der Beziehung zwischen Figur und Grand die Relation zwischen der menschlichen Persönlichkeit und ihrer Umwelt entspricht. Verschmelzen beide Elemente miteinander, so besagt das, daß 98
das Ich sich mit der Welt in einer höheren Einheit zusammenfindet. Wölfflin faßte die Beziehung zwischen Figur und Raum (bzw. Grund), zwischen dem Dinglichen und Nichtdinglichen in der bedeutsamen Aussage: „Es ist, als ob alles aus einem Stoff wäre." Ist dieser „Stoff" nicht physikalisch gemeint, so trifft das Wort zu: was Rembrandt malt, ist streng genommen überhaupt kein G e g e n s t ä n d l i c h e s , sondern ein Z u s t ä n d l i c h e s , es ist der endlos wechselnde Zustand einer und der gleichen, allumfassenden und alldurchdringenden geistigen Substanz, die noch formlos in den dunklen, mütterlichen Gründen ruht, in den Menschen und Dingen sich zu persönlichem und gegenständlichem Dasein verdichtet, aber auch dann eben nur ihren Zustand wechselt. Auf die Frage, welche Substanz das ist, gibt Rembrandts Zeitgenosse Spinoza die Antwort: Es handelt sich wohl in der Tat um Spinozas „Gott oder die Natur" (deus sive natura) als die eine, unendliche, unteilbare Substanz, deren Modifikationen die Dinge sind. Omnia in Deo, Gott geht als Einheit den Einzeldingen logisch voraus; die Dinge sind nichts Selbständiges, sondern Zustände der All-Einheit, ohne die sie nichts wären. So verhält sich Rembrandts dunkler, diffuser Muttergrund zu der aus ihm sich herausentwickelnden Figur wie in Spinozas Pantheismus Gott zu den Dingen, die „natura naturans" zu der „natura naturata". Es ist keine Frage, daß das fortgesetzte W e r d e n der Figur aus dem Grund zugleich als ein E n t w e r d e n aufgefaßt werden kann; in der malerischen Kontur entläßt der Grund nicht nur die Figur aus sich heraus, sondern nimmt sie auch in sich zurück. Man muß auch Verständnis dafür haben, daß die Mitglieder einer Schützengilde, die ehrlich für ihren Platz im Gruppenbildnis bezahlt hatten, sich gegen das Entwerden ihrer werten Persönlichkeit sträubten. Überhaupt wird uns klar, wie wenig die malerische Weltanschauung dem stolzen Selbstbewußtsein einer aristokratischen oder höfischen Gesellschaft entspricht; welche Umwertung aller Werte hier geschieht und wie sich — bis in den Hofzwergen und Gassenbuben der spanischen Malerei — eine „Demokratisierung" des Bildstoffes durchsetzt, weil 7
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die persönliche Bedeutsamkeit oder soziale Stellung des Dargestellten nur noch sekundär bedeutsam erscheinen kann. Aber daß dieses malerische Entwerten des Figürlichen zugleich dessen Entwertung wäre, ist entschieden zu verneinen. Erst heute bricht wieder sehr allmählich die Erkenntnis durch, daß die Würde des Persönlichen durch seine funktionelle Einbeziehung in eine überpersönliche, geistige Ganzheit nicht geschmälert, sondern erheblich gesteigert wird. Bei Rembrandt: das selbstlose Entwerden der Figur in eine allumfassende, göttlichgeistige Substanz ist zugleich ein Werden aus ihr und damit tiefste Anteilnahme. Nur bleibt die Voraussetzung, daß das Persönliche und Einzelne als solches erkennbar bleibt; das aber ist — im Gegensatz zum radikalen Impressionismus des späten 19. Jahrhunderts — kennzeichnend für die altholländische Tafelmalerei, daß die „sachliche Forderung" nicht beeinträchtigt wird und daß die reine Polarität zwischen Figur und Grund erst durch die eindeutige Bestimmbarkeit beider Teile zum vollen Bewußtsein kommt. Über die Beziehung zwischen Figur und Grund hinaus ist der barocke Eros, das Bekenntnis zu der aus einer Zweiheit gewonnenen Einheit, an einer Reihe weiterer Polaritäten zu verfolgen. In engem Zusammenhang mit dem malerischen Sehen ist die Beziehung zwischen dem bräunlich-goldenen oder silbergrauen Einheitston und der Lokalfarbe in der niederländischen Malerei zu erwähnen. Die Freilichtmaler des 19. Jahrhunderts haben diesen „Atelierton" als „braune Sauce" scharf abgelehnt; Spengler sah tiefer und deutete ihn geradezu als Schicksal, Gott, den Sinn des Lebens. Hier genügt die Feststellung, daß der Einheitston der niederländischen Tafelbilder sich zur Lokalfarbe ähnlich verhält, wie der Grund zur Figur, wie die all-eine, an sich undeterminierte, geistige Substanz zum Einzelnen, Sachlichen, Individuellen. Versteht Spinoza alles Einzelne als eine Verneinung des einen Seienden — omnis determinatio est negatio —, so ist zu bemerken, daß die Lokalfarbe bei den alten Holländern zwar immer gegenständlich gebunden ist, aber trotzdem keine bloße Negation des Eintones darstellt, an dem sie vielmehr beteiligt bleibt, und der sich im Lokal100
farbigen individualisiert. Geht später und namentlich im 19. Jahrhundert der barocke Eros verloren und wird die polare Spannung zwischen den beiden Elementen nicht mehr verstanden, so verliert der Einton allerdings seine weltanschauliche und künstlerische Berechtigung, wird „braune Sauce". Gleichfalls unter dem Gesichtspunkt des Malerischen ist natürlich der Gegensatz zwischen Hell und Dunkel, Licht und Schatten zu verstehen. Wenn Rembrandt immer wieder als der Meister des Heil-Dunkels bezeichnet wird, so deswegen, weil namentlich für ihn Licht und Finsternis zu den beiden antithetischen Gewalten werden, die das zweieinheitliche Weltbild, den tiefen geistigen Eros dieses großen Menschen bedingen. Wesentlich ist, daß bei Rembrandts Vorgängern, z. B. bei Caravaggio, die Beziehung zwischen Licht und Dunkel erst als eine bloße Gegensätzlichkeit empfunden wird, die sich ständig und schroff wiederholt und damit eine zerrissene Bildstruktur bedingt, die sich vorzüglich zur Darstellung von Marterszenen bis zum harmloseren Zahnreißen Honthorsts eignete. Erst Rembrandt gewinnt aus dieser vielheitlichen Lichtführung eine höhere Einheit. Licht und Finsternis werden zu den beiden Elementargewalten, die sich gegenseitig bedingen und durchdringen, sich in den jetzt so bedeutsamen Schatten vermählen. Sie werden zu den beiden polaren Zuständen, die den Aufbau des Universums bestimmen und das Feld ewig wechselnder, dynamischer Spannung erzeugen, in das alles Einzelne und Persönliche hineingestellt ist. Es gibt in der so unendlich selbstverständlich scheinenden und doch tief geheimnisvollen niederländischen Tafelmalerei eine Reihe weiterer Polaritäten, die sich deutlicher bei einer Betrachtung der Bildstruktur herausstellen. Wir besitzen eine Skizze von Rembrandt nach Leonardos Abendmahl, in der — wie in dem Vorbild — Christus die strahlende Mitte der Komposition bildet. Leonardos Bild, sogar der Gedanke des mystischen Opfers, findet jetzt aber eine rein malerische Interpretation; Christus wird zum „Licht der Welt", das sich strahlend über die Jünger ergießt, in der Umwelt entäußert, bis es sich in den dunklen Enden und Ecken verliert. Wie bei Leonardo beherrscht die strahlende Gewalt der Mitte 101
das ganze Bild, aber anders als in der italienischen Klassik wird diese zentrale Kraft so stark betont, daß die äußeren Bildgrenzen unbestimmbar bleiben. Die Form öffnet sich — nach Wölfflin — und es bietet sich die eigenartige Analogie zu dem zentralen, von innen nach außen gerichteten Raumerlebnis der Gotik: wie dieses nicht mehr durch die Raumgrenzen bedingt wird, so gehen im barocken Tafelbild allgemein die Bedeutung und die Bestimmbarkeit der. Bildgrenzen dadurch verloren, daß sie sich im Endlosen verlieren. Obwohl Rembrandt in dem erwähnten Fall die klassische, symmetrische Komposition mit betonter mittlerer Achse übernimmt, erscheint bei ihm und allgemein in der niederländischen Malerei eine ganz andere Bildstruktur als die maßgebende: das ist die diagonale Teilung des Bildfeldes mit umgekehrter Entsprechung der beiden Bildhälften. Besonders in der reinen Landschaft — aber keineswegs nur dort — finden wir die Aufteilung des länglichen Bildfeldes in zwei Dreiecke, ein unteres, nahes und dunkles Erddreieck und ein oberes, fernes und helles Himmelsdreieck, die erst zusammen das Bildganze ergeben. Durchweg tritt eine zweite, entgegengerichtete Schräge hinzu, die als Tiefenweg oder „Raumgasse" vom nahen Vordergrund in die weiteste Ferne führt. Dieser Bildgedanke ist kein Rezept, sondern eine freie, der Struktur der Zeit entsprechende, daher ständig wiederkehrende, aber endlos abgewandelte Erlebnisform. So kann die Bilddiagonale sich mehr der Vertikale oder der Horizontale, annähern; die höchste Erderhöhung kann ein Hügel, ein Baum, ein Haus, eine Mühle sein. Sie liegt niemals in der oberen Bildecke, bleibt vom oberen und seitlichen Rand entfernt, so daß das Himmelsdreieck über sie hinweggreift. Umgekehrt kann das Erddreieck sich an seiner niedrigsten Stelle im „Repoussoir" erhöhen; die Diagonale nähert sich einer S-förmig geschwungenen Linie, die übrigens als Bildteilung auch rein gezogen und durch eine Wendeltreppe motiviert werden kann (Rembrandts „Der Philosoph", Louvre). Dazu kann die Hell-Dunkelpolarität wiederholt umgekehrt werden, indem das Himmelsdreieck stellenweise — etwa durch eine Gewitterwolke — abgedunkelt, das Erd102
dreieck aufgehellt wird. Wie gesagt beschränkt sich diese Bildform nicht auf die Landschaft. Ein Stilleben von Willem Claesz Heda oder ein Innenraum Pieter de Hooghs kann die gleiche Struktur wie eine Landschaft Jacob Ruysdaels aufweisen. Bezeichnenderweise kann ein ovales Bildfeld gewählt werden (van Goyen, Sommerlandschaft in Dresden), aber auch wenn das nicht der Fall ist, birgt die Bildform zwei Brennpunkte in sich, sie ist bipolar und Ausgestaltung des barocken Eros, der nun nicht wie im katholischen Kirchenbarock in einer besonders für ihn erbauten Sphäre beheimatet ist, sondern in der Natur selber geschaut oder in sie hineingelegt wird. Hier liegt der Unterschied zu den vergleichbaren Vorformen im 16. Jahrhundert, daß die Konjunktion der sich ergänzenden gegensätzlichen Elemente keine anthropomorphe Ausdeutung zu erfahren braucht, wie bei den venezianischen Venus- und Danae-Darstellungen geschah. Gegenüber der stark betonten Schrägteilung in Brueghels späteren Arbeiten fällt auf, daß die Diagonale dort durch die Figurengruppe getragen wurde — Bauernhochzeit, Blindenfabel — , die beiden restierenden Dreiecke also nur Füllung blieben. Jetzt dagegen liegen die beiden Schwerpunkte gerade in diesen Dreiecken, die gemeinsame Diagonale kann gegenständlich leer bleiben, wie denn überhaupt die Bildmitte eines niederländischen Tafelbildes nicht figürlich oder gegenständlich betont zu werden braucht, um trotzdem als der Ort, an dem die dynamische Spannung zwischen den beiden Bildteilen ihren Ausgleich findet, die höchste geistige Erfüllung zu erfahren. Endlich ist gegenüber vergleichbaren flämischen Landschaften des 16. Jahrhunderts hervorzuheben, daß die Unterscheidung zwischen einem farbigen Vordergrund und einer in blauen Dunst verschwindenen Ferne keine bloße Gegensätzlichkeit bleibt, sondern daß die Raumgasse eben das ständige W e r d e n der Ferne und Tiefe veranschaulicht, die Synthese oder die Konjunktion zwischen den beiden Polzuständen eines greifbar nahen, farbigen und gegenständlich betonten Diesseits und der endlosen, unbestimmbaren Ferne, die wir wohl als die weltliche Interpretation des unendlichen Jenseits verstehen dürfen. 103
Aber die Größe dieser Entfernung ist nicht entscheidend, die gleiche Nah-Fernpolarität kann sich auch in einem Stillleben, einem Porträt oder in der Darstellung eines geschlossenen Innenraums durchsetzen. Bleibt dabei die Mitte nicht unbezeichnet, sondern wird irgendeine persönliche oder gegenständliche Gestalt in den Kreuzungspunkt der konträren Beziehungen hineingestellt, so gewinnt diese eine ganz besondere Würde als das mittlernde Element, in dem die Antithese zwischen Himmel und Erde, Licht und Dunkel, Ferne und Nähe zur höheren Synthese gelangt. Bei der beliebten Darstellung häuslicher Innenräume machen sich noch weitere polare Beziehungen geltend. Es handelt sich um den Gegensatz zwischen einem heller beleuchteten und zumeist die Figurendarstellung enthaltenden Vorderraum und einem seitlich entfernten Dunkelraum oder auch, besonders oft, zwischen einem Innenraum mit Figuren und dem äußeren, fernen Naturraum, in den eine geöffnete Tür auf der einen Bildseite den Ausblick gewährt. Obwohl später aus der umgekehrten Entsprechung der beiden Bildhälften eine Art Vorschrift gemacht wurde (de Lairesse), ist es unwahrscheinlich, daß sie in der kurzen Blütezeit der altholländischen Malerei mit Absicht durchgeführt wurde; unwahrscheinlicher noch, daß der Maler die regelmäßig durchgeführte bipolare Struktur als eine genauer bestimmbare geschlechtliche Differenzierung aufgefaßt hätte. Auf eine solche bewußte Gestaltung und Deutung durch den Künstler kommt es aber gar nicht an; die Frage ist vielmehr, ob der Maler bei der künstlerisch-gefühlsmäßigen Durchgestaltung seiner Polaritäten nicht zugleich auf gewisse ewig gültige, allgemein verbreitete und aus dem Unterbewußtsein quellende Vorstellungen zurückgriff, die erst heute zum Gegenstand begrifflicher Deutung werden. Ein eigenartiges Beispiel ist die in der Landschaft so wichtige Beziehung zwischen Himmel und Erde, weil wir die schon seit der Vorzeit gültige männliche Charakterisierung des Himmels, die weibliche der Erde kennen. In der italienischen Klassik, z. B. in Correggios Io. erfuhr dieser Gedanke eine späte, überraschende Bestätigung, in Berninis Therese mit ihrem himmlischen Bräutigam eine kirchliche Abwandlung. Daß aber der holländische Maler 104
sich das dunkle Erdreich seiner Landschaft als weiblich, das helle Himmelsdreieck als männlich gedacht hätte, ist sicher zu bezweifeln. Aber gerade weil er sich nichts bei dieser echten Konjunktionsgruppe dachte, ist sie um so bemerkenswerter, weil der durch eine S-Kurve geteilte Kreis in der chinesischen Symbolik als das Zeichen der Weltordnung erscheint, und zwar auf Grund der Vereinigung des Himmels und der Erde, des männlichen und des weiblichen Prinzips (Jang und Jin). Eine nähere Bestimmung der erwähnten polar entgegengesetzten Elemente wird vielfach dadurch erschwert, daß die Beziehung — z. B. zwischen Hell und Dunkel — sich als umkehrbar herausstellt. Trotzdem haben wir bei unserer Bilddeutung das Recht, den Dunkelgrund und den Einton in der Tafelmalerei als das weibliche und mütterliche Element zu bezeichnen, das, selber undifferenziert, aber formschwanger, das Figürliche und Farbige aus sich entläßt. Es entspricht uralten Vorstellungen, aber auch den Ergebnissen moderner Tiefenpsychologie, in der Hell-Dunkelpolarität das Dunkel als Sinnbild des weiblich-mütterlichen, das Licht als Träger des männlichen Prinzips zu deuten. Wiederum uraltes, allgemein menschliches Gedankengut enthält der Gegensatz zwischen Innenraum und Außenwelt. Hierzu ist zu bemerken, daß jeder Innenraum an und für sich ein Dunkelraum ist, und daß — wenn keine künstliche Lichtquelle gewählt wird — erst das von außen hereinfallende Licht aus diesem Dunkel die Vielheit der gegenständlich gebundenen Formen und Farben erzeugt. Eine weitere Erwägung ist, daß der von der Umwelt geschiedene, umschlossene Raum zu allen Zeiten als weiblich charakterisiert erscheint und daß seit der frühen Vorzeit namentlich die Wohnung oder der Wohnraum der unbestrittene Herrschaftsbereich der Frau, der Ordnerin des Hauswesens war. Das gilt vorzüglich für die holländischen „Binnenhuisjes", die regelmäßig als das weibliche temenos gekennzeichnet werden, in dem die Frau als Mutter mit ihrem Kinde, als Hausfrau, als Köchin ihres hohen Amtes waltet oder wohl auch eine weniger einwandfreie, aber nicht minder weibliche Funktion erfüllt. Bei Vermeer (Die Lektüre, Amsterdam) steht 105
die Dame in ihrem Zimmer als beherrschende Mitte des intimen, ganz auf sie bezogenen und von ihr erfüllten Bezirkes, als Mittlerin auch zwischen den in ihr sich kreuzenden Hell-Dunkel- und Nah-Fernbeziehungen, während das Licht durch ein seitliches, nicht sichtbares Fenster hereinfällt und der Frau gestattet, das ihr zugestellte Briefchen zu lesen. Wir gelangen zu der Feststellung: es ist der vorzeitliche Gedanke vom Eintritt des Sonnengottes in den heiligen Bezirk der Mutter Erde, der mittelalterlich-christliche Gedanke von der auf goldenem Lichtstrahl zu der Jungfrau in ihrem Kämmerlein schwebenden Heiliggeisttaube, der in dieser unendlich anspruchslosen holländischen Tafelmalerei seine neuzeitliche, innerweltliche Abwandlung und Ausdeutung erfährt. Bezeichnenderweise kann die Frau in sämtlichen von Leibniz erwähnten absoluten Machtbereichen — Gottes, des Fürsten und des Hausvaters — bedeutsam, ja beherrschend hervortreten. Wir denken an die restaurierte Macht der Mutter Kirche, an die Erneuerung des Madonnenkults und die schwärmerische Verehrung weiblicher Heiligen, die die neue religiöse Vertiefung begleitet. Eigenartig und dem Renaissancemenschen wohl kaum verständlich ist die Bedeutung, die die Frau im Kulturleben und in der europäischen Politik des 17. und 18. Jahrhunderts gewinnt: in Gestalt der Maitresse, aber gewiß auch der Fürstin, die wie Maria Theresia als „Hausfrau ihrer Staaten und Mutter ihrer Völker" die absolute Gewalt ausübt. In der Kunst, vor allem bei Rubens und seinen Nachfolgern, fand die leidenschaftliche Bejahung strahlend sich entfaltender Lebenskraft ihren Ausdruck in der Darstellung der Frau, diesmal in ihrer höchsten körperlichen Blüte als Quelle des Lebens und Sinnbild der Fruchtbarkeit. Trotzdem möchten wir annehmen, daß die Tafelmalerei des protestantischen Bürgertums das eigenartigste Beispiel für die zentrale Erhöhung des weiblichen Prinzips gebracht hat und daß die Erdenmutter unserer Vorzeit, die Gottesmutter des Mittelalters ihre vollgültige neuzeitliche Metamorphose in der gut bürgerlichen Hausmutter der holländischen ,,Binnenhuisjes" erfuhr.
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Die Gliedstufen des Barock können hier nicht ausführlich erörtert werden. Allein schon die holländische Malerei des 17. Jahrhunderts gliedert sich deutlich in drei Stufen; die bipolaren Strukturen, die wesentlich die Größe dieser Kunst und der gleich scharenweise auftretenden Maler bedingen, beschränken sich auf eine kurze mittlere Stufe, sie werden erst aus einem mehr vielheitlichen und bunten Formgefüge im früheren 17. Jahrhundert gewonnen und verlieren in den letzten Jahrzehnten wiederum ihre Geltung. Wichtiger ist der größere Umlauf, der sich in den Stufen des Früh-, Hochund Spätbarock oder Rokoko vollzieht und der Periodizität Früh-, Hoch- und Spätrenaissance entspricht. Angesichts eines Gemäldes von Rembrandt oder Hals, Rubens oder Velazquez wäre die Frage berechtigt, wie denn der synthetische Griff einer zweiten, zentralgeistigen Barockstufe sich überhaupt noch über die starken inneren Bindungen dieser Tafelmalerei hinaus geltend machen könne. Die Antwort ergibt sich, wenn man die oft gemalten holländischen Innenräume des 17. Jahrhunderts mit der späteren aristokratischen Wohnkunst vergleicht, die sich in Anschluß an die französischen Königsstile verbreitet: die künstlerische Absicht greift über das einzelne, umrahmte, ganz für sich bestehende Tafelbild hinaus, indem sie den gesamten Raum mit seinen Möbeln, Teppichen, Wandbehängen, Decken- und Wandgemälden als ein farbig und formal reich gegliedertes Ganzes durchgestaltet. Was hier von der Wohnkunst des protestantischen Bürgertums gesagt wurde, gilt erst recht für die Hof- und Kirchenkunst, und obwohl die Grenzen sich in den einzelnen Ländern etwas verschieben mögen, geht doch regelmäßig die Tafelmalerei in ihrer höchsten Blüte der Großmalerei voran. Neben den großen niederländischen und spanischen Tafelmalern bezeichnen Nicolas Poussin und Claude Lorrain in Frankreich, Caravaggio in Italien, Elsheimer in Deutschland die frühere Blüte des barocken Tafel- und Einzelbildes. Umgekehrt gewann die intime Tafelmalerei wiederum erhöhte Geltung im Spätbarock-Rokoko, als die einsetzenden zentrifugalen Tendenzen sich zu Gunsten des Einzelbildes auswirkten. Watteau steht an dieser Stelle und wie er zeigen nun auch die 107
Italiener und Deutschen, wie nahe ein Rückgriff auf den Frühbarock, auf Rubens und Rembrandt, lag. Es gewährt einen besonderen Reiz, die spätbarocken Spaltungserscheinungen in der elementaren Formsprache der Ornamentik zu verfolgen, weil das Rocaille, dem das Rokoko seinen Namen verdankt, begrifflich — und diesmal auch formal — ein typisches, in sich geschlossenes C-Motiv darstellt, das sich jeder fließenden Ergänzung zu widersetzen scheint. Allerdings belehren uns die Baukunst, Bildnerei, Malerei und vorzüglich die Ornamentik des Rokoko darüber, daß der barocke Totalitätsgedanke noch keineswegs zerstört, sondern nur gelockert wurde und einen um so größeren Reiz gewann, als seine Teile sich unabhängiger von einander und vom Ganzen zu verhalten scheinen: wie in der Spätrenaissance wandelt sich auch im Spätbarock der ernste, geistige Eros zum galanten erotischen Spiel. Aus der Einsicht, daß diese zentrifugale Bewegung sich innerhalb des barocken Ganzheitsgefüges vollzieht und dieses selber noch nicht ernsthaft bedroht, geht die ganze Sinnlosigkeit der immer noch üblichen Stufenunterscheidung Renaissance-Barock 1 Rokoko hervor. Nach dem Früh- und dem Hochbarock ist das Rokoko ein Spätbarock, die letzte, zentrifugalgeistige Gliedstufe des Barock. Die Stufen Renaissance, Barock und Rokoko sind also gar nicht homolog, sie bilden keinen Umlauf. Renaissance und Barock sind die beiden ersten Teilstrecken auf d€m großen Zifferblatt der Neuzeit; das Rokoko dagegen die letzte Strecke im kleinen Umlauf des Barock. Fragen wir aber, wo nach der Renaissance oder Frühen Neuzeit und dem Barock oder der Mittleren Neuzeit die genetisch und systematisch zugehörige dritte Periode der Neuzeit sich erstreckt, so kann nur die Späte Neuzeit seit der Aufklärung die gesuchte Antwort erteilen.
Späte
Neuzeit
Es gibt mehrere Gründe, weshalb die systematische Stellung der Späten Neuzeit in der Kunstgeschichte niemals klar er108
kannt wurde. Solange der Entwicklungsbegriff dem Kunst forscher fehlte, mußte er froh sein, wenigstens an einzelnen Stellen die chaotische Mannigfaltigkeit der historischen Erscheinungen einer inneren, besonders klar hervortretenden Gesetzlichkeit zu unterstellen. Was über solche beschränkte Beobachtung hinausging, blieb zunächst terra incognita der begrifflichen Forschung oder ein Gebiet scheinbarer Gesetzlosigkeit, das sich einer einheitlichen Beurteilung entzog. Dazu kommt, daß Goethes Systole oder Spencers Integration in der Abfolge der beiden ersten Geistesstufen sich kunstund stilgeschichtlich immer viel klarer ausprägt als die zugehörige Diastole oder Desintegration der dritten Stufe, wo die innere Gespaltenheit eine einheitliche Deutung erschwert. Schon in der Vorzeit bildet der Übergang von der geradlinigen zur krummlinigen Ornamentik einen denkbaren klaren Fall geistiger Konzentration, und ähnlich verhält es sich mit der einwandfrei untersuchten Wende von der Romanik zur Gotik und von der Renaissance zum Barock. Dagegen blieb die genaue Stellung der germanischen Tierornamentik, der nordischen Spätgotik, des Manierismus und sogar des Rokoko als der jeweils dritten Stufe unserer Vorzeit, des Mittelalters, der Renaissance und des Barock zumeist ungeklärt. Endlich ist zu bedenken, daß die zentrifugale Entbindung des Kunst- und Kulturgefüges sich nach dem Mittelalter und den auch während der Neuzeit noch möglichen zentralgeistigen Gegenströmungen mehrfach potenziert und das Kunstschaffen infolgedessen immer stärker den Eindruck unbestimmbarer Mannigfaltigkeit, wenn nicht Formlosigkeit erweckt. Das ist der Grund, weshalb der Barock so oft als die überhaupt letzte historische Stilstufe bezeichnet wird. Allerdings ist nicht zu vergessen, daß mit der größeren Nähe der historischen Erscheinungen auch das Interesse am Einzelnen und Persönlichen stärker wird, während die weiter zurückliegenden Kulturstufen eher zum Vereinfachen als zum Unterscheiden auffordern. Die einheitliche Bestimmbarkeit der Renaissance oder des Barock beruht sicher zum Teil auf einer perspektivischen Verkürzung. Bedenken gegen Wölfflins Stilbestimmungen erfolgten z. T. aus der Schwierigkeit, die Form109
gebung Mantegnas und Tizians unter dem Begriff der Klassik, oder die holländische Wohnkunst des 17. Jahrhunderts und des Louisquinze unter dem Stilbegriff des Barock zusammenzufassen. Der Gegensatz van Campen-Rembrandt, d. h. zwischen dem Klassizismus der großbürgerlichen Baukunst und dem „demokratischen", malerischen Realismus der Tafelmalerei, stellte vor weitere Schwierigkeiten. E s zeigte sich, daß die bloße Unterscheidung zwischen Renaissance und Barock ein viel zu grobes Entwicklungsbild ergibt, und daß zumindest die Wiederholung des bekannten Dreistuf enrhythmus innerhalb dieser beiden umfassenden Perioden berücksichtigt werden muß. Auch für die Späte Neuzeit klärt sich das Vielerlei der Kunst- und Stilströmungen wesentlich, wenn wir die auch in dieser letzten Periode der Neuzeit mögliche Zu- und Abmittung der geistigen Gestalt durch die drei Hauptstufen der A u f k l ä r u n g , der R o m a n t i k und der M o d e r n e verfolgen. Kulturgeschichtlich ist die historische Strecke von der Aufklärung bis zur Gegenwart schon immer als eine klar bestimmbare Einheit aufgefaßt worden. Als die umfassende zentrifugale Geistesstufe der Neuzeit bleiben die beiden letzten Jahrhunderte über alle gegengerichteten Tendenzen hinweg das Zeitalter des Protestes gegen die absolute und totalitäre Herrschaft irgendeiner zentralen Autorität, zunächst gegen den kirchlichen und fürstlichen Absolutismus. Die französische Revolution zeigt den Aufstand der peripheren Massen, der Randzellen des Kulturorganismus, gegen jede herrschende Mitte; die Enthauptung Ludwigs XVI. war ein symbolischer Akt, der nachträglich die Entmittung des barocken Kulturgefüges bestätigte. Seit der Verkündung des Naturrechts und der Menschenrechte um die Mitte des 18. Jahrhunderts und der Proklamation der „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" ist von einem einzigen Siegeszug des bürgerlichen Liberalismus, der Demokratie und der persönlichen Freiheit zu sprechen. Bezeichnenderweise verschiebt sich jetzt der kulturelle und politische Schwerpunkt auch geographisch von der Mitte zur Peripherie: vom europäischen Kontinent nach England und Amerika, wo der barock-absolutistische Gedanke niemals entfernt die gleiche 110
Geltung gewonnen hatte wie auf dem Festland. Das mag bei der Beurteilung der heutigen Ereignisse entscheidend sein, daß die Geschichte der Vereinigten Staaten sich seit der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1776 mit der Geschichte der Späten Neuzeit deckt und daß der aus der abendländischen Emigration — d.h. Abmittung! — entstandene amerikanische Typus von vornherein gegen die Vorstellung einer überpersönlichen, zentral regulierenden Autorität prädisponiert ist. Bedenkt man hierzu, daß Rußland niemals den Renaissancegedanken mitgemacht hat und noch heute eine im Grunde mittelalterliche, zentralgeistige Struktur aufweist, so offenbart sich in der Beziehung der beiden größten Weltmächte eine denkbar schroffe peripherzentrale Gegensätzlichkeit. Auf diesen Gedanken werden wir später noch zurückkommen. Wir werden sehen, daß auch die Kunst der Späten Neuzeit im Grunde viel einheitlicher ist, als sie zunächst scheinen mag, und daß gerade die Versuche, von der vorgezeichneten Marschroute abzuweichen, zu wiederholten Entgleisungen und fragwürdigen Experimenten geführt hat. Fragen wir aber zuerst, wie der aufgeklärte Geist seit 1750 sich in der Kunst offenbart, so ist auf die Ähnlichkeit der Lage mit der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit hinzuweisen: im großen Umlauf Vorzeit—-Mittelalter—Neuzeit und in der kleinen periodischen Folge Frühe, Mittlere, Späte Neuzeit entsprechen sich das Mittelalter und die Mittlere Neuzeit (Barock) und demnach auch die Renaissance und die Aufklärung. Für die Kunst heißt das: Abwendung vom Irrationalen, von der zentralen Herrschaft eines geistigen a priori; also Rückkehr zur Natur und zum Natürlichen, Rationalen, Zweckmäßigen, Logischen und vor allem auch zur Antike, die nun ihrerseits als Inbegriff des Rationalen und Natürlichen verstanden wird. Hier zeigt sich wieder deutlich, zu welcher heillosen Verwirrung die laxe Handhabung der Begriffe Rationalismus und Klassizismus in der Philosophie und Kunstgeschichte führen muß. Bei Spinoza und Leibniz bedeutet „Rationalismus" nicht zuletzt die Besinnung auf ein höchstes, zentrales, göttlich-geistiges Prinzip; für das aufgeklärte Bewußtsein bedeutet Rationalismus die Herrschaft nicht 111
einer göttlichen Idee, sondern vielmehr der menschlichen Vernunft. Im Barockzeitalter ist der Rationalismus entschieden religiös, in der Aufklärung positivistisch und empiristisch betont. Ähnlich verhält es sich mit dem Klassizismus in der Baukunst: das Barockzeitalter konnte nach der antiken Baukunst greifen, weil es in ihr Würde und Wohllaut abstrakter Gesetzlichkeit erkannte. Für den Architekten der Aufklärung bedeutet die antike Baukunst Besinnung auf die logisch-konstruktiven Grundelemente des Bauens. So können wir von einer Proklamation des Naturrechts auch in der Baukunst, der Möbel- und Dekorationskunst des Louis XVI. nach dem Louis XV., des Zopfes nach dem Rokoko sprechen. Das geistige a priori in der Bau- und Möbelform wird geleugnet, die irrationale Kurve beseitigt, die natürliche, d. h. zweckhafte Funktion der einzelnen Glieder klar herausgestellt. Es gibt Beispiele, daß auch in der Baukunst, und zwar vor der französischen Revolution, der Gedanke der bürgerlichen Freiheit und Gleichheit durchgeführt wird. Das ist bei der Fassade von St. Sulpice in Paris der Fall: in Meissonniers Entwurf (1726) war ein Mittelrisalit mit durchbrochenem Turm vorgesehen, in dem die stürmische, nach vorne und nach der Mitte gerichtete Bewegung der Baumassen gipfelte. In der jetzigen Gestalt (seit 1770) ist sogar der von Servandoni geplante Dreieckgiebel beseitigt, durch eine gerade Balustrade ersetzt, und es bleibt nur die gleichmäßige, vielheitliche Reihung von Säulen und Interkolumnien über die ganze Breite der beiden Geschosse, einschließlich der Türme, die man später auch noch hat beseitigen wollen. Soviel früher wurde in der Bauform das ancien régime, die monarchische Spitze und die monarchische Gruppe zerstört als in der Staatsform! Selbstverständlich wird erst recht in der Gartenkunst der absolute Herrschaftsgedanke ausgeschaltet und die Rousseausche Forderung des Zurück zur Natur durchgeführt. So wandelt sich der Architekturgarten des Barock zu dem von England aus verbreiteten, scheinbar regellos angelegten Natur- und Landschaftsgarten. Als autonome plastische Persönlichkeit ist die antike Säule Sinnbild nicht nur des Rationalismus, sondern auch des Humanismus. In den bil112
denden Künsten entspricht dieser Betonung persönlicher Autonomie allgemein eine erneute Klärung der plastischen Form, ihre Ausgliederung aus jeder überpersönlichen und überplastischen Bindung, sowie die Auflösung der barocken Formkonjunktionen. Hand in Hand mit der Betonung der plastischen Persönlichkeit ging die Hinwendung zur psychischen Persönlichkeit, die eine neue Blüte der Bildniskunst in der Plastik und Malerei hervorrief. Hier zeigt sich wiederum die eigentümliche Analogie zum Zeitalter der Renaissance und des Humanismus; über das Barockzeitalter hinweg reichen sich der Deutsche Holbein und der Franzose Houdon die Hand und die Frage mag berechtigt sein, ob die Verwandtschaft des Zeitgeistes sich nicht sogar bis zur Ähnlichkeit der dargestellten Persönlichkeit verdichten kann und ob es nicht die gleiche, echt humanistische Mischung von spöttischer Ironie und menschlicher Güte ist, die wir in Holbeins Erasmus und Houdons Voltaire wiederfinden. Auch in der Malerei findet das neue bürgerliche Ichbewußtsein seinen Ausdruck in einer hohen Blüte der Porträtdarstellung. Von einer einheitlichen Auffassung kann kaum gesprochen werden, wie denn überhaupt der Drang zur N a ' u r und zum Natürlichen sowohl den leidenschaftlich von Winckelmann propagierten und von Mengs befolgten Weg zur Antike und zur Renaissance als auch die Anknüpfung an die niederländische Tafelmalerei des Frühbarock gestattete. Immerhin kann man in der Bildnismalerei eine allgemeine Tendenz auf Isolierung des Menschen von seiner Umwelt, auf Verneinung seiner überpersönlichen Verschmelzung mit dem Universum feststellen. In der französischen Bildnismalerei führt diese antibarocke Entwicklung zu einer flächenhaften, zeichnerischen Darstellung und bis zur scharfen, linearen Abgrenzung der Figur vom Grund (z. B. bei David), während die erstaunlich reiche englische Porträtkunst eher als eine großbürgerliche Abwandlung des absolutistischen Fiirstenbildnisses anmutet, indem sie den Menschen ohne innere Beziehung zu der nur als Requisit hinzugefügten Natur darstellt. Wenigstens eine kurze Bemerkung über die tief interessante Entwicklung der G r a p h i k und der B u c h k u n s t ist hier S
Oeistige Mitte
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am Platze. Schon im späten Mittelalter erfüllen die graphischen Künste in Gestalt des Kupferstiches und des Holzschnittes eine ganz besondere und von der kirchlichen Buchmalerei völlig verschiedene Funktion. Sie lösen sich vom Kirchenbuch und damit von der kirchlichen Liturgie ab. Sie entstehen nicht in einer Mönchszelle oder im Kollektivbetrieb der Bauhütte, sondern in der Werkstatt des bürgerlichen Meisters, von der aus sie sich auf dem Wege mechanischer Vervielfältigung in zahlreichen Abzügen nach allen Richtungen verbreiten. Daraus ergibt sich der eigentümlich bürgerliche und antitotalitäre, wenn man will, der demokratische, humanistische und protestantische Charakter des graphischen Blattes, den es übrigens mit dem gedruckten Buch und mit der Buchillustration teilt. Hier wird verständlich, warum die unmittelbar vom Menschen zum Menschen redende Graphik von Anfang an einen intim persönlichen, genremäßigen Zug gewinnt, um dann aber seit Dürer, Cranach, Brueghel vorzüglich auch eine revolutionäre und propagandistische, moralisierende oder satirische Tendenz aufzuweisen. Und hier liegt endlich der Grund, weshalb die vervielfältigenden Künste ihren Anfang in der letzten zentrifugalen Stufe des Mittelalters fanden, und dann in der hohen Blüte zuerst des Kupferstiches und Holzschnittes, dann der Radierung und endlich des Steindrucks geradezu als Kennzeichen der gesamten Neuzeit gelten konnten. Bei näherer Betrachtung würde man finden, daß der graphische Ausdruck eine auffallende Verdichtung an einzelnen Punkten der Neuzeit erfährt und daß diese niemals in den stärker betonten synthetischen Geistesstufen liegen: nicht in der Hochrenaissance, sondern in der Früh- und Spätrenaissance, nicht im Hochbarock, sondern im Frühbarock und wiederum im Rokoko, als die Graphik einen steilen Aufstieg zusammen mit der gleichfalls diminutiven, vervielfältigenden bürgerlichen Porzellankunst beginnt. Die gleiche Beobachtung gilt aber vorzüglich für die Späte Neuzeit, die sich auch in diesem Punkt zum Barockzeitalter ähnlich wie die Neuzeit zum Mittelalter verhält und zunächst, im Zeitalter der Aufklärung, eine unerhörte Blüte 114
der Graphik heraufbeschwört. Auch da können wir in der Graphik einen Protest gegen jede zentralgeistige Autorität erkennen sowie gegen das alle Künste umfassende Großkunstwerk, das im Rahmen der Baukunst und im Dienst der kirchlichen und fürstlichen Zentralherrschaft erwuchs; deutlicher als zuvor stellen sich der Untergang der großen Baukunst und der Aufstieg der Buchkunst und der Graphik geradezu als korrelative Entwicklungserscheinungen heraus. Und auch jetzt zeigt sich die radikal bürgerliche Tendenz dieser Kunstgattung, die in Gestalt des vollendeten englischen Farbstiches als ein verbilligter, jedem zugänglicher Ersatz für das Tafelgemälde erscheint, durch die glänzenden französischen Stecher oder durch Chodowiecki als Buchillustration der moralisierenden Schrift dient oder in Goyas Händen zum flammenden Protest gegen jede Unterdrückung der menschlichen Persönlichkeit gesteigert wird. Selbstverständlich beteiligt sich die Graphik selber an dem periodischen Wechsel der geistigen Struktur; die SchwarzWeiß-Kunst Dürers, Rembrandts und Goyas, dieser größten Graphiker der Frühen, Mittleren und Späten Neuzeit würde genügen, um die große atmende Bewegung, die sich während der Neuzeit vollzieht, zu veranschaulichen. So finden wir, wie die überaus sachliche, männlich zugreifende Weltbezogenheit der Renaissance sich in Dürers Holzschnitten und Kupferstichen offenbart, wo die Schwarz-Weiß-Gegensätze wesentlich einer zunehmenden Klärung und Betonung der individuellen Form und damit einer notwendig vielheitlichen Bildgestaltung dienstbar gemacht werden. In Rembrandts Radierung tritt die grenzsetzende und formbestimmende Kraft der Linie zurück; schon die Wahl der neuen Technik wurde durch das Streben nach einer flüssigen, malerischen Verbindung von Figur und Grund, Körper und Raum bedingt. Licht und Finsternis, Hell und Dunkel, Weiß und Schwarz erweisen sich jetzt als die alles Gegenständliche übergreifenden, polar entgegengesetzten Potenzen, aus denen die höhere Einheit des Universums, die organische Ganzheit der künstlerischen Vorstellung sich aufbaut. Hier aber zeigen besonders Goyas Radierungen die Auflösung des barocken Eros und den Bruch mit der synthetischen 8
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Weltanschauung des Barockmeisters: trotz der durch Aquatinta erzielten Tönung erfüllen die Schwarz- und Weißwerte eine völlig neue Funktion, indem sie bei einer fast expressionistisch vereinfachten Formgebung dazu dienen, den leidvollen, unversöhnlichen Gegensatz der feindlichen Elemente in einer o f t strikt persönlichen Phantasiewelt zu veranschaulichen. Wir können hier gleich hinzufügen, daß auch in den satirischen Steinzeichnungen Honoré Daumiers, des zweiten großen Graphikers des 19. Jahrhunderts, die HellDunkelwerte nicht mehr als Träger einer in sich ausgeglichenen, bipolaren Weltordnung erscheinen. D a s ist allgemein das Schicksal barocker Polaritäten und Konjunktionen, daß sie ihre innere Berechtigung verlieren und entweder als Rezept noch lange mechanisch wiederholt oder mit wachsender Überzeugung als „naturwidrig" abgelehnt werden. Vieles, was hier unter besonderer Berücksichtigung des späteren 18. Jahrhunderts zu sagen war, gilt überhaupt f ü r die Späte Neuzeit, die als ganzes das Zeitalter des aufgeklärten, liberalen Bürgertums blieb. Diese einheitliche Bestimmbarkeit zeigt sich gerade dann, wenn wir die zentripetal-zentrifugale Bewegung, die sich auch innerhalb dieser letz f en G r o ß s t u f e der abendländischen Neuzeit durchsetzt, verfolgen. Wie bemerkt, bezeichnen wir die drei Strecken, die der Uhrzeiger der Späten Neuzeit durchschreitet, als die Zeitalter der A u f k l ä r u n g , der R o m a n t i k und der M o d e r n e .
Romantik
Eine scharfe Unterscheidung zwischen der Romantik und dem Klassizismus des frühen 19. Jahrhunderts wird hier nicht durchgeführt. Es wird noch näher dargelegt werden, daß ein umfassender Begriff der Romantik den „romantischen Klassizismus" in sich enthält, den wir als eine be116
sondere Form der romantischen Fernsehnsucht begreifen. Bei Goethe konnte diese Sehnsucht ebensogut auf den Orient wie auf Hellas zielen. In einem Bauwerk Schinkels können sich Faust und Helena, Gotik und griechische Antike zu einer — freilich nicht sehr glücklichen — Ehe verbinden. Über die zentralgeistige Haltung der Romantik seit etwa 1800 kann wohl kein Zweifel bestehen; nur wird nicht immer klar genug erkannt, daß das romantische Mittelpunktund Ganzheitsbewußtsein sich erst aus einer peripher gebundenen Geistesstufe entwickeln konnte, die wir selbstverständlich nicht im Barode, sondern in der Aufklärung des späteren 18. Jahrhunderts zu suchen haben. Der so ungemein schöpferische Idealismus namentlich der deutschen Romantik setzt sich nicht gegen Spinoza, Leibniz und Böhme durch, sondern gegen den Positivismus und Empirismus der Aufklärung. Umgekehrt hat erst die enzyklopädische, die peripher sammelnde und ordnende Weltbeziehung der Aufklärer den synthetischen Griff der Romantik ermöglicht, denn nochmals: „was man zusammenziehen will, muß man erst sich ausbreiten lassen". So hat die Aufklärung die Romantik als das Ideal vor sich, wie die Vorzeit das Mittelalter oder die Renaissance den Barock. Das ist die Schwäche jeder kunst- oder kulturgeschichtlichen Betrachein tung „des 19. Jahrhunderts", daß sie willkürlich Fragment aus der von 1750 bis in die Gegenwart reichende Entwicklungseinheit heraushebt, eine scharf ausgeprägte zweite Entwicklungsstufe voranstellt und so von vornherein die geistige Dynamik innerhalb des 19. Jahrhunderts verkennt. Schon im Kants kritischem Idealismus, später in seiner Hinwendung zu der Welt der Freiheit vollzieht sich die Ablösung vom Aufklärungsempirismus (Hume) und die schöpferische, geistige Einstülpung, die dem gesamten spekulativen Idealismus der deutschen Romantik zugrunde liegt. Dabei beweist allein schon die dichte Fülle großer Geister, die sich in den Jahrzehnten seit 1800 zusammendrängen, daß die abendländische Kulturseele in der Romantik noch einmal einen inneren, geistigen Bezugspunkt gewann, von dem aus es gelang, die Welt in all ihren 17
Teilen neu zu begreifen. Man bedenke, daß 1770 das Geburtsjahr Beethovens, Hegels und Hölderlins war, während nur wenig früher oder später die Brüder Schlegel, Humboldt und Grimm, Fichte und Schelling, Görres und Savigny, Baader und Schleiermacher, Jean Paul, Novalis, Wackenroder, Tieck, Kleist, E. T. A. Hoffmann geboren wurden. Diese überwältigende Fülle auf so verschiedenen Gebieten wie der Musik und Philosophie, Dichtung und Naturwissenschaft, Sprach- und Rechtswissenschaft weist auf eine Universalität des Zeitgeistes hin, die sich im Einzelnen wiederholen kann. Im Gegensatz zu dem zunächst bloß sammelnden, beschreibenden, ordnenden Weltinteresse der Enzyklopädisten ist Goethes universaler Geist nicht peripher, sondern — wie einst bei Leibniz — zentral geartet; er schreitet nicht Punkt für Punkt den Umkreis der Wirklichkeitserfahrung ab, sondern ist von vornherein ganzheitlich geartet und allseitig auf den gesamten Wirklichkeitsund Bildungsstoff gerichtet. Aus der gleichen synthetischen Geistigkeit erklärt sich allgemein die häufige gegenseitige Durchdringung der verschiedensten geistigen Gebiete, die sich in der zweiten Jahrhunderthälfte wieder um so stärker gegeneinander isolieren. Es sei hier an die Verschmelzung von Dichtung, Philosophie und Naturwissenschaft bei Goethe erinnert, von Religion und Naturwissenschaft bei Novalis, von Religion und Philosophie bei Schleiermacher, von Philosophie und Naturwissenschaft bei Schelling, von Philosophie und Geschichte bei Görres, Bachofen usw. Selbstverständlich gibt es zahlreiche Aussagen, die ausdrücklich die Möglichkeit und Notwendigkeit zentralgeistiger Synthese gegenüber dem Aufklärungsempirismus und Positivismus betonen. ,,Es kommt nicht so sehr darauf an, zu sehen, was noch keiner gesehen hat, als bei dem, was jeder sieht, zu denken, was noch keiner gedacht h a t " (Schopenhauer). Das mochte überhaupt die Ansicht der spekulativen Philosophie sein, aber dazu kommt die Stimme des Naturforschers Alexander von Humboldt, der in der Einleitung zu seinem Kosmos immer wieder hervorhebt, wie es uns gelingen kann, „die Natur begreifend, den rohen Stoff empirischer Anschauung gleichsam durch Ideen zu 118
beherrschen", oder wie es möglich ist, ohne dem gründlichen Studium spezieller Disziplinen zu schaden, einen höheren Standpunkt zu gewinnen, von dem aus die Natur nicht mehr als ,,ein totes Aggregat" erscheint, sondern „alle Gebilde und Kräfte sich als ein durch innere Regung belebtes Naturganzes offenbaren". Ähnlich äußert sich Schiller in seiner Jenaer Antrittsrede, wie der philosophische Kopf das Aggregat aus Bruchstücken, das die Geschichte uns liefert, zum System, zu einem „vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen" erhebt In diesem letzten Fall sehen wir, daß der synthetische Geist der Romantik nicht nur die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen im räumlichen Nebeneinander, sondern auch im zeitlichen Nacheinander zu überwinden sucht, indem er die historische Entwicklung — aber auch das organische Wachstum — als ein einheitliches, sinnvolles, zielgerichtetes Geschehen begreift: als ein in der zeitlichen Abfolge seiner Zustände sich offenbarendes, lebendiges Ganzes. Schon bei Kant verschiebt sich das Interesse von den mathematisch-physikalischen Wissenschaften nach der Geschichte. Das frühere 19. Jahrhundert wird dann aber die Zeit der großen geschichtsphilosophischen Systeme und Metamorphoselehren, die Zeit auch, in der das „Gesetz der geistigen Wiederholung", des Gleichlaufs der kollektivgeistigen und der individualgeistigen Entwicklung, zum gemeinsamen Besitz aller namhaften Denker gehört. Dem Rückzug auf eine den Sinnen und dem kausallogischen Denken entrückte geistige Mitte entspricht die allgemeine Sehnsucht des romantischen Menschen, sich der „Weltvernunft" oder „Weltseele" auf dem Wege der „Ahndung" zu nähern, sich mit ihr zu identifizieren. Daher die echt romantische Überbetonung des persönlichen Gefühls, der Intuition, der unbewußten Funktionen des Seelenlebens, der religiösen Versenkung. Zweifellos war mit dieser romantischen Introversion die Gefahr einer Abspaltung von der Wirklichkeit und einer Lebensuntüchtigkeit gegeben, die so auffallend oft das dunkle Schicksal führender Persönlichkeiten bedingte. So erklärt sich die romantische Fernsehnsucht nicht nur als eine Flucht aus dem 119
Alltagsleben, sondern auch aus dem Bedürfnis, in einer fernen und fremden, mit der Würde des Idealen ausgestatteten Wirklichkeit einen sicheren Halt zu gewinnen. Diese idealisierte Welt konnte die des Orients sein oder des Hellenentums, die ferne, noch der mütterlichen Erde verbundene Vorzeit des Griechen- und des Germanentums und vor allem das christliche Mittelalter. Wie im Barockzeitalter löst die allgemeine Wendung zum Irrationalen nicht nur die verschiedensten pantheistischen oder pansophischen Strömungen aus, sondern sie bedingt auch die verstärkte Machtstellung der Kirche, den häufigen Übertritt zum Katholizismus oder den Gedanken einer Wiedervereinigung der Kirchen. Man kann auch diesen romantischen Katholizismus aus dem Bedürfnis der weltflüchtigen Seele nach einer unbedingt gültigen geistigen Autorität und einer allumfassenden geistigen Organisation erklären. Dazu kommt aber die Einsicht, daß die Romantik sich als „das Mittelalter der Späten Neuzeit" gebärdet, ähnlich wie das Barockzeitalter als das Mittelalter der gesamten Neuzeit zu bezeichnen war. Als die bedeutsamsten, über- und untergeordneten zentralgeistigen Stufen unserer Kulturentwicklung sind Mittelalter, Barock und Romantik strukturverwandt, isomorph und damit durch ein dichtes Netz sympathischer Beziehungen verbunden. Bezeichnenderweise scheinen sich die verbindenden Fäden auch auf die gar nicht bekannte Bronzezeit, das Mittelalter unserer Vorzeit, erstreckt zu haben. Im Gegensatz zu Hegel, Goethe, Schiller, die sich an Hand der späten Schriftquellen über die germanische Vorzeit orientierten und sie daraufhin entschieden ablehnten, wurde Jakob Grimm auf Grund seiner sprachwissenschaftlichen Studien zu einer viel früheren, sehnsuchtsvoll bejahten, reinen und ursprünglichen Stufe nordischer Vorzeit geführt, in der er die älteste, sinnliche Entwicklungsstufe unserer „Muttersprache" vermutete und die sich offenbar zeitlich mit der urgermanischen Bronzezeit deckt (s. u.). Das ist die gleiche, weiblich betonte, vorzeitliche Kulturstufe, die Bachofen für das Griechentum entdeckte. Unter 120
dem Gesichtspunkt
zentralgeistiger
Synthese
sind
sicher auch die großen politischen Ereignisse des romantischen Zeitalters zu deuten. In Frankreich stellte Napoleon der Herrschaft der peripheren, revolutionären Masse ein streng zentralisiertes Kaisertum gegenüber, das in mancher Beziehung an den Absolutismus Ludwigs XIV. erinnert; sein Traum einer neuen, ganzheitlichen Ordnung Europas hätte sogar die neuzeitliche und vielheitliche, aus einzelnen nationalen Staaten zusammengesetzte Struktur des Abendlandes in ein einheitliches Gefüge, freilich unter französisch-nationaler Vorherrschaft, verwandelt. Den völlig abweichenden historischen Gegebenheiten entsprechend, löste das gleiche Bedürfnis nach politischer Ganzheit in Deutschland gerade den mit Leidenschaft verfochtenen und philosophisch begründeten Gedanken eines deutschen Nationalstaates aus. Als ein Produkt romantischer Phantasie stellt sich namentlich auch Fichtes „ V e r n u n f t s t a a t " heraus, der zugleich als ein zentral regulierter wirtschaftlicher Organismus gedacht war, der den gesamten Produktions- und Distributionsprozeß, Einfuhr, Ausfuhr und Preisbildung beherrschen sollte, so daß „es keine Notleidende oder Müßiggänger mehr g ä b e " . Man sieht, wie grundlegend Fichtes Wirtschaftsideal dem liberalbürgerlichen Prinzip des laisser aller widerspricht und schon eher an die Wirtschaftspolitik Ludwigs XIV. erinnert. Andrerseits erkennen wir, daß dieser romantische Staatssozialismus sich durch sein organisches und ganzheitliches Gefüge ebensosehr von der bloß aufständigen Gesinnung der französischen Aufklärer und Revolutionäre entfernt wie von der späteren, durch Marx eingeleiteten, aber immer mehr zu einem bloß revolutionären Protest verlaufenden Arbeiterbewegung der letzten hundert Jahre: Fichtes Sozialismus ist zentral, der nach Marx einsetzende, dann permanente revolutionäre Sozialismus ist zentrifugal strukturiert. Im Hinblick auf die besondere Aktualität des romantischen Ideengutes ist eine Mahnung am Platze: wenn man, wie das heute leider sehr oft geschieht, den Patriotismus der großen Romantiker und vor allem Hegels Verherrlichung des Staatsgedankens für die um ein Jahrhundert später erfolgende nationalsozialistische Katastrophe verantwortlich macht, so zeugt 121
dieses Urteil von einem betrüblichen Mangel an historischem Denken. Seit dem unvermeidlichen Zusammenbruch des jenseitig verwurzelten mittelalterlichen Universalismus war die neuzeitliche Erhebung des Nationalstaates zum höchsten recht- und moralschöpferischen Ordnungsprinzip eine Selbstverständlichkeit. So scheiterte Napoleons Gedanke einer umfassenden — aber imperialistisch begründeten — Ordnung des Abendlandes sofort an dem Widerstand der übrigen souveränen Staaten. Und so war es sogar einem Hegel nicht gegeben, über den nationalen S t a a t als höchste politische Einheit hinaus zum Begriff einer zentral regulierten, übernationalen Autorität fortzuschreiten. Heute, da das unendlich mühselige und leidvolle Ringen der Menschheit offenbar auf die Verwirklichung einer weltumfassenden Völkergemeinschaft gerichtet ist, muß dann allerdings die verspätete Wiederholung des Napoleontraumes als ein Verbrechen an der Menschheit und die Hegeische Staatsidee als eine den Fortschritt hemmende Beschränkung erscheinen. Wie immer in den zentralgeistigen Stufen erhebt sich die Frage: Führt auch im romantischen Zeitalter die Besinnung auf die innere Tiefenachse zu einer erneuten Begegnung mit der Frau und zum nochmaligen Durchbruch des Eros auf Grund einer erneuten Betonung der zentral-peripheren, weiblich-männlichen Polarität? Zur Antwort könnte eigentlich die Gegenfrage genügen, ob wir uns überhaupt die Romantik, die man als das Jugend- oder Pubertätsalter des modernen Europäers bezeichnet hat, ohne eine schwärmerische Verherrlichung der Liebessehnsucht denken können, die umgekehrt für den gewöhnlichen Begriff immer „romantisch" verklärt erscheint: Obwohl der romantische Eros sich nicht zuletzt in dem persönlichen Liebesbekenntnis und im Einfluß der großen Geliebten der deutschen oder französischen Romantik auswirkt, bleibt doch sehr wesentlich, daß die zentrale Erhöhung der Frau keineswegs nur persönlichen Charakter besaß. So bezeichnete Novalis die Liebe als den Endzweck der Welt, als das Amen des Universums. Wieder einmal ist von einer Erneuerung des mittelalterlichen Marienkults zu sprechen, zu der schon die Hinwendung 122
zum Mittelalter und zu der Kirche die allgemein« Voraussetzung bildete. Daumer aber wollte in einer Zeit, als er noch das Christentum bekämpfte, den Marienkult zum Mittelpunkt einer neuen Religion machen, weil ihm das Weib als Symbol der mütterlichen Natur erschien. Niemals wurde die Antithese zwischen dem peripher-beweglichen, männlichen und dem zentral beharrenden, weiblichen Lebensprinzip so klar erfaßt wie in Schillers „Glocke". Niemals wurde das Bekenntnis zum ewig Weiblichen so ausdrücklich ausgesprochen wie in den letzten Fauststrophen Goethes. Aber auch niemals wurde der Polaritätsgedanke so allgemein als Grundgesetz des Weltgeschehens erkannt und — über Goethe und Schelling hinaus — auf eine metaphysische Ausdeutung des Geschlechtsgegensatzes zurückgeführt. Das geschieht bei Görres, dann vor allem bei Jakob Grimm und Bachofen, die beide die weiblich-männliche Antithese in den verschiedensten naturgegebenen oder kulturgeschichtlichen Gegensätzen wiederzuerkennen glauben. So gelangt Bachofen zu seiner Konzeption einer weiblichen, mutterrechtlichen, gynaikokratischen Stufe im frühen Griechentum und zu seiner Unterscheidung von Muttertum—Vatertum, Weib—Mann, Erde—Sonne, Nacht—Tag, Natur—Geist, Orient—Okzident. Und so drängt es Grimm zu einer im Norden entsprechenden ältesten und sinnlichen Periode in der Entwicklung der Muttersprache und begründet seine Überzeugung, daß das grammatikalische Geschlecht auf einer ursprünglichen Personifikation der belebten und unbelebten Dinge beruhe, je nachdem sie als männlich — groß, fest, tätig, bewegt, zeugend usw. — oder als weiblich — klein, weich, still, leidend, empfangend usw. — empfunden wurden (Deutsche Grammatik III, 1831). Nur ausnahmsweise bringt.Grimm diese Gedanken auch mit dem frühen Naturkult in Zusammenhang. Heute ist die Frage berechtigt, ob der Schlüssel zur Erklärung des grammatikalischen Geschlechts nicht überhaupt in dem bipolaren naturreligiösen System der urgermanischen Bronzezeit zu finden ist und ob sich nicht in Grimms genialer Intuition eine tief innere, sympathische Beziehung der deutschen Romantik auch zu der großen mittewendigen Stufe unserer Vorzeit offenbart. *
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Es ist hier bis jetzt nicht von der Kunst gesprochen worden, weil die zentralgeistige Gestalt der Romantik sich in der Bau- und Bildkunst viel weniger klar ausprägt als im sonstigen Geistesleben, einschließlich der Musik. Pinder hat einmal bemerkt, daß die Kathedrale, die um 1200 gebaut worden war, um 1800 komponiert wurde, ein schwerwiegendes Wort, das eine nähere Erklärung verlangt. Für die späte Vormachtstellung der Musik in der zeitlichen Rangordnung der Künste mag wesentlich sein, daß die Einheit der musikalischen Schöpfung sich erst in fortgesetztem Werden und Vergehen offenbart und daß es uns leichter fällt, ein räumliches Nebeneinander als ein zeitliches Nacheinander zu einem gegliederten Ganzen zusammenzufassen. Carus erkannte in Beethovens 5. Symphonie ein „lebendiges Einheitsprinzip", das „die wunderbar mannigfaltigen musikalischen Figuren v e r k n ü p f t " ; diese Einheit aber ist nur im Werden, in der Entwicklung erfaßbar, und wie sehr zuerst das statische Sein, erst dann die Dynamik des Werdens die Aufmerksamkeit fesselt, zeigt sich darin, daß nach Kant erst die Philosophie des deutschen Idealismus das geschichtliche Werden und das organische Wachstum als die Selbstentfaltung eines Überzeitlichen und Ganzen zu deuten sucht. Für Beethovens Symphonien und Sonaten kommt hinzu, daß sie eine absolute, von der Liturgie, der Oper, dem Tanz losgelöste Musik sind, die unmittelbar aus dem persönlichen Gefühlsleben aufquillt und damit, auch wenn sie Millionen in ihren Bann gezwungen hat, den subjektivistischen Wesenszug der gesamten Späten Neuzeit teilt. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, an welche sehr dünne Kulturschicht auch die Dichtung und die philosophische Spekulation der Romantik sich doch gewandt haben. Die unverkennbaren Schattenseiten der romantischen Persönlichkeit, ihre Leidseligkeit, ihr Lebensunmut, ihre zu starke Beschäftigung mit sich selbst, ergeben sich zweifellos auch daraus, daß sie in ihrer transzendentalen Sehnsucht keine kollektiv geistige Resonanz mehr fand. Das eigenartige Schicksal der Baukunst bestätigt und verdeutlicht diese Gedanken. An sich wäre zu erwarten, daß die Romantik, wie jede zentralgeistige Stufe, das dringende 124
Bedürfnis gehabt hätte, sich einen besonderen, umschlossenen Ort zu schaffen, in dem der sehnsüchtig geahnte absolute Geist ganz bei sich selbst gewesen wäre. Aber dieser ,,Stille G a r t e n " der Romantik blieb eine poetische Abstraktion, und nur bei näherem Zusehen mögen wir wohl das romantische Bekenntnis zum geistigen temenos erkennen. Wie einst die Holländer haben deutsche Maler von Kersting bis Schwind besonders gerne den stillen, oft nur von kahlen Wänden umschlossenen Wohnraum auch im Gegensatz zu der fernen, durch ein Fenster sichtbaren Landschaft und mitsamt der Herrin dieses intimen Bereiches dargestellt. Nicht zu vergessen ist auch, daß im „Biedermeier" die Wohnkunst noch einmal eine überaus stilstarke Durchgestaltung erfuhr. Weiter bestätigt sich das erwartete positive Verhältnis zur Baukunst, insofern das frühe 19. Jahrhundert sich durch eine leidenschaftliche Sehnsucht zum Bauen kennzeichnet. Wohl in keiner Zeit auch sind so viele und große architektonische Entwürfe geplant worden, um dann auf dem Papier stehenzubleiben. Darunter befinden sich so phantastische Gebilde wie Boisserees Grundriß zu einer ,,Gralskirche", ein gotisch gedachter, runder Zentralraum, der zwar als ornamentale Strahlungsform sehr rein die geistige Struktur der Romantik veranschaulicht, jedoch zur baulichen Verwirklichung überhaupt ungeeignet war. Fragen wir aber, weshalb die Romantik keine Baukunst mehr besaß, die sich in ihrer schöpferischen Kraft auch nur entfernt mit der des Barock oder gar des Mittelalters messen könnte, so bleibt nur die Antwort, daß seit der Aufklärung die zentrifugalen, im Grunde immer baufeindlichen Tendenzen der gesamten Späten Neuzeit schon so stark ausgeprägt waren, daß sogar die Romantik nicht mehr die K r a f t besaß, sich ein eigenes geistiges Gehäuse zu bauen. Der Subjektivismus der Romantik, das Fehlen einer kollektiv geistigen, zentral ordnenden Autorität, welche die Voraussetzung aller großen Baukunst darstellt, ist nur ein besonderes Symptom der gleichen, unaufhaltsam fortschreitenden zentrifugalgeistigen Entbindung. Der napoleonische Absolutismus und der Massenübertritf zur Kirche hatten einen zu episodischen oder auch ersatzmäßigen 125
Charakter, um eine neue Baukunst hervorrufen zu können. Bezeichnenderweise hat aber auch die nationale Bewegung in Deutschland sich weder im frühen 19. Jahrhundert, noch später hauschöpferisch auswirken können. Aber eine unglückliche Liebe zur Baukunst war da, und so blieb nur der Ausweg, daß die Romantik sich ein fremdes Gehäuse, zumindest eine fremde Fassade lieh, um ihre Obdachlosigkeit zu verbergen. So greift der romantische. Klassizismus zu der hellenischen, das französische Empire zu der römischen Antike. So gibt es aber auch eine neue Romanik, in der wir den stärksten und reinsten Ausdruck der deutschen Romantik erblicken möchten. Allgemeiner und in England schon früher führt die schwärmerische Verehrung des Mittelalters zu einer grundsätzlich unmöglichen Nachahmung der Gotik, und so ergibt sich jene seltsame Rekapitulation der historischen Baubewegung, die in der Spätromantik zu einer Neurenaissance, noch später zu einem Neubarock fortschreitet und endlich im 20. Jahrhundert mit einem Neoklassizismus den Kreislauf beschließt. Obwohl wir beim Vergleich mit den großen historischen Baustilen wohl nur noch von einer Ersatzbaukunst reden können, bietet diese im Rahmen der Späten Neuzeit sicher ein bedeutsames Interesse und gewiß auch eine Bestätigung für die stärker positive Beziehung der Romantik zur Baukunst. An sich ist schon die Leidenschaft zur baulichen Gestaltung nicht weniger bezeichnend als die gleichfalls nicht immer glückliche Sehnsucht zum Transzendentalen. In Frankreich ist die Möbel- und Dekorationskunst des Empire von 1800 bis 1830 Ausdruck eines starken und klaren, streng disziplinierten und in diesem Sinn geistigen Lebensstils. Die deutsch-bürgerliche Wohnkunst des Biedermeier wurde erwähnt. Außerdem drängt sich die Frage auf, ob der Griff nach der Antike und damit der ganze Klassizismus der Romantik nicht einen ganz anderen Sinn hat als im Zeitalter der Aufklärung und ob nicht — ganz im Sinne Hölderlins und Byrons — vor allem die griechische Antike die Würde des Fernen, Fremden, schlechthin Idealen gewinnt. Wieder einmal zielt der Klassizismus nicht auf das rationalistische, sondern auf das idealistische Moment in 126
der antiken Baukunst. Die Bauten und Entwürfe besonders deutscher Architekten, wie Schinkel, Gilly, Weinbrenner, Gentz, Speeth, bezeugen wiederholt, daß man im Bausystem und in den einzelnen Bauelementen der Antike nicht die sachlich-konstruktive Gebundenheit, sondern die Freiheit der abstrakt-geistigen Form erblickt: des scharfkantig und flächig begrenzten Würfels, des schweren Pfeilers oder Obelisken, des Rechtecks und Quadrats, des Dreiecks und Halbkreises. In dieser geistigen Interpretation einfachster geometrischer und stereometrischer Formen mögen in der Tat Ansätze zu einer eigenschöpferischen, kernromantischen Baukunst liegen, die dem frühen Mittelalter vermutlich eher als der griechischen Antike verwandt erschienen wäre, gleichzeitig aber einen Hinweis auf gewisse baukünstlerische Bestrebungen der Gegenwart geboten hätte (vgl. S. 178). Durch die unglückselige Nachahmung zuerst der Gotik, dann der Renaissance sind diese Ansätze aber sofort verschüttet worden. Dem typisch romantischen Zwiespalt zwischen Wollen und Können entsprechen krampfhafte Bemühungen um die Erneuerung des Bündnisses zwischen Bau und Bild. Daß der Aufklärungsklassizismus trotz der Nähe und der Nachwirkung des barocken Großkunstwerkes auf eine Befreiung der bildenden Kunst von jeder äußeren Autorität gerichtet war, ist verständlich, und so war auch der viel gerühmte ,,Parnaß" Raifael Mengs' in der Villa Albani (Rom) nur noch ein auf die Decke übertragenes Staffeleibild, das seine Form nicht von der Architektur erhielt und auch nichts weniger als eine illusionistische Raumerweiterung sein wollte. Dagegen ist von vornherein zu erwarten, daß die romantische Sehnsucht nach einem die ganze Wirklichkeit beherrschenden, geistigen Prinzip vor allem auf eine nochmalige organische Angleichung der Malerei und Bildnerei in die Baukunst zielte. Besonders in Deutschland ist aber Jas fortgesetzte Ringen um dieses Ziel ebenso bezeichnend wie das Versagen. Interessant ist hier die Tätigkeit — und zumeist auch die Persönlichkeit — der um Overbeck geicharten „Nazarener" oder „Klosterbrüder", die von der jeborgenen Ruhe eines ehemaligen römischen Klosters aus 127
die monumentale Wandmalerei zu erneuern suchen. Während bei den tief verehrten alten Meistern von Giotto bis Raffael die wechselnde Beziehung zur Baukunst von einer selbstverständlich scheinenden Naturbeziehung begleitet wurde und erst recht die barock« Großmalerei zum Anschluß an die Baukunst drängte, um ihr sinnliches Wirklichkeitserlebnis mit dem abstrakten Baugefüge zu einem sinnlich-übersinnlichen Ganzen zu verschmelzen, gehen die Nazarener genau den entgegengesetzten Weg: sie suchen nicht aus der Fülle ihrer Sinneserfahrung, sondern durch Flucht vor dem Leben, vor der Natur und vor dem eigenen Temperament zur Wandmalerei zu gelangen. Die unausbleibliche Folge war, daß ihre idealistische Malerei der Blutleere und Gedankenblässe verfiel, zugleich aber auch durch ihre innere Beziehungslosigkeit zur Baukunst den Mangel an einer höheren Gesetzlichkeit verriet, die sie so gerne vortäuschen möchte. Wie verhängnisvoll diese Maleridealisten zwischen der Natur und der Baukunst schwebten, ohne nach einer der beiden Seiten Anschluß zu finden, geht aus zahlreichen Tatsachen hervor. Mit Ausnahme des den Nazarenern ferner stehenden Schinkel, der noch einmal an den universalen Künstlertypus der italienischen Hochrenaissance erinnert, war keiner dieser Maler zugleich Architekt. Nur mit Mühe gelang es den Nazarenern, einen Gehilfen von Mengs aufzutreiben, um sich in der Freskotechnik unterrichten zu lassen. Schon der geniale, zu jung verstorbene Carstens hatte nur Kartons zu Wandgemälden angefertigt; auch später geschieht es immer wieder, daß die Wandmalerei nicht über die Zeichnung hinauskommt, in dieser Gestalt auch den größeren Reiz ausübt, oder daß die Ausführung — bei Cornelius sogar die Farbwahl! — den Gehilfen überlassen wird. Weit getrennt von den Nazarenern träumt auch Runge von einem Anschluß an die Baukunst, die er selbst erfinden möchte und die eher eine Fortsetzung der gotischen als der griechischen sein würde. Seine bekannten „Tageszeiten" sollten monumentale Wandbilder werden, aber nur der „Morgen" wurde in kleinem Maßstab in ö l auf Leinwand vollendet, die anderen sind lediglich als Federzeichnungen und Radierungen erhalten. In England und Frankreich war es nicht anders. 128
Unter den französischen Klassizisten und Romantikern befindet sich keiner, dessen Ruhm auf der Wandmalerei gründet; Delacroix' umfangreiche Decken- und Wandgemälde sind bemerkenswert wegen ihrer Beziehung zum barocken Großkunstwerk und Rubens, aber dieser leidenschaftliche Realist und Kolorist lebt im Herzen und im Urteil der Nachwelt durch seine Staffeleibilder weiter. Die beiden großen Engländer Constable und Turner haben sich überhaupt nicht mit Wandmalerei befaßt. Ein Überblick über die gesamte historische Entwicklung seit der Renaissance führt zu der Überzeugung, daß das Tafelbild als unmittelbare Wiedergabe des persönlichen Naturerlebnisses die eigentliche künstlerische Ausdrucksform auch der persönlichen Freiheit war und des liberal-bürgerlichen Gedankens, dem trotz vorübergehender autoritärgeistiger Bevormundung die Zukunft gehörte. Trotz der totalitären Kunstbestrebungen der Kirche, des fürstlichen Absolutismus oder des aristokratischen Bürgertums führt eine ununterbrochene Entwicklungslinie vom 16. Jahrhundert und von der Tafelmalerei des Frühbarock über Watteau und Chardin, Goya, Constable und Turner, Friedrich und Blechen zum malerischen Realismus und Impressionismus des späteren 19. Jahrhunderts. Wie bemerkt, hat namentlich der nationale Gedanke, sei es in Gestalt des französischen Imperialismus oder des deutsch-romantischen Patriotismus, im 19. Jahrhundert nicht die schöpferische Kraft zur Erneuerung der Monumentalmalerei im Sinne des Barock oder gar des Mittelalters besessen. Es hat die neue Gattung der großen Schlachtenbilder und einer Historienmalerei gegeben, die wir als einen Ersatz für die Wandmalerei bezeichnen können. Wir kennen die Bemühungen eines Cornelius, unter dem Einfluß der nationalen Bewegung zu der Erneuerung eines monumentalen ,deutschen" Stils zu gelangen. Aber trotz der mühsamen, heroischen Versuche auch eines Rethel gab es keine Wandmalerei mehr, die sich willig und aus innerer Notwendigkeit der Architektur angeschlossen hätte, so wenig wie es eine eigenschöpferische Baukunst gab, in der ein zentral dominierendes geistiges Prinzip sich hätte ausgestalten können. Aber seltsam: ebenso bezeichnend wie 9
Soheltema, Geistige Mitte
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die innere Beziehungslosigkeit scheint auch der Drang zur Baukunst, welche die Malerei des 19. und erst recht des 20. Jahrhunderts immer wieder dazu treibt, das Bündnis zu erneuern. Zweifellos ist in dieser unglücklichen Liebe zu der abstrakten Gesetzlichkeit des Bauwerkes die ebenso unbefriedigte Sehnsucht des modernen Menschen nach einer geistigen Heimat zu erkennen, von der er sich doch immer weiter entfernte.
Moderne
Warum mußte der abendländische Kulturgeist nach seiner romantischen Mittewendigkeit wieder aus sich selbst heraustreten, sich wieder gierig auf die periphere Wirklichkeit stürzen und sich in ihr verlieren? Die größere Nähe der historischen Erscheinungen macht die Beantwortung dieser Frage leichter, als es bei den bedeutsameren zentralgeistigen Stufen, Mittelalter und Barock, der Fall sein mag, deren ferner Glanz sich eher einer kritischen Stellungnahme entzieht. Als moderne Menschen des späteren 19. und des 20. Jahrhunderts fühlen wir uns immer noch zu einer unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem spekulativen Idealismus des früheren 19. Jahrhunderts gezwungen, wogegen die Beziehung zum Barock oder gar zum Mittelalter uns kaum zum Bewußtsein kommt. Die beiden Gründe, die den modernen Menschen dazu trieben, den „Stillen G a r t e n " der Romantik wieder zu verlassen, ergaben sich teils aus der Kraft, teils aus der Schwäche der romantischen Position. Ein Beispiel mag diesen Gedanken verdeutlichen: Wenn der Geschichtsphilosoph auf deduktivem Wege, aber unterstützt durch die ihm zur Verfügung stehenden „historischen, Fragmente", zum Begriff einer die ganze Kulturgeschichte beherrschenden, zielgerichteten Gesetzlichkeit gelangt, so muß es ihn dazu drängen, das Walten dieses Gesetzes an immer weiteren 130
Teilen der historischen Wirklichkeit aufzuzeigen und bestätigt zu finden. Die zuvor von der Peripherie zur Mitte, von der enzyklopädischen Kenntnis zum universalen Begriff schreitende Bewegung wendet sich damit wieder nach außen, vom Allgemeinen zum Einzelnen, vom Begriff zur Kenntnis. Während in diesem Fall der Wunsch nach Ergänzung und Bestätigung des geistigen Besitzes dazu auffordert, den „rohen Stoff empirischer Erfahrung" in noch größerem Umfang zu meistern, kann die Bewegung von innen nach außen auch als eine bewußte Reaktion in die Erscheinung treten und als eine notwendige Korrektur der Schwächen, die dem romantischen Idealismus unvermeidlich anhafteten. Kants Worte über die Blindheit begriffloser Anschauung, die Leere des anschauungslosen Begriffs führen hier zu der Einsicht: je geringer der Anschauungs- und Erfahrungsstoff war, über den der Idealismus verfügte, um so größer war die Gefahr, daß der heroische Versuch zentralgeistiger Abstraktion und Synthese ' n u r zur vagen Ahnung, zur willkürlichen Konstruktion oder zu umfassenden Systemen führte, die sich später als nachweisbar ungenügend herausstellten. Daß Goethe uns so nahe blieb, ist wesentlich aus dem einzigartigen Gleichgewicht zwischen seinem Denken und einer wachen, sinnlichen Anschauung zu erklären, die ihn immer wieder zu den konkreten Tatsachen zurücktreibt und seine geringe Neigung zu der abstrahierenden Systematik der Schulphilosophie bedingt. Andererseits zeigt das bereits angeführte Beispiel, wie die geschichtliche Entwicklung zur Korrektur der Geschichtsauffassung zwang: Erst dadurch, daß die nach Hegels Tode einsetzende prähistorische Tatsachenforschung sich seit einem Jahrhundert selbstlos um die Sammlung und Ordnung des empirischen Materials bemüht hat, sind wir heute imstande, die großartige Hegeische Geschichtskonzeption an entscheidender Stelle zu berichtigen. Wir dürfen annehmen, daß der Idealismus des frühen 19. Jahrhunderts das gesamte moderne Zeitalter und namentlich die Fülle großer Denker und Forscher um die Jahrhundertmitte befruchtet hat, ganz gleich, ob die romantische Idee zur Verwirklichung und Bewährung drängte oder 131
zum bewußten Protest und zu dem Entschluß, sich vorbehaltlos auf den scheinbar gesicherten Boden der Wirklichkeitserfahrung umzustellen. Jakob Grimm und Leopold von Ranke, die beide der Heidelberger Romantik nahestehen, werden die Begründer der germanischen Philologie und einer Historiographie, die ihre höchste Ehre in strikte Objektivität setzt. Sempers Versuch einer technischen Erklärung der Künste hat mit den spekulativen Systemen der deutschen Ästhetik nichts mehr zu tun, zeigt aber immer noch das Streben nach umfassender Einheit romantischer Tatsachendeutung. Die von Karl Marx und Friedrich Engels begründete ökonomisch-wirtschaftliche Geschichtsauffassung will nichts mehr von einer stetig fortschreitenden Offenbarung des Absoluten (Schelling) oder einem vernünftigen und notwendigen Gang des Weltgeistes (Hegel) wissen, sondern erklärt die geistige Kultur einseitig kausalistisch aus den technisch bedingten Produktionsverhältnissen. Das war eine glatte Umkehrung des Denkens nach der Geschichtsphilosophie der Romantik; und dennoch sucht auch der historische Materialismus über das scheinbar zufällige Nacheinander und Nebeneinander der historischen Tatsachen hinaus zu einer allgemeingültigen Erklärung des geschichtlichen Werdens zu gelangen; auch er wurzelt noch in jener „denkenden Betrachtung" gegebener Tatsachen, die den Geist der Romantik auszeichnete. Die Deszendenztheorie Darwins kennt nicht mehr — und noch nicht! — den Begriff innerer Zielstrebigkeit zur Deutung der organischen Lebensentfaltung. Sie führt die Wandlung der Lebensformen mechanistisch auf die Einwirkung und den Wechsel der äußeren Naturbedingungen zurück und ist damit — wie Marx klar erkannte — der materialistischen Geschichtsauffassung eng verwandt. Aber das ändert nichts an der Größe von Darwins Evolutionslehre, die die endlose Mannigfaltigkeit der Lebenserscheinungen durch das Aufdecken realer, genetischer Zusammenhänge überwindet und, gestützt auf eine Fülle empirischer Beobachtungen, wissenschaftlich zu erweisen sucht, was in der Romantik längst vorgeahnt wurde. Auguste Comte ist der Begründer des modernen Positivismus, aber sein umfassendes Stufensystem der Welt132
geschichte wäre ohne Hegels Geschichtsphilosophie undenkbar. Noch zwei Gestalten, die beiden fast gleichalterigen großen Schweizer Bachofen und Burckhardt, mögen zeigen, welche verschiedenen Möglichkeiten der äußerst fruchtbare Grenzbezirk zwischen Romantik und Moderne in sich barg. Von diesen beiden war Bachofen noch ganz erfüllt vom romantischen Eros; er war der überzeugte Vertreter des Polaritätsgedankens, der Romantiker, in dem „die symbolschaffende, mythenbildende Kraft selber aktiv war", der aber zum Geschichtsforscher wird, indem er seine Intuition am historischen Stoff zu bewähren sucht. Auch Jakob Burckhardt greift wohl auf die Tradition des deutschen Idealismus zurück, wenn er „zur heiteren und unverdrossenen Vertretung des Geistes" auffordert „in einer Zeit, die sonst gänzlich dem Stoff anheimfallen könnte". Aber er läßt das Rätsel der Geschichte im Hintergrund ruhen, wendet sich gegen jede Systembildung, um die Tatsachen rein für sich sprechen zu lassen, wird zum gewissenhaften Berichterstatter und zum Vater eines neuen Humanismus. Wie aber auch die Wendung zur Wirklichkeit geschah, ob schrittweise auf dem Wege einer Verwirklichung der romantischen Idee oder sprunghaft infolge grundsätzlicher Absage, so war das Ergebnis eine tiefgehende Strukturwandlung: der metaphysische Typus des früheren Jahrhunderts wandelt sich zum positivistischen, realistischen, rationalistischen des modernen Zeitalters. Der Geist durchschreitet die peripheren Dingzusammenhänge nicht mehr in einer irrationalen, mittelpunktbedingten Kurve, sondern sucht nach geradlinigen, kausalistischen Verbindungen, wohl in der unbewußten, irrtümlichen Annahme, durch fortgesetzte Vermehrung solcher Graden wiederum zum Kreis zu gelangen. Mit dem Verlust des Mittelpunktbewußtseins ging das romantische Gefühl für das Geistige und Ganze verloren. Es ist, als habe die abendländische Kultur sich nach einer letzten feiertäglichen Sammlung wieder ganz den Forderungen des Alltags, der gegebenen Realität, des praktischen Zwecklebens hingegeben und damit jene Erscheinungen heraufbeschworen, die uns heute als Merkmale zunehmender geistiger Auflösung, Verflachung und Verwirrung beunruhi133
gen. So reden wir von einer Zivilisation ohne Kultur, einer Technik ohne Ethik, einer Wissenschaft ohne Erkenntnisdrang, einer Philosophie ohne Metaphysik, einer Religion ohne Gotteserlebnis, einer Psychologie ohne Seele und wie die bekannten Schlagworte alle heißen mögen. Wir können solche auf einzelne Symptome gerichteten Beurteilungen zusammenfassen: nach der Aufklärung und der Romantik vertritt das moderne Zeitalter seit 1850 die dritte, zentrifugale Geistesstufe der Späten Neuzeit, die wir wiederum als die dritte, umfassende Periode der Neuzeit nach der Renaissance und dem Barockzeitalter verstanden. Bedenken wir dazu, daß diese Neuzeit die der Vorzeit und dem Mittelalter zuzuordnende dritte Epoche unserer Kulturentwicklung darstellt, so sind wir darauf gefaßt, daß die zentrifugalen Bewegungskräfte in der abendländischen Kultur des späteren 19. und des 20. Jahrhunderts eine zuvor ungekannte Steigerung erfahren (vgl. Tabelle S. 188).
D a s s p ä t e 19.
Jahrhundert
Wir sind nicht auf die geistige Dynamik innerhalb der Aufklärung und der Romantik eingegangen, obwohl schon die Revolutionen um 1790 und 1848 darauf hinweisen, daß diese beiden Stufen ihre eigene zentrifugale Bewegungsphase, ihren eigenen Entwicklungsrhythmus besitzen. Erst aus diesen kleinen Periodizitäten ergibt sich das Verständnis für den sonst so rätselhaften „Sturm und D r a n g " , während namentlich die Unterscheidung einer Früh-, Hoch- und Spätromantik berechtigt wäre und den Übergang zur Moderne genauer veranschaulichen würde: trotz ihres fast gleichen Alters ist Bachofen noch Spätromantiker, Burckhardt der frühmoderne Mensch. Bei der Betrachtung dieses modernen Zeitalters fallen aber die noch sehr nahen Entwicklungserscheinungen so stark ins Gewicht und sie erfahren in der Gegenwart auch eine so kritische Zuspitzung, daß wir 134
die Frage beantworten müssen, ob der Grundrhythmus aller geistigen Bewegung sich nicht noch einmal innerhalb der drei letzten Generationen vollzogen hat. Wiederum hilft uns in erster Linie die Kunst dazu, diese kleine, aber zum Verständnis der Gegenwart ungemein wichtige Periodizität zu erkennen. Wenn wir das Beobachtungsfeld auf das moderne Zeitalter einschränken, erscheinen die Jahrzehnte nach dem Untergang der Romantik als eine Beginnstufe erneuten, peripheren Weltergreifens, ähnlich wie die Renaissance nach dem Mittelalter oder die Aufklärung nach dem Barock. Unter diesem Gesichtspunkt ist es sicher bezeichnend, daß in den historisierenden Baustilen des 19. Jahrhunderts trotz des bleibenden Formchaos eine dem großen historischen Ablauf entsprechende Verschiebung der Akzente bemerkbar wird. Nach der idealistischen, auf die Antike und das Mittelalter zurückgreifenden Baugesinnung bringt der erwachende Realismus schon in der Spätromantik eine Neurenaissance hervor, die in Semper einen hervorragenden Vertreter findet. Auch nach 1850 bevorzugt die Baukunst in den monumentalen Zweckbauten schon aus praktischen Gründen die Neurenaissance, während der kurz aufflammende bürgerliche Idealismus seit etwa 1870 allgemein zu einem prunkvollen Neubarock greift (Garniers Große Oper und das Trocadero in Paris, Poelaerts Justizpalast in Brüssel, Wallots Reichstag und Raschdorffs Neuer Dom in Berlin, Thierschs Justizpalast in München usw., dazu das schlimme Denkmal Viktor Emanuels in Rom). Audi wenn wir in diesem Neubarock nur einen Pseudo-Baustil und den Ausdruck eines ephemeren Pseudo-Idealismus erblicken, zeigt doch schon die Wiederholung der großen historischen Stilwende von der Renaissance zum Barock, daß das späte 19. Jahrhundert, die Zeit höchsten wirtschaftlichen Aufstieges, des Gründungs- und Spekulationsfiebers, des vertieften und militanten Nationalbewußtseins, sich noch einmal innerhalb des modernen Zeitalters als eine zentralgeistige Entwicklungsstufe gebärdet oder gebärden möchte. Von einer tiefer wurzelnden kollektiv-geistigen Bewegung oder Scheinbewegung, die sich bauschöpferisch hätte auswir135
ken können, war nun aber keine Rede mehr, und so offenbart sich die Stilwende um 1870 sehr viel schöpferischer in der freien Tafelmalerei, dem rein subjektiv bedingten, ureigensten Gebiet der modernen Kunst. Im Jahre 1855 hatte die Pariser Ausstellung unter der Devise „Le Réalisme G. Courbet" einer erstaunten Öffentlichkeit den neuen Weg gezeigt. Nach dem französischen Klassizismus und Romantizismus gehörte die Zeit dem Realismus und Naturalismus. Statt der fernen Idee galt jetzt die nahe Wirklichkeit. Statt des Menschen als Träger abstrakter Idealität galt die vom Menschen unberührte Natur und der von der Idee unberührte Mensch: der Steinklopfer Courbets, der Bauer Millets. So wurden die Franzosen zum erstenmal in der Geschichte Landschafter. So entstehen, zu beginnen mit Barbizon, die modernen Künstlerkolonien, nicht wie die romantische Bruderschaft der Nazarener im fernen Italien, sondern in der nahen Natureinsamkeit. Und so ersetzte Paris als geistige Heimat des modernen Künstlers Rom, die Sehnsucht des romantischen Künstlergeschlechts. Es ist verständlich, daß die begeisterte, der Renaissance entfernt vergleichbare Umstellung auf die Natur dem Künstler eine neue Sicherheit verlieh. Von dem spürbaren inneren Widerspruch, der sich auch bei Delacroix zwischen Dichtung und Wahrheit, Phantasie und Wirklichkeitsbejahung bemerkbar macht, war in der Barbizonschule keine Rede mehr, während auch der pessimistische, protestlerische Zug, der sich schon in der Spätromantik in der graphischen Satire (Daumier, Rethel) gegen den früheren Idealismus richtete, im neuen Realismus keine Berechtigung mehr hat. Man protestiert nicht mehr gegen Vergangenes, sondern hat Neues zu entdecken. Um noch an einem Punkt diese Gegensätze zu beleuchten, sei für Deutschland an den eigenartigen Unterschied in der Geschichtsmalerei Wilhelm von Kaulbachs und Menzels erinnert. Obwohl die spätromantische Historienmalerei Kaulbachs eine Absage an Cornelius und an die unsinnliche, zeichnerische Wandmalerei der Nazarener darstellt, verzichten seine Kolossalgemälde nicht auf den monumentalen, rhetorischen Stil der Wandmalerei; sie sollten im Zusammenhang mit der Architektur aufgefaßt werden und ein ge136
schlossenes historisches System bilden, in dem „der Geist Gottes in der Geschichte" veranschaulicht wurde. Dagegen ist der nur um zehn Jahre jüngere Adolf Menzel schon ganz der Vertreter des modernen Realismus, und auch dann, wenn Menzel historische Szenen darstellt, ist es ihm nicht um ein historisches System, sondern um historische Fragmente zu tun, nicht um den Geist Gottes in der Geschichte, sondern um die greifbare Realität, die psychologische und malerische Situation, die sich mit Hilfe der noch erhaltenen Uniformen und Architekturen wiederherstellen ließ. Später, in seinem berühmten „Eisenwalzwerk" (1875), hat Menzel auch diese historischen Reminiszenzen abgelegt. Erst auf der Grundlage des nachromantischen und gegenromantischen Realismus werden die Entwicklungserscheinungen um 1870 und um 1900 verständlich, die den Dreistufenrhythmus der modernen Geistesbewegung bestimmen. In den frühen 70er Jahren kam durch Edouard Manet und Claude Monet das Wort „Impression" auf und die Bezeichnung Impressionismus für ein künstlerisches Bekenntnis, das sich zwar wiederholt und vereinzelt angekündigt hatte, jetzt aber die allgemeine Geltung einer historischen Stilbewegung gewann. Fügen wir gleich hinzu, daß sich nach Cézanne und van Gogh um etwa 1900 der „Expressionismus" zu Wort meldet und eine ähnliche Protestbewegung vertritt wie der „Realismus" um 1850 und der „Impressionismus" um 1870, so sind wenigstens äußerlich die drei Teilstrecken gekennzeichnet, die der moderne Uhrzeiger bis in unsere Gegenwart durchschritt. Zur Deutung der künstlerischen Bewegung brauchen solche vom Künstler selber gewählten Bezeichnungen nicht maßgebend zu sein. In diesem Fall ist zu bemerken, daß es in den darstellenden Künsten niemals eine Schöpfung gegeben hat, die nicht aus der sinnlichen Wirklichkeitserfahrung entstanden wäre, die innergeistige Verarbeitung des aufgenommenen Wirklichkeitsstoffes in sich enthielte, um dem ausgelösten Gefühlserlebnis wiederum sinnlichen Ausdruck zu verleihen. Das heißt, daß jede künstlerische Darstellung die Phasen eines Realismus, Impressionismus und Expressionismus durchschreitet und damit schon den zentripetal-zentrifugalen Rhythmus 137
aller geistigen Dynamik in sich trägt. Aber eben dadurch ist die mehr gefühlsmäßige Bezeichnung der drei modernen Stilrichtungen ungemein aufschlußreich, weil sie den Akzent abwechselnd auf eine der drei Phasen des künstlerischen Prozesses legt und so die innere Zusammengehörigkeit dieser drei Stufen in der Abfolge des peripheren Weltergreifens (Realismus), der zentralgeistigen Zusammenziehung (Impressionismus) und der von innen nach außen gerichteten, zentrifugalen Entäußerung (Expressionismus) bestätigt. In der Tat kann kein Zweifel bestehen, daß der Impressionismus nicht nur physiologisch, als Sehakt, sondern auch psychologisch, als geistiger Prozeß, die Merkmale zentraler Abstraktion und Synthese besitzt. Abstraktion, denn wenn Manet spöttisch bemerkt, daß Courbets künstlerisches Ideal eine „Billardkugel" gewesen sei, so heißt das, daß in der extrem malerischen, simultanen Zusammenschau des Impressionisten für die gegenständlich bestimmbare und körperlich faßbare Erscheinung der einzelnen Dinge kein Platz mehr war. Für Renoir war die Schönheit eines Blumenstraußes die gleiche wie die eines Schlachtgetümmels, für Liebermann wird ein Veilchenbeet zum gleichen Werterlebnis wie die Denkerstirn Einsteins. Aber daß es sich bei dieser radikal malerischen Synthese, bei diesem restlosen Sieg der Farbe über die Form, des Lichtes über den Gegenstand, nur um einen optischen und nicht mehr um einen geistigen Prozeß gehandelt habe, ist entschieden zu verneinen. Aus vielen Zeugnissen geht vielmehr hervor, welche tief innere Erregung und echte Inspiration es erforderte, die Welt, bevor sie aus den Fugen ging, noch einmal als ein unteilbares Ganzes, als einen einheitlichen, unendlich reich differenzierten farbigen Organismus zu erfassen. Manets Vorwurf, daß Courbets Ideal nur die Wiedergabe plastischer Gegenständlichkeit gewesen sei, war unbillig, weil der neue Realismus und besonders die stimmungsvolle Landschaftsmalerei der Barbizonschule starke malerische Reize besaß. Immerhin bleibt die Bemerkung über die „Billardkugel" lehrreich bei der Beurteilung des Impressionismus, weil sie in tendenziöser Zuspitzung auf den Gegensatz zwischen dem formbestimmenden, linearen und dem 138
'formzertrümmernden, malerischen Sehen hinweist und damit a u f eine der Wende von der Renaissance zum Barock entsprechende Stilwandlung. Daraus erklären sich die sympathischen Beziehungen der führenden Impressionisten namentlich zu Velasquez und die Tatsache, daß die von Wölfflin für den Barock aufgestellten Stilmerkmale in verstärktem Grade auf die Malerei des Impressionismus zutreffen. Allerdings drängt sich gerade bei diesem Vergleich mit der barocken Geisteswende nur noch stärker der bleibende Unterschied zwischen der Struktur der Mittleren und der 'Späten Neuzeit auf. Mit dem Untergang des barocken Eros war auch die bipolare Struktur des barocken Tafelbildes verschwunden; erst durch den Impressionismus aber werden sämtliche polare Gegensätzlichkeiten, die das Bildgefüge bestimmen könnten, bewußt abgelehnt und ausgelöscht. D a s gilt selbstverständlich für den Gegensatz von Einton und Lokalfarbe; aber in dem Grade, wie das künstlerische Interesse sich ausschließlicher auf die Unterscheidung von Farbwerten — valeurs — richtet, verliert auch die Hell-DunkelPolarität ihren Sinn, während erst recht die betonte Zweiheit von Nah- und Fernraum, Innen- und Außenraum, Himmel und Erde usw. nicht mehr in Frage kommt. Besonders wichtig ist dabei, daß der Gegensatz zwischen Figur und Grund verschwindet. Es mag da viele Übergänge und Ausnahmen geben, aber besonders in der Landschaftsmalerei des fortgeschrittenen Pleinairismus und im Pointiiiismus, der die Welt in ein Gemisch spektralreiner Farbpartikelchen auflöst, verwandelt sich die Relation zwischen Figur und Grund infolge der gleichmäßigen Atomisierung beider Elemente zur Identität. Damit verliert die für die gesamte Neuzeit grundlegend wichtige Frage nach der Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt jeden Sinn. Als farbige Erscheinung inmitten farbiger Erscheinungen verliert der Mensch seine äußere Begründung in dieser Welt, ohne daß auch von einer Umstellung der menschlichen Persönlichkeit auf einen tieferen, metaphysischen Grund entfernt die Rede sein könnte. A u s diesen kurz gestreiften Tatsachen geht hervor, daß die 139
impressionistische Weltsicht nicht mehr polarisiert ist, kein aus der Vereinigung gegensätzlicher Prinzipien gewonnenes Ganzes darstellt, das heißt — wie gesagt — daß ihr der Eros fehlt. Zwar mag jetzt in der Literatur und Wissenschaft die intensive Beschäftigung mit dem Sexualproblem bezeichnend sein; dagegen kann von einer Erhöhung des weiblichen Prinzips in dieser letzten zentralgeistigen Stufe der Neuzeit kaum noch gesprochen werden, es sei denn, daß man die bevorzugte Darstellung von Tänzerinnen, Dirnen, Bardamen u. dgl. unter diesem Gesichtspunkt betrachtet und die „Demokratisierung des Bildstoffes", die auf so eigenartige Weise mit dem malerischen Sehen verknüpft schien, bis in die völlige Deklassierung des weiblichen Ideals verfolgt. Wenn aber die Liebesgöttin Giorgiones, Tizians und Velasquez' sich bei Manet in ein gewöhnliches Straßenmädchen verwandelt, so ist wohl überhaupt nicht die sinnliche, persönliche Gestalt gemeint, sondern die rein farbige Erscheinung des nackten Körpers zusammen mit dem weißen Bettuch, der schwarzen Katze, dem bunten Blumenstrauß. Im allgemeinen ist zu sagen, daß die geistige Synthese des Impressionismus sich so unmittelbar an der peripheren Erscheinungswelt vollzieht, daß sie gar nicht mehr zu einer distanzierten geistigen Mitte vordringt, von der aus die Welt einen Sinn- und Wertgehalt hätte gewinnen können. Es gibt keine Weltschau, der so wenig eine Weltanschauung, ein geistiges Ideal, ein gedankliches System, kurz eine ordo entspräche. Auch wenn nach der früheren „Armeleutmalerei" des Realismus die Sympathie des Künstlers sich entschiedener den Stiefkindern der bürgerlichen Gesellschaftsordnung und dem Sozialismus zuwendet, kann dieses Bekenntnis keinen propagandistischen, aggressiv gegen das Bürgertum gerichteten Ausdruck in einer Malerei finden, der es nicht um ethische, religiöse oder geistige Werte, sondern ausdrücklich um farbige Werte zu tun war. Noch eine Feststellung ergibt sich aus der strikt subjektiven, bis zum Kurzschluß gesteigerten Naturbeziehung des Impressionismus: es gibt keine Malerei, die ihrem innersten Wesen nach weniger geneigt und geeignet wäre, sich als Wandmalerei einem gebauten, abstrakten Formsystem ein140
zuordnen. Wenn man, wie es gestattet scheint, die besonders in Frankreich zu hohem Rang aufgeführte Plakatkunst als die legitime, zeitbedingte Parallele zur Wandmalerei betrachtet, stellt sich der ganze Unterschied heraus. Denn trotz seiner dekorativen Haltung und für die Allgemeinheit bestimmten Wirkung ist das Plakat nur eine monumental gesteigerte Graphik. Auch dient das Plakat keiner geistigen Idee, sondern meistens nur dem kommerziellen oder dem politischen Zweck. Und endlich besitzen diese modernen „Wandbilder" keine einmalige und bleibende Beziehung zur Architektur und insbesondere nicht zu einer innerin Raumgestaltung, sondern sie erscheinen in hunderten Exemplaren auf Bretterzäunen und Litfaßsäulen, um nach einigen Tagen wiederum zu verschwinden. Ist der Vergleich mit der Wandkunst früherer Zeiten statthaft, so können wir sagen, daß es sich bei der Plakatkunst um die zentrifugale Entäußerung der nunmehr aus dem architektonischen Raum verwiesenen, in die Straße hinausgeschleuderten Wandmalerei handelt. *
Es wurde hier an erster Stelle und ausführlicher die impressionistische Malerei erwähnt, weil wir in ihr die positivste schöpferische Errungenschaft der Kunst im späten 19. Jahrhundert erblicken und aus den drei Stufen des Realismus, des Impressionismus und später des Expressionismus am deutlichsten den Atmungsrhythmus der modernen Kunst ablesen. Trotzdem wäre es kaum erlaubt, von einer mittewendigen Geistesstufe innerhalb der Moderne zu sprechen, wenn es nicht gleichzeitig so viele künstlerische und geistige Strömungen gegeben hätte, die, wie problematisch sie oft auch anmuten, zumindest den Drang nach neuer geistiger Integration bezeugen. Nur fällt es schwer, in kurzen Worten über diese noch im 20. Jahrhundert fortgesetzte Bewegung zu berichten, weil sie sich so außerordentlich verschieden manifestiert: als Rückgriff auf den romantischen Idealismus oder als Vorahnung späterer Möglichkeiten; als einen höchst unerfreulichen, kollektiv-bürgerlichen Scheinidealismus oder als die heroische und oft tragische Bemühung einzelner großer Persönlichkeiten. 141
Nach dem, was über das negative Verhältnis des Impressionismus zur Baukunst bemerkt wurde, bieten die energischen, seit Puvis de Chavannes, Hans von Marées, Hodler u. a. fortgesetzten Bestrebungen nach Erneuerung der monumentalen Wandmalerei ein gutes Beispiel für den Drang der Zeit nach einer geistigen Heimat. Gemeinsam ist diesen formal und qualitativ stark unterschiedlichen Versuchen die entschiedene Tendenz nach einem neuen, gegen den Impressionismus und Naturalismus gerichteten Idealismus, und zwar im Anschluß an die Baukunst. Gemeinsam ist aber auch die innere Tragik, die sich daraus ergab, daß diese Künstler als Kinder ihrer Zeit und ihrem innersten Wesen nach Naturalisten waren, während es keine neue geistige Idee gab, die ihre Sehnsucht hätte beflügeln, noch weniger eine neue Baukunst, die ihr eine sichere stoffliche und geistige Grundlage hätte bieten können. So wenig wie die Maler-Idealisten der Romantik waren diese modernen Wandmaler zugleich Architekten; keiner dachte von der abstrakten Gesetzlichkeit der Baukunst aus, und so blieb es bei vereinzelten, oft qualvollen Versuchen einer Stilisierung und wandgerechten Behandlung des zugrundeliegenden Naturerlebnisses, ohne daß diese Bemühungen eine allgemeingültige, stil- und schulbildende Bedeutsamkeit gewannen. Feuerbachs edles Bild der Iphigenie, „das Land der Griechen mit der Seele suchend", verkörpert vorzüglich den Geist dieser kurzen Epoche. Das „verlorene Profil" der Frau, die sich von der nahen Wirklichkeit abwendet, ohne ihre geistige Heimat betreten zu dürfen, ist das Profil einer Zeit, die, kurz vor dem völligen Zerfall, noch einmal von der Sehnsucht nach dem Geistigen und Ganzen ergriffen wird. So erklärt sich der Durchbruch eines neuen Klassizismus, das Ringen um eine dem Naturalismus entgegengesetzte geistige Formklärung wie bei Marées oder Hildebrand. So aber auch versteht sich die weite Verbreitung eines bürgerlichen Pseudoidealismus, der sich weder auf das sinnliche Diesseits, noch auf ein geistiges Jenseits verpflichtet fühlt, dafür aber den Mangel an wahrer Naturergriffenheit und an metaphysischer Ahnung durch eine geschwätzige Phantasie, durch hohles Pathos oder auch brutale Kraftentfaltung ver142
deckt. Eine dichte Schar damals berühmter Maler, Bildhauer, Architekten, Ausstattungskünstler bezeichnen die Blüte einer Kunst, die mit großem Aufwand an Mitteln noch einmal einen teils heiter dekorativen, teils eindrucksvoll monumentalen Lebensstil vortäuscht. Es gibt einen über alle Gebiete sich erstreckenden geschäftigen Kunstbetrieb, der sich am üppigsten in den häufigen Weltausstellungen entfaltet, um 1900 den seltsamen, dekorativ-naturalistischen Jugendstil heraufbeschwört und auch sonst noch im 20. Jahrhundert weiterbesteht. Es ist dieses fin de siècle auch die Zeit einer bürgerlichen Wohnkunst, der wir — von der Gegenwart aus gesehen — trotz ihrer Scheu vor Licht und Luft und der Überladung mit ornamentalen Greueln eine intime Behaglichkeit und das Bedürfnis nach einer in sich beschlossenen und von der Außenwelt getrennten geistigen Atmosphäre nicht absprechen möchten. Es ist die Euphorie des bürgerlichen Zeitalters, des „late Victorian" in England, der dritten Republik in Frankreich, des zweiten Reiches in Deutschland; eine Zeit, die, soweit wir Älteren sie noch erlebt haben, die Erinnerung an eine letzte „gute, alte Zeit" erweckt, aber auch die peinliche Einsicht, wie eng doch der Schreckenstraum des deutschen Nationalsozialismus mit diesem Ersatzidealismus des späten 19. Jahrhunderts verknüpft ist. Das wird deutlicher, wenn wir sehen, wie nur noch ein selbstherrlicher, expansiver und militanter Nationalismus die vielfältigen idealistischen Bestrebungen der Zeit zu sammeln und auszurichten vermag. Das gilt nicht nur für das endlich geeinigte BismarckDeutschland seit 1870. Auch in England werden die 80er und 90er Jahre — nach Galsworthy — durch den rapiden Fortschritt von einem selbstgenügsamen Provinzialismus zum selbstherrlichen Imperialismus gekennzeichnet; Italien wird ein geeinigtes Königreich; in Frankreich beschäftigt sogar Zola — in „Fécondité" — sich mit dem Gedanken eines mächtigen Kolonialreiches; in Rußland wird Dostojewsky zum Künder eines freilich nicht nationalpolitisch, sondern religiös betonten Panslawismus. Bezeichnenderweise hat die Kunst, sofern sie sich überhaupt einer kollektivgeistigen Bewegung verschrieb, nur und wohl nur zu ihrem Unheil auf 143
die Verherrlichung des nationalen Gedankens zurückgegriffen. Audi der ständig wachsende Sozialismus hat die Kunst nicht zu monumentalen Leistungen befähigt; der große Impressionist Rodin träumte von einem „Turm der Arbeit", aber der Plan wurde nie verwirklicht; von Meuniers „Denkmal der Arbeit" wurden nur die malerisch-realistisch empfundenen Sockelreliefs fertiggestellt. Dagegen leidet die ganze Welt — nicht nur Deutschland — unter einer Denkmalinflation, die der Erhöhung der nationalen Idee durch Sieges- und Freiheitsdenkmale, fürstliche Reiterstatuen, Standbilder für Feldherren, Staatsmänner usw. dient: anspruchsvolle, aber künstlerisch formlose Schöpfungen, die uns erst heute die tiefe geistige Armut dieses aufdringlich zur Schau gestellten nationalen Idealismus enthüllen. Auch da gibt es bedenkliche Vorzeichen: das Völkerschlachtdenkmal zu Leipzig, das noch in diese Stufe gehört und.schon früher als Sinnbild des Furor Teutonicus bezeichnet wurde, atmet schon ganz den maßlosen, blind gewalttätigen, im Grunde tragischen Geist des deutschen Nationalsozialismus. Es gehört, wie schon bemerkt, zu den „schrecklichen Vereinfachungen" des ahistorischen Denkens, die deutsch-romantische Idee des nationalen Staates mit deren realpolitischer und militanter Verwirklichung im späten 19. Jahrhundert und diese wiederum mit dem katastrophalen Mißbrauch zu verwechseln, den sie durch den Nationalsozialismus in einer Zeit erfuhr, als der Fortbestand menschlicher Kultur durch die endliche Überwindung des nationalen Egoismus bedingt wurde. Dennoch bleibt es gestattet, aus dem Durchbruch des noch national beschränkten Ganzheitsbewußtseins während der Romantik und im späten 19. Jahrhundert auf eine gewisse Strukturverwandtschaft zwischen den beiden Stufen zu schließen. Dazu gibt es mehrere, teils äußerst ephemere, teils tiefer geistige Beispiele einer Zurückschaltung auf die Romantik, aus denen allein schon die zentralgeistigen Tendenzen des letzten und kurzen goldenen Zeitalters hervorgehen. Die romantischen Träume des Bayernkönigs Ludwigs II. mögen in diesem Zusammenhang weniger wichtig erscheinen, aber sie bleiben als krankhafte Übersteigerung eines der Wirklichkeit völlig entfremdeten Idealismus ein 144
interessantes Zeichen der Zeit. Bedeutsamer ist die weitverbreitete neu-romantische Bewegung in der Musik, auch weil Richard Wagner — trotz seiner Ablehnung der romantischen „Leichengestalten" — in seiner Person und in seinem späten Schaffen die Verbindung mit dem romantischen Zeitalter herstellt. Ungemein fesselnd gestaltet sich aber unter dem Gesichtspunkt historischer Strukturverwandtschaft der rührige philosophische Betrieb im späteren 19. Jahrhundert. Zum Teil handelt es sich, wie bei Nietzsche oder Bergson, um eine Lebensphilosophie, die unmittelbar, auf dem Wege der Intuition, zum Rückzug auf eine persönlich-geistige Mitte als Keimpunkt vitaler Energie a u f f o r d e r t , ohne von dieser aus die naturgegebene oder historische Wirklichkeit einer neuen Deutung unterziehen zu wollen. In Nietzsche, der nach seiner frühen Bewunderung f ü r Wagner den erbitterten Kampf gegen jede Form eines verlogenen, abgegriffenen Scheinidealismus f ü h r t und sich in absoluter Einsamkeit verzehrt, mag sich die geistige Sehnsucht der Zeit am reinsten und tragischsten verkörpern. Aber Nietzsche ging von Schopenhauer aus, und neben ihm greift die s t ä r k e r begrifflich und systematisch ausgerichtete Philosophie durch Wilhelm Wundt, Dilthey, Eduard von H a r t m a n n , Eucken, Boüand, Benedetto Croce u. a. unmittelbar auf die großen Denker des spekulativen Idealismus von Fichte und Hegel bis Schleiermacher und Schopenhauer zurück. Eine grundlegend neue philosophische Begriffs- und Systembildung, die sich der mittelalterlichen Scholastik, dem barocken Rationalismus oder dem romantischen Idealismus an die Seite stellen ließe, ist nun nicht mehr zu erwarten, aber gemeinsam ist das Bestreben, die nach der Romantik mächtig angewachsene empirische Mannigfaltigkeit der Welt und der Geschichte von neuem unter einem geistigen Gesichtspunkt zusammenzufassen und als sinnvoll zu bejahen. Und auch darin liegt die gemeinsame, sehr aktuelle Bedeutung dieser Denker, daß sie den Samen des romantischen Idealismus aufgreifen und in den tief aufgewühlten Boden dieses neuen Jahrhunderts hineinstreuen. So ist es denkbar, daß die jetzt ältere, noch in der geistigen Tradition des späten 19. Jahrhunderts ge10 Scheltema, Geistige Mitte
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reifte Generation der gegenwärtigen Kulturkrise eher gewachsen ist und zuversichtlicher gegenübersteht als das jüngere, in der Zeit der Auflösung herangewachsene Geschlecht, das sich nur einer sinnleer gewordenen Welt gegenübergestellt fühlt. Freilich bilden nur diese Jüngeren und Jüngsten die hervorragend plastische Substanz, in der die entscheidende geistige Wende sich vollziehen muß. Um ihren Kampf um eine neue Sinngebung der Welt und des Lebens zu verstehen, wenden wir uns der Frage zu, welches Licht unsere kurze historische Betrachtung auf die schwer ergründliche Lage der Gegenwart wirft.
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DAS
20.
JAHRHUNDERT
Nach unserer Beobachtung fand das moderne, bürgerliche Zeitalter im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts noch einmal die Kraft zu einer geistigen Verdichtung, die sich schöpferisch auf fast sämtlichen Gebieten auswirkte. Schon aus dieser Feststellung ergibt sich eine bedenkliche Diagnose für die jüngste Vergangenheit, denn bedeutet die scharfe Wende um 1 9 0 0 den Eintritt in die unvermeidlich folgende exspiratorische Stufe der modernen Kultur, so heißt das, daß die nach dem Mittelalter, dem Barock, der Romantik und der euphorischen Stufe des modernen Bürgertums immer mächtiger wirksamen zentrifugalgeistigen Tendenzen nunmehr vierfach potenziert in die Erscheinung treten. Obwohl die beunruhigenden Symptome geistiger Entmittung uns allen gegenwärtig sind, mögen hier ein paar Randbemerkungen zur Kultur der Gegenwart folgen, bevor wir uns noch einmal durch die Kunst leiten lassen, um eine klarere Einsicht zu gewinnen. Wiederholt konnte festgestellt werden, daß die mittewendigen Stufen der Kulturentwicklung durch eine besondere Erhöhung der Frau gekennzeichnet waren. Die Besinnung auf die innere Tiefenachse war zugleich immer eine Hinwendung zum weiblichen und mütterlichen, zum empfangenden und gebärenden Naturprinzip, und mit der zentral-peripheren Antithese trat immer die geschlechtliche Polarisierung in den Vordergrund des Bewußtseins. Solche Beobachtungen werfen ein grelles Licht auf die fortschreitende Frauenemanzipation des 2 0 . Jahrhunderts. Man braucht keinen Augenblick die -segensreiche Auswirkung dieser Frauenbewegung zu unterschätzen, um doch einzusehen, daß das Eindringen der Frau in die berufliche und politische, die wissenschaftliche und künstlerische, zuletzt sogar in die kriegerische Tätigkeit des Mannes an sich eine einseitige Angleichung der Frau an den Mann, eine Vermännlichung der Frau und eine Vermannung des Kulturgeistes darstellt: das Attentat englischer Frauenrechtlerinnen auf die Venus von Velazquez war ein brutaler Protest der ausgehenden 10
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Neuzeit gegen ihre eigene bedeutsamste zentralgeistige Stufe im Barockzeitalter. Die entrüstete Ablehnung des Gedankens, daß „Kirche, Küche und Kinderzimmer" das Tätigkeitsgebiet der Frau umgrenzen sollten, ist ein Zeichen, daß sie freiwillig auf ihre spezifische Würde und auf ihre scheinbar schwache, in Wahrheit dominierende Position verzichtet. Die selbstverständliche Folge ist, daß die geschlechtliche Polarität mehr und mehr ihre Spannung verliert und sich zu einer neutralen Beziehung gestaltet, um nur noch in der biologischen Sphäre —• als Erotik, und nicht als Eros •— akzeptiert zu werden. Es ist bezeichnend, daß wir heute f ü r die intensive und o f t verquälte Beschäftigung mit dem Sexualproblem in der Literatur des späten 19. Jahrhunderts kaum noch Verständnis aufbringen, es kaum noch als Problem empfinden. Aber die heute kaum zu beantwortende Frage erhebt sich: kann nicht diese zentrifugale Bewegung, dieser Auszug der Frau aus dem ihr zukommenden häuslichen O r t und die Entpolarisierung des Sexualverhältnisses die Voraussetzung bilden zu einer freien Rückkehr und zu einer freieren Begegnung der Geschlechter, aus der sehr wohl die Frau siegreich und bewußter als Hüterin der ewigweiblichen Mitte hervorgehen wird? Es ist die Frage nach einer möglichen, vielfach aber auch schon nachweisbaren Umkehr der historisch geistigen Bewegung, nach der Umkehrung des kulturgeistigen Vorzeichens, die den Schlüssel zum Verständnis der gegenwärtigen Kulturkrise bietet und die uns im folgenden noch wiederholt beschäftigen wird. Der Verzicht der Frau auf ihre transzendente Würde und der Kultur auf ihre weibliche Kernsubstanz sind nur besonders sprechende Symptome der allgemeinen Kulturvermannung im 20. Jahrhundert. Es gibt ein von Fantin Latour gemaltes Gruppenbildnis französischer Impressionisten — „Atelier aux Batignolles" mit Manet, Renoir, Whistler, Zola — , das den uns heute fremd gewordenen, vollbärtigen, aber gerade deshalb fast femininen und sensitiven, jeder aktiven, sportlichen Betätigung fremden Künstlertypus des späten 19. Jahrhunderts veranschaulicht. Ein G r u p p e n p o r t r ä t expressionistischer Künstler ist nicht gut denkbar; mit dem Auseinandertreten aller K r ä f t e schritt die Vereinzelung des 148
Menschen und vor allem des Künstlers so schnell weiter, daß er sich außerhalb jeder Gruppengemeinschaft fühlt. Dazu wandelt sich der männliche Typus vollständig: der in sich selbst und hinter seinen Vollbart zurückgezogene Männertypus verschwindet, statt dessen tritt uns, robust und scharfkantig, der glattrasierte Künstler entgegen, der — nach der Selbstschilderung Vlamincks in „Gefahr voraus" — in einen Sweater gekleidet seinen eigenen Rennwagen steuert. Dieser neue Dynamismus, dem die malerische Barttracht fast mit einem Schlage zum Opfer fiel, diese Aktivierung, Motorisierung, Technisierung sogar des Künstlers ist als Kollektiverscheinung ungemein aufschlußreich. Der Akzent verschiebt sich von innen nach außen, von der geistigen Zentrale nach der körperlichen Peripherie. Es verbreitet sich eine als Selbstzweck geübte Körperkultur, eine Sonnen- und Wasser-, Licht- und Luftbegeisterung, ein Spiel- und Sportfanatismus, der vom Standpunkt des 19. Jahrhunderts wohl nur als ein bedauerliches Phänomen kollektivgeistiger Entleerung bewertet werden konnte, zumal diese ganze Bewegung bei der Jugend mit einer unleugbaren Verringerung der geistigen Interessen und des sittlichen Verantwortungsgefühls, mit einer Blickeinschränkung auf die augenblickliche Situation, auf Erfolg und Genuß verknüpft war. Die Frage ist nur, ob diese bis zum platten Utilitarismus, Materialismus, Nihilismus fortschreitende geistige Verflachung nicht zugleich einen instinktiv durchgeführten Reinigungsprozeß darstellt, eine Zerschlagung traditionell gültiger Bindungen, damit der Weg zu neuer geistiger Erfüllung frei werde. Um bei der Flucht in die Körpersphäre zu bleiben: die Frage drängt sich auf, ob nicht die tief ungeistig anmutende Überbetonung der körperlichen Funktionen in dem Augenblick zu einem unschätzbaren Gewinn führt, da das Problem der Leib-Seeleeinheit neugestellt wird und der menschliche Körper als Ausdrucks- und Wirkungsfeld der Seele eine neue, geistige Sinndeutung erhält. Es ist nicht undenkbar, daß von hier einmal eine Brücke nach Indien führen wird, wo die intensive Pflege, die Reinigung und 149
vollkommene Beherrschung des Körpers als unumgängliche Voraussetzung zu der Yoga-Praxis gehört. Für den zentrifugalen Charakter, für die C-Struktur des 20. Jahrhunderts bleibt aber der extreme Dynamismus überaus bezeichnend. Der Drang, sich mit oder ohne Hilfe der Technik immer schneller auf dem Lande, auf dem Wasser, in der Luft zu bewegen und die erzielte Rekordleistung zu überbieten, trägt den Zweck in sich selber. Dazu kommt die Massenbewegung der modernen Menschheit. Nach dem Bericht eines amerikanischen Beobachters befindet sich sein Volk in einem Zustand modernen Nomadentums, weil jeder einzelne ständig seine Wohnstatt wechselt; aber auch im alten Abendlande wird es zur Seltenheit, daß ein Mensch an der gleichen Stätte stirbt, wo er geboren wurde, oder daß zwei Generationen im gleichen Haus aufwachsen. Es ist ein Prozeß fortgesetzter Entwurzelung und Entgründung, demzufolge das Bewußtsein eines gesicherten zentralen Orts, der inneren Geborgenheit im Heim illusorisch wird. Es ist ein Zustand kollektiver Wanderschaft, die nur deshalb nicht an die germanische Wanderbewegung erinnert, weil er im allgemeinen nicht als ein gerichteter Bewegungsstrom in die Erscheinung tritt, sondern als eine ständige Verschiebung und Umschichtung innerhalb des Kulturkörpers. Wir sprachen von dem neuen Mittelpunktbewußtsein, zu dem die fortschreitende Entmittung des kosmischen Weltbildes führen kann (S. 72); auch jetzt ist die Frage, ob nicht die grenzenlose Unruhe, die heute jede Zelle des Kulturorganismus in eine schleudernde Bewegung versetzt, letzten Endes aus dem ahnungsvollen Streben nach einem neuen, innergeistigen Ort ihren Sinn erhält und ob nicht dieser ganze spätmoderne Dynamismus ähnlich wie die germanische Wanderbewegung vor dem Mittelalter die unumgängliche Voraussetzung bildet zu einer völlig neuen, zentralen Umstrukturierung unseres Kulturkörpers. Im Zusammenhang mit den geschichtlich sich wiederholenden zentrifugalen Entbindungs- und Entladungserscheinungen gewinnt die Technik ein eigentümliches Interesse. Auch wenn wir die destruktive Verwertung des Schießpulvers nicht als die Ursache der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit be150
trachten, war sie doch eine wichtige Begleiterscheinung. Das Ende des romantischen und der Aufstieg des modernen Industriezeitalters fällt mit der Nutzanwendung der Dampfkraft zusammen. Das letzte goldene Zeitalter des Bürgertums im späten 19. Jahrhundert war wesentlich mit der Erfindung des Explosionsmotors zu Ende und erhielt durch die beiden motorisierten Weltkriege den Todesstoß. Jetzt hat diese ganze, in der Technik sich spiegelnde und wiederum durch die Technik beschleunigte explosive Bewegung durch die Entdeckung und vorerst nur destruktive Ausnützung der Atomkraft noch einmal eine äußerst kritische und vielleicht letztmögliche Steigerung erfahren. Nur mag gerade in diesem Fall die Frage nach der Möglichkeit oder — nach allgemeiner Ansicht — nach der Unabweisbarkeit einer geforderten geistigen Umkehr leichter zu beantworten sein. Nachdem seit der Erfindung der Dampfmaschine und der Eisenbahn, des Benzinmotors und des Flugzeuges die Völker der Erde sich immer näher kamen, bis der Gedanke nationaler Absonderung ad absurdum geführt schien, hat die Atombombe die Menschheit vor die absolute Notwendigkeit einer dauernden, auf die traditionelle Machtpolitik verzichtenden Verständigung gestellt. Dazu kommt die weitere Erwägung, daß die vor kurzem noch unvorstellbare Zertrümmerung des Atoms und Wandlung der chemischen Elemente den Zugang zu einer Naturkraft geöffnet hat, deren praktische Ausnützung zu einer ungeahnten Steigerung der Produktion, einer gewaltigen Erleichterung und Verkürzung des Arbeitsprozesses führen kann. Infolgedessen wird die Sicherung der Existenz jedes einzelnen, die Einschränkung seiner zum Wohl der Gesamtheit notwendigen Arbeit, die Möglichkeit freier geistiger Betätigung, kurz die Umstellung von der materiellen auf eine ideelle Lebensgestaltung schließlich zu einer Frage der Organisation, der planmäßigen Regelung des Produktions- und Distributionsprozesses, wie Fichte sie in dem beschränkten Rahmen des Nationalstaates gedacht hatte. Daß es sich hier nicht nur um utopische Gedanken handelt, sondern um zwangsläufige Entwicklungserschei nungen, mag daraus hervorgehen, daß der englische Schriftsteller H. G. Wells die vernichtende Wirkung der Atom151
bombe, aber auch die dann folgende überstaatliche Kontrolle der Atomenergie schon vor dem ersten Weltkrieg vorausgesagt hat: Utopien, die heute zum dringendsten Anliegen der großen Politik gehören. *
Man kann sagen, daß es sich bei all diesen Dingen, bei der erzwungenen Annäherung der Völker, der sprungweisen Entwicklung der Technik, der immer dichteren Verflechtung der Wirtschaft, der Erschaffung eines weltumspannenden Verkehrssystems, der Aufhebung des Raumes durch die Radiowellen, nur um äußerliche Errungenschaften handelt, um Änderungen in der materiellen Sphäre des Kulturkörpers, die noch keine Wandlung der Kulturseele, der geistigen Struktur bedeuten. So erklären sich die stark abweichenden utopischen Konzeptionen, die als Vorahnung kommender Dinge oder doch als Merkmale ungebrochener, zielstrebender Kulturkraft ernster zu nehmen sind, als gewöhnlich geschieht: der englische Vertreter eines wahren Humanismus legt in seinen Zukunftsbildern den ganzen Nachdruck auf die Gründung einer vernünftigen und menschenwürdigen, erst durch die selbstlose Zusammenarbeit aller Völker möglichen Zivilisation. Hermann Hesse, der deutsche Romantiker, stellt dem gegenwärtigen „feuilletonistischen" Zeitalter geistiger Zersplitterung eine künftige geistige Bruderschaft als Hüter eines neuen, zweckfreien Ganzheitsbewußtseins entgegen; für ihn handelt es sich in seinem „Glasperlenspiel" zuallererst um eine Erneuerung der innergeistigen Kultur. Die Frage ist aber, ob — wie bei den Naturorganismen, so auch beim Kulturorganismus — Äußeres und Inneres, Kulturkörper und Kulturseele überhaupt eine getrennte Beurteilung vertragen, ob nicht beide unbedingt den gleichen Strukturtypus aufweisen müssen, d. h. in diesem Fall, ob nicht der gewaltigen Umschichtung im äußeren Kulturkörper, der Ausbildung eines zentralen Nervensystems, eines umfassenden Zirkulationssystems und eines ganzheitbezogenen Organsystems, notwendig die Entstehung einer weltumspannenden Kulturseele entspricht. Wir wissen, wie die zentrifugalen Tendenzen dieses frühen Jahrhunderts während der beiden Weltkriege eine letzt152
mögliche Steigerung erfuhren. Unter diesem Gesichtspunkt ist es fraglich, ob diese Kriege — wie immer der unmittelbare Anlaß war oder wem die Schuld beizumessen sei — als die Unterbrechung eines normalen Zustandes zu verstehen sind und nicht vielmehr als dessen logische Folgerung und Bestätigung. Denn der Krieg ist das Urbild geistiger Entmittung; ein Volk im Krieg befindet sich im Zustand extremer Selbstentäußerung, und der kriegerische Mensch vertritt den reinen zentrifugalen Strukturtypus. So gewinnen sämtliche vorhin gestreifte Symptome geistiger, Entbindung, Entladung und Entleerung in den totalen Kriegen ihre totale Geltung und katastrophale Zuspitzung. Dazu gehört die Vermännlichung der Frau; als Abfall von der erhaltenden Mitte bedeutet der Kriegszustand Abwendung vom weiblich-mütterlichen Prinzip, psychologische und sogar biologische Verneinung der Frau, die nach der Sprengung ihres Herrschaftsbereiches in der Familie den kämpfenden Mann beruflich ersetzen muß und sogar zum Wehrdienst eingezogen wird. Wir denken an den extremen Dynamismus der Kriege, an den Auszug des gesamten wehrhaften Volkskörpers zuerst aus dem Heim, dann aus der Heimat, um jenseits der Grenzen fremdes Leben und Kulturgut zu vernichten; an die kollektive Mobilisierung und Motorisierung der Millionen und an den entscheidenden Einsatz der Explosionstechnik; an die Nomadisierung der Massen, die auch nach ihrer Rückkehr kein Heim mehr fanden, oder ganzer Volksgruppen, die zwangsweise ihre Heimat verließen. Und wir denken an die Entstehung eines inneren geistigen Vakuums, dem der Unterricht, das Buchwesen, die Presse, die Kunst, das gesamte Geistesleben zum Opfer fielen, und das nach der Zerstörung unserer Kulturstätten fast nur noch durch Erinnerungen ausgefüllt werden kann. Das alles gehört zum gegenwärtigen Erlebnis, aber doch ist daran zu erinnern, welche seltsame Symbolkraft die noch greifbar nahe historische Wirklichkeit namentlich für das deutsche Volk in sich birgt. Man denke an die Tage, als die gewaltsame nationale Expansion die deutschen Heere aus der Heimat bis zum Kaukasus und zu den Pyrenäen, zum 153
Polarkreis und in die afrikanische Wüste hinausschleuderte. Damit war das Ende des zentrifugalen Bewegungszuges erreicht, und es folgte die erzwungene Umkehr, zurück über die deutschen Grenzen. An sich bedeutete das gewiß noch keine innere Einkehr und keine Umkehrung des geistigen Vorzeichens. Eher ist anzunehmen, daß mit der fortschreitenden Entmittung auch die geistige Entleerung ihren Gipfelpunkt erreichte in diesen Menschen, die sich nach Krieg und Gefangenschaft und ohne den letzten Rest bürgerlicher Tradition und Illusion einer zerstörten, sinnentleerten Welt gegenüber fühlen. Die Frage ist aber, ob nicht diese verlorenen Söhne unseres Volkes die unendlich wertvolle, bildsame Substanz sind, in der die zentrale Umstrukturierung sich vollziehen kann; ob nicht sie, die so viele haben sterben sehen, das an das gesamte Volk ergangene Gebot des „Stirb und Werde!" am ehesten verstehen werden. Während wir in diesem Fall wohl nur wieder von einer Möglichkeit reden können, führten die beiden Kriege zu mehreren politischen Entscheidungen und Bewegungen, die zum Teil gerade durch ihre gänzliche Unzulänglichkeit ein klares Licht auf den Sinn und die Richtung der heutigen Kulturwende werfen. Dazu gehört der nach dem ersten Krieg gegründete Völkerbund. Bekanntlich scheiterte dieser Versuch, künftige Kriege durch die Schaffung einer neuen Völkergemeinschaft zu verhüten, nicht nur an der Tatsache, daß die in Zukunft ausschlaggebenden Mächte, Amerika und Rußland, sich abseits hielten. Entscheidend war vielmehr, daß der Völkerbundsgedanke auf schon veralteten, traditionellen Vorstellungen beruhte, indem er von der unantastbaren Souveränität des Nationalstaates ausging. Infolgedessen war das neue politische Gebilde durchaus kein einheitlich beseelter, willens- und machtbegabter Organismus, keine lebendige Ganzheit mit funktioneller Eingliederung ihrer Teile, sondern ein vielheitliches Aggregat von Elementen, die nach wie vor ihre Sonderinteressen verfolgten. Der Völkerbund war bestenfalls als ein Polygon gedacht, nicht als ein Kreis, dessen sämtliche Punkte ihr Gesetz von der gemeinsamen Mitte erhalten. Auch heute noch drängt sich die Erwägung auf, daß ein dauerhafter Friede nur 154
durch eine zentral regulierte, ganzheitliche Ordnung gesichert wird, weil der Friede nur dort zu einem inneren Frieden wird, wie er durch Kompromisse, Unterdrückung, Gewaltmaßnahmen niemals herbeigeführt werden kann. Noch einmal erlebten wir das Schauspiel, wie Menschen und Völker das Ziel der historischen Entwicklung ohne die dazu unbedingt notwendige Strukturwandlung auf falscher Grundlage mit völlig ungeeigneten Mitteln vorwegzunehmen versuchten. D a s geschah durch die nationalsozialistische und verwandten imperialistisch-sozialistischen Bewegungen, deren völlig objektive, leidenschaftslos historische Beurteilung—und Überwindung — auch heute noch besondere Schwierigkeiten bereitet und für gewöhnlich auch gar nicht versucht wird. Hierzu gehört jedenfalls die Feststellung, daß der Nationalsozialismus ebenso , wie der italienische Faschismus von Anfang an zentrifugal strukturiert war und damit nur noch radikaler und bewußter die bekannten Merkmale geistiger Entmittung aufwies: die Tendenz nach grenzenloser Expansion; den Willen zur Macht und zur Mache statt zur Weisheit und zum organischen Wachstum; die Verherrlichung des Krieges und kriegerischen Heldentums; den DYnamismus in Gestalt der „Bewegung" um der Bewegung willen; der destruktiv nach außen gerichteten Gewalttätigkeit, die sich bis zu den bekannten Erscheinungen eines brutalen Bestialismus und — auch in der unheimlich symbolischen Gestalt eines Führers — zum Berserkertum sinnloser Raserei steigerte. Mit alledem ergab sich strukturgemäß die paroxistische Überbetonung des männlichen Polzustandes, die gänzliche Verneinung des Eros und die Entweihung der Frau, die nach ihrer Vertreibung aus Heim und Familie bis zum Gegenstand staatlich organisierter Zucht bzw. Unzucht erniedrigt wurde. Dabei ist zu beachten, daß es sich nur um die Aktivierung geistiger Tendenzen handelte, die schon lange vorher, und zwar nicht nur in Deutschland vorhanden waren: das schon 1910 verfaßte Manifest italienischer Futuristen atmet in jeder Zeile den Geist des Nationalsozialismus. Nebenbei bemerkt, wird hier die Sinnlosigkeit jenes Bemühens offenbar, die Wurzeln des Nationalsozialismus bis in den deutschen 155
Idealismus der Romantik nachzuweisen, denn diese weist genau die entgegengesetzte geistige Struktur auf: man denke an die Stellung der deutschen Romantik zur Religion, zur Kirche und zum christlichen Mittelalter, zu der Frau und zum Eros, zum organischen Entwicklungsbegriff, zu der metaphysischen und keineswegs biologischen Grundlage des Daseins und — nicht zuletzt — zu der Freiheit der schöpferischen Persönlichkeit! Andererseits ist das Wissen um die extrem gesteigerte C-Struktur des Nationalsozialismus so aufschlußreich, weil sich daraus die instinktive, aber auch ideologisch und propagandistisch betonte Sympathie zu einer ganz anderen Kulturstufe erklärt, und zwar zu der ausgehenden nordischen Vorzeit. Selbstverständlich sprach da der „Blut- und Boden"-Gedanken, die falsche Vorstellung eiiies noch von fremden Einflüssen unberührten Germanentums, mit. Um so bezeichnender ist es, daß die sympathischen Fäden gar nicht auf das in der Tat noch bodenverbundene, reine Bauerntum der mittleren Vorzeit (Bronzezeit) hinwiesen, sondern auf die letzte Stufe vorzeitlicher Desintegration, auf das bodenentwurzelte, heimatlos vagabundierende Heldentum der Wanderperiode und auf ein Heldenethos, dessen höchst bedenkliche Praxis sogar in Einzelheiten wiederholt wurde. Wir kommen auf diese wichtigen Analogieerscheinungen, auf die systematisch bedingte Strukturverwandtschaft zwischen der ausgehenden Vorzeit und der untergehenden Neuzeit noch zurück. Hier sei nur hinzugefügt, daß aus morphologischen Gründen der nationalsozialistische Mensch ebensowenig der Vertreter einer neuen geistigen Ordnung sein konnte, wie der germanische Wanderkrieger und Wikinger ein Künder des Mittelalters war. *
Aber hier ist der Punkt, wo wir die Umkehrung des kulturellen Vorzeichens oder richtiger die seltsame, nur scheinbare, als Notwendigkeit geahnte, bis zur vollendeten Täuschung und Selbsttäuschung vorweggenommene geistige Umkehrung beobachten, ohne die der begeisterte Anschluß unzähliger aufrichtiger Idealisten im eigenen Volk und sogar im Ausland gar nicht verständlich wäre. Erst hier liegt 156
das höchst eigenartige, von den Gegnern zu wenig beachtete ,,Kern"-Problem des Nationalsozialismus, daß es mit größtem Nachdruck den Anspruch gerade auf ein neues Mittelpunktbewußtsein erhob als Voraussetzung zu einer neuen Sinngebung des Lebens, einer ganzheitlichen — „totalitären"! — Neuordnung der Welt. Hier hat die Kritik einzusetzen mit dem Nachweis, daß diese Ansprüche unberechtigt, weil durch überholte Voraussetzungen begründet waren. Der Gedanke einer deutschen oder irgendeiner nationalen Hegemonie über andere Völker war nur eine phantastische Übersteigerung des alten Nationalismus, des bürgerlichen Pseudoidealismus des späten 19. Jahrhunderts, von dem auch sonst der Nationalsozialismus in so mancher Beziehung — sehr deutlich in der Kunst! — eine Fortsetzung war. Insbesondere hatte, wie der alte Völkerbund, auch die geplante, durch Gewalt und Diktat herbeigeführte Einheit der Völker durchaus nicht den Charakter organisch gewachsener und gegliederter Ganzheit. Überhaupt ist zu bemerken, daß der immer wieder propagierte „Totalitätsgedanke" den in der Tat neuen und in der Philosophie, Psychologie, Biologie längst verbreiteten Ganzheitsbegriff umfälschte, indem er das organische Prinzip freier wechselseitiger Bezogenheit bei gesteigerter Mannigfaltigkeit und Differenzierung der Teile durch bloß mechanische Unterordnung ersetzte. Das gilt in bezug auf die nationale Vorherrschaft über andere Völker, es gilt insbesondere für das Verhältnis des Staates zum Einzelnen, der zum uniformierten, gleichgeschalteten Individuum entpersönlicht wurde. Denkt man dazu an die tief bezeichnende, instinktive Verachtung alles natürlichen Wachstums, das aus dem Stadtbild verbannt werden sollte, an die völlige Verständnislosigkeit auch für das historische Werden, so wird immer deutlicher, daß sich hinter dem wüsten Gebaren nach außen kein schöpferischer Tiefengrund, keine neue geistige Mitte verbarg, sondern nur eine „Ersatzmitte", die auf jedem geistigen Gebiet zum improvisierten Ersatz führen mußte: zu einer Ersatzphilosophie, einer Ersatzreligion, einer Ersatzkunst, einer allgemeinen Ersatzideologie. Damit erklärt sich die Suggestion, die vom National157
Sozialismus auf so viele Vertreter eines ehrlichen, aber noch blind tastenden Idealismus ausging. Nach dem Scheitern der nationalen Imperialismen erleben wir heute den dritten Versuch einer ganzheitlichen Umgestaltung des weltpolitischen Gefüges. Wie schon während des Krieges die vielen deutschen Gegner des Nationalsozialismus sich enttäuscht fühlten, weil die zur Bezwingung des Hitlerregimes angetretenen Mächte ihrerseits niemals einen klar umschriebenen Plan zur politischen Neugestaltung als positives Kriegsziel aufstellten, so kennzeichnet sich auch die große Nachkriegspolitik offenbar durch das Fehlen oder die Undurchführbarkeit einer weitsichtigen konstruktiven Planung und die Berücksichtigung nur augenblicklicher Möglichkeiten und Notwendigkeiten. D a s mag als ein Mangel erscheinen, bietet aber den Vorzug, daß die in dieser kritischen Übergangszeit größte Gefahr willkürlicher Mache vermieden wird, bis Richtung und Ziel der in der Gegenwart wirksamen organischen Wachstumsk r ä f t e deutlicher zu erkennen sind. Inzwischen ist eine entschiedene Umkehrung des politischen Vorzeichens in der Tatsache zu erblicken, daß im Gegensatz zum Völkerbundsprinzip nunmehr die Einschränkung der nationalen Autonomie zu Gunsten einer überstaatlichen Autorität als unumgängliche Notwendigkeit immer klarer erkannt wird. D a z u hat die seit 1 9 1 4 mit verblüffender Geschwindigkeit fortschreitende Entwicklung eine völlig neue Situation geschaffen; denn dadurch, daß die beiden außerhalb des Völkerbundes verbliebenen Mächte, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Vereinigten Sowjetrepubliken, sich an den Vereinigten Nationen beteiligen, hat die geplante Völkergemeinschaft zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit — und namentlich auch im Gegensatz zum römischen Weltreich — einen in der T a t global umfassenden Charakter gewonnen. Außerdem sind gerade diese Mächte, die U S A und die U d S S R , zu den beiden Weltmächten höchster Ordnung emporgerückt; sie sind auch nicht als Nationalstaaten im alten Sinn anzusprechen, sondern als übernationale Organisationen, während endlich das wohl kaum verringerte Nationalbewußtsein der übrigen Groß- und Kleinstaaten 158
sich mehr und mehr nach diesen beiden großdimensionalen politischen Gebilden orientiert. Infolgedessen ist die allgemeine politische Struktur schon heute nicht mehr die neuzeitlich vielheitliche des Völkerbundes, auch nicht die gleichgeschaltet einheitliche nationalsozialistischer Planung und auch gewiß noch keine ganzheitliche, sondern eine zweiheitliche mit Ausrichtung sämtlicher Völker entweder nach dem anglo-amerikanischen oder nach dem russisch-asiatischen Organisationszentrum. Daraus ergibt sich die jedem Staatsmann bewußte Gefahr erneuter gewaltsamer Auseinandersetzung und einer neuen, katastrophalen Fehlentscheidung auf Grund des Bestrebens einer der beiden gegnerischen Machtgruppierungen, mit Waffengewalt die andere zu besiegen- und so die gesamte Menschheit auch ideologisch zu einer einpoligen Einheit zu gestalten. Aber es ergeben sich auch andere, vermutlich viel bedeutsamere Gesichtspunkte. Ist nämlich die neu entstehende Gemeinschaft der Völker eine planetarisch umfassende, so folgt daraus, daß sie — wieder zum erstenmal in der Geschichte — keine geographisch bestimmbare, von irgendeinem Volk vertretene Mitte besitzen kann, d. h. daß die gemeinsame Mitte der künftigen Menschheit jeder räumlichen Fixierung überhoben und in diesem Sinne transzendent ist. Und zwar gilt diese Bestimmung im Gegensatz zum römischen Imperium, das infolge seiner territorialen Beschränkung als eine zweidimensionale Fläche mit lokalisierbarem Zentrum — Rom •— erschien; oder zu der gleichfalls als Fläche gedachten Welt der universalen, mittelalterlichen Christengemeinschaft mit Jerusalem als heiliger Mitte. Anders gesagt: eine römische, von Indien bis Schottland sich erstreckende Verkehrsstraße war eine gerade Strecke mit Anfang, Ende und Mitte; eine moderne, über Land oder durch die Luft führende Verkehrsbahn kehrt in sich selbst zurück und hat somit keine zugängliche Mitte. Gleichzeitig aber finden wir, daß sich in dieser Welt im Osten und im Westen zwei sehr wohl lokalisierbare realpolitische und ideologische Brennpunkte ausgebildet haben, auf deren endgültiger Auseinandersetzung offenbar die Zukunft der Menschheit beruht 159
Es ist in diesem knappen Raum nicht möglich, die Frage zu untersuchen, ob es sich bei dieser ost-westlichen Auseinandersetzung nicht um die letzte Erscheinungsform einer Antithese handelt, die sich wie ein roter Faden durch die gesamte Kulturgeschichte zieht und sich in den verschiedensten Formen — als bewußte Abwendung, als blutigen Konflikt, aber auch als segensreiche schöpferische Kreuzung — offenbaren kann. Schon bei Hegel findet sich die zuerst etwas überraschende Unterscheidung zwischen einem „absoluten" asiatischen Osten und einem „absoluten" abendländischen Westen; dazu betont Hegel aber auch den Gegensatz zwischen einem zentralen, kontinentalen, entwicklungsfeindlichen Kerngebiet und einer peripheren, maritimen oder doch dem Meer verbundenen, beweglichen und entwicklungsfreudigen Randzone. Es wäre von tiefem Interesse, diesen zentral-peripheren, asiatischozeanischen, kontinental-maritimen, statisch-dynamischen Gegensatz, in dem wir — schon mit Bachofen! —• die ewig gültige weiblich-männliche Polarität wiedererkennen, durch die Geschichte der altorientalischen Kulturen, des frühen Griechentums und des Hellenismus, der römischen Antike und des frühen Christentums, des abendländischen Mittelalters bis zur Gegenwart zu verfolgen. Damit würden wir den vermutlich grundlegenden Gesichtspunkt zur Deutung einer die einzelnen Kulturkörper übergreifenden und verbindenden Weltkultur gewinnen. Dies war nicht das Ziel unserer Untersuchung, die vielmehr auf die endogenen Entwicklungserscheinungen innerhalb eines bestimmten, des abendländischen Kulturkörpers gerichtet war. Heute aber, da die seit dem Mittelalter entfesselte zentrifugale Bewegungskraft des Abendlandes dessen weltweite Ausbreitung herbeigeführt hat, das europäische Abendland dagegen seine entscheidende Bedeutung einbüßt, während sich im absoluten asiatischen Osten und im absoluten amerikanischen Westen die beiden Brennpunkte der Weltkultur herausbilden — heute erhebt sich die Frage, ob das ewig gültige Problem „Asien und wir" sich nicht seiner endgültigen Lösung nähert, und ob die immer klarer und kritischer sich abzeichnende ost-westliche Antithese nicht die 160
innere Voraussetzung bildet zu einer neuen Koppelung, welche die bedrohliche gegensätzliche Zweiheit zu einer bipolaren, organisch strukturierten Ganzheit gestaltet, D i e s e Wandlung wird allerdings nur dann vollziehbar sein, wenn sie sich im Bewußtsein jedes einzelnen Volkes, jedes einzelnen Menschen durchsetzt und zu der Einsicht führt, daß die ständig propagierten konträren Prinzipien persönlicher Freiheit und kollektiver Gebundenheit, freier Wirtschaft und staatlicher Planung, nationaler Selbständigkeit und übernationaler Autorität in ihrer Einseitigkeit keine absolute Gültigkeit mehr besitzen und einer neuen Synthese zugeführt werden müssen. E s ist möglich, daß die Völker der zwischen Osten und Westen eingeschalteten europäischen Ausgleichszone eine besondere Bereitschaft zu dieser A u f g a b e besitzen und daß dem alten Abendland eine ähnliche bedeutsame Funktion zufallen wird wie einst dem zwischen Orient und Rom eingespannten Griechentum nach seinem politischen, wirtschaftlichen und militärischen Niedergang. *
Nur zur allgemeinen Orientierung können hier einige Bemerkungen zu der Frage hinzugefügt werden, ob und wie die erahnte Bewußtseinswende sich auf dem schwer zugänglichen Gebiet der Technik und Physik und über die Biologie zu den Geisteswissenschaften ankündigt. E s war die Rede von der merkwürdigen Bedeutung der Explosionstechnik in den über- und untergeordneten Endphasen der Kulturbewegung; über diese Beobachtung hinaus mag es gestattet sein, die Sprengung des Atomgefüges und die Abspaltung von Elektronen morphologisch unter dem allgemeinen Gesichtspunkt zentrifugaler Entbindung zu betrachten, der sogar die leblose Materie in ihren Grundelementen zum O p f e r fällt. Dagegen wäre es falsch, die Technik grundsätzlich als Widersacher der Seele zu bezeichnen und zwischen der technischen Neuerung und geistigen Vertiefung nur eine negative Korrelation gelten zu lassen. Vielmehr lehrt die historische Erfahrung, daß grundlegende technische Erfindungen wiederholt den Durchbruch eines neuen Zentralbewußtseins als Ursache oder Folge, Ausdruck oder Symbol 11 Scheltema, Geistige Mitte
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begleiten. So verhält es sich beim Hausbau, der Töpferei, den textilen Techniken nach der Wende vom Jägertum zum Bauerntum; so auch mit dem Bronzeguß am Anfang des goldenen Zeitalters unserer Vorzeit; mit dem Steinbau des frühen Mittelalters; mit der Vervollkommnung der Wölbetechnik und der Ausbildung des Stützen-Rippensystems, die dazu verführt hat, sogar die Gotik als eine „Ingenieurk u n s t " zu bezeichnen. In all diesen Fällen entsprach die technische Neuerung nachweisbar einer geistigen und religiösen Vertiefung, und s o ist es durchaus denkbar, daß auch die Nutzbarmachung der Atomenergie ein neues Zeitalter geistiger Selbstbesinnung einleiten wird. Es wäre interessant, das Dreistufensystem des modernen Zeitalters auch in der Stellung der Naturwissenschaften zur Philosophie zu verfolgen: von Büchners plattem Materialismus ( „ K r a f t und S t o f f " , 1855) über Haeckels „Naturwissenschaftliche Philosophie" ( „ D i e Welträtsel", 1899) und die folgende Popularisierung und Materialisierung seines Monismus bis zu den umwälzenden Entdeckungen und Theorien der heutigen Physik und Biologie. Wenn man bedenkt, wie durch die Entdeckung der Radioaktivität gegen Ende des 19. Jahrhunderts und die mit Planck und Einstein einsetzende neue Theorienbildung die klassische Physik in ihren Grundpfeilern erschüttert wurde, wie die Materie unter den Händen des Physikers zerrann, das Kausalitätsprinzip seine durchgängige Geltung verlor und die stolze Selbstsicherheit der älteren Naturforschung in ein erstauntes Fragen und Ahnen umschlug, so möchte man glauben, daß die zentrifugale Aufspaltung des Atoms zugleich das Zeichen einer Zersetzung des einst unantastbar scheinenden physikalischen Weltbildes war. Und doch gibt es in der Gegenwart wohl überhaupt kein Gebiet, auf dem die geistige Umkehr sich so radikal, so schnell und so allgemein vollzog wie in der neueren Physik. Entscheidend ist nicht einmal, daß die Welt durch die Materieforschung selber entmaterialisiert wurde; daß das Urphänomen der zentral-peripheren Polarität in das Atom mit seinem Kern und seiner Elektronenhülle hineingetragen wurde; daß der Spielraum entdeckt wurde, in dem die physikalische, sinnfreie Kausalität ihre Geltung 162
einbüßt und die schöpferisch eigenwillige, sinnvoll gerichtete Lebensgesetzlichkeit zum Einsatz gelangt. Sondern noch wesentlicher scheint es, daß die Forschung überhaupt auf eine exaktwissenschaftliche, rationalistische Erklärung der natürlichen Umwelt verzichtete, zwangsläufig auf den schlechthin unerklärbaren metaphysischen Hintergrund sogar der physikalischen Welt aufmerksam wurde, bis zuletzt —- nicht von der Kanzel, sondern aus dem Laboratorium — das Wort wiederholt wurde, daß im Anfang nicht der Stoff, sondern der Logos war. Wenn solche Zeichen und Wunder schon in der Physik möglich sind, kann man verstehen, daß der Kampf gegen den Materialismus, Kausalismus, Rationalismus sich erst recht in der Biologie durchsetzt. Im Gegensatz der Generationen — etwa zwischen Haeckel und Driesch — vollzieht sich die gleiche Blickwendung von außen nach innen, wie sie in der Tat auch für die Physik bezeichnend ist: von der äußeren, tastbaren und längst von Punkt zu Punkt abgetasteten Peripherie zur ungreifbaren, irrationalen Mitte; von der Materialsphäre zu der lebendigen, gestaltschöpferischen Kraft, die sich zielstrebend dieser äußeren Sphäre als ihres Wirkungs- und Ausdrucksfeldes bedient. So wird verständlich, daß die schon von Aristoteles geprägten Begriffe der Ganzheit und der Entelechie, die in den zentralgeistigen Stufen — in der mittelalterlichen Scholastik, bei Leibniz und vor allem bei Goethe und in der Romantik —• erneute Geltung gewannen, das biologische Denken beherrschen, und zwar im Gegensatz zum späteren 19. Jahrhundert. Es sei daran erinnert, wie gleichzeitig und auf so heterogenen Gebieten, wie der Medizin, der Psychologie, der Wirtschaftslehre, der Geschichtsforschung, der im Grunde irrationale Ganzheitsbegriff sich durchsetzt und mit der neuen, empirischen Begründung des Entelechiebegriffs der blinde Kausalismus durch zielgerichtete Finalzusammenhänge ergänzt und überhöht wird. Diese geistige Wendung braucht nicht zu klarem Bewußtsein zu kommen, sie braucht nicht begrifflich fundiert zu sein, kann sich in vereinzelten Ansätzen offenbaren, die zuerst bekämpft wurden, um erst später ihre Fruchtbarkeit zu erweisen. So 11
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ist in der noch stark zersplitterten jüngeren Kunstforschung der Begriff des „ S t i l s " , d. h. der in sämtlichen Kunstformen und Kunstgattungen sich offenbarenden geistigen Struktur eines Zeitalters, ein echter Ganzheitsbegriff, während die gleichfalls immer deutlicher erkannte innere Gesetzlichkeit der historischen Stilwandlung nur als Auswirkung der organischen Zielstrebigkeit verstanden werden kann, die das Lebensgesetz der Kultur bedingt. Trotzdem arbeitet die moderne Kunstforschung seit dem genialen Alois Riegl, ohne diese beiden Begriffe zu formulieren, ohne auch zu ahnen, wie die aus der Biologie gewachsene „Philosophie des Organischen" zugleich den Begriffsapparat für die noch viel zu unsicher tastende deutsche Kunstforschung beschaffen könnte. Während so die Einzelwissenschaften sich mehr und mehr auf ihre philosophische Grundlage besinnen, scheint sich in der Philosophie selber eine allgemeine Tendenz zur Metaphysik durchzusetzen, und zwar oft in enger Fühlungnahme mit der wissenschaftlichen Forschung. So ist der Eindruck berechtigt, daß seit dem Neukantianismus die Bewegung von Kants Kritizismus zum Idealismus der deutschen Romantik sich wiederholt, nur daß heute, nach einem Jahrhundert streng empirisch-wissenschaftlicher Forschung, die Gefahr weit- und lebensferner begrifflicher Abstraktion vermieden werden kann. Der Weg zielt offenbar nicht auf einen transzendentalen Idealismus, sondern auf einen metaphysischen Realismus, in dem die alten Gegensätze zwischen Gott und Welt, Geist und Natur, Seele und Leib sich in einen lebendigen Spannungszustand verwandeln. Auch die aus der Phänomenologie erwachsene moderne Existenzphilosophie drängt — trotz all ihrer Tendenzen zu nihilistischer Auflösung — wieder mehr und mehr zu einer neu fundamentierten Ontologie des „ S e i n s " und berührt sich damit mit analogen Zielen in religiöser Formung, die in der dialektischen Theologie erstrebt und umkämpft sind. Andrerseits ist es begreiflich, daß die Besinnung auf den metaphysischen Grund unseres Daseins sehr allgemein als eine erneute Hinwendung zur Religion und zweifellos auch als Zurückwendung zur Kirche in Erscheinung treten wird. 164
Diese Flucht in die Kirche nur negativ aus der zunehmenden Not der Zeit und dem Zusammenbruch alter Ordnungen zu erklären, wäre sicher falsch. Wie im Barockzeitalter, wie wiederum in der Romantik kann die kirchliche Machterneuerung auch diesmal als das Zeichen gelten, daß wir uns wieder einer zentralgeistigen Kulturstufe nähern, und als ein Beweis, wie leicht der beschwerliche Weg zu einer neuen geistigen Mitte nach der ewig mittelalterlichen Mutter Kirche abzweigt. Hier, wo unsere eigene Vergangenheit in der Gestalt des Mittelalters um uns wirbt und mit dem erneuten Durchbruch des kirchlich-mittelalterlichen Dualismus das Schicksal der untergehenden Antike sich am Horizont abzeichnet, mag das Feld zu erkennen sein, auf dem die entscheidenden weltanschaulichen Kämpfe der nahen Zukunft sich abspielen werden. *
Es war hier längere Zeit nicht mehr von der Kunst die Rede, obwohl bei unserer Betrachtung des modernen Realismus und Impressionismus auch der Expressionismus des 20. Jahrhunderts als die dritte zugehörige Stufe der Kunstentwicklung erwähnt wurde. Der Grundgedanke war, daß sich im peripheren Weltergreifen des Realismus seit etwa 1850, in der extrem malerischen, formzertrümmernden, aber lichtbejahenden Zusammenschau des Impressionismus seit 1870 und endlich in der von innen nach außen gerichteten Ausdruckskunst des Expressionismus offenbar die Kontraktion und Expansion der modernen Geistesbewegung bis zur Gegenwart auswirkt (S. 137 f.). Von einer plötzlichen Absage an die Welt kann nicht gesprochen werden; auf weiter Strecke blieb für den Expressionismus im engeren Sinn oder für den frühen Kubismus die Naturerfahrung wenigstens der erste Anlaß zur eigenwilligen, subjektiv-geistigen Gestaltung, und den stärksten Reiz übt diese junge Kunst zweifellos dort aus, wo — bei Cezanne, van Gogh — die Wirklichkeitsverpflichtung noch nicht in Frage gestellt wird. Trotzdem ist die Verlegung des Akzents und die Auflösung der integralen malerisch-impressionistischen Weltanschauung als ein plötzlich einsetzender, genau bestimm165
barer revolutionärer Prozeß zu bezeichnen. Bei v a n G o g h in Gestalt eines verzweifelten Kampfes um die Welt, die ihm entgleitet, ihn in grenzenloser Vereinsamung zurückzulassen droht und die er zu halten und weiter zu besitzen sucht, indem er die eigene, ruhelos tastende Seele in die Natur projiziert, bis die Zypressen sich in züngelnde Flammen verwandeln, die südliche Sonne in einen feuerspeienden Wirbel, bis sogar die mütterliche Erde zu einem brodelnden Flammenmeer wird: man kann sagen, daß nach dem impressionistischen Sieg des Lichtes über die Materie das zentral-beharrende, tragende und zusammenhaltende, weiblich-tellurische Prinzip seine letzte Geltung einbüßt. C é z a n n e zerreißt das dichte malerische Gewebe der Pissaro, Sisley und Genossen, vermutet als Vorläufer des Kubismus einfachste, abstrakt-geometrische Formen in oder hinter den Naturerscheinungen und gelangt so dazu, diese individuellen, abstrakt-geistigen Form- und Farbelemente zum Aufbau einer neuen Bildeinheit zu benützen. „Synthese" heißt jetzt das Wiederzusammenfügen der teils aus der objektiven Wirklichkeit, teils aus der persönlichen Phantasie gewonnenen diskreten Elemente, die sich aus der Desintegration und stückhaften Verdichtung des impressionistischen Weltbildes ergaben. G a u g u i n entflieht — wie viele nach ihm — einer formlos und sinnlos gewordenen Welt, um in den Tropen und an der Körperlichkeit des primitiven Menschen sein eigenes, wiederum primitiv-anfänglich geartetes Formbewußtsein sinnfällig bestätigt zu finden. Hier wird der Einfluß, den Cézanne und Gauguin auf die zeitgenössische Bildnerei ausübten, verständlich, wie auch die Tatsache, daß seit Maillol die anti-impressionistische Besinnung auf die isolierte, fest in sich geschlossene und bis zur geometrischen Abstraktion vereinfachte Form besonders der Bildnerei zugute kam und dort Erinnerungen an die klassische, an die archaisch-griechische Kunst erwecken kann. Nur in den Hauptzügen kann hier die anschließende Entwicklung berücksichtigt werden, um zu einem abschließenden Urteil zu gelangen. Schon die nach-impressionistischen Pioniere Cézanne, van Gogh und Gauguin zeigen ein typisches 166
Bild zentrifugaler Entbindung einer in der Manet-Generation noch möglichen geistigen Gemeinschaft in einzelne, sich kaum noch verstehende Künstlerpersönlichkeiten. Umgekehrt erwuchs aus dieser geistigen Vereinzelung ein Drang nach Selbstrechtfertigung und Verständigung: in den immer häufigeren und lauteren Künstlermanifesten, in der Ausgliederung immer weiterer Künstlergruppen. So entstanden nachund nebeneinander ein Kubismus, Futurismus, Primitivismus, Konstruktivismus, Purismus, Verismus, Neu-Realismus, Surrealismus und weitere Ismen, deren Unzahl beweist, daß von einer allgemein verpflichtenden Formgestaltung als Ausdruck einer kollektiv gültigen Weltanschauung keine Rede mehr sein kann. Gemeinsam ist aber die Sehnsucht nach einem Geistigen, das man in der Natur- und Lebenswiiklichkeit nicht mehr zu entdecken vermag, die Proklamation also einer geistigen Gestaltung bis zur schroffen Gegenüberstellung eines „sinnlich-bürgerlichen Realismus" und ,,geistig-revolutionären Expressionismus" (Kandinsky). Und gemeinsam sind daher auch viele Züge, die sich sämtlich aus dem Zwiespalt zwischen Ich und Welt und aus der fortschreitenden Entmittung der innergeistigen Struktur ergeben. Dazu gehört allgemein die Verneinung der in der Welt möglichen ganzheitlichen, sei es organischen oder geistigen Beziehungen: die Ablehnung also alles lebendig Gewachsenen zugunsten der beziehungslos zur Umwelt sich verhaltenden kristallischen, mechanischen, tektonischen Form; die Verneinung des Eros, der lebendigen, gebenden und empfangenden Wechselwirkung zwischen den Menschen und Dingen, zwischen Menschen und Menschen, die ihren seelischen Ausdruck bis zur Maske, zur Marionette oder Maschine verlieren und die verlassen und verloren den ihnen feindlich gewordenen Dingen gegenüberstehen. Auch sonst — und wie immer — interessiert die Korrespondenz zwischen Stil und Stoff in den verschiedenen Gruppen. Italienische Futuristen, die in ihrem Manifest den reinen, zentrifugalen Geist des späteren Faschismus vertreten und den Krieg um des Krieges willen, die Dynamik um der Dynamik willen verherrlichen, bevorzugen bewegte Personen oder Gegenstände und glauben naiverweise, diese Bewegung 167
dadurch suggerieren zu können, daß sie sie in einzelne statische Momente zerlegen und diese im Bild zu einem vielheitlichen Chaos verbinden. Sehr allgemein richtet sich das Auge auf die allerdings auch immer greifbareren Dissonanzen in der menschlichen Gesellschaft, auf das Leiden an der Welt, auf das Krankhafte, auf brutale, grausame Ereignisse, auf den aus aller sinnvollen Ordnung und liebevoller Verbundenheit geworfenen Menschen — verstümmelte Krieger, armselige Zirkusmenschen. Schon hier wird deutlich, in wie hohem Grade diese Kunst die reine und damit positiv künstlerische und legitime Ausdrucksform des zutiefst beunruhigten Zeitalters der Kriege, Revolutionen und politischen Abenteuer war. Aber es gibt noch eigentümlichere Parallelerscheinungen. So schreitet der Künstler nicht nur zur Verneinung des lebendig Organischen, sondern auch zur Zertrümmerung jeder fest gefügten, vom Menschen gebauten Form, bis sich das Stadt- oder Architekturbild in eine Ruine verwandelt, Das war — vor dem ersten Weltkrieg bei Delaunay — keine mysteriöse Vorahnung späterer Bombenangriffe, sondern es ist der gleiche Prozeß „explosiver" Entladung, der zuerst das persönliche Weltbild des empfindsamen Künstlers bedingt, um später zu den totalen Kriegen und der blinden Vernichtung menschlicher Kulturstätten zu führen. Nach einer anläßlich der Franz-Marc-Ausstellung in München im Jahre 1947 veranstalteten Enquete wurde das Bild „Tirol" abgelehnt, weil es zu sehr an den Schrecken der Luftangriffe erinnerte. Das Bild stammt aber aus dem Jahre 1913. Trotz der Zersplitterung-aller Kräfte ist noch ein gemeinsames, diesmal rein stilistisches Merkmal zu erwähnen: das ist die scheinbar rückläufige Entwicklung von der malerischen zur zeichnerischen und von der tiefenhaften zur flächenhaften Gestaltung. Die Ablehnung der malerischen Verschmelzung von Form und Form, Figur und Grund zugunsten erneuter scharfer Abgrenzung und farbiger Isolierung der Form versteht sich ohne weiteres aus der Abwendung von der sinnlichen Erfahrung und dem Bestreben, das Bildgefüge aus einer Vielheit mehr oder weniger abstrakter Elemente zu gewinnen. Dazu ist, bei sich steigern168
der geistiger Abstraktion, Schritt für Schritt die zunehmende Verflachung der Bildvorstellung zu beachten. Hierher gehören — schon seit Cezanne — die bekannten Verstöße gegen die Perspektive, die dazu dienen, die räumlichen Tiefenrelationen durch eine flächenhafte Neben- und Übereinanderordnung zu ersetzen. Gleiches geschieht, wenn der Kubismus die Körperlichkeit eines Gegenstandes zerstört, indem er dessen verschiedene Ansichten flächenhaft nebenoder ineinander ausbreitet; hier, wie wohl auch sonst, kann das Ergebnis eine bildfüllende Flächenmusterung sein, an der Figur und Grund sich gleichmäßig beteiligen mit der Folge, daß eine Unterscheidung beider Elemente nicht mehr möglich ist: sogar Franz Marcs innig geliebte Tiere fallen zuletzt der gegenseitigen Angleichung von Figur und Grund zum Opfer. Ihre reinste Ausprägung finden solche Stiltendenzen im Konstruktivismus, wenn dieser sich auf ein betont flächenhaftes Muster aus farbigen Quadraten oder Rechtecken beschränkt oder auch eine breite, weiße Grundfläche bevorzugt, um darauf ein lockeres Gefüge abstrakter Formen oder Farbflecke ausbreiten zu können. D a s ist z. B. bei Kandinsky der Fall, der den weißen Grund seiner phantastischen Kompositionen ausdrücklich als die „materielle Fläche" bezeichnet, die „berufen ist, den Inhalt des Werkes aufzunehmen" (in seiner Schrift „Punkt und Linie zu Fläche", 1926). Dagegen wählen besonders die östlichen Konstruktivisten auch ausgesprochen stereometrische Kompositionen, und damit wird wiederum ein Raum suggeriert, der nun allerdings als ein rein geistiger, „absoluter" Raum verstanden sein will und der sich in der Tat als wirklichkeitsleer und entschieden lebensfeindlich erweist. Hier, bei diesen Maler-Asketen, die nicht erst nachträglich, sondern gleich im Anfang jedes Fenster nach der Außenwelt schließen, um nur noch aus sich selbst zu schöpfen, gestaltet sich die Entwicklung so kritisch und zugleich so aufschlußreich, daß wir uns noch etwas näher mit den geistigen Grundlagen und recht eigentlich mit dem „Grund-Problem" dieser Kunst zu befassen haben. *
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An sich ist der Gedanke unanfechtbar, daß jede elementare Form oder Farbe eine psychische Resonanz erweckt und ein inneres, zweifellos künstlerisches Erlebnis auslöst, das durch weitere Form- und Farbkombinationen willkürlich bereichert werden kann. Die Frage ist nur, ob dieser geistige Gehalt der Form und der Farbe nicht zu allen Zeiten vom bildenden Künstler aus der Naturanschauung gewonnen wurde und völlig unbewußt zur Gestaltung gelangte, aber sogleich in einer Fülle, der gegenüber die anspruchsvolle Konstruktion des Expressionisten nur als ein erstes Stammeln anmuten kann. Wie kommt es aber, daß erst in unserem Zeitalter geistiger Zersetzung eine betont antinaturalistische Kunst propagiert werden konnte, nachdem die Bildnerei und Malerei sämtlicher Zeiten und Völker niemals auf die Naturdarstellung verzichten wollte? Die Antwort auf diese Frage mag schon durch Kant gegeben worden sein, als er den bekannten Satz aussprach, daß die Anschauung ohne Begriff blind sei, der Begriff ohne Anschauung dagegen leer. Obwohl die künstlerische Gestaltung keine Begriffsbildung ist, handelt es sich doch in beiden Fällen um einen Prozeß schöpferischer Abstraktion und Synthese, und so rührt Kants Wort auch an die Wurzel des Kunstproblems: in dem Grade, wie der Künstler auf die Naturanschauung verzichtet, nähert er sich der Gefahr geistiger Leere. Das ist der Grund, weshalb Sammelausstellungen und Veröffentlichungen absoluter Malerei oder Plastik eine solche Langeweile erzeugen: in seinem naiven Wahn, sich dem rein, dem absolut Geistigen zu nähern, befindet der Expressionist sich schon längst auf dem Weg zum absoluten Nichts. Aber weiter, und wiederum nach Kants Wort: dadurch, daß der radikale Ausdruckskünstler die schaubare Wirklichkeit dem schlechthin Ungeistigen gleichsetzt, verrät er, daß er der Natur ohne „Begriff" gegenübertritt, sich „blind" zu ihr verhält, mit der Folge, daß er sie grundsätzlich verleugnet. In diesem Sinn ist die fortschreitende Entgeistigung der Welt im Expressionismus kein Merkmal neuer geistiger Erfüllung, sondern zunehmender geistiger Entleerung — der zentrifugal-geistigen Entleerung, die das Kennzeichen dieses kritischen Zeitalters ist. 170
Was heißt das, daß der Künstler in seiner Sehnsucht nach dem absolut Geistigen gleichsam zur Darstellung des göttlichen Logos schreiten möchte, ohne die gottgewollte Schöpfung zu berücksichtigen? Doch wohl dieses, daß er in der ersehnten geistigen Mitte gar nicht den zentralen Bezugspunkt vermutet, von dem aus die gesamte periphere Wirklichkeitssphäre ihre neue Sinndeutung erhalten könnte. Die Folge ist, daß er einerseits nach einem absoluten Nichts tastet, andrerseits, d. h. in seiner Beziehung zu der äußeren Objektwelt, einem platten Materialismus huldigt zu einer Zeit, da die Physik, die Materieforschung selber, zur Überwindung des Materialismus und zu einer metaphysischen Begründung des Materieproblems fortschreitet. Dadurch aber, daß der radikale Expressionist nichts von der unlöslichen polaren Wechselbeziehung zwischen Kreismitte und Peripherie, Geist und Natur, Ich und Welt zu ahnen scheint, bekennt er sich ausdrücklich zu einem schroffen Dualismus, der an die Weltanschauung und Weltverneinung des frühen Mittelalters erinnert. Diese Parallele zum frühen Mittelalter ist aber weiter zu verfolgen. Auch damals, als unsere Kultur aus der Stufe früher Naturverbundenheit hinaustrat, bekannte sich die Kunst zu einer neuen, flächenhaften Begründung und zu einem „absoluten, rein geistigen, wirklichkeitsleeren R a u m " . Der gewaltige Unterschied ist aber nicht nur, daß damals die Kirche diesen absolutgeistigen Raum erbaute und der Künstler in der Kirchenwand und im Kirchenbuch die abstraktgeistige Grundfläche vorfand, die er als stoffliche und geistige Begründung seiner Kunst brauchte; sondern noch wesentlicher ist, daß der im Kirchenraum schwebende absolute Geist zugleich die an sich formlose, aber formbedürftige Substanz war, die sich in der Malerei und Bildnerei zu sinnfälliger Form verdichtete und in der menschlichen Gestalt der göttlichen und heiligen Personen verkörperte. Dadurch, daß die mittelalterliche Kirche sofort zur figürlichen Darstellung griff und die transzendente Grundlage der gesamten abendländischen Bildkunst schuf, strebte sie von vornherein nach Überwindung des von ihr selber vertretenen geistig-weltlichen Dualismus. Obwohl eine Wiederholung 171
dieses historischen Prozesses nicht in Frage kommt, liegt doch die Frage nahe, ob sich nicht eine ähnliche Umkehrung im weltflüchtigen Expressionismus vollzieht. In diesem Zusammenhang mag es auf den ersten Blick wichtig scheinen, daß die moderne Malerei und Bildnerei wieder allgemein nach einem Bündnis mit der Baukunst strebt, während die Kirche ihrerseits willig ihre Türen auch den radikalsten Kunstströmungen öffnet. Wenn wir dennoch dieser Bekehrung des modernen Künstlers zur Kirche und der Kirche zur modernen Kunst mißtrauisch gegenüberstehen, so geschieht das, weil die Invasion längst bestehender expressionistischer Formbestrebungen in die sakrale oder profane Baukunst offenbar nichts mit einer Wiedergeburt der bildenden Kunst auf der sicheren Grundlage und aus der abstrakten Gesetzlichkeit der Architektur zu tun hat: was der naturentwurzelte und nach dem absoluten Geist tastende Künstler heute in der Baukunst findet, ist eine Zuflucht und nicht die heißersehnte geistige Heimat. Wichtiger scheint es dagegen, daß in verschiedenen Gruppen, die wir nach dem extremen Kubismus und Konstruktivismus als die dritte Stilphase des Expressionismus bezeichnen möchten, eine entschiedene Rückwendung zur Wirklichkeit stattfindet. Es ist hier nicht nur an den traumhaft aus dem Unterbewußtsein schöpfenden Surrealismus oder an die Varianten einer gewollt primitiv oder romantisch sich gebärdenden „Neuen Sachlichkeit" gedacht; an diese Kunstrichtungen, die. durch ihre gemein-expressionistische Ichsucht, ihr liebloses, interesseloses Verhalten zur Welt, zur Kreatur und zum Menschen nur zu deutlich verraten, daß die entscheidende Wende von der Welt zum Wunder noch keineswegs geschah. Aber auch außerhalb solcher bestimmten Gruppen scheint das Streben nach einer erneuten und tiefgeistigen Weltbejahung so allgemein, daß wir zumindest von einer Bereitschaft der Kunst sprechen möchten, das Ich zu vergessen und auch zu den unscheinbarsten Naturdingen das „Wir" zu sagen. Wie genauer diese neue Naturgläubigkeit sich in der Kunst ausgestalten wird, kann nur der Künstler bestimmen, wenn für ihn die Stunde geschlagen hat. Wie immer in den großen 172
Wendepunkten der Kunst- und Geistesentwicklung wird sich auch jetzt das „Grundproblem" als entscheidend wichtig herausstellen: erst dann wird von einer Umkehrung des künstlerischen Vorzeichens gesprochen werden können, wenn der Künstler die leere Fläche, wo immer er sie vorfinden mag, nicht mehr als eine neutrale, materielle Grundfläche begreift, dazu bestimmt, das Kunstwerk zu tragen, und nicht als einen sterilen, absoluten Raumgrund, sondern als den metaphysischen Urgrund der Lebens- und der Naturwirklichkeit, aus dem er mühelos und beglückt seine Formen schöpft. Und auch soviel scheint sicher, daß diese neue bildende Kunst, wie immer sie auch geartet sein mag, nur aus dem historisch vorbereiteten Boden der modernen Kunst und aus der transzendentalen Sehnsucht des Expressionismus erwachsen kann. Darin lag das schwere Vergehen der unduldsamen nationalsozialistischen Kunstpolitik, daß sie durch die Dekretierung einer staatlich kontrollierten Pseudokunst and durch die gewaltsame Unterdrückung der schöpferischen persönlichen Freiheit den Keimgrund einer neuen Kunst zerstörte. *
Zur Kritik der Gegenwart bietet die Baukunst des 20. Jahrhunderts eine bessere Handhabe als die bildenden Künste, weil sie in ihrer stürmischen Entwicklung und nach unsicheren Anfängen bald in eine Formgestaltung einmündete, die durch ihre weltweite Verbreitung die innere Logik beweist und durch ihre Eindeutigkeit das Urteil erleichtert. Man könnte fragen, wie denn die historisierende Baubewegung des 19. Jahrhunderts noch eine Fortsetzung erfahren konnte, nachdem sie ihr Programm glücklich bis zu einem Neubarock absolviert hatte. Sollte sie in der Tat zu einem Neuzopf, einem Neuklassizismus, einem Neubiedermeier fortschreiten? Bezeichnenderweise hat es an solchen Bestrebungen in der Bau- und Möbelkunst keineswegs gefehlt. Der unverkennbare Anklang an die klassizistischen Stilgattungen war, auch im Sinne einer erfreulichen Vereinfachung und Klärung des Formbewußtseins, so allgemein, daß wir verstehen, wie es nur eines Machtwortes bedurfte, 173
um den Klassizismus — wie einst das Empire — zu einer offiziellen Staatskunst zu gestalten. Der gleiche Paul Troost, der sich mit der Ausstattung reicher Bürgerwohnungen im Stil Friedrich Wilhelms IV. einen Namen gemacht hatte, endete als Baumeister des „Dritten Reiches". Es ist nicht möglich, hier näher auf diesen Hitler-Klassizismus einzugehen, obwohl gerade dieser mit gigantischen Mitteln durchgeführte Ersatzstil in der Baukunst letzten Aufschluß über die ideologischen Grundlagen des Nationalsozialismus bieten kann. Die bange Frage aber, ob wir uns angesichts der schon vor dem ersten Weltkrieg verbreiteten klassizistischen Stilbestrebungen auf eine nochmalige Wiederholung des historischen Stilablaufs womöglich bis zu einem erneuerten Neubarock gefaßt machen müssen, wurde aber schon seit 1900 verneint, als mehrere namhafte Architekten sich bewußt von jeder Stilnachahmung abwandten. Das Ergebnis war vom heutigen Blickpunkt keineswegs immer glücklich. Eine bunte Fülle willkürlicher, persönlicher Einfälle ist sicher als die Folge der unumgänglichen zentrifugalen Entbindung zu erklären, der Auflösung jeder allgemeingültigen Formvereinbarung, die in den historisierenden Baustilen des 19. Jahrhunderts noch zum Schein gewahrt blieb. Eine spielerische Freude an bildnerischem und ornamentalem Bauschmuck mutet heute nicht mehr als eine neue Tugend, sondern als ein altes Erbübel an und als typisches Merkmal eines noch einmal lebhaft sich gebärdenden bürgerlichen Scheinidealismus. Trotzdem ist in dieser früheren, mit der Tradition brechenden Baubewegung ein neues geistiges Bedürfnis zu erkennen, eine Vorahnung späterer Möglichkeiten, ein Vorgriff also, der auch als solcher bewußt erkannt wurde. So entschied sich Berlage in seinem mutigen, grundlegend wichtigen Bau der Börse zu Amsterdam für ein mathematisches Grundsystem, dem sämtliche stark vereinfachten Bauteile gehorchen, mit der ausdrücklichen Begründung, daß es sich um den Weg zu einem Ziel handle, das erst dann erfüllt werden könne, wenn eine neue, dem bürgerlichen Individualismus entgegengesetzte „Weltidee" den lebendigen Odem bringen wird, ohne den kein Stil wachsen kann. Denn in 174
Anschluß an Karl Schefflers Schrift über „Konventionen in der K u n s t " betonte auch Berlage, daß wir heute in einer Zwischenzeit leben, die sich durch das Fehlen einer „religiösphilosophischen Konvention", aber auch durch die Sehnsucht danach kennzeichnet. Daß man für den Friedenspalast im Haag, für den Völkerbundspalast in Genf wieder auf Kompromißlösungen, auf rückblickende Stilbauten zurückgriff, kann als peinliche Bestätigung gelten, daß die geplante Völkerversöhnung keineswegs von einem neuen Geist, von einer neuen, weltanschaulichen „Konvention" getragen wurde. Es bleibt abzuwarten, ob das Haus der Vereinten Nationen in New York diesen neuen Geist veranschaulichen wird. Erst die radikale, auf der Werkbundausstellung von 1914 in Köln deutlicher in die Erscheinung tretende Baubewegung brachte die große Reinigung. Im Gegensatz auch zu den bildenden Künsten liegt in den Schöpfungen — wie auch in den begleitenden Schriften — dieser jüngeren und jüngsten Entwicklungsphase der Baukunst eine so klare Zielsetzung, daß wir unser Urteil kurz zusammenfassen können. Sehr allgemein sprechen führende Architekten ihre Überzeugung aus, daß man vorerst den Stilgedanken, die bewußte künstlerische Absicht völlig zurückstellen solle, um nur den praktischen, hygienischen, sozialen Anforderungen, den durch die Konstruktion, die Technik, das Material gestellten und durch die neuen Baustoffe abgeänderten Bedingungen gerecht zu werden. Bezeichnend für die Rationalisierung und Technisierung der Baukunst ist die Tatsache, daß die ältere Architektengeneration vielfach aus der Beschäftigung mit dem Kunstgewerbe, der Möbelkunst und Innendekoration hervorging, während die Pioniere der neuen Baukunst sich ebenso regelmäßig zuerst mit rein technischen Zweckbauten befassen, um auch weiterhin dem Entwurf von Fabrikbauten und Werkhallen, Kraft- und Schaltwerken, Luftschiffhallen und Hochhäusern, Brücken, Talsperren, Getreidesilos usw. ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken. Schon vor dem ersten Weltkrieg und erst recht nach den entsetzlichen Zerstörungen durch den letzten Krieg stellt sich der Ausbau und Wiederaufbau unserer Städte und die Errichtung von 175
Massenwohnbauten oder Wohnsiedlungen als dringendste Aufgabe heraus. Besonders auf diesem Gebiet ist es klar, daß schon unter dem Zwang äußerster Sparsamkeit und Zweckmäßigkeit und durch die Umstellung auf die neuen, synthetischen Baustoffe die Erneuerung irgendeines historischen Stiles und ein Wiederaufleben des bürgerlichen Idealismus nicht mehr in Frage kommen. Zu diesen revolutionären Entwicklungserscheinungen muß zuerst betont werden, daß die streng rationale Form in der Bau- und Ausstattungskunst niemals h ä ß l i c h sein kann, so wenig wie eine Maschine oder das oft mit der modernen Wohneinrichtung verglichene ärztliche Operationszimmer häßlich sind. Wir können weitergehen mit der Bemerkung, daß die streng sachlich gedachten, durch den Zweck diktierten Bauten eine große Schönheit besitzen und ein tiefes Formerlebnis auslösen können. Sehr wesentlich ist auch, daß, wie die Technik und die Ratio, so auch die technische und rationelle Formgestaltung mitsamt der ihnen anhaftenden Schönheit psychisch neutral ist und somit der persönlichen, nationalen oder jeder ideologischen Begründung entbehrt. Eben aus dieser immanenten Übernationalität ist die Allgemeingültigkeit des neuen Baurationalismus und seine verblüffend schnelle, sehr gleichartige Verbreitung über alle Weltteile zu erklären. Mit alledem wird verständlich, weshalb der vorurteilslose Beschauer diese Baukunst als ein reinigendes Bad begrüßt hat, als eine Befreiung vom verlogenen Schein, als glückliche Verständigung nach aller ideologischen Sprachverwirrung und unverrückbare Grundlage zu einer neuen Gestaltung des menschlichen Daseins. Aber das alles sei hier zugegeben, um nur noch entschiedener die Tatsache zu unterstreichen: in dem Grade, wie die neue Bauschönheit ausschließlicher durch sachliche und praktische, technische und konstruktive Anforderungen bedingt wird, ist sie nicht Ausgestaltung eines inneren Formgefühls, keine künstlerische Schönheit und somit auch noch keine Baukunst. Vielmehr ist die Ablösung baukünstlerischer durch bautechnische Gedanken und das Einmünden der Baukunst in das seelisch indifferente Gebiet der Technik für uns der sichere Beweis, daß wir den äußersten Gegenpol 176
zu dem transzendentgeistigen Kathedralbau des Mittelalters erreicht haben, und daß die nach dem Mittelalter, dem Barock, der Romantik, dem spätbürgerlichen Idealismus immer stärkere geistige Entleerung unseres Kulturorganismus am Tiefpunkt angelangt ist. Wie bezeichnend ist allein schon die Tatsache, daß einst die aus dem gotischen Kirchenbau gewonnenen Bau- und Zierformen in die bürgerliche Wohnkunst eindrangen, während heute die aus den rein technischen Bauten übernommenen Gestaltungsgrundsätze in den Wohnbau und sogar in den Kirchenbau eindringen und dort — in dem einst vom persönlichen und vom göttlichen Geist erfüllten temenos — eine gähnende Leere erzeugen. Ein sicherer Beweis, daß auch in der Baukunst die zentrifugale Entleerung nur die unumgängliche Voraussetzung zu einer neuen, zentralgeistigen Erfüllung darstellt, ist schwer zu erbringen. Mehr noch als bei den bildenden Künsten wurde die Entwicklung der Baukunst durch den Krieg und, in Deutschland, durch die Proklamation eines Ersatz-Baustils gehemmt. Dazu ist zu bedenken, welche völlige Umstellung die Verwendung der neuen, traditionsund naturfremden, dazu ausgesprochen schmuckfeindlichen Baustoffe erforderte, die ihre Herkunft aus der Industrie keineswegs verleugnen. Die vielen, den Laien befremdenden Erscheinungen im Eisenbeton-, Stahl- und Glasbau beruhen großenteils darauf, daß das gewohnte und sofort verständliche Verhältnis zwischen Stütze und Last seine Geltung verliert. Die Säule, das von den Griechen vervollkommnete Sinnbild des Bauens, die „Stütze des Humanismus und des Rationalismus in der Baukunst", wird zum Zeichen eines Denkens in veralteten Kategorien. Daß diese Umstellung von der alten zur neuen Bauratio erst eine vollendete Tatsache sein mußte, bevor die irrationale, rein künstlerische Auswertung der neuen Formmöglichkeiten in Frage kam, ist deutlich, und die Geschichte bietet lehrreiche Beispiele: so bei der Ablösung der Steinbearbeitung durch den Bronzeguß in der Vorzeit oder der Holzbauten durch den kirchlichen Steinbau im frühen Mittelalter. Viele mögen aber der Meinung sein, daß schon vor dem Kriege und vor dem 12 Scheltema, Geistige Mitte
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Nationalsozialismus die Keime einer neuen Geistigkeit auf dem Boden der „neuen Sachlichkeit" in der Baukunst bemerkbar wurden, und daß der moderne Baukünstler in der Überwindung eines ungeistigen Materialismus nicht allzu weit hinter einer Physik zurückblieb, der er sich kurz zuvor mit ganzer Seele verschrieben hatte. Ein sehr einfaches Beispiel mag die Möglichkeit dieser Wendung von der physikalisch-rationalistischen zur metaphysisch-irrationalistischen Begründung der neuen Bauform verdeutlichen. Während das verhängnisvolle Bestreben, eine geistige Form vorzutäuschen, die wir gar nicht besitzen, gerade im modernen Kultbau nur allzu häufig zu einem anspruchsvollen, willkürlichen Stilersatz führt, wurde 1932 von Alberto Sartoris eine kleine katholische Kirche für Lourtier im Wallis gebaut, die aus nur zwei glatten, weißen Baublöcken besteht: einem breitlagernden für das Haus und einem kurzen, stehenden für den Turm. Dieses Kirchlein wurde in der Schweizer Presse als „Garage" abgelehnt; es wurde aber auch Anlaß zu einem Hymnus auf die Geburt eines neuen Lebens- und Gottesglaubens. Schon der Zweifel, ob wir es hier mit einem seelenlosen Zweckbau zu tun haben oder mit einem in die ewige Natur hineingestellten „göttlichen Kristall", deutet auf die Möglichkeit, daß sich in diesem denkbar einfachen Bauwerk die geistige Umkehrung vollzog, daß letzte geistige Entleerung schon eine neue Erfüllung in sich barg und aus stengster rationaler Sachlichkeit eine neue irrationale Geistigkeit aufblühte. Das würde heißen, daß die zweckbedingte Bauform nicht erst nachträglich durch bauliche oder schmückende Zutat zur geistigen Form erhöht, sondern daß sie schon zugleich als vorgefaßte geistige Form empfunden wurde. Es würde bedeuten, daß in den einfachen geometrischen Gebilden Berechnung zu Bekenntnis wurde, und daß die gleichen Flächen, die bis dahin nur als die materiellen Raum- und Körpergrenzen galten, auf einmal die Würde des noch unausgeformten göttlich-geistigen Urgrundes erhielten. Bezweifelt man, ob solche Wunder sich in der Baukunst ereignen können, so sei daran erinnert, daß tiefste Vergeistigung konstruktiver Bauformen sich schon einmal vollzog. 178
D a s geschah im frühen Mittelalter, als der Rundbogen römischer Ingenieurkunst zum Sinnbild transzendenter, in sich selbst ruhender Geistigkeit erhoben wurde (vgl. aiich S. 1 2 7 ) . Eine wesentliche Frage ist, ob diese fromme Sachlichkeit sich nur auf dem Boden des christlichen Sakralbaus durchsetzen wird, oder ob nicht gerade ihre sachliche Begründung eine Gewähr bietet, daß sie mit gleichem Recht sämtliche Gebiete des Lebens und so auch die profane Baukunst erfassen wird. Wie immer die Antwort aber lauten mag, die kleine Kirche von Lourtier erteilt eine Mahnung, die über die sakrale und weltliche Baukunst hinaus unser religiöses und geistiges Leben betrifft. D a s ist das Gebot äußerster Selbstbescheidung, absoluter Ehrlichkeit und Sachlichkeit, damit das Wunder der geistigen Umkehrung sich vollziehen kann. *
Es wurde hier versucht, die geistige Lage unserer Gegenwart unter dem doppelten Gesichtspunkt einer innergesetzlich bedingten, höchst gesteigerten geistigen Entmittung und einer gegengerichteten Bewußtseinswende zu betrachten, die wir auf den heterogensten Gebieten, vorzüglich der Politik, der physikalischen Forschung und der Künste nachweisen können. Diese Deutung wurde an den gegenwärtigen Ereignissen, am Hier und Jetzt vollzogen und hat also mit einer Vorhersage oder einer Utopie nichts zu tun. Es mag sein, daß die Beurteilung einer Gegenwart in hohem Maße von der geistigen Struktur des Beobachters abhängig ist; wie die Seherin des ausgehenden germanischen Altertums nur von einem Untergang der Welt und der Götter singen konnte, so vertrat Spengler trotz seiner tiefen historischen Einsicht so sehr die geistige Struktur der untergehenden Neuzeit, daß er nur den Untergang der abendländischen Kultur schlechthin erkennen konnte. Auch ist es keine Frage, daß es in vielen Fällen kaum möglich ist zu entscheiden, ob wir ein Entwicklungsphänomen noch mit einem negativen oder schon mit einem positiven Vorzeichen versehen sollen. Hat die zentrifugale Kulturbewegung i h r M a x i 12
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mum erreicht und wird sie wieder mittewendig, so ist schwer zu entscheiden, ob wir es nur mit den Entbindungsprodukten der alten oder mit den Grundelementen einer neuen Kulturgestalt zu tun haben. Trotz dieser bleibenden Schwierigkeit, die die Sinndeutung einer Gegenwart bietet, war es möglich, über die immer noch fortschreitende Desintegration der abendländischen Kultur hinaus auf den Anbruch eines gänzlich neuen, zentralstrukturierten, damit ganzheitlich gearteten und spezifisch geistigen Kulturzeitalters zu schließen, demgegenüber die zentralgeistigen Stufen der Romantik, des Barockzeitalters und sogar des Mittelalters auf Grund ihrer unzulänglichen Wirklichkeitserfahrung und beschränkten Wirkungsmacht nur als hinweisende Vorstufen erscheinen. Dieses Urteil wurde sicher durch den aus der Geschichte gewonnenen Entwicklungsbegriff erleichtert; durch die Feststellung, daß der Prozeß geistiger Bindung und Lösung, der Systole und Diastole des Kulturorganismus, Gesetz und System der historischen Entwicklung bestimmt; durch die von Spengler abweichende Erkenntnis, daß das Keimen, Blühen und Vergehen der Kultur durchaus kein einmaliges Phänomen ist, sondern nur den Grundrhythmus des Kulturgeschehens umschreibt, der sich ständig in sich selbst und über sich selbst hinaus wiederholt und ohne den das geschichtliche Werden auch in den kleineren und kleinsten Wegstrecken gar nicht denkbar wäre. Dagegen scheint es nicht möglich, aus dem erkannten Entwicklungsgesetz und Entwicklungssystem allein auf die Struktur, den Umfang, die Rangordnung eines noch bevorstehenden Kulturzeitalters zu schließen, weil der systematische Ort einer historischen Entwicklungsstufe sich nur in einem geschlossenen Feld und in der Beziehung zu den beiden zugehörigen Stufen offenbart. Beispielsweise ist die nordische Bronzezeit nur deshalb als d i e zentralgeistige Periode unserer Vorzeit zu erkennen, weil sie mit der vorangehenden Jungsteinzeit und mit der nachfolgenden germanischen Eisenzeit eine vollständige Entwicklungsfolge bietet. Ebenso erscheint das Mittelalter als die in der Tat mittlere, zentralgeistige Epoche im bisherigen Geschichts180
ablauf, weil es mit der Vorzeit und der Neuzeit zusammen einen ganzen Umlauf des Kulturzeigers darstellt. Diese Voraussetzung zu einer sicheren Beurteilung ist aber in bezug auf die Zukunft niemals erfüllt, weil wir diese nur einseitig auf die Vergangenheit beziehen können und auch dann nicht wissen, auf welche Strecke der Vergangenheit diese Zukunft bezogen werden soll. Wohl ist an dieser Stelle eine bedeutsame und zunächst vielleicht beunruhigende Feststellung hinzuzufügen: Bedeutet die Kulturkrise, die wir heute erleiden müssen, das Ende der sogenannten Neuzeit seit der Renaissance, so kann das nur heißen, daß auch die gesamte epochale Entwicklung von den Anfängen der frühen Bauernkultur über das Mittelalter und die Neuzeit bis zur Gegenwart heute seinen Abschluß findet. Aber weitere Schlußfolgerungen sind auch aus dieser Feststellung nicht zu ziehen, weil der Beginn des vorzeitlichen Bauerntums keineswegs identisch ist mit dem Anfang der Menschheitsentwicklung. Wir erinnern an die tief eingreifende geistige Wende vom nomadisierenden Jägertum der Urzeit zum seßhaften Bauerntum unserer Vorzeit. Wir können hier hinzufügen, daß sich innerhalb der Urzeit noch einmal eine sprunghafte Wandlung von der peripher greifenden in eine zentral begreifende Weltbeziehung sogar an der Schädelbildung ablesen läßt. D a s war der Übergang von der altpaläolithischen Kultur des noch stark tierähnlichen, heute nicht mehr auf der Erde existierenden Neandertalers zum jungpaläolithischen Kulturzustand des modernen „Vernunftmenschen", des homo sapiens, der zugleich der Träger des ersten Körperschmucks und der Schöpfer des Jägernaturalismus war. Diese frühen geistigen Metamorphosen schneiden aber so tief in die Entwicklung ein und sie entziehen sich so sehr einer systematischen Beurteilung, daß jeder Versuch einer Periodisierung der gesamten Menschheitsentwicklung nur zu unfruchtbaren Konstruktionen führen kann. Schillers Forderung, daß der „philosophische K o p f " über die in der Geschichte vorgefundenen Fragmente hinaus zum ganzheitlichen historischen System fortschreiten soll, ist zwar für die gesamte Entwicklung seit der frühen Vorzeit zu erfüllen. Jedoch auch diese Entwicklung bildet 181
nur ein Fragment, einen zwar äußerst bedeutsamen Ausschnitt aus der Menschheitsentwicklung, über dessen beide Grenzen wir aber nicht hinaus zu blicken vermögen. Trotzdem scheint es möglich, aus dem bisher erkannten historischen System näheren Aufschluß über den Sinn der heutigen Kulturkrise zu gewinnen, wenn wir das Auge noch einmal auf die unverkennbare Analogie der periodischen Entwicklung innerhalb unserer Vorzeit mit dem epochalen Ablauf Vorzeit—Mittelalter—Neuzeit richten. Wir fanden, daß die mittlere Vorzeit (Bronzezeit) sich wie das historische Mittelalter gebärdet, daß aber auch die späte Vorzeit in sehr wesentlichen Zügen der Neuzeit entspricht. Es sei daran erinnert, wie das freilich noch naturverbundene religiöse Bewußtsein und der Naturkult in der Bronzezeit ihre reinste Ausgestaltung erfuhren, wie diese Stufe das Zeitalter der großen Sakralbauten und Kultverbände war, die Zeit auch, in der die urgermanische Kulturgemeinschaft noch eine in sich geschlossene, sehr homogene Einheit bildete. Wir wissen aber auch, wie diese zentralgebundene Kulturkraft sich in der Eisenzeit nach außen entladet; wie seit den Völkerwanderungen die Ausgliederung einzelner, sich befeindender Gruppen erfolgt und zur Bildung der den späteren Nationalstaaten vergleichbaren germanischen Stammesstaaten führt. Wir wissen, wie in diesem kriegerischen Zeitalter der Abfall von der gemeinsamen Mitte eine Entfesselung der individuellen Kräfte auslöst, zum Persönlichkeitskult führt, aber auch zu einer zunehmenden religiösen Skepsis. Und wir haben gesehen, wie auch die Kunst ihre in der Naturwirklichkeit gegebene mütterliche Grundlage verliert und in einen Zustand der Entwurzelung und Entgründ'ung gerät, aus der sie erst durch die Umstellung auf die transzendentgeistige Grundlage der mittelalterlichen Kirche erlöst wurde. Im Hinblick auf die jüngste deutsche Vergangenheit wäre diese Parallele gewiß noch weiter zu verfolgen. Man denke an die eigentümliche Sympathie des Nationalsozialismus gerade für das spätgermanische Heldentum, an die Verherrlichung einer richtungslosen Dynamik, des extrem männlich betonten, zerstörenden Prinzips und brutalen Machtwillens. Aber auch 182
abgesehen von diesen letzten Entwicklungserscheinungen bietet die periodische Bewegung innerhalb unserer Vorzeit und in den späteren, historischen Epochen ein so auffallend ähnliches Entwicklungsbild, daß wir zwangsläufig zu der Überzeugung gelangen, daß wir uns heute in einer ähnlichen Lage befinden könnten wie am Ende der Vorzeit: v o r dem D u r c h b r u c h eines h o c h g e o r d n e t e n z e n t r a l g e i s t i g e n K u l t u r z e i t a l t e r s , eines „Großmittelalters". Hier öffnet sich der gleiche Ausblick, zu dem die Beurteilung der geistigen Gegenwart uns geführt hatte. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß die Verwirklichung dieser Gedanken keine Rückkehr zum Mittelalter bedeuten kann, so wenig wie das historische Mittelalter eine Rückkehr zur mittleren Vorzeit war. Nachdem die Entwicklung schon während des Mittelalters durch die fortschreitende Einverleibung des Wirklichkeitsstoffes in den kirchlichgeistigen Kosmos gekennzeichnet war und unser Kampf während der Neuzeit offenbar der Überwindung des geistigweltlichen Dualismus galt, ist es undenkbar, daß jetzt von neuem eine scharfe Grenze zwischen der civitas Dei und der civitas terrena gezogen werden soll. Auch der sehr naheliegende und beliebte Vergleich unserer heutigen Lage mit der der ausgehenden Antike braucht nicht zu der Schlußfolgerung zu führen, daß wir uns auf eine Wiederholung des Mittelalters gefaßt machen müssen, weil aus vielen bedeutsamen Anzeichen hervorgeht, -daß wir die Fackel weitertragen werden, wo die Antike sie fallen ließ. Dazu gehört vor allem die Beobachtung, daß die Hinwendung zu der irrationalen Tiefenachse unseres Daseins diesmal keine Flucht aus der Wirklichkeit bedeutet und daß der entscheidende Anstoß zur geistigen Umkehr heute nicht von der Kirche oder von der Religion, sondern von der Physik, der Natur- und Geistesforschung aus erfolgt, um sich auf immer weiteren Gebieten des technischen, wirtschaftlichen, politischen Denkens, der weltlichen Bau- und Bildkünste usw. auszuwirken. In diesem bleibenden Realismus, dieser sicheren Begründung der sich vollziehenden Geisteswende in der Wirklichkeitserfahrung, scheint die Gewähr zu liegen, 183
daß wir uns nicht auf dem Wege zu einer neuen Weltflucht, sondern zu einer noch ungekannten geistigen Welt- und Lebensbejahung befinden. *
Zur leichteren Orientierung folgt hier das aus einer umfangreichen Betrachtung der Kunst erschlossene p e r i o d i s c h e S y s t e m der a b e n d l ä n d i s c h e n Kunstu n d K u l t u r e n t w i c k l u n g . Trotz Schillers Mahnung ist heute die Abneigung gegen jeden Versuch, die endlose Vielheit historischer Tatsachen als System, d. h. als ein gegliedertes Ganzes zu begreifen, so groß, und diese Systemfeindlichkeit scheint auch gerade für die „philosophischen K ö p f e " der Gegenwart so bezeichnend, daß eine kurze Rechtfertigung geboten erscheint. An sich ist diese Systemfeindlichkeit ein typisches Merkmal dieser Zeit, die — im Zuge geistiger Entbindung — jeder Bildung begrifflicher Totalität mißtrauisch gegenübersteht. D a s ist- das gute Recht und die Pflicht dieser Gegenwart und einer Philosophie, die zunächst wieder die Fragen des Bewußtseins, des Daseins, des Geistes und der Existenz stellt. Ob eine solche Philosophie Wesentliches zur Erhellung des historischen Ablaufs oder der geschichtlichen Gegenwart beitragen kann, ob sie nicht selber notwendig entweder zu einer nihilistischen Lebensphilosophie oder zum erneut systematischen Denken fortschreiten wird, sind Fragen, die wir hier auf sich beruhen lassen. Aber es zeigt sich die Berechtigung eines Systems, das dieses systemlose Denken der Gegenwart sofort erklärt und systematisch rechtfertigt. Darüber wird aber Übereinstimmung bestehen, daß wir heute, nach einem Jahrhundert intensiver Wirklichkeitsforschung, nicht wieder in die tote Regelhaftigkeit willkürlicher begrifflicher Konstruktion zurücksinken dürfen und daß eine systematische Deutung der Geschichte sich nur noch behaupten kann, wenn sie sich immer von neuem an den historischen Tatsachen bewährt. Deshalb bestanden gewisse Bedenken, schon in dieser kurzen Schrift das aufgefundene Entwicklungssystem vorzulegen, weil dieses sich erst aus einer endlosen Fülle kunsthistorischer Tatsachen er184
gab, von denen nur eine kleinere Auswahl angeführt werden konnte. Trotzdem mag unsere periodische Ordnung des Geschichtsablaufs ihre konkrete Bewährung dadurch gezeigt haben, daß sie zahlreiche grundlegende Fragen beantwortet, denen die immer noch fragmentarisch denkende Kunstgeschichte blind oder ratlos gegenübersteht. Weiter aber ist zu betonen, daß das vorgelegte Entwicklungssystem infolge seiner immanent dialektischen Beschaffenheit nicht als starr schematisch, sondern in all seinen Teilen als überaus beweglich und lebendig zu bezeichnen ist. Aus der Tatsache, daß der Dreisprung der historischen Bewegung sich ständig in sich selbst und über sich selbst hinaus wiederholt, ergibt sich eine fortgesetzte Relativierbarkeit bei der Beurteilung eines historischen Phänomens, die jede tote Schematisierung ausschließt. Ohne aus dieser Feststellung die letzten Folgerungen zu ziehen, sind wir uns bewußt, daß unsere begriffliche Beurteilung geschichtlicher Tatsachen keine absolut gültige sein kann, sondern durch die jeweilige Ausdehnung des Beobachtungsfeldes und somit durch die Perspektive des Beobachters bedingt wird. Aus dieser unlöslichen Beziehung zwischen der objektiven Wirklichkeit der Geschichte und dem subjektiven Blickpunkt des Forschers ergibt sich aber die Frage, ob dieser nicht das Recht hat, sein Beobachtungsfeld immer enger zu begrenzen, bis dieses zuletzt nur noch die „Ausnahme", das Zustandekommen des einzelnen und einmaligen, unvergleichbaren und systematisch nicht erfaßbaren Phänomens enthält. Auch in diesem extremen Fall, wenn etwa der Kunsthistoriker sich nur für das Wesen und Werden einer bestimmten Bau- oder Bildschöpfung interessiert, wird er allerdings in den Stufen peripherer Wirklichkeitserfahrung, der innergeistigen Umsetzung des Wirklichkeitsstoffes und der Selbstentäußerung im Werkprodukt den zentripetalzentrifugalen Grundzug aller geistigen Dynamik erkennen. Indem das hier vorgetragene periodische System das volle Recht der Einzelforschung bekräftigt, entgeht es dem Vorwurf engherziger Schematisierung, bestätigt sich selbst aber sogar dort, wo es den einzelnen Fall als individuelle, freie Ausnahme aus sich entläßt. Wir begreifen das abendlän185
dische Mittelalter als die große mitte wendige Epoche zwischen der abendländischen Vorzeit und Neuzeit. Wir verstehen die große, von der kirchlichen Architektur abgelöste Altarkunst des 15. Jahrhunderts im Norden als ein hervorragendes Merkmal der spätgotischen zentrifugalen Teilperiode dieses Mittelalters. Wir könnten — was hier nicht möglich war — weitergehen und innerhalb dieser Kunst deutlich den frühen, unbefangenen Realismus eines J a n van Eyck von dem Idealismus Rogier van der Weydens und von der noch späteren subjektiv-phantastischen Ausdruckskunst eines Hieronymus Bosch unterscheiden. Auf diese Weise können wir den systematischen Ort, an dem sich der Genter Altar befindet, immer mehr einkreisen und damit den Begriff dieser Schöpfung immer reicher gestalten. Aber niemals erfassen wir auf diesem Wege den Genter Altar selber, der sich als das Ergebnis der zufälligen künstlerischen Begabung, ihrer zufälligen persönlichen Veranlagung, Altersstufe, Lebenslage, Stimmung usw. jeder systematischen Bestimmung entzieht. Sagt der Kunstfreund oder Forscher, daß die unerschöpfliche Fülle eines Kunstwerkes sich nur in seiner Einmaligkeit offenbart und aus dem Zusammentreffen zufälliger Momente aufblüht und daß er sich nur für diese einmalige Fülle interessiert, so geben wir ihm recht, fügen aber allerdings hinzu, daß er offenbar nicht die Eignung zur begrifflichen Kunst- und Kulturforschung besitzt und nicht zu den philosophischen Köpfen gehört, an die unser Schiller gedacht hat. Was hier an einem besonderen Beispiel verdeutlicht wurde, gilt allgemein für jede historische Tatsache. In jedem Moment des Geschichtsablaufs ist eine unendlich bunte Fülle unbestimmbarer Möglichkeiten gegeben, die jeden einzelnen Fall als einen Zufall, als eine allerdings eng begrenzte Ausnahme charakterisieren: auch der Zufall des Genter Altars konnte sich nur in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts, in der frühen, naturverbundenen Stufe nordischer Spätgotik, ereignen. In wie hohem Grade und aus welchen besonderen Gründen die Ereignisse einer Gegenwart und einer nahen Zukunft sich einer systematischen Bestimmung entziehen, wurde dargelegt. Eben weil 186
Gegenwart und Zukunft nur einseitig auf die Vergangenheit beziehbar sind, fehlt die Möglichkeit ihrer Einordnung in ein sicher erkennbares Entwicklungsfeld, die Möglichkeit sicherer Entscheidung, an welchem Punkt der historischen Bewegung wir uns befinden. Wir glaubten, an Hand des gewonnenen Entwicklungsbegriffs, der Kritik unserer Zeit, der Analogie zwischen der epochalen, historischen Entwicklung und dem periodischen Ablauf unserer Vorzeit weitgehende Schlüsse auf den Sinn der jetzigen Menschheitskrise und auf die Gestalt des kommenden Kulturzeitalters ziehen zu können. Wir sind auch sicher, daß die Berechtigung partikularer Interessen und das Gelingen oder Scheitern augenblicklicher Bemühungen durch die Richtung auf das vorbestimmte Ziel bedingt werden. Aber wie genau in der Gegenwart die Zukunft sich aus der Vergangenheit herausschält, in welchem Tempo sich der Klärungsprozeß vollziehen wird, wie oft sich noch der tastende Versuch als Fehlgriff, der begangene Weg als Abweg herausstellen wird, hängt von einer endlosen Reihe zufälliger Faktoren ab, die wir weder als vorbestimmbar noch auch als vorbestimmt bezeichnen können. Fragt man aber, was es für einen Zweck hat, die Geschichte als eine in sich bewegte und gegliederte Ganzheit zu begreifen, wenn diese die einzelnen historischen Tatsachen nicht bedingt, so mag die Antwort genügen, daß die im periodischen System enthaltene und begrifflich erfaßbare Gesetzlichkeit des Geschichtsablaufs undenkbar wäre ohne die Annahme eines inneren Sinnes und bestimmten Zieles, durch die sich auch die tastende Bemühung der Menschheit sinnvoll und hoffnungsvoll gestaltet.
187
DAS PERIODISCHE SYSTEM DER KUNST- UND
STUFEN
DER
STUFEN
DER
«-Epoche: Vorzeit
STUFEN
URZEIT
(Altsteinzeit.
VORZEIT
A-Periode: Jungsteinzeit Neolithikum
a i Stilphasen der M geradlinigen c l Ornamentik
B-Periode: Bronzezeit
a ( Stilphasen der b | krummlinigen c | Ornamentik
C-Periode: Germanische Eisenzeit
a f Stilphasen der b < germanischen c I Tierornamentik
DES
MITTELALTERS
A-Periode: Frühes Mittelalter Romanik ^-Epoche :
Mittelalter
Paläolithikum)
a f Stilphasen M der Romanik
B-Periode: Hohes Mittelalter Gotik
Stilphasen der Gotik
C-Periode: Spätes Mittelauel Spätgotik
a f Stilphasen b j der c I Spätgotik
XULTURENTWICKLUNG DES ABENDLANDES
STUFEN DER
NEUZEIT a-Stilphase:
A-Periode: Frühe Neuzeil Renaissance
Frührenaissance b-Stilphase: Hochrenaissance c-Stilphase: Manierismus
dee
Spätrenaissance a-Stilphase: Frühbarock B-Periode: Mittlere Barock
b-Stilphase: Neuzeit
Hochbarock c-Stilphase: Spätbarock Rokoko a
Aufklärui../
a'fUnterstufen b" der c ' l Aufklärung
b
Romantik
C-Periode:
a' b' c'
Späte
a'
Neuzeit c
Modems
Frühromantik Hochromantik Spätcomantik
Frühmoderne Realismus b' Hochmoderne Impressionismus c' Spätmoderne Expressionismus
INHALT
Vorwort
5
Einleitung
6
Vorzeit Bronzezeit Eisenzeit
9 12 28
Mittelalter Gotik Spätgotik
36 52 64
Neuzeit Barock Späte Neuzeit Romantik Moderne Das späte 19. Jahrhundert
69 82 108 116 130 134
D a s 20. J a h r h u n d e r t
147
Das periodische System der abendländischen Kunst- und Kulturentwicklung 188
DR.
F.
ADAMA
VAN
SCHELTEMA
geboren am 21. Juli 1884 zu Amsterdam (Holland), aus einem Geschlecht von Kaufleuten und protestantischen Geistlichen. — Studierte nach Beendigung der Oberrealschule in Amsterdam Kunst- und Vorgeschichte an den Universitäten Berlin. Wien und München. — Promovierte 1911 in München mit einer Arbeit über die „Entwicklung der Abendmahlsdarstellung" — Schrieb u. a.: „Die Altnordische Kunst" (1923, 2. 1924), „Der Osebergfund" (1929, 2. 1938), „Die Kunst unserer Vorzeit" (1936), „Die geistige Wiederholung" (1937), „Die deutsche Volkskunst" (1938). — Mitarbeiter an: Ebert: „Reallexikon der Vorgeschichte", Bossert: „Geschichte des Kunstgewerbes", Herrmann: „Handbuch der Symbolik". — Während des Krieges 1939/45 wurde eine sechsbändige „Kunstgeschichte des Abendlandes" vollendet. — Seit 1912 in Gauting bei München ansässig und als freier Forscher und Schriftsteller tätig. F. A d a m a
van
Scheltema