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German Pages 187 [192] Year 1947
DIE QEISTIQE M I T T E Umrisse einer abendländischen Kulturmorphologie von
F. Adama van Scheltema
1947
LEIBNIZ VERLAG
MÜNCHEN
(bisher R. Oldenbourg Verlag)
1947 veröffentlicht unter Lizenz Nummer US-E-179. Auflage 4000. Copyright 1947 by Leibniz Verlag (bisher R. Oldenbourg Verlag) München. Schrift: Korpus Renner Antiqua. Druck u. Buchbinderei R. Oldenbourg, Graph. Betriebe G. m. b. H., München.
VORWORT Die vorliegende Schrift f a ß t die Ergebnisse einer umfangreichen Kunstgeschichte des Abendlandes zusammen, die durch den Krieg und seine Folgen in Manuskript liegen blieb. Grundlegend war der Gedanke, daß die menschliche Kultur zu jeder Zeit eine alle individuellen Erscheinungsformen übergreifende innete Struktur besitzt, die sich am sinnfälligsten in der Kunst offenbart und deren fortwährende Wandelbarkeit wir am leichtesten aus der Kunstentwicklung ablesen. Versuche, die Stilgeschichte als Strukturgeschichte und die Kunstentwicklung als Geistesentwicklung zu deuten, wurden schon von befugter Seite und namentlich von deutschen Kunstforschern durchgeführt. D a ß trotz glänzender Teilergebnisse der große, zusammenfassende Griff niemals unternommen wurde, erklärt sich wohl daraus, daß die junge kunsthistorische Disziplin noch zu sehr in ihrem deskriptiven Stadium steckt, um sich zielbewußt um ihre Grundbegriffe zu kümmern und namentlich auch die aufschlußreichen frühesten Entwicklungserscheinungen zu beachten. Erst heute löst sich die Kunstwissenschaft zögernd aus dem Zustand, in dem die Biologie sich vor Jahrhunderten befand. Die Papierknappheit zwang zu einer kurz gedrängten, fgst programmatischen Darstellung, die viele Fragen unbeachtet lassen mußte. Dennoch mag die kleine Schrift zu unverdrossener Weiterarbeit anregen und zeigen, welche bedeutsame Aufgabe der begrifflichen Kunstforschung zufallen kann bei der Beantwortung unseres Fragens nach dem Sinn der Menschheitsentwicklung, dem Sinn auch der schweren geistigen Krise, die wir heute erleben. Freilich wird auch die geplante umfangreiche Darstellung des gleichen Stoffes mit anderen Gebieten der modernen wissenschaftlichen Forschung gemeinsam haben, daß sie schließlich an Fragen heranführt, deren Beantwortung uns nicht gegeben ist. Gauting vor München. Ostern 1947.
F. Adama van Scheltema.
EINLEITUNG Es gibt im Naturleben, aber auch im l e b e n des Menschen und in der menschlichen Kulturgeschichte allbekannte und gut vergleichbare Situationen, die sich gemeinsam durch ein einfaches Bild darstellen lassen. Das ist die Figur des Kreises mit betontem Mittelpunkt. Wenn unsere Vögel im zeitigen Frühjahr zur Paarung und zum Nestbau übergehen, tritt dieses Bild sofort in die Erscheinung. Während das Weibchen im Nest das Lege- und Brutgeschäft besorgt, streift das Männchen die nahe Umwelt ab, um die nötige Nahrung zu beschaffen. Indem beide Tiere der Arterhaltung dienen, bilden sie eine Zweieinheit, eine Ganzheit, in der das brütende Weibchen und das jagende Männchen polar entgegengesetzte Funktionen erfüllen und sich funktionell ergänzen. Und zwar bildet das im Nest ,ruhende Weibchen die unverrückbare Mitte des gemeinsamen Lebenskreises, während das Männchen als der peripher bewegliche Teil unablässig den Umkreis absucht, aber immer wieder zur gemeinsamen Mitte zurückkehrt. Im Leben der Natur beobachten wir wiederholt das gleiche Bild geschlechtlicher Differenzierung. Bei den Balztänzen der Vögel, der Werbung um die Henne, ist es so ausgeprägt, daß der naturnahe Volkstanz es vielfach übernommen hat: vom Kranichtanz — geranos — der frühen Griechen bis zum bayerischen Schuhplattler, der den Werbetanz des Spielhahns nachahmt und durch die Sprünge des Burschen wiederum das extrem bewegliche männlichperiphere Prinzip veranschaulicht, während das Mädchen sich nur um sich selber dreht und das zentral beharrende weibliche Element vertritt. Schon bei dem Befruchtungsprozeß tritt aber das gleiche Bild hervor, denn auch da sind es die eigenbeweglichen männlichen Zellen, die sich der weiblichen Eizelle von außen nähern, dann die schützende Zellwand umstehen, bis es einer gelingt, sie zu durchbrechen und sich mit dem Zellkern zu vereinen. Man hat den Vorgang mit der Auf erweckung Dornröschens durch den Königssohn verglichen (Schleich), und wir werden sehen, daß es sich hier um mehr als ein unverbindliches 6
poetisches Gleichnis handelt. Schließlich ist daran zu erinnern, daß auch im Pflanzenleben das Bild des auf eine weibliche Mitte bezogenen peripher-männlichen Elements eine normale Erscheinung ist. In der einzelnen Blüte umstehen die Staubfäden im Kreis die Narbe; die Befruchtung kommt dadurch zustande, daß der durch den Wind oder durch Insekten herangetragene, in diesem Sinn also bewegliche Pollen der unbeweglichen Narbe zugeführt wird. In manchen Fällen sind aber auch die Staubfäden selbst beweglich. Obwohl die erwähnten Beispiele peripher-zentraler Polarität aufs deutlichste geschlechtlich bedingt sind, muß doch bezweifelt werden, daß die sexuelle Differenzierung als das letzthin begründende, als das eigentliche Urphänomen zu bezeichnen ist. Jedenfalls müssen wir in Erwägung ziehen, daß die polare Spannung zwischen einem peripherbeweglichen und einem zentral-beharrenden Element regelmäßig bei der Bewegung der Himmelskörper und wiederum bei dem Aufbau der Atome auftritt, ohne daß wir bei diesen kosmischen und atomaren Strukturen der leblosen Materie zu einer geschlechtlichen Unterscheidung der beteiligten Elemente berechtigt sind. Dazu scheint uns die Frage gestattet, ob nicht jenseits des Naturgeschehens, im Geistesleben jedes einzelnen, die dauernde Auseinandersetzung zwischen dem Ich und der sinnlich erfahrbaren Umwelt, zwischen dem Subjekt und der ihm zugeordneten Objektwelt sich als eine sehr ähnliche zentral-periphere Spannung begreifen läßt, obwohl wir sie auch in diesem Fall nicht als geschlechtlich bedingt bezeichnen können. Es ist richtig, daß im Mythus der Völker namentlich Sonne und Erde als geschlechtsverschiedene Persönlichkeiten auftreten, und zwar die scheinbar ruhende Erde als eine weibliche, die peripher-bewegliche Sonne als- eine männliche. Auch wissen wir aus der Tiefenpsychologie, daß im Traumzustand des einzelnen der innerste seelische Bezirk des Menschen regelmäßig als das Herrschaftsgebiet einer weiblichen Gestalt — der „anima" — erscheinen kann, der sich von außen oft ein männliches Wesen nähert. Wir kommen auf diese Tatsachen zurück, möchten hier aber 7
betonen, daß es sich dabei doch offenbar um eine Verquickung rein physikalischer, biologischer und psychologischer Phänomene im menschlichen Bewußtsein oder Unterbewußtsein handelt", um bildhafte Entleihungen aus der nahen und eindrucksvollen Sphäre der sexuellen Erfahrung, ohne daß gerade dort das offenbar tiefere und allgemein wirksame Urphänomen anzunehmen wäre. Noch ein Beispiel mag diese Überzeugung bekräftigen: wenn sowohl Goethe wie Schelling den geistigen Entwicklungsprozeß mit der Systole und Diastole des Herzschlags vergleichen, setzt diese Zusammenziehung und Wiederausweitung die Existenz einer Mitte voraus —vermutlich dieselbe, von der Goethe sagt: „und was die Mitte bringt, ist offenbar das, was zu Ende bleibt und anfangs war". Eine so umfassende Konzeption geht aber doch über jede geschlechtliche Bestimmung und Beschränkung jenes geheimnisvollen mittleren Punktes hinaus. Und auch wenn der Dichter sich nachträglich veranlaßt fühlen sollte, dort das Ewigweibliche, das uns hinanzieht, zu lokalisieren, so bleibt das eine Übertragung aus dem sinnlich bestimmten Erfahrungskreis auf die schlechthin unbestimmbare Mitte. Um einen festeren Boden zu gewinnen und zu der kunsthistorischen Bedeutung des hier angedeuteten Urphänomens zu gelangen, greifen wif auf eine frühe, seitdem aber nie mehr verlorengegangene kulturgeschichtliche Situation zurück. Schon der Mensch der diluvialen Urzeit, der Jäger und Sammler der Altsteinzeit, besaß trotz seiner streifenden Lebenshaltung wenigstens vorübergehend eine gemeinsame und zur Ruhe einladende Mitte. Dieser Mittelpunkt und recht eigentlich der „Brennpunkt" der urzeitlichen Gemeinschaft war das im Freien, unter einem Felsschutz oder in einer Höhle brennende, wärmende, schützende und zur Bereitung der Speise unentbehrliche F e u e r . So wenig wir über die urzeitliche Arbeitsteilung wissen, können wir doch mit Sicherheit annehmen, daß die Jagd und der Kampf dem Mann überlassen blieben, während die Sorge um die Kinder, um Speise und Bekleidung zu den wichtigsten Beschäftigungen der Frau im nahen Umkreis des Lagers und des Feuers gehörte. 8
VORZEIT
Sehr viel eindringlicher wird das Kulturbild nach der Wende vom nomadisierenden Jägertum der Altsteinzeit (Paläolithikum) zum seßhaften Bauerntum der Jungsteinzeit (Neolithikum). Es mag vermittelnde Übergangsformen zwischen beiden Arten der frühen Lebensgestaltung gegeben haben, aber das Endergebnis setzt eine tiefgehende, sinnfällig greifbare Wandlung der geistigen Struktur voraus. Denn die Seßhaftigkeit des Menschen bedeutet an sich schon, daß er sein Leben einer unverrückbaren Mitte zuordnet, die er in Gestalt der W o h n u n g allseitig von der natürlichen Umwelt abgrenzt und mit seiner Persönlichkeit erfüllt. Wir müssen das nun entstehende Kulturbild durch den umzäunten Hof ergänzen und durch die mehrere Wohnbauten umfassende, durch Palisaden, Wälle und Gräben geschützte Dorfanlage: der Zaun und der umzäunte Bezirk sind unlöslich mit den Anfängen des Bauerntums verbunden; die Wurzel unseres „Gartens" und „Gürtels" findet sich in sämtlichen indogermanischen Sprachen. Durch die vier Hauswände und den Zaun wurde die sichere Grenze zwischen innen und außen gezogen. Innerhalb dieser Grenze lag der Bereich menschlicher Kultur, das keineswegs geographisch bedingte Midgard spätgermanischer Vorstellung, der Ort des Friedens, der Freundschaft, der Freude. Außerhalb war die freie Wildbahn, die als feindlich empfundene Natur, das nicht geheure Utgard. Obwohl der primitive Hackbau wesentlich Frauenarbeit war, ergibt sich das altbekannte, bis in die Gegenwart gültige Bild-: wenn der Mann abends von der Jagd, vom Fischfang, vom Kampf nach Hause zurückkehrte, näherte er sich bis zur nächtlichen Ruhestatt dem Tätigkeits- und Herrschaftsgebiet der Frau. Denn noch im spätgermanischen Altertum hatte die Frau „den allerinnersten Platz des Friedens" inne (Grönbech). Das Wort „wohnen" aber hängt ursprünglich mit „sein, bleiben", mit „sich freuen, lieben" zusammen, und aus der gleichen Wurzel „wen" stammt das 9
Wort Venus. Dagegen mußte der Mann schon immeT „hinaus ins feindliehe Leben, muß wirken und streben — " . Dem Wechsel des äußeren Lebensbildes vom peripherstreifenden Jägernonjadentum der Urzeit zum seßhaften Bauerntum der Vorzeit entspricht eine Umschichtung der geistigen Struktur, die wir uns am besten durch den Begriff der Konzentration, der Wende zu einer geistigen Mitte vergegenwärtigen. Schon der österreichische Prähistoriker Hofernes unterschied scharf zwischen der k o n s u m t i v e n Wirtschaftsform des urzeitlichen Jägers und Sammlers, der die jagdbaren Tiere erlegt und die Früchte des Feldes verzehrt, und der p r o d u k t i v e n Wirtschaftsform des Bauern, der sorgsam und auf lange Sicht die Tiere und Pflanzen hegt und pflegt, damit sie sich vermehren und die Nahrungssorge verringern. Dazu betonte Hoernes die Wende von der d e s t r u k t i v e n zur k o n s t r u k t i v e n Technik. Zerstörend war die urzeitliche Technik, insofern sie bei der Herstellung des Geräts aus Feuerstein, Knochen und Holz oder der Kleidung aus Tierfellen nur Überflüssiges entfernte, um den brauchbaren Kern, die hüllende Decke zu gewinnen. Dagegen wurde bei den neuen neolithischen Techniken der Töpferei, des Webens und Flechtens, des Wohnbaus das Arbeitsprodukt nach" einer fertigen inneren Vorstellung völlig neu aus dem formlosen Ton, aus Pflanzenfasern, Tierhaaren, zugerichteten Balken zusammengestellt. In beiden Fällen, bei der produktiven Wirtschaftsform und der konstruktiven Technik des Bauerntums, handelt es sich um einen Übergang vom E r g r e i f e n zum B e g r e i f e n , um einen Prozeß zentralgeistiger Ablösung und Synthese, indem der menschliche Geist nicht mehr unmittelbar und augenblicklich auf die periphere Umwelt reagiert, sondern einen inneren Bezugspunkt gewinnt, in dem er den sinnlichen Erfahrungsstoff einfängt und nicht nur aufspeichert, sondern zu einem spezifisch Geistigen und Neuen umgestaltet. D a s Erlöschen der erstaunlich naturalistischen Tierdarstellung an den Höhlenwänden und auf Knochenstücken der Urzeit ist unter dem gleichen Gesichtspunkt zu verstehen. Denn das Wiedererscheinen und die unmittelbare Wiedergabe der in 10
dem urzeitlichen Jägergehirn tief eingeprägten und aufbewahrten Gedächtnisbilder der Tiere wurde nicht mehr möglich, als der menschliche Geist sich nicht mehr peripher greifend, sondern zentral gestaltend auf die Umwelt bezog. Die unserer Kinderzeichnung sehr nahestehenden Tier- und Menschendarstellungen der späteren Bauernkultur sind keine Gedächtnis- oder Anschauungsbilder mehr, sondern begriffliche Konstruktionen, Begriffsbilder, die sich auf die wichtigsten Kennzeichen der mehr mitgeteilten als wiedergegebenen Gestalt beschränken. Man wird immer darüber streiten können, wann die Kulturentwicklung ihren Anfang nahm. Mit vollem Recht kann man sagen, daß der Anfang des Menschentums und der menschlichen Kultur durch die erste Erfindung und Verwendung des Geräts und des Feuers im Altpaläolithikum bezeichnet wird. Sobald wir dagegen den Begriff „Kultur" im eigentlichen Sinn mit der planenden und bauenden Umgestaltung der menschlichen Umwelt verbinden, kann die Zäsur nur zwischen dem urzeitlichen Jägertum und dem vorzeitlichen Bauerntum angenommen werden. Danach können wir jetzt das Werden der Kultur als die Gewinnung einer geistigen Mitte bestimmen, die von da an die zentralgeistige Struktur des Menschen bedingt. Zu dieser keineswegs ursprünglichen, sondern nach Jahrhunderttausenden gewonnenen „Mitteständigkeit" der Kulturgestalt ist zu sagen, daß sie durch die Loslösung des Menschen aus seiner urtümlichen Naturunmittelbarkeit von vornherein Sinnbild ist der Befreiung und der Freiheit. Weiter vermerken wir, daß mit der Gewinnung und Betonung eines zentralgeistigen Orts sowohl die peripherzentrale als die männlich-weibliche Polarisierung zum Inbegriff der Kultur gehört. Endlich ist der Anfang des B a u e n s , die Errichtung eines umfriedeten Bezirks in Gestalt des Wohnbaus und des Zaunbaus unmittelbar aus der errungenen geistigen Mitteständigkeit zu verstehen. Indem wir die geistige Struktur des frühen Bauerntums scharf von der d.er Jägerstufe abgrenzten, bezogen wir uns zum ersten Male nicht auf einen sich gleich bleibenden, naturgegebenen Zustand, sondern auf ein historisches, sei 11
es auch vorgeschichtliches Werden, auf das Werden der Kultur. Im folgenden wird dauernd vom historischen Geschehen, von der Selbstwandlung unserer Kulturgestalt die Rede sein. Es kann dabei nicht die Absicht sein,, diese eigentümlich komplizierte und noch immer nicht entfernt verstandene Dynamik unserer Kulturgeschichte in sämtlichen über- und untergeordneten Entwicklungsstufen aufzuzeigen. Es soll aber der Nachweis erbracht werden, daß der Durchbruch einer zentralgeistigen Besinnung sich mit den jeweils möglichen Mitteln und in der jeweils erreichten Bewußtseinsebene regelmäßig wiederholt und offenbar das Gesamtsystem der historischen Entwicklung bedingt. Dabei wird sich zeigen, daß die Wendung zur Mitte immer eine Begegnung mit der Frau bedeutet, und daß uns regelmäßig eine bestimmte weibliche Gestalt als Hüterin des jeweils erschlossenen zentralgeistigen Bezirks entgegentritt. Wir berichten zunächst über dieses Ereignis innerhalb der Kultur der abendländischen Vorzeit.
Bronzezeit
Bekanntlich unterscheidet der Prähistoriker in unserer Vorzeit drei Hauptstufen, nämlich eine Steinzeit, eine B r o n z e z e i t und eine E i s e n z e i t . Nachdem wir fanden, daß der wichtigste Meilenstein in der Geschichte der Menschheit die Wende zwischen dem Jägertum der Altsteinzeit und dem Bauerntum der Jungsteinzeit bezeichnet, kann nur von dieser Jungsteinzeit oder dem Neolithikum als erster Periode des vorzeitlichen Bauerntums die Rede sein. Diese Unterscheidung und Benennung von Kulturstufen nach dem wichtigsten Werkstoff der Geräte und Waffen war ein Notbehelf, denn sie fragt nicht nach dem, was in der Kulturgeschichte eigentlich geschieht, nicht nach dem Wandel der Kulturgestalt. Trotzdem bleibt die'Unterscheidung einer jüngeren Steinzeit und einer Bronzezeit 12
aufschlußreich, weil der Metallguß — ähnlich wie vorher die textilen Techniken und die Töpferei — schon als technische Leistung eine eigenartige geistige Umstellung oder Umstülpung voraussetzt. So vollendet die Steinbearbeitung im nordischen Neolithikum sich gestaltete, wurde doch nach wie vor für jedes einzelne Gerät ein in der Natur aufgelesener Stein benötigt und durch Beseitigung der überflüssigen Teile zu der zweckdienlichen Form umgestaltet. Völlig anders verhält es sich beim Bronzeguß: im Gegensatz zum Stein, Holz, Knochen, aber auch zum Ton der neolithischen Gefäße war die Bronze überhaupt nicht in der Natur greifbar, sondern ein naturfremdes, synthetisches und damit geistiges Produkt, das sich erst aus der Mischung des weichen Kupfers mit dem härtenden Zinn ergab. Soweit sie nicht gehämmert wurde, mußte die Bronze aber zuerst in eine flüssig formlose M a s s e verwandelt werden, die darauf in eine aus Stein oder Ton hergestellte Hohlform gegossen wurde. Wir können hier das oft recht komplizierte Verfahren mit Hilfe eines Wachskerns übergehen; wesentlich ist, daß zwischen die aus der Natur bezogene, aber künstlich veredelte Substanz und das fertige Produkt eine an sich gar nicht brauchbare, aber unentbehrliche Form eingeschaltet wird. Daß wir diese Hohlform, die das flüssige Metall in sich aufnimmt, um dann serienweise das Gerät aus sich zu entlassen, als spezifisch weiblich empfinden und als eine „ M a t e r " bezeichnen, mag im Zusammenhang mit späteren Ausführungen wichtig sein, kann hier aber unberücksichtigt bleiben. Wesentlich ist jedoch gegenüber der Steinbearbeitung die eigenartige Ein- und Umstülpung des technischen Denkens: durch die Verwendung der synthetischen Bronze und eines Models oder einer Mater als vorher gar nicht vorhandener, sorgfältig geplanter Hilfsform erweist sich die neue Technik nicht mehr als peripher greifend, sondern als zentral gestaltend. Es gibt, vielleicht abgesehen von der Erfindung der Töpferei und Weberei, in der Geschichte kaum ein zweites Beispiel, daß die Technik sich so eindeutig an der geistigen Struktur der Zeit beteiligt. Bevor wir uns wichtigeren Kulturmerkmalen zuwenden, kann 13
hier eine weitere technische Neuerung angeführt werden. Unter den schwedischen Felsbildern der Bronzezeit finden wir häufig die Darstellung des von einem Mann gelenkten, von Rindern gezogenen Pfluges oder auch des von Pferden gezogenen Wagens. Wann und wo genauer die Erfindung des Pfluges geschah, mag noch ungewiß sein. Sicher ist dagegen, daß der primitivere Hackbau ebenso bezeichnend ist für die Jungsteinzeit wie der Pflug- und Ackerbau für die Bronzezeit. Die allgemeine Verwendung des Pfluges bedeutet aber nicht nur eine Intensivierung der bäuerlichen Wirtschaftsform, sondern den Einsatz einer völlig neuen, vom Menschen nur noch gelenkten Naturkraft, und zwar der Zugtiere. Welche tiefe geistige Bedeutung diese Neuerung gewann, geht aus so vielen späteren Riten und Sagen hervor, die uns zeigen, daß das Pflügen — und die Pflugtiere — namentlich dem Kult der weiblich empfangenden, mü iterlich gebärenden und nährenden Erde zugeordnet wurden. Deutlicher als die befreiende Durchgeistigung des Arbeitsprozesses zeigt das gesamte Kulturbild besonders der nordischen Bronzezeit die Tendenz und das Ergebnis deT vollzogenen Wandlung. Vorausgeschickt muß werden, daß die Verbreitung, die Form, und Verzierung der neolithischen Tongefäße eine beträchtliche Vielheit und relative Beweglichkeit einzelner Stämme in Europa erkennen lassen. Die Forschung neigt heute zu der Annahme, daß das Germanentum aus der Verschmelzung zweier solcher Stämme, vermutlich der stärker beweglichen Einzelgrab- oder Streitaxtleute des schnurkeramischen Kreises und Jütlands mit dem konservativeren Megalithgrabvolk, hervorging. Ist es — nach bedeutsamen Ausführungen Helmut Friedeis — gestattet, bei diesem Verschmelzungsprozeß einen tragenden und einen treibenden Teil zu unterscheiden, so -.würde sich der neue, biologisch und kulturell überaus lebenstüchtige Organismus von vornherein als in sich selbst polarisiert herausstellen. Jedenfalls war die Bronzezeit, die höchste und reinste Blütestufe des nordischen Bauerntums, zugleich die Zeit der Geburt und der inneren Organisation des Germanentums. Im Gegensatz zu der 14
beweglichen Mannigfaltigkeit der neolithischen Volksgruppen und erst recht zu der späteren Aufspaltung und Zerstreuung der germanischen Stämme seit der Völkerwanderungszeit zeigt die urgermanische Bronzezeit in Norddeutschland und Skandinavien ein überraschend homogenes, fest in sich geschlossenes und friedliches Kulturbild — im Vergleich zu den vorangehenden und folgenden Perioden treten die großen Befestigungsanlagen auffallend zurück. Was wir' hier beobachten, ist also ein Vorgang schöpferischer Synthese, die Entstehung eines neuen Kulturganzen aus der ursprünglichen Mannigfaltigkeit einzelner Stämme. Denken wir die spätere Differenzierung des urgermanischön Kulturorganismus in eine Vielheit stark beweglicher, über ganz Europa sich ergießender Stämme hinzu, so ergibt sich für die gesamte Vorzeit das Bild der Integration und D e s integration, der Zumittung und Abmittung oder — nach Goethe und Schelling — der Systole und Diastole. Daß die K u n s t der nordischen Bronzezeit eindeutig die vollzogene geistige Wandlung aufzeigt, ist nicht verwunderlich; offenbart sieh doch im künstlerischen Formgeföge die geistige Struktur eines Zeitalters so rein und unmittelbar, daß wir .die vertiefte Kunstforschung geradezu als geistige Strukturforschung definieren können. Für die gesamte Vorzeit handelt es sich in erster Linie um die Ornamentik, um die an sich zwecklose Verzierung der Geräte. Für diese frühe Vorherrschaft der Ornamentik gibt es verschiedene Gründe, die mit der eigentümlichen Erfüllung, aber auch Beschränkung des vorzeitlichen Kulturgeistes zusammenhängen. So verstehen wir, von welcher ungeheuren Bedeutung für den noch naturverbundenen Menschen diese G e räte und Waffen waren, die ihm in seinem fortgesetzten Kampf mit der Natur das Leben schützten und erleichterten, und wie schon aus diesem Grunde die künstlerische Absicht zu allererst auf die Ausstattung solcher Gegenstände gerichtet war. Weiter ist zu bedenken, daß insbesondere die Töpferei der Jungsteinzeit und der Bronzeguß der frühen Metallzeit wichtige technische Errungenschaften waren und Zeugen der vollzogenen schöpferischen Konzentration, die in der ornamentalen Auszeichnung zuerst der Tongefäße, 15
dann der Bronzen ihre ausdrückliche künstlerische Bestätigung erfuhr. E s handelt sich an dieser Stelle um die Wandlung der ornamentalen Form zwischen der Jungsteinzeit und der Bronzezeit, und zwar um den Übergang von der g e r a d e n zu der g e k r ü m m t e n Linie, die erst dann von besonderer Bedeutung erscheint, wenn wir bedenken, daß die Verzierung der Tongefäße durch die Jahrtausende der jüngeren Steinzeit im Norden sich auf die waagrechte, senkrechte und schräge Linie beschränkte. Die Erklärung dieser zumeist noch immer falsch verstandenen frühen Ornamentik liegt nahe, denn solange der künstlerische Kommentar sich auf die Unterstreichung der äußeren und inneren Formgrenzen, auf die Betonung des gleichmäßig in sich zurückkehrenden Umlaufs des Gefäßkörpers oder dessen senkrechte Erhebung beschränkte, konnte das Ergebnis nur ein starres System aus geraden Linien, Punktreihen, Dreiecksketten u. dgl. sein. Auch wenn sich in einer fortgeschrittenen Stilphase weiter ausholende Diagonalen, Zickzackstreifen, teppichartige Muster hinzugesellen, bleibt die Form grundsätzlich streng geometrisch, geradlinig und, man kann sagen, physikalisch geartet. Denn diese ganze frühe Formentfaltung ist der Kristallbildung vergleichbar, insofern die zuerst nackte Gefäßwand als formloses, undifferenziertes Fluidum erscheint, das zunächst an den vorhandenen Reizstellen, z. B. den äußeren Rändern, Form gewinnt, der sich weitere Formkomplexe anschließen, bis die gesamte Oberfläche wie auskristallisiert erscheint. Im Verlauf der früheren Bronzezeit stellt sich das Ornament aber auf die krumme Linie um; wir finden konzentrische Kreise, Spiralen, eine reiche Verschiedenheit endlos sich ergänzender Wellenbandmuster, Wirbelformen, zuletzt auch gliederlose, aus Kurven aufgebaute Tiermotive. Diese Formwandlung geschieht so allgemein, mit solcher Entschiedenheit und sie wird so sehr bis zu den letzten Konsequenzen ausgeschöpft, daß sie nicht aus der zufälligen Einwirkung äußerer Einflüsse, sondern nur als das Ergebnis einer revolutionären inneren Wandlung zu verstehen ist. Immerhin interessiert hier der Versuch des 16
finnischen Forschers Ringbom, diese kurvilinearen Muster aus der Erfindung des Schnurzirkels zu erklären, d. h. zweier durch eine Schnur verbundener Stifte, von denen sich der eine um den anderen feststehenden bewegt. Infolgedessen entsteht ein Kreis oder, wenn die Schnur sich aufwickelt, eine Spirale, während die komplizierteren Wellenbandmuster der' späteren Stilphase über zwei feststehende Polpunkte konstruiert werden. Schon nach dieser technischen Erklärung ist die neue ornamentale Form als mitteständig oder mittewendig zu bezeichnen, dazu als polarisiert, insofern die sich gleich bleibende oder auch fortgesetzt wechselnde Spannung zwischen einem zentralbeharrenden und einem peripher-beweglichen Element in die Form hineingetragen wird. Und zwar ist dieser bei den Kreismotiven immer betonte, sonst nur vorauszusetzende Mittelpunkt das Element, das die Ganzheit, den unlösbaren funktionalen Zusammenhang aller Teile des Musters bedingt; ein Inneres, das die sichtbare äußere Form dauernd auf sich bezieht; die Seele, die sich als lebendig in der Eigenbeweglichkeit des Formkörpers manifestiert. Hier liegt der letzte Grund f ü r die unverkennbare Verwandtschaft der gesamten kurvilinearen, nicht mehr physikalisch und rationalistisch, sondern irrational gearteten Formentwicklung der Bronzezeit mit der Entfaltung des organischen Lebens, von den ersten einzelligen Organismen bis zu der eindeutigen Tiergestalt. Im Zusammenhang mit der vermeintlichen Bedeutung des Schnurzirkels hat der Verfasser auf die eigenartige Tatsache hingewiesen, daß bei gewissen Yolkstänzen, z. B. dem oberbayerischen „Bändltanz", der Reigen der Tänzer gleichfalls durch Bänder mit einer feststehenden Achse verknüpft bleibt. Ringbom ist diesem Sachverhalt näher nachgegangen und hat die Vermutung ausgesprochen, daß bei den nordischen Labyrinthen — Trojaspielen, Babylonien usw. — eine solche Verbindung des Tänzers, der den Windungen des Labyrinths folgte, und einer Person in der Mitte bestand. Damit gelangen wir zum Kultbau und Kulttanz unserer Vorzeit und zu dem wichtigen Nachweis, daß der Antithese zwischen dem peripher-beweglichen und dem 2 Scheltema, Geistige M tte
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zentral-beharfenden Prinzip eine geschlechtliche Polarität entsprach, die den Grundgedanken der vorzeitlichen Naturreligion in sich enthält. Es gibt mehrere Stellen in der spätgermanischen Edda, die sogenannten Brautfahrtsagen, die in unverkennbarer. Übereinstimmung den gleichen Vorgang schildern: die mühsame Werbung eines Gottes oder Helden um eine Jungfrau. So wirbt der Gott Freyr um Gerd, Swipdag um Menglod und später Sigurd um Brünhild. Jedesmal befindet sich die Jungfrau in einem umhegten Bezirk; Gerd heißt die ,,Umgürtete", und dieser Gürtel oder Zauberring, der von dem Bewerber unter großer Gefahr durchschritten werden muß, um zu der Jungfrau in der Mitte zu gelangen, sie zu befreien oder zur Liebe zu zwingen, besteht aus einer kunstvoll errichteten Mauer, einem Flammenkreis, einer Schildburg. Die Frage nach dem Sinn dieser Brautwerbungssagen wird verschiedentlich beantwortet werden, je nachdem der Forscher sich strikt an den Wortlaut der Eddadichtung hält, oder nach dem gemeinsamen, weit zurückliegenden Grund- und Kerngedanken fragt, der von den späten Skalden überhaupt nicht mehr verstanden oder auch als noch allgemeinverständlich vorausgesetzt wurde, um nachträglich eine sehr freie und wechselnde Umgestaltung zu erfahren. An sich ißt Sigurd natürlich nicht identisch mit Swipdag oder mit Freyr, der im Norden als ein Himmels- und Fruchtbarkeitsgott verehrt wurde. Aber schon die Verquickung von mythischen und historischen Zügen in der Sigurd-Brünhildsaga zeigt, daß es sich um die spätere Ausgestaltung eines älteren, tief eingewurzelten Gedankens handelt, den wir erwarten können, im Göttermythus wiederzuerkennen. Wie tief eingewurzelt der Grundgedanke der Brautfahrtsagen im vorzeitlich bäuerlichen Bewußtsein war und noch heute ist, geht aus den unzähligen Volksmärchen und den entsprechenden Volks- und Kindertänzen hervor, denen das gleiche Motiv zugrunde liegt, sei es, daß der junge Held einen Berg — Glasberg — ersteigen muß, um seine Braut zu erringen, oder daß diese im Zauberschlaf versunken sich in einem Schloß mit Dornhecke, in einem Turm oder auch nur auf einem Stein befindet. Nebenbei kann die allgemeine Verbreitung von Skan18
dinavien bis Italien u n d ' v o n England bis Rußland als Beweis gelten, daß der 'Grundgedanke des „Dornröschenmotivs" schon vor der Aufspaltung der germanischen Stämme, d. h. in der nordischen Bronzezeit bekannt war. Zweifellos ist es möglich, schon an Hand der bekannten Sagen und Märchen zu einer an Sicherheit grenzenden Deutung zu gelangen, und man versteht nicht gut, daß diese schon in der deutschen Romantik vorgetragene Sinndeutung des Brautfahrtmotivs später wieder in den Hintergrund treten konnte. Gehen wir von der nie angefochtenen Voraussetzung aus, daß der altgermanische Göttermythus sich auf das Naturgeschehen bezog, und fragen wir, welches Naturereignis dem nordischen Bauern das bedeutsamste war und dasjenige, das seine Existenz, seinen ganzen Lebensrhythmus bestimmte, so kann die Antwort nur lauten, daß dies die alljährliche Rückkehr der Sonne war und die Auferweckung der im Winterschlaf erstarrten Erde zu neuem Leben. Es mögen weitere Vorstellungen hinzugetreten sein. Die tägliche Auferweckung der Erde durch die aufgehende Sonne dürfte schon früh als Parallelerscheinung aufgefaßt worden sein. In dem späteren, kriegerisch bewegten Zeitalter, als namentlich der Kult der von Tacitus erwähnten Mutter Erde — der Nerthus — . z u r ü c k t r a t und die^Zahl der Götter sich durch eine fortgesetzte Differenzierung und Spezialisierung ihrer Funktionen oder durch die Aufnahme stammverwandter Gottheiten — der Asen — ständig vermehrte, mag der Grundgedanke sich aufgespalten und verflüchtigt haben. Und doch hätten schon die den beiden Personen der Brautfahrtsagen zukommenden Namen, Funktionen und Attribute zu der Uberzeugung führen müssen, daß es sich bei der zentral-beharrenden weiblichen Gestalt um eine chthonische Gottheit, um die zum Leben erweckte, fruchtgebärende Erdenmutter handelt, bei der peripherbeweglichen, von außen in den weiblich-chthonischen Bezirk eindringenden männlichen Gestalt um den zeugenden Himmels- oder Sonnengott. Noch in spätgermanischef Zeit wurde die Erde als ein Weib gedacht, ,,das empfängt und gebiert, das Menschen und Dinge in ihrem Schöße oder in ihrem Leib birgt" (Grönbech). Dagegen gilt die Sonne nicht nur 2*
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in den griechischen, lateinischen, romanischen Sprachen, sondern auch im Englischen als männlich, wie es auch noch im Mittelhochdeutschen ein Maskulinum sunno gab. Infolge dieser männlichen Charakterisierung konnte die Sonne sowohl in der altchristlichen Antike wie im nordischen Mittelalter zum Sinnbild Christi erhoben werden. *
Es bleibt die Frage, in welcher Stufe der Vorzeit das naturreligiöse Grundgesetz, d. h. der Gedanke der das gesamte Naturgeschehen beherrschenden kosmischen Ehe zwischen Himmel und Erde, seinen Ursprung und seine höchste Geltung fand. An sich liegt es nahe, hier an das goldene Zeitalter der nordischen Bauernkultur zu denken, an jene Bronzezeit zwischen etwa 1800 und 600 v. Chr., die schon zu Tacitus' Zeit zu einer fernen Vergangenheit gehörte. Wir kennen die zahlreichen skandinavischen Felsenzeichnungen dieser Zeit, die sich-auf den Fruchtbarkeitskult, d. h. auf den Sonnen- und Erdkult beziehen. Es gibt auch aus der nordischen Bronzezeit manche gegenständlichen Formen, die zweifellos die Bedeutung des Sonnenkults bezeugen: goldgeschmückte Scheiben, Räder und Wagen, Pferde und Vögel. Daß wir aber, abgesehen von einigen seltenen Statuetten nackter Frauen, keine sicheren Götterdarstellungen aus dieser Stufe kennen und keine Symbole, die sich eindeutig auf den Kult der Mutter Erde beziehen ließen, erklärt sich unmittelbar aus dem reinen Charakter der frühen nordischen Naturreligion. Denn die noch durch Tacitus ausdrücklich festgestellte Bildlosigkeit des Kults hat nichts mit einer besonders geistigen, abstrakten Auffassung der Naturgötter zu tun, sondern umgekehrt: solange das religiöse Bewußtsein und damit auch die Kulthandlung unlösbar mit den konkreten Naturerscheinungen verknüpft blieb, mußte die anthropomorphe Darstellung und sogar die sinnbildliche Vergegenwärtigung der natürlich-göttlichen Potenzen als eine unmögliche und unnötige Abstraktion abgelehnt werden. Am ehesten noch konnten f ü r die Sonne stellvertretende Formen eingesetzt werden, weil es sich hier um einen zwar sinnlich erfaßbaren, aber fernen, ungreifbaren und beweg20
liehen Gegenstand handelte, der auf lange Zeit gänzlich verschwand und dann sehnsüchtig herbeigewünscht und wohl auch herbeigezaubert wurde. Anders verhält es sich mit den Erscheinungsformen der Mutter Erde, weil so viele der Erde verhaftete, greifbare Dinge dauernd gegenwärtig blieben und unmittelbar in den Kult einbezogen werden konnten. Dazu gehörten Hügel, Felsen, Steine, Bäume, Quellen, Sümpfe, Teiche, all diese Dinge, die der Volksglaube noch heute als Aufenthalt der noch ungeborenen Kinder bezeichnet und danach als Erscheinungsformen der lebenspendenden Mutter Erde betrachtet. Obwohl der Sonnenkult unbedingt die Existenz eines Erdkults voraussetzen dürfte und beide erst im Fruchtbarkeitskult einen sinnvollen Zusammenhang gewinnen, verstehen wir jetzt, wie schwer es fallen muß, für die frühere Vorzeit mit Sicherheit die allgemeine Verbreitung des Kults der Mutter Erde nachzuweisen, weil es den ihr zugeordneten konkreten Naturdingen, soweit sie erhalten blieben, überhaupt nicht anzusehen ist, welche religiöse Würde sie einst in sich trugen. Hier liegt aber auch der Grund, weshalb die berühmteste Kultstätte der euro-
*" und Geschichtswissenschaften eine Natur- oder Geschichtsphilosophie überflüssig machten. Kant hatte die Anschauung ohne Begriff als blind, den Begriff ohne A n schauung als leer bezeichnet; auf die Geschichtsauffassung angewandt und unter der Voraussetzung, daß die Polzustände begriffsloser Anschauung und anschauungslosen Begriffs außerhalb jeder möglichen Geschichtsforschung liegen, dürfen wir sagen, daß das grandiose Geschichtsbild sogar eines Hegel noch zu wenig Wirklichkeitsgeltung besaß und damit zu leer war, um auf die Datier genügen zu können, während umgekehrt die positive Tatsachenforschung mit der Anhäufung des empirischen Materials so problemblind wurde, daß ihr schließlich jeder Versuch einer umfassenden Periodisierung des Geschichtsablaufs als ein belangloses Unterfangen oder als eine willkürliche Konstruktion erschien. Heute stehen wir wiederum in einer Wende auch der Geschichtsdeutung, und zumindest die deutsche Kunstgeschichte zeigt mit ihrer Unterscheidung regelmäßig sich wiederholender historischer Stiltypen den fruchtbaren Ansatz zu einer neuen, diesmal tief in den Tatsachen verwurzelten umfassenden Deutung des historischen Geschehens. Inzwischen hat sich in einem Punkt nichts geändert: während Hegel den erst nach seinem Tode entdeckten und geordneten prähistorischen Stoff nicht kannte und seine Geschichtsphilosophie in bezug auf die Vorzeit in der T a t „leer" war, hat die spätere F o r schung schon dadurch, daß sie die Behandlung der Vorzeit einer besonderen Disziplin überließ, die genetische Bedeu-
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tung der abendländischen Vorzeit und ihre Stellung im historischen System so wenig wie die Geschichtsphilosophie des früheren 19. Jahrhunderts geahnt. Für die beschreibende, immer fragmentarische und höchstens die von Fall zu Fall gegebenen Kausalzusammenhänge beachtende Geschichtsforschung brauchte die Ausschaltung der Vorzeit keine schlimmen Folgen zu haben; um so verhängnisvoller muß sich diese Unterlassungssünde bei jedem Versuch einer umfassenden Geschichtsdeutung und -gliederung auswirken. Die Mängel in Spenglers überragender Geschichtskonzeption und vor allem in seinen vergleichenden kulturgeschichtlichen Tabellen erklären sich wesentlich daraus, daß auch er die wahrhaft grundlegende Bedeutung der Vorzeit f ü r die abendländische Kulturgeschichte nicht erkannt hat, indem er diese vielmehr um das Jahr 1000 mit dem frühen Mittelalter anfängen läßt. Und doch hätte gerade Spenglers klare Unterscheidung verschiedener Kulturorganismen sowie seine entschiedene Ablehnung der üblichen sinnlosen Gliederung in Antike, Mittelalter und Neuzeit auf die richtige Spur führen können. Damit nähern wir uns dem wichtigsten Problem historischer Gliederung. Schon bei Hegel findet sich der Begriff ,,Abendland" im modernen Sinn als eine Kultureinheit, der er einen eigenen Entwicklungsrhythmus zuerkennt und als die „germanische" scharf von der orientalischen und der griechisch-römischen Antike abtrennt. Spengler spricht glücklich unterscheidend von einer morgenländischen, einer mittelländischen und einer abendländischen Kultur. Ganz gleich, zu welcher Bezeichnung wir greifen, erkennen wir erstens, daß es diesseits der Alpen eine gemein alteuropäische, vorzeitliche, bäuerlich-primitive Kultur gab, die sich als solche spezifisch und unverwechselbar von den z. T. gleichzeitigen Hochkulturen des Orients und der Antike unterscheidet. Und zweitens, daß wir in dieser bis zum Mittelalter sich erstreckenden Vorzeit eben die erste Entwicklungsstufe der später über die ganze Welt hinausgreifenden abendländischen Kultur vor uns haben. Wenn wir in dieser Üntersuchung einen so unverhältnismäßig breiten Platz den urzeitlichen und vorzeitlichen Entwick37
lungserscheinungen einräumten, geschah das nicht nur, weil schon sie mit vorbildlicher Klarheit die komplizierte atmende Bewegung in der Geschichte veranschaulichen, sondern weil wir erst mit dem Ersatz der bloß chronologischen Gliederung Antike—Mittelalter—Neuzeit durch den organischen Ablauf Vorzeit—Mittelalter—Neuzeit die Gewähr haben, es mit der historischen Bewegung innerhalb einer und der gleichen Kultursubstanz, mit dem Räderwerk eines und desselben Uhrwerks zu tun zu haben. Spenglers Verdienst war nicht zuletzt, daß er — wie Hegel — die einzelnen Uhrwerke des Orients, der Antike und des Abendlandes deutlich auseinanderhielt. Sein Fehler war, daß er — wie schon Hegel — durch seine Nichtberücksichtigung unserer gesamten Vorzeit das sehr präzis f u n k tionierende Räderwerk der abendländischen Uhr nicht, erkannte. Diese ganze, grundlegend wichtige Frage historischer Gliederung und Feldbereinigung ist auch dadurch zu klären, daß wir schärfer zwischen „exogenen" und „endogenen" Entwicklungserscheinungen unterscheiden, d. h. zwischen einer Wandlung der Kulturgestalt durch Übertragung von außen und durch echte Entwicklung von innen heraus. Auch wenn bei der Geschichtsdeutung die Berücksichtigung der äußeren oder der inneren Wirkungsfaktoren gleich bedeutsam sein sollte, bleibt es jedenfalls ein methodischer Fehler, teils exogene und teils endogene Entwicklungsfolgen miteinander zu verketten. Eben das geschieht aber, wenn wir auf Grund der üblichen Gliederung Antike—Mittelalter—Neuzeit die gesamte griechisch-römische und womöglich noch orientalische Antike mit zwei Teilstufen der abendländischen Kulturgeschichte zu einer höheren Einheit verknüpfen. Erst mit der Unterscheidung der abendländischen Epochen Vorzeit, Mittelalter und Neuzeit erhalten wir eine reine endogene Entwicklungsreihe, ein homogenes Entwicklungsfeld als Gegenstand der Untersuchung. Hier liegt auch der Grund, weshalb der Nachweis einer Wiederholung des historischen Ablaufs in der Individualentwicklung zu keinem annehmbaren Ergebnis führen konnte, solange man, wie das seit der Romantik regelmäßig geschah, die 38
historische Parallele zu der Kindheit des einzelnen im alten Orient und in der Antike vermutete statt in unserer eigenen Vorzeit. Um möglichen Mißverständnissen entgegenzutreten, muß ausdrücklich betont werden, daß die Einschaltung unserer Vorzeit an Stelle der Antike aus rein methodologischen Gründen erfolgt und nicht das geringste mit einer rassisch oder gar national bedingten Selbstüberheblichkeit und knabenhaften Verherrlichung des alten Germanentums zu tun hat,- Daß unsere frühen Ahnen noch während der Blüte des Hellenen- und Römertums auf der Stufe primitiver Naturverbundenheit verharrten, stimmt schon eher zur Selbstbescheidung, und insofern schon jede historische Stufung eine Wertung in sich enthält, kann das christliche Mittelalter nur als die höhere Geistesstufe gegenüber der Vorzeit verstanden werden. Dagegen ist es deutlich, daß wir mit der entschiedenen Betonung der endogenen Entwicklungskräfte dem abendländischen Kulturorganismus eine viel größere Selbständigkeit und Persönlichkeit zusichern als immer dann geschieht, wenn der Forscher die epochalen Wendepunkte etwa zum Mittelalter oder später zur Neuzeit aus Einflüssen und Übertragungen aus dem Süden oder Osten erklärt. Selbstverständlich ist die Tatsache der Übertragung, sei es bei der Wende zum kirchlichen Christentum oder zum Renaissance-Humanismus, als solche nicht in Abrede zu stellen. Wie die schöpferische Persönlichkeit des einzelnen sich nicht in eigensinniger Verschließung nach außen, sondern in der fortgesetzten Assimilation fremden Gedankengutes manifestiert, so hat auch das Abendland dauernd — und nachweisbar schon längst vor dem Mittelalter! — auslesend, aufnehmend und verarbeitend auf den aus dem Süden und Osten zufließenden Kultur- und Kunststoff reagiert. Aber wir dürfen nicht den äußeren Anlaß zu dem Entwicklungsprozeß mit dessen inneren Ursache verwechseln, und die Art und Wgise, w i e das Abendland auf die alten Hochkulturen reagierte, welche Elemente es als geeignete geistige Nahrung aufgriff und zum Aufbau des eigenen Organismus verwendete, wird letztlich durch die eigene Bereit39
schaft bedingt und durch den inneren Zustand im Augenblick der Begegnung. Unter diesem Gesichtspunkt sind es nicht die zufällig wirksamen fremden Einflüsse, die den Wandel der Kulturgestalt erklären, sondern der zielstrebig bedingte Entwicklungsprozeß, der von Fall zu Fall die Möglichkeit fremder Einflüsse erklärt. *
Bei Beantwortung der Frage, ob die Abfolge der großen Epochen Vorzeit—Mittelalter—Neuzeit in der Tat einen periodischen Umlauf darstellt, haben wir den Blick auf ein anderes und größeres Zifferblatt der historischen Uhr zu richten als vorher bei der Beurteilung der Vorzeit. Dabei wechselt notwendigerweise unsere Deutung der vorzeitlichen Kulturgestalt: jetzt interessiert nicht mehr, daß diese in der Bronzezeit mittewendig wird, um zuletzt wiederum von dieser Mitte abzufallen; sondern die Frage ist, ob nicht sämtliche Gliedstufen der Vorzeit sich zu einer höher geordneten peripher-gebundenen Geistesepoche zusammenschließen, von der sich das Mittelalter als die entsprechende zweite Stufe zentral-geistiger Besinnung abhebt. Obwohl diese Frage schon durch die bloße Gegenüberstellung der beiden Epochen bejaht werden dürfte, mögen ein paar Beispiele näher zeigen, wie eindeutig sich die Beziehung zwischen Vorzeit und Mittelalter gestaltet. Bei der unlösbaren Verknüpfung der Begriffe Mittelalter, Kirche und Christentum liegt es nahe, vom neuen, vom christlichen Gottesbegriff auszugehen. Danach ist Gott das „ a b s o l u t " , das „transzendent" Geistige, also ein von der Welt geschiedenes, von aller sinnlichen. Erfahrung abgelöstes und diese überschreitendes Prinzip. Dagegen blieb die vorzeitliche Naturreligion als solche naturverbunden; auch in der höchsten Gestalt des Sonnen-Erdkults blieb das religiöse Bewußtsein so unmittelbar der sinnlichen Naturerfahrung verhaftet, daß eine „ D a r s t e l l u n g " der höchsten göttlichen Gewalten gar nicht in Frage kam. Geht später der Grundgedanke der kosmischen Ehe, der Kerngedanke der bäuerlichen Naturreligion verloren und verlieren die vielen, immer stärker differenzierten und 40
individualisierten Naturgottheiten ihren Naturgrund unter den Füßen, so ist auch diese an sich bedeutsame Auflösung der reinen Naturreligion noch keineswegs als eine Wendung zu der christlichen, reinen Geistesreligion zu verstehen. Ohne Berücksichtigung der nordischen Vorzeit bestimmte Hegel die beiden ersten Stufen der „Weltgeschichte" dahin, daß die erste das „Versenktsein des Geistes in die Natürlichkeit", die zweite „das Heraustreten desselben in das Bewußtsein seiner F r e i h e i t " darstelle. Ein Seitenblick auf den in der griechischen Philosophie schon bei den Vorsokratikern (Xenophanes) ausgebildeten rein geistigen Gottesbegriff zeigt, wie viel klarer die beiden ersten Stufen des historischen Prozesses in den abendländischen Epochen Vorzeit und Mittelalter als in der Abfolge A n t i k e — M i t t e l alter hervortreten. Weitere Beispiele für die radikale Wende vom periphernaturhaft zum zentral-geistig gebundenen Zustand der historischen Bewegung liegen zum Greifen nahe. Wenn wir von einer Kultur des vorzeitlichen „Bauerntums" reden, ist damit gesagt, daß der Bauer, dessen Lebenskreis sich in engster, schöpferischer Verbundenheit mit der Natur schließt, zugleich den reinen Kulturtypus und vollgültigen Kulturträger unserer Vorzeit darstellt. Auch im spätgermanischen Altertum verwandelte sich nicht jeder Bauer in einen abenteuerlichen Krieger, denn sonst gäbe es nicht die zahllosen Beispiele für das Fortleben der vorzeitlichen Naturreligion im heutigen Bauerntum. Spaltet sich aber zuletzt von der wohl nach wie vor tragenden bäuerlichen Kulturschicht eine dünne kriegerische Herrenschicht ab, oder begeben ganze Stämme sich auf die Wanderschaft, so mag in dieser Loslösung aus der ursprünglichen Naturverbundenheit ein bedeutsames Anzeichen für die nahe Geisteswende zu erblicken sein. Aber auch dann ist der neue Typus des naturentwurzelten und ambulanten, rühm- und beutelustigen Kriegertums immer noch grundverschieden von dem neuen, mittelalterlichen Menschen, so wie auch die in heldenhafter Selbstzucht und Askese gewonnene, aber ziel- und richtungslose Freiheit nicht das geringste mit der weltflüchtigen Askese des Mönchtums und mit der 41
im Gottesbewußtsein ruhenden Freiheit des Christenmenschen zu tun hat. Daß der Gedanke eines nationalen Staates unseren frühen Ahnen unbekannt blieb, erklärt sich wiederum aus der peripher-gebundenen Struktur der Epoche. Das streng regulierte soziale Bewußtsein beschränkte sich auf die durch Blutsbande bedingte Sippengemeinschaft, darüber hinaus auf die in der Kult- und Thingordnung gleichfalls konkret gegebene, sinnfällig faßbare Stammesgemeinschaft; dagegen überschritt die Idee eines nationalen Staates, der sich über völlig unbekannte Landstriche und niemals gesehene Menschen erstreckt, die sinnliche Erfahrung und damit das vorzeitliche Sozialbewußtsein. Wenn dagegen auch dem Mittelalter der nationale Staatsgedanke widersprach und namentlich das erste deutsche Kaisertum keineswegs national bedingt war, so erklärt sich das aus der polar entgegengesetzten, zentralgeistigen Struktur des Mittelalters: als Nachfolge des römischen Imperiums und weltliche Ergänzung des Papsttums beanspruchte das mittelalterliche Kaisertum eine universale Herrschaft über die gesamte Christenheit, der gegenüber der nationale Gedanke zunächst als eine sinnlose Beschränkung erscheinen mußte. Aus der bleibenden sinnfälligen Gebundenheit der vorzeitlichen Kultur ist gleichfalls der „prähistorische" Charakter der Epoche zu verstehen, das Fehlen einer Geschichtsschreibung, aber auch die Unbekanntschaft mit der Schrift überhaupt. Daß — nach Hegel — in der „Vorgeschichte" keine geistige Bewegung, keine Entwicklung und damit keine Geschichte stattgefunden habe, kann heute nur noch als ein grober Irrtum bezeichnet werden. Eine ganz andere Frage ist aber, ob das unablässige geistige Werden, das das komplizierte periodische System der Vorzeit bedingt, auch irgendwie zum Bewußtsein kam, und ob der Geist unserer frühen Ahnen nicht vielmehr deshalb ahistorisch geartet war, weil er dem sinnfällig erlebbaren Augenblick, der konkreten Situation des Hier und Jetzt verhaftet blieb. Schon aus diesem^ Grunde fehlte eine Geschichtsschreibung, aber auch die Kenntnis einer ton- und bildlosen, sym42
bolischen Lautschrift, die als solche viel zu stark von Her Wirklichkeit abstrahierte, um dem konkreten Bedürfnis entsprechen zu können. Deshalb galt nur die lebendige, mündliche. Überlieferung — das „Singen und Sagen" —, während die auf den Kult bezogenen Felszeichnungen der schwedischen Bronzezeit eine Art Bilderschrift darstellen. Sehr bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, daß die erst spät — im 3. Jahrhundert n. Chr. — aus fremden Alphabeten entstandene Runenschrift eine reine Epigraphik darstellt, d. h. an bestimmte, konkrete Gegenstände wie Spangen, Waffen, Denksteine gebunden bleibt, über die sie eine Aussage machen, z. B. von wem sie angefertigt oder für wen sie errichtet wurden. Einen völlig anderen Sinn erfüllt die erst seit dem Mittelalter und durch die Kirche verbreitete Schrift. Im Gegensatz zu den - Runeninschriften, die einem bestimmten Gegenstand dienten, war das Kirchenbuch ein Gegenstand, der selbstlos einer bestimmten Schrift, der Heiligen Schrift, diente: der Festlegung und Verbreitung einer aller Wirklichkeitserfahrung entrückten, aus dem Jenseits offenbarten und diktierten absoluten Wahrheit. Und während die Runeninschriften in den vertrauten Volkssprachen abgefaßt wurden, bediente die Schrift sich des Kirchenlateins, der „Buchsprache" — wie es im alten Norden hieß —, als der geheiligten, gleichsam aus dem Jenseits tönenden Sprache Gottes. Nach dieser Deutung handelte es sich nicht um eine „Überfremdung" aus dem Süden, nicht um ein von außen herantretendes Fremdes, das die mittelalterliche Geisteswende hervorrief, sondern umgekehrt: nach dem bereits erfolgten Verlust der in der Vorzeit möglichen inneren Bindungen griff die erwachte transzendentale Sehnsucht aus innerstem Bedürfnis nach dem Fernen und Fremden, weil dieses von vornherein die Würde des absolut, des jenseitig Geistigen zu beanspruchen schient So wurde jenseits der Alpen das ferne Rom als die herrschende geistige Mitte der universalen Christengemeinschaft anerkannt, und so erschien auf den mittelalterlichen Radkarten das noch fernere Jerusalem als die heilige Mitte des Weltalls. Wie tief innerlich diese historischen Erscheinungen begründet sind, zeigt ihre 43
merkwürdige Wiederholung in der Individualentwicklung. Denn auch dort erfolgt nach dem Abfall des Kindes von der geheiligten Muttersphäre und nach den kritischen Pubertätsjahren regelmäßig die Begegnung mit dem großen Fremden, der in das Leben des Jugendlichen tritt und mit einer absolut gültigen, geistigen Autorität bekleidet wird. Wir greifen aus der Fülle der Entwicklungserscheinungen nur noch die Wandlung der Kunst heraus, weil diese besonders deutlich zeigt, wie unsere Beurteilung eines historischen Phänomens wechselt, je nachdem wir es innerhalb eines unter- oder übergeordneten Entwicklungsfeldes betrachten. Es sei nochmals daran erinnert, wie beispielhaft die krummlinige Ornamentik der nordischen Bronzezeit — des „vorzeitlichen Mittelalters!" — den Durchbruch eines neuen, irrationalen Mittelpunktbewyißtseins veranschaulichte. Aber dieser Prozeß vollzog sich eben innerhalb des ornamentalen Denkens und einer Zierkunst, die den Gegenständen des täglichen Bedarfs äußerlich wie innerlich verbunden blieb. Das hätte an sich nichts zu besagen, weil es auch später und bis in die Gegenwart eine Geräteornamentik gegeben hat; aber entscheidend ist, daß nur in der Vorzeit — oder nur noch in der Bauernkunst — die tiefsten und feinsten Regungen der künstlerischen Phantasie durch die Form des Zweckgeräts ausgelöst wurden, nur dort die künstlerische Verherrlichung des Zweckgedankens die Führerschaft in der Rangordnung der Kunstgattungen bestimmt. Hier zeigt sich der epochale Unterschied zum Mittelalter, in dem durchaus nicht die Geräteornamentik, sondern die zweckentbundene kirchliche Baukunst, die Kirche als „die bauende Mutter aller Künste" (Pinder) die Führerschaft übernimmt und erst im Spätmittelalter allmählich wieder verliert. Unter besonderer Berücksichtigung der Baukunst stellt sich noch klarer heraus, daß eine Kunstschöpfung, die im Umlauf der vorzeitlichen Geistesbewegung nur als eine ausgeprägte zentralgeistige B-Form beurteilt werden kann, sofort ihren peripher-gebundenen A-Charakter verrät, wenn wir sie in dem umfassenden epochalen Zusammenhang Vorzeit—Mittelalter—Neuzeit betrachten. Bezeichnen wir das steinzeitliche 44
Hügel- oder Steingrab, den Kultplatz der Bronzezeit und den für eine ruhmwürdige Persönlichkeit errichteten Denkstein der Eisenzeit als die führenden BautYpen der drei Vorzeitstufen, so erscheint uns die oft gigantische und vielfach in sich gegliederte Kultstätte der Stonehengegruppe nicht nur als der absolute Höhepunkt der vorzeitlichen Baukunst, sondern auch als das eindrucksvolle Bekenntnis zu dem zentralgeistigen, weiblich-chthonischen Prinzip in scharfer Abgrenzung von der äußeren Umwelt, aber in polarer Beziehung zu dem von außen eindringenden männlich-astralen Element. Es ist wahrscheinlich, daß diese vorzeitlichen Kultstätten als Sammelpunkt der Gemeinschaft, Thingstätte oder Marktplatz einen praktischen Zweck erfüllten; abgesehen davon aber bezeugen auch diese gewaltigen Sakralbauten unserer Vorzeit ihren bleibend peripher-gebundenen, und zwar naturverbundenen Charakter dadurch, daß sie — dem Naturkult entsprechend — eine o f f e n e Platzgestaltung waren und in diesem Sinn nur einen umhegten Ausschnitt aus der natürlichen Landschaft darstellten. Gegenüber dieser offenen Raumgestaltung und -gliederung, die sich auch bei den heiligen Hainen, den Kultwegen, Kultbergen, Labyrinthen u. dgl. als ein Bauen an und in der Natur erweist, war der christliche Sakralbau ein allseitig in sich beschlossenes, von der natürlichen Umwelt gänzlich geschiedenes und verschiedenes, nur von dem absoluten, göttlichen Geist erfülltes Gehäuse: Sinnbild der neu erschlossenen geistigen Mitte, des nur bei sich selbst verweilenden .und in sich selbst ruhenden Geistes, der sich im Bewußtsein absoluter Freiheit aller peripheren Wirklichkeitserfahrung gegenüberstellt. Für die beschreibende Kunstforschung ist die mittelalterliche Kirche eine mit dem Christentum eingeführte, schon in der Antike vorgebildete Bauform. Nach dem organischen Entwicklungsbegriff ist die mittelalterliche Kathedrale das ragende Sinnbild der nach der Vorzeit vollzogenen geistigen Selbsteinkehr: des „Heraustretens des Geistes aus der Natürlichkeit in das Bewußtsein seiner Freiheit". Danach sehen wir: auf dem kleineren Zifferblatt Steinzeit—Bronzezeit—Eisenzeit erscheint Stonehenge als eine 45
reine zentral-geistige B-Form. Auf dem großen Zifferblatt Vorzeit—Mittelalter—Neuzeit stellt sich die gleiche Bauform als eine typische peripher-gebundene A-Form heraus. Gleichzeitig wird nun verständlich, weshalb wir die Bronzezeit als das „Mittelalter unserer Vorzeit" bezeichneten, denn innerhalb der Vorzeit gebärdet sich die Bronzezeit als die mittlere und mitteständige Geistesstufe ähnlich wie das Mittelalter in dem epochalen Umlauf Vorzeit—Mittelalter— Neuzeit. Daß es sich dabei nicht um eine müßige Begriffskonstruktion, sondern um eine empirisch nachweisbare Stufenverwandtschaft handelt, zeigt die für die Bronzezeit bezeugte höchste Blüte der reinen Naturreldgion, des umfassenden naturreligiösen Begriffssystems, der gewaltigen Sakralbauten und großen Kultverbände. Unter dem gleichen Gesichtspunkt bildet die germanische Eisenzeit trotz aller epochalen Unterschiede die vorzeitliche Parallele zu der historischen Neuzeit. Die mannigfaltigen Desintegrationserscheinungen während der späten Vorzeit, das Auseinander- und Gegeneinandertreten der zuvor zusammengeballten Kräfte, die Aufspaltung des urgermanischen Kulturganzen in die vielen Stämme und Stammeskönigtümer, der fortschreitende Individualismus und die für die späte Vorzeit bezeugte religiöse Skepsis, dieser ganze Abfall von der inneren Tiefenachse ist schon ein frühes Vorspiel von dem, was sich seit dem Zerfall der mittelalterlichen Kulturganzheit zugetragen hat. Auf solche stufenverwandtschaftliche Beziehungen, die sich als ein dichtes Netz aus der Periodizität der historisch geistigen Bewegung ergeben, werden wir noch öfters zurückkommen müssen. Man wird die Frage, ob die heilige geistige Mitte, der das Mittelalter sich zuwandte, als weiblich empfunden wurde, zunächst verneinen wollen. Auch wenn der christliche Gottesgedanke über jeden geschlechtlichen Gegensatz und über jede in dieser Welt mögliche Gegensätzlichkeit erhaben war, bleibt doch der Begriff des Gottvaters und seines Gehäuses, des domus domini, unmißverständlich. Der Menschheit offenbart hat sich Gott in der männlichen Gestalt des Erlösers; das Kreuz — als Sinnbild der erhöhten geistigen Mitte! — trägt seinen Körper, und in der göttlichen Trinität ist kein 46
Platz f ü r eine weibliche Gestalt. UncUdennoch, es gibt auch andere unmißverständliche Tatsachen. Das gleiche Kirchengebäude, das als das Haus des Herrn galt, war Sitz und Sinnbild der Ecclesia, die als eine Frau dargestellt wurde und als die Mutter Kirche die Gemeinschaft der Gläubigen in ihrem Schoß barg. Und seit dem Konzil von Ephesos (431) wurde Maria ausdrücklich als die Theotokos, die Gottesgebärerin, bezeichnet und verehrt, um von da an vielfach als die herrschende Mitte der Apsismosaiken zu erscheinen. Übrigens haben bei der Bekehrung der Germanen zum Christentum Frauen bekanntlich eine bedeutsame Rolle gespielt, während später Dante nur eine Frau, seine Beatrice, dazu auserwählte, ihn durch die höchsten Sphären des Paradieses zu führen. Bevor wir näher auf diese merkwürdigen Widersprüche eingehen, wollen wir die Antithese Vorzeit—Mittelalter noch in einem besonderen Punkt ergänzen, nämlich in der Bewertung des Körpers und der spezifisch männlich-aktiven körperlichen Betätigung. Da es sich jetzt um den generellen Gegensatz zwischen Vorzeit und Mittelalter handelt, wäre es nicht richtig, nur den späten Typus des kriegerischen Helden oder gar des germanischen Berserkers dem des christlichen Missionars und Priesters gegenüberzustellen. Immerhin zeigte sich die einseitige Bewertung des peripher beweglichen, männlich aktiven Prinzips nicht nur in der Verherrlichung von Krieg und Kampf, sondern zu den Ruhmestiteln des Mannes gehörte überhaupt die körperliche Kraft und Geschicklichkeit in Spiel und Sport, die — nachweisbar im Zusammenhang mit dem Kult — von jung und alt, von Bauern, Königen und Göttern, im Diesseits und im Jenseits geübt wurden. Allgemein wichtiger ist bei der Beurteilung der vorzeitlichen Bauernkultur die einzigartige Bewertung der produktiven körperlichen Arbeit, die z. B. beim Pflugbau in den Bereich des Kults erhoben werden konnte; es ist bekannt, daß die Bedenken der heidnischen Bauern gegen die Annahme des Christentums nicht zuletzt auf der Zumutung beruhten, einen bestimmten Tag, den Sonntag, ausgerechnet durch Einstellung der Arbeit zu heiligen. Dagegen war für einen Thomas von Aquino die Arbeit so bedeutungs47
los wie das Essen und Trinken, und noch Luther rechnete neben dem Fasten und Wachen auch das Arbeiten zu den Werken, die den innerlichen Menschen nicht berühren. Schon aus solchen Beobachtungen geht hervor, daß mit der mittelalterlichen Hinwendung zu einer abstrakt-geistigen Mitte der Akzent logischerweise von dem peripher-männlichen, aktiv-beweglichen auf das zentral-beharrende, passiv-weibliche Prinzip verschoben wurde. Während der heidnische Germane ¿eine Waffen mit ins Grab bekam und auch im Jenseits seine kriegerische Tätigkeit fortsetzte, entsteht im frühen Christentum die Darstellung der menschlichen Seele in Gestalt einer Frau mit ausgebreiteten Händen, d. h. in der Haltung der Orante, die so oft auch der Mutter Gottes oder dem Bild der triumphierenden Kirche zugedacht wurde. 1 In der später üblichen Gebetshaltung des Knienden mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf wird, jede aktive B e ziehung zur Umwelt verneint; in seiner Selbsteinkehr kehrt der Gläubige gleichsam wieder zu seinem pränatalen, im Mutterleib geborgenen Zustand zurück. Und mögen auch die Vertreter der Ecclesia militans im germanischen Norden streithafter Natur gewesen sein, so konnte die neue Lehre zunächst schon deshalb als befremdend und bedenklich erscheinen, weil das betont weibliche Gewand des christlichen Priesters und Mönches jede männliche Aktivität verleugnete. Es ist nicht nötig, sich allzu weit in das Labyrinth der theologischen Spekulation, der volkstümlichen Vorstellungen und der oft heretischen alchymischen Lehren zu begeben, um sich zu vergegenwärtigen, wie das Mittelalter, seiner eigenen zentralgeistigen Struktur gemäß, in auffallendem Widerspruch zum Wortlaut der Evangelien immer wieder und in immer stärkerem Maße zu einer Heiligung, wenn nicht Vergöttlichung des weiblichen Prinzips schreitet. Obwohl es sich hier nicht um die Entwicklungserscheinungen im antiken Christentum handelt, ist doch daran zu erinnern, daß schon die oft reichlich abstruse christliche Gnosis den göttlichen Personen wiederholt eine weibliche Gestalt zuordnet und die geschlechtliche Anti hese in den Gedanken der Schöpfung und der Erlösung hineinträgt. So ist in der Lehre des 48
Valentinus, des bedeutendsten gnostischen Lehrers im frühen 2. Jahrhundert, eine ganze Reihe von Paarungen vorgesehen, bis die Erlösung dadurch vorbereitet wird, daß der Bythos (der Abgrund, die Tiefe) mit der Sophia (Weisheit) den Christos erzeugt, der sich mit dem weiblich gedachten Heiligen Geist vermählt. Aus beider Vereinigung geht der auf Erden erscheinende Jesus hervor. In der Lehre der Ophiten erscheint die Sophia auch als die Schwester und zugleich als die Braut Christi. Während Paulus die Maria überhaupt nicht erwähnt, findet sich schon bei ihm die später geläufige Vorstellung von der geheimnisvollen Ehe zwischen Christus und der Kirche. Nach dem Konzil von Ephesos setzte sich aber die Verehrung der Mutter Gottes durch, und im Mittelalter ist es die nur in den ältesten Apokryphen ausführlicher erwähnte, konkret weibliche Gestalt der Maria, die über die abstrakt begriffliche Ecclesia oder Sophia und die zahlreichen weiblichen Heiligen oder Personifikationen hinaus das tief innere Bedürfnis nach einer weiblichen Ausgestaltung der zentralgeistigen Symbolik erfüllt: als Königin der Heiligen, Königin des Himmels, als die mater und zugleich die sponsa Dei und als die zweite Eva zu Christus, dem zweiten Adam. In der Krönung Maria findet der mystische Ehebund seine höchste Bestätigung: „Es ist der Augenblick, da nach langer Trennung der himmlische Bräutigam seine Braut heimführt zu nie endendeiv Vereinigung und ihr die Krone der unlösbaren Verbindung aufs Haüpt setzt" (Sauer). Das mögen kühne theologisch-spekulative Gedanken scheinen, aber diese entsprechen zugleich so sehr dem volkstümlich religiösen Empfinden, daß wir zweifellos von einer allgemeinen Ergänzung der christlichen Gottheit durch die weibliche Gestalt der Maria reden müssen. So klagt Luther in dem wieder spezifisch männlichen Zeitalter der Reformation: „aber nun findet man wohl etliche, die bei ihr (Maria) wie bei einem Gott Hilfe und Trost suchen, daß ich besorge, es sei Abgötterei jetzt mehr in der Welt, denn je gewesen ist" (Luther in seinem Magnifikat). Was bei diesen Entwicklungserscheinungen vor allem interessiert, ist eben die in den christlichen Gottesbegriff hineingelegte geschlechtliche Polarität und die zentrale Stellung, 4
Scheltema, Geistige Mitte
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die dabei der göttlich-weiblichen Gestalt zuerkannt wurde. Wiederholt wurde dabei auf ältere, vorchristliche Gedanken zurückgegriffen. Als Anregung zu dem mystischen Brautverhältnis gilt das Hohelied Salomonis, Hochzeitslieder, die nachträglich zu der Beziehung zwischen Christus und der Gemeinde oder der Seele umgedeutet wurden. Wie gesagt, wurde in der Marialogie des Mittelalters Christus auch als der zweite Adam, Maria als die zweite Eva gedeutet. Bezeichnenderweise tritt aber auch die solar-tellurische Gegensätzlichkeit hinzu: nicht nur im frühen Christentum wurde Christus vielfach mit der Sonne verglichen oder sogar verwechselt, auch im nordischen Mittelalter galt die Sonne als Sinnbild Christi. Ihm gegenüber wurde der Mond als Sinnbild der Kirche sowie der Maria aufgefaßt, die aber durch Augustin als die jungfräuliche, noch nicht durch den Regen befruchtete Ackererde — illa terra virgo nondum pluviis rigata — bezeichnet worden war. Hier wird verständlich, wie leicht sich der Anschluß an die Symbolik gerade auch der alten nordischen Naturreligion vollzog, und wie unlösbar beide Symbolgruppen ineinanderfließen mußten. Wohl am auffallendsten geschieht das bei dem Verkündigungsmotiv: Maria sitzt in einem umhegten Gärtlein oder in ihrem Kämmerlein, der Engel Gabriel tritt ein und spricht den Gruß, während der von Gottvater gesandte Heilige Geist in Gestalt der Taube auf gojdenem Lichtstrahl in den jungfräulichen Bezirk eindringt. Ohne noch die Tatsache zu berücksichtigen, daß auch der Gott Freyr einen Diener, den als Sonnenstrahl gedeuteten Skirnir, zu der Gerd schickte, oder daß der Vogel ein bekanntes Sonnensymbol in der Vorzeit war, kommt das Bild des sicher umhegten, weiblidhchthonischen Tabubezirkes, in den von außen das männlichastrale Element eindringt, uns so geläufig vor, daß wir von einer neuen, vergeistigten Wiederholung des uralten Dornröschenmotivs, der auf der Stonehenge-Kultbühne vollzogenen kosmischen Ehe reden dürfen. Wie der Gedanke der mystischen Ehe Christi wird hortus clausus oder conclusus der Verkündigung Hohelied zurückgeführt, aber die Übereinstimmung Grundgedanken der nordischen Naturreligion ist 50
auch der auf das mit dem so groß,
daß auch nach dort verbindende Fäden mit Sicherheit anzunehmen sind. Das heißt selbstverständlich nicht, daß das biblische und christliche Verkündigungsmotiv aus dem nordischen Stonehengegedanken abgeleitet werden könnte. Die Frage ist aber, ob die im Volksglauben lebendig gebliebene Symbolik der Naturreligion nicht die Verbreitung des Madonnenkults wesentlich erleichtert, dazu aber auch die Bildung zahlloser vorzeitlich-mittelalterlicher, heidnischchristlicher Mischformen begünstigt hat. Es ist "bekannt, wie die Kirche die alten Naturfeste, Kultstätten und Kultbräuche übernahm und mit einem christlichen Sinn erfüllte, um, sie unschädlich zu machen. Auch dadurch wurde es möglich, daß so viele Kirchenheilige wie die Barbara, Luzia, Notburga, dazu der hl. Georg und Michael, Leonhard, Martin, Nikolaus u. a. nachträglich die Funktion germanischer Naturgottheiten, d. h. letzten Endes die des früheren kosmischen Brautpaares übernehmen. Unter diesen Umständen war es geradezu unausbleiblich, daß im ländlichen Volksglauben namentlich die Mutter Gottes an die Stelle der Mutter Erde trat und als Schützerin des Wachstums, der Ernte, der Kinder, des Spinnens und Webens, oder durch ihre Namengebung an Kräuter und Bäume, Quellen und Brunnen mit ihr verbunden bleibt. Wie das Marienbild des Fronleichnamsumzuges wurde schon die Nerthus durch die Fluren getragen, um Fruchtbarkeit zu spenden. Das kegeloder dreieckförmige Schema, zu dem besonders das Gnadenbild unserer Wallfahrtsorte so gerne reduziert wird, ist als weiblich-chthonisches Zentralsymbol seit der nordischen Bronzezeit nachweisbar und lebt von dort noch vielfach in den bekannten Varianten der Weihnachtspyramide weiter. Inzwischen gilt unser Interesse hier nicht dieser an sich höchst merkwürdigen Zurückschaltung auf die Vorzeit und nicht den nur im Bauerntum möglichen Formen eines vorzeitlich-mittelalterlichen Synkretismus. Wesentlich für die historische Betrachtung ist vielmehr die wahrhaft „epochale" Wandlung, die die zentral-weibliche Gestalt der Vorzeit im Mittelalter erfährt: in der Maria, der zarten, jungfräulichen, christlichen Gottesmutter wird die fruchtgebärende, liebesfrohe, robuste Gestalt der Nerthus-Freya51
Gerd-Brünhild über die Stufe vorzeitlicher Naturverbundenheit hinaus in einer rein geistigen Sphäre aufgehoben.
Gotik
Was hier über die christliche Heiligung des weiblich-geistigen Prinzips bemerkt wurde, bezieht sich auf die gesamte Epoche des Mittelalters und nicht auf dessen einzelne Entwicklungsstufen. Bei der Erhöhung der Sophia in der christlichen Gnosis, dem Paulinischen Gedanken des mystischen Brautverhältnisses zwischen Christus und der Ecclesia, der Heiligung der Maria seit dem 4. Jahrhundert, handelt es sich sogar um altchristliche Vorstellungen, die durch die theologische Spekulation des gesamten abendländischen Mittelalters übernomfnen und ausgebaut wurden. Ein anderes Bild ergibt sich, wenn wir das Mittelalter nicht als umfassende Epoche auf die Vorzeit beziehen, sondern den historischen Pulsschlag innerhalb des Mittelalters verfolgen und fragen, ob dieses — ähnlich wie die Vorzeit — noch einmal in sich eine gut ausgeprägte zentralgeistige und spezifisch weiblich betonte Stufe enthält. In den dadurch bedingten Perioden des frühen, des hohen und des späten Mittelalters würde dann das hohe Mittelalter der mittleren Stufe der Vorzeit, d. h. der Bronzezeit, periodisch entsprechen, und wie dort ist es auch hier zweifellos die Wandlung der Kunstform, die am eindringlichsten den Prozeß geistiger Konzentration veranschaulicht: in der Vorzeit handelt es sich um die Wende von der geradlinigen zur kurvilinearen Ornamentik, im Mittelalter um den Übergang vom romanischen zum gotischen Bausystem. Wir möchten indessen die kunsthistorische Beurteilung dieser Entwicklungserscheinungen noch einen Augenblick zurückstellen, um gleich auf das überhaupt treffendste historische Beispiel für die Erhöhung der Frau hinzuweisen. Denn der bis zum religiösen Kult erhobene Dienst an der Frau, der ritterliche Frauendienst, entspricht zeitlich und geistig nicht dem frühen Mittelalter, 52
sondern der Frühgotik im späteren 12. und im 13. Jahrhundert. Vor dem späten nordischen Mittelalter im 15. Jahrhundert folgt aber noch im 14. das „mystische" Zeitalter, die höchst potenzierte zentralgeistige und am stärksten weiblich betonte Kulturstufe der gesamten abendländischen Geschichte. Zur Vergegenwärtigung dieses einzigartigen Phänomens genügen einige wenige Angaben. Die höfische Liebeslyrik der provinzialischen Dichtung findet ihre Blüte etwa 1150 bis 1250. Der deutsche Minnesang ertönt gleichfalls seit dem späteren 12. Jahrhundert; - Gottfried von Straßburgs Tristan und Isolde, das Hohelied der deutschen Minne, wurde kurz nach 1 2 0 0 gedichtet. Die neue weibliche Gestalt, die dieses Zeitalter des Frauendienstes und Minnesangs beherrscht, ist die „Frau Minne". Der neue Tanz, der sich neben den alten, kollektiven Reigentänzen durchsetzt und im Norden zunächst als lächerlich abgelehnt wurde, war der Liebestanz und Paartanz als spontaner Ausdruck des persönlichen Liebesgefühls. So wie die Liebeslyrik die ganze Skala von einer derbsinnlichen Erotik bis zum rein geistigen Eros durchläuft, zeigt die Frau Minne Züge, die sowohl an die Erdenmutter wie an die Gottesmutter, an die Frau Venus — wie sie jetzt heißt — , wie an die Jungfrau Maria erinnern. Wenn man bedenkt, daß auf dem kleinen Zifferblatt der Vorzeit, und auf dem des Mittelalters die beiden mittleren Stufen, Bronzezeit und Gotik, unmittelbar strukturverwandt sind, so wird verständlich, weshalb so viele Stoffe, die seit etwa zwei Jahrtäusenden nur noch im ländlichen Volkstum aufbewahrt blieben, jetzt aus der Versenkung hervorgeholt werden und in einer freilich abgeänderten und eben mittelalterlichen Form wieder auferstehen. So verhält es sich mit der neuen Fassung der Brautfahrtsagen; in dem Schwan Lohengrins ist der altgeheiligte Sonnenvogel nur noch zu vermuten, und für Tannhäuser wird der weiblich-chthonische Bezirk zum Venusberg. Eigenartig ist vor allem das Schicksal des Brautfahrtmotivs im Nibelungenepos. Schon Siegfried-Sigurd war seit der Völkerwanderungszeit eine halb mythische, halb historische Gestalt geworden; durch die Einschaltung wei53
terer Personen, des Königs Gunther (Gunnar) und vor allem der Kriemhild (Gudrun), wird der alte naturreligiöse Gedanke nur noch zum Vorspiel endloser historischer und „moderner" seelischer Verwicklungen. Bei der Beurteilung der Gotik ist aber die religiös verklärte Form der Frauenverehrung wichtiger als die sehr bedingte Renaissance des vorzeitlichen Brautfahrtmotivs. Die geschlechtliche Differenzierung wird zu einem geistig vertieften und religiös bestätigten Eros, der vielleicht nur dem Jugendlichen, in dem diese Entwicklung sich so auffallend ähnlich wiederholt, ganz verständlich ist. In ihrer geistig sublimierten Form zeigt sich der Minnedienst als Gottesdienst, der Frauendienst als Mariendienst. Der zuvor abstrakt-begriffliche Gedanke der Ehe zwischen Christus und der Kirche, der Seele oder Maria findet erst seit der Gotik allgemeinere Verbreitung, zugleich aber eine konkretere, erotische Deutung. Der mystische Ehebund wiederholt sich im Brautverhältnis der Nonne zu Christus, ih^em Bräutigam^ die Heilige Jungfrau wird zum Ziel und Zentrum des Frauendienstes, und in ihrem Namen vollbringt der Ritter und Kreuzfahrer seine Taten. In dieser zentralgeistigen Stufe des Mittelalters gelangt die Marienverehrung z. T. auch durch die-Franziskaner zur höchsten Blüte, und zugleich wandelt sich die Mariengestalt: anstatt des zumeist würdigen, älteren oder nach dem Alter unbestimmbaren Typus, der wohl mehr den Begriff der Frau schlechthin veranschaulichte, gibt die Gotik die Maria gerne als junges, liebliches Mädchen, das sich aber schon dadurch als ein lebendiges, natürliches Geschöpf erweist, daß es in den nächsten Jahrhunderten Stufe um Stufe zu einer reifen Frau und Mutter aufwächst. Dabei kann die der Maria zugewiesene zentrale Stelle eindringlich betont werden: an den Kathedralen von Paris und Amiens steht die Maria vor dem mittleren Pfosten der Querschiffportale; in Reims, Straßburg, Freiburg i. Br. dagegen rückt sie zur herrschenden Mitte des westlichen Hauptportals auf, wo sie Christus vom Mittelpfeiler verdrängt. In England bezeugen namentlich die Lady Chapels, die Achsenkapellen der großen Kathedralen 54
(Bristol, Salisbury, Canterbury, St. Albans, Chichester, alle im 13. Jahrhundert) die zunehmende Marienverehrung. Bei der Betrachtung der Vorzeit wurde darauf hingewiesen, daß der Prozeß geistiger Bindung und Lösung sich noch einmal innerhalb der dfei vorzeitlichen Perioden durchsetzt und die Wandlung der geradlinigen Ornamentik der Jungsteinzeit, der krummlinigen Ornamentik der Bronzezeit und der germanischen Tierornamentik bedingt. Obwohl die Unterscheidung gerade dieser untergeordneten Struktur- oder Stiltypen von ganz besonderem kunsthistorischem Interesse ist, durften wir nicht weiter auf diese Erscheinungen eingehen, weil es nur einer umfassenden kunsthistorischen Untersuchung möglich wäre, diesen klein welligen Rhythmus der historischen Bewegung von der Vorzeit bis zur Gegenwart systematisch aufzuzeigen. Zur Vereinfachung unserer Darstellung verzichten wir auch in bezug auf das Mittelalter auf den Nachweis der geistigen Dynamik innerhalb des frühen, des hohen und des späten Mittelalters, obwohl besonders eine klare Unterscheidung der Früh-, Hoch- und Spätromanik im frühen Mittelalter kunstbegrifflich äußerst wichtig ist und wesentlich zum Verständnis der Wende zur Gotik beitragen würde. So ist allein schon aus dem „gebundenen System" des hochromanischen Kirchenbaus die zentralgeistige B-Stufe des frühen Mittelalters abzulesen, weil die Vierung, der Herzraum des Kirchengebäudes, als Mitte und Maß die gesamte, einheitlich durchgeführte Ordnung der Raumteile bedingt. Und so auch ist der zentrifugal gelöste, wildwuchernde Bauschmuck der Spätromamk von der organisch dem Bauwerk eingegliederten gotischen Baubildnerei ebenso verschieden, wie die für das ausgehende frühe Mittelalter so kennzeichnende derbe Erotik sich von dem neuen, geistigen Eros der Gotik unterscheidet. Indessen möchten wir hier nur noch auf eine eigenartige Tatsache hinweisen, die sich mit zwingender Logik aus der fortgesetzten Wiederholung des historischen Rhythmus in sich selbst ergibt. Erkennen wir nämlich in der großen epochalen Abfolge Vorzeit—Mittelalter—Neuzeit das Mittelalter und innerhalb des Mittelalters die Gotik als die zweite Stufe der geistigen 55
Dynamik, so .ergibt sich, daß der zentralgeistige Gehalt des abendländischen Kulturgeistes in der zweiten und mittleren Stufe der Gotik dreifach potenziert erscheint, d. h. daß die Stufe tiefster zentralgeistiger Besinnung innerhalb der Gotik zu erkennen sein muß. Über die zeitliche und begriffliche Bestimmung dieser der Frühgotik folgenden Stufe geistiger Einkehr kann kein Zweifel bestehen, denn hier handelt es sich offenbar um das „mystische Zeitalter" im späteren 13. und dem größeren Teil des 14. Jahrhunderts. Es ist die Zeit, da namentlich die großen deutschen und niederländischen Mystiker in gedrängter Zahl nicht mehr von der kirchlichen Lehre, sondern von dem unmittelbaren, persönlichen Gotteserlebnis künden: Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Johannes Tauler, Jan van Ruysbrock, Geert Groote. Die Zeit der großen Kathedralen ist nun vorüber, ihre Blüte entsprach dem scholastischen ¡Lehrgebäude, nicht der persönlichen, mystischen Gottesschau. Unabwendbar und nicht ohne wiederholten Protest tritt die Kirche als irdische Heilsvermittlerin zurück; bei den Mystikern bezieht sich der Erosgedanke nicht auf die Ehe zwischen Christus und der Ecclesia oder der Maria als sponsa Christi, sondern auf die Sehnsucht der liebenden Seele nach Vereinigung mit Gott. In dieser transzendental gesteigerten „geistigen Minne", die sich aber vielfach der Terminologie der Liebeslyrik bedient, erscheint also die menschliche Seele als die ausdrücklich weiblich betonte geistige Mitte und mag auch hier — nach Meister Eckhart und entsprechend dem Verkündigungsgedanken — der Punkt sein, wo Gott von neuem geboren wird, so wird doch im mystischen Eros zugleich Gott oder Christus als das der Seele polar entgegengesetzte, peripher-bewegliche und männliche Element verstanden. So verfaßte Ruysbrock seine „Zierde der geistigen Hochzeit" unter Anschluß an das Matthäuswort: Ecce sponsus venit, exite obviam ei. Und so mochte nach dem Vorbild der Katherina von Siena vor allem die Frau, zumindest die weibliche Heilige, in der mystischen Ehe mit Christus ihre letzte Bestimmung erblicken. Bei Dante, dem italienischen Zeitgenossen Meister Eckharts, läßt das weibliche Zentralsymbol sich verschieden deuten. Als die Mitte einer großen Rose trägt 56
Beatrice zugleich die Züge der irdischen Geliebten und der Himmelskönigin, ist aber gegenüber der in Virgil verkörperten menschlichen Vernunft Sinnbild der Theologie, aber wohl auch der tieferen seelischen Funktionen. Es ist wie bei Dujandus' Interpretation des Kirchenfensters, das sich nach innen ausweitet als Zeichen, daß der innere Sinn tiefer und weiter ist als der äußere. Dante selber wußte um eine solche Vertiefung der Sinndeutung vom Gegenständlichen zum Poetischen und zum Mystisch-Allegorischen. Es war von der zentralen Auszeichnung der Maria im Bildschmuck der Kirchenportale die Rede. Überhaupt ist zu erwarten, daß die weibliche Signatur der Frühgotik und des mystischen Zeitalters sich besonders deutlich in der Kunst offenbart, und zwar sowohl rein ikonographisch als auch stilistisch und psychologisch. Zu den stark vermehrten Darstellungen der Maria, der weiblichen Heiligen, der Kirche und Synagoge usw. bot die erwähnte Stelle in Matthäus (25) die Gelegenheit, in den fünf törichten und den fünf klugen Jungfrauen am Portalgewände die weibliche Idealgestalt gleich zehnfach abzuwandeln. Dazu kommt die alle Formkonflikte bewußt vermeidende weiche, weibliche Formgebung, namentlich auch in Gestalt des weit nach Norden ausstrahlenden sienesischen Stiles. Freilich ist das der besondere geistige Ausdruck des 14. Jahrhunderts, und diesem gehört auch die äußerlich gar nicht glanzvolle, aber von einer tiefen inneren Glut erfüllte deutsche Holzbildnerei an, die sich — dem Werkstoff entsprechend — von der äußeren, steinernen Diktatur der Kirche loslöst und z. B. in der Gruppe des Christus mit Johannes so ganz den sanften Geist der Bodenseemystik widerspiegelt. Schon im späteren 14. Jahrhundert, im Mosesbrunnen Claus Sluters, erkennen wir eine ganz andere, eine ausgeprägt männliche geistige Struktur. *
So aufschlußreich die ikonographische Betrachtung und psychologische Beurteilung der Kunstentwicklung bleibt, ist es doch wichtiger, die Wende von der Romanik zur Gotik schärfer begrifflich zu erfassen. Eine erschöpfende Würdigung ist in diesem kurzen Überblick allerdings nicht mög57
lieh, aber wie fruchtbar die streng begriffliche Deutung der gotischen Kunstwende sich gestalten kann, mögen einige wenige Beispiele erweisen. Wir gehen zunächst auf den allbekannten Gegensatz zwischen dem gotischen Spitzbogen und dem romanischen Rundbogen ein, obwohl es sich in-beiden Fällen nur um ein besonderes Formelem^nt und keineswegs um den Grundbegriff der Baukunst handelt. Beide Male ist eine rein technische Erklärung möglich und somit aifch üblich: der aus dem antiken Steinbau übernommene Rundbogen ist die konstruktiv einfachste Wölbeform, während erst der Spitzbogen "die Möglichkeit bietet, Raumteile über willkürlich rechteckigem Grundriß einzuwölben, indem man die Bogen über den Lang- und Kurzseiten zu der gleichen Scheitelhöhe emporführt. So berechtigt solche technischen Erklärungen bleiben, berühren sie nicht den rein formalen Charakter und damit die kunsthistorische Bedeutung, die der Rund- und der -Spitzbogen als unzweifelhafte Kunst- und Stilformen beanspruchen. Nach seinem formalen, zugleich ästhetischen, psychologischen und kunsthistorischen Gehalt erscheint uns die romanische Rundbogenarkade als ein allseitig von der Umwelt geschiedener, in sich selbst erhöhter und geschlossener geistiger Ort, also recht eigentlich als Sinnbild der Kirche überhaupt. In den unzähligen Fällen, da die Arkade in der Bildnerei und Malerei durch eine Heiligendarstellung ausgefüllt wird, erkennen wir in ihr noch deutlicher das „geistige Gehäuse", dessen erhöhte Mitte dem Kopfe der heiligen Persönlichkeit entspricht. Werden auf beiden Seiten zwei weitere, niedrigere Arkaden hinzugefügt, so entsteht eine Dreiergruppe, die in der Bau- und Bildkunst immer wieder hervortretende „monarchische Gruppe", die noch eindringlicher den Gedanken der betonten geistigen Mitte veranschaulicht. Verschiebt man diese monarchische Gruppe in der "Tiefenachse oder läßt man sie in der vertikalen Achse um sich selbst drehen, so entstehen Raumformen, und zwar das basilikale Langhaussystem mit tonnengedeckten Mittelung Seitenschiffen bzw. ein Zentralraum mit Kuppelgewölbe und tonnengedecktem Umgang. Schon in der Spätromanik erscheint — ohne technische Er58
klärungsmöglichkeit — der Spitzbogen infolge der gegenseitigen Durchdringung und Überschneidung zweier Rundbogenarkaden. Nach dieser rein formalen Beurteilung ist der Spitzbogen als eine Konjunktionsform zu verstehen, als das Gemeinsame zweier Rundbogen. Zu einer ähnlichen Deutung führt die Einsicht, daß der gotische Spitzbogen nicht wie der romanische Rundbogen über einem, sondern über zwei Mittelpunkten konstruiert wird. Je weiter diese Mittelpunkte sich nach beiden Seiten von der romanischen Bogenmitte entfernen, um so steiler gestaltet sich der Spitzbogen. Nach dieser Betrachtung entsteht der gotische Bogen aus einem Prozeß der Entzweiung, ¿er Aufspaltung oder Differenzierung im romanischen Kern. Im Gegensatz zu dem romanischen Bogen ist der gotische somit b i p o l a r ; er erscheint als die aus einer betonten Zweiheit gewonnene Einheit oder Ganzheit, als Vereinigung zweier gegensätzlicher Prinzipien: als Sinnbild jenes geistigen Eros, den wir aus der theologischen Spekulation und dem Minnedienst des Zeitalters kennen. Es ist tief beachtenswert, daß die Polarisierung deT Kunstform wiederholt und an den genau entsprechenden Stellen des historischen Systems nachzuweisen ist. Für die Bronzezeit, die zentralgeistige Periode unserer Vorzeit, ist die technische Deutung Ringboms heranzuziehen, denn nach dieser werden die Kreis- und Spiralmotive der ersten Stufe des krummlinigen Ornaments mit Hilfe e i n e s Mittelpunktes, die ineinander verschränkten Wellenbandmuster der zweiten Stufe dagegen über z w e i Mittelpunkten gezeichnet. Dort entsprach die neue Form vermutlich der höchsten Blüte des bronzezeitlichen Eros, dem Gedanken der kosmischen Ehe zwischen Himmel und Erde. Und noch einmal wiederholt sich das gleiche Spiel in der zentralgeistigen Stufe der Neuzeit, insofern die für das Barockzeitalter als- Bildfeld, Bogen- und Gewölbeform stark bevorzugte Ellipse nicht einen, sondern zwei Brennpunkte besitzt. Dort handelt es sich um den Durchbruch des barocken Erosgedankens, über den wir noch zu berichten haben werden. An eine erschöpfende Deutüng der gotischen Baukunst ist hier nicht zu denken, aber wir greifen noch ein paar weitere 59
Wesensmerkmale auf, zunächst im Zusammenhang mit dem neuen Raumgefühl. Entspricht die gotische Baukunst der zentralen Struktur des Zeitalters, so kann das nur heißen, daß das Raumerlebnis selber nicht mehr peripher, sondern zentral geartet ist, d. h. daß der Raum kernhaft, von innen nach außen und nicht von außen nach innen erlebt wird. Wir gehen hier nicht näher auf die bedeutsame Folge ein, daß der gotische Kirchenraum sich als eine kernhaft gewachsene, in sich differenzierte Ganzheit grundsätzlich von der romanischen Vielheit isolierbarer Raumteile unterscheidet. Wesentlicher in diesem Zusammenhang ist jedoch, daß das gotische Raumerlebnis nicht mehr durch die peripheren Raumgrenzen bedingt wird, nicht mehr, wie in der Romanik, ein Wanderlebnis ist, und daß damit Wände und Decke des Kirchenraums einen ganz anderen Sinn erhalten. Statt der fest aus Steinquadern gefügten Scheidewand zwischen innen und außen, zwischen dem gotterfüllten Raum und der natürlichen Umwelt, verliert die Raumschale den Charakter einer sicheren Grenzsetzung, Sie kann in den zwischen den äußeren Strebepfeilern eingebauten Kapellen als sekundäre Wand nach außen verschoben werden, kann in den Triforiengalerien scheinbar verdoppelt und damit unbestimmbar werden. Sie kann vor allem aber auch durch riesige Glasfenster ersetzt, beseitigt und entstofflicht werden. Aus dieser Beobachtung ergibt sich die Eigenart der gotischen Fenstermalerei als einer fast besonderen Kunstgattung gegenüber der romanischen Wand- und Buchmalerei cder der erst später bedeutsam hervortretenden Altar- und Tafelmalerei. Indem das gotische Fenster einerseits als Bestandteil der kirchlichen Architektur den Wandgedanken noch in sich enthält, diesen aber gleichzeitig aufhebt und in seiner wandweiten Ausdehnung das Licht einströmen läßt, erscheint es als eine Synthese der beiden gegensätzlichen Elemente, des Innen und Außen, aus deren gegenseitigen Durchdringung als etwas gänzlich Neues und Imaginäres die bunte, figurenreiche Welt der Fenstermalerei aufleuchtet. Bemerkenswert ist hierzu die sekundäre, vom Theologen ersonnene Symbolik des gotischen Kirchenfensters, weil nach ihr die Sofrne als Sinnbild Christi aufgefaßt wird und da60
durch die Wahrheit enthüllt, daß sie in den dunklen Kirchenraum einströmt. Wir sehen, wie eng sich diese Interpretation mit der Vorstellung der mystischen Ehe zwischen Christus und der Ecclesia berührt, wie aber auch der uralte Stonehengegedanke des in den geheiligten Bezirk eindringenden Sonnenlichtes hier seine mittelalterliche Abwandlung erfährt. Eine noch deutlichere Sprache redet das gotische Kirchenportal. Wie so oft schreckt die kirchlich-symbolische Deutung auch in diesem Fall nicht vor Widersprüchen zurück. So deutet sie die Kirchentür in Anschluß an Johannes 10. 9 als den Heiland; als erhöhte geistige Mitte erscheint die Gestalt Christi schon in den häufigen Gerichtsdarstellungen oder als Majestas Domini im Bogenfeld der romanischen Portale oder vor dem mittleren Portalpfeiler der gotischen Kathedralen. Wie erwähnt, kann aber diese Stelle auch der Gottesmutter vorbehalten bleiben, und so gibt es auch.die Deutung der Kirchentür als Sinnbild der Gnadenmutter und Gottesgebärerin, durch die das Heil in die Wek kam; als die porta clausa oder porta caeli, wiederum in Beziehung zu der Heiligen Jungfrau, weil durch deren Leib die Erlösung geschah. Aber maßgebend ist uns doch nicht die abgeleitete theologische Symbolik, sondern der primäre Formbegriff, nach dem die Tür als Eingang zum Kircheninnern mehr noch als das Fenster d i e kritische Stelle ist, an der die innerkirchliche und außerkirchliche Welt, das geistige Jenseits und das natürliche Diesseits sich unmittelbar berühren und ineinander übergehen. Das ist allgemein der Grund, weshalb der abstrakt geistige, steinerne Kosmos der Kirche an dieser ganz besonderen Stelle der äußeren Raumschale am leichtesten naturhafte Form gewinnt und schon in der Romanik zuerst die Türe selber, dann das Kirchenportal an den Laibungen reichen Bild- und Ornamentschmuck erhalten. Sämtlichen innerhalb der Romanik gegebenen Entwicklungsmöglichkeiten stellt sich nun das gotische Figurenportal schon dadurch gegenüber,, daß die abgestufte Laibung sich in ein schräges Gewände verwandelt mit der Folge, daß der Gang von außen nach innen und von den Seiten zur Mitte sich als eine kontinuierlich fließende Bewegung gestaltet. Dazu kommt noch, daß besonders an 61
den französischen Kathedralen die breiten Portaleingängeden gesamten unteren Teil der Westfront für sich beanspruchen; wie die gotischen Fenste? die Kirchenwand e r setzen, bis nur noch die steinernen Stützen und das Maßwerk übrigbleiben, so löst sich die einst gebieterisch der Außenwelt entgegengehaltene Fläche der Westfront in diese Zugänge auf, die wie tiefe Schluchten in den Kirchenkörper hineinführen. Audi wenn wir uns nicht zu einer einseitig sexualistischen Deutung bequemen, müssen wir hier doch feststellen, daß von einer porta clausa nicht gut mehr gesprochen werden kann, sondern daß die Kirche sich weit der drängenden, natürlichen Umwelt öffnet und diese willig' in sich aufnimmt. Und besonders in diesem Augenblick und an dieser Stelle erkennen wir in der Kirche die „bauende Mutter aller Künste", denn, als die sublime Frucht dieser organischen Verbindung zwischen Kirche und Umwelt sind vor allem die Gewändefiguren des gotischen Kirchenportals zu verstehen, die sich gegenüber der spätromanischen Portalbildnerei zugleich durch ihre ganz neue, persönliche Lebendigkeit und ihre organische Bindung an die Architektur auszeichnen. Die hier ausgewählten Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, wie eindeutig unser Begriff der gotischen Baukunst dem des gotischen Eros und der gotischen Mystik entspricht, wie aber zugleich der Grundgedanke der vorzeitlichen Naturreligion hier wieder zum Durchbruch gelangt. Freilich geschieht das in einer höheren, in der mittelalterlich geistigen Ebene, indem die Wechselbeziehung zwischen Peripherie und Mitte nicht mehr als eine in der Natur gegebene, solartellurische begriffen wird, sondern als die das gesamte Naturgeschehen transzendierende Spannung zwischen Gott und Natur, Jenseits und Diesseits, Kirche und Welt. Aber eben da liegt die Parallele zur Stonehengesymbolik und die enge Beziehung zum gotischen Eros und zur Mystik, daß die Beziehung zwischen dem zentralen und dem peripheren Prinzip nicht wie im frühen Mittelalter als eine bloße Gegensätzlichkeit verstanden wird, sondern als echte Polarität; nicht als eine starre und statische Gegebenheit, sondern als eine ständig sich vollziehende dynamische Spannung. 62
Das absolut Geistige wird in der Kirche nicht mehr gesetzt und der Natur entgegengehalten, sondern beide, Geist und Natur, Gott und Mensch treten zueinander in eine lebendige, ganzheitliche Beziehung, in jene Konjunktion, die wir als Eros bezeichnen, und aus «dem sowohl die Gotik wie die Mystik emporblüht. Nach einer dem Scholastiker geläufigen Vorstellung haben wir es mit einer zwiefachen Bewegung zu tun, die sich aufwärts vom Menschen zu Gott, abwärts von Gott zum Menschen vollzieht. Wir können sagen: dort, wo diese beiden Bewegungen sich kreuzen, steht die Gotik und steht der gotische Mensch. *
Bevor wir uns den späteren und neuzeitlichen Entwicklungserscheinungen zuwenden, ist es angebracht, einen Blick auf die kulturhistorische Uhr zu werfen, um uns zu vergegenwärtigen, welche Stunde sie geschlagen hat. Aus der Tatsache, daß der Prozeß geistiger Zumittung und Abmittung sich in sich selbst in größeren und kleineren Wellenabläufen wiederholt, folgt die eminent dialektische Beschaffenheit der Geschichte und die Relativierbarkeit jeder begrifflichen Deutung eines Kulturphänomens. Ein Lagerfeuer des diluvialen Jägertums, ein Wohnbau des neolithisdhen Bauern, eine Kultstätte oder auch ein krummliniges Muster der Bronzezeit kann so als Vorbild und Sinnbild schöpferisch geistiger Einstülpung erscheinen, oder aucft als ein noch durchaus äußerlich, natur- und zweckhaft gebundenes Kulturgebilde, je nachdem wir dieses in ein engeres oder weiteres Entwicklungsfeld eingliedern. Die mittelalterliche Hinwendung zum absoluten Gottesbegriff muß zunächst wohl als das absolut gültige Beispiel zentralgeistiger Besinnung bezeichnet werden. Auch da aber müssen wir unser Urteil revidieren, sobald wir die gotische Verinnerlichung, VeTgeistigung und Befreiung erkennen, die sich diesmal nicht gegen die äußere Naturwirklichkeit durchsetzt, sondern zuallererst gegen die gleichfalls konkrete, äußerlich gegebene, steinharte Realität des Kirchengebäudes und des kirchlichen Dogmas: bis zu jenem innersten Punkt der Seele, an dem nach der Vorstellung des Mystikers die lebendige Verbindung mit Gott sich vollzieht. Die schon 63
angedeutete Folge ist aber, daß die zentralgeistige Struktur des mystischen, des 14. Jahrhunderts sich nicht nur innerhalb der Gotik oder des Mittelalters, sondern auch innerhalb des gesamten epochalen Zusammenhanges Vorzeit— Mittelalter—Neuzeit als eine a b s o l u t e , nicht weiter relativierbare erweist, d. h. daß sämtliche vorher möglichen zentralgeistigen Bindungen sich in bezug auf diese Geistesstufe irgendwie als äußerlich bedingt herausstellen, alle späteren Bindungen dagegen als das Ergebnis zentrifugaler Aufspaltung. Freilich gilt auch diese Bestimmung nur, wenn wir das Feld unserer Beobachtung auf die Kulturgeschichte seit der frühen Vorzeit und bis zu der kritischen Gegenwart, dem vermutlichen Ende der Neuzeit beschränken. Richtet sich das Auge über diese Grenzen hinaus auf die noch nicht systematisch erfaßbaren urzeitlichen und die noch unbekannten künftigen Entwicklungserscheinungen, so mag wohl auch die christliche Mystik des 14. Jahrhunderts eine andere Beurteilung erfahren.
Spätgotik Für den geschärften kunsthistorischen Blick setzt die zen trifugale Bewegung schon in der späteren Hälfte des 14. Jahrhunderts ein, bestimmt dann aber die Physiognomie der nordischen Spätgotik im 15. Jahrhundert. Die Abwendung von dem steinernen Kosmos des Kirchengebäudes und deT Untergang der universal umfassenden Kathedralkunst sind an sich noch nicht entscheidend; schon das frühere 14. Jahrhundert war kein eigentlich bauendes Zeitalter mehr; so wie der Mystiker sich in seinem persönlichen Gotteserlebnis von dem scholastischen Lehrgebäude loslöst, sind aiuch die vorzüglichsten Schöpfungen der deutschen Plastik im 14. Jahrhundert wie die holzgeschnitzten Vesperbilder oder ChristusJohannesgruppen schon stofflich nicht mehr am Kirchengebäude beteiligt. Diese Befreiung der Kunst von der Kirche 64
bzw. von der kirchlichen Architektur setzt sich fort, auch im Steinbildwerk. 'Claus Sluters Formgebung setzt sich durch gegen den weichen und weiblichen Stil der Mystik; der Blick wendet sich von innen nach außen, die geistige Innenschau wandelt sich zur Naturschau in den überaus männlichen Gestalten seines „Mosesbrunnens" in Dijon, von denen namentlich der Moses eine völlig in sich ruhende, energisch plastische, zugleich fast aggressiv auf die Umwelt bezogene Persönlichkeit gewinnt. Ohne hier eine schärfere Grenze gegen die Spätgotik des 15. Jahrhunderts zu ziehen, haben wir doch diese letzte, der Romanik und der Gotik zuzuordnende Periode des Mittelalters gesondert zu betrachten. Es ist die Zeit eines emsigen bürgerlichen Baubetriebes, der in den städtischen Rathaus- und Wohnbauten zwar immer noch vom geistigen Kapital der Kathedralbauten zehrt, dieses aber zugleich in kleinere Münze umprägt. In seiner ausführlichen Darstellung der deutschen Plastik des späteren Mittelalters und der Renaissance hat Pinder besonderes Gewicht auf die Ablösung der Bauhütte durch die bürgerliche Meisterwerkstatt gelegt. Das ist ein unmißverständliches Beispiel zentrifugaler Entbindung: die Bauhütte des gotischen Münsters, die als eine zentral umfassende Organisation Arbeiter und Künstler von weither an sich zog zum gemeinsamen Dienst an der Mutter Kirche, verliert ihre bindende Kraft und spaltet sich auf in eine Vielheit bürgerlicher Werkstätten, deren Meister uns zum erstenmal mit Namen und in großer Zahl als die uns wohlbekannten Maler und Schnitzer entgegentreten. Das Tätig*keitsfeld dieser Künstlerpersönlichkeiten ist aber die Altarmalerei und -Schnitzerei, die zwar nicht erst im 15. Jahrhundert entstehen, aber doch in ..dieser Spätgotik eine solche Blüte erleben und so sehr die künstlerische Energie auf sich ziehen, daß wir sie als Kennformen des Zeitalters betrachten dürfen. Wesentlich ist, daß die oft gewaltigen nordischen Flügelaltäre, vom Genter Altar der van Eycks bis zum Isenheimer Altar Grünewalds, in der umfassenden Darstellung des Heilsgedankeas den kirchlichen Bau- und Bildorganismus geradezu ersetzen. Obwohl sie noch zum kirchlichen Mobiliar gehören, sind diese Altäre als selb8 Scheltema, Geistige Mitte
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ständige, vom Kirchenbau losgelöste Organismen zu verstehen, die nach fernen Ländern transportiert werden konnten und die den gebauten Kosmos der Kirche nur noch als ferne und unverbindliche Erinnerung in sich tragen, wenn sie diese in den deutschen Schnitzaltären oder auf den gemalten Altartafeln als schmückende Umrahmung verwenden. Es ist begreiflich, daß man im Hinblick auf diese weitgehende Befreiung der bildenden Künste, die sich schon technisch in der Erfindung der Ölmalerei" offenbart, die gesamte Kunst der nordischen Spätgotik vielfach bereits zu der "Neuen Zeit rechnet, um so mehr, als die gleichzeitige Kunst des Quattrocento in Italien zweifellos schon zur Renaissance gehört. Dennoch ist die Auffassung der niederländischen und deutschen Altarmalerei des 15. Jahrhunderts als einer frühen, „primitiven" Stufe der Malerei unserer Neuzeit grundsätzlich verfehlt und nur geeignet, den Begriff der nordischen Kunstentwicklung im 16. Jahrhundert — der Aufgabe Dürers! — zu verwirren. Wie insbesondere die nordische Baukunst des 15. Jahrhunderts im Gegensatz zu der italienischen Frührenaissance seit Brunelleschi beweist, ist die Spätgotik in der Tat eine späte Abwandlung der Gotik. Die Malerei dieser Zeit ist aber durchaus keine anfängliche, primitive Kunstübung; sondern nach der romanischen 'Wandmalerei und der gotischen Glasmalerei ist die spätgotische Altarmalerei die letzte, reife Frucht, die dieser „Herbst des Mittelalters" (Huizinga) hervorgebracht hat. Auf den inneren geistigen Rhythmus der Spätgotik, die z. B. in Flandern deutlich nachweisbar in dem Werk Jan van Eycks, Rogier van der Weydens und Hieronymus Boschs zutage tritt, können wir hier nicht näher eingehen. Vermerkt sei aber, daß ein so unbefangen urteilender Forscher wie Pinder in Hinsicht auf die beiden ersten Stilphasen der Spätgotik ein Bild gebraucht, das unserem Begriff geistiger Zumittung vollkommen entspricht. Er weist nämlich nach, daß, wie so oft in der Kunstentwicklung, die „Klappe nach der Außenwelt" zunächst weit geöffnet wird, um ein bestimmtes Maß von Erscheinungswelt neu einzulassen, dann aber wieder geschlossen wird, damit der aufgenommene Wirklichkeitsstoff innerlich verarbeitet werden 66
kann. In bezug auf die letzte Stufe der Spätgotik, die in der deutschen Sondergotik noch über die Jahrhundertwende hinausgreift, ist zu bemerken, daß die extreme Dynamik, die radikalen Entbindungs- und Entladungserscheinungen namentlich in der deutschen Holzbildnerei des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts völlig unverständlich bleiben, wenn man diese Kunst schon der frühen Neuzeit zurechnet oder sogar als „barock" bezeichnet, statt in ihr die letzte, expressionistisch geartete Stilstufe des Mittelalters zu erblicken. Es sei nicht geleugnet, daß in dem eigentümlichen spätgotischen Naturalismus schon die neue Weltbejahung des kommenden Zeitalters angelegt und vorbereitet erscheint. Auf dieses auch sonst wiederholt zu beobachtende Phänomen des geschichtlichen „Vorgriffs", der Vorwegnähme späterer Möglichkeiten in der Endstufe eines Entwicklungsablaufs, hat auch Huizinga gerade im Zusammenhang mit der Kultur des ausgehenden Mittelalters hingewiesen. Selbstverständlich ist es dem Kunstforscher möglich, den grundlegenden Unterschied zwischen dem spätmittelalterlichen und dem frühneuzeitlichen Naturalismus — etwa zwischen einem Frauenbildnis van Eycks und Holbeins — genau zu bestimmen. Man kann sich aber allgemeiner den Unterschied zwischen beiden Arten von Wirklichkeitsbejahung vergegenwärtigen: Wenn nach Beendung des Gottesdienstes der Gläubige sich aufmacht, die Kirche zu verlassen, kommt der Augenblick, da er durch die geöffnete Kirchentür die Welt draußen vor sich ausgebreitet sieht. Dieser Blick in die Welt, aber noch vom kirchlichen Standort und gleichsam im Rahmen des Kirchenportals — solche Darstellungen sind in der Tat häufig! — kennzeichnet den spätgotischen Naturalismus. Geht der Heimkehrende aber weiter und überschreitet er die Schwelle der Kirchentür, so befindet er sich plötzlich inmitten dieser Welt, auf die er sich als handelnde und leidende Persönlichkeit unmittelbar bezogen fühlt. Dieser unmittelbare^, persönlichen Weltbeziehung entsprechen der Naturalismus und Realismus der beginnenden Neuzeit. Im ersten Fall liegt die Welt als eine divergierende Mannigfaltigkeit im Strahlungsfeld eines Kegels, dessen Spitze im 5
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Kircheninnern liegt. Im zweiten Fall liegt die Kegelspitze vielmehr in endloser, dem Beschauer entgegengesetzter Ferne, und die weltliche Mannigfaltigkeit konvergiert scheinbar auf diesen gemeinsamen Bezugspunkt: auf den Fluchtpunkt der regelrichtig durchgeführten geometrischen Perspektive.
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NEUZEIT
In der reinen, endogenen Entwicklungsreihe Vorzeit—Mittelalter—Neuzeit ist die Neuzeit als Ganzes 'die zentrifugale Epoche, das Zeitalter geistiger Entmittung. Nach der mittelalterlichen Geborgenheit in sich selbst tritt der Geist wieder aus sich heraus, um sich im Außen zu verwirklichen, freilich auch — aber das gilt nur vom mittelalterlichen Standpunkt — zu verlieren. Jedenfalls ist die Fülle, die die Neuzeit hervorgebracht hat, so unermeßlich, daß wir nicht von einem geistigen Verlust reden und ein absolutes Werturteil aussprechen dürfen, das keiner historischen Stufe gegenüber berechtigt ist. Eher kann uns das neue Zeitalter überhaupt die innere Berechtigung der zentrifugalen Geistesstufen verdeutlichen, die darin liegt, daß mit der Abwendung vom sinnlich Wirklichen immer die Gefahr eines geistigen Leerlaufs droht und einer bloßen Verneinung der Wirklichkeit, die noch keineswegs deren geistige Durchdringung und Überwindung bedeutet. Gewiß hatte schon der abstraktgeistige kirchliche Kosmos sich bis zur Selbstauflösung mit Wirklichkeitsstoff erfüllt; jetzt tritt der Mensch ohne kirchliche Rückendeckung der Natur- und Lebenswirklichkeit als geistige Persönlichkeit gegenüber, als Subjekt, das die ihm zugehörige Objektwelt zu begreifen und zu deuten hat. Die allgemeinen Wesensmerkmale der Neuzeit sind uns so gegenwärtig, daß hier eine kurze Charakterisierung genügt. Als ein Zeitalter zentrifugaler Entladung kennzeichnet sich die Neuzeit durch die bis in die Gegenwart fortgesetzten Entdeckungszüge, kolonisatorischen Gründungen und Massenemigration. Es ist eine von innen nach außen gerichtete Dynamik, die an die letzte, strukturverwandte Stufe unserer Vorzeit erinnert, an die Ausstreuung germanischer Stämme aus dem nordischen Kernraum. Nur führte dieser Streuungsprozeß der späten Vorzeit zur Germanisierung Europas, während die epochale Wiederholung die Erschließung und Besetzung der gesamten Erde durch die abendländische Kultur zur Folge hat. Trotzdem ist diese Wiederholung auffallend: 69
wie gesagt, wurde zum zweitenmal seit der Wikingerzeit Amerika endeckt! Im Gegensatz zu den mittelalterlichen Kreuzzügen, die im Namen der Christenheit veranstaltet wurden, und — zentripetal — auf die heilige Mitte des Weltalls (Jerusalem) gerichtet waren, hatte die neue Welteroberung eine ausgesprochen zentrifugale Tendenz. Sie erfolgte von den einzelnen Ländern aus nach allen Richtungen, und zwar wesentlich im Namen, zum Nutzen und zur Ehre der Nationen. Hier zeigt sich die geistige Entladung zugleich als ein Entbindungsprozeß, als ein Auseinander- und Gegeneinandertreten von Kräften: die Kirche tritt als alkin gültiger Kulturträger zurück; an Stelle der in der Kirche vereinten Christenheit treten mehr und mehr die einzelnen Nationen als selbständige leib-seelische Organismen, die sich von da an in endlosen Kriegen gegeneinander durchsetzen und ihren politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Führungsanspruch geltend machen. Ganz allgemein erweist sich die Zuwendung zum Wirklichen und Konkreten als eine unabwendbare Auflösung zuvor gültiger ganzheitlicher Bindungen. Luthers Reformation war der Auftakt zu einer sofort einsetzenden, immer weiterschreitenden konfessionellen Aufspaltung. Die Befreiung der empirischen Forschung von der kirchlichen und theologischen Bevormundung führt zur Entstehung einer Vielheit getrennter und selbständiger wissenschaftlicher Disziplinen. Sehr ähnlich verselbständigen sich die einzelnen Künste; die Baukunst verzichtet auf ihre Suprematie zu Gunsten der bildenden Künste, die eben dadurch f r e i werden, daß sie sich aus der künstlerischen Totalität des kirchlichen Bauwerkes loslösen und in Gestalt des allseitig umrahmten Tafelbildes oder des graphischen Blattes, der freistehenden Sockelstatue oder der Bronze ihre völlige Ungebündenheit bezeugen. Nach dieser Betrachtung war die bewußte Anlehnung an die Antike nicht die Ursache, sondern eine Folge der vollzogenen Strukturwandlung, die sich vielfach auch nachweisbar — z. B. bei einem Brueghel — ganz unabhängig von tler Antike vollzog. Aber vorbildliche Bedeutung konnte nunmehr die Antike, oder genauer die antike Neuzeit seit etwa 500 v. Chi. deshalb gewinnen, weil sie die 70
gleiche, schöpferische Welt- und Lebensbejahung vertrat, um die sich die abendländische Neuzeit bemühte. Das gilt für den Humanismus, für das nicht*mehr geistliche, sondern geistige und menschliche, z. T. national betonte Bildungsideal. Es gilt für die Renaissance in der Baukunst, für die künstlerische Besinnung auf die rationalen Grundlagen des baulichen Gefüges. Und es gilt für die Renaissance in der figürlichen Darstellung, für den Begriff namentlich der menschlichen Gestalt als einer kernhaft gewachsenen, in sich selbst gegliederten und bewegten Ganzheit. Trotz bedeutsamer periodischer Gegenströmungen blieben diese Charakterzüge der Neuzeit so allgemein gültig, daß wir sie bis heute als selbstverständlich empfinden. So behielt der nationale Staat seine Würde als letzte rechtliche und sittliche Instanz. So blieb durch sämtliche Stufen der Neuzeit das Ansehen des vereinzelten Rahmengemäldes — zumindest als Porträt — oder des graphischen Blattes gewahrt. Ebenso selbstverständlich blieb es, daß die einzelnen Wissenschaften selbstherrlich ihren eigenen Weg verfolgten, indem sie jede für sich einen bestimmten Ausschnitt der peripheren, naturhistorischen oder kulturhistorischen Realität zur Untersuchung wählten. So auch blieb die ganze Neuzeit einschließlich des Barockzeitalters und der Romantik eine Zeit fortgesetzter Ausrichtung nach der Antike, eines chronischen Klassizismus und Rationalismus. Um noch einen sehr wesentlichen Zug hinzuzufügen: seit durch die großen Entdeckungen die Kugelgestalt der Erde festgestellt wurde, konnte kein heiliger Ort mehr als die Mitte des Erdkreises oder des Weltalls bezeichnet werden. Seitdem Kopernikus das geozentrische Weltbild durch das heliozentrische ersetzte, verlor die Erde ihre zentrale Würde, und später teilte sogar die Sonne dieses Schicksal. Es ist ein Prozeß fortschreitender Entmittung, dem nacheinander Jerusalem, die Erde, die Sonne zum Opfer fallen, bis sich beute die Annahme eines lokalisierbaren zentralen heiligen Ortes als eine unhaltbare Fiktion herausstellt: in so hohem Grade entspricht das exakt wissenschaftliche Weltbild unserer Weltanschauung, die erkannte physikalische Struktur des Kosmos der geistigen Struktur des erkennenden Forschers 71
und seines Zeitalters. Der mathematisch-physikalischen Forschung bleibe es vorbehalten, die letzte Konsequenz aus solchen Beobachtungen zu ziehen; der Laie kann nur ahnen — 'was seltsamerweise aber schon ein Nikolaus Cusanus ausgesprochen hat —, daß die Konzeption des grenzenlosen Weltraums und der endlos in sich selbst kreisenden Bewegung zwangsläufig zu der Annahme eines gänzlich neuen, zentralen Bezugspuqktes führen muß, und zwar im Inneren jeder einzelnen Persönlichkeit, die hier den tiefsten, den metaphysischen Rechtsgrund für ihre Freiheit findet. Jedenfalls aber sehen wir, wie auch in bezug auf das wissenschaftliche Weltbild die gesamte Neuzeit sich zu einer eindeutig bestimmbaren, zentrifugal-geistigen Epoche zusammenschließt; daß wir heute vermutlich die Endkrise dieser fortgesetzten geistigen Entmittung erleben, und wohl auch, daß besonders die stetig fortschreitende, durch keine menschlichen Leidenschaften getrübte exaktwissenschaftliche Forschung dazu berufen scheint, uns über Richtung und Sinn der jetzigen Kulturwende aufzuklären. Nach dem bisher gewonnenen Entwicklungsbegriff ist von vornherein anzunehmen, daß die abendländische Neuzeit ihren eigenen geistigen Rhythmus besitzt, und daß die Beurteilung einer geschichtlichen Tatsache aus dem 16. bis 20. Jahrhundert grundlegend wechselt, wenn wir den Blick nicht mehr auf den epochalen Ablauf Vorzeit—Mittelalter— Neuzeit richten, sondern auf das neuzeitliche Feld beschränken. Es ist das Verdienst namentlich der modernen Kunstwissenschaft, das besondere Verdienst Heinrich Wölfflins, die Wandlung der geistigen Struktur wenigstens zwischen den beiden ersten Perjoden der Neuzeit klar erkannt und aufgezeigt zu haben. Wenn trotz des anfänglich starken Erfolges Wölfflins Gedanken nicht die bleibende Beachtung gewannen, die ihnen gebührt, so liegt das nicht nur an der Problemblindheit der immer noch nicht zur Wissenschaft fortgeschrittenen kunsthistorischen Forschung, sondern sicher auch daran, daß Wölfflin sich mit einer zu oberflächlichen Andeutung seiner „Grundbegriffe" begnügt hat. Infolgedessen war schon die begriffliche Formulierung des von ihm erkannten Stilwandels zwischen Renaissance 72
ünd Barock ungenügend, während die so naheliegende einheitliche Zusammenfassung der vorgeschlagenen Stilkategorien nicht erfolgte: seltsamerweise spielt der für den Kunsthistoriker unentbehrliche und ungemein fruchtbare Begriff- g a n z h e i t l i c h e r Formgestaltung bei Wölfflin keine Rolle. Wäre der bahnbrechende Forscher zu einer weiteren klärenden Vereinfachung seiner Stilbegriffe geschritten, so hätte er vermutlich erkannt, daß es sich bei der geistigen Bewegung von der Renaissance zum Barock um den uns längst bekannten Prozeß zentralgeistiger Integration, um die Goethe-Schellingsche Systole handelt. Damit wäre aber ihm und einer immer noch blind tastenden Kunstforschung die weitere Erkenntnis zugefallen, daß nach der R e n a i s s a n c e oder f r ü h e n N e u z e i t und dem B a r o c k oder der m i t t l e r e n N e u z e i t die gesamte s p ä t e N e u z e i t seit der Aufklärung die genetisch zugehörige, historisch-logische d r i t t e P e r i o d e zentrifugaler Entäußerung, der Desintegration oder Diastole darstellt. Vor allem aber auch weigerte sich die „klassische" Denkart und klare Selbstbeschränkung Wölfflins, die aufgefundenen Stilbegriffe durch den Nachweis zu relativieren, daß jede Stufe noch einmal die gleichen Formgegensätze in sich enthält. In der Tat mag mancher die Wölfflinschen Stilbegriffe überhaupt als nicht gültig zurückgewiesen haben, weil er sie als nicht absolut gültig erkannte. Einige konkrete Beispiele sollen diese kritischen Einwände verdeutlichen und zugleich in das periodische System der Neuzeit einführen. Indem Wölfflin seinen Blick auf das Zifferblatt der Neuzeit richtete, erkannte er die erste umfassende Periode, d. h. die Renaissance, als die Stufe peripheren Weltergreifens, die zweite Periode, das Barockzeitalter, als die entsprechende Stufe zentralgeistiger Synthese. Aus diesem Prozeß geistiger Zumittung ergeben sich sämtliche von Wölfflin nachgewiesene Formgegensätze, von denen er übrigens selber behauptet, daß sie nur verschiedene Seiten eines und des gleichen Entwicklungsvorganges beleuchten. So gelangt er zu der — nicht sehr glücklichen — Unterscheidung einer v i e l h e i t l i c h e n und einer e i n h e i t l i c h e n E i n h e i t : die klassische Form der Renaissance beruht auf 73
der Ordnung der einzelnen, aus der Natur aufgegriffenen Formelemente; der barocke Bau- und Bildorganismus wird von vornherein als ein Ganzes erfaßt, dem alle Teile funktionell eingebunden bleiben. Der Unterschied zwischen der g e s c h l o s s e n e n Form der Klassik und der o f f e n e n barpcken Kunstform ergibt sich unmittelbar aus der Beobachtung, daß letztere sich von einer Mitte aus, d. h. von innen nach außen entfaltet, und damit eine Strahlungsform ist, die sich ohne feste Grenzen nach außen verliert. Ein Vergleich mit dem gotischen, gleichfalls zentralgebundenen Raumerlebnis verdeutlicht die Tatsache, warum das barocke Bildgefüge keine feste äußere Grenzsetzung anerkennt. Die gewiß nicht einwandfreie Unterscheidung zwischen u n b e d i n g t e r und b e d i n g t e r F o r m k l a r h e i t wird verständlich, wenn wir bedenken, daß die Renaissance ein Nebeneinander und Gegeneinander individueller, also leicht bestimmbarer Formen in einer einfachen, oft symmetrischen oder gereihten Ordnung gibt. Freilich kann diese vielheitliche Formgebung auch zu einer verwirrenden Mannigfaltigkeit führen, die in der barocken Formsynthese, sei es auch auf Kosten der individuellen Formklarheit und Bestimmbarkeit, überwunden wird: für den trockenen, in elementaren Gegensätzen denkenden Geist hat das ganzheitliche Formgefüge einer B-Stufe immer den Charakter des Irrationalen und Unklaren. Wölfflins Gegensatz zwischen f l ä c h e n h a f t e r und t i e f e n h a f t e r Gestaltung kann auf den ersten Blick befremden, weil gerade der Renaissancekünstler sich nach seiner Entdeckung der Perspektive oft in der übertriebenen Betonung der räumlichen und körperlichen Tiefenerstreckung nicht genug tun kann. Dennoch erweist die Unterscheidung sich als richtig, insofern der Renaissancemaler seine Figuren vorzugsweise in einer flachen, vorderen Bühne ausbreitet, der er weitere parallele Raumschichten zugesellt, während der Barockkünstler unter Betonung der Tiefendiagonale diese Raumschichten zu einem Raumkontinuum verschmilzt. Die flächenhafte Raumkonzeption in der Renaissance geht gerade aus der so stark betonten Perspektive hervor, weil diese selber nichts anderes ist als die Projektion des Raumes in eine vordere, geo74
metrische Fläche. Dazu kommt die vielleicht bedeutsamste Stilkategorie des L i n e a r e n und M a l e r i s c h e n , die sämtliche hier angedeutete Stilgegensätze in sich enthält, zugleich aber den Prozeß zentralgeistiger Synthese verdeutlicht. Denn das malerische Sehen ist immer ein simultanes Sehen, eine Zusammenschau, in der die zuvor sukzessiv erfaßte und geordnete Vielheit einzelner Formen und Formteile zu einer Einheit verschmilzt, während auch die frühere, linear betonte Grenze zwischen Figur und Grund aufgehoben wird, indem beide Elemente in eine unlösliche, fließende Verbindung treten. Wir kommen auf diese und andere, von Wölfflin weniger oder nicht beachteten Merkmale der barocken Kunstform noch zurück. Für den Kenner der italienischen Renaissance ist nun von vornherein verständlich, in welchem Punkt die Wölfflinschen Gedanken einen berechtigt-unberechtigten Widerspruch—erwecken mußten. Im Gegensatz zum Norden, wo die Neuzeit erst im 16. Jahrhundert einsetzt, gehört in Italien schon das Quattrocento seit Brunelleschi, Masaccio, Donatello zur Renaissance, die in den zwei Jahrhunderten ihrer Herrschaft, und zwar in den Stufen der Früh-, der Hoch- und der Spätrenaissance, mit vorbildlicher Klarheit den periodischen Ablauf der geistigen Bewegung veranschaulicht. Nur nebenbei kann hier vermerkt werden, daß die Entwicklung der Renaissance in ihrer unerschöpflichen Fülle zu einer weiteren Stufenunterscheidung zwingt; so namentlich im Quattrocento, wo Leon Battista Alberti nach Brunelleschi nur als der große synthetische Denker und Vorläufer der Hochrenaissance verständlich wird, während z. B. Spätquattrocentisten wie Botticelli oder Filippino Lippi als Vertreter einer durchaus nicht unbedenklichen geistigen Entmittung erscheinen, durch die sie sich dem Manierismus der Spätrenaissance nähern. Aber lassen wir diese kleineren Periodizitäten auf sich beruhen, so muß gesagt werden, daß Wölfflin auch für den bedeutsamen Ablauf Früh-, Hoch-, Spätrenaissance nur wenig Verständnis zeigte, indem er die Frührenaissance trotz ihres eigenwilligen, stilstarken Charakters nur als einen Auftakt zum „klassischen" Stil- des Cinquecento verstand, dagegen den 75
vielumstrittenen Manierismus der Spätrenaissance als einen Ausklang der Renaissance oder Übergang zum Barode betrachtete. Dadurch, daß Wölfflin den übergreifenden Stilgegensatz Renaissance—Barock vorzugsweise mit Hilfe der Hochrenaissance verdeutlicht, während der kritische Beobachter die gleiche Hochrenaissance unwillkürlich auch der Frührenaissance gegenüberstellt, war der Anlaß zu endlosem Mißverständnis gegeben, weil die klassische Form der Hochrenaissance eine- geradezu entgegengesetzte Beurteilung erfährt, je nachdem wir sie auf den Barock oder auf die Frührenaissance beziehen. Im ersten Fall zeigt die Klassik des früheren 16. Jahrhunderts sämtliche Züge einer ersten, peripher-gebundenen Stilstufe; im Vergleich zu der Frührenaissance des Quattrocento veranschaulicht sie vielmehr schon die typischen, von Wölfflin dem Barock zugesprochenen Merkmale einer zweiten Stilstufe. Solche Beobachtung setzt allerdings voraus, daß die nicht sehr präzis formulierten Stilbegriffe Wölfflins in hohem Maße relativierbar sind. Es gibt ganz verschiedene Grade und Möglichkeiten einheitlicher, tiefenhafter, malerischer Gestaltung. *
Ein bekanntes Beispiel kann diesen scheinbar etwas komplizierten Sachverhalt verdeutlichen. Kommt man von den traditionellen, aus den Klosterrefektorien bekannten Darstellungen des letzten Abendmahls zu Leonardos Wandbild in S. Maria della Grazie in Mailand, so erscheint dieses als Inbegriff zentralgeistiger, ganzheitlicher Gestaltung gegenüber der peripher-vielheitlichen Ordnung etwa bei Ghirlan dajo. Statt einer verschwenderischen Ausbreitung des Stoffes, den der Quattrocentist dem biblischen Bericht und der nahen Wirklichkeit des Florentiner Lebens entnimmt, konzentriert Leonardo seine Aufmerksamkeit ganz auf die Gestalt des Herrn in seiner zentral dominierenden Beziehung zu den Jüngern. Statt des gereihten Nebeneinanders der zwölf Männer hinter dem Tische, denen nur der Judas seitlich gegenübersitzt, gibt Leonardo einen unendlich reich in sich selbst gegliederten, beseelten und bewegten Bildorganismus; die Isolierung des Judas in den älteren Darstellungen ist 76
eine sehr äußerliche, stofflich begründete, die zentrale Aussonderung des Herrn bei Leonardo beruht auf einer geistigen, dem mystischen Opfer sehr nahen Sinngebung des Stoffes, und diese bestimmt das gesamte Bildgefüge: die strahlende Selbstentäußerung der herrschenden Mitte, des Herrn; die Bewegung nach außen, die in den bewegten Dreiergruppen der Jünger weitergetragen wird, dann aber wieder auf die Bildmitte zurückflutet. Und so groß ist diese strahlende Gewalt der Mitte, daß sie sogar die gesamte Architektur, die vorher nur schmückendes und rahmendes Beiwerk war, ergreift, sie gleichsam dramatisiert, bis sie den tiefsten Gedanken der heiligen Handlung in ihrer abstrakt gesetzlichen Sprache wiederholt. Gewiß ist hier, auf dem Gebiet der Abendmahlsdarstellung, von einem Prozeß zentralgeistiger Abstraktion und Synthese zu sprechen; Abstraktion, weil in dieser tief durchdachten, bauenden Gestaltung kein Platz mehr ist für den zufälligen Sinnenreiz, für das Zusammenpflücken von Wirklichkeitsstoff, das das quattrocentistische Bild ^u einem bunten Strauß gestaltete; Synthese, weil in dieser überwirklich gesteigerten Darstellung des Themas eine endlose Fülle einzelner Wahrnehmungen enthalten und verschmolzen ist. Nur wird man bei näherem Zusehen erkennen, daß Leonardos „klassische" Darstellung erst möglich wurde, weil sie — immer im Vergleich zum Quattrocento — schon sehr wesentliche, angeblich „barocke" Stilmerkmale besitzt. Das trifft auf die einheitliche Einheit — besser Ganzheit — der Darstellung zu gegenüber der vielheitlichen, gereihten Ordnung der Frührenaissance. Es gilt für die entschieden tiefenhafte Durchgestaltung der Dreiergruppen mit den sich überschneidenden Figuren im Vergleich zu der früheren flächenhaften Stoffausbreitung. Aber es bezieht sich nicht zuletzt auch auf die Überwindung streng linearer Formbegrenzung zu Gunsten einer beginnenden malerischen Formverschmelzung, ohne die eine übersichtliche Gliederung der Männergruppen nicht möglich gewesen wäre. Leonardos, dann Correggios sfumato ist das erste Zeichen, daß der abendländische Künstler in der Abstufung von Licht und Schatten das Ineinanderfließen von Form und Form, Figur und Grund als ein kon77
tinuierliches" Geschehen erfaßt. Auch in Venedig sind die Anfänge des dort später intensiv gepflegten malerischen Stiles zweifellos bis in das frühe Cinquecento, die Zeit Giorgones und des frühen Tizian zurückzuverfolgen. Was hier« in Kürze über Leonardos Meisterwerk gesagt werden konnte, ist grundlegend für die gesamte Klassik der italienischen Hochrenaissance. Es ist das von Alberti schon in der zweiten Stufe der Frührenaissance formulierte Ideal der concinnitas, des harmonischen Einklangs aller Teile miteinander und mit dem Ganzen, das erst jetzt allgemein die künstlerische Vorstellung bestimmt. Es ist das neue Mittelpunkt- und Ganzheitsbewußtsein, das in der heroisch gesteigerten Körperdarstellung und Ausdrucksbewegung den Menschen als einen kernhaft gewachsenen und beseelten Organismus erfaßt, um aber — bei Leonardo, Raffael, Michelangelo — sofort über den einzelnen Menschen hinaus zu dem wiederum ganzheitlich gegliederten Gruppenorganismus zu schreiten. Es ist die gleiche Betonung einer herrschenden Mitte, die wir in Bramantes Zentralbauten erkennen; das gleiche synthetische Formgefühl, das die Baugeschosse in seiner „großen Ordnung" zusammenfügt. Dazu kommt, wie schon bei Leonardo, der Zusammenklang zwischen der Figur oder Figurengruppe mit der gemalten Architektur: durch Raffael in den Stanzen des Vatikans, durch Michelangelo in der Sixtinischen Decke. Infolge solcher Verbindung wird" die Menschendarstellung einer höheren Gesetzlichkeit zugeordnet, sie wächst an der Architektur, die ihrerseits eine menschliche Gebärde erhält. Die naheliegende Folge ist, daß sich zwischen den einzelnen Künsten ein Bündnis vollzieht, das in dem vielseitigen Ingenium der drei großen Meister seine ausdrückliche Bestätigung findet-. Man kann angesichts der von Michelangelo nur zum Teil ausgeführten Planungen für die Lorenzofassade und die Medicigräber in Florenz, das Juliusgrab in Rom noch nicht von einer eigentlichen Konjunktion zwischen Bau- und Bildkunst sprechen, aber wohl ist die gegenseitige Annäherung und Verständigung eine viel innigere als im Quattrocento. Schon eher weist die klassische concinnitas auf die barocke conjunctio hin, wenn Correggio in seinen Kuppel78
fresken in Parma zur illusionistischen, endlosen Raumerweiterung schreitet. Hier, in Oberitalien, führt der Weg von Mantegna über Correggio zu Tiepolo; genauere Beobachtung ergibt, daß die Synthese zwischen Baukunst und Malerei sich etappenweise in den zentralgeistigen Stufen und Unterstufen der Neuzeit vollzieht: in der zweiten Stufe der Frührenaissance, in der zweiten Hauptstufe der Renaissance und schließlich iin Barock, der zweiten umfassenden Periode der gesamten Neuzeit. Bei der Frage, ob auch in der Hochrenaissance die Wendung zur geistigen .Mitte eine Begegnung mit der Frau bedeutet, darf nicht vergessen werden, daß die gesamte Neuzeit im Gegensatz zum Mittelalter eine männliche Signatur besitzt, und daß namentlich wiederum die erste Periode, das Zeitalter der Renaissance, des Humanismus und der Reformation, nur entschieden männlich betont sein kann. In wie hohem Grade das auch für den Norden zutrifft, kann man sich an den Gestalten Luthers, Ulrich von Huttens oder Erasmus' vergegenwärtigen und gewiß auch an der überaus männlichen Kunst Dürers, Holbeins oder Brueghels. Trotzdem ist die Frage berechtigt, ob nicht gegenüber dem linear umgrenzenden, sachlichen und gewiß männlichen Stil der Quattrocentisten die malerische Auflockerung der Form und die sinnlich weiche Formgebung Leonardos oder Correggios als spezifisch weiblich bezeichnet werden darf und als besonders geeignet zur Darstellung der Frau. Untrennbar damit verknüpft ist eine weitere Beobachtung: die neue, tiefer geistige Würde und zugleich sinnliche Fülle, die die Frauengestalt im Cinquecento gewinnt. Leonardos Mona Lisa hat da als Porträtdarstellung vielleicht weniger zu besagen, obwohl sie als das erste innerlich beseelte Bildnis der abendländischen Kunst bezeichnet werden konnte. Aber das gleiche selbstbewußte und zugleich hingebungsvolle Frauenlächeln ist auch Leonardos heiligen Frauen zu eigen, und wenn nun allgemein die weibliche Idealgestalt nicht mehr wie so oft in der Frührenaissance als ein junges Mädchen, sondern als eine junge Frau aufgefaßt wird, so heißt das eben, daß jetzt, bei Raffael, Michelangelo und del Sarto, bei Leonardo, Correggio und den 79
Venezianern, die biologische und psychologische Frauenreife zum Gegenstand des tiefsten künstlerischen und geistigen Interesses erhoben wird. Nur so wird begreiflich, daß die italienische Hochrenaissance in Raffaels Madonnen und in den venezianischen Venusdarstellungen Giorgones und Tizians einen bleibend gültigen Typus der bekleideten und der nackten weiblichein Idealgestalt schuf. Ganz besondere Bedeutung gewinnt in diesem Zusammenhang die Gliederung des Bildorganismus schon bei Giorgone, Im Gegensatz zu der streng klassischen, symmetrischen Ordnung mit betonter Mittelachse zeigt Giorgones schlummernde Venus eine diagonale Aufteilung der länglich rechteckigen Bildfläche in zwei Dreiecke, von denen das untere, vordergründige die auf der Erde ruhende Frau umschließt, während das' obere Dreieck den Himmel und die ferne Landschaft in sich enthält. Wir kommen näher auf diese für die Barockkunst so ungemein wichtige, umgekehrt symmetrische und damit bipolare Bildstruktur zurück,, betonen aber, daß sie schon in der italienischen Klassik vorweggenommen wird und daß gerade dort die gegenseitige Ergänzung der beiden Dreiecke zur Bildeinheit unmißverständlich als erotische Beziehung ausgedeutet werden kann. Das geschieht z. B., wenn sich bei Tizian aus dem „himmlischen" Dreieck der Goldregen über die ruhende Gestalt der Danae ergießt oder wenn bei Correggio die Wolke im oberen Bildfeld sich in Jupiter verwandelt, der die Io umfaßt. Wir werden aber sehen, daß der spatere, barocke Eros seine reine Ausgestaltung auch ohne jede anthropomorphe Verdeutlichung oder figürliche Darstellung erfahren konnte. Unser Augenmerk galt dem Nachweis, daß die ungeheuer reichhaltige italienische Renaissance eine gut ausgeprägte zentralgeistige B-Stufe aufweist, die ohne die vorangehende Stufe peripheren Weltergreifens nicht verständlich sein würde. Denn „was man zusammenziehen will, muß man erst sich ausbreiten lassen" (Lao Tse). Die zugehörige dritte Stufe, die Spätrenaissance, kann uns hieT nicht ausführlich beschäftigen. Aus der bloßen Kenntnis des Entwicklungsgesetzes und dem Begriff italienischer Klassik 80
geht aber die historische Berechtigung und die stilistische Eigenart einer Spätrenaissance hervor, die also etwas ganz anderes und viel mehr ist als ein bloßes Nachklingen der Klassik oder ein Übergang zum Barock. Vielmehr wird die nicht leicht bestimmbare Eigenart des viel umstrittenen und von Wölfflin kaum beachteten Manierismus des späteren 16. Jahrhunderts in Italien wie auch im Norden durch die Auflösung der gebundenen, klassisch-geistigen Struktur bedingt, die auch der neuen, barocken Synthese vielfach entgegengesetzt ist und die verschiedensten Spaltungserscheinungen heraufbeschwört. Man müßte zu den Abendmahlsdarstellungen der Frührenaissance und Leonardos die Behandlung des gleichen Stoffes durch Baroccio oder Tintoretto gesellen, um zu erkennen, wie das'Interesse wiederum sich von der Mitte abwendet, nach den Seiten abfließt und — auch stofflich — das periphere Beiwerk hervorhebt. Vielfach wird eine kühle und glatte Formgebung bevorzugt, aber ebenso bezeichnend ist unter Ausnützung künstlicher Lichtquellen eine unruhig flackernde, malerische Formauflösung. Wie so oft in einer zentrifugalen Geistesstufe wandelt sich der Eros in eine tändelnde Erotik; in den überschlanken Frauenkörpern mit den kleinen Köpfdien scheint die zuvor zentral geballte Lebenskraft in die stark bewegten und verlängerten Gliedmaßen abzufließen. Man kann von einer geistigen Entleerung reden, aber zu der gleichen Zeit zeigt uns El Greco, wie der Geist sich auch von seinem natürlichen und sinnlichen Substrat ablösen kann, um zu einer ergreifenden, ekstatischen und exaltierten Ausdruckskunst zu führen, die erst in der strukturverwandten ausgehenden Neuzeit wiedererkannt wurde. Sicher ist es nicht immer leicht, eine scharfe Grenze zwischen dem Manierismus und dem Frühbarock zu ziehen. Trotzdem behalten die Entmittungs-, Entbindungs- und Entleerungserscheinungen der Spätrenaissance ihre stufenspezifische Eigenart unter dem allgemeinen Gesichtspunkt, daß der umfassende, synthetische Weltbegriff des Barockzeitalters sich erst durchsetzen konnte, nachdem die klassischen Bindungen des goldenen Zeitalters zerschlagen wurden.
fi Scheltema, Geistige Mitte
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Barock
Es ist verständlich, daß die Wandlung der geistigen. Struktur sich in der periodischen Abfolge Frühe Neuzeit (Renaissance), Mittlere Neuzeit (Barods) und Späte Neuzeit (seit der Aufklärung) deutlicher ausprägt, als es innerhalb der Renaissance der Fall sein kann. Die zentralgeistige Qualität des Barock ist leichter erkennbar als die der Hochrenaissance; dies ist der Grund, weshalb Wölfflins Aufmerksamkeit zuerst durch die allgemeinen Stilgegensätze zwischen Renaissance und Barock gefesselt wurde und nicht durch die Stileigenart der einzelnen Renaissancestufen. Indem wir unserseits nachwiesen, daß der von Wölfflin für den Barode in Anspruch genommene Durchbruch einer einheitlichen, tiefenhaften, malerischen Formgestaltung usw. sich schon in der Hochrenaissance im Vergleich zur Frührenaissance vollzieht, wurde die Beurteilung der barocken Stilwende schon zum wesentlichen Teil vorweggenommen. Nur ist der Übergang zum Barock noch etwas anderes als eine radikale Wiederholung der Wende von der Früh- zur Hochrenaissance, und so wird sich zeigen, daß wir an Hand der Wölfflinsdien Stilkategorien zwar bedeutsame Merkmale, aber noch keineswegs die gesamte Eigenart der Barockkunst erfassen. Als die zweite, mittewendige Geistesstufe der Neuzeit erscheint uns das Barockzeitalter nicht nur chronologisch als das mittlere Alter, sondern auch geistesgeschichtlich als das „Mittelalter" unserer Neuzeit, ähnlich also wie die Bronzezeit als das Mittelalter unserer Vorzeit zu bezeichnen war. Auf dem kleineren Zifferblatt der Neuzeit und im großen Umlauf Vorzeit—Mittelalter—Neuzeit entsprechen sich die Stufen des Barock und des Mittelalters. Infolgedessen ergeben sich sympathische Beziehungen zum Mittelalter, die während der Renaissance, der Protes.tstufe gegen das Mittelalter, kaum denkbar wären. In diesem Zusammenhang ist allgemein an die Stärkung des kirchlichen Gedankens zu erinnern, an die durch die Jesuiten erneuerte und gefestigte Macht der katholischen Kirche und des 82
Papsttums, an den gleichfalls durch die Jesuiten vertieften Marienkult. Über den immerhin beschränkten Geltungsbereich des reformierten Katholizismus hinaus offenbart sich das neue Mittelpunktbewußtsein allgemein als eine Wendung zum Irrationalen und zu einer vertieften Religiosität: im protestantischen Pietismus, in der Mystik eines Jakob Böhme oder Angelus Silesius, in der Bewegung der Rosenkreuzler, aber zweifellos auch in den umfassenden Begriffssystemen der großen Rationalisten Descartes, Spinoza und Leibniz, die trotz der irreführenden Bezeichnung entschieden religiös und irrationalistisch gefärbt sind und innerhalb der Neuzeit wohl in der Tat das Gegenstück zu den großen Gedankengebäuden der mittelalterlichen Scholastik bilden. Obwohl die für die gesamte Neuzeit bezeichnende kirchliche Spaltung nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte, ist es doch höchst bezeichnend, daß ein so universaler Geist wie Leibniz an eine Wiederherstellung der mittelalterlichkirchlicheri Katholizität gedacht hat. Im Zusammenhang mit der Kunst wird die Philosophie des Barock noch hier und da zu berücksichtigen sein. Hier sei nur noch vermerkt, wie klar sich die zentralgeistige Struktur des Zeitalters in der Philosophie ausprägen kann, z. B. in Leibniz' Monadologie, die wir als ein allumfassendes, endlos in eich selbst abgestuftes Emanationssystem verstehen: jeder Körper ist eine Erscheinung von immateriellen, aber seelischen und strebenden Kraftzentren, vpn Monaden, die jede für sich das gesamte Universum spiegeln; jeder lebende Organismus wird von einer mit Selbstbewußtsein ausgestatteten Seelenmonade beherrscht, während sämtliche Monaden als Ausstrahlungen einer höchsten, zentralbeherrschenden „Monade der Monaden", d. h. Gottes, zu verstehen sind. Noch deutlicher greift gleichzeitig der Mystiker Angelus Silesius in seiner tiefreligiösen, dichterischen Schau immer wieder auf das Bild der Kreisperipherie und -mitte zurück: Ich weiß nicht, was ich bin, ich bin nicht, was ich weiß: Ein Ding und nicht ein Ding: einTüpfchen und ein Kreis. Oder: Setz dich in 'n Mittelpunkt, so siehst du all's zugleich, Was jetzt und dann geschieht, hier und im Himmelreich. 6*
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Noch stärker: Als Gott verborgen lag in eines Mägdlein Schoß, Da war es, daß der Punkt den Kreis in sich beschloß. In mancher Richtung ist die Parallele zum Mittelalter zu ergänzen. Obwohl von einem absoluten Führungsanspruch des Sakralbaus oder der Baukunst im allgemeinen nicht mehr gesprochen werden kann, offenbart sich doch auch seit dem 17. Jahrhundert die geistige Selbsteinkehr in einer Besinnung auf die abstrakte Gesetzlichkeit der Architektur und in einer bauenden Energie, die noch heute das Antlitz der abendländischen Kultur großenteils bestimmt. Das gilt für die überwältigend reiche Entfaltung des Kirchenbarocks in den katholischen Kult- und Klosterbauten; dazu kommt die höchste Steigerung auch des protestantischen Kirchenbaus, der ganze Reichtum der fürstlichen, die Natur und das Stadtbild zentraldominierenden Schloßbauten oder auch der monumentalen Bürgerbauten, in denen sich' das stolze Selbstbewußtsein des städtischen Bürgertums ausdrückt. Die Peterskirche ja Rom und die Paulskirche in London, das Versailles Ludwigs XIV. und das markgräfliche Karlsruhe, die fürstbischöfliche Residenz in Würzburg, das Rathaus zu Amsterdam sind einzelne bekannte Beispiele, die an die verschiedenen Gattungen dieser überragenden Baukunst erinnern. Unter diesen können wir das Fürstenschloß — trotz der schon in der Renaissance bestehenden Schloßbauten — als einen für das Barockzeitalter spezifischen, neuen Bautypus bezeichnen und als Sinnbild des neuen Staatsgedankens : der von Hobbes philosophisch begründeten a b s o l u t e n M o n a r c h i e . Im Gegensatz zum mittelalterlichen Kaisertum hatte dieser Absolutismus einen ausgesprochen nationalen bzw. territorialen Charakter. Sehen wir aber, wie Ludwig XIV., der glänzendste Vertreter der unbeschränkten Machtvollkommenheit, die Universalherrschaft anstrebt, und wie sich um diesen „von Gott gegebenen" und als „Sonnengott" verehrten Herrscher ein äußerst komplizierter Kult entwickelt, so dürfen wir auch im barocken Absolutismus eine neuzeitliche Parallele zum Mittelalter und ein Wiederaufleben des mittelalterlichen Kaisergedankens 84
erkennen. Jedenfalls ist es deutlich, wie eigenartig sich auch im Politischen das neue Mittelpunktbewußtsein'durchsetzt, und wie in diesem absoluten Herrschertum der Fürst zum Zentralsymbol eines streng regulierten, totalitären Systems erhoben wird, das sich über das gesamte Geistesleben, über Künste und Wissenschaften so gut wie über die Organisation des Handels und der Industrie erstreckt. Dazu mag in der sehr modern anmutenden Utopie des Abbé Saint Pierre wohl eher die mittelalterliche Idee der universalen Christengemeinschaft zu erkennen sein: als Begründer des Pazifismus tritt Saint Pierre gegenüber Ludwig XIV. mit dem Gedanken einer friedlichen Organisation aller Völker mit internationaler Polizeimacht hervor. Bei der Erwähnung der kulturgeschichtlichen Parallelen zum Mittelalter muß allerdings auffallen, daß die barocke Einheitsidee sich sehr verschieden ausgestaltet und zur Unterscheidung mehrerer Kulturbezirke zwingt, die zwar ineinander übergreifen, aber doch eine gesonderte Betrachtung erfordern. Eine nähere, auch für den Kunsthistoriker wichtige Bestimmung dieser Bezirke barockgeistiger Kultur wird durch einen eigenartigen Gedanken bei Leibniz erleichtert, wenn eT das Verhältnis Gottes zu den Geistern und zu den Geschöpfen mit dem des Fürsten zu seinen Untertanen und des Vaters zu seinen Kindern vergleicht (Monadologie 84). Aus dieser mikrokosmisch-makrokosmischen Analogie ergeben sich drei um eine zentrale Herrschergestalt geordnete Systeme, denen wiederum drei Sondergebiete barocker Kunstbetätigung entsprechen: die übernationale, aber besonders in Italien und Süddeutschland blühende Kunst der katholischen Kirche; die durch das absolute Königtum diktierte französische Hof- und Staatskunst; die Kunst des protestantischen Bürgertums, vor allem in Gestalt der ganz dem Wohnraum dienenden niederländischen Tafelmalerei. Merkwürdigerweise steht die spanische Kunst in ihren höchsten Leistungen der niederländischen Tafelmalerei näher als dem Kirchenbarock oder der französischen Hofkunst. *
Der Reichtum des abendländischen Barock ist auf den Gebieten der Zierkunst und Werkkunst, der Baukunst, Bild85
nerei und Malerei so mannigfaltig, daß die gemeinsame zentralgeistige Struktur hier nur an einigen besonders sprechenden Beispielen verfolgt werden kann. Stellen wir — um von dem katholischen Sakralbau auszugehen — eine Reihe von Langbauten zusammen, die sich von Brunelleschis S. Lorenzo in Florenz über Albertis S. Andrea in Mantua, Spaventos S. Salvatore in Venedig und Vignolas II Gesu in Rom bis Guarinis S. Maria in Lissabon erstreckt, so finden wir, daß die Bewegung fortlaufend auf ein bestimmtes Ziel, auf die Gewinnung eines möglichst reich in sich gegliederten Raumganzen gerichtet ist. Diese Bewegung ist keine kontinuierlich fließende; der Wille zur ganzheitlichen Raumgestaltung setzt sich vielmehr stoßweise in den unter- und übergeordneten zentralgeistigen B-Stufen durch: in der zweiten Stufe der Frührenaissance (Alberti), in der Hochrenaissance (Spavento), im Frühbarock (Vignola) und endlich im Hochbarock (Guarini). Die Formulierung drängt sich auf, daß die Steigerung synthetisch-geistiger Energie zwar eine fortgesetzte, aber diskontinuierliche, quantenhaft geartete ist. Wir können hier nicht verfolgen, wie diese sprunghafte Bewegung sich mit immer neuen Mitteln durchsetzt, aber das Endergebnis ist in wenigen Worten anzudeuten: statt einer Vielheit klar voneinander getrennter, diskreter Raumteile (Brunelleschi) gibt der Barockkünstler einen kernhaft gewachsenen, einheitlichen Raumorganismus, dessen Teile — Haupt- und Nebenräume — sich gegenseitig durchdringen und unabgrenzbar dem Ganzen eingebunden bleiben. Es entsteht ein Organismus, wo — nach Kant — „jeder Teil durch alle übrigen und um dieser und des Ganzen Willen existiert, Ursache und Wirkung zugleich ist". Diese in der Baukunst kaum statthaft scheinende Wendung zum Organischen ist es, die allgemein den atektonischen, damit irrationalen Charakter barocker Baugestaltung bedingt; den Ersatz des statischen „Gerüsts" durch den lebendigen .Atemzug" (Wölfflin); den Übergang einfacher geometrischer Gewölbeformen zu äußerst komplizierten, infinitesimalen Gebilden, und zwar zu der gleichen Zeit, als Ledbniz und Newton die Grundlagen der Differentialrechnung schufen. Die gleiche irrationale Besinnung auf einen organi86
sehen Keimpunkt führt zur Vermeidung jedes rechteckigen, scharfkantigen Zusammenstoßens der Raumteile und Grenzen, zur Ausschaltung sogar jeder geraden Linie, nicht nur in dem genial übersteigerten italienisch-süddeutschen Kirchenbarock, sondern auch im Grundriß oder in der Verbindung von Wand und Decke profaner Innenräume: sogar der traditionelle Begriff der „vier Wände" wird aufgehoben. Der Struktur der Zeit gemäß entstehen zahllose Zentralräume, die allerdings seit der Renaissance keine Neuerung darstellen; erst im Barockzeitalter aber erfolgt die monumentale Ausgestaltung auch des protestantischen Zentralbaus (Frauenkirche in Dresden, Michaeliskirche in Hamburg). Eine völlige Neuschöpfung dagegen war seit Vignola der ovale oder rein elliptische Kirchengrundriß, in dem wir den Drang nach einer unerhört kühnen Synthese erkennen: nach Verschmelzung des Langbaus mit dem Zentralbau, des Aufgangs zur heiligen Mitte mit deren allseitiger Ausstrahlung. Den ovalen Grundrissen entsprechen .ähnliche elhpsoide Gewölbeformen, aber die Wahl solcher Kurven ist viel allgemeiner. Wir finden den ovalen Grundriß in den großen Saalanlagen und kleinen Kabinetten der profanen Baukunst oder das Oval als den gar nicht durch den Grundriß bedingten Querschnitt der Gewölbe, auch allgemein als Bogen und Rahmen und sogar als Bildfeld der freien Tafelmalerei. Damit gewinnt die Ellipse eine Bedeutung, über die wir schon bei der Erwähnung des gotischen Spitzbogens (und bronzezeitlichen Wellenbandes) zu sprechen kamen: im Gegensatz zu dem allgemein verbreiteten Kreis oder Kreissegment der Renaissance wird die Ellipse nicht über e i n e n , sondern über z w e i Brennpunkte konstruiert, sie veranschaulicht eine aus einer betonten Zweiheit erwachsene Einheit, wird zum Sinnbild des b a r o c k e n E r o s . Verwandte bipolare Strukturen in der Bildnerei und Malerei werden diese Auffassung noch bestätigen. Man könnte dagegen einwenden, daß im Gegensatz zum kreisrunden Deckenbild oder dem Tondo der Hochrenaissance schon die Spätrenaissance öfters ovale Bildfelder wählte. Gerade dieser Hinweis aber kann zum tieferen Begriff des Unterschiedes zwischen Manierismus und Barock führen und der Umkehrung der geistigen 87
Bewegung, die sich zwischen diesen Stufen vollzieht. Denn es ist etwas grundlegend arideres, ob nach der strengen Zentralordnung italienischer Klassik die zentrifugale Tendenz der Spätrenaissance zu einer Entzweiung in der Kernsubstanz und damit zum manieristischen Oval führt, oder ob im Barock die beiden getrennten und um zwei Polpunkte gelagerten Kernmassen in eine funktionale Beziehung zueinander treten und das Oval zum Wirkungsfeld einer dynamischen, nach Ganzheit strebenden Spannung' erheben. Im ersten Fall erscheint das Oval als das Ergebnis geistiger Entmittung. Im zweiten Fall wird die gleiche "Form zum Zeichen neuer geistiger Zumittung, zum Schauplatz des barocken Eros. #
Vom barocken Raumgefühl ist zu sagen, daß es — ähnlich wie das der Gotik — nicht peripher, sondern zentral geartet ist, nicht von außen nach innen, sondern umgekehrt geTichtet. Infolgedessen erscheinen die Raumgrenzen nicht mehr als ein primär Gegebenes, sondern als sekundäres Ergebnis; namentlich wenn die ganze Wand in konkavkonvexe Schwingung gerät, ist diese undulierende Bewegung nur so zu verstehen, daß der lebendig atmende, sich ausweitende und wiederum zusammenziehende Raumkörper von sich aus seine Grenzen zieht. Wie in der Gotik kann nun auch der barocke Strahlungsraum sich nach außen in unbestimmbaren, endlosen Fernen verlieren; nur geschieht diese Entstofflichung, Verneinung, Vergeistigung der Raumschale nicht durch die Glasmalerei, sondern in Gestalt der Wand- und vor allem einer Decken- und Kuppelmalerei, die den Kirchenraum durch den Himmelsraum mit seinen Heiligen erweitert. An. sich war diese illusionistische Raumerweiterung, wie wir gesehen haben, nichts Neues; aber niemals wurde sie unter Zuhilfenahme des Lichtes, gemalter Scheinarchitekturen und" plastischer Gestalten so hinreißend und einheitlich durchgeführt wie im Barockzeitalter, niemals wurde x die Einheitssynthese zwischen Raumkörper und Raumgrenzen, zwischen Baukunst und Malerei, Diesseits und Jenseits, Wirklichkeit und Wunder so leidenschaftlich erstrebt wie im italienischen und, noch stärker, im süd88
deutschen Kirchenbarock. Es liegt nahe, daß die Kuppelmitte, auf die alle Bewegung hinweist und hinflutet, als die höchste geistige Mitte des Weltalls — und der barocken Weltanschauung — zumeist in der Darstellung der göttlichen Personen oder Symbole ihre besondere Sinndeutung erfährt. Damit ist auch die umgekehrte Bewegungsrichtung zu erkennen: der gesamte Kirchenraum wird zu .einem Strahlungssystem, in dem — nach Leibniz! — Gott als die alles in sich schließende Monade der Monaden sich zuerst in den Kreis der Heiligen ergießt, um zuletzt auch alles greifbar Nahe und Wirkliche in seinen Bann zu ziehen. Fügen wir hinzu, daß auch die Bildnerei sich wirksam an der Verknüpfung von Bau- und Bildkunst beteiligt, während die Musik diese traumhafte Wirklichkeit mit rauschendem Leben erfüllt, so erkennen wir, wie das barocke Ganzheitsbewußtsein zu einer totalitären Verschmelzung aller Künste schreitet, wie sie später — etwa in der Romantik oder von Wagner — wohl noch gelegentlich versucht, aber niemals mehr erreicht wurde.' Was über die innere Raumgestaltung und den Zusammenklang aller Kunstgattungen gesagt wurde, gilt vielfach auch für die profane Baukunst; nur ist es in den fürstlichen Palasträumen meistens nicht der christliche, sondern der antik-heidnische Himmel, der zur grenzenlosen Raumausweitung dient, während auch Spiegelwände und Fenstertüren zur Verneinung der stofflichen Raumgrenzen herangezogen werden. Dazu beanspruchen die barockfürstlichen Schloßbauten besonderes Interesse im Vergleich zum Palastbau der Renaissance. Wesentlich ist schon, daß die künstlerische Absicht sich in der Renaissance auf die Fassade oder die Ausstattung der einzelnen Räume beschränkte, deren Anordnung eine durch den praktischen Zweck diktierte Reihung oder Häufung einzelner Zellen blieb. Erst der Barockarchitekt faßt dieses Zellenkonglomerat zu einem einheitlich durchgestalteten, zentralregulierten Organismus zusammen, dessen Kern- und Herzraum eindrucksvoll betont wird: das ist das oft verschwenderisch mit Skulpturen und Malerei ausgestattete Treppenhaus als Ausgangspunkt der zugleich in die Tiefe, in die Höhe und nach den Seiten fließenden Be89
wegung. Diesem fast sakral anmutenden Kernraum entspricht im äußeren Baukörper das überhöhte und vorspringende Mittelrisalit. Gesellen sich dazu noch Eckrisaliten an den beiden Flügelenden, so ergibt sich die, .monarchische" Gruppenordnung ß m t r zentralen Dominante mit seitlichen Trabanten, die noch einmal eindringlich auf ihre gemeinsame Mitte hinweisen: der nach der Höhe, Tiefe und Breite abgestufte Baukörper wird zum Sinnbild des fürstlichen Absolutismus, des zentralen Herrschaftsgedankens, der aber zugleich weit über das Bauwerk hinausgreift. Bei dem dreiflügeligen französischen, aber auch in Deutschland weitverbreiteten Schloßtypus greift der Baukörper mit beiden Armen in die Außenwelt hinein. Bei dem vorbildlichen Versailles Ludwigs XIV. durchschreitet die dominierende mittlere Achse — die „Königsachse" — nicht nur die riesigen Ehrenhöfe, sondert erstreckt sich auch kilometerweit durch die rückwärtigen Gartenanlagen, wo die Kunst Lenötres der absoluten Herrschergewalt zum letzten Sieg verhilft, indem sie das monarchische Diktat auch auf die lebende Natur ausdehnt. In dieser Gartenkunst des Barock vollzieht sich die Synthese von Bauwerk und Natur zu einem unlösbaren Ganzen; der Schloßbau wirkt nicht nur durch seine Höfe, Terrassen, Freitreppenanlagen-naturver banden, sondern die bauende und ordnende Gewalt greift weiter durch, sie durchsetzt die Natur mit ihren Kanälen und Wasserkünsten, Pavillons, Sockelstatuen, Vasen, oder baut in den geschnittenen Hecken, den Lauben, Rasenplätzen und Blumenbeeten mit dem lebendigen Baustoff der Natur. Dazu kann der zentrale Herrschaftsgedanke auch das Stadtbild bestimmen. In Versailles entsendet die Schloßmitte ein Bündel radial geordneter Strahlen in den Park, drei weitere aber bis tief in die Stadt hinein. In Karlsruhe bildet das Schloß die herrschende Mitte einer radialen Anlage, die mit ihren 32 Strahlen nach Norden die Natur, nach Süden die Stadt durchgliedert. Diese zentralregulierende Kraft ging aber nicht nur vom Fürsten aus. Durch die Kolonnaden Berninis und die zugehörigen riesigen Platzanlagen greift die Peterskirche in Rom tief in das Stadtbild hinein. Durch die Bauleidenschaft der kirchlichen Bauherren wachsen die 90
Klosterkirchen mit ihren Wohn- und Wirtschaftsgebäuden zu gewaltigen Baukomplexen aus, die mit den durch Flügeltrakte umschlossenen Binnenhöfen und Gärten einen beträchtlichen Teil des Naturraums in sich hineinnehmen. Es ist in diesen Ausführungen der ganze Nachdruck gelegt auf den Durchbruch des barocken Mittelpunktbewußtseins und auf den einer geistigen Autorität, die sich von einem bestimmten Punkt und von der bestimmten Persönlichkeit des absoluten Monarchen — l'état, c'est moi! — allumfassend, totalitär auf die gesamte Umwelt erstreckt. Wir verzichten auf den Nachweis, wie dieses totalitäre Regime in der französischen Hofkunst unter der Diktatur Lebruns das ganze Gebiet der Baukunst, Bildnerei, Malerei und Gartenkunst, der Teppichwirkerei und Möbelschreinerei, der Tracht, der Festdekoration und des Feuerwerks ergreift und in den bildenden Künsten sogar zu einer Normierung der seelischen Ausdrucksformen fortschreitet, die übrigens auch dem Mittelalter keineswegs fremd war. Im Hinblick auf den westeuropäischen Klassizismus muß aber betont werden, daß die Barockkunst nicht immer die von Wölfflin aufgestellten Stilcharaktere zu zeigen braucht, in denen wir vielmehr nur einen besonderen'Fall, eine besonders wichtige Möglichkeit^ barockgeistiger Synthese erkennen. Wenn seit Palladio und in dem besonders in England blühenden palladianischen Klassizismus die zusammenfassende große Gebärde des Barockbaumeisters sich in der alle Geschosse durchgreifenden Kolossalordnung bemerkbar macht, handelt es sich um einen schon in der Hochrenaissance (Bramante), ja in der zweiten Stufe der Frührenaissance (Alberti) ausgebildeten Baugedanken. Solche Beobachtung kann aber zur richtigen Deutung der im Abendlande oft wiederholten, nicht leicht verständlichen Klassizismen — und Rationalismen! — führen. Schon bei Alberti bedeutet „Klassizismus" durchaus nicht nur rationale Besinnung auf die tragende und lastende Funktion der einzelnen Bauglieder, sondern Zusammenklang aller Bauglieder miteinander und mit dem Ganzen des Bauwerkes; seine Baukunst ist keine konstruktive Logik, sondern „Musik der Verhältnisse". Wenn auch die künstlerische 91
Ausgestaltung der bauenden Vernunft, der rationale Idealismus antiker Baugesinnung grundlegend für alle Klassizismen bleibt, kann dabei der Akzent doch sehr wohl auf dem Idealismus und nicht auf der Ratio liegen, auf der abstrakten Gesetzlichkeit und nicht auf der konstruktiven Zweckmäßigkeit. Das führt zur Deutung des barocken Klassizismus in Frankreich,' England, Holland, Westdeutschland: innerhalb der zentralgeistigen Gestaltung des Barockzeitalters war nicht nur Platz für die stärker gefühlsmäßige, irrationale, erotische Formverschränkung und Verschmelzung, sondern auch für umfassende, streng regulierte Ordnungen, in denen das gleiche Ganzheitsbewußtsein seine rationale Ausprägung erfuhr. Der Rückgriff auf die italienische Klassik ist da um so verständlicher, als die nordische Renaissance in dem kurzen Jahrhundert ihrer Geltung den langsam gereiften Ganzheitsstil der italienischen Hochrenaissance kaum gekannt hatte. Daß aber der echt barocke Eros in der kühlen und klaren Atmosphäre klassizistischer Baukunst eine Heimat gefunden hätte, ist zu verneinen. Rembrandt sowohl wie Rubens hätten sich in Versailles nicht wohlgefühlt, und der an Rembrandt ergangene Auftrag, ein monumentales Gemälde für das stolze Rathaus zu Amsterdam anzufertigen, endete mit eineT Tragödie. Zum klareren Begriff des barocken Klassizismus diene die Feststellung, daß dieser zwar mit höchstem Nachdruck den zentralen Herrschaftsgedanken herausstellt, dagegen die spezifisch barocke Konjunktion nicht anerkennt oder doch stark in den Hintergrund schiebt. Dieser Konjunktionsbegriff ist in der Kunstgeschichte keineswegs neu. Schon in bezug auf die Baukunst hat man die gegenseitige Durchdringung der Raumteile, aber auch des Raumes und der Raumschale, des Raumkörpers und des plastischen Baukörpers durch den Begriff der Konjunktion, der Vermählung, der Paarung verdeutlicht (Brinckmann, Frankl). Audi in der äußeren Baugestaltung ist die kurvilineare Schwingung einer Fassade, die tiefenhafte und malerische, Lichter und Schatten erzeugende Durchgestaltung der konstruktiven und dekorativen Elemente so zu verstehen, daß der Baukörper seine klare, plastische Abgrenzung gegen die 92
Umwelt verliert, Bau und Raum in eine fließende Verbindung, eine konjunktive Beziehung eintreten. Auf weitere Konjunktionen in der barocken Baukunst wurde hingewiesen, so auf die Verschmelzung von Baukunst und Malerei in der illusionistischen Deckenmalerei, sowie auf die Einschaltung der Bildnerei. Im folgenden ist noch ein Woirt über die Manifestation des Eros, der barocken Konjunktion, in der Bildnerei und Malerei zu sagen. *
Für die Bildnerei gilt allgemein, was im Gegensatz zu der antiken und klassizistischen Stütze von der eigenartig barocken, spiralig in den Raum sich emporwindenden Säule — z. B. an Berninis Kathedra in der Peterskirche*— zu sagen ist: die Raumsehnsucht, die über sich selbst hinausgreifende innere Dynamik, der Verzicht auf plastisches und persönliches Für-sich-Sein in der malerischen Auflösung linearer und flächenhafter Begrenzung. Es ist keine Frage, daß die Bildnerei damit die ihr als Gattung zufallende Verpflichtung, die Gestaltung des in sich geschlossenen Organismus, überschreitet und vielfach nach Mitteln greift, die eher zur Kompetenz der Malerei gehören. Im Zusammenhang mit der malerisch-optischen Auflösung des plastischen Volumens ist — ähnlich wie in der Gotik — die Vorliebe für faltenreiche, bewegte Gewandmassen zu erwähnen, für den wallenden Bart der Kirchenheiligen oder die Lockenperücke in der aristokratischen Porträtplastik, dazu für so viele schon an sich „malerische" Gegenstände, wie Palmwedel, Wölkchen, Stoffvorhänge, die dem Figürlichen zugesellt werden. Denn auch das ist wesentlich, daß die plastische Gestalt in der Sehnsucht nach überplastischen und überpersönlichen Bindungen nicht nur durch die weitausgreifende, erregte Gebärde und schraubenartige Körperdrehung in den Raum hinüberweist, sondern dort auch eine gegenständliche Ergänzung findet und das Ziel aller inneren und äußeren Bewegung. Das führt zum Verständnis der barocken F i g u r e n g r u p p e . Lorenzo Bernini, auf den manche Typen der Barockbildnerei zurückzuführen sind, schuf die Verzückung der hl. Therese, 93
die zeigt, wie der himmlische Bräutigam in Gestalt eines knabenhaften Engels sich der in Ekstase zusammengesunkenen Frau nähert und seinen goldenen Pfeil auf ihr Herz zielt. Lichtstrahlen aus vergoldeter Bronze, Marmorwölkchen, sogar ein gelbes Licht, das den Gruppenraum erhellt, erzeugen eine entschieden malerische Wirkung. Wie wenig die Gestalt-der Therese im Sinne klassischer Plastizität empfunden wurde, zeigt ihre Kontur, die — z. B. im Gegensatz zu den vergleichbaren Medicifiguren Michelangelos — bizarr, unbestimmbar, bedeutungslos bleibt. Wir erkennen die eigentümliche, immer noch zu wenig berücksichtigte Beziehung zwischen Form und Inhalt, Stil und Stoff: der Ekstase der Frau, ihrer Hingabe und ihrem Außer-sich-Sein, entspricht der Verzicht auf plastische Sonderexistenz, die grenzenlose Beziehung zwischen Körper und Raum. Entscheidend ist aber, daß die weibliche Sehnsucht nach Ergänzung ihre Erfüllung findet in Gestalt des männlichen Partners. Damit wird Berninis Therese inhaltlich und formal zum Vorbild und Sinnbild des barocken Eros: nach vereinzelten Vorklängen in der Hochrenaissance (S. 80) bildet sich die deutlich diagonalgeteilte, bipolare Gruppe heraus, in der die beiden Gestalten der Nonne und des Engels sich zu -einer Zweieinheit, zu einem überpersönlichen und überplastischen Ganzen zusammenschließen. In diesem Zusammenhang sind weiter die typisch barocken ,,Konjunktionsgruppen" (Brinckmann) zu erwähnen, etwa die allgemein beliebten Frauenraubdarstellungen, in denen wir wiederum ein zweieinheitliches, aus einer männlichen und einer weiblichen Gestalt gewonnenes, schräg geteiltes und fest in sich verschraubtes Gefüge erkennen. Umgekehrt kann die Gruppendarstellung sich auch immer lockerer gestalten, während, zumindest in der Kirchenkunst, die eindeutige erotische Beziehung ausgeschaltet wird. Zu der von Bernini geschaffenen Umhüllung der Kathedra Petri, einem gewaltigen Gruppenaufbau mit unzähligen Figuren, Wolken und Lichtstrahlen, gehören auch die beiden Hauptgestalten der Kirchenväter, die frei im Kirchenraum stehen und auf die gemeinsame heilige Mitte verweisen. Später können diese Gestalten zu beiden Seiten der Altäre sich verdoppeln 94
and immer weiter in den Kirchenraum hervortreten, mit der Folge, daß der 'weite, zwischen ihnen und dem Altar sich erstreckende, von geistigen Beziehungen erfüllte Gruppenraum immer weitere Teile des architektonischen Kirchenraums für sich beansprucht und mit diesem verschmilzt. Dazu gesellen sich weitere Verbindungen, und namentlich wenn im süddeutschen Kirchenbarock die freistehenden Heiligengestalten sich in ihrer weißgoldenen Fassung an der Farbe der Architektur beteiligen und weitere plastische Figuren den von ihnen und dem Altar gebildeten pyramidalen Aufbau bis in die Deckenmalerei fortsetzen, ergibt sich eine vielfältige und innige Synthese zwischen Baukunst und Bildnerei, eine Vermählung dieser Künste, als deren Frucht wir die muntere Schar der zahllosen im Kirchenraum verstreuten Engelchen und Engelköpfchen bezeichnen möchten. Abgesehen von solchen umfassenden Verknüpfungen treten die Altarfiguren auch paarweise zueinander in Beziehung; in ihrer pathetischen, oft tänzerischen Bewegung und Gegenbewegung entsprechen und ergänzen sie sich über einen weiten Raum hinweg. Man denkt an die barocke Musikform, an das concerto, bei dem sich zwei Klangkörper gegenüberstehen, mag auch gleichzeitig die symphonische Ordnung zusammen mit dem Altar, mit Malerei und Architektur an die tutti des concerto grosso erinnern. Außerhalb der KircKe, in der reizvollen Gartenplastik und in der kleinfigurigen Porzellankunst, kommt die antithetische, zweifigurige Gruppe auch ohne betonte heilige Mitte aus. Die beiden ausdrücklich als männlich und weiblich charakterisierten Gestalten der „lockeren" Gruppe treten sich wie im Menuett und-oft als Tänzer im bewegten Spiel und Gegenspiel gegenüber. Die aus einer betonten Zweiheit gewonnene Einheit, der barockgeistige Eros, zu dem sich auch die Kirchenväter bekannten, wandelt sich in der Park- und Porzellanplastik des Rokoko in eine sehr weltliche Erotik. *
Wie das barocke Ganzheitserlebnis sich in der Malerei durchsetzt, ohne jede Angliederung an die Baukunst und abseits der Kirchen- und Hofkunst, zeigt vorzüglich die holländisch^ 95
Tafelmalerei des 17. Jahrhunderts, die Kunst des protestantischen Bürgertums. Völlig isoliert ist dieses schon erwähnte Sondergebiet barocker Kunstbetätigung selbstverständlich nicht, es handelt sich nur um die sehr reine Pflege einer auch sonst - allgemein verbreiteten intensiven Malkultur. Und vom Gesichtspunkt barocker Einheitssynthese könnte wohl Rubens, der alle Register beherrscht und vielfach Brücken zwischen dem katholischen Kirchenbarock, der aristokratischen Hofkunst und der bürgerlichen Tafelmalerei schlägt, als fesselnder erscheinen. Freilich waren dieser Allseitigkeit des großen Flamen Grenzen gezogen. Durch die französische Akademie wurde Rubens scharf abgelehnt und weit hinter den, übrigens völlig mißverstandenen und durchaus nicht höfischen Poussin gestellt. Ein Decken- und Kuppelmaler wie die italienischen und süddeutschen Großmaler ist Rubens nie gewesen, während nieht er, sondern Rembrandt sämtliche Gattungen der Tafelmalerei mit der gleichen Leidenschaft ergreift. Und versuchen wir, auf nordischem Boden und innerhalb der Tafelmalerei die geistige Wandlung zwischen der früheren und der mittleren Neuzeit zu ergründen, so greifen wir zuallererst nach Dürer oder Holbein oder Brueghel, aber dann nach Rembrandt. Der alte Brueghel füllte — wenigstens in dem früheren bunten Bilderbogenstil seiner „Sprichwörter", „Kinderspiele" u. dgl. — die Bildfläche mit zahllosen Einzelwahrnehmungen, die wir heute gerne im Ausschnitt als köstliche Einzelheiten betrachten, obwohl sie seinerzeit wohl mehr der Belehrung und Belustigung dienten. In seinem reifen Stil gibt Brueghel viel stärkere und stillere Zusammenhänge. Es gibt barocke Vorklänge, z. B. in den betonten Diagonalen seiner Bauernhochzeit oder des Blindengleichnisses und sogar in der Lichtwirkung (Marientod); dazu senkt sich der Horizont als Zeichen innerer Beruhigung und Vertiefung. Für die Durchgliedenmg der flämischen Kirnst des 16. Jahrhunderts sind solche Feststellungen ausschlaggebend, aber auch1 in dieser zweiten Stufe bleibt Brueghels Stil vielheitlich und buntfarbig. Wie so viele seiner deutschen Malergenossen sieht Holbein den Menschen als eine völlig für sich bestehende, scharf von 96
der Umwelt geschiedene Persönlichkeit. Bei den bläulichgrünen Gründen d^r Bildnismalerei erfolgt über die Beschaffenheit dieser Welt keine Aussage, aber sie kann auch eine ausführliche, gegenständliche Ausdeutung erfahren als Wirkungsfeld des Menschen, von dem er zwar getrennt bleibt, aber zu dem er auch in handelnder, kausaler Beziehung steht. Diese Entdeckung und sehr positive Bestimmung des Menschen entspricht wohl dem humanistischen Gedanken; aber man fühlt sich auch an Luther erinnert, wenn dieser die völlige Freiheit des inneren Christenmenschen betont, seine Unabhängigkeit von der äußeren Welt und vom Werk, gleichzeitig aber zugeben muß, daß der Mensch nun einmal äußerlich in diese Welt hineingestellt ist und sich in seinem Wirken mit ihr und mit seinen Mitmenschen auseinanderzusetzen hat; von einer dritten Möglichkeit, von der barockgeistigen Synthese zwischen Mensch und Umwelt, konnte auch Luther noch nichts ahnen. Daß dieses sehr männliche und sachliche, positivistische Weltergreifen zu ungeteilter Freude gereichte, ist sicher zu verneinen. Sobald der Mensch seine Rückendeckung in der Kirche verlor und sich Auge in Auge der überwältigenden Mannigfaltigkeit der Welt gegenübergestellt sah, mußte die Frage nach dem Wie und Warum dieser endlosen Gegensätzlichkeit sich auftun, ohne zu einer befriedigenden Antwort führen zu können. Der große Dürer, der so unendlich vieles beigetragen hat zu der Entdeckung des Menschen und der Naturdinge, aber auch des Raumes, in dem die Auseinandersetzung zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Welt sich vollzieht, scheint in seinen Meisterstichen die verschiedenen Möglichkeiten menschlichen Verhaltens in dieser Stufe unmittelbarer, peripherer Weltbezogenheit dargestellt zu haben. In der „Melancholie": den Zustand leidvoller Abgezogenheit des Menschen, der in aussichtsloses Grübeln über die verwirrende Vielheit der Objektwelt versinkt. In „Ritter, Tod und Teufel": die heldenhafte Persönlichkeit, die unbekümmert um alle äußere Bedrohung ihrem Ziel nachgeht. In „Hieronymus im Gehäuse": wohl eher den freien Christenmenschen, der sich vom äußeren Wirrsal abwendet, um im Glauben zu ruhen. Aber in all diesen Fällen 7 Scheltema, Geistige Mitte
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behielt die Welt den Charakter einer betont gegenständlichen, dem Menschen entgegenstehenden Vielheit, und so blieb auch Dürers Kunstform eine „vielheitliche Einheit". Demgegenüber führt die versöhnende, barocke Synthese bei Rembrandt nicht zu einer „einheitlichen Einheit" (Wölfflin), sondern zu einer vielgliederigen Ganzheit, die unlösbar mit dem Begriff des Malerischen verbunden bleibt. Wir haben bei der Erwähnung der Wölfflinschen Stilkategorien schon bemerkt, daß das malerische Sehen unter allen Umständen ein zusammenfassendes Sehen ist und ein Zeichen geistiger Synthese. Gegenüber der linearen Umgrenzung, durch die das Figürliche als ein Absolutes scharf-von seinem Grund getrennt wird, erzielt die malerische Kontur eine fließende Verbindung zwischen Figur und Grund, eine Zweieinheit, die sich schließlich in jedem malerischen Fleck wiederholt. Das ist auch deshalb wichtig, weil wir mit der Beziehung zwischen Figur und Grund zugleich die Frage der Tiefengestaltung und des völlig neuen barocken Raumerlebnisses berühren. Insofern nämlich Figur und Grund sich jeweils als das Nähere und Fernere verhalten, bedeutet ihre Verschmelzung, daß jeder einzelne Raumpunkt als eine Synthese zwischen Nähe und Ferne, der Raum selber als in ständigem Werden begriffen wird. Die geheimnisvolle Tiefe in Rembrandts Bildern beruht zweifellos auf der ständig wechselnden dynamischen Spannung in jedem Raumpunkt; sein Raum ist vollen Geschehens, auch wenn er völlig leer erscheint. Redet Wölfflin von der Fläche als dem Element der Linie, so ist hinzuzufügen, daß der Raum das Element des malerischen Fleckes darstellt. Auf die unlösbare Frage von Dürers Melancholie gibt Rembrandt die erlösende Antwort, weil seine malerische Weltanschauung alles Gegensätzliche und Gegenständliche in einer allumfassenden Einheit aufhebt. Man kann von den Selbstbildnissen Dürers und Rembrandts ausgehen, um zu verstehen, daß in der Malerei der Neuzeit der Beziehung zwischen Figur und Grand die Relation zwischen der menschlichen Persönlichkeit und ihrer Umwelt entspricht. Verschmelzen beide Elemente miteinander, so besagt das, daß 98
das Ich sich mit der Welt in einer höheren Einheit zusammenfindet. Wölfflin faßte die Beziehung zwischen Figur und Raum (bzw. Grund), zwischen dem Dinglichen und Nichtdinglichen in der bedeutsamen Aussage: „Es ist, als ob alles aus einem Stoff wäre." Ist dieser „ S t o f f " nicht physikalisch gemeint, so trifft das Wort zu: was Rembrandt malt, ist streng genommen überhaupt kein G e g e n s t ä n d l i c h e s , sondern ein Z u s t ä n d l i c h e s , es ist der endlos wechselnde Zustand einer und der gleichen, allumfassenden und alldurchdringenden geistigen Substanz, die noch formlos in den dunklen, mütterlichen Gründen ruht, in den Menschen und Dingen sich zu persönlichem und gegenständlichem Dasein verdichtet, aber auch dann eben nur ihren Zustand wechselt. Auf die Frage, welche Substanz das ist, gibt Rembrandts Zeitgenosse Spinoza die. Antwort: Es handelt sich wohl in der Tat um Spinozas „Gott oder die Natur" (deus sive natura) als die eine, unendliche, unteilbare Substanz, deren Modifikationen die Dinge sind. Omnia in Deo, Gott geht als Einheit den Einzeldingen logisch voraus; die Dinge sind nichts Selbständiges, sondern Zustände der All-Einheit, ohne die sie nichts wären. So verhält sich Rembrandts dunkler, diffuser Muttergrond zu der aus ihm sich herausentwickelnden Figur wie in Spinozas Pantheismus Gott zu den Dingen, die „natura naturans" zu der „natura naturata". Es ist keine Frage, daß das fortgesetzte W e r d e n der Figur aus dem Grund zugleich als ein E n t w e r d e n aufgefaßt werden kann; in der malerischen Kontur entläßt der Grund nicht nur die Figur aus sich heraus, sondern nimmt sie auch in sich zurück. Man muß auch Verständnis dafür haben, daß die Mitglieder einer Schützengilde, die ehrlich für ihren Platz im Gruppenbildnis bezahlt hatten, sich gegen J a s Entwerden ihrer werten Persönlichkeit sträubten. Überhaupt wird uns klar, wie wenig die malerische Weltanschauung dem stolzen Selbstbewußtsein einer aristokratischen oder höfischen Gesellschaft entspricht; welche Umwertung aller Werte hier geschieht und wie sich — bis in den Hofzwergen und Gassenbuben der spanischen Malerei — eine „Demokratisierung" des Bildstoffes durchsetzt, weil 7*
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die persönliche Bedeutsamkeit oder soziale Stellung des Dargestellten nur noch sekundär bedeutsam erscheinen kann. Aber daß dieses malerische Entwerten des Figürlichen "zugleich dessen Entwertung wäre, ist entschieden zu verneinen. Erst heute bricht wieder sehr allmählich die Erkenntnis durch, daß die Würde des Persönlichen durch seine funktionelle Einbeziehung in eine überpersönliche, geistige Ganzheit nicht geschmälert, sondern erheblich gesteigert wird. Bei Rembrandt: das selbstlose Entwerden der Figur in eine allumfassende, göttlichgeistige Substanz ist zugleich ein Werden aus ihr und damit tiefste Anteilnahme. Nur bleibt die Voraussetzung, daß das Persönliche und Einzelne als solches erkennbar bleibt; das aber ist — im Gegensatz zum radikalen Impressionismus des späten 19. Jahrhunderts — kennzeichnend für die altholländische Tafelmalerei, daß die „sachliche Forderung" nicht beeinträchtigt wird und daß die reine Polarität zwischen Figur und Grund erst durch die eindeutige Bestimmbarkeit beider Teile zum vollen Bewußtsein kommt. Über die Beziehung zwischen Figur und Grund hinaus ist der barocke Eros, das Bekenntnis zu der aus einer Zweiheit gewonnenen Einheit, an einer Reihe weiterer Polaritäten zu verfolgen. In engem Zusammenhang mit dem malerischen Sehen ist die Beziehung zwischen dem bräunlich-goldenen oder silbergrauen Einheitston und der Lokalfarbe in der niederländischen .Malerei zu erwähnen. Die Freilichtmaler des 19. Jahrhunderts haben diesen „Atelierton" als „braune Sauce" scharf abgelehnt; Spengler sah tiefer und deutete ihn geradezu als Schicksal, Gott, den Sinn des Lebens. Hier genügt die Feststellung, daß der Einheitston der niederländischen Tafelbilder sich zur Lokalfarbe ähnlich verhält, wie der Grund zur Figur, wie die all-eine, an sich undeterminierte, geistige Substanz zum Einzelnen, Sachlichen, Individuellen. Versteht Spinoza alles Einzelne als eine Verneinung des einen Seienden — omnis determinatio est negatio — , so ist zu bemerken, daß die Lokalfarbe bei den alten Holländern zwar immer gegenständlich gebunden ist, aber trotzdem keine bloße Negation des Eintones darstellt, an dem sie vielmehr beteiligt bleibt, und der sich im Lokalicid
farbigen individualisiert. Geht später und namentlich im 19. Jahrhundert der barocke Eros verloren und wird die polare Spannung zwischen den beiden Elementen nicht mehr verstanden, so verliert der Einton allerdings seine weltanschauliche und künstlerische Berechtigung, wird „braune Sauce". Gleichfalls unter dem Gesichtspunkt des Malerischen ist natürlich der Gegensatz zwischen Hell und Dunkel, Licht und Schatten zu verstehen. Wenn Rembrandt immer wieder als der Meister des Heil-Dunkels bezeichnet wird, so deswegen, weil namentlich für ihn Licht und Finsternis zu den beiden antithetischen Gewalten werden, die das zweieinheitliche Weltbild, den tiefen geistigen Eros dieses großen Menschen bedingen. Wesentlich ist, daß bei Rembrandts Vorgängern, z. B. bei Caravaggio, die Beziehung zwischen Licht und Dunkel erst als eine bloße Gegensätzlichkeit empfunden wird, die sich ständig und schroff wiederholt und damit eine zerrissene Bildstruktur bedingt, die sich vorzüglich zur Darstellung von Marterszenen bis zum harmloseren Zahnreißen Honthorsts eignete. Erst Rembrandt gewinnt aus dieser vieljieitlichen Lichtführung eine höhere Einheit. Licht und Finsternis werden zu den beiden Elementargewalten, die sich gegenseitig bedingen und durchdringen, sich in den jetzt so bedeutsamen Schatten vermählen. Sie werden zu den beiden polaren Zuständen, die den Aufbau des Universums bestimmen und das Feld ewig wechselnder, dynamischer Spannung erzeugen, in das alles Einzelne und Persönliche hineingestellt ist. Es gibt in der so unendlich selbstverständlich scheinenden und doch tief geheimnisvollen niederländischen Tafelmalerei eine Reihe weiterer Polaritäten, die sich deutlicher bei einer Betrachtung der Bildstruktur herausstellen. Wir besitzen eine Skizze von Rembrandt nach Leonardos Abendmahl, in der — wie in dem Vorbild — Christus die strahlende Mitte der Komposition bildet. Leonardos Bild, sogar der Gedanke des mystischen Opfers, findet jetzt aber eine rein malerische Interpretation; Christus wird zum „Licht der Welt", das sich strahlend über die Jünger ergießt, in der Umwelt entäußert, bis es sich in den dunklen Enden und Ecken verliert. Wie bei Leonardo beherrscht die strahlende Gewalt der Mitte 101
das ganze Bild, aber anders als in der italienischen Klassik wird diese zentrale Kraft so stark betont, daß die äußeren Bildgrenzen unbestimmbar bleiben. Die Form öffnet sich — nach Wölfflin — und es bietet sich die eigenartige Analogie zu dem zentralen, von innen nach außen gerichteten Raumerlebnis der Gotik: wie dieses nicht mehr durch die Raumgrenzen bedingt wird, so gehen im barocken Tafelbild allgemein die Bedeutung und die Bestimmbarkeit der Bildgrenzen dadurch verloren, daß sie sich im Endlosen verlieren. Obwohl Rembrandt in dem erwähnten Fall die klassische, symmetrische Komposition mit betonter mittlerer Achse übernimmt, erscheint bei ihm und allgemein in der niederländischen Malerei eine ganz andere Bildstruktur als die maßgebende: das ist die diagonale Teilung des Bildfeldes mit umgekehrter Entsprechung der beiden Bildhälften. Besonders in der reinen Landschaft — aber keineswegs nur dort — finden wfr die Aufteilung des länglichen Bildfeldes in zwei Dreiecke, ein unteres, nahes und dunkles Erddreieck und ein oberes, fernes und helles Himmelsdreieck, die erst zusammen das Bildganze ergeben. Durchweg tritt eine zweite, entgegengerichtete Schräge hinzu, die als Tiefenweg oder „Raumgasse" vom nahen Vordergrund in die weiteste Ferne führt. Dieser Bildgedanke ist kein Rezept, sondern eine freie, der Struktur der Zeit entsprechende, daher ständig wiederkehrende, aber endlos abgewandelte Erlebnisform. So kann die Bilddiagonale sich jnehr der Vertikale oder der Horizontale annähern; die höchste Erderhöhung kann ein Hügel, ein Baum, ein Haus, eine Mühle sein. Sie liegt niemals in der oberen Bildecke, bleibt vom oberen und seitlichen Rand entfernt, so daß das Himmelsdreieck über sie hinweggreift. Umgekehrt kann das Erddreieck sich an seiner niedrigsten Stelle im „Repoussoir" erhöhen; die Diagonale nähert sich einer S-förmig geschwungenen Linie, die übrigens als Bildteilung auch rein gezogen und durch eine Wendeltreppe motiviert werden kann (Rembrandts „Der Philosoph", Louvre). Dazu kann die Hell-Dunkelpolarität wiederholt umgekehrt werden, indem das Himmelsdreieck stellenweise — etwa durch eine Gewitterwolke —abgedunkelt, das Erd102
dreieck aufgehellt wird. Wie gesagt beschränkt sich diese Bildform nicht auf die Landschaft. Ein Stilleben von Willem Claesz Heda oder ein Innenraum Pieter de Hooghs kann die gleiche Struktur wie eine Landschaft Jacob Ruysdaels aufweisen. Bezeichnenderweise kann ein ovales Bildfeld gewählt werden (van Goyen, Sommerlandschaft in Dresden), aber auch wenn das nicht der Fall ist, birgt die Bildform zwei Brennpunkte in sich, sie ist bipolar und Ausgestaltung des barocken Eros, der nun nicht wie dm katholischen Kirchenbarock in einer besonders für ihn erbauten Sphäre beheimatet ist, sondern in der Natur selber geschaut oder in sie hineingelegt wird. Hier liegt der Unterschied zu den vergleichbaren Vorformen im 16. Jahrhundert, daß die Konjunktion der sich ergänzenden gegensätzlichen Elemente keine anthropomorphe Ausdeutung zu erfahren braucht, wie bei den venezianischen Venus- und Danae-Darstellungen geschah. Gegenüber der stark betonten Schrägteilung in Brueghels späteren Arbeiten fällt auf, daß die Diagonale dort durch die Figurengruppe getragen wurde — Bauernhochzeit, Blindenfabel — , die beiden restierenden Dreiecke also nur Füllung blieben. Jetzt dagegen liegen die beiden Schwerpunkte gerade in diesen Dreiecken, die gemeinsame Diagonale kann gegenständlich leer bleiben, wie denn überhaupt die Bildmitte eines niederländischen Tafelbildes nicht figürlich oder gegenständlich betont zu werden braucht, um trotzdem als der Ort, an dem die dynamische Spannung zwischen den beiden Bildteilen ihren Ausgleich findet, die höchste geistige Erfüllung zu erfahren. Endlich ist gegenüber vergleichbaren flämischen Landschaften des 16. Jahrhunderts hervorzuheben, daß die Unterscheidung zwischen einem farbigen Vordergrund und einer in blauen Dunst verschwindenen Ferne keine bloße Gegensätzlichkeit bleibt, sondern daß die Raumgasse eben das ständige W e r d e n der Ferne und Tiefe veranschaulicht, die Synthese oder die Konjunktion zwischen den beiden Polzuständen eines greifbar nahen, farbigen und gegenständlich betonten Diesseits und der endlosen, unbestimmbaren Ferne, die wir wohl als die weltliche Interpretation des unendlichen Jenseits verstehen dürfen. 103
Aber die Größe dieser Entfernung ist nicht entscheidend, die gleiche Nah-Fernpolarität kann sich auch in einem Stillleben, einem Porträt oder in der Darstellung eines geschlossenen Innenraums durchsetzen. Bleibt dabei die Mitte nicht unbezeichnet, sondern wird irgendeine persönliche oder gegenständliche Gestalt in den Kreuzungspunkt der konträren Beziehungen hineingestellt, so gewinnt diese eine ganz besondere Würde als das mittlernde Element, in dem die Antithese zwischen Himmel und Erde, Licht und Dunkel, Ferne und Nähe zur höheren Synthese gelangt. Bei der beliebten Darstellung häuslicher Innenräume machen sich noch weitere polare Beziehungen geltend. Es handelt sich um den Gegensatz zwischen einem heller beleuchteten und zumeist die Figurendarstellung enthaltenden Vorderraum und einem seitlich entfernten Dunkelraum oder auch, besonders oft, zwischen einem Innenraum mit Figuren und dem äußeren, fernen Naturraum, in den eine geöffnete Tür auf der einen Bildseite den Ausblick gewährt. Obwohl später aus der umgekehrten Entsprechung der beiden Bildhälften eine Art Vorschrift gemacht wurde (de Lairesse), ist es unwahrscheinlich, daß sie in der kurzen Blütezeit der altholländisdien Malerei mit Absicht durchgeführt wurde; unwahrscheinlicher noch, daß deT Maler die regelmäßig durchgeführte bipolare Struktur als eine genauer bestimmbare geschlechtlich« Differenzierung aufgefaßt hätte. Auf eine solche bewußte Gestaltung und Deutung durch den Künstler kommt es aber gar nicht an; die Frage ist vielmehr, ob der Maler bei der künstlerisch-gefühlsmäßigen Durchgestaltung seiner Polaritäten nicht zugleich auf gewisse ewig gültige, allgemein verbreitete und aus dem Unterbewußtsein quellende Vorstellungen zurückgriff, die erst heute zum Gegenstand begrifflicher Deutung werden. Ein eigenartiges Beispiel ist die in der Landschaft so wichtige Beziehung zwischen Himmel und Erde, weil wir die schon seit der Vorzeit gültige männliche Charakterisierung des Himmels, die weiblicSe der Erde kennen. In der italienischen Klassik, z. B. in Correggios Io, erfuhr dieser Gedanke eine späte, überraschende Bestätigung, in Berninis Therese mit ihrem himmlischen Bräutigam eine kirchliche Abwandlung. Daß aber der holländische Maler 104
sich das dunkle Erdreich seiner Landschaft als weiblich, da» helle Himmelsdreieck als männlich gedacht hätte, ist sicher zu bezweifeln. Aber gerade weil er sich nichts bei dieser echten Konjunktionsgruppe dachte, ist sie um so bemerkenswerter, weil der durch eine S-Kurve geteilte Kreis in der chinesischen Symbolik als das Zeichen der Weltordnuhg erscheint, und zwar auf Grund der Vereinigung des Himmels und der Erde, des männlichen und des weiblichen Prinzips (Jang und Jin). Eine nähere Bestimmung der erwähnten polar entgegengesetzten Elemente wird vielfach dadurch erschwert, daß die Beziehung — z. B. zwischen Hell und Dunkel — sich als umkehrbar herausstellt. Trotzdem haben wir bei unserer Bilddeutung das Recht, den Dunkelgrund und den Einton in der Tafelmalerei als das weibliche und mütterliche Element zu bezeichnen, das, selber undifferenziert, aber formschwanger, das Figürliche und Farbige aus sich entläßt. Es entspricht uralten Vorstellungen, aber auch den Ergebnissen moderner Tiefenpsychologie, in der Hell-Dunkelpolarität das Dunkel als Sinnbild des weiblich-mütterlichen, das Licht als Träger des männlichen Prinzips zu deuten. Wiederum uraltes, allgemein menschliches Gedankengut enthält der Gegensatz zwischen Innenraum und Außenwelt. Hierzu ist zu bemerken, daß jeder Innenraum an und für sich ein Dunkelraum ist, und daß — wenn keine künstliche Lichtquelle gewählt wird — erst das von außen hereinfallende Licht aus diesem Dunkel die Vielheit der gegenständlich gebundenen Formen und Farben erzeugt. Eine weitere Erwägung ist, daß der von der Umwelt geschiedene, umschlossene Raum zu allen Zeiten als weiblich charakterisiert erscheint und daß seit der frühen Vorzeit namentlich die Wohnung oder der Wohnraum der unbestrittene Herrschaftsbereich der Frau, der Ordnerin des Hauswesens war. D a s gilt vorzüglich für die holländischen „Binnenhuisjes", die regelmäßig als das weibliche temenos gekennzeichnet werden, in dem die Frau als Mutter mit ihrem Kinde, als Hausfrau, als Köchin ihres hohen Amtes waltet oder wohl auch eine weniger einwandfreie, aber nicht minder weibliche Funktion erfüllt. Bei Vermeer (Die Lektüre, Amsterdam) steht 105
die Dame in ihrem Zimmer als beherrschende Mitte des intimen, ganz auf sie bezogenen und von ihr erfüllten Bezirkes, als Mittlerin auch zwischen den in ihr sich kreuzenden Hell-Dunkel- und Nah-Fernbeziehungen, während das Licht durch ein seitliches, nicht sichtbares Fenster hereinfällt und der Frau gestattet, das ihr zugestellte Briefchen zu lesen. Wir gelangen zu der Feststellung: es ist der vorzeitliche Gedanke vom Eintritt des Sonnengottes in den heiligen Bezirk der Mutter Erde, der mittelalterlich-christliche Gedanke von der auf goldenem Lichtstrahl zu der Jungfrau in ihrem Kämmerlein schwebenden Heiliggeisttaube, der in dieser unendlich anspruchslosen holländischen Tafelmalerei seine neuzeitliche, innerweltliche Abwandlung und Ausdeutung erfährt. Bezeichnenderweise kann die Frau in sämtlichen von Leibniz erwähnten absoluten Machtbereichen — Gottes, des Fürsten und des Hausvaters — bedeutsam, ja beherrschend hervortreten. Wir denken an die restaurierte Macht der Mutter Kirche, an die Erneuerung des Madonnenkults und die schwärmerische Verehrung weiblicher Heiligen, die die neue religiöse Vertiefung begleitet. Eigenartig und dem Renaissancemenschen wohl kaum verständlich ist die Bedeutung, die die Frau im Kulturleben und in der europäischen Politik des 17. und 18. Jahrhunderts gewinnt: in Gestalt der Maitresse, aber gewiß auch der Fürstin, die wie Maria Theresia als „Hausfrau ihrer Staaten und Mutter ihrer Völker" die absolute Gewalt ausübt. In der Kunst, vor allem bei Rubens und seinen Nachfolgern, fand die leidenschaftliche Bejahung strahlend sich entfaltender Lebenskraft ihren Ausdruck in der Darstellung der Frau, diesmal in ihrer höchsten körperlichen Blüte als Quelle des Lebens und Sinnbild der Fruchtbarkeit. Trotzdem möchten wir annehmen, daß die Tafelmalerei des protestantischen Bürgertums das eigenartigste Beispiel für die zentrale Erhöhung des weiblichen Prinzips gebracht hat und daß die Erdenmutter unserer Vorzeit, die Gottesmutter des Mittelalters ihre vollgültige neuzeitliche Metamorphose in der gut bürgerlichen Hausmutter der holländischen „Binnenhuisjes" erfuhr. *
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Die Gliedstufen des Barock können hier nicht ausführlich erörtert werden. Allein schon die holländische Malerei des 17. Jahrhunderts gliedert "sich deutlich in drei Stufen; die bipolaren Strukturen, die wesentlich die Größe dieser Kunst und der gleich scharenweise auftretenden Maler bedingen, beschränken sich auf eine kurze mittlere Stufe, sie werden erst aus einem mehr vielheitlichen und bunten Formgefüge im früheren 17. Jahrhundert gewonnen und verlieren in den letzten Jahrzehnten wiederum ihre Geltung. Wichtiger ist der größere Umlauf, der sich in den Stufen des Früh-, Hochund Spätbarock oder Rokoko vollzieht und der Periodizität Früh-, Hoch- und Spätrenaissance entspricht. Angesichts eines Gemäldes von Rembrandt oder Hals, Rubens oder Velazquez wäre .die Frage berechtigt, wie denn der synthetische Griff einer zweiten, zentralgeistigen Barockstufe sich überhaupt noch über die starken inneren Bindungen diesef Tafelmalerei hinaus geltend machen könne. Die Antwort ergibt sich, wenn man die oft gemalten holländischen Innenräume des 17. Jahrhunderts mit der späteren aristokratischen Wohnkunst vergleicht, die sich in Anschluß an die französischen Königsstile verbreitet: die künstlerische Absicht greift über das einzelne, umrahmte, ganz für sich bestehende Tafelbild hinaus, indem sie den gesamten Raum mit seinen Möbeln, Teppichen, Wandbehängen, Decken- und Wandgemälden als ein farbig und formal reich gegliedertes Ganzes durchgestaltet. Was hier von der Wohnkunst des protestantischen Bürgertums gesagt wurde, gilt erst recht für die Hof- und Kirchenkunst, und obwohl die Grenzen sich in den einzelnen Ländern etwas verschieben mögen, geht doch regelmäßig die Tafelmalerei in ihrer höchsten Blüte der Großmalerei voran. Neben den großen niederländischen und spanischen Tafelmalern bezeichnen Nicolas Poussin und Claude Lorrain in Frankreich, Caravaggio in Italien, Elsheimer in Deutschland die frühere Blüte des barocken Tafel- und Einzelbildes. Umgekehrt gewann die intime Tafelmalerei wiederum erhöhte Geltung im Spätbarock-Rokoko, als die einsetzenden zentrifugalen Tendenzen sich zu Gunsten des Einzelbildes auswirkten. Watteau steht an dieser Stelle und wie er zeigen nun auch die 107
Italiener und Deutschen, wie nahe ein Rückgriff auf den Frühbarock, auf Rubens und Rembrandt, lag. Es gewährt einen besonderen Reiz, die spätbarocken Spaltungserscheinungen in der elementaren Formsprache der Ornamentik zu verfolgen, weil das Rocaille, dem das Rokoko seinen Namen verdankt, begrifflich — und diesmal auch formal — ein typisches, in sich geschlossenes C-Motiv darstellt, das sich jeder fließenden Ergänzung zu widersetzen scheint. Allerdings belehren uns die Baukunst, Bildnerei, Malerei und vorzüglich die Ornamentik des Rokoko darüber, daß der barocke Totalitätsgedanke noch keineswegs zerstört, sondern nur gelockert wurde und einen um so größeren Reiz gewann, als seine Teile sich unabhängiger von einander und vom Ganzen zu verhalten scheinen: wie in der Spätrenaissance wandelt sich auch im Spätbarock der ernste, geistige Eros zum galanten erotischen Spiel. Aus der Einsicht, daß diese zentrifugale Bewegung sich innerhalb des barocken Ganzheitsgefüges vollzieht und dieses selber noch nicht ernsthaft bedroht, geht die ganze Sinnlosigkeit der immer noch üblichen Stufenunterscheidung Renaissance-BarockRokoko hervor. Nach dem Früh- und dem Hochbarock ist das Rokoko ein Spätbarock, die letzte, zentrifugalgeistige Gliedstufe des Barock. 'Die Stufen Renaissance, Barock und Rokoko sind also gar nicht homolog, sie bilden keinen Umlauf. Renaissance und Barock sind die beiden ersten Teilstrecken auf dem großen Zifferblatt der Neuzeit; das Rokoko dagegen die letzte Strecke im kleinen Umlauf des Barock. Fragen wir aber, wo nach der Renaissance oder Frühen Neuzeit und dem Barock oder der Mittleren Neuzeit die genetisch und systematisch zugehörige dritte Periode der Neuzeit eich erstreckt, so kann nur die Späte Neuzeit seit der Aufklärung die gesuchte Antwort erteilen.
Späte
Neuzeit
Es gibt mehrere Gründe, weshalb die systematische Stellung der Späten Neuzeit in der Kunstgeschichte niemals klar er108
k a m t wurde. Solange der Entwicklungsbegriff dem Kunst forscher fehlte, mußte er froh sein, wenigstens an einzelnen Stellen die chaotische Mannigfaltigkeit der historischen Erscheinungen einer inneren, besonders klar hervortretenden Gesetzlichkeit zu unterstellen. Was über solche beschränkte Beobachtung hinausging, blieb zunächst terra incognita der begrifflichen Forschung oder ein Gebiet scheinbarer Gesetzlosigkeit, das sich einer einheitlichen Beurteilung entzog. Dazu kommt, daß Goethes Systole oder Spencers Integration in der Abfolge der beiden ersten Geistesstufen sich kunstund stilgeschichtlich immer viel klarer ausprägt als die zugehörige Diastole oder Desintegration der dritten Stufe, wo die innere Gespaltenheit eine einheitliche Deutung erschwert. Schon in der Vorzeit bildet der Übergang von der geradlinigen zur krummlinigen Ornamentik einen denkbaren klaren Fall geistiger Konzentration, und ähnlich verhält es sich mit der einwandfrei untersuchten Wende von der Romanik zur Gotik und von der Renaissance zum Barock. Dagegen blieb die genaue Stellung der germanischen Tierornamentik, der nordischen Spätgotik, des Manierismus und sogar des Rokoko als der jeweils dritten Stufe unserer Vorzeit, des Mittelalters, der Renaissance und des Barock zumeist ungeklärt. Endlich* ist zu bedenken, daß die zentrifugale Entbindung des Kunst- und Kulturgefüges sich nach dem Mittelalter und den auch wahrend der Neuzeit noch möglichen zentralgeistigen Gegenströmungen mehrfach potenziert und das Kunstschaffen infolgedessen immer stärker den Eindruck unbestimmbarer Mannigfaltigkeit, wenn nicht Formlosigkeit erweckt. Das ist der Grund, weshalb der Barock so oft als die überhaupt letzte historische Stilstufe bezeichnet wird. Allerdings ist nicht zu vergessen, daß mit der größeren Nähe der historischen Erscheinungen auch das Interesse am Einzelnen und Persönlichen stärker wird, während die weiter zurückliegenden Kulturstufen eher zum Vereinfachen als zum Unterscheiden auffordern. Die einheitliche Bestimmbarkeit der Renaissance oder des Barock beruht sicher zum Teil auf einer perspektivischen Verkürzung. Bedenken gegen Wölfflins Stilbestimmungen erfolgten z. T. aus der Schwierigkeit, die Form109
gebung Mantegnas und Tizians unter dem Begriff der Klassik, oder die holländische Wohnkunst des 17. Jahrhunderts und des Louisquinze unter dem Stilbegriff des Barock zusammenzufassen. Der Gegensatz van Campen-Rembrandt, d. h. zwischen dem Klassizismus der großbürgerlichen Baukunst und dem „demokratischen", malerischen Realismus der Tafelmalerei, stellte vor weitere Schwierigkeiten. Es zeigte sich, daß die bloße Unterscheidung zwischen Renaissance