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German Pages 324 Year 2011
INNOVATION UND RECHT IV
Innovation, Recht und öffentliche Kommunikation
Herausgegeben von
Martin Eifert Wolfgang Hoffmann-Riem
asdfghjk Duncker & Humblot
Innovation, Recht und öffentliche Kommunikation
Innovation, Recht und öffentliche Kommunikation Innovation und Recht IV
Herausgegeben von Martin Eifert Wolfgang Hoffmann-Riem
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-12973-7 (Innovation und Recht – Gesamtausgabe) 978-3-428-13524-0 (Innovation und Recht IV – Print) 978-3-428-53524-8 (Innovation und Recht IV – E-Book) 978-3-428-83524-9 (Innovation und Recht IV – Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort „Innovation, Recht und Öffentliche Kommunikation“ bildet den vierten und letzten Band der Untersuchungen zu Innovation und Recht im Rahmen des von der VW-Stiftung finanzierten Projekts „Innovationsrecht“. Das Projekt untersuchte die Einwirkung des staatlich gesetzten Rechts auf die Innovationsprozesse und deren Ergebnisse aus rechtswissenschaftlicher, aber auch trans- und interdisziplinärer Perspektive mit dem Ziel einer Weiterentwicklung innovationsoffenen Rechts. Der erste Band behandelte „Geistiges Eigentum und Innovation“ und arbeitete die Differenzierungsbedürftigkeit von Ausgestaltung und Schutz Geistigen Eigentums zur Innovationsförderung heraus. Der zweite Band, „Innovationsfördernde Regulierung“, untersuchte zentrale übergreifende Regulierungsregime und Instrumente auf ihre innovationsfördernden Potentiale und leuchtete die Querschnittsprobleme regulatorischen Wissens und der Rückwirkungen rechtlicher Regelungen auf die Innovationsprozesse aus. Der dritte Band wandte sich der „Innovationsverantwortung“ zu und lotete die Aufgaben und Kapazitäten des Rechts zur Sicherung von Rechtsgütern und rechtlich geschützten oder nur gesellschaftlich anerkannten Interessen bei der Entwicklung von Innovationen aus. Der vorliegende Band fokussiert im Gegensatz zu den ersten drei Bänden auf einen Sachbereich, die Öffentliche Kommunikation, die in herausragender Weise in den letzten Jahrzehnten durch Innovationen geprägt wurde. Er weitet aber zugleich die betrachteten Innovationen über die in den ersten drei Bänden im Vordergrund stehenden technischen und Produktinnovationen hinaus auch auf soziale Innovationen. Damit rücken innovative Diensteangebote und Inhalte ebenso wie neue Produktionsformen verstärkt in den Blick und wird das Recht auch in seinen Reaktionen und Anpassungsleistungen stärker beleuchtet. Nach einer Einführung wird zunächst an die vorherigen Bände angeschlossen und der Rechtsgüterschutz durch technologische Innovationen für die Bereiche Jugend- und Datenschutz sowie die Provider-Haftung untersucht. Im zweiten Teil rücken die Diensteinnovationen im Sinne technischer und inhaltlicher Ausdifferenzierung und ihre angemessene rechtliche Erfassung in den Vordergrund. Die an den Beispielen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und der Filmförderung erörterten Möglichkeiten und Grenzen der Generierung innovativer Inhalte durch akteursbezogene bzw. akteurübergreifende Regulierung im dritten Teil bilden den Übergang zur Behandlung von sozialen Innovationen und ihrer rechtlichen Umhegung im vierten Teil. NetzCommunities, Wikipedia, Online-Wahlkampf, Bewertungsplattformen und virtuelle Welten bilden die hier in den Blick genommenen Innovationen. Ein Rückblick auf das Projekt insgesamt schließt den Band und die Buchreihe ab.
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Vorwort
Der Band resultiert aus einer Tagung am 3. und 4. Dezember 2009 in Gießen, die in Kooperation mit dem Zentrum für Medien und Interaktivität (ZMI) der Justus-Liebig Universität durchgeführt wurde. Für die sachkundige und zuverlässige redaktionelle Begleitung des Bandes danken wir Herrn Markus Berliner sowie für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung dem Zentrum für Medien und Interaktivität der Justus-Liebig-Universität. Gießen / Hamburg, September 2010
Martin Eifert Wolfgang Hoffmann-Riem
Inhaltsverzeichnis Innovation, Recht und öffentliche Kommunikation – zur Einführung Von Wolfgang Hoffmann-Riem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I – Rechtsgüterschutz durch technologische Innovation Technischer Jugendmedienschutz als Irrweg netzbezogenen Jugendschutzes? Von Murad Erdemir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Das Gebot der Datenvermeidung und -sparsamkeit als Ansatz wirksamen technikbasierten Persönlichkeitsschutzes? Von Alexander Roßnagel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rechtliche Verantwortlichkeit nach Maßgabe technischer Kontrollmöglichkeiten? Das Beispiel der Verantwortlichkeit von Internet-Providern Von Gerald Spindler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil II – Diensteinnovationen und die Veränderungen regulatorischer Anknüpfungspunkte Recht der Mediendienste auf der Suche nach operationalisierbaren Kriterien kohärenter Ausdifferenzierung Von Bernd Holznagel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Innovationsverantwortung und Haftung im Internet Von Thomas Hoeren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil III – Generierung innovativer Inhalte Akteursbezogene Stimulierung innovativer Angebote im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Die Bedeutung von Redaktionen und Rundfunkräten Von Barbara Thomaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Akteurübergreifende Quersubventionierung innovativer Angebote. Das Beispiel der Filmförderung Von Thomas Vesting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis Teil IV – Soziale Innovationen und ihre rechtliche Umhegung
Netz-Communities als Grundlage sozialer Innovationen und die Aufgabe des Rechts Von Margarete Schuler-Harms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wikipedia: Ein neues Produktionsmodell und seine rechtlichen Hürden Von Roger Luethi und Margit Osterloh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wahlkampf als Onlinespiel? Die Piratenpartei als Innovationsträgerin im Bundestagswahlkampf 2009 Von Christoph Bieber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Innovationsverantwortung im Netz. Die rechtliche Konturierung angemessener Verhaltensstandards im Internet Von Martin Eifert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Virtuelle Welten als Innovationsräume. Am Beispiel von Rechtsfragen der Repräsentation Von Wolfgang Schulz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil V – Rückblick Rückblick auf das Projekt „Recht und Innovation“ Von Wolfgang Hoffmann-Riem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Autoren und Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Innovation, Recht und öffentliche Kommunikation – zur Einführung Von Wolfgang Hoffmann-Riem
I.
Prämissen des Projekts „Innovationsrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Innovationsdimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Zum Wandel im Bereich öffentlicher Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Schwierigkeiten rechtlicher Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Erwartungen an das Recht, Leistungsmöglichkeiten des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Möglichkeitsräume für Innovationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Prämissen des Projekts „Innovationsrecht“ Das Forschungsprojekt „Innovationsrecht“ geht davon aus, dass Innovationen1 moderne Gesellschaften stark prägen, und es stellt nicht in Frage, dass Innovationen auch in Zukunft für die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung wichtig sein werden. Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung zielt darauf, die Rolle des Rechts im Hinblick auf die Entwicklung von Innovationen im Bereich der Gesellschaft näher zu erfassen und zu fragen, wie ein „innovationssensibles“ Recht aussieht oder aussehen könnte. Dieses Recht lässt sich nicht allein auf das Ziel der Schaffung von Freiräumen für Innovationen oder von Maßnahmen zu deren Stimulierung (Innovationsoffenheit) reduzieren, sondern muss auch die mit Innovationen gegebenenfalls verknüpften positiv oder negativ bewerteten Auswirkungen auf andere Gemeinwohlaspekte einbeziehen (Innovationsverantwortung).2 Die dem Projekt aufgegebene Suche nach einem für die Entwicklung von Innovationen angemessenen Recht erfolgt im Kontext einer steuerungswissenschaftlich 1 Zu den verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffs der Innovation s. statt vieler Jürgen Hauschildt / Sören Salomo, Innovationsmanagement, 5. Aufl. 2010; Franz Pleschak / Helmut Sabisch, Innovationsmanagement, 1996, S. 1 ff.; Jan Fagerberg / David C. Mowery / Richard R. Nelson (Hrsg.), The Oxford Handbook of Innovation, 2005. 2 Zu diesen Begriffen s. etwa Wolfgang Hoffmann-Riem, Innovationen durch Recht und im Recht, in: Schulte, Martin (Hrsg.), Technische Innovation und Recht, 1997, S. 3 (9 ff.); ders., Innovationsoffenheit und Innovationsverantwortung durch Recht. Aufgaben rechtswissenschaftlicher Innovationsforschung, AöR 131 (2006), S. 255 (265 ff.).
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Wolfgang Hoffmann-Riem
orientierten Vorgehensweise, wie sie in einem Teil der neueren rechtswissenschaftlichen, insbesondere verwaltungsrechtswissenschaftlichen, Diskussion vorgeschlagen und ausgearbeitet wird.3 Diesem steuerungswissenschaftlichen „Strang“ der rechtswissenschaftlichen Diskussion geht es nicht um die Rezeption eines bestimmten sozialwissenschaftlichen – oder gar eines systemtheoretischen – Steuerungsbegriffs oder um die Rezeption einer bestimmten Steuerungstheorie.4 Ziel ist vielmehr zunächst nur die verstärkte Einbeziehung der Bewirkungsebene in die rechtliche Betrachtung: Rechtliche Steuerung kann insofern als das Hinwirken auf die Erreichung normativ erwünschter Ziele und auf die Vermeidung normativ unerwünschter Wirkungen durch den Einsatz von Recht verstanden werden. Wie dies praktisch geschieht oder zukünftig auf verbesserte Weise geschehen könnte, ist damit noch nicht präjudiziert. Anregungen dafür lassen sich aus verschiedenen Disziplinen gewinnen – insbesondere durch Rückgriff auf die in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen betriebene Innovationsforschung.5 Eine (auch) auf die Bewirkungsebene ausgerichtete Rechtswissenschaft kann als eine problemlösungsorientierte Entscheidungswissenschaft konzipiert werden.6 Dies führt im Vergleich zu der in ihren Methoden herkömmlich vorrangig textund auslegungsorientierten Rechtswissenschaft7 zu einem erweiterten Spektrum von Aufmerksamkeitsfeldern. Das auf Problemlösungsentscheidungen ausgerichtete Recht bildet sich zwar in geschriebenen und gegebenenfalls ungeschriebenen Rechtstexten ab, erschöpft sich in dem Textbezug aber nicht. Vielmehr sind für die Anwendung der Norm in der jeweiligen Entscheidungssituation weitere Steuerungsfaktoren bedeutsam; allerdings sind nur die rechtlich legitimierten unbedenklich. Zu den Steuerungsfaktoren gehören insbesondere der Einsatz der zur Entscheidung befugten Organisation, des handelnden Personals, des verfügbaren Verfahrens, der bereitgestellten sachlichen, zeitlichen und finanziellen Ressour3 Dazu Andreas Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I (im Folgenden: GVwR I): Methoden, Maßstäbe, Aufgaben, Organisation, 2006, § 1, insbesondere Rn. 16 ff. 4 Zu Steuerungsbegriffen und -theorien s. etwa Axel Görlitz / Hans-Peter Burth, Politische Steuerung, 2. Aufl. 1998, S. 77 ff.; Nicolai Dose, Trends und Herausforderungen der politischen Steuerungstheorie, in: Grande, Edgar / Prätorius, Rainer (Hrsg.), Politische Steuerung und neue Staatlichkeit, 2003, S. 19 ff. 5 Aus der Literatur s. statt vieler die Überblicke in Hagen Hof / Ulrich Wengenroth (Hrsg.), Innovationsforschung. Ansätze, Methoden, Grenzen und Perspektiven, 2. Aufl. 2010; Birgit Blättel-Mink, Kompendium der Innovationsforschung, 2006; Johann Welsch, Innovationspolitik. Eine problemorientierte Einführung, 2005; Holger Braun-Thürmann, Innovation. Soziologische Themen, 2005; Jens Aderhold / René John (Hrsg.), Innovation. Sozialwissenschaftliche Perspektiven, 2005. 6 Dazu vgl. Voßkuhle, Verwaltungsrechtswissenschaft (Fn. 3), § 1 Rn. 15 m. w. Hinw. in Fn. 105. 7 Prototypisch etwa Karl Larenz / Claus-Wilhelm Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 181 ff.
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cen u. ä.8 Diese Faktoren wiederum sind meist in mehr oder minder komplexe Regelungsstrukturen9 eingebunden, deren Wirkungsmöglichkeit von der Art des Zusammenspiels der verschiedenen in ihnen maßgebend wirkenden Faktoren geprägt ist. Die steuerungswissenschaftlich orientierte Rechtswissenschaft stellt ferner Fragen nach den Wirkungen des Rechts auf Verhalten und nach dem Beitrag des Rechts zur Lösung des jeweils vorliegenden (lösungsbedürftigen) Problems. Dabei sind selbstverständlich die rechtlichen Grenzen des Verhaltens zu beachten, wie sie sich in dem Unterschied von Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit abbilden. Soweit das Recht verschiedene Optionen rechtmäßiger Entscheidungen belässt, ermöglicht (erfordert) Rechtsanwendung die Wahl der für die Problemlösung bestgeeigneten und am wenigsten belastenden Alternative. Diese Feststellung besagt allerdings noch nichts darüber, auf welche Weise die Bewirkungsebene produktiv in die Analyse eines Problems und des darauf bezogenen Rechts sowie für die Wahl zwischen Optionen zur Problemlösung (für eine „Entscheidung“) einbezogen werden kann. Dies führt zum Problem der Folgenorientierung von Rechtswissenschaft und Rechtsanwendung.10 Um das Ausmaß der Komplexität der jeweiligen Regelungsstrukturen und die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen in ihnen maßgebend werdenden Faktoren erfassen zu können, empfiehlt es sich, auch auf trans- und interdisziplinäre Weise in Bereiche außerhalb der Rechtswissenschaft zu sehen und dort entwickelte Fragen, Analysemöglichkeiten und Konzepte einzubeziehen. Dies fordert im In8 Zu diesen Weiterungen der Betrachtungsweise s. Wolfgang Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Schmidt-Aßmann, Eberhard / ders. (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 9 (32 ff.). Zu einzelnen solcher Faktoren s. Gunnar Folke Schuppert, Verwaltungsorganisation und Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsfaktoren, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, GVwR I (Fn. 3), § 16; Jens-Peter Schneider, Strukturen und Typen von Verwaltungsverfahren, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II (im Folgenden: GVwR II): Informationsordnung, Verwaltungsverfahren, Handlungsformen, 2008, § 28; Andreas Voßkuhle, Personal, und Stefan Korioth, Finanzen, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. III: Personal, Finanzen, Kontrolle, Sanktionen, staatliche Einstandspflichten, 2009, §§ 43, 44. 9 s. dazu Hans-Heinrich Trute / Wolfgang Denkhaus / Doris Kühlers, Governance in der Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung 37 (2004), S. 451 (456 f.); Hans-Heinrich Trute, Die Verwaltung und das Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, DVBl. 1996, S. 950 ff.; ders., Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff eines sich ändernden Verhältnisses von öffentlichem und privatem Sektor, in: Schuppert, Gunnar Folke (Hrsg.), Jenseits von Privatisierung und „schlankem“ Staat, 1999, S. 13 (22 f.). 10 Zur Folgenorientierung s. statt vieler Voßkuhle, Verwaltungsrechtswissenschaft (Fn. 3), § 1 Rn. 32 ff.; Gunther Teubner, Folgenorientierung, in: ders. (Hrsg.), Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe, 1995, S. 9 ff. Gertrude Lübbe-Wolff, Rechtsfolgen und Realfolgen, 1981; Martina Renate Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, 1995; Karl-Peter Sommermann (Hrsg.), Folgen von Folgenforschung, 2002.
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novationskontext einen Blick in die außer-rechtswissenschaftliche Innovationsforschung11, aber gegebenenfalls auch in die allgemeine wirtschafts-, sozial- und technikwissenschaftliche Forschung u. ä. Von Gewinn ist auch der empirisch-analytische Strang der aktuell viel diskutierten Governance-Forschung.12 Mit seiner Hilfe kann die Wirkungsweise verschiedener Governance-Faktoren beim Einsatz von Recht erfasst und darauf aufbauend untersucht werden, wie die verschiedenen Faktoren aufeinander bezogen sind. Im Rahmen des Governance-Ansatzes sind von besonderem Interesse auch die von den Akteuren jeweils herangezogenen Konzepte und Strategien, insbesondere solche, die in den normativen Regelungsstrukturen13 schon angelegt oder jedenfalls durch sie legitimiert sind, aber auch solche, die im Zuge der Problemlösung erst entwickelt werden.14 Da Innovationen auf neues oder doch „besseres Wissen“ angewiesen sind, ist insbesondere die Klärung wichtig, wie Wissen generiert wird und wie mit Nichtwissen oder unsicherem Wissen umgegangen wird,15 dabei auch, welche (meist impliziten) Deutungsmuster zu der Definition und Bewertung des zu lösenden Problems, der Erfassung von möglichen Ursachen des Problems und der Auswahl von verfügbaren Lösungsmöglichkeiten eingesetzt werden.16
II. Innovationsdimensionen Konzentriert auf das Thema Innovation ist selbstverständlich zu klären, was unter Innovationen verstanden werden soll. Im Rahmen der Innovationsforschung ist es üblich, nicht schon die Entdeckung oder die Erfindung (die Invention) als Innovation zu betrachten, sondern nur bestimmte, nämlich signifikante (nachhaltige) Neuerungen, die zwecks ihrer Nutzung in den jeweiligen gesellschaftlichen Be11 Einen übergreifenden Überblick, auch vor allem mit Kurzbeschreibungen einschlägiger Publikationen findet sich in Blättel-Mink, Innovationsforschung (Fn. 5); s. ferner Fagerberg / Mowery / Nelson, Handbook of Innovation (Fn. 1) und die weiteren Nachw. o. Fn. 5. 12 Dazu s. statt vieler die Beiträge in Arthur Benz / Susanne Lütz / Uwe Schimank / Georg Simonis (Hrsg.), Handbuch Governance. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendungsfelder, 2007; Sebastian Botzem / Jeanette Hofmann / Sigrid Quack / Gunnar Folke Schuppert / Holger Straßheim (Hrsg.), Governance als Prozess. Koordinationsformen im Wandel, 2009. 13 s. o. Fn. 9. 14 Dazu s. Wolfgang Hoffmann-Riem, Die Governance-Perspektive in der rechtswissenschaftlichen Innovationsforschung, 2010 (i. E.). 15 Dazu s. Gunnar Folke Schuppert / Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Governance von und durch Wissen, 2008; Wolfgang Hoffmann-Riem, Wissen, Recht und Innovation, in: Röhl, Hans Christian (Hrsg.), Wissen – Zur kognitiven Dimension des Rechts, Die Verwaltung, Beiheft 9, 2010, S. 159 ff. (sowie weitere Beiträge in jenem Heft). 16 Dies sind Fragen, die vor allem in der Policy-Forschung, insbesondere im Rahmen der sogenannten Frame-Analyse gestellt werden, dazu s. den Überblick von Ingrid Schneider, Das Europäische Patentsystem: Wandel von Governance durch Parlamente und Zivilgesellschaft, 2010 (i. E.), Manuskript, Bd. I, S. 53 ff. m. w. Hinw.
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reichen anwendungsreif gemacht werden, etwa mit dem Ziel der Sicherung der Marktfähigkeit und -verwertung des Neuen oder einer anderen Verwendung,17 etwa zur Lösung gesellschaftlicher Probleme. Verkürzt erfolgen innovationsbezogene Diskussionen insbesondere in weiten Teilen der Wirtschaftswissenschaft, soweit Innovationen dort vorrangig in dem Kontext von Marktprozessen behandelt werden. So wird der Innovationsbegriff häufig in Anlehnung an das Oslo Manual der OECD18 dahingehend verstanden, dass es (nur) um die Innovation von Produkten (Waren oder Dienstleistungen) zwecks Markteinführung gehe, die entweder nachhaltig neu oder wesentlich hinsichtlich grundlegender Charakteristika verändert worden seien. Häufig werden zusätzlich Prozessinnovationen einbezogen. Aber immer geht es um die Marktbezogenheit des Innovationsgeschehens und damit um einen durch einen ökonomischen Bias geprägten Zugriff auf Innovation. Verkürzt ist die Innovationsdiskussion ebenfalls, soweit sie – etwa in der Wirtschafts-, Technikwissenschaft und zum Teil auch in den Sozialwissenschaften – auf technologiebezogene Innovation fixiert wird. Der Blick muss vielmehr gezielt auch auf soziale Innovationen19 gerichtet werden, also etwa auf Änderungen der sozialen Institutionen oder der in ihnen oder in der Gesellschaft allgemein oder in Teilen der Gesellschaft verankerten Kulturen, der maßgebenden Einstellungen und Wahrnehmungen der handelnden Personen sowie ihrer sozialen Fähigkeiten, aber auch der verfügbaren Handlungsmuster sowie spezifischer Organisationsformen und schließlich des Rechts selbst. In den Blick geraten neue Wege und Strategien zur Bewältigung von Problemen aller Art, etwa durch Veränderung von Strukturen (z. B. der äußeren oder inneren Organisation eines Unternehmens, einer Behörde, eines zivilgesellschaftlichen Verbandes), die Entwicklung neuer Handlungsmuster und -strategien, Wege zur Produktion von Wissen oder zur Veränderung von Einstellungen.20 Solche Änderungen können durch sozialen Wandel ausgelöst oder durch ihn vorangetrieben werden und auf diesen Wandel angepasste Reaktionen ermöglichen. Insofern sind soziale Innovationen häufig auch eine Voraussetzung dafür, dass technologische Innovationen auf der Anwendungs- und Verbreitungsebene erfolgreich sind, wie umgekehrt aus der Veränderung von sozialen Umfeldbedingungen Bedürfnisse nach technologischen und weiteren sozialen Innovationen entstehen können. Deswegen gilt ein wesentlicher Teil der Innovationsforschung den sog. sozio-technischen Systemen.21 Zu unterschiedlichen Innovationsbegriffen s. die Hinw. o. Fn. 1. OECD, Technology and the Economy: The key relationships, 1992. 19 Den Begriff „soziale Innovation“ hat als erster Wolfgang Zapf definiert, in: Modernisierung, Wohlfahrtsentwicklung und Transformation – Soziologische Aufsätze 1987 – 1994, 1994, S. 23 (33), ihn dort aber enger als hier definiert. Zu Perspektiven und Beispielsfeldern s. Aderhold / John (Hrsg.), Innovation (Fn. 5). 20 Zu diesen Dimensionen vgl. Wolfgang Hoffmann-Riem, Soziale Innovationen, Der Staat 47 (2008), S. 588 (596 ff.); s. auch Schuler-Harms in diesem Bande. 17 18
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Moderne Innovationsforschung sollte auch das Zusammenspiel unterschiedlicher Innovationsdimensionen in den Blick nehmen. Dies schließt es selbstverständlich nicht aus, sich analytisch und programmatisch auf bestimmte Erscheinungsformen von Innovationen zu konzentrieren; kontraproduktiv wäre es allerdings, wenn dies mit „Ofenrohrblick“ geschähe. Vielmehr sollten unter Einbeziehung der Wechselbezüglichkeiten mit den Umfeldbedingungen mögliche Ansätze für Innovationen aufgespürt und es sollte nach den Bedingungen ihrer Umsetzung im praktischen Handeln gefragt werden. Aus rechtswissenschaftlicher Perspektive schließt sich die Frage an, ob und wie weit Recht insoweit bedeutsam wird oder gezielt zur Förderung von Innovationen, insbesondere von gemeinwohlverträglichen, genutzt werden kann. Dabei kann sowohl nach dem Innovationsbezug bestehenden Rechts als auch nach der Sinnhaftigkeit seiner Änderung auch mit dem Ziel der Steigerung der Innovationssensibilität des Rechts gefragt werden. Das Erkenntnisinteresse muss nicht, kann aber auch der Frage gelten, wie Innovationen im Recht entstehen oder gefördert werden können, oder wie weit mit gesellschaftlichen Innovationen faktisch oder gar notwendig auch Innovationen im Recht einhergehen. Innovationen im Recht22 wären dabei in die Rubrik sozialer Innovationen zu ordnen.
III. Zum Wandel im Bereich öffentlicher Kommunikation Das Thema „öffentliche Kommunikation“ ist ein geeignetes Referenzfeld für Innovationsforschung, weil in ihm vielfältige Innovationsprozesse in einem gegenwärtig durch starken Wandel geprägten Bereich ablaufen, die auch durch Recht beeinflusst werden. Das Thema gewinnt seine Farbigkeit durch den Befund diverser technologischer Innovationen grundlegender und inkrementeller Art, deren Entstehung meist auch von sozialen Innovationen abhängig war und weiter sein wird, die ihrerseits weitere technologische und gegebenenfalls auch soziale Innovationen stimuliert haben und voraussichtlich weiter stimulieren werden. Wenige Stichworte sollen reichen, um den Wandel zu illustrieren. Der Innovationsschub dürfte in wohl keinem anderen Bereich der jüngeren Zeit derart groß und umfassend sein wie in dem Feld von Information und Kommunikation. Entstanden ist eine Reihe von radikalen Innovationen23 im Kontext insbeson21 Dazu vgl. Johannes Weyer, Techniksoziologie. Genese, Gestaltung und Steuerung soziotechnischer Systeme, 2008. 22 Dazu vgl. Hoffmann-Riem, Governance-Perspektive (Fn. 14), (VII.). 23 In der Innovationsforschung werden radikale Innovationen, Basisinnovationen und inkrementelle Innovationen unterschieden. Radikale Innovationen verweisen auf einen grundlegenden Pfadwechsel und Paradigmenwechsel; Basisinnovationen sind solche, die viele Folgeänderungen in unterschiedlichen Bereichen auslösen; als inkrementelle Innovationen (Anpassungsinnovationen) werden insbesondere solche verstanden, die auf frühere Innovationen aufbauend Variationen vornehmen oder weitere Folgeänderungen auslösen. Die Grenzen
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dere von Computerisierung, Digitalisierung, Vernetzung und mobiler Nutzung von Diensten. Die Auswirkungen der weltweiten Verfügbarkeit kommunikationstechnischer Systeme für Kommunikationszwecke betreffen fast alle Lebensbereiche und haben beispielsweise in den Sektoren Bildung, Erziehung, Unterhaltung und sonstiger Kommunikation, aber auch der Güterproduktion, zu Folgeinnovation und dabei zu zum Teil massiven Veränderungen geführt. Diese haben ihrerseits Anstöße für weitere technologische, aber auch soziale Innovationen gegeben. Technologische und soziale Innovationstypen sind in diesem Bereich häufig eng miteinander verzahnt, wie beispielsweise in den Bereichen Telearbeit24, Telemedizin 25 (Telediagnostik, Telemonitoring, Telechirurgie) u. ä.26 beobachtet werden kann, aber auch an der Entwicklung der sozialen Netzwerke. Die etwa im Web 2.0 entwickelten Plattformen und Kommunikationsmöglichkeiten 27 und darauf bezogenen Geschäftsmodelle sind Legion und es kommen immer neue hinzu.28 Auch traditionelle Verhaltensmuster ändern sich – wie etwa der Wahlkampf unter Nutzung der Online-Kommunikation.29 Die neuen technologischen Möglichkeiten erübrigen allerdings nicht tradierte Kommunikationsformen. Sie haben sie aber teilweise verdrängt oder doch verändert. Kommunikationsmedien wie mündliches Gespräch, Schrift oder Bild gibt es weiterhin und sie bedienen sich auch, aber eben nicht nur, der neuen kommunikationstechnologischen Möglichkeiten. Auch traditionelle Medien wie Zeitung, Brief oder Radio gibt es weiterhin, sie haben sich aber inhaltlich und zum Teil auch formal in vielerlei Hinsicht an die neuen Möglichkeiten und auch die zum Teil wirtzwischen diesen drei Typen sind fließend. Zu den Begrifflichkeiten s. statt vieler Weyer, Techniksoziologie (Fn. 21), S. 56 f.; Welsch, Innovationspolitik (Fn. 5), S. 278; Pleschak / Sabisch, Innovationsmanagement (Fn. 1), S. 3. 24 s. statt vieler Karin Töpsch, Telearbeit als technische und soziale Innovation, in: Braczyk, Hans-Joachim / Fuchs, Gerhard (Hrsg.), Informationstechnische Vernetzung: Berichte aus Projekten der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg, 1998, S. 53; Thomas Lammeyer, Telearbeit, 2007. 25 Dazu s. Stephan Metzger, Rechtliche Aspekte und Perspektiven der Telemedizin: unter besonderer Berücksichtigung des Vertragsrechts, 2009 (vor allem für die Schweizer Rechtslage); Peter Haas, Medizininformatische Innovationen – Chancen und Risiken für die ärztliche Tätigkeit, in: Wienke, Albrecht / Dierks, Christian (Hrsg.), Zwischen Hippokrates und Staatsmedizin – Der Arzt am Beginn des 21. Jahrhunderts, 2008, S. 57 (69 f.); Christian Dierks, Gesundheits-Telematik – Rechtliche Antworten, DuD 2006, S. 142 (145). 26 Zu den Erscheinungen s. Metzger, Telemedizin (Fn. 25), S. 15 ff. 27 Dazu Schuler-Harms in diesem Bande. 28 s. statt vieler etwa Tom Alby, Web 2.0: Konzepte, Anwendungen, Technologien, 3. Aufl. 2008; Christoph Bieber / Martin Eifert / Thomas Groß / Jörn Lamla (Hrsg.), Soziale Netze in der digitalen Welt. Das Internet zwischen egalitärer Teilhabe und ökonomischer Macht, 2009; Ansgar Zerfaß / Kathrin M. Möslein (Hrsg.), Kommunikation als Erfolgsfaktor im Innovationsmanagement. Strategien im Zeitalter der Open Innovation, 2009. 29 Dazu s. Christoph Bieber, Twitter, Facebook, Politpiraten. Der Einfluss des Internets auf die Politik geht weit über Wahlwerbung hinaus, internationale Politik, Jg. 64, Nr. 7 / 8, 2009, S. 10 ff.; ders. in diesem Bande.
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schaftlich sehr bemerkbaren Konkurrenzsituationen angepasst. So mussten beispielsweise Zeitungen mit den Folgen der Verlagerung des Anzeigengeschäfts in das Internet umgehen; traditionelle Medien wie Schallplatte, CD und DVD konkurrieren mit der Möglichkeit des (legalen oder illegalen) „Herunterladens“ von Tonund Bildmaterial aus dem Internet; Akteure wie etwa Zeitungsverlage verknüpfen ihre traditionellen Tätigkeiten mit denen im Internet, etwa durch Onlineauftritte, wechselseitiges Promoting u. ä. Kommunikatoren und Rezipienten haben sich auf die veränderten Möglichkeiten eingestellt und zum Teil neue Kompetenzen im interaktiven Umgang mit den Medien, so auch beim Wechsel der Rollen als Kommunikatoren und Rezipienten, aufgebaut und sonstige neue Möglichkeiten, etwa die der Mehrweg-Massenkommunikation über das Internet, zu nutzen gelernt. Blogs oder Twitter sind nur einzelne Beispiele. Zugleich ändern sich die Strukturen der Informations- und Kommunikationswirtschaft. Globale Akteure wie Google oder Microsoft verwirklichen immense Wachstumschancen, schaffen neue Monopole, können aber nicht auf Märkte mit stabilen Präferenzen vertrauen und sind daher beispielsweise in der Marktstellung auch immer wieder durch neue Akteure mit neuen Geschäftsmodellen oder durch neue Koalitionen u. ä. bedroht; sie diversifizieren, expandieren und fusionieren, gehen Allianzen mit anderen großen und vielen kleineren Akteuren ein, nutzen das Wissen und die Kreativität auch nicht ökonomischer Akteure (deren weltweit verfügbare „Schwarmintelligenz“) usw. Dies kann hier nicht näher beschrieben werden. Nur als Stichwort festzuhalten ist, dass die neue, auf informationshaltige Güter und Dienstleistungen ausgerichtete Informationsökonomie30 nach teilweise anderen Erfolgsmustern als die klassische Ökonomie arbeitet, dass die Informationsgesellschaft zwar mit der Industriegesellschaft verwoben, aber keineswegs mit ihr identisch ist oder auch nur deren Fortentwicklung darstellt. Der aktuell bedeutsame Veränderungsschub zeigt sich – wie Thomas Vesting formuliert31 – „etwa im Aufschwung der Computer- und Internetindustrie, in den erheblichen Wachstumsraten der Telekommunikations- und Medienindustrie, aber auch in der gestiegenen ökonomischen Bedeutung des Informationsanteils von Produkten im Automobil-, Maschinen- und Anlagenbau, um nur einige Beispiele zu nennen. Mit den neuen Symboltechnologien gehen erhebliche dynamischere Märkte als die der klassischen Ressourcenökonomie einher. In informationsökonomischen Märkten werden alte Unterscheidungen wie etwa die zwischen Ökonomie und Kultur (und daran anknüpfende Marktabgrenzungen) destabilisiert . . . Es wächst nicht nur der quantitative Informationsanteil an Produkten und Dienstleistungen, auch die Generierung und Distribution des Wissens erfolgt in neuartigen Mustern jenseits stabiler Grenzen zwischen Organisation und Markt sowie jenseits der tradierten Abschichtung 30 Zu deren Charakteristika vgl. etwa Carl Shapiro / Hal R. Varian, Information Rules: A Strategic Guide to the Network Economy, 1998. 31 Thomas Vesting, Die Bedeutung von Information und Kommunikation für die verwaltungsrechtliche Systembildung, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, GVwR II (Fn. 8), § 20 Rn. 38.
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von allgemein zugänglichem (öffentlichem) und privat angeeignetem Wissen. Information und Wissen werden jetzt nicht mehr entweder kollektiv in Staat und Verwaltung aggregiert oder dezentral über den Markt bzw. über ein auf die Wahlfreiheit von Individuen zugeschnittenes Entdeckungsverfahren gesammelt, sondern strategisch und netzwerkabhängig, inter- und intraorganisational erzeugt. Kurzum: In der Informations- und Wissensgesellschaft folgt die Wissensproduktion dem Modell ,überlappender Netzwerke‘“. Ob und wie weit Recht auf solche Verlagerungen und Veränderungen und neue Möglichkeiten folgenreich einwirkt, lässt sich nicht einfach beschreiben und analysieren. Allerdings erfolgt die neu strukturierte – vielfach öffentliche – Kommunikation nicht im rechtsfreien Raum32 – auch wenn die Bereitschaft zur Beachtung rechtlicher Bindungen partiell gering ist, wie etwa an der großflächigen Verletzung von Urheberrechten durch Nutzer bei der Internetkommunikation oder an der Missachtung von Datenschutzerfordernissen durch Unternehmen wie Google33 beobachtbar ist. Dennoch bleibt insbesondere das allgemein anwendbare – gewissermaßen das alltäglich verfügbare – Recht normativ maßgebend, also das bürgerliche Recht, das öffentliche Recht oder auch das Strafrecht. Spezifische Rechtsgebiete wie das Medien- und Telekommunikationsrecht enthalten zusätzliche Vorkehrungen.34 Sie sind angesichts der rasanten Technik- und Diensteentwicklung in jüngerer Zeit verschiedentlich geändert worden. Diese Rechtsgebiete wirken insbesondere auf den Aufbau und die Nutzbarkeit von Infrastrukturen, die Art und Weise kommunikativer Dienste und deren Nutzung ein. Übergreifendes Regulierungsrecht – wie das Kartellrecht oder das europäische Dienstleistungsrecht, aber auch das Datenschutzrecht – ist ferner grundsätzlich in diesem Bereich anwendbar, hat aber auch kommunikationsspezifische Ausprägungen erfahren. Im Bereich öffentlicher Kommunikation ist neben der technologischen die soziale Dimension wichtig, was daran erkennbar wird, dass viele Innovationen gewissermaßen „sozio-technisch komponiert“ sind. Die für die Entstehung des Internet und des World Wide Web – beide zusammen sind vermutlich die bedeutendste Erfindung gegen Ende des 20. Jahrhunderts – maßgebenden technologischen Innovationen wären nicht möglich gewesen ohne gleichzeitige Entwicklung neuer Vorgehensweisen und Konzepte. Gleiches gilt für seine Nutzung. Schon die Idee der größtmöglichen Unverletzbarkeit des Internets und deren Sicherung durch starke 32 Zu diversen Herausforderungen an das Recht s. etwa Vesting, Systembildung (Fn. 31), § 20 Rn. 40 ff. 33 Dazu s. Roßnagel in diesem Bande (IV.). 34 Vgl. etwa die Überblicke über die Problemstellungen in Bernd Holznagel / Dieter Dörr / Doris Hildebrand, Elektronische Medien. Entwicklung und Regulierungsbedarf, 2008; Martin Eifert / Wolfgang Hoffmann-Riem, Telekommunikations- und Medienrecht als Technikrecht, in: Schulte, Martin / Schröder, Rainer (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2. Aufl. 2010 (i. E.). Zum Beispiel rechtlicher Vorkehrungen zum (technischen) Persönlichkeitsschutz s. die Auflistung von einschlägigen Normen bei Roßnagel in diesem Bande (II. 1., 2.; III. 2.), dort aber auch die Kritik an der begrenzten Reglementierbarkeit (II. 3.; IV. 1.).
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Dezentralität waren innovativ. Die Logik der Vernetzung führt zu „einer dauernden Grenzverschiebung, Grenzüberschreitung und Grenzauflösung, die noch das Medium selbst bestimmt: Die Ebene der Software, der Codes, Protokolle, Standards und Programme wird mit der physikalischen Ebene der Hardware, der Ebene der Mikroprozessoren, Festplatten, Speicherchips und Bildschirme, verschleift. Selektionen, die in der natürlichen Sprache der Selbstorganisation der Kommunikation überlassen werden, erfolgen jetzt unmittelbar durch die Symboltechnologie und die an die Software-Entwicklung gebundenen Wissensnetzwerke“.35 Dies zeigt sich in vielen Bereichen. Beispielhaft sei der der Filmindustrie erwähnt, dessen Produktions- und vor allem Verwertungsbedingungen (insbesondere deren Auswertungskaskade) sich massiv verändert haben.36 Auf neue Ansätze verweisen auch viele der neuen Dienste, die über das Internet möglich geworden sind37 und seinen Ausbau erst für Nutzer sinnvoll und für Anbieter wirtschaftlich lukrativ gemacht haben. Diese neuen Dienste sind ihrerseits häufig Produkt von (sozialen) Innovationen, die sich etwa auf die generierten und transportierten Inhalte, die dabei angewandten Geschäftsmodelle, die Herausbildung von besonderen Communities, die Entwicklung der sozialen Netzwerke, die Schaffung neuer Formen der Qualitätskontrolle, die Ausfächerung und Dynamisierung von Wertschöpfungsstufen, aber auch neue rechtliche Gestaltungen beziehen, etwa im Umgang mit geistigem Eigentum38 oder hinsichtlich der Frage, wie weit Rechtsfragen sich auch in virtuellen Welten stellen und, wenn ja, ob und wie die rechtliche Beurteilung sich in der virtuellen Welt von der in der „realen“ Welt unterscheidet.39 Dass die traditionell geschiedenen Bereiche der Individual- und Massenkommunikation zunehmend miteinander verzahnt oder ununterscheidbar miteinander verknüpft werden40 und neue Formen der „Mehrweg-Massenkommunikation“ hervorbringen, ist einerseits technologisch gestützt, aber in erster Linie ein Produkt neuer Interaktionsformen, Kommunikationsinhalte und Produktionsweisen sowie veränderter Rezeptionsgewohnheiten.
So Vesting, Systembildung (Fn. 31), § 20 Rn. 39. Dazu – und zwar unter dem besonderen Aspekt der Filmförderung – s. Vesting in diesem Bande. 37 Dazu s. statt vieler die Beiträge in Bieber / Eifert / Groß / Lamla, Soziale Netze (Fn. 28), jeweils m. w. Hinw. Speziell zu mobilen Diensten s. etwa Christian Kaspar, Individualisierung und mobile Dienste am Beispiel der Medienbranche, 2005, S. 42 ff., 179 ff.; s. ferner Schuler-Harms in diesem Bande. 38 Dazu s. die Beiträge in Martin Eifert / Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Geistiges Eigentum und Innovation, 2008. 39 Dazu s. den Beitrag von Schulz in diesem Bande. 40 Dazu s. statt vieler die vielen Beispiele in Holznagel / Dörr / Hildebrand, Elektronische Medien (Fn. 34). 35 36
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IV. Schwierigkeiten rechtlicher Regulierung Solche Änderungen bedingen viele neue Folgerungen. Eine für die rechtliche Regulierung41 folgenreiche ist, dass die Grenzen der traditionell getrennten Medienbereiche Presse, Rundfunk und Film sich nicht mehr technologisch bestimmen, aber auch inhaltlich nur schwer, und meist nur aufgrund einer dezisionistisch gewonnenen Schwerpunktfestlegung erfassen lassen. Dass der Art der jetzt üblichen Unterscheidungen eine auch heute noch zwingende „Logik“ zugrunde liegt, ist keineswegs evident. Selbst die etwa durch EU-Richtlinien und durch diverse deutsche Mediengesetze geprägten neuen Begriffsbildungen (wie Telemedien, Mediendienste u. ä.) fangen die Medienrealität nur bedingt ein.42 Jedenfalls sind die der Abgrenzung zugrunde liegenden Konzepte häufig nicht durch das Ziel motiviert, die technologischen oder sozialen Typika der jeweiligen Kommunikationsarten zu bestimmen und zu treffen, sondern eher durch das Ziel, auf marktorientierte EU-Vorgaben zu reagieren oder der Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern Rechnung zu tragen. Auch ging es im Zuge der rechtlichen Veränderungen darum, die bisher für Rundfunk geltenden Ausgestaltungsregeln dienstespezifisch zu modifizieren, das heißt sie in weiten Bereichen abzuschwächen. So sollten die für Teledienste (die jüngste, aber sicherlich nicht letzte, Begriffsschöpfung in diesem Bereich) geltenden rechtlichen Anforderungen gegenüber denen für Rundfunk reduziert werden. An konkreten Innovationszielen lässt sich eine solche Vorgehensweise allerdings nicht festmachen. So ist die bei den Abgrenzungen offensichtliche Bemühung, privatwirtschaftliche Medienunternehmen in bestimmten Bereichen vor einer publizistischen Konkurrenz durch öffentlich-rechtlichen, an einem gemeinwohlorientierten Kommunikationsauftrag orientierten Rundfunk zu schützen, nicht vom Ziel der Stimulierung von Innovationen getragen, sondern dem der Verbesserung von Marktaussichten der privaten Veranstalter. Dass dies deren Verhalten in Richtung auf (auch gemeinwohlorientierte) Innovationen stimuliert, ist durch medienwissenschaftliche Befunde und theoretische Einsichten kaum belegbar. Die mit den Neuerungen verbundenen Begrenzungen für öffentlich-rechtlichen Rundfunk können demgegenüber gerade unter Innovationsaspekten auch kontraproduktiv sein: Programmliche Innovationen unter besonderer Berücksichtigung der Gemeinwohlorientierung werden dadurch beschränkt, ohne erkennbare Aussicht, dass durch den potenziellen Wegfall von Wettbewerb mit öffentlich-rechtlichem Rundfunk die auf den Programminhalt bezogene, auch am Ziel hinreichender qualitativer Vielfalt43 41 Zur internationalen Diskussion der Entwicklung rechtlicher Medienregulierung in verschiedenen Rechtsordnungen der vergangenen Jahre s. die Beiträge in Thomas Gibbons (Hrsg.), Regulating Audiovisual Services, 2009. 42 Zu den neuen Begriffen und deren möglicher Handhabung s. Eifert / Hoffmann-Riem, Technikrecht (Fn. 34); s. ferner zur historischen Entwicklung und zur Diensteabgrenzung den Beitrag von Holznagel in diesem Bande (II., III.). 43 Zu den Vielfaltsdimensionen vgl. Wolfgang Hoffmann-Riem, Offene Rechtswissenschaft, 2010, S. 633 ff.
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orientierte Innovationsfreudigkeit der privatwirtschaftlichen Medienakteure stimuliert wird.44 Allein durch Schutz vor Wettbewerb lässt sich eine solche Stimulierung vermutlich nicht sichern. Im Bereich der öffentlichen Kommunikation darf die Frage nach einem rechtlichen Regelungsbedarf einerseits und den Auswirkungen gesetzlicher Regelungen auf Innovationsprozesse andererseits allerdings nicht auf die inhaltlichen Dienste oder die in ihrem Rahmen möglichen Interaktionen – etwa die nunmehr praktizierbare interaktive Bürgerkommunikation über Netze – beschränkt werden. Vielmehr muss das gesamte Spektrum der Kommunikationssysteme einbezogen werden, also insbesondere müssen auch die Netzinfrastrukturen, die technischen und sonstigen mit ihrer Nutzung verbundenen Dienste und die verschiedenen Kommunikationsmöglichkeiten selbst Aufmerksamkeit finden. Auf allen diesen Sektoren lassen sich Interdependenzen und Konvergenzprozesse beobachten, etwa in den Technologien, in den Diensteangeboten und im Nutzerverhalten. Dies erschwert es erheblich, rechtliche Regulierung treffsicher und ohne kontraproduktive Nebenfolgen im Hinblick auf bestimmte normative Ziele zu positionieren. Dies gilt auch für das Ziel der Innovationsstimulierung.
V. Erwartungen an das Recht, Leistungsmöglichkeiten des Rechts Dabei zeigt sich in der jüngeren Diskussion eine Erweiterung der Erwartungen an das Recht. In der Vergangenheit waren rechtliche Neuregelungen im Kommunikationssektor verstärkt durch das Bemühen um die Privatisierung und De- und Reregulierung bisher regulierter Bereiche (besonders nachhaltig geschehen durch Reregulierung der Telekommunikation) geprägt. Auch wurden veränderte Aufsichtsstrukturen eingerichtet und es wurde unter Abbau hoheitlicher Regulierung – etwa der Aufsicht durch die Landesmedienanstalten – verstärkt auf Selbstregulierung der Akteure (auch in inhaltlichen Fragen, etwa beim Jugendschutz45) gebaut. Der Innovationsaspekt wurde im Telekommunikationsrecht ausdrücklich als Ziel (neben anderen) erwähnt (s. § 2 Abs. 2 Nr. 3, § 9a Abs. 2 Satz 2 TKG), im Übrigen in den allgemeinen Diskussionen vor allem als Nebenziel von Deregulierung behandelt. Zwischenzeitlich ist allerdings das Vertrauen in selbstregulative Mechanismen teilweise erodiert. Verstärkt wird insbesondere wieder über die Abwehr von Gefah44 Dazu s. Holznagel in diesem Bande (III. 2., 3.). Die Untersuchung von Mike Friedrichsen, Innovationsprozesse im privaten Hörfunkmarkt. Der Wandel vom klassischen Radiohörer zum interaktiven Nutzer, 2010, erfasst nur Teilelemente des Innovationsthemas. Akteursbezogene Innovationsfaktoren im Binnenbereich des (öffentlich-rechtlichen) Rundfunks behandelt Thomaß in diesem Bande, insbesondere unter Verweis auf die Public-Value-Orientierung. 45 Dazu s. Erdemir in diesem Bande; Martin W. Nell, Beurteilungsspielraum zugunsten Privater. Die Übertragung der herkömmlichen Rechtsfigur auf das Verfahren regulierter Selbstregulierung im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) zugunsten von Einrichtungen der freiwilligen Selbstkontrolle (EfS), 2010 m. w. Hinw.
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ren diskutiert, die durch Medieninhalte oder durch die Art der Medienrezeption entstehen. Die Sorge gilt etwa der Verbreitung politisch extremistischen Gedankenguts, der kommunikativen Unterstützung terroristischer Aktivitäten oder der Verbreitung von Kinderpornografie.46 Zum Schutz wird wieder vermehrt auf regulatives Recht gesetzt. Dies dient auch der Befriedigung von Anliegen polizeilicher und militärischer Akteure, die etwa auf Verbindungsdaten und gespeicherte Kommunikationsinhalte zugreifen möchten, um z. B. terroristische Aktivitäten aufzuklären, Straftaten zu verhindern u. ä. Im Hinblick auf Überlegungen zur Sperrung von Kommunikationsangeboten oder zur Löschung von Kommunikationsinhalten im Internet wurde von einem Journalisten kritisch angemerkt, dadurch könne man den Eindruck gewinnen, es handele sich bei dem Internet „um einen Tummelplatz von Räubern, Terroristen und Triebtätern. Nicht nur die Netzgemeinde argwöhnt, dass es bei der rhetorischen Degradierung des Internet zum digitalen Bahnhofsviertel darum ging, den staatlichen Zugriff auf das System zu erleichtern“.47 In der Tat drohen die kommunikativen Potenzialitäten des Internet aus dem Blick zu geraten, wenn solche Gefährdungsüberlegungen einseitig die öffentliche Diskussion beherrschen. Werden als Schutzvorkehrungen neue rechtliche Gestaltungen erwogen – die mit hoher Wahrscheinlichkeit auch innovationsbezogene Auswirkungen haben –, dann muss aber zugleich berücksichtigt werden, dass dem Recht aufgrund der verfassungsrechtlichen und politischen Sensibilität des Bereichs von Information und Kommunikation, vor allem aber aufgrund der internationalen Dimensionen informationstechnischer Systeme und entsprechender Infrastrukturen, immer weniger Bedeutung zukommt. Angesichts der Internationalisierung, aber auch infolge der Eigengesetzlichkeiten der Liberalisierung ist zumindest ein Bedeutungsverlust staatlichen Rechts festzustellen, der durch einen begrenzten, aber eben nur begrenzten, Bedeutungsgewinn internationalen Rechts begleitet wird.48 Zum hoheitlich verankerten Recht kommen allerdings Formen „gesellschaftlich“ gesetzter 46 Dazu s. Christoph Schnabel, Das Zugangserschwerungsgesetz – Zum Access-Blocking als ultima ratio des Jugendschutzes, JZ 2009, S. 996 ff.; Dieter Frey / Matthias Rudolph, Zugangserschwerungsgesetz: Schnellschuss mit Risiken und Nebenwirkungen, CR 2009, S. 644 ff.; Annette Marberth-Kubicki, Der Beginn der Internet-Zensur – Zugangssperren durch Access-Provider, NJW 2009, S. 1792 ff. Das vom Bundestag verabschiedete Zugangserschwerungsgesetz ist zwar in Kraft getreten, soll aber nach dem Willen der Bundesregierung zunächst nicht angewandt werden; s. ferner Holznagel in diesem Bande (V. 3.), sowie Luethi / Osterloh in diesem Bande (IV. 3, 5.). 47 s. Oliver Jungen, Der Staat erobert das Internet zurück, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. November 2009 (Nr. 276), S. 39. 48 Allgemein dazu etwa Peer Zumbansen, Transnational Law, in: Smits, Jan M. (Hrsg.), Elgar Encyclopedia of Comparative Law, 2006, S. 738 (743 ff.); Gunter Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15 (1996), S. 255 ff. Gunnar Folke Schuppert, Governance und Rechtsetzung. Grundfragen einer modernen Regelungswissenschaft, 2010 (i. E.), S. 354 ff. Im Medienbereich werden die Erscheinungen insbesondere unter dem Begriff „lex informatica“ behandelt, dazu s. die Ausführungen und Hinweise in Nils Christian Ipsen, Private Normenordnungen als transnationales Recht?, 2009, S. 104 ff.
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„Normen“ / Verhaltensstandards49 hinzu, seien es soziale Konventionen – wie früher die jetzt nicht mehr besonders bedeutsame Netiquette50 im Internet oder die Regeln über die Nutzung von Wikipedia –, Selbstverpflichtungen51oder die rechtlich durch Allgemeine Geschäftsbedingungen, Vertragsrecht oder Verbandskonditionen geschaffenen Normensysteme52, aber auch Einrichtungen mit Ordnungsfunktion, wie etwa zur Domain-Vergabe durch ICANN53, bis hin zu privaten Schiedsgerichten.54 Solche Regelungen erhalten ihre Wirkungskraft allerdings häufig letztlich erst dadurch, dass sie im Schatten hoheitlich verantworteten Rechts wirksam werden,55 also etwa Anleihen bei den Gestaltungsformen hoheitlich gesetzten Rechts nehmen, rechtlich gestaltete Konstruktionen (wie das Urheberrecht) abwandeln (so geschehen bei der Erfindung der Copyleft-Klausel56) oder jedenfalls für die Rechtsdurchsetzung auf das als Auffangordnung verfügbare staatlich verantwortete Recht zurückgreifen.57
VI. Möglichkeitsräume für Innovationen Vom staatlich gesetzten Recht wird vielfach, und im Hinblick auf Innovationen geradezu in erster Linie, erwartet, dass es Möglichkeitsräume für Verhalten, etwa für wirtschaftliche Entfaltung, schafft. Solche Möglichkeitsräume sind auch für die Entwicklung von Innovationen wichtig. In vielen Bereichen besteht allerdings ein Konflikt zwischen dem Ziel, solche Möglichkeitsräume zu schaffen und zu erhalDazu s. ausführlicher Eifert in diesem Bande. Zu ihr s. etwa Marco Herzog, Rechtliche Probleme einer Inhaltsbeschränkung im Internet, 2000; Peter Jung, Die Bedeutung der Selbstregulierung für das Lauterkeitsrecht in internationalen Computernetzwerken, GRUR Int 1998, S. 841 (842 ff.); Eifert in diesem Bande (III. 1. b). 51 Dazu s. auch Schuler-Harms in diesem Bande (III. 5.). 52 Zur lex informatica s. etwa Ulrich Sieber / Malaika Nolde, Sperrverfügungen im Internet – Nationale Rechtsdurchsetzung im globalen Cyberspace, 2008, S. 199 ff.; Joe Reidenberg, lex informatica – The Formulation of Information Policy Rules Through Technology, Texas Law Review 76 (1998), S. 553. Allgemein vgl. Ralf Michaels / Nils Jansen, Private Law Beyond the State?, Europeanization, Globalization, Privatization, The American Journal of Comparative Law 54 (2006), S. 843 ff. 53 Dazu s. Julia Voegeli-Wenzl, Internet-Governance am Beispiel der Internet Corporation of Assigned Names and Numbers (ICANN), GRUR Int 2007, S. 807 ff.; Petra Marwitz, Das System der Domainnamen, ZUM 2001, S. 398 ff.; Ulrich Höpfner, Der Zugang zur Legacy Root: zur Anwendung der Essential Facilities Doktrin auf ICANN, 2009, S. 26 ff. 54 Dazu s. Karl-Heinz Ladeur, Die gemeinsame „Clearing-Stelle“ von Rechteinhabern und Providern, K&R 2008, S. 650 (654 f.); Holger Müller / Guido Broscheit, Das Internationale Online-Schiedsgericht JustFair – Ein Bericht. Eine Ankündigung. Oder ein Nachruf?, SchiedsVZ 2006, S. 197 ff.; kritisch Eifert in diesem Bande (IV.). 55 s. dazu etwa Ipsen, Normenordnungen (Fn. 48). 56 Zu ihr s. Till Jaeger / Axel Metzger, Open Source Software, 2. Aufl. 2006, S. 4. 57 Instruktiv dazu Ipsen, Normenordnungen (Fn. 48), insbesondere S. 207 ff. 49 50
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ten, und dem Ziel, gegebenenfalls auch gegenläufige rechtlich geschützte Interessen zu bewahren. Die Legitimation rechtlicher Eingriffe in Freiheitsbereiche setzt eine Orientierung an normativ geschützten Zielwerten voraus, wie Autonomiesicherung, Manipulationsfreiheit, Innnovationszugänglichkeit, Jugendschutz, Persönlichkeitsschutz58 u. ä. Solche Ziele pflegen in der Formel der Sicherung von Gemeinwohl gebündelt zu werden. Im Innovationssektor ist die maßgebende Fragestellung dahingehend zu formulieren, wie weit es gelingen soll und kann, Möglichkeitsräume für technologische, soziale und andere Innovationen offen zu halten (die schon erwähnte Innovationsoffenheit), zugleich aber für die Gemeinwohlverträglichkeit von Innovationen zu sorgen (Innovationsverantwortung). In den innovationsbezogenen Diskussionen der vergangenen Jahrzehnte wurde diese zuletzt genannte Verantwortungsdimension in vielerlei Hinsicht zurückgeschraubt, bedingt vor allem durch die Dominanz des Ökonomischen in dieser Diskussion, die sich meist auf die Frage nach den ökonomischen Effekten, etwa nach Preis- und Ertragseffekten, insbesondere den Möglichkeiten der Reamortisation von Investitionen bei Innovationen, konzentrierten. Die zur Gemeinwohlsicherung vorgesehenen rechtlichen Restriktionen werden dabei meist als hinderlich für Innovationen verbucht.59 Andererseits ließ sich auch beobachten, dass viele innovationsaktive Unternehmen häufig den Schutz des Rechts suchten, etwa zur Absicherung der Marktverwertung der in ihrem Bereich entstandenen Innovationen (etwa auf dem Wege des Schutzes geistigen Eigentums, durch Standardsetzung u. ä.), und die dafür kämpften, ihre (auch) durch Innovationen erworbene Marktposition nicht zugunsten anderer Innovateure aufgeben zu müssen. Recht ist von diesen Kreisen daher nicht einseitig verteufelt worden, sondern zum Teil für innovationsgeneigte Sektoren besonders nachdrücklich gefordert worden, aber eben nur selten im Hinblick auf übergreifende Gemeinwohlziele, letzteres am ehesten dann, wenn diese mit den Unternehmensinteressen parallel liefen. Dass sich im Laufe der Zeit hinsichtlich der Einstellung zu gemeinwohlorientiertem Recht allerdings auch Einstellungsänderungen ergeben können, zeigen etwa Erfahrungen in einem anderen Feld, nämlich dem rechtlich aufgegebenen Ziel des Umweltschutzes. Umweltschutzanforderungen schienen vielen zunächst als Innovationshemmnis; zwischenzeitlich aber werden sie vor allem in Deutschland differenzierter bewertet, – zum einen, weil das Bewusstsein der Umweltgefährdung deutlich zugenommen hat, aber auch deshalb, weil Anforderungen an die Umweltfreundlichkeit von Technologien auch als Innovationsmotor zu deren Herstellung (und Vermarktung) gewirkt haben.60 Neue wirtschaftliche Aktivitäten 58 Zu Letzterem s. insbesondere Roßnagel in diesem Bande. Beispiele für Möglichkeiten problemangemessener Neuinterpretation vorhandenen Rechts bei Eifert in diesem Bande (III. 2.). 59 s. dazu etwa schon die Hinw. in Hoffmann-Riem, Innovationen (Fn. 2), S. 3 mit Fn. 3, 4. 60 s. statt vieler Martin Jaenicke / Stefan Lindemann, Innovationsfördernde Umweltpolitik, in: Eifert, Martin / Hoffmann-Riem, Wolfgang (Hrsg.), Innovationsfördernde Regulierung, 2009, S. 171 ff.
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mit durchaus erheblichen Renditeaussichten wurden auf diese Weise ermöglicht. Auch eignen sich umweltbezogene Aktivitäten zu Marketingzwecken u. ä. Im Informations- und Kommunikationssektor scheint sich ein ähnlicher Wandel etwa im Hinblick auf die Akzeptanz datenschutzbezogener Aktivitäten anzudeuten: Ohne ein Mindestmaß an Datensicherheit und Persönlichkeitsschutz61 drohen einige Geschäftsmodelle zu scheitern. Rechtliche Regulierung kann – wie erwähnt – dazu führen, dass Innovationen beschränkt oder verhindert werden. Sie können allerdings Innovationen auch ermöglichen. Eines allerdings können sie nicht: bestimmte Innovationen gebieten; allenfalls lassen sich innovationsorientierte Zielvorgaben setzen, bei deren Verwirklichung aber erheblicher Spielraum für innovationsbezogene Aktivitäten der gesellschaftlichen Akteure verbleiben muss. Soll die Ermöglichung von Innovationen unter Beachtung des Schutzes rechtlich anerkannter Interessen erfolgen, muss es um eine schutz- und innovationssensitive Regulierung und darauf bezogene Rechtsanwendung gehen. Das gilt nicht nur für das Verhältnis von öffentlicher Kommunikation und Innovation, dem Thema des hier vorgelegten Bandes.
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Dazu s. Roßnagel in diesem Bande.
Teil 1 Rechtsgüterschutz durch technologische Innovation
Technischer Jugendmedienschutz als Irrweg netzbezogenen Jugendschutzes? Von Murad Erdemir I.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Eckdaten des Jugendmedienschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Schutzgüter des Jugendmedienschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Dreistufiger Aufbau des Jugendmedienschutzsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Regelungsadressaten netzbezogenen Jugendschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Technischer Jugendmedienschutz heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Altersverifikationssysteme („geschlossene Benutzergruppen“) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Filtersysteme („Jugendschutzprogramme“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Altersverifikationssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Filtersysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Exkurs: Sperrungsverfügungen („Access-Blocking“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Ausblick: Technischer Jugendmedienschutz morgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Technischer Jugendmedienschutz als hartes Regulierungsinstrument . . . . . . . . . . . .
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2. Technischer Jugendmedienschutz als weiches Regulierungsinstrument . . . . . . . . . .
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a) Positiver Jugendmedienschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Institutionalisierung der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Exkurs: Neujustierung des Zensurbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung „Technischer Jugendmedienschutz als Irrweg netzbezogenen Jugendschutzes?“ So lautet die Frage, die die hoch geschätzten Veranstalter dieser Tagung einer Person stellen, die im Hauptberuf Regulierer und praktischer Jugendmedienschützer ist. In dieser Funktion blickt man gelegentlich weit unter die schöne Oberfläche des World Wide Web. Dann muss man mit ansehen, wie das humane Genom der Gesellschaft attackiert wird. Wie Kinder den abscheulichsten Gewalt- und Sexualfantasien ausgesetzt sind. Warum die Frage dennoch nicht mit einem klaren „Nein“
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zu beantworten ist und warum alles andere als ein klares „Nein“ nicht die Insolvenzeröffnung des Rechtsstaates bedeuten muss, dies will der nachfolgende Beitrag deutlich machen. Hierzu wird zunächst summarisch auf die wesentlichen Eckdaten des Jugendmedienschutzes eingegangen, um sodann darzustellen, wie technischer Jugendmedienschutz heute funktioniert. Nach einer kritischen Würdigung der aktuellen Situation im dritten Teil wird schließlich in einem etwas längeren Schlussteil ein Ausblick gewagt, wie technischer Jugendmedienschutz morgen aussehen könnte und aussehen sollte. II. Eckdaten des Jugendmedienschutzes 1. Schutzgüter des Jugendmedienschutzes Der Jugendschutz ist ein Rechtsgut mit Verfassungsrang. Das aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG abzuleitende allgemeine Persönlichkeitsrecht beinhaltet neben dem Recht auf Privatsphäre ein Recht der Kinder und Jugendlichen auf eine möglichst ungestörte Entwicklung ihrer Persönlichkeit. In objektiv-rechtlicher Hinsicht folgt hieraus ein verfassungsrechtlicher Auftrag an den Staat zum Schutze seiner jüngeren Bürger.1 Der Jugendmedienschutz geht allerdings über den reinen Jugendschutz hinaus. Der Staatsvertrag über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien (Jugendmedienschutz-Staatsvertrag – JMStV) schützt ausdrücklich auch die Allgemeinheit vor Angeboten, welche die Menschenwürde oder sonstige durch das Strafgesetzbuch geschützte Rechtsgüter verletzen. Zu diesen Rechtsgütern zählt der sog. öffentliche Frieden als Zustand allgemeiner Rechtssicherheit. Um ihn geht es in erster Linie, wenn von Gewaltverherrlichung oder Volksverhetzung die Rede ist. Ebenfalls zum Nebenzweck wird der Jugendschutz vor medialen Wirkungen bei dem Verbot der Kinderpornografie. Hier geht es vornehmlich um konkreten Darsteller- bzw. Opferschutz. Es liegt auf der Hand, dass mit der Staatsaufgabe Jugendmedienschutz gleichwohl keine Blankovollmacht erteilt wird. Vielmehr ist der Verfassungsauftrag zum Jugendschutz in die gebotene Konkordanz mit der Grundsatzentscheidung des Art. 5 GG für freie Kommunikation zu bringen.2 Ein Unterfangen, soviel sei schon an dieser Stelle verraten, das im Bereich der Netzregulierung nicht ohne Weiteres gelingen will. 1 BVerwGE 77, 75 (82), Stefan Engels, Kinder- und Jugendschutz in der Verfassung, AöR 122 (1997), S. 212 (228). 2 Zu den verfassungsrechtlichen Determinanten des Jugendmedienschutzes s. Christoph Degenhart, Verfassungsfragen des Jugendschutzes beim Film, UFITA 2009, S. 331 (348 ff.) sowie Murad Erdemir, in: Spindler, Gerald / Schuster, Fabian (Hrsg.), Recht der elektronischen Medien, Kommentar, 2008, § 1 JMStV Rn. 17 ff.
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2. Dreistufiger Aufbau des Jugendmedienschutzsystems Dem Jugendmedienschutz liegt ein dreistufiges Schutzsystem zu Grunde. Wir unterscheiden zwischen absoluten und relativen Verboten sowie Verbreitungsbeschränkungen nach Altersstufen. Absolut, also auch für Erwachsene unzulässig, sind nach § 4 Abs. 1 JMStV insbesondere Angebote mit kinderpornografischen, die Menschenwürde verletzenden, gewalt- und kriegsverherrlichenden oder volksverhetzenden Inhalten. Relativ unzulässig sind nach § 4 Abs. 2 JMStV schwer jugendgefährdende, hierbei insbesondere einfach pornografische Angebote. Sie können dann ins Netz gestellt werden, wenn der Anbieter technisch sicherstellt, dass allein Erwachsene Zugriff haben. Man spricht dann von einer geschlossenen Benutzergruppe. Lediglich entwicklungsbeeinträchtigende Inhalte schließlich unterliegen gemäß § 5 JMStV Verbreitungsbeschränkungen nach Altersstufen. Hiervon sind auch solche Angebote erfasst, die allein für die Altersgruppe der Unter-12- oder Unter-16-Jährigen relevant sind. Der Anbieter hat dafür Sorge zu tragen, dass der betroffenen Altersgruppe der Zugang wesentlich erschwert wird. 3. Regelungsadressaten netzbezogenen Jugendschutzes Regelungsadressat netzbezogenen Jugendschutzes ist zunächst allein der Content-Provider.3 Er ist auch Begehungstäter nach dem Strafgesetzbuch. Diese Wertung wird von der Systematik des Telemediengesetzes (TMG) mit seiner Magna Charta der in den §§ 7 – 10 TMG verankerten abgestuften Verantwortlichkeiten gestützt. Nur wenn der Content-Provider beim technischen Jugendmedienschutz versagt hat und repressive Maßnahmen gegen ihn nicht durchführbar sind, kann die Medienaufsicht auch gegen den Host-Provider vorgehen. Der Access-Provider schließlich steht ganz am Ende dieser Kette. Dessen ungeachtet wird der Ruf gerade nach ihm in jüngerer Zeit wieder lauter. III. Technischer Jugendmedienschutz heute Der aktuelle gesetzliche Jugendmedienschutz fokussiert nahezu ausnahmslos auf Verbreitungsverbote und -beschränkungen in einem bewahrpädagogischen Sinne (sog. negativer Jugendmedienschutz4). Kinder und Jugendliche sollen von Inhalten abgeschirmt werden, die nach der Einschätzung des Gesetzgebers ihre Persönlichkeitsentwicklung schädigen können. Gesetzt wird zum einen auf Altersverifikationssysteme zur Etablierung geschlossener Benutzergruppen, zum anderen auf Filtersysteme zur Unterdrückung entwicklungsbeeinträchtigender Angebote für die jeweils ungeeignete Altersstufe. 3 Zur Reichweite des Anbieterbegriffs nach dem JMStV s. auch Erdemir, in: Spindler / Schuster, Elektronische Medien (Fn. 2), § 3 JMStV Rn. 5 f. m. w. N. 4 Vgl. hierzu Karsten Altenhain, in: Löffler, Martin (Begr.), Presserecht, Kommentar, 5. Aufl. 2006, Einl. JuSchG Rn. 24.
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1. Altersverifikationssysteme („geschlossene Benutzergruppen“) Für eine geschlossene Benutzergruppe im Sinne von § 4 Abs. 2 JMStV verlangt der Gesetzgeber, dass der Anbieter sicherstellt, dass das Angebot nur Erwachsenen zugänglich ist. Konkrete technische Vorgaben werden nicht gemacht. Im Oktober 2007 hat der für das Wettbewerbsrecht zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs entschieden, dass die Eingabe einer Personalausweis- oder Reisepassnummer (sog. Persocheck) den gesetzlichen Anforderungen an eine geschlossene Benutzergruppe nicht genügt. Vielmehr setzt die Verlässlichkeit eines Altersverifikationssystems voraus, dass es einfache, nahe liegende und offensichtliche Umgehungsmöglichkeiten ausschließt.5 Dass es sich hierbei um eine wettbewerbsrechtliche Entscheidung handelt, muss übrigens nicht verwundern. Immerhin handelt es sich bei der Distributionsbeschränkung von Pornografie auch um eine Marktverhaltensregelung im Sinne des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG). Der Bundesgerichtshof verweist in seinem Urteil ausdrücklich auch auf die von der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) – hierbei handelt es sich um das Willensbildungsorgan der Landesmedienanstalten – bislang positiv bewerteten Altersverifikations-Konzepte.6 Die Kommission7 – und mit ihr ein Großteil der Literatur8 – postuliert eine zweistufige Altersverifikation. Die erste Stufe umfasst die Identifikation. Hier wird im Wege der Face-to-Face-Kontrolle die Volljährigkeit überprüft. Die zweite Stufe umfasst die Authentifikation des Nutzers bei jedem Zugriff auf Erwachsenen-Content. Hierzu wird dem Nutzer regelmäßig ein Generalschlüssel in Verbindung mit einer persönlichen Identifikationsnummer (PIN) ausgehändigt. In der Konsequenz wurden bislang allein Systeme mit Medienbruch entwickelt. Also solche Systeme, die eine vorgelagerte Identifizierung des Nutzers durch persönlichen Kontakt (zum Beispiel im Wege des sog. Post-Ident-Verfahrens) vorsehen. Es ist aber auch möglich, geschlossene Benutzergruppen für lediglich entwicklungsbeeinträchtigende Inhalte zu etablieren. Da nach § 5 JMStV insoweit nur eine wesentliche Zugangserschwernis verlangt wird, muss die Altersüberprüfung nicht zwingend im persönlichen Kontakt und auch nicht unter Vorlage von Ausweispapieren erfolgen. Es reicht vielmehr aus, wenn das Alter anhand plausibler Indizien glaubhaft gemacht wird. Plausible Indizien sind zum Beispiel Personenkennziffern mit den Altersmerkmalen „16“ bzw. „18“ aus offiziellen Dokumenten wie Personalausweis, Reisepass oder Sozialversicherungsausweis. In der Konsequenz kommt hier – jedenfalls für das Altersmerkmal „16“ – auch ein einfacher „Persocheck“ in Betracht. BGH, Urteil v. 18. 10. 2007, Az. I ZR 102 / 05 – NJW 2008, 1882 (1884). BGH, Urteil v. 18. 10. 2007, Az. I ZR 102 / 05 – NJW 2008, 1882 (1885). 7 Vgl. hierzu die Pressemitteilung der KJM v. 24. 06. 2003, abrufbar unter http:// www. kjm-online.de. 8 Vgl. nur Altenhain (Fn. 4), § 1 JuSchG Rn. 73 ff. sowie Erdemir, in: Spindler / Schuster, Elektronische Medien (Fn. 2), § 4 JMStV Rn. 53 ff., jeweils m. w. N. 5 6
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2. Filtersysteme („Jugendschutzprogramme“) Filtersysteme in Gestalt sog. Jugendschutzprogramme9 unterscheiden sich dagegen ganz erheblich von geschlossenen Benutzergruppen. Sie müssen gem. § 11 Abs. 3 JMStV einen nach Altersstufen differenzierten Zugang zu entwicklungsbeeinträchtigenden Inhalten bieten. Sie müssen folglich dazu in der Lage sein, für Kinder und Jugendliche problematische Inhalte aus dem Netz herauszufiltern oder den Zugang nur nach Maßgabe einer entsprechenden Bewertung und altersmäßigen Zuordnung möglich zu machen. Die Filter arbeiten überwiegend mit Listen von verbotenen Adressen (sog. schwarze Listen) und ggf. zusätzlich mit Listen von erlaubten Adressen (sog. weiße Listen) oder versuchen, die Inhalte beim Laden zu analysieren. Die KJM hat bis heute zwar drei potentielle Jugendschutzprogramme zum Modellversuch zugelassen, vermochte hiervon aber keines in den Regelbetrieb zu überführen.10 Nach wie vor blockieren Filtersysteme zu wenig bedenkliche und sperren gleichzeitig zu viele unbedenkliche Angebote für Kinder und Jugendliche. Letzteres bezeichnet man auch als „Overblocking“. Wie ein Jugendschutzprogramm in der Theorie funktioniert, lässt sich am Beispiel von „jugendschutzprogramm.de“, einem Filterprogramm des Vereins JusProg, exemplifizieren: Hierbei handelt es sich um den letzten Ende 2009 noch im Modellversuch befindlichen Filter. Eltern können die Software auf den von ihren Kindern genutzten Computern installieren. Surfen die softwaregeschützten Jugendlichen nun durch das World Wide Web und rufen zum Beispiel www.pornoanwalt.de oder www.berlinintim.de auf, dann wird der Zugriff unterbunden, weil die URLs auf der schwarzen Liste stehen. Zudem bietet die kostenlose Software eine weiße Liste für jugendaffine Webseiten. Wie ein Jugendschutzprogramm in der Praxis funktioniert, demonstriert „jugendschutzprogamm.de“ ebenso eindringlich: Ab Ende Mai 2009 gingen eine Reihe von Presse- und Bürgeranfragen bei der KJM-Stabsstelle ein. Die Beschwerden richteten sich gegen die Filterung von Internet-Angeboten vor allem von Parteien bzw. Parteiangehörigen und der Presse. Das bei jugendschutz.net angesiedelte KJM-Prüflabor ging daraufhin der Sache nach und bestätigte schließlich einen Großteil der erhobenen Vorwürfe. Auf der schwarzen Liste fanden sich unter anderem die folgenden URLs wieder: www.bildblog.de, www.taz.de, www.lawblog.de, www.vorratsdatenspeicherung.de, www.gruene.de, www.piratenpartei.de
9 Eingehend zu Jugendschutzprogrammen Murad Erdemir, Jugendschutzprogramme und geschlossene Benutzergruppen – Zu den Anforderungen an die Verbreitung entwicklungsbeeinträchtigender und jugendgefährdender Inhalte im Internet, CR 2005, S. 275 ff. 10 Vgl. hierzu den Dritten Bericht der KJM über die Durchführung der Bestimmungen des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags gem. § 17 Abs. 3 JMStV, S. 24 ff., abrufbar unter http:// www.kjm-online.de.
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IV. Kritische Würdigung 1. Altersverifikationssysteme Altersverifikationssysteme haben sich aus der Sicht des Jugendschützers bewährt. Nachdem das Internet alle traditionellen Zugangsbarrieren ausgehebelt hat, wurde mit ihnen ein funktionales Äquivalent gefunden. Geschlossene Benutzergruppen schaffen virtuelle Räume für Erwachsene oder ältere Jugendliche, ohne hierbei die technische Infrastruktur des Internets anzutasten. Denn sie regulieren das Reiseziel, nicht aber den Weg dorthin. Auf der Datenautobahn kann sich jeder weiter frei bewegen. Dieser positive Befund setzt allerdings voraus, dass man die begrenzte Reichweite des nationalen Rechts im World Wide Web akzeptiert. Denn das globale Netz hält weiterhin nahezu alles ungeschützt bereit. Dieser Umstand lässt technischen Jugendmedienschutz vielleicht „partiell symbolisch“ erscheinen.11 Hierdurch wird das Postulat zur Errichtung geschlossener Benutzergruppen indes nicht unverhältnismäßig oder gar zum unzulässigen Akt rein symbolischer Gesetzgebung. Die verfassungsrechtliche Gebotenheit eines hohen Jugendschutzstandards darf nicht von der Existenz ausländischer Angebote abhängen, die diesen Schutz unterlaufen. Darauf hat 2007 bereits der Bundesgerichtshof 12 und aktuell auch das Bundesverfassungsgericht13 unmissverständlich hingewiesen. Es liegt auf der Hand, dass die freie Verfügbarkeit pornografischer Inhalte im Internet – zumal für nur der deutschen Sprache mächtige Minderjährige – durch die Errichtung geschlossener Benutzergruppen zumindest verringert werden kann.14 Indes bleibt in Anbetracht der nahezu ungebrochenen Verfügbarkeit jugendgefährdender sowie unzulässiger Inhalte aus dem Ausland doch ein gewisser Legitimationsnotstand für restriktiven deutschen Jugendmedienschutz. Da auf absehbare Zeit allerdings nicht davon auszugehen ist, dass man sich auf internationaler Ebene auf verlässliche Standards wird verständigen können, dürfte ein Mehr an Jugendschutz nur zu einem sehr hohen Preis zu haben sein. Im Ergebnis müsste man den Zugang zum World Wide Web regulieren. Mit anderen Worten: Wir müssten unsere jüngeren Bürger vom globalen Netz abhängen. Gate-Keeper wäre der Access-Provider. Der Schlüssel zur größten aller geschlossenen Benutzergruppen wäre im elektronischen Personalausweis zu finden, auf den gleich noch näher einzugehen ist. 11 So Christoph Bieber / Martin Eifert / Thomas Groß / Jörn Lamla, Soziale Netzwerke in der digitalen Welt, in: dies. (Hrsg.), Soziale Netze in der digitalen Welt – Das Internet zwischen egalitärer Teilhabe und ökonomischer Macht, 2009, S. 19. 12 BGH, Urteil v. 18. 10. 2007, Az. I ZR 102 / 05 – NJW 2008, 1882 (1886). 13 BVerfG, Beschluss v. 24. 09. 2009, Az. 1 BvR 1231 / 04, 1 BvR 710 / 05, 1 BvR 1184 / 08 – MMR 2010, 48. 14 BVerfG, Beschluss v. 24. 09. 2009, Az. 1 BvR 1231 / 04, 1 BvR 710 / 05, 1 BvR 1184 / 08 – MMR 2010, 48 (49); kritisch hierzu Christoph Schnabel, Verfassungsmäßigkeit von Normen des Jugendschutzrechts, K&R 2009, S. 793 (794).
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Freilich existiert derzeit keine gesetzliche Grundlage für eine solche Maßnahme. Hier stünde vor allem die Rechtskonformität auf dem Prüfstand. Immerhin erscheint ein Konflikt mit der Dienstleistungsfreiheit nicht zwingend vorgezeichnet, ermangelt es Jugendlichen unter 16 Jahren doch regelmäßig an der vollen Geschäftsfähigkeit. Weitaus problematischer gestaltet sich dagegen die Vereinbarkeit mit der Informationsfreiheit. Man stelle sich zum Beispiel einen 15-jährigen Gymnasiasten vor, der sich auf ausländischen Seiten informieren und weiterbilden will.
2. Filtersysteme Deutlich anders muss der Befund für Filtersysteme ausfallen. Denn entscheidend für ein gutes Filtersystem ist nicht nur, wie zuverlässig es den Aufruf unerwünschter Seiten unterdrückt. Entscheidend ist auch, wie zuverlässig es unbedenkliche Inhalte passieren lässt. Dabei ist die Informationsfreiheit nicht allein für die Kinder und Jugendlichen in die Waagschale zu werfen. Vielmehr muss Berücksichtigung finden, dass auch zahlreiche Erwachsene Sitzungen an filtergeschützten PCs abhalten. Vor diesem Hintergrund müssen Filterprogramme zwangsläufig scheitern. Ein Wortfilter ist nahezu blind für den Kontext. „Netz gegen Nazis“ ist eben keine Naziseite und eine Aufklärungsseite enthält zumindest teilweise den gleichen Wortschatz wie ein pornografisches Angebot. Dass der Zugang zu den Online-Portalen der Grünen, der Piraten-Partei sowie des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung blockiert war, lag schlicht und ergreifend daran, dass auf ihnen neben Begriffen wie „Zugangserschwerung“ auch Begriffe wie „Kinderpornografie“ zu entdecken waren. Das sog. Page-Labeling wiederum lässt der Informationsfreiheit zwar mehr Raum, vermochte bislang aber nicht spürbar zum Jugendmedienschutz beizutragen. Diesem Verfahren liegt das Prinzip der freiwilligen Selbstkontrolle durch die Internet Content Rating Association (kurz: ICRA) zu Grunde. Jeder Webmaster hat die Möglichkeit, in den Quelltext seiner Seiten ein sog. ICRA-Label zu integrieren. Es beschreibt den Inhalt nach Kategorien wie Sex oder Gewalt. Eine dem Browser vorgeschaltete Filtersoftware soll diese Tags auswerten und gegebenenfalls den Abruf der Webseite blocken. Soweit die Theorie. In der Praxis ist ICRA gescheitert, weil selbst nach Jahren nur ein winziger Bruchteil aller Webseiten mit Labels versehen ist. Einen Totalausfall verzeichnen wir schließlich beim Umgang von Filtersystemen mit Web 2.0-Plattformen. Hier ist von vornherein keine Jugendschutzsystematik erkennbar. Blockaden oder Freischaltungen wirken willkürlich. Kein Filtersystem kann unterschiedliche Inhalte und Dienste von Web 2.0-Plattformen differenziert behandeln. Entweder sie blockieren alle Beiträge oder keinen.
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3. Exkurs: Sperrungsverfügungen („Access-Blocking“) Wer in Deutschland in Sachen Jugendmedienschutz unterwegs ist, wird früher oder später zwangsläufig auch mit der Thematik Sperrungsverfügungen bzw. „Access-Blocking“ konfrontiert. Im Kern geht es hierbei darum, den Zugriff auf absolut unzulässige Angebote wie Kinderpornografie und Volksverhetzung zu unterbinden, die regelmäßig auf ausländischen Servern geparkt werden. Die KJM hat bis heute noch keine einzige Sperrungsverfügung auf den Weg gebracht. Zur Klärung offener technischer und juristischer Fragen hatte sie im Jahr 2007 zwei Gutachten in Auftrag gegeben. Ergebnis der beiden im April 2008 veröffentlichten Gutachten war, dass Sperrungsverfügungen gegen Access-Provider technisch und rechtlich grundsätzlich möglich sind, dass sie aber in der Praxis mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sind und diverse Umgehungsmöglichkeiten bieten. Im Hinblick auf die aufgezeigten Schwierigkeiten setzt die KJM zwar weiterhin als Ultima Ratio auf die Sperrungsverfügungen, befürwortet aber zunächst – da als effektiver und flexibler erachtet – freiwillige Maßnahmen der Access-Provider.15 Gleichzeitig mangelt es in der noch relativ jungen Geschichte des Internets nicht an Versuchen, Access-Provider zur Sperrung des Zugangs zu Inhalten zu verpflichten, die deutschem Recht widersprechen: Bereits die Bezirksregierung Düsseldorf hatte im Jahre 2001 versucht, mit Sperrungsverfügungen Webseiten mit rechtsextremistischen Inhalten auszublenden. Zwischen dem 11. und 17. 09. 2007 sperrte Arcor den Zugriff auf www.youporn.com und weitere Webseiten mit frei zugänglichem pornografischen Material für alle seine 2,4 Millionen Kunden.16 Es handelte sich hierbei – soweit ersichtlich – um den ersten Fall in Deutschland, bei dem eine Sperrung freiwillig erfolgte. Man fürchtete, in eine wettbewerbsrechtliche Auseinandersetzung mit einem gesetzestreuen deutschen Pornoanbieter hineingezogen zu werden. Im Ergebnis hat der Versuch einer Sperrung von Inhalten wohl noch nie zu einer dauerhaften Verbesserung der Situation geführt. DNS-Manipulationen am System sind für den einigermaßen versierten Internetnutzer so unüberwindlich wie eine rote Fußgängerampel. Insoweit steht hier bereits die Geeignetheit des Mittels auf dem Prüfstand. Sie kann indes mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch bejaht werden, wenn man es ausreichen lässt, dass der angestrebte Zweck durch die Regelung auch nur irgendwie gefördert wird.17 15 Vgl. hierzu den Dritten Bericht der KJM über die Durchführung der Bestimmungen des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags gem. § 17 Abs. 3 JMStV, S. 41 ff., abrufbar unter http:// www.kjm-online.de. 16 Eingehend hierzu Christoph Schnabel, „Porn not found“ – Die Arcor-Sperre, K&R 2008, S. 26 ff. 17 BVerfG, Beschluss v. 24. 09. 2009, Az. 1 BvR 1231 / 04, 1 BvR 710 / 05, 1 BvR 1184 / 08 – MMR 2010, 48 f.; s. auch BVerfGE 90, 145 (172); 110, 141 (164).
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Breiter angelegte Sperrungen ganzer IP-Adressräume sind mit einigem Aufwand ebenfalls überwindbar. Sie können zudem auch rechtmäßige Angebote erfassen und damit zu Kollateralschäden für die Meinungs- und Informationsfreiheit führen. So verbergen sich hinter einer einzigen IP-Adresse oftmals Tausende von Webseiten auf einem „Multi-Domain-Server“, die mit dem einen schwarzen Schaf, dem Ziel der Sperrungsverfügung, nicht das Geringste zu tun haben. Auch ist zu bedenken, dass das Internet keine statische Menge an Servern mit unveränderlichen IP-Adressen darstellt. Über einer IP-basierten Sperrungsverfügung schwebt daher, sofern man ihre Angemessenheit auf den Prüfstand hebt, das Damoklesschwert der Verfassungswidrigkeit.18 Die vorgenannten Ausführungen müssen auch für das sog. Zugangserschwerungsgesetz („STOPP-Schild“) Gültigkeit beanspruchen. Schließlich geht es auch hier um Netzsperren, wobei die Sperrvorgaben des Bundeskriminalamts (BKA) automatisiert umgesetzt werden. Sollte es zukünftig dagegen technisch möglich sein, den Zugang zu löschungsresistenten kinderpornografischen Inhalten ohne schädliche Nebenwirkungen punktgenau und nachhaltig zu unterbinden, dann ist diese Möglichkeit auch zu ergreifen. Der gegenwärtig häufig zu vernehmende Slogan „Löschen statt Sperren“ jedenfalls führt in die Irre. Denn er suggeriert, dass alles, was im Internet zu löschen ist, auch gelöscht werden kann. Der Grundsatz „Löschen vor Sperren“ bringt das im deutschen Providerrecht angelegte Subsidiaritätsprinzip dagegen treffend auf den Punkt. Im Bereich der Online-Distribution von Kinderpornografie über Tauschbörsen (sog. dezentrale P2P-Systeme) erweisen sich Netzsperren freilich von vornherein als wirkungslos. Eine wirksame technische Lösung zum Auffinden kinderpornografischer Bilder bietet hier das Programm Perkeo. Es wurde in Zusammenarbeit mit dem BKA entwickelt. Das BKA erzeugt sog. Hashes von Bildern und Filmen mit strafbarem Inhalt und gibt sie für die Integration in Perkeo weiter. Diese HashBibliothek wird vom BKA laufend erweitert. Wenn Perkeo im Rahmen einer anlassunabhängigen Recherche im Internet eine Datei findet, die mit einem Hash aus der Liste übereinstimmt, erfolgt eine Meldung an das BKA. Die Treffer haben vor deutschen Gerichten Beweiskraft. V. Ausblick: Technischer Jugendmedienschutz morgen Der Ausblick führt zugleich zurück zur Ausgangsfrage. Technischer Jugendmedienschutz im Netz muss kein Irrweg sein. Allerdings heißt die Tatsache, dass etwas unzulässig ist, nicht automatisch, dass man es auch verhindern kann. Gefragt 18 Vgl. hierzu Ulrich Sieber / Malaika Nolde, Sperrverfügungen im Internet – Nationale Rechtssicherheit im globalen Cyberspace?, 2008, S. 168 ff., 180 ff.; Schnabel, Porn (Fn. 16), S. 28 sowie Hendrik Schöttle, Sperrungsverfügungen im Internet: Machbar und verhältnismäßig?, K&R 2007, S. 366 (367 f.).
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ist daher pragmatischer Realismus.19 Das Internet verlangt eine Modifikation unseres Bildes davon, wer reguliert und wie Regulierung funktioniert. Bislang hat der Gesetzgeber technischen Jugendmedienschutz nahezu ausnahmslos als hartes Regulierungsinstrument eingesetzt. In der Zukunft wird es jedoch darauf ankommen, jenseits des Leitbildes der repressiven Gefahrenabwehr verstärkt netzgerechten Kontrollmechanismen den Weg zu ebnen. Hierauf wird nachfolgend noch unter dem Oberbegriff der „weichen Regulierungsinstrumente“ näher einzugehen sein. 1. Technischer Jugendmedienschutz als hartes Regulierungsinstrument Selbstverständlich kann auf den Einsatz technischen Jugendmedienschutzes als hartem Regulierungsinstrument auch in Zukunft nicht verzichtet werden. Allerdings ist der komplexen Realität des Internets mit einer radikalen Vereinfachung des technischen Jugendmedienschutzes zu begegnen. Radikale Vereinfachung meint zunächst einmal den Verzicht auf alle Filtertechnologien, die die Möglichkeit eines ausdifferenzierten Zugangs zu Netzinhalten suggerieren.20 Eine digitale Ordnung, die sich auf automatisierte Eingriffe in das Netz verlässt, kann analoge Begriffe der alten Welt wie Verhältnismäßigkeit und Ermessen nicht verarbeiten. Beim Filter gibt es nur ein „Ja“ oder ein „Nein“. Zudem kann sein Einsatz die Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme empfindlich stören.21 Im Gegenzug zum geforderten Verzicht auf altersabgestufte Jugendschutzprogramme und schwarze Listen sollte der Gesetzgeber neben der geschlossenen Benutzergruppe für Erwachsene eine solche für Jugendliche ab 16 Jahren im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag positiv festschreiben. Als technologische Innovation im Bereich der Altersverifikation könnte sich der elektronische Personalausweis erweisen.22 Herzstück der Neuerungen ist der elektronische Identitätsnachweis. Ist die Nachweisfunktion eingeschaltet, so können Daten abgefragt werden. Zum Beispiel Name oder Anschrift. Es kann das genaue Alter übermittelt werden. Oder nur die Angabe, ob ein bestimmtes Alter über- oder 19 Vgl. hierzu auch Murad Erdemir, Realisierung der Staatsaufgabe Jugendschutz im Web 2.0, in: Bieber / Eifert / Groß / Lamla, Soziale Netze (Fn. 11), S. 287 ff. 20 Insoweit kritisch bereits Erdemir, Jugendschutzprogramme (Fn. 9), S. 282; vgl. hierzu aktuell auch Erdemir, in: Spindler / Schuster, Elektronische Medien (Fn. 2), § 1 JMStV Rn. 32 sowie § 11 JMStV Rn. 16. 21 Zum neuen Grundrecht auf „Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme“ s. BVerfG, Urteil v. 27. 02. 2008, Az. 1 BvR 370 / 07, 1 BvR 595 / 07 – NJW 2008, S. 822 ff. – Online-Durchsuchungen; s. hierzu auch Martin Eifert, Informationelle Selbstbestimmung im Internet – Das BVerfG und die Online-Durchsuchungen, NVwZ 2008, S. 521. 22 Eingehend hierzu Karsten Altenhain / Ansgar Heitkamp, Altersverifikation mittels des elektronischen Personalausweises, K&R 2009, S. 619 ff.
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unterschritten wird. Insoweit scheint zukünftig eine einstufige Zugriffsgewährung ohne Medienbruch möglich. Der anonyme Nachweis der Volljährigkeit könnte auch zu mehr Gleichheit im Wettbewerb in- und ausländischer Anbieter pornografischer Inhalte beitragen. Es ist davon auszugehen, dass die Rechtsprechung den elektronischen Identitätsnachweis als sicheres Altersverifikationssystem im Sinne des Jugendmedienschutzrechts wie auch des Strafrechts akzeptieren wird. Schließlich hat bereits der Bundesgerichtshof in seinem richtungsweisenden Urteil aus 2007 Spielraum für innovative technische Konzepte gelassen. Zum Beispiel in Gestalt von WebcamChecks oder der Verwendung biometrischer Merkmale, wenn sie den Zuverlässigkeitsgrad einer persönlichen Altersprüfung erreichen.23 2. Technischer Jugendmedienschutz als weiches Regulierungsinstrument a) Positiver Jugendmedienschutz Unter weichen Regulierungsinstrumenten sind zunächst einmal Interventionsmodelle im Sinne eines positiven Jugendmedienschutzes zu verstehen,24 die sich nicht in der Vermittlung von Medienkompetenz erschöpfen. Dazu sollte die vorhandene Technik stärker als bisher für die Entwicklung weißer Listen genutzt werden. Diese eignen sich am besten, den Bewegungsspielraum von Kindern zuverlässig auf einen sicheren Bereich des Internets zu beschränken. Bei einer reinen Whitelist-Lösung bekommen Kinder nur die Seiten zu sehen, die ihre Eltern freigegeben haben. Idealerweise lässt sich die Whitelist per Web-Frontend im Internet ergänzen. Dann können die Eltern eine Freigabe erteilen, selbst wenn sie gerade im Büro sitzen.25 Präsentiert wurde anlässlich des internationalen Safer Internet Day am 10. 02. 2009 der neue Kinder-Messenger, der von Microsoft in Zusammenarbeit mit jugendschutz.net und der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (kurz: FSM) entwickelt wurde. Ein Nachrichten- und Chat-Angebot, das sich in erster Linie an die Sechs- bis Zwölfjährigen richtet. Die Eltern müssen hier jeden einzelnen Kontakt ihrer Kinder freigeben. Problematische Dialoge können per E-Mail an die Eltern weitergegeben werden. Zudem ist Jugendmedienschutz weiter zu fassen und auch in Richtung Sucht und Datenschutz zu denken. Software-Zeitwächter wie Vista und WatchDog geben den PC nur für vorgegebene Zeiträume frei und diskutieren nicht. Was die MögBGH, Urteil v. 18. 10. 2007, Az. I ZR 102 / 05 – NJW 2008, S. 1882 (1885). Vgl. Erdemir, Jugendschutz im Web 2.0 (Fn. 19), S. 295 f. 25 Näher hierzu Urs Mansmann, Kindersicheres Web – Filterprogramme für den KinderPC, c’t 2009, S. 134 ff.; s. auch Axel Kossel, Schutz vor Schmutz – Wie gut Filter Kinder und Jugendliche vor gefährlichen Internet-Inhalten schützen, c’t 2007, S. 146 ff. 23 24
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lichkeiten technikbasierten Datenschutzes im Web 2.0 anbelangt, also dort, wo Persönlichkeitsentfaltung und Persönlichkeitsgefährdung unmittelbar verknüpft sind, so haben freilich zunächst die Aspekte der Aufklärung und der Datensparsamkeit im Zentrum der Bemühungen zu stehen. Darüber hinaus hat der Staat die Möglichkeiten einer rechtlich angeleiteten Technikgestaltung auszuschöpfen.26 b) Institutionalisierung der Öffentlichkeit Spätestens mit dem Einzug des Web 2.0 haben wir einen Paradigmenwechsel in den Medien und damit auch im Jugendmedienschutz. Waren Massenmedien des letzten Jahrhunderts noch nach dem klassischen Sender-Empfänger-Modell aufgebaut, so ist das inzwischen anders. Die sozialen Netze des Internets sind per se Mehrweg-Massenkommunikation. Jeder ist sein eigener Sender mit der Chance, tatsächlich weltweit wahrgenommen zu werden. Hinter dem Internet steckt also nicht nur eine technische, sondern auch eine soziale Innovation.27 Kritische und wachsame Medien, vor allem aber eine kritische und wachsame Öffentlichkeit erweisen sich hierbei als unverzichtbare Faktoren auch im modernen Jugendmedienschutz. Die kritische Öffentlichkeit der Netzbürger hat nicht auf den Staat gewartet. Sie hat ihre Möglichkeiten als weiches Regulierungsmittel längst selbst entdeckt. Dass die sog. Community Dinge selbst in die Hand nehmen und regeln kann, beweist zum Beispiel der Fall des Diktators Saddam Hussein: Auf ihren massiven Druck hin wurde das umstrittene Hinrichtungs-Video bereits am Neujahrstag 2007 aus dem Angebot des YouTube-Konkurrenten MyVideo entfernt. Ein weiteres Beispiel aus dem Bereich der Kinderpornografie: Zahlreiche illegale Inhalte werden nach Meldung beim internationalen Netzwerk INHOPE kurzfristig vom Netz genommen. INHOPE steht für „International Association of Internet Hotlines“. Es gilt als das Hauptforum zur Koordinierung von Hotlines in Europa und weltweit. Die Arbeitsweise des Netzwerks beinhaltet Elemente eines zwar nicht rechtlichen, wohl aber faktischen Notice-and-take-down-Verfahrens. Der Staat sollte die netzgerechte Einbeziehung der Nutzer als Kontrollressource verstärkt fördern. Er sollte deutlich sichtbare und einfach nutzbare Meldefunktionen für ungeeigneten Content verbindlich vorschreiben. Er sollte die Installation unabhängiger Ombudsmänner und -frauen ernsthaft erwägen. Mit ihnen sollte man 26 Vgl. hierzu Alexander Roßnagel, Persönlichkeitsentfaltung zwischen Eigenverantwortung, gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Regulierung, in: Bieber / Eifert / Groß / Lamla, Soziale Netze (Fn. 11), S. 271 (283). Vgl. zum Datenschutz auch den Beitrag von Roßnagel in diesem Bande. 27 Wolfgang Hoffmann-Riem, Soziale Innovation – Eine Herausforderung auch für die Rechtswissenschaft, Der Staat 47 (2008), S. 588 ff.; s. auch Karl-Heinz Ladeur, Neue Medien brauchen neues Medienrecht! Zur Notwendigkeit einer Anpassung des Rechts an die Internetkommunikation, in: Bieber / Eifert / Groß / Lamla, Soziale Netze (Fn. 11), S. 23 (46 ff.).
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– ähnlich der Figur des Jugendschutzbeauftragten 28 – unkompliziert per Tastendruck Kontakt aufnehmen können. Die Integration von qualifizierten Ombudsleuten könnte zudem der Missbrauchsgefahr von Meldefunktionen (Manipulation, Prangerwirkung etc.) entgegenwirken. Über zwei Dinge muss man sich bei alledem allerdings im Klaren sein. Erstens: Die territoriale Reichweite des geschilderten weichen Regulierungsansatzes ist begrenzt. Denn die digitale Weltöffentlichkeit wird sich kaum über so deutsche Spezialitäten wie die Ächtung des Holocaust-Leugnens verständigen. Und zweitens: Voraussetzung für den demokratischen Diskurs über Tabuverletzungen im Netz ist der Grundgedanke eines ungehinderten Zugangs zur Information.
3. Exkurs: Neujustierung des Zensurbegriffs „Das Zeitalter der Internet-Zensur hat endgültig begonnen.“ So war es jüngst in einem juristischen Fachaufsatz zu lesen.29 Dass es bei nahezu jeder repressiven Maßnahme zum Jugendschutz „Zensur“ durch die Weiten des Netzes hallt, daran hat man sich inzwischen gewöhnt. Dass nun aber kein lediglich politischer, sondern vielmehr juristisch determinierter und apodiktisch formulierter Zensurvorwurf im Raum steht, ist relativ neu. Schließlich ist man als Jurist geneigt, diesen Vorwurf mit dem Hinweis darauf, dass eine Vorzensur im verfassungsrechtlichen Sinne nicht erkennbar ist, zügig vom Tisch zu wischen. Damit macht man es sich allerdings zu einfach. Unter historischem Blickwinkel ist das Zensurverbot die schöne Zwillingsschwester der Pressefreiheit. Das Verbot der Zensur sollte ursprünglich verhindern, dass Zeitungen oder Flugschriften vor ihrer Veröffentlichung einem staatlichen Zensor zur Freigabe vorgelegt werden. Ob die herkömmliche Unterscheidung zwischen Vor- und Nachzensur im Zeitalter des Internets allerdings unverändert Bestand haben kann, bedarf einer eingehenden wissenschaftlichen Diskussion. Immerhin ist bei Abrufdiensten mit dem Moment des Einstellens des fraglichen Medieninhalts dessen kommunikative Funktion regelmäßig noch nicht erfüllt. Konkret ist zu fragen, ob das im Grunde lediglich reaktive – und somit als zulässige Nachzensur anzusehende – Access-Blocking möglicherweise aufgrund der besonderen Umstände, die im Internet etwa hinsichtlich des Rezeptions- und Publikationsprozesses bestehen, als unzulässige Zensur oder zensurgleiche Maßnahme anzusehen ist. In der Literatur sind Ansätze erkennbar, die sich für eine entsprechende Ausweitung und Anpassung des Zensurbegriffs an neue Medienangebote aussprechen.30 28 Zur Ombudsfunktion des Jugendschutzbeauftragten s. Murad Erdemir, Der Jugendschutzbeauftragte für Rundfunk und Telemedien – Ein unabhängiger Sachwalter des öffentlichen Interesses an einem effektiven Jugendschutz, K&R 2006, S. 500 (502 f.). 29 Annette Marberth-Kubicki, Der Beginn der Internet-Zensur – Zugangssperren durch Access-Provider, NJW 2009, S. 1792 (1796).
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Darüber hinaus stellt sich gerade im Bereich des technischen netzbezogenen Jugendschutzes zunehmend die Frage, ob und inwieweit auch faktische Zensurmaßnahmen als verfassungswidrige Zensur anzusehen sind. Unter Zugrundelegung des klassischen formellen Zensurbegriffs fallen unter das Zensurverbot des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG nur formelle Prüfungs- und Genehmigungsverfahren, also Präventivmaßnahmen, welche die Herstellung und / oder Verbreitung eines Kommunikationsinhalts rechtlich von einer behördlichen Genehmigung abhängig machen.31 Nach einer in der Literatur mittlerweile im Vordringen befindlichen Auffassung können dagegen auch faktische Beschränkungswirkungen durch Kontrollmaßnahmen unter den formellen Zensurbegriff fallen, ohne dass hierfür etwa notgedrungen ein mit dem Grundgesetz inkompatibler materieller Zensurbegriff zu bemühen wäre. So können unter Zugrundelegung eines erweiterten formellen Zensurbegriffs – welchem auch das Bundesverfassungsgericht32 zugeneigt ist – nicht allein rechtliche, sondern vielmehr auch faktische Kontrollmechanismen einer verfassungswidrigen Zensur gleichkommen, sofern diese ein funktionelles Äquivalent der formellen Zensur darstellen.33 An diesem Zensurbegriff wären vor allem Filterprogramme und Sperrungsverfügungen – ggf. auch hinsichtlich möglicher „Kollateralschäden“ – zu messen. Das Zeitalter der Internet-Zensur hat damit zwar immer noch nicht begonnen. Allerdings müsste – und dies nicht nur im Bereich des netzbezogenen Jugendschutzes – einer Innovation der Technik womöglich eine Innovation des Rechts folgen. Aber dies ist ein anderes Thema.
30 Vgl. Wolfgang Hoffmann-Riem, in: Denninger, Eberhard / ders. / Schneider, Hans-Peter / Stein, Ekkehart (Hrsg.), AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 5 1, 2 Rn. 93, sowie Christoph Engel, Die Internet-Service-Provider als Geiseln deutscher Ordnungsbehörden – Eine Kritik an den Verfügungen der Bezirksregierung Düsseldorf, MMR-Beilage 4 / 2003, S. 1 (12); s. auch Christoph Degenhart, in: Dolzer, Rudolf / Waldhoff, Christian / Graßhof, Karin (Hrsg.), BKGG, Bd. 2, Neubearb. 2006, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 933, welcher für das Vorliegen des insoweit maßgeblichen Kriteriums der erstmaligen Verbreitung verlangt, dass „die Information einen gewissen Zeitraum hindurch abrufbar war“. 31 BVerfGE 33, 52 (72 ff.) – Der lachende Mann. 32 BVerfGE 87, 209 (230 ff.) – Tanz der Teufel. 33 Eingehend zum Erfordernis eines erweiterten formellen Zensurbegriffs Murad Erdemir, Filmzensur und Filmverbot – Eine Untersuchung zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die strafrechtliche Filmkontrolle im Erwachsenenbereich, 2000, S. 50 ff., 56 f.; beipflichtend Marc Liesching, Jugendmedienschutz in Deutschland und Europa, 2002, S. 136 f., 182 sowie Rainer Scholz / Marc Liesching, Jugendschutz, Kommentar, 4. Aufl. 2004, § 11 JuSchG Rn. 2; offenlassend Dieter Dörr / Mark D. Cole, Jugendschutz in den Medien – Bestandsaufnahme und Reformabsichten, 2001, S. 94 f.
Das Gebot der Datenvermeidung und -sparsamkeit als Ansatz wirksamen technikbasierten Persönlichkeitsschutzes? Von Alexander Roßnagel I.
Konzept der Datenvermeidung und -sparsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Informationelle Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Neues Vorsorgekonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Vorsorgemaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Regelungen im Datenschutzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Allgemeines Datenschutzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Besonderes Datenschutzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Durchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Umsetzungsbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Forschungsprojekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Praxisbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Chancen der Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Ungünstige Entwicklungstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Anreize zur Datenvermeidung und Datensparsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Beitrag befasst sich mit der Möglichkeit des Rechts, wirtschaftlich-technische Innovationen an Zielen des Rechts auszurichten.1 Die Suche nach solchen Möglichkeiten beruht auf der Erkenntnis, dass in einer technisierten Welt Recht viele Ziele nur noch erreichen kann, wenn es diese durch die Gestaltung der Technik zu verwirklichen sucht. Ideal wäre, wenn technische Systeme so gestaltet würden, dass rechtliche Anforderungen durch die normale Nutzung der Technik durchgesetzt werden. Möglichkeiten und Grenzen dieses Ansatzes sollen an dem Beispiel des datenschutzrechtlichen Gebots der Datenvermeidung und -sparsamkeit diskutiert werden. Mit diesem Gebot versucht das Datenschutzrecht die Tech1 s. zu diesem Ansatz z. B. Alexander Roßnagel, Rechtswissenschaftliche Technikfolgenforschung – Umrisse einer Forschungsdisziplin, 1993; ders., Rechtswissenschaftliche Gestaltung der Informationstechnik, in: FS Udo Winand, 2008, S. 381 ff.
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Alexander Roßnagel
nikentwicklung so zu beeinflussen, dass Informations- und Kommunikationstechniksysteme zum Schutz der Persönlichkeit beitragen. Um die Frage beantworten zu können, wie dies möglich sein könnte, ist es notwendig, folgende Teilfragestellungen zu untersuchen: Was soll mit dem Konzept der Datenvermeidung und -sparsamkeit erreicht werden? Wie ist dieses Konzept im geltenden Datenschutzrecht ausgestaltet? Wie wird das der Datenvermeidung und -sparsamkeit bisher umgesetzt? Welche hemmenden und fördernden Faktoren für die Realisierung von Datenvermeidung und -sparsamkeit sind erkennbar oder können durch Recht geschaffen werden?
I. Konzept der Datenvermeidung und -sparsamkeit Die Idee der Datenvermeidung und -sparsamkeit ist bereits im Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. 12. 1983 angelegt, in dem es gesetzliche Vorkehrungen gegen die Gefährdung des neu anerkannten Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung forderte.2 Nach Diskussionen über datenschutzfreundliche Technologien in den 80er und frühen 90er Jahren3 wurde der Grundsatz der „Datenvermeidung und -sparsamkeit“ als Prinzip für die Datenschutzgesetzgebung erstmals 1995 in dem Gutachten der vom Autor geleiteten Projektgruppe Verfassungsverträgliche Technikgestaltung (provet) eingeführt,4 in dem für das Bundesministerium für Forschung und Technologie ein Gesetzentwurf zur Regelung von Datenschutz und Rechtssicherheit in Online-Multimedia-Anwendungen erarbeitet wurde.5 Diesem Gesetzentwurf entsprechend wurde der Grundsatz der Datenvermeidung und -sparsamkeit 1997 in § 3 Abs. 4 TDDSG und in § 12 Abs. 5 MDStV aufgenommen.
1. Informationelle Selbstbestimmung Gemäß dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts setzt der Schutz der Persönlichkeit „voraus, dass dem Einzelnen Entscheidungsfreiheit über vorzunehmende oder zu unterlassende Handlungen einschließlich der Möglichkeit gegeben ist, sich auch entsprechend dieser Entscheidung tatsächlich zu verhalten“. BVerfGE 65, 1 (43 ff.). s. hierzu Alexander Dix, Konzepte des Systemdatenschutzes, in: Roßnagel, Alexander (Hrsg.), Handbuch Datenschutzrecht, 2003, Kap. 3.5 Rn. 19 – 21. 4 s. Dix, Konzepte (Fn. 3), Kap. 3.5 Rn. 22; Johann Bizer, in: Simitis, Spiros (Hrsg.), BDSG, § 3a Rn. 3. 5 s. www.provet.org / bib / mmge. 2 3
Das Gebot der Datenvermeidung und -sparsamkeit
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Wer (aber) „nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffenden Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden“.6 Unter den besonderen „modernen Bedingungen der Datenverarbeitung“ hat das Bundesverfassungsgericht das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausprägung des Persönlichkeitsschutzes nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG anerkannt. „Das Grundrecht gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.“7 Die informationelle Selbstbestimmung schützt die selbstbestimmte Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit. Diese kann nur in einer für ihn kontrollierbaren Selbstdarstellung in unterschiedlichen sozialen Rollen und der Rückspiegelung durch die Kommunikation mit anderen gelingen. Dementsprechend muss der Einzelne in der Lage sein, selbst zu entscheiden, welche Daten er über sich in welcher Rolle und in welcher Kommunikation preisgibt. Diesen Vorrang schützt das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Jede fremdbestimmte Erhebung, Verarbeitung oder Nutzung personenbezogener Daten ist daher ein Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.8 Deshalb wird Persönlichkeitsschutz am besten dadurch gewährleistet, dass bei der Nutzung von Informations- und Kommunikationsdiensten gar keine personenbezogenen Daten erhoben, verarbeitet oder genutzt werden.9 Entsprechend dem Minimierungsprinzip, wie es auch im Umweltrecht im Rahmen der Vorsorge zur Anwendung kommt, zielt der Schutz der Persönlichkeit auf eine Vermeidung oder Minimierung personenbezogener Daten.10
2. Neues Vorsorgekonzept Der Grundsatz der Datenvermeidung und Datensparsamkeit zielt somit auf Vorsorgemaßnahmen zur Reduzierung der Grundrechtsgefährdung. Die Reduzierung des Aufkommens personenbezogener Daten verringert zugleich das Schadenspotential der technischen Systeme.11 Die Notwendigkeit zur Datenvermeidung und Datensparsamkeit ergibt sich aus der „Explosion“ der Menge personenbezogener BVerfGE 65, 1 (43). BVerfGE 65, 1 (43). 8 s. BVerfGE 100, 313 (366); dies gilt auch für die Datenverwendung durch private Stellen, s. BVerfGE 84, 192 (195). 9 s. z. B. Dix, Konzepte (Fn. 3), Kap. 3.5 Rn. 23. 10 Kritisch zu diesem Ansatz Marion Albers, Informationelle Selbstbestimmung, 2005, S. 554; Hans-Peter Bull, NJW 2006, S. 1617 ff. 11 Philipp Scholz, Datenschutz beim elektronischen Einkaufen und Bezahlen, 2003, S. 373; Philip Laue, Vorgangsbearbeitungssysteme in der öffentlichen Verwaltung, 2010, S. 352. 6 7
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Daten und der Globalisierung der Datenverarbeitung und damit der besonderen Erhöhung der Grundrechtsrisiken. Dies gilt grundsätzlich für jeden Umgang mit personenbezogenen Daten. Unter bestimmten Umständen wird Datenvermeidung sogar zum einzig verbleibenden Mittel, um informationelle Selbstbestimmung auszuüben. Personenbezogene Daten, die im Rahmen vernetzter Informationsverarbeitung entstanden sind und verarbeitet werden, sind für die betroffene Person faktisch nicht mehr kontrollierbar, ihre Berichtigung oder Löschung kann praktisch nicht mehr durchgesetzt werden.12 Ähnliches gilt, wenn die Verarbeitung personenbezogener Daten mobil und alltäglich wird und am Ende sogar allgegenwärtig in Alltagsgegenständen erfolgt, wenn der Einzelne nicht in der Lage ist, diese vielfältigen Datenverarbeitungen zu erkennen oder zu kontrollieren oder wenn die Datenverarbeitung außerhalb des Einflussbereichs deutscher oder europäischer Kontrollstellen stattfindet. In all diesen Fällen kommt es entscheidend auf die vorsorgende Vermeidung personenbezogener Daten an. Der Grundsatz der Datenvermeidung und Datensparsamkeit verfolgt in dreierlei Hinsicht ein neues Konzept: Es ergänzt die Eingriffsabwehr um Vorsorge, es ergänzt die rechtliche Bewertung bestehender Datenverarbeitungssysteme um ihre technisch-organisatorische Gestaltung und es ergänzt die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer fremdbestimmten Datenverarbeitung um Kriterien zu ihrer Optimierung. Es ist nicht – wie das Erforderlichkeitsprinzip – ein Mittel der Abwehr von Grundrechtseingriffen, das deren Verhältnismäßigkeit sicherstellen soll, und daher auch nicht ein Unterfall des Erforderlichkeitsprinzips,13 sondern der zentrale Ansatz zur Umsetzung des Vorsorgeprinzips im Datenschutz. Das Erforderlichkeitsprinzip bezieht sich auf einen gegebenen Zweck, ein gegebenes technisches System und einen gegebenen Datenverarbeitungsprozess. Für diese vorgegebenen Umstände veranlasst es die Frage, ob eine konkrete Datenverarbeitung erforderlich ist. Nur wenn auf die konkrete Datenverarbeitung hinsichtlich Datenumfang, Verarbeitungsform und Verarbeitungszeit nicht verzichtet werden kann, um den von der verantwortlichen Stelle gewählten Zweck zu erreichen, ist die Datenverarbeitung erforderlich und darf – die anderen Voraussetzungen als gegeben unterstellt – als Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung erfolgen.14 Das Erforderlichkeitsprinzip verpflichtet jedoch nicht, vorsorglich das unter bestimmten Umständen Erforderliche selbst noch einmal durch Überprüfung der Umstände am Erforderlichkeitsprinzip zu messen und nach diesem die Umstände zu ändern. 12 Angesichts unbegrenzter Speicherkapazitäten und der Proliferation von Daten in offenen Netzen bleibt jedes digitale Datum immer irgendwo potenziell verfügbar. Normative Regelungen zur Löschung personenbezogener Daten stoßen hier an ihre Wirksamkeitsgrenzen; s. bereits Alexander Roßnagel / Johann Bizer, Datenschutz in Multimediadiensten, 1995, S. 46, für das parallele Problem bei Medienarchiven. 13 So aber Spiros Simitis, Auf dem Weg zu einem neuen Datenschutzkonzept, DuD 2000, S. 714 (725). 14 s. BVerfGE 65, 1 (43, 46).
Das Gebot der Datenvermeidung und -sparsamkeit
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Dagegen fordert das Prinzip der Datenvermeidung von der verantwortlichen Stelle, ihre technisch-organisatorischen Verfahren vorsorgend so zu gestalten, dass sie möglichst keine oder so wenig personenbezogene Daten wie möglich verarbeitet.15 Es verlangt von ihr sogar, ihre Zwecke im Sinn einer „datensparsamen“ Konkretisierung zu überdenken: Verarbeitungszwecke können auf unterschiedlichen Ebenen konkretisiert werden. So kann die Abrechnung von Leistungen in unterschiedlichen Formen erfolgen. Wenn eine gewählte Abrechnungsform (etwa nach Zeit) als Zweck der Erforderlichkeitsprüfung zugrunde gelegt wird, kann die Verarbeitung personenbezogener Daten (etwa Beginn und Ende der Nutzung) erforderlich sein. Das Prinzip der Datenvermeidung erfordert jedoch von der verantwortlichen Stelle die vorsorgende Prüfung, ob eine Gestaltung der Abrechnungsverfahren (etwa Flatrate oder Prepaid) möglich ist, die eine Abrechnung erlaubt, ohne die Verarbeitung personenbezogener Daten zu erfordern. Abstrakt betrachtet, fordert es von der verantwortlichen Stelle, zu prüfen, ob die gegebenen oder geplanten Umstände der Datenverarbeitung so verändert werden können, dass keine personenbezogenen Daten erforderlich sind. Kann im Prinzip auf den Personenbezug verzichtet werden, entsteht daraus eine Rechtspflicht, die Verfahren und Systeme „datenvermeidend“ oder „datensparsam“ zu gestalten, wenn dies technisch möglich und verhältnismäßig ist. Einer von vornherein datenvermeidenden Gestaltung muss der Vorrang vor einem Techniksystem, das ein großes Datenvolumen benötigt, eingeräumt werden. Das vorsorgende Gestaltungsprinzip der Vermeidung geht daher weit über das herkömmliche Erforderlichkeitsprinzip des Datenschutzrechts hinaus. Die Anforderung einer „datenvermeidenden“ oder „datensparsamen“ Systemgestaltung ist – ein weiterer Unterschied zum Erforderlichkeitsprinzip – als Optimierungsanforderung und nicht als Verarbeitungsvoraussetzung zu verstehen. Hierfür sprechen drei Gründe: Zum einen ist aus verfassungsrechtlichen Gründen die grundsätzliche Entscheidungsautonomie der verantwortlichen Stelle für die Organisation ihrer Verarbeitungsprozesse zu respektieren. Zum anderen unterliegt die Gestaltungsanforderung wie alle Vorsorgeanforderungen dem Vorbehalt des technisch Möglichen und der Verhältnismäßigkeit.16 Schließlich würde die Ausgestaltung der Anforderung als Verarbeitungsvoraussetzung jede Datenverarbeitung mit einer nicht tragbaren Rechtsunsicherheit belasten. Da eine über die Mindestanforderung hinausgehende Optimierung der Prozesse und Systeme verlangt wird, kann immer darüber gestritten werden, ob nicht eine noch bessere Verwirklichung des Vermeidungsziels möglich wäre. Hiervon sind sowohl die verantwortlichen Stellen als auch die Kontrollstellen zu entlasten. Das Prinzip der Datenvermeidung fordert, dass die Gestaltung und Auswahl von Datenverarbeitungssystemen sich an dem Ziel orientiert, keine oder so wenig per15 s. z. B. auch Roland Steidle, Multimedia-Assistenten im Betrieb, 2005, S. 323; Laue, Vorgangsbearbeitungssysteme (Fn. 11), S. 351. 16 s. z. B. Hans D. Jarass, BImSchG, 7. Aufl. 2007, § 5 Rn. 60 ff.
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sonenbezogene Daten wie möglich zu erheben, zu verarbeiten oder zu nutzen. In einer Informationsgesellschaft kann aber vielfach – auch bei unterschiedlicher Gestaltung der Systeme – nicht auf die Verarbeitung von Daten verzichtet werden. Doch ist es oft nicht notwendig, dass diese Daten einen Personenbezug aufweisen. Entscheidend ist letztlich, dass Datenvermeidung – entgegen dem Wortlaut – nicht erst dann erreicht ist, wenn die Verarbeitung jeder Form von Daten vermieden wird, sondern von der Zielsetzung des Persönlichkeitsschutzes her auch dann erfüllt ist, wenn der Personenbezug von Daten vermieden wird. Ausreichend ist, wenn von den Daten nicht auf eine bestimmte Person geschlossen werden kann. Dieses Ziel kann erreicht werden, wenn anonyme oder pseudonyme Daten verarbeitet werden.17 Die Möglichkeit, anonym oder pseudonym zu handeln, ist daher das wohl wichtigste Mittel des Datenschutzes.18 In der OfflineWelt ist diese Möglichkeit selbstverständlich. Jeder kann beim Bäcker anonym seine Brötchen kaufen oder sich unter Pseudonym bei einer Behörde erkundigen. Im Internet und in der künftigen Welt allgegenwärtiger Datenverarbeitung besteht diese Selbstverständlichkeit nicht mehr. Diese Möglichkeit muss erst künstlich hergestellt werden, indem Verfahren für anonymes und pseudonymes Handeln geschaffen werden. Das Prinzip der Datenvermeidung und Datensparsamkeit ist dreistufig angelegt. Zunächst enthält es die Vorgabe, auf personenbezogene Daten vollständig zu verzichten, wenn die Funktion auch anderweitig erbracht werden kann. Wenn dieses Ziel mangels alternativer Möglichkeiten nicht erreicht werden kann, ist die Verarbeitungsstelle gehalten, den Verarbeitungsprozess so zu gestalten, dass die Verwendung personenbezogener Daten minimal ist. Die zweite Stufe beinhaltet somit den Grundsatz der Datensparsamkeit, der die Verarbeitung von Daten auf den nicht vermeidbaren Umfang begrenzt. Die dritte Stufe beinhaltet die zeitliche Beschränkung, die personenbezogenen Daten so früh wie möglich zu löschen, zu anonymisieren oder zu pseudonymisieren.19 3. Vorsorgemaßnahmen Die Umsetzung der Vorsorgeziele soll durch eine Gestaltung der technisch-wirtschaftlichen Systeme erfolgen. Diese zielt zum einen auf eine Begrenzung der notwendigen Daten oder zum anderen auf eine Vermeidung des Personenbezugs durch Anonymität oder Pseudonymität. 17 s. Alexander Roßnagel / Andreas Pfitzmann / Hansjürgen Garstka, Modernisierung des Datenschutzrechts, Gutachten für den Bundesinnenminister, 2001, S. 37, 40, 103 ff.; s. hierzu Alexander Roßnagel, Konzepte des Selbstdatenschutzes, in: ders., Datenschutzrecht (Fn. 3), Kap. 3.4 Rn. 56 – 68. 18 Ihre Bedeutung betont auch Helmut Bäumler, Elektronische Signaturen im Konflikt mit Grundrechten, in: Langenbach, Christian J. / Ulrich, Otto (Hrsg.), Elektronische Signaturen, Kulturelle Rahmenbedingungen einer technischen Entwicklung, 2001, S. 109 (113). 19 Alexander Roßnagel, Einleitung, in: ders., Datenschutzrecht (Fn. 3.), Kap. 1 Rn. 40.
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Systemgestaltung kann eine Reduzierung der personenbezogenen Daten, die bei der verantwortlichen Stelle verarbeitet werden müssen, dadurch erreichen, dass versucht wird, das übergeordnete funktionale Ziel durch eine datensparsame Umsetzung zu erreichen. Beispiele hierzu sind die Gestaltung der Verbreitung des Informationsangebots. Bei einem Verteildienst muss die verantwortliche Stelle die Daten der Empfänger kennen, um ihnen die Inhalte zusenden zu können. Bei einem Abrufdienst muss die verantwortliche Stelle die Daten über den Empfänger nur dann kennen, wenn der Abruf auf Berechtigte begrenzt ist und die Berechtigung überprüft werden soll. Die Berechtigung kann individualisiert oder allgemein gehalten (z. B. alle Inhaber von IP-Adressen eines bestimmten Kreises) sein, individualisierte Berechtigungen wiederum können identifizierend oder in Form von anonymen Credentials geprüft werden. Bei einer Verbreitung durch Rundfunk sind keine Empfängerdaten erforderlich, die Inhalte werden an alle verbreitet, die in der Reichweite des Rundfunksenders sind. die Gestaltung der Architektur eines Informations- und Kommunikationssystems. Für die Fülle der personenbezogenen Daten, die bei der verantwortlichen Stelle verarbeitet werden müssen, bedeutet es einen sehr großen Unterschied, ob Daten zentral (z. B. auf dem Server der verantwortlichen Stelle) oder auf dem Endgerät des Nutzers gespeichert und verarbeitet werden. Ist der Nutzer mit einem „Thin Client“ ausgestattet, liegen nahezu alle Daten bei der verantwortlichen Stelle, besitzt er einen „Fat Client“ können viele Daten beim Nutzer gespeichert und verarbeitet werden. So ist es etwa für Biometriedaten entscheidend, ob die Templates, mit denen die aktuell erhobenen Daten abgeglichen werden, auf einem Datenträger (so z. B. beim neuen Personalausweis) oder in einer zentralen Datenbank gespeichert werden.20 die Gestaltung der Abrechnungssysteme. Wird ein Angebot nach unterschiedlichen Inhalten abgerechnet, muss für die Abrechnung der Titel des Films, des Hörstücks, des Bilds oder des Musikstücks gespeichert und verarbeitet werden. Wird nach Zeit abgerechnet, sind Beginn und Ende der Nutzung festzuhalten. Wird nach Datenvolumen bezahlt, müssen nur die Datenmengen erfasst werden. Wird schließlich eine Flatrate erhoben, sind zur Abrechnung keine personenbezogenen Nutzungsdaten erforderlich. Das Gleiche gilt, wenn die Kommunikationskosten über Prepaid-Mechanismen abgerechnet werden.
Um den Personenbezug der zu verarbeitenden Daten zu vermeiden, bietet sich die nachträgliche Anonymisierung vorhandener Daten oder die Vermeidung der 20 s. z. B. Gerrit Hornung, Reisepässe mit Biometrie und RFID-Chips, Bausteine einer neuen Identifizierungsinfrastruktur, in: Zurawski, Nils (Hrsg.), Sicherheitsdiskurse. Angst, Kontrolle und Sicherheit in einer „gefährdeten“ Welt, Frankfurt 2007, S. 139 ff.; Alexander Roßnagel, Biometrie – Schutz und Gefährdung von Grundrechten, in: Schaar, Peter (Hrsg.), Biometrie und Datenschutz – Der vermessene Mensch, 2007, S. 56 ff.
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Entstehung personenbezogener Daten durch anonymes Handeln an. Anonyme Daten sind nach § 3 Abs. 6 BDSG dadurch gekennzeichnet, dass die Wahrscheinlichkeit, sie einer Person zuordnen zu können, so gering ist, dass sie nach der Lebenserfahrung oder dem Stand der Wissenschaft praktisch ausscheidet.21 Anonyme Daten sind keine personenbezogenen Daten.22 Während bei der nachträglichen Anonymisierung die personenbezogenen Daten einer verantwortlichen Stelle schon bekannt geworden sind oder bekannt sein könnten und nur für die weitere Speicherung oder eine Übermittlung der Personenbezug entfernt wird, besteht bei einem anonymen Handeln für die verantwortliche Stelle keine Möglichkeit, die erhobenen Daten einer Person zuzuordnen. Anwendungsfelder für anonymes Handeln sind überall dort zu sehen, wo es auf die Kenntnis der wahren Identität eines Handelnden nicht ankommt.23 Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn lediglich Informationen abgefragt oder ausgetauscht werden. Selbst im Bereich rechtsverbindlichen Handelns ist anonymes Handeln möglich, ohne die Rechte eines Beteiligten zu gefährden, wenn es – insbesondere bei Geschäften des täglichen Lebens – gleichzeitig zu einem vollständigen Leistungsaustausch kommt oder der anonym Handelnde vorleistet.24 Anonymes Handeln könnte sogar bei Vorleistungen des Vertragspartners akzeptabel sein, wenn eine dritte Stelle für einen anonym Handelnden technisch-organisatorisch unterstützte Zahlungsgarantien abgibt.25 Oft besteht jedoch die Notwendigkeit, Personen wiedererkennen, Identitäten und Handlungen zu verketten und Verantwortung zuweisen zu müssen. In diesen Situationen würde anonymes Handeln diese Ziele verfehlen. Um dennoch einen Personenbezug weitest möglich vermeiden zu können, bietet sich pseudonymes Handeln an. Pseudonymität ist nach § 3 Abs. 6a BDSG gegeben, wenn der Nutzer ein Kennzeichen benutzt, durch das die Wahrscheinlichkeit, dass Daten ihm zugeordnet werden können, so gering ist, dass sie ohne Kenntnis der jeweiligen Zuordnungsregel zwischen Kennzeichen und Person nach der Lebenserfahrung oder dem Stand der Wissenschaft praktisch ausscheidet. Neben aktiv benutzten Pseudonymen, die sich der Nutzer selbst auswählt, um mit ihrer Hilfe seine informationelle Selbstbestimmung zu schützen,26 gibt es auch Pseudonyme, die von Dritten 21 s. näher Alexander Roßnagel, Datenschutz in Tele- und Mediendiensten, in: ders., Datenschutzrecht (Fn. 3), Kap. 7.9 Rn. 51. 22 s. hierzu ausführlich Alexander Roßnagel / Philipp Scholz, Datenschutz durch Anonymität und Pseudonymität, Rechtsfolgen der Verwendung anonymer und pseudonymer Daten, MMR 2000, S. 721 (723) m. w. N. 23 s. Roßnagel, Konzepte (Fn. 17), Kap. 3.4 Rn. 58. 24 Ein gleichzeitiger Leistungsaustausch oder gar Vorleistungen des Kunden widersprechen allerdings den Schutzregelungen, den Verbraucherschutzregeln im Electronic Commerce, die dem Verbraucher beim Fernkauf grundsätzlich eine Prüfung der Ware vor der Bezahlung ermöglichen wollen. 25 s. näher Roßnagel / Pfitzmann / Garstka, Modernisierung (Fn. 17), S. 151.
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ohne Zutun des Nutzers vergeben werden27 und ihm entweder bekannt28 oder unbekannt29 sind. Während bei Anonymität niemand – auch nicht der Nutzer – den Bezug eines Merkmals zu einer bestimmten Person herstellen kann, gibt es bei Pseudonymität eine Regel (oder Liste), über die eine solche Zuordnung möglich ist. Bei Pseudonymität ist daher zwischen den Personen, die die Zuordnungsregel kennen, und denen, die sie nicht kennen, zu unterscheiden. Pseudonyme Daten sind für den Kenner der Zuordnungsregel personenbeziehbar, für alle anderen sind sie anonyme Daten.30 Für die verantwortliche Stelle, die trotz der Pseudonymisierungsversuche mit Zusatzwissen und vertretbarem Aufwand in der Lage ist, den Personenbezug herzustellen, sind die Daten personenbezogen. Für alle, für die dies nicht möglich ist, sind pseudonyme Daten keine personenbezogenen Daten.31
II. Regelungen im Datenschutzrecht Das Konzept des vorsorgenden Datenschutzes fand erstmals Eingang in die Gesetzgebung des Bundes und der Länder mit dem Teledienstedatenschutzgesetz (TDDSG) und dem Mediendienstestaatsvertrag (MDStV) am 01. 08. 1997. Nach § 3 Abs. 4 TDDSG und § 12 Abs. 5 MDStV hatten die Anbieter von Tele- und Mediendiensten die Gestaltung und Auswahl technischer Einrichtungen an dem Ziel auszurichten, keine oder so wenige personenbezogene Daten wie möglich zu erheben, zu verarbeiten und zu nutzen. Diese Regelung wurde bei der Anpassung des Bundesdatenschutzgesetzes an die europäische Datenschutzrichtlinie 2001 in abgeschwächter Form in das allgemeine Datenschutzrecht übernommen und im Teledienstedatenschutzgesetz und Mediendienstestaatsvertrag gestrichen. Jetzt besteht im allgemeinen Datenschutzrecht eine allgemeine Regelung der Datenvermeidung und Datensparsamkeit und hierzu einzelne besondere Ausprägungen in Spezialgesetzen. 1. Allgemeines Datenschutzrecht § 3a Satz 1 BDSG enthält eine Regelung zur Datenvermeidung und Datensparsamkeit, die wortgleich in § 78b SGB X übernommen worden ist. Danach haben 26 Diese Pseudonyme sind in §§ 5 Abs. 2 und 7 Abs. 1 Nr. 1 SigG geregelt, s. zu diesen Alexander Roßnagel, Datenschutz in Signaturverfahren, in: ders., Datenschutzrecht (Fn. 3), Kap. 7.7 Rn. 61 ff. 27 Z. B. bei pseudonymem Profiling. 28 Z. B. durch angemeldete Cookies. 29 Z. B. im Rahmen von Internetwerberingen oder im Rahmen der medizinischen Forschung. 30 s. näher Roßnagel, Konzepte (Fn. 17), Kap. 3.4 Rn. 60 ff.; ders., Tele- und Mediendienste (Fn. 21), Kap. 7.9 Rn. 52. 31 s. hierzu ausführlich Alexander Roßnagel / Philipp Scholz, Anonymität (Fn. 22), S. 723 m. w. N.
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sich die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten und Auswahl und Gestaltung von Datenverarbeitungssystemen an dem Ziel auszurichten, so wenig personenbezogene Daten wie möglich zu erheben, zu verarbeiten oder zu nutzen. Satz 2 regelt den zentralen Anwendungsfall. Danach sind insbesondere personenbezogene Daten zu anonymisieren oder zu pseudonymisieren, soweit dies nach dem Verwendungszweck möglich ist und keinen im Verhältnis zu dem angestrebten Schutzzweck unverhältnismäßigen Aufwand erfordert. Bei dem Gebot der Datenvermeidung und Datensparsamkeit handelt es sich nicht um eine unverbindliche Zielsetzung32 oder einen unverbindlichen Programmsatz,33 sondern um eine echte Rechtspflicht der verantwortlichen Stelle, für eine datenvermeidende Gestaltung ihrer Datenverarbeitungssysteme zu sorgen.34 Allerdings ist kein bestimmtes Ergebnis vorgeschrieben, sondern eine Optimierungspflicht vorgegeben, im Rahmen des Möglichen nach Verbesserungen zu suchen. Wenn § 3a Satz 2 BDSG von „Anonymisierung“ und „Pseudonymisierung“ spricht, darf daraus nicht der Schluss gezogen werden, es gehe stets nur um die spätere Aufhebung des Personenbezugs von Daten, die zunächst personenbezogen erhoben werden dürfen. Vielmehr ist die Vorschrift so zu verstehen, dass sie auch die personenbezogene Datenerhebung einschränken will, indem die Gestaltung der Datenverarbeitungssysteme anonymes oder pseudonymes Handeln ermöglicht.35 Auch die Landesdatenschutzgesetze enthalten überwiegend eine Regelung zum Gebot der Datenvermeidung und Datensparsamkeit, das in der Regel aber deutlich strikter formuliert ist als in § 3a BDSG.36 2. Besonderes Datenschutzrecht Das seit 2007 geltende Telemediengesetz enthält in § 13 Abs. 6 TMG eine bereichsspezifische Konkretisierung der Vorgabe des § 3a Satz 2 BDSG. Danach hat „der Diensteanbieter . . . die Nutzung von Telemedien und ihre Bezahlung anonym oder unter Pseudonym zu ermöglichen, soweit dies technisch möglich und zumutbar ist. Der Nutzer ist über diese Möglichkeit zu informieren.“ Im Gegensatz zu § 3a Satz 2 BDSG ist die „Möglichkeit“, die Anonymisierungspflicht zu begrenzen, stärker eingeschränkt. Lediglich die technische Unmöglichkeit und die UnUlrich Wuermeling, DSB 7+8 / 1997, 8 zu § 3 Abs. 4 TDDSG. Peter Gola / Rudolph Schomerus, BDSG, 9. Aufl. 2007, § 3a Rn. 2. 34 Helmut Bäumler, Das TDDSG aus Sicht eines Datenschutzbeauftragten, DuD 1999, S. 258 (260); Dix, Konzepte (Fn. 3), Kap. 3.5 Rn. 23; Lothar Fritsch / Heiko Roßnagel / Matthias Schwenke / Tobias Stadler, Die Pflicht zum Angebot anonym nutzbarer Dienste, DuD 2005, S. 592 (593); Gerrit Hornung, Die digitale Identität, 2005, S. 247; Bizer, in: Simitis, BDSG (Fn. 4), § 3a Rn. 41; Laue, Vorgangsbearbeitungssysteme (Fn. 11), S. 354. Der Gesetzgeber spricht in diesem Zusammenhang von einer „Zielvorgabe“, s. BT-Drs. 16 / 13657, S. 27. 35 Dix, Konzepte (Fn. 3), Kap. 3.5 Rn. 34. 36 s. z. B. § 10 Abs. 1 Satz 2 HDSG, § 11b BbgDSG, § 4 Abs. 1 SchlHDSG, § 4 Abs. 2 NWDSG. S. hierzu auch Dix, Konzepte (Fn. 3), Kap. 3.5 Rn. 21. 32 33
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zumutbarkeit können die Diensteanbieter von der Pflicht zur Eröffnung einer anonymen oder pseudonymen Nutzungsoption befreien. Nach § 47 Abs. 1 RStV gilt die Anforderung des § 13 Abs. 6 TMG auch für Anbieter von Rundfunk. Für den Bereich des Telekommunikationsrechts existierte mit § 3 Abs. 4 TDSV bis 2004 eine Regelung, die ebenfalls ausdrücklich das Ziel der Datenvermeidung und Datensparsamkeit normierte. In der Neufassung des Telekommunikationsgesetzes im Jahr 2004 wurde in den Bestimmungen zum Datenschutz auf eine entsprechende Vorschrift jedoch verzichtet. Für die Anbieter von Telekommunikationsdiensten gilt die allgemeine Vorschrift des § 3a BDSG.
3. Durchsetzung Die ordnungsrechtliche Durchsetzung des Optimierungsgebots der Datenvermeidung und Datensparsamkeit ist schwierig. Die Einhaltung dieses Grundsatzes ist keine Voraussetzung für einen Umgang mit personenbezogenen Daten. Ein Verstoß gegen dieses Gebot führt nicht zur Unzulässigkeit der Erhebung, Verarbeitung oder Nutzung der Daten. Auch kann weder die Aufsichtsbehörde Zwangsmaßnahmen nach § 38 BDSG ergreifen noch der Betroffene Rechte nach §§ 34 oder 35 BDSG geltend machen.37 Die üblichen – ohnehin schwachen – ordnungsrechtlichen Durchsetzungsmechanismen fehlen somit für die Durchsetzung des Gebots der Datenvermeidung und Datensparsamkeit vollständig. Möglich sind lediglich die Identifizierung von Umsetzungsdefiziten und entsprechende Anregungen seitens des Bundesdatenschutzbeauftragten nach § 24 Abs. 1 Satz 1 BDSG und der Landesdatenschutzbeauftragten nach dem jeweiligen Landesdatenschutzgesetz, der Aufsichtsbehörden nach § 38 Abs. 1 Satz 1 BDSG und des betrieblichen oder behördlichen Datenschutzbeauftragten nach § 4g Abs. 1 Satz 1 BDSG.38 Für die interne Willensbildung im Unternehmen und in der Behörde kann die Verfolgung des Gestaltungsziels unterstützt werden, indem im Rahmen von Vorabkontrollen nach § 4d Abs. 5 und 6 BDSG alternative Gestaltungsoptionen überprüft werden. Von diesen informatorischen Instrumenten kann allerdings nur eine unterstützende Wirkung erwartet werden, die eventuell über das Medium der Öffentlichkeit verstärkt werden kann. Auf der Grundlage der vorhandenen Regelungen drohen Gestaltungsanforderungen wie das Gebot der Datenvermeidung und Datensparsamkeit weitgehend wirkungslos zu bleiben.39 Ordnungsrechtliche Maßnahmen sind aber auch nicht 37 Gola / Schomerus, BDSG (Fn. 33), § 3a Rn. 2; kritisch gegenüber der jetzigen Regelung insoweit Dix (Fn. 3), Kap. 3.5 Rn. 37; einen Anspruch auf Anonymisierung und Pseudonymisierung fordern Roßnagel / Pfitzmann / Garstka, Modernisierung (Fn. 17), S. 178. 38 Bizer, in: Simitis, BDSG (Fn. 4), § 3a Rn. 83. 39 s. Dix, Konzepte (Fn. 3), Kap. 3.5 Rn. 37; Roßnagel / Scholz, Anonymität (Fn. 22), S. 731.
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geeignet, Technikgestaltung durchzusetzen. Diese setzt das Wissen und das Engagement der verantwortlichen Stellen oder der Hersteller voraus. Sie werden aber für eine aktive Mitwirkung nur zu gewinnen sein, wenn sie davon einen Vorteil haben. Daher muss die Verfolgung legitimen Eigennutzes in einer Form ermöglicht werden, die zugleich auch Gemeinwohlbelangen dient. Datenvermeidung und Datensparsamkeit muss zu einem Werbeargument und Wettbewerbsvorteil werden. Daher war von Anfang an daran gedacht, die Umsetzung des Grundsatzes der Datenvermeidung und Datensparsamkeit durch Anreize zu unterstützen, die an ein entsprechendes Eigeninteresse der verantwortlichen Stelle anknüpfen oder dieses generieren.40 Mit der Einführung dieses Grundsatzes in das Datenschutzrecht war auch die Einführung eines Datenschutzaudits vorgesehen.41 Die verantwortliche Stelle sollte im Rahmen eines solchen Audits in ihrem Datenschutzkonzept nachweisen, dass sie das Gestaltungsziel erreicht hat. Die Optimierung der Verarbeitungsprozesse und -systeme sollte ein zentraler Maßstab für die Honorierung der Datenschutzanstrengungen durch ein Datenschutzauditzeichen sein. Ihr Fortschritt sollte im Rahmen des Auditverfahrens in jeder neuen Runde belegt und überprüft werden.42 Das Datenschutzaudit der Datenverarbeitungssysteme sollte ergänzt werden durch die Zertifizierung von Produkten und die Präsentation von Datenschutzerklärungen. Werden diese von Datenschutzempfehlungen à la „Stiftung Warentest“, von Datenschutzrankings oder durch die Berücksichtigung bei öffentlichen Auftragsvergaben begleitet, kann ein Wettbewerb um den besseren Datenschutz entstehen. Dann – so war die Hoffnung – werden die Gestaltungsziele von selbst erreicht.43 Die Ergänzung des Grundsatzes der Datenvermeidung und Datensparsamkeit um ein Datenschutzaudit ist bisher jedoch nicht erfolgt. 1997 wurde zwar zusammen mit dem Grundsatz der Datenvermeidung und Datensparsamkeit in § 17 MDStV eine Programmnorm aufgenommen, die ein Datenschutzaudit ankündigt, aber von einem Ausführungsgesetz abhängig macht. 2001 wurde diese Programmnorm in § 9a BDSG übernommen.44 2009 sollte in der Datenschutznovelle II auch das lang angekündigte Ausführungsgesetz zum Datenschutzaudit aufgenommen 40 Provet (Fn. 5); s. auch den Staatssekretär im Bundesjustizministerium Heinz Lanfermann, Datenschutzgesetzgebung – gesetzliche Rahmenbedingungen einer liberalen Informationsgesellschaft, RDV 1998, S. 1 (4); Alexander Roßnagel, Neues Recht für Multimediadienste – Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz und Mediendienste-Staatsvertrag, NVwZ 1998, S. 1 (4); s. zur notwendigen Ergänzung um eine faktische Umsetzung über Marktmechanismen, insbesondere ein Datenschutzaudit z. B. Bizer, in: Simitis, BDSG (Fn. 4), § 3a Rn. 30, 85; Dix, Konzepte (Fn. 3), Kap. 3.5 Rn. 33; Scholz, Datenschutz (Fn. 11), S. 207. 41 s. ausführlich Alexander Roßnagel, Datenschutzaudit – Konzeption, Durchführung, gesetzliche Regelung, 2000. 42 Roßnagel / Pfitzmann / Garstka, Modernisierung (Fn. 17), Kap. 3.7 Rn. 1 ff. 43 Alexander Roßnagel, Datenschutzaudit, in: ders., Datenschutzrecht (Fn. 3), Kap. 3.8 Rn. 1 ff. 44 s. auch § 11c LDSG Brandenburg und § 10a LDSG Nordrhein-Westfalen.
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werden,45 scheiterte aber schließlich am Einfluss bestimmter Lobbygruppen auf den Bundestag.46 Eine Regelung zum Datenschutzaudit wurde bisher allein in § 43 Abs. 2 LDSG Schleswig-Holstein47 und in Bremen in Form einer Datenschutzauditverordnung48 erlassen. Erste Auditierungen erfolgten 2002. Seitdem erfreut sich das Datenschutzaudit in Schleswig-Holstein einer ständig steigenden Nachfrage. 2007 und 2008 wurde die Auditierung zusammen mit mehreren europäischen Partnern unter dem Namen „European Privacy Seal“ auf die gesamte Europäische Union ausgeweitet und von der Europäischen Kommission gefördert.49 Neben dem Datenschutzaudit hat Schleswig-Holstein in § 4 Abs. 2 Satz 2 LDSG50 auch noch die Möglichkeit einer Produktzertifizierung eröffnet. Dies wird in § 4 Abs. 2 Satz 1 LDSG ergänzt um die Regelung, Produkte, deren Vereinbarkeit mit den Vorschriften über den Datenschutz und die Datensicherheit in einem förmlichen Verfahren festgestellt wurden, vorrangig einzusetzen. Eine vergleichbare Regelung zur vorrangigen Berücksichtigung von Produkten und Verfahren, die – zum Beispiel in einer Zertifizierung – als datenschutzfreundlich bewertet worden sind, in der Beschaffung enthält auch § 4 Abs. 2 Satz 2 NWDSG. Der Bundesgesetzgeber hat bisher jedoch von einer Regelung wie in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen abgesehen. Daher kann festgehalten werden, dass im Datenschutzrecht Regelungen, die die Durchsetzung des Gebots der Datenvermeidung und Datensparsamkeit unterstützen, im Bund und vielen Bundesländern nahezu vollkommen fehlen und in wenigen Bundesländern ansatzweise existieren. Die Chancen, den Grundsatz der Datenvermeidung und Datensparsamkeit als Gestaltungsprinzip für Innovationen zu Geltung zu bringen, werden durch das Datenschutzrecht nicht erhöht. Aber auch wenn Datenschutzaudits in Deutschland durchgeführt würden und die Beschaffung von Informations- und Kommunikationstechniksystemen im öffentlichen Bereich das Kriterium der Datensparsamkeit berücksichtigen würden, besteht für die Durchsetzung datenvermeidender und datensparsamer Innovationen das Problem, dass der deutsche Markt weitgehend von ausländischen, insbesondere amerikanischen Herstellern und Anbietern beherrscht wird. Um Datenschutzzielen BR-Drs. 4 / 09; BT-Drs. 16 / 12011. s. Alexander Roßnagel, Die Novellen zum Datenschutzrecht – Scoring und Adresshandel, NJW 2009, S. 2716 (2717). 47 Hierzu hat das Unabhängige Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein Ausführungsbestimmungen in Form von Verwaltungsrichtlinien erlassen, s. www.datenschutz zentrum.de / audit / . 48 Bremisches Gesetzblatt 2004, S. 515; zu den Durchführungsbestimmungen s. http:// www.datenschutz-bremen.de/pdf/dfaudit.pdf; s. auch Sven Holst, Bremische Datenschutzauditverordnung in Kraft, DuD 2004, S. 710 ff. 49 s. www.european-privacy.seal.eu. 50 Diese Regelung wird durch eine Verordnung zum Datenschutz-Gütesiegel ergänzt, s. www.datenschutzzentrum.de/guetesiegel/; Uwe Schläger, Gütesiegel nach Datenschutzauditverordnung Schleswig-Holstein, DuD 2004, S. 459 ff. 45 46
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unabhängig vom Geltungsbereich nationaler Gesetzgebung einen größeren faktischen Stellenwert zu verschaffen, muss versucht werden, diese Ziele in der internationalen Standardisierung geltend zu machen.51
III. Umsetzungsbeispiele Dennoch gibt es viele Beispiele, die zeigen, dass und wie der Grundsatz der Datenvermeidung und Datensparsamkeit umgesetzt werden und sogar zu technisch-wirtschaftlichen Innovationen führen kann. Er bietet eine Zielorientierung für viele Technikentwicklungsprojekte (1.), Grundlage für eine Vielzahl spezieller gesetzlicher Regelungen (2.) und Ausgangspunkt für vielfältige Marktinnovationen, die versuchen, den Bedarf nach datensparsamen Anwendungen der Informations- und Kommunikationstechniken zu befriedigen und die Nachfrage nach solchen Techniken und Anwendungen für wirtschaftlichen Erfolg zu nutzen (3.).
1. Forschungsprojekte Zahlreiche meist staatlich finanzierte Forschungsprojekte zeigen, wie Datenvermeidung und Datensparsamkeit realisiert werden kann. Dies kann bereits allein an Beispielen von Forschungsprojekten gezeigt werden, an denen der Autor mit seiner Projektgruppe verfassungsverträgliche Technikgestaltung (provet) beteiligt war: Im Forschungsprojekt „Datenschutz im Internet – Rechtliche Aspekte datenschutzgerechter Gestaltung elektronischen Einkaufens und Bezahlens (DASIT)“, das in Zusammenarbeit mit der Deutschen Genossenschafts-Bank und dem GMD-Forschungszentrum Informationstechnik mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie von 1998 bis 2001 durchgeführt wurde, konnte gezeigt werden, wie pseudonymes Einkaufen und Ausliefern von Waren und anonymes Bezahlen in einem Internetshop realisiert werden kann.52 Im DFG-Projekt „Vertrauenskapseln für Geschäftsprozesse im Internet (TrustCaps)“, das in den Jahren 2006 und 2007 zusammen mit Informatikern der Technischen Universität Darmstadt durchgeführt wurde, konnte am Beispiel des Kaufs von Gebrauchtfahrzeugen und von Alltagsgegenständen demonstriert werden, wie datensparsame Geschäfts- und Technikmodelle für den Interneteinkauf umgesetzt werden können.53 s. Dix, Konzepte (Fn. 3), Kap. 3.5 Rn. 41. Alexander Roßnagel (Hrsg.), Datenschutz beim Online-Einkauf – Herausforderungen, Konzepte, Lösungen, 2002. 53 Christel Kumbruck / Markus Sacher / Frederik Stumpf, Vertrauen(skapseln) beim OnlineEinkauf, DuD 2007, S. 362 ff.; Frederik Stumpf / Markus Sacher / Alexander Roßnagel / Claudia Eckert, Erzeugung elektronischer Signaturen mittels Trusted Platform Module, DuD 2007, S. 357 ff. 51 52
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Das Forschungsprojekt „Datenschutzfragen mobiler kontextbezogener Systeme (DamokoS)“ wurde 2004 und 2005 im Auftrag des DFG-Sonderforschungsbereichs 627 „Umgebungsmodelle für mobile kontextbezogene Anwendungen (Nexus)“ in Stuttgart durchgeführt und untersuchte datensparsame Anwendungen für Location Based Services.54 Im Teilprojekt „Consumer Privacy“ wurden im Rahmen des von einem großen Konsortium durchgeführten EU-Forschungsprojekts „Service Platform for Innovative Communication Environment (SPICE)“ von 2006 bis 2008 die Möglichkeiten untersucht, pseudonyme Profile in Plattformen für Mobile Computing zu nutzen.55 Das Forschungsprojekt „Verteilte Softwareagenten für sichere, rechtsverbindliche Aufgabendelegation in mobilen Kollaborativen Anwendungen (Vesuv)“, das zusammen mit dem Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung, der Siemens AG, dem Zentrum für Graphische Datenverarbeitung Rostock, der Hochschule Görlitz / Zittau und dem European Microsoft Innovation Center mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit von 2004 bis 2007 durchgeführt wurde, untersuchte und realisierte zusammen mit der Stadt Rostock eine datensparsame arbeitsteilige Vorgangsbearbeitung im E-Government.56 In dem vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst geförderten Projekt „Datenschutzkonforme Nutzung von E-Learning-Verfahren an hessischen Hochschulen“ wurden 2008 / 2009 datensparsame Lösungen für E-Learning-Anwendungen untersucht57 und eine auf dieses Ziel abgestimmte Datenschutzsatzung entworfen.58 Mit Unterstützung der Alcatel-Lucent Stiftung wurde im Rahmen des Projekts „Nachhaltiges Energieinformationsnetz – Wettbewerb, Information, Sicherung der Energieversorgung (NEWISE)“ untersucht, wie ein zukünftiges Energieinformationsnetz (Smart Grid) datensparsam gestaltet werden könnte.59 54 Alexander Roßnagel / Silke Jandt / Jürgen Müller / Andreas Gutscher / Jessica Heesen, Datenschutzfragen mobiler kontextbezogener Systeme, 2006. 55 Christoph Schnabel, Datenschutz bei profilbasierten Location Based Services – Die datenschutzadäquate Gestaltung von Service-Plattformen für Mobilkommunikation, 2009. 56 Laue, Vorgangsbearbeitungssysteme (Fn. 11); Alexander Roßnagel / Philip Laue / Jan Peters (Hrsg.), Delegation von Aufgaben an IT-Assistenzsysteme – Sicherheit und Rechtsverbindlichkeit am Beispiel E-Government und E-Tourismus, 2009. 57 Alexander Roßnagel / Christoph Schnabel, Aufzeichnung und Übertragung von Lehrveranstaltungen – Datenschutz- und urheberrechtliche Grundlagen, DuD 2009, S. 411 ff.; dies., Datenschutzkonforme Nutzung von E-Learning-Verfahren an hessischen Hochschulen, 2009, http:// cms.uni-kassel.de/unicms/fileadmin/groups/w_430000/Download/Abschlussbericht_ Datenschutz_im_E-Learning.pdf. 58 http:// cms.uni-kassel.de/unicms/fileadmin/groups/w_430000/Download/E-LearningSatzung_2009.pdf. 59 Alexander Roßnagel / Silke Jandt, Datenschutzfragen eines Energieinformationsnetzes, Stuttgart 2010.
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Gegenwärtig werden datensparsame Lösungen untersucht, entworfen und prototypisch realisiert in den vom Bundesministerium für Forschung und Technologie geförderten Forschungsprojekten „Verteilte vernetzte Kamerasysteme zur in situ-Erkennung personen-induzierter Gefahrensituationen in öffentlichen Räumen (CamInSens)“ und „Verfassungs- und datenschutzrechtskonforme Gestaltung der Detektion digitaler Fingerspuren (Digi-Dak)“, in den beiden DFGProjekten „Informationelle Selbstbestimmung im Web 2.0 (Info 2.0)“60 und „RFID – eine Innovation für eine ressourcenoptimierte und datenschutzgerechte Kreislauf- und Entsorgungswirtschaft (IDEnt)“61 sowie in dem im Rahmen der Landes-Offensive zur Entwicklung wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz (LOEWE) des Landes Hessen geförderten Forschungsprojekt „Gestaltung technisch-sozialer Vernetzung in situativen ubiquitären Systemen (VENUS)“.
Die Forschungsprojekte haben gezeigt oder zeigen, dass und wie die Informationstechnik-Anwendungen so gestaltet werden können, dass das Ziel der Datenvermeidung oder Datensparsamkeit erreicht werden kann. Sie wurden und werden von Bundes- oder Landesministerien oder der DFG finanziert, so dass die Möglichkeit besteht, mehr Zeit und Ressourcen in die Suche nach geeigneten Lösungen zu investieren, als dies in industriellen und behördlichen Anwendungen sonst üblich ist. Sie werden durchgängig interdisziplinär durchgeführt, so dass Rechtswissenschaft und Informatik gemeinsam nach konstruktiven Lösungen suchen können – ein Umstand, der sich in der Realität auch eher selten einstellt. Überwiegend finden die Forschungsprojekte unter Industriebeteiligung statt. Sie müssen sich – aufgrund ihrer Finanzierung durch die öffentliche Hand – in einem vorwettbewerblichen Raum bewegen. Daher können die industriellen Projektpartner zwar von den Ideen und Anregungen profitieren, die prototypischen Lösungen aber nicht unmittelbar in den produktiven Betrieb übernehmen. Da die weiteren Entwicklungskosten oft noch hoch sind, werden die Projektlösungen nicht unmittelbar fortentwickelt und direkt umgesetzt. Vielmehr wirken sie bei den Partnern und anderen Interessierten als Bestandteil des Lösungsportfolios fort und beeinflussen spätere Technikgestaltungen, die versuchen, den datenschutzgesetzlichen Zielsetzungen der Datenvermeidung und Datensparsamkeit zu entsprechen. Unmittelbare Umsetzungen sind nur im öffentlichen Bereich (z. B. Stadt Rostock und Universität Kassel) zu beobachten. Einige Lösungsansätze haben auch in Gesetzgebungsvorhaben Eingang gefunden.
60 s. z. B. Hana Lerch / Beate Krause / Andreas Hotho / Alexander Roßnagel / Gerd Stumme, Social Bookmarking-Systeme – die unerkannten Datensammler. Ungewollte personenbezogene Datenverarbeitung?, MMR 2010, S. 454 ff. 61 s. Arnd Urban / Gerhard Halm (Hrsg.), Mit RFID zur innovativen Kreislaufwirtschaft, 2009; Alexander Roßnagel / Gerrit Hornung, Umweltschutz versus Datenschutz? Zu den Möglichkeiten eines datenschutzkonformen Einsatzes von RFID-Systemen zur Abfallerkennung, UPR 2007, S. 255 ff.
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2. Gesetzgebung Da der Grundsatz der Datenvermeidung und Datensparsamkeit aus der Vorsorge für das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung abgeleitet werden kann, ist er nicht nur als Anforderung an die verantwortlichen Stellen zu verstehen, sondern ist auch vom Gesetzgeber zu befolgen, wenn er die Datenverarbeitung in bestimmten Anwendungsfeldern regelt. Auch für die Beachtung dieser Vorgabe lassen sich vielfache positive Beispiele anführen. Das erste Beispiel betrifft Spezialregelungen im Telemediengesetz zum Umgang mit Nutzungsdaten. Nach § 15 Abs. 3 TMG darf der Diensteanbieter für Zwecke der Werbung, der Marktforschung oder zur bedarfsgerechten Gestaltung der Telemedien Nutzungsprofile erstellen, wenn er hierfür Pseudonyme verwendet und der Nutzer dem nicht widerspricht. Diese Nutzungsprofile dürfen nicht mit Daten über den Träger des Pseudonyms zusammengeführt werden.62 Führt er dennoch ein Nutzungsprofil mit Daten über den Träger des Pseudonyms zusammen, handelt er ordnungswidrig und muss nach § 16 Abs. 2 Nr. 5 TMG mit einem Bußgeld bis 50.000 Euro rechnen. Will er Nutzungsdaten zum Zweck der Marktforschung anderen Diensteanbietern übermitteln, müssen die Nutzungsdaten nach § 15 Abs. 5 Satz 3 TMG zuvor anonymisiert worden sein.63 Eine ähnliche Regelung findet sich auch in § 96 Abs. 3 TKG, um die informationelle Selbstbestimmung der Angerufenen oder Anrufenden zu schützen. Nach Satz 1 darf der Diensteanbieter teilnehmerbezogene Verkehrsdaten verwenden, um Telekommunikationsdienste zu vermarkten oder bedarfsgerecht zu gestalten oder um Dienste mit Zusatznutzen bereitzustellen, wenn der Betroffene in diese Verwendung eingewilligt hat und die Daten der Angerufenen unverzüglich anonymisiert werden. Umgekehrt ist nach Satz 3 eine zielnummernbezogene Verwendung der Verkehrsdaten durch den Diensteanbieter zu den in Satz 1 genannten Zwecken nur mit Einwilligung der Angerufenen zulässig. Hierbei sind die Daten der Anrufenden unverzüglich zu anonymisieren.64 Das Beispiel des § 40 Abs. 2 BDSG betrifft die Datenverarbeitung für Forschungszwecke. Solche Daten sind zu anonymisieren, sobald dies nach dem Forschungszweck möglich ist. Bis dahin sind die Merkmale gesondert zu speichern, mit denen Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren Person zugeordnet werden können.65 Die Infrastruktur, um Pseudonyme im rechtsgeschäftlichen Verkehr nutzen zu können, bietet das Signaturgesetz. Nach § 5 Abs. 3 SigG hat der Zertifizierungs62 s. hierzu näher Gerald Spindler / Judith Nink, in: Spindler, Gerald / Schuster, Fabian (Hrsg.), Recht der elektronischen Medien, 2008, § 15 TMG Rn. 7 f. 63 Eine vergleichbare Regelung enthält auch § 30 Abs. 1 BDSG. 64 s. hierzu näher Anna Robert, in: Geppert, Martin / Piepenbrock, Hermann-Josef / Schütz, Raimund / Schuster, Fabian (Hrsg.), TKG-Kommentar, 3. Aufl. 2006, § 96 Rn. 14 und 17. 65 s. z. B. Spiros Simitis, in: ders., BDSG (Fn. 4), § 40 Rn. 65 ff.
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diensteanbieter auf Verlangen eines Antragstellers in einem qualifizierten Zertifikat an Stelle seines Namens ein Pseudonym aufzuführen. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 SigG ist dann im qualifizierten Zertifikat statt des Namens ein dem Signaturschlüssel-Inhaber zugeordnetes unverwechselbares Pseudonym aufzuführen, das als solches kenntlich sein muss. Eine ausdrückliche Beschränkung der obligatorischen Daten für die elektronische Gesundheitskarte enthält § 291a Abs. 2 SGB V. Danach ist die Karte so zu konfigurieren, dass sie nur die Stammdaten des Versicherten, ärztlicher Verordnungen und den europaweit gültigen Berechtigungsnachweis zur Inanspruchnahme von Leistungen enthält. Weitere Daten aus sechs Kategorien dürfen nur getrennt davon und mit ausdrücklicher Einwilligung des Ausweisinhabers aufgenommen werden können.66 Erheblich weitergehende Gestaltungsentscheidungen im Sinn der Datensparsamkeit enthält das am 01. 11. 2010 in Kraft tretende Gesetz über Personalausweise und den elektronischen Identitätsnachweis.67 Der Personalsausweis enthält als automatisiert prüfbare biometrische Daten nur das Gesichtsbild. Im Gegensatz zum Pass wird auf Fingerabdrücke als obligatorischem Inhalt verzichtet, diese werden nach § 5 Abs. 9 Satz 1 PAuswG nur auf Antrag des Ausweisinhabers gespeichert. Nach § 15 Abs. 1 PAuswG dürfen die zur Identitätsfeststellung berechtigten Behörden den Ausweis grundsätzlich nicht zum automatisierten Abruf personenbezogener Daten verwenden. Wenn sie doch ausnahmsweise dazu berechtigt sind, dürfen sie nach § 15 Abs. 1 Satz 3 PAuswG über Abrufe, die zu keiner Feststellung geführt haben, keine personenbezogenen Aufzeichnungen fertigen und damit keine Bewegungsprofile erstellen. Das Gleiche gilt nach § 15 Abs. 2 PAuswG ausnahmslos auch für das automatisierte Lesen des Ausweises.68 Nach § 26 Abs. 4 PAuswG wird eine bundesweite Datenbank der biometrischen Merkmale nicht errichtet. Nach Abs. 3 Satz 1 darf eine zentrale, alle Seriennummern umfassende Speicherung nur bei dem Ausweishersteller und ausschließlich zum Nachweis des Verbleibs der Ausweise erfolgen. Auch bei der Personalauss. z. B. Hornung, Identität (Fn. 34), S. 220 ff. Zur datenschutzrechtlichen Gestaltung des Projekts elektronischer Personalausweis gab es zwei Forschungsprojekte 2003 – 2004 und 2007 – 2008, in denen Vorarbeiten durchgeführt wurden, s. Herbert Reichl / Alexander Roßnagel / Günter Müller (Hrsg.), Digitaler Personalausweis – Eine Machbarkeitsstudie, 2005; Andreas Reisen, Digitale Identität im Scheckkartenformat – Datenschutzvorkehrungen für den elektronischen Personalausweis, DuD 2008, S. 164 ff.; Alexander Roßnagel / Gerrit Hornung / Christoph Schnabel, Die Authentisierungsfunktion des elektronischen Personalausweises aus datenschutzrechtlicher Sicht, DuD 2008, S. 168 ff. 68 s. zu Architekturempfehlungen für die Verarbeitung von Biometriedaten im Zusammenhang von Ausweisen Gerrit Hornung, Fingerabdrücke statt Doktortitel: Paradigmenwechsel im Passrecht, DuD 2007, S. 181 (183 ff.); Alexander Roßnagel / Gerrit Hornung, Biometrische Daten in Ausweisen, DuD 2005, S. 69 ff. 66 67
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weisbehörde gespeicherte Fingerabdrücke sind nach Abs. 2 spätestens nach Aushändigung des Personalausweises an den Ausweisinhaber zu löschen. Die biometrischen Referenzdaten befinden sich somit nur im Ausweis und damit in der Hand des Bürgers. Soweit die Polizeivollzugsbehörden, die Zollverwaltung, die Steuerfahndungsstellen der Länder sowie die Personalausweis-, Pass- und Meldebehörden die Echtheit des Personalausweises oder die Identität des Inhabers überprüfen dürfen, sind sie nach § 17 Satz 3 PAuswG befugt, die auf dem elektronischen Speicher- und Verarbeitungsmedium des Personalausweises gespeicherten biometrischen und sonstigen Daten auszulesen, die benötigten biometrischen Daten beim Personalausweisinhaber zu erheben und die biometrischen Daten miteinander zu vergleichen. Die ausgelesenen und aktuell erhobenen biometrischen Daten sind aber nach § 17 Satz 4 PAuswG unverzüglich zu löschen, wenn die Prüfung der Echtheit des Personalausweises oder der Identität des Inhabers beendet ist. Die Nutzung des elektronischen Identitätsnachweises ist nach § 10 PAuswG generell und nach § 18 Abs. 1 PAuswG auch im Einzelfall freiwillig.69 Die Übermittlung von Daten aus dem Identitätsausweis ist auf Empfänger mit Berechtigungszertifikat und auf die in diesem genannten Datenkategorien beschränkt. Der Personalausweisinhaber kann die Übermittlung auch dieser Datenkategorien im Einzelfall ausschließen. Er kann den elektronischen Identitätsnachweis nach § 19 PAuswG jederzeit sperren lassen. Eine zentrale, alle Sperrkennwörter oder alle Sperrmerkmale umfassende Speicherung ist unzulässig. Ein Verstoß gegen diese Vorschrift ist nach § 32 Abs. 1 Nr. 6 PAuswG mit Bußgeld bedroht. Schließlich sei noch auf das als Referentenentwurf vom Juli 2010 vorliegende De-Mail-Gesetz verwiesen, das ebenfalls datensparsame Vorgaben zur Systemarchitektur enthält.70 Nach § 5 Abs. 2 De-Mail-G kann der Nutzer als natürliche Person verlangen, dass ihm eine pseudonyme De-Mail-Adresse zur Verfügung gestellt wird, die für Dritte erkennbar als solche zu kennzeichnen ist. Sofern der Nutzer De-Mail pseudonym nutzt, kann der Empfänger unter bestimmten, engen Voraussetzungen nach § 16 De-Mail-G die Aufdeckung des Pseudonyms verlangen. Nach § 5 De-Mail-G muss das De-Mail-System dem Sender ermöglichen, festzulegen, dass der Empfänger die Nachricht erst nach einer sicheren Anmeldung (z. B. mit dem Identitätsnachweis des elektronischen Personalausweises) abrufen kann, um sicher zu gehen, dass die Daten nur vom Berechtigten abgerufen werden. Umgekehrt muss das System dem Sender ermöglichen, eine sichere Anmeldung in 69 s. hierzu näher Alexander Roßnagel / Gerrit Hornung, Ein Ausweis für das Internet – Der neue Personalausweis enthält einen „elektronischen Identitätsausweis“, DÖV 2009, S. 301 ff. 70 In der Vorbereitung des Projekts „Bürgerportale“ wurde ein Forschungsprojekt zur rechtlichen Gestaltung von 2007 bis 2009 durchgeführt, s. z. B. Alexander Roßnagel / Gerrit Hornung / Michael Knopp / Daniel Wilke, De-Mail und Bürgerprotale – Eine Infrastruktur für Kommunikationssicherheit, DuD 2009, S. 728 ff.
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der Nachricht so bestätigen zu lassen, dass die Unverfälschtheit der Bestätigung jederzeit nachprüfbar ist. Dadurch haben die beiden Kommunikationspartner die jeweiligen Nachweise selbst, eine Protokollierung von Daten beim Diensteanbieter ist überflüssig und unzulässig. Nach § 6 Abs. 1 De-Mail-G kann der Nutzer im Rahmen des Identitätsbestätigungsdienstes die Identitätsdaten auswählen, mit denen er seine Identität gegenüber Dritten sicher elektronisch bestätigen lassen will und die Übermittlung überflüssiger Daten verhindern. Die genannten Beispiele haben eine erheblich höhere Wirksamkeit für die Initiierung oder Lenkung von Technikinnovationen als die technikneutralen Grundsatzregeln zur Datenvermeidung und Datensparsamkeit im Bundesdatenschutzgesetz und im Telemediengesetz. 71 Sie regeln entweder selbst technikspezifische Gestaltungsanforderungen, die durch Architekturvorgaben zur Vermeidung oder zur Verringerung von personenbezogenen Daten führen, oder sie legen Beschränkungen des Umgangs mit personenbezogenen Daten fest, die zu technischen Anpassungen zwingen. Da sie überwiegend als Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Umgang mit personenbezogenen Daten ausgestaltet sind, kann ihre Durchsetzung auf das vollständige, wenn auch bescheidene Umsetzungsinstrumentarium des Datenschutzrechts zurückgreifen. 3. Praxisbeispiele In der Praxis der Anwendungen von Informations- und Kommunikationstechniken sind viele Beispiele zu finden, die vorbildhaft für die Umsetzung des gesetzlichen Ziels der Datensparsamkeit und Datenvermeidung sind. Diese sind zum Teil aus anderen Gründen entstanden als dem Wunsch, das gesetzliche Gebot zu erfüllen, zum Teil aber explizit aus dem Gedanken geboren, Innovationen zur Vermeidung oder Reduzierung personenbezogener Daten einzuführen. Positive Beispiele sind die Vermeidung von Nutzerdaten durch anonymen Rundfunk und die voraussetzungslose Möglichkeit für alle, die ausgesendeten Inhalte zu empfangen, Internetangebote, die keine IP-Daten oder sonstige Nutzungsdaten über das technisch zur Übersendung der Inhalte notwendige Maß hinaus speichern, wie die meisten Homepages, spezifische Dienstleistungen im Internet, die ohne „Bezahlung“ mit personenbezogenen Daten angeboten werden. Für die Kategorie der Suchmaschinen zeigen dies zum Beispiel die Angebote von „ixquick“,72 die keine IP-Adressen 71 Zur Steuerungskraft technikneutraler Regelungen s. Alexander Roßnagel, Technikneutrale Regulierung: Möglichkeiten und Grenzen, in: Eifert, Martin / Hoffmann-Riem, Wolfgang (Hrsg.), Innovationsfördernde Regulierung, 2009, S. 323 ff. 72 http:// www.ixquick.com/deu/.
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speichern oder ID-Cookies einsetzen, oder „scroogle“,73 die einen Proxy für „Google“-Suchen anbieten, ohne IP-Daten an „Google“ weiterzugeben, viele Anonymisierungsdienste wie z. B. JAP74 oder TOR,75 die anonymes Surfen im WorldWideWeb ermöglichen, pseudonymes Handeln in Foren, interaktiven Spielen, Social Software,76 Partnersuchdiensten77 und Maildiensten ermöglicht das Wiedererkennen und Verketten von Handlungen ohne Identifizierung des Nutzers, stellt aber zugleich sicher, dass er für unsoziales Verhalten zur Verantwortung gezogen werden kann, die Pseudonymisierung von biometrischen Daten durch Template Protection, die verhindert, dass für biometrische Anwendungen die Merkmalsextraktionen als Referenzdaten gespeichert werden müssen,78 das Angebot dynamischer Navigationshilfen unter Verwendung anonymer Schwarminfomationen aller kommunikationsfähiger Navigationsgeräte, die an dem Dienst beteiligt sind, um für alle Teilnehmer die Routenplanung nach den aktuellen Verkehrsbedingungen dynamisch durchführen zu können, die Abrechnung von Dienstleistungen in der Telekommunikation, im Angebot von Inhalten, in der Nutzung von Rechenzeit, Software oder Datenbanken kann mit Flatrates oder Prepaid-Möglichkeiten so organisiert werden, dass die Verwendung von Nutzungsdaten zu Abrechnungszwecken überflüssig wird, Angebote des elektronischen Zahlungsverkehrs, die über Geldkarten, pseudonyme Überweisung, elektronisches Geld und andere Mechanismen anonyme Bezahlverfahren anbieten.
Diese Beispiele zeigen, dass das Gebot der Datenvermeidung und der Datensparsamkeit nicht notwendig zu funktionalen Erfordernissen der Leistungserbringung in Widerspruch stehen muss, sondern dass dessen Umsetzung oft nur eine Frage der Aufmerksamkeit, der Bereitschaft, der Kosten und letztlich der Gestaltung ist. Die Antworten auf diese Fragen sind aber grundsätzlich rechtlicher Beeinflussung zugänglich. Allerdings wird ein allgemeiner Appell in Form einer Generalklausel weniger Wirkung haben als konkrete Anreize für eine spezifische wirtschaftlich-technische Gestaltung der Anwendungssysteme.
http:// www.scroogle.org/scrapde8.html. http:// anon.inf.tu-dresden.de/. 75 http:// www.torproject.org/index.html.de. 76 s. z. B. Leif-Erik Holtz, Datenschutzkonformes Social Networking: Clique und Scramble!, DuD 2010, S. 439 ff. 77 s. z. B. Fritsch / Roßnagel / Schwenke / Stadler, Pflicht zum Angebot (Fn. 34), DuD 2005, S. 595 f. 78 s. z. B. Ulrike Korte / Johannes Merkle / Matthias Niesing, Datenschutzfreundliche Authentisierung mit Fingerabdrücken, DuD 2009, S. 289 ff.; Jeroen Breebaart / Bian Yang / Ileana Buhan-Dulman / Christoph Busch, Biometric Template Protection, DuD 2009, S. 299 ff. 73 74
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IV. Chancen der Umsetzung Allerdings liegt eine solche Gestaltung nicht im allgemeinen Entwicklungstrend. Um die Realisierungschancen des Grundsatzes der Datenvermeidung und Datensparsamkeit bewerten zu können, ist es notwendig, sich die entgegenstehenden Entwicklungstrends vor Augen zu führen und die Chancen rechtlicher Einflussnahme auf die Handlungsoptionen von Herstellern, Anwendern und Anbietern sowie Nutzern zu erörtern.
1. Ungünstige Entwicklungstendenzen Dem Ziel der Datenvermeidung und Datensparsamkeit wirken wichtige Trends in der weltweiten Entwicklung von Informations- und Kommunikationsdiensten entgegen: Die Informationsflut im Web 1.0 steigt täglich an und hat inzwischen Ausmaße erreicht, die den einzelnen Nutzer hoffnungslos überfordern. Suchmaschinen helfen hier nur bedingt, weil sie bisher nur nach Worten suchen können und daher meist so viele Treffer anführen, dass die Überforderung bestehen bleibt. Technische Unterstützungssysteme, die nach Bedeutungen suchen können, versprechen hier Abhilfe. Um die Anwendungen des „Semantic Web“ zur automatisierten Informationserfassung und -verarbeitung nach dem semantischen Inhalt einer Information nutzen zu können, benötigt das System jedoch personalisierte Informationen über Interessen und Präferenzen. Nur so kann eine auf den Nutzer bezogene Suche und Trefferanzeige erfolgen. Notwendig sind also mehr, nicht weniger personenbezogene Daten. Diese personalisierte Unterstützung der Informationssuche wird künftig auch das Vorbild für viele weitere personalisierte Dienste und Geräte sein, die sich auf die Wünsche des Nutzers einstellen und sich seinen Präferenzen anpassen.79 Noch größer werden die Informationsflut und vor allem die Präsentationen personenbezogener Daten im Web 2.0 sein. Der aktive Einbezug der Nutzer im Mitmach-Netz des Web 2.0 mit seinen Anwendungen der Film- und Bildsammlungen, Webblogs und Wikis, Podcasts und Networking-Plattformen erweitert nicht nur die Verwirklichungsbedingungen der Kommunikations-, Meinungs- und Entfaltungsfreiheit der Beteiligten, sondern erzeugt auch neuartige Gefährdungen der Persönlichkeit und der informationellen Selbstbestimmung. Diese entstehen nicht durch mächtige Institutionen (Staat, Rundfunk, Presse, Auskunfteien), sondern durch die (Mit-)Nutzer selbst. Jeder kann zum Akteur, jeder kann zum Autor werden und dadurch auch – ungebremst und ungefiltert – in Persönlichkeitsrechte anderer eingreifen.80 Trotz dieser steigenden Risiken nimmt die Zahl der personenbezogenen 79 Matthias Schwenke, Individualisierung und Datenschutz – Rechtskonformer Umgang mit personenbezogene Daten im Kontext der Individualisierung, 2006.
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Daten, die im Web 2.0 angeboten werden, explosionsartig zu. Datenvermeidung und Datensparsamkeit sind hier Begriffe aus einer anderen Welt. Ein dritter Trend, der Datenvermeidung und Datensparsamkeit zuwider läuft, ist die zunehmende Ökonomisierung personenbezogener Daten. Die fehlende Kenntnis der Kunden im Electronic Commerce führt zu einem hohen wirtschaftlichen Interesse an Daten für ein personalisiertes Marketing und Customer Relation Management. Daher werden möglichst viele Daten über aktuelle und potentielle Kunden gesammelt, um sie möglichst zielgenau ansprechen zu können. Die Kommerzialisierung personenbezogener Daten hat im Wesentlichen zwei Ausprägungen. Zum einen werden personenbezogene Daten mehr und mehr zum Handelsgut. Nicht nur Auskunfteien, Adresshändler, Call-Center und Letter-Shops leben vom Verkauf personenbezogener Daten. Der hohe ökonomische Wert personenbezogener Daten führt dazu, dass zunehmend Datenschutzregelungen ignoriert werden und illegal mit personenbezogenen Daten gehandelt wird. In den letzten zwei Jahren sind vielfach Sammlungen mit Daten von Millionen Bürgern aufgetaucht, die auf dem Schwarzmarkt verkauft worden sind. Diese „Datenschutzskandale“ gelten nur als die Spitze eines Eisbergs illegaler Handelspraktiken. Zum anderen sind personenbezogene Daten inzwischen die Währung im Internet, mit denen scheinbar kostenfrei Dienstleistungen bezahlt werden. Da diese jedoch nicht kostenlos sind, müssen sie auf andere Weise als durch Entgelte bezahlt werden. Google, das Parade-Unternehmen für kostenfreie Angebote und Dienstleistungen im Internet, erzielte – ohne die Nutzer finanziell zu belasten – im Jahr 2008 einen Umsatz von 22 Mrd. US-Dollar. 97% seines Umsatzes erzielt Google durch gezielte, personenbezogene Werbung. Dieser Umsatz ist nur möglich, weil Google alle Daten aller Nutzer in allen angebotenen Diensten auswertet und für die personenbezogene Werbung nutzt.81 Um über seine Kunden Persönlichkeitsprofile zu erstellen und zu nutzen, verarbeitet der Google-Konzern die Suchdaten in Google Search, die aufgerufenen Seiten in Google Chrome, die abgerufenen Nachrichten in Google News, die Adressen und Inhalte in Google Mail, die Eingaben in Google Blog, die Diskussionsbeiträge in Google Groups, die Ortsdaten in Google Maps, die Bilder in Google Picasa und Google StreetView, die Filme in Google YouTube, das Webverhalten in Google Analytics und vieles mehr. Google hat mit DoubleClick das weltgrößte Unternehmen für personalisierte Onlinewerbung gekauft und nutzt dessen Kompetenz für seine Geschäfte. Google verfügt über ein umfangreiches Profil von quasi jedem Netznutzer. Doch nicht nur Google – nahezu jedes Unternehmen, das seine Dienste im Internet – meist ohne Bezahlung – anbietet, verlangt dafür Daten und verdient mit diesen sein Geld. Datenvermeidung würde in diesem Umfeld das Angebot kostenfreier Dienstleistungen unmöglich machen. 80 s. die Aufsätze in Christoph Bieber / Martin Eifert / Thomas Groß / Jörn Lamla (Hrsg.), Soziale Netze in der digitalen Welt – Das Internet zwischen egalitärer Teilhabe und ökonomischer Macht, 2009. 81 Der Spiegel, 2 / 2010, S. 58 ff.
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Ein vierter Trend, der dem Grundsatz der Datenvermeidung und Datensparsamkeit entgegensteht, ist die Entwicklung zu Ubiquitous Computing. Die Erfassung des Kontextes von Orten, Dingen oder Personen durch vielfältigste Sensoren, die Lokalisierung allen Geschehens durch Ortungsgeräte und die Einordnung dieser Orts- und Kontextdaten in verschiedene „Weltmodelle“ ermöglicht, Veränderungen in der Umgebung wahrzunehmen und auf sie zu reagieren. Dadurch kann die Technik dem Nutzer quasi „mitdenkend“ kontextbezogen umfangreiche Zusatz- und Hintergrundinformationen sowie Dienstleistungen anbieten. Kontexterfassung und Lokalisierung ermöglichen aber auch jedem, seine Umgebung, seine Gegenstände, aber auch Personen optimal zu kontrollieren.82 Schließlich wird dies alles zusammengeführt zur Erfassung des alltäglichen Lebens durch allgegenwärtige Datenverarbeitung (Ubiquitous Computing). Mit ihr werden viele Hoffnungen verbunden. Weltweit wird geforscht und entwickelt, um eine Welt Wirklichkeit werden zulassen, in der viele Alltagsgegenstände mit Sensor-, Kommunikations- und Rechnertechnik ausgestattet sind, in der die Datenverarbeitung zwar allgegenwärtig, aber in den Hintergrund getreten ist.83 Der Mensch hat nicht mehr nur ein einziges für die Datenverarbeitung bestimmtes Gerät (Computer), vielmehr ist seine gesamte Umgebung mit der Kapazität zur Datenverarbeitung und zur Kommunikation ausgestattet. Die ihn umgebenden Dinge können (durch Sensoren) ihre Umgebung wahrnehmen. Jedem Ding ist eine Webseite zugeordnet, auf der diese Informationen gespeichert und abgerufen werden können. Im Internet der Dinge erhalten die Gegenstände ein „Gedächtnis“ und können ihre Informationen (Nutzungsgeschichte, Gebrauchsanweisung, Reparaturanleitung und ähnliche Informationen) dem Nutzer mitteilen. Viele konzeptionelle Untersuchungen und szenarienhafte Darstellungen beschreiben die Zielsetzung dieser Forschung und Entwicklung als eine Zukunft, in der die Informationstechnik lang gehegte Menschheitsträume – wie die Erweiterung der Sinne durch die Sensorerfassung der Umwelt, die Stärkung des Gedächtnisses durch das Erinnerungsvermögen der Dinge oder die Befreiung von (lästiger) Arbeit durch Delegation auf Technik – erfüllt.84 Für diese Welt ist Datenvermeidung ein Fremdwort.
82 s. z. B. Alexander Roßnagel (Hrsg.), Mobilität und Kontext – Zukunftsentwicklungen der mobilen Kommunikation in Recht und Technik, 2009. 83 Zu den vielfältigen technischen Entwicklungen, die dies ermöglichen s. z. B. Friedemann Mattern, Total vernetzt, Szenarien einer informatisierten Welt, 2003; Elgar Fleisch / Friedemann Mattern (Hrsg.), Das Internet der Dinge, Berlin 2005; Rand Corporation, Eine neue Zeit. Deutschland und die Informations- und Kommunikationstechnologie im Jahr 2015, 2005; Alexander Roßnagel, Datenschutz in einem informatisierten Alltag, Gutachten im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, 2007. 84 s. z. B. Mark Weiser, The Computer for the 21st Century, Scientific American 265 / 3 (1991), S. 94 ff.; Vlad Coroama u. a., Szenarien des Kollegs Leben in einer smarten Umgebung, 2003; Friedemann Mattern (Hrsg.), Die Informatisierung des Alltags, 2008; Alexander Roßnagel / Tom Sommerlatte / Udo Winand (Hrsg.), Digitale Visionen – Zur Gestaltung allgegenwärtiger Informationstechnologien, 2008.
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2. Anreize zur Datenvermeidung und Datensparsamkeit Trotz dieser wirkmächtigen Trends ist aus Sicht des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung Datenvermeidung und Datensparsamkeit die richtige und notwendige Vorsorge. Der Grundsatz der Datenvermeidung und Datensparsamkeit wird nicht von selbst erfüllt werden. Ihn umzusetzen wird bei den genannten Zukunftstrends vielmehr immer schwieriger. Es gibt aber auch vielfältige Beispiele, die eine erfolgreiche Umsetzung des Grundsatzes zeigen. Datenvermeidende Anwendungen werden genutzt und gehen oft mit anderen Zielen – etwa Kostenersparnis oder Bürokratieabbau – einher. Datenvermeidung und Datensparsamkeit sind als Vorsorgeanforderungen und Optimierungsziele nicht nach einem Wenn-Dann-Mechanismus umzusetzen und nach einem Ja-Nein-Schema zu überprüfen. Sie unterliegen außerdem dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und können nur gefordert werden, soweit sie technisch möglich und wirtschaftlich zumutbar sind. Die Beispiele in Forschungsprojekten und noch mehr die bestehenden Beispiele in der Praxis zeigen jedoch, dass beide Anforderungen erfüllbar sind.85 Durch gezielte Forschungsprojekte kann der Anwendungsbereich des Grundsatzes dadurch ausgeweitet werden, dass finanzierbare Lösungen für Datenvermeidung und Datensparsamkeit aufgezeigt werden. Soweit Recht nur den hehren Grundsatz der Datenvermeidung und Datensparsamkeit proklamiert und nicht durch effektive Durchsetzungsinstrumente unterstützt, ist er reine Beruhigungslyrik und ohne Realisierungschance. Wirkung wird das Recht nur haben, wenn es auf eine Gestaltung der Technik und auf datenvermeidende wirtschaftlich-technische Innovationen zielt. Ideen für unterstützende Innovationen können aber nur mit dem notwendigen Wissen um Gestaltungsmöglichkeiten gefunden und nur mit unmittelbarer Gestaltungsmacht umgesetzt werden. Dies erfordert eine Kooperation zwischen Recht und Entwicklern, Herstellern und Anwendern. Um diese zielgerichtet zu unterstützen, sind zwei Ansätze denkbar. Zum einen kann versucht werden, den allgemeinen Grundsatz durch Anreizinstrumente zu unterstützen. Da die Umsetzung von Datenvermeidung und Datensparsamkeit die aktive Mitwirkung der verantwortlichen Stellen und Technikhersteller erfordert, sind für sie Bedingungen herzustellen, in denen die Befolgung des Grundsatzes ihnen Vorteile bietet. Hierfür ist das Datenschutzaudit ein geeignetes, vielleicht sogar unvermeidbares Instrument. Nur mit solchen Anreizinstrumenten kann der Staat im Übergang vom „Interventionsstaat“ mit seiner Ergebnis- und Erfüllungsverantwortung zu einem Staat, der immer mehr Verantwortung auf Private verlagert, weiterhin ausreichenden Datenschutz gewährleisten. Ein Staat, der sich auf seine „Gewährleistungsverantwortung“ beschränkt und zunehmend die primäre Verantwortung für die Problemlösung im Bereich des Datenschutzes der gesellschaftlichen Eigenverantwortung überlässt, muss zumindest durch struktu85
s. auch Fritsch / Roßnagel / Schwenke / Stadler, Pflicht zum Angebot (Fn. 34), S. 593.
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rierende Rahmenregelungen für eine gemeinwohlverträgliche Wahrnehmung der Eigenverantwortung sorgen. Sofern er den verfassungsrechtlich gebotenen Schutz informationeller Selbstbestimmung nicht faktisch aufgeben will, hat er keine Alternative zu einer anspruchsvollen Regelung eines Datenschutzaudits.86 Das Datenschutzaudit sollte durch Regelungen zu einer Produktzertifizierung und zur Verwendung datenschutzgerechter Technik ergänzt werden. Zum anderen kann versucht werden, durch bereichsspezifische, vermutlich nicht technikneutrale Regelungen zur Architektur des Techniksystems, zu den angebotenen Dienstleistungen, zu den möglichen Geschäftsmodellen und zur Verwendung von Daten eine datenvermeidende oder datensparsame Gestaltung des Gesamtsystems einzufordern. Der elektronische Personalausweis und De-Mail sind hierfür positive Beispiele. Für die spezifischen Gestaltungsvorgaben sind Kooperationen mit Herstellen und verantwortlichen Stellen im Vorfeld notwendig. Auch hierfür ist der Projektentwicklungsprozess beim elektronischen Personalausweis und bei De-Mail in Form von Konzeptentwicklungsprojekten, Arbeitskreisen mit künftigen Anwendern und Feldversuchen vorbildlich. Beide Ansätze werden sich gegenseitig ergänzend erforderlich sein. Der zweite Ansatz dürfte sich bei Infrastrukturinnovationen oder bei großen Projekten, deren Gestaltung eine hohe Kooperation aller Beteiligten voraussetzt, anbieten. Der erste Ansatz dürfte sich eher für multifunktionale Anwendungen eignen, in deren Ausgestaltung der Anbieter viele funktionale Freiheiten hat.
V. Ausblick Zusammenfassend kann festgehalten werden: Die Forderung nach Datenvermeidung und Datensparsamkeit ist unverzichtbar als Vorsorgemaßnahme für den Persönlichkeitsschutz in einer Welt, in der einmal erhobene personenbezogene Daten nicht mehr gelöscht oder vergessen werden können. Sie ist jedoch sehr schwierig umzusetzen, wenn viele Trends auf eine vermehrte Nutzung personenbezogener Daten hinweisen. Chancen einer Umsetzung hat sie allenfalls dann, wenn das Recht zusätzliche Anreize für datenvermeidende oder datensparsame Innovationen setzt oder durch technikgestaltende Vorgaben den Korridor für solche Innovationen beschreibt. Der Grundsatz der Datenvermeidung und Datensparsamkeit ist eine rechtliche Innovation, die technische Innovationen zum Persönlichkeitsschutz anregen kann, wenn sie effektiv ausgestaltet ist.
86 s. Alexander Roßnagel, Datenschutzaudit – ein modernes Steuerungsinstrument, in: Hempel, Leon / Krasmann, Susanne / Bröckling, Ulrich (Hrsg.), Sichtbarkeitsregime – Überwachung, Sicherheit und Privatheit im 21. Jahrhundert, Leviathan, Sonderheft 2010, S. 263 ff.
Rechtliche Verantwortlichkeit nach Maßgabe technischer Kontrollmöglichkeiten? Das Beispiel der Verantwortlichkeit von Internet-Providern Von Gerald Spindler I.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Rechtliche Verantwortlichkeit – Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Verantwortlichkeit in den Rechtsgebieten und ihre Ausprägungen . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Verschuldensprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Beherrschung Gefahrenquellen (Gefährdungshaftung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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c) Gefahrenabwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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d) Gefahrenvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Determinanten am Beispiel der Verkehrspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Kriterienmix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Beschränkungen hinsichtlich der Beherrschbarkeit einer Gefahrenquelle . . . .
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c) Wirtschaftliche Zumutbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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d) Sozialadäquanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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e) „Cheapest cost avoide“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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f) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Derzeitiges Haftungs- und Verantwortungskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Gesetzliche Verantwortlichkeitskriterien: Kenntnis sowie grob fahrlässige Unkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Die Störerhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Konkurrierende Entwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Notice-and-Take-Down-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Three-Strikes-Model . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Reformperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Technische Standards und Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung Die rechtliche Verantwortlichkeit im Internet kann mit Fug und Recht als ein Dauerbrenner der juristischen Diskussion bezeichnet werden, seitdem das Internet größere Verbreitung gefunden hat.1 Schon damals stand im Zentrum der Diskussion die Frage, inwieweit Internetprovider überhaupt die Inhalte, die über ihre Plattformen oder Dienstleistungen verbreitet werden, kontrollieren können und damit auch – zumindest mittelbar – verantwortlich gemacht werden können. Die Frage technischer Kontrollmöglichkeiten und ihres Zusammenhangs mit rechtlicher Verantwortlichkeit ist damit im Prinzip so alt wie das Internethaftungsrecht selbst. Zwar haben zwischenzeitlich die zunächst von den nationalen Gesetzgebern, später vom europäischen Richtliniengeber vorgesehenen Haftungsprivilegierungen dafür gesorgt, dass diese fundamentale Frage zurückgedrängt wurde. Denn die grundsätzliche Entscheidung des europäischen Gesetzgebers, dass Provider auf keinen Fall verpflichtet seien, die (fremden) Inhalte und Aktivitäten auf ihren Plattformen zu überwachen, führt dazu, dass es nicht mehr darauf ankam, ob und welche technischen Mittel überhaupt zur Verfügung stehen, um Kontrollen auszuüben. Dennoch dauerte es nicht lange, bis die alte Grundsatzfrage wieder virulent wurde, da der Richtliniengeber zum einen bestimmte Phänomene explizit aus den Haftungsprivilegierungen ausgeklammert hatte, insbesondere die Haftung für Hyperlinks und für Suchmaschinen, zum anderen ein bislang vernachlässigter Bereich, nämlich die Haftung auf Unterlassung in der Zukunft in Gestalt der Störerhaftung, zunehmend vordrang (dazu unter III. 2.). Seinen vorläufigen Höhepunkt hat diese maßgeblich von der Rechtsprechung beeinflusste Entwicklung in der Vorlage des High Court of Justice an den Europäischen Gerichtshof im Rahmen eines Musterverfahrens des Markenherstellers L’Oreal gegen die Handelsplattform eBay gefunden,2 die letztlich auf die deutsche Rechtsprechung zur Störerhaftung von Plattformbetreibern zurückgeht. Damit kehrt die Diskussion wieder zu ihren Ursprüngen zurück, was letztlich aber auch zeigt, dass der Zeitpunkt gekommen ist, sich über die Grundlagen der Providerhaftung bewusst zu werden und für einen angemessenen Interessenausgleich zu sorgen. Dabei stellt sich diese Grundsatzfrage keineswegs als eine rein internetspezifische dar, sind doch zahlreiche andere Haftungsfragen mit genau demselben Problem des Verhältnisses von Innovation, der Eingehung unbekannter Risiken und deren Kontrolle konfrontiert, etwa die aufkommende Nanotechnologie.3 1 Erste Aufarbeitungen der Haftungs- und Verantwortungsproblematik bei Ulrich Sieber, Strafrechtliche Verantwortlichkeit für den Datenverkehr in internationalen Computernetzen, Teile (1) und (2), JZ 1996, S. 429 ff.; 494 ff.; Gerald Spindler, Deliktsrechtliche Haftung im Internet – nationale und internationale Rechtsprobleme, ZUM 1996, S. 533 ff. 2 Rs. C-324 / 09, ABl. C 267 v. 07. 11. 2009, S. 40 f. 3 s. dazu Gerald Spindler, Nanotechnologie und Haftungsrecht, in: Hendler, Reinhard / Marburger, Peter / Reiff, Peter / Schröder, Meinhard (Hrsg.), Nanotechnologie als Herausforderung für die Rechtsordnung, 2009, S. 125 ff.; Arno Scherzberg, Innovationsverantwortung in der Nanotechnologie, in: Eifert, Martin / Hoffmann-Riem, Wolfgang (Hrsg.), Innovations-
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Im Folgenden werden zunächst einige skizzenhafte Vorüberlegungen zu Grundprinzipien der Zuweisung von rechtlicher Verantwortlichkeit angestellt (II.), um sich sodann den spezifischen Problemen der Haftung und Verantwortlichkeit von Providern nach dem status quo zuzuwenden (III.). Der Beitrag wird beschlossen mit Reformperspektiven unter dem besonderen Aspekt der Auswirkungen auf die Innovationsverantwortung und -anreize für Provider (IV.).
II. Rechtliche Verantwortlichkeit – Vorüberlegungen Will man sich der generellen Frage nach der rechtlichen Verantwortlichkeit im Zusammenhang mit technischen Kontrollmöglichkeiten, bezogen auf Medien und das Internet im Besonderen, nähern, so liegt es gerade auch im Hinblick auf die schon in den ersten Haftungsnormen praktizierte einheitliche Geltung der Privilegierungen für alle Rechtsgebiete, z. B. in § 5 TDG a. F., auf der Hand, zunächst skizzenhaft die allgemeinen Prinzipien durchzumustern, die die Zuweisung von Verantwortlichkeiten in den jeweiligen Rechtsgebieten vorherrschen. Denn die jeweiligen Elemente der rechtsgebietsspezifischen Normen zur Bestimmung und Konkretisierung der Verantwortlichkeit können sich als Einfallstore für das Kriterium der technischen Kontrollmöglichkeit erweisen, das seinerseits im Zusammenspiel mit anderen Faktoren sowohl die Zuweisung als auch die Art der Verantwortlichkeit determinieren kann. 1. Verantwortlichkeit in den Rechtsgebieten und ihre Ausprägungen a) Verschuldensprinzip Ein Grundprinzip, das sowohl das traditionelle Zivil- als auch das Strafrecht beherrscht, stellt die Zuweisung von Haftung und Verantwortung nur bei Verschulden dar.4 Entsprechend dem Grundansatz des aufgeklärten Rationalismus muss jede Haftung und Verantwortung auf ein rationales Verhalten zurück geführt werden, da nur willentliche Handlungen – wozu auch Fahrlässigkeit gehört – in Abgrenzung zu zufälligen Schadensereignissen als Grundlage für die Zurechnung von Schäden dienen können.5 Jegliches Verschulden außerhalb vorsätzlicher Begehungsformen verantwortung, 2009, S. 185 (192 ff.); Matthias Meyer, Nanomaterialien im Produkthaftungsrecht, 2010, S. 55 ff., je m. w. N. 4 s. Johannes Hager, in: Staudinger, Julius v. (Begr.), BGB, §§ 823 – 825, 13. Bearb. 1999, Vorbem zu §§ 823 ff. Rn. 24; Hannes Unberath, in: Bamberger, Heinz Georg / Roth, Herbert (Hrsg.), BGB, Bd. 1, 2. Aufl. 2008, § 276 Rn. 1; Manfred Wolf, in: Soergel, Hans Theodor (Begr.), BGB, Bd. 2, 12. Aufl. 1990, § 276 Rn. 1; Manfred Löwisch / Georg Caspers, in: Staudinger, Julius v. (Begr.), §§ 255 – 304 (Leistungsstörungsrecht 1), Neubearb. 2009, § 276 Rn. 1. 5 Gerhard Wagner, in: Säcker, Franz Jürgen / Rixecker, Roland (Hrsg.), MüKo-BGB, Bd. 5, 5. Aufl. 2009, § 823 n. 305; Andreas Spickhoff, in: Soergel, Hans Theodor (Begr.), BGB, Bd. 12, 13. Aufl. 2005, § 823 Rn. 3; Gerald Spindler, in: Bamberger / Roth, BGB (Fn. 4), § 823 Rn. 5.
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basiert auf dem Konzept der Pflichtwidrigkeit – was wiederum auf der Ebene des objektiven Tatbestandes die Feststellung von Handlungsoptionen bedingt, in Gestalt der im Verkehr üblichen und erforderlichen Sorgfalt, § 276 Abs. 2 BGB. Bestandteil dieses Sorgfaltsmaßstabs ist aber auch die Auslotung und Nutzung technischer Kontrollmöglichkeiten, die damit ihrerseits die Zuordnung von Verantwortlichkeiten begründen und begrenzen können,6 hierauf wird im Rahmen der Determinanten für die Bestimmung der Verkehrspflichten zurückzukommen sein. b) Beherrschung Gefahrenquellen (Gefährdungshaftung) Im Gegensatz zum Verschuldensprinzip, was eine lange Tradition aufweisen kann, ist die Zurechnung von Schäden und die Begründung von Verantwortlichkeiten aufgrund der Beherrschung von Gefahrenquellen erst im Zuge der Einführung neuer Technologien vorzufinden. Die Wurzeln der verschuldensunabhängigen, allein auf eine Gefahr einer Technologie oder Aktivität abstellenden Haftungsregelung reichen zwar auch zurück bis zum Ende des 19. Jahrhundert, etwa in Gestalt des HaftpflichtG oder später dann der prominentesten Gefährdungshaftung, dem StVG. Die Gefährdungshaftung kann daher mit Fug und Recht als Pendant zur Zulassung neuer, mit unbekannten und auch nicht vollständig kontrollierbaren Risiken gesehen werden – einer Haftung aber, die charakteristisch für Gefährdunghaftungsnormen von vornherein begrenzt ist, so dass von vornherein zwar Anreize zum reduzierten Einsatz neuer Technologien bestehen, aber das Haftungsrisiko nicht zum vollständigen Einstellen der Tätigkeit führt. Technische Kontrollmöglichkeiten spielen hier keinerlei Rolle, wird doch nur auf die Betriebsgefahr oder die Gefahr eines bestimmten Zustandes oder Produktes abgestellt; die Gefährdungshaftung entfällt nicht etwa, weil ein Produkt oder eine Technologie sich als letztlich nicht völlig beherrschbar darstellt. Vielmehr ist der Zurechnungsgrund genau umgekehrt: gerade aufgrund der nicht vollständigen Beherrschbarkeit und der damit sonst entfallenden Haftung nach Verschuldensprinzipien muss ein Ausgleich dafür gefunden werden, dass sonst Geschädigte keinerlei Kompensation erhielten, obwohl die Technologie oder das Produkt insgesamt als sozial bzw. ökonomisch wertvoll qualifiziert wird. Ob allerdings angesichts des häufigen Ausschlusses von Entwicklungsrisiken oder der Festlegung von Haftungshöchstbeiträgen tatsächlich genügend Anreize geschaffen werden, dass Pflichtige innovative Technologien schaffen und einsetzen, erscheint fraglich.7
6 Zum Ganzen s. m. w. N. Anne Röthel, Zuweisung von Innovationsverantwortung durch Haftungsregeln, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Innovationsverantwortung (Fn. 3), S. 335 (337 f.), allerdings beschränkt auf das Deliktsrecht. 7 Röthel, Innovationsverantwortung (Fn. 6), S. 344 ff.
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c) Gefahrenabwehr Anderen Prinzipien folgt prima vista das Öffentliche Recht, das der Gefahrenabwehr gewidmet ist: Hier dominieren bei der Frage, wer als Störer polizeirechtlich in Anspruch genommen werden kann, zunächst nur Kriterien, die wiederum auf die Steuerung eines Handlungsgeschehens abstellen, insbesondere beim Verhaltensstörer. Die Handlungshaftung8 knüpft an das Verhalten von Personen an, die Zustandsverantwortlichkeit9 dagegen an die Inhaberschaft der tatsächlichen Gewalt über die Sache im Sinne einer Sachherrschaft und damit an die Möglichkeit, jederzeit auf die gefahrbringende Sache einzuwirken. Schon für den Zustandsstörer wird daher deutlich, dass auch die Frage der technischen Kontrollierbarkeit eine Rolle spielen kann, ob dieser überhaupt öffentlich-rechtlich in Anspruch genommen werden darf; denn nur dann kann er überhaupt auf die Sache einwirken, um deren Gefahren es geht. Fehlt dem Adressaten die Verfügungsmacht als solche, entfällt die Zustandshaftung. In einer Analogie zum allgemeinen Sicherheitsrecht ist bislang von den Content-Providern als Handlungsstörern, den Host-Providern als Zustandsstörern und den Access-Providern als Nichtstörern bzw. -verantwortlichen gesprochen worden.10 Auf jeden Fall spielt aber die technische Kontrollierbarkeit eine erhebliche Rolle bei der Frage, ob dem Adressaten einer Verfügung nichts Unmögliches abverlangt wird, ebenso im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung. d) Gefahrenvorsorge Im Bereich der Gefahrenvorsorge taucht die technische Kontrollierbarkeit ebenfalls auf, allerdings in anderer Gestalt: Betrachtet man etwa einen der klassischen Bereiche der Gefahrenvorsorge, das Immissionsschutzrecht in § 5 Abs. 2 BImSchG, wird schnell deutlich, dass die Vorsorge nach dem Stand der Technik Elemente der technischen Kontrollierbarkeit von Gefahrenquellen enthält – denn ohne solche grundsätzlich gegebene Kontrollierbarkeit sind auch keine Vorsorgemaßnahmen denkbar.11 8 s. hierzu Art. 7 bay PAG; §§ 6 bad-württ PolG; 13 ASOG (Bln); 5 BbGPolG; 5 Brem PolG; 8 Hmb SOG; 6 HSOG; 69 SOG MV; 6 NGefAG; 4 PolG NW-17 OBG NW; 4 POG RP; 4 SPolG; 4 Sächs PolG; 7 SOG LSA; 218 LVwG SH; 7 Thür PAG. 9 s. hierzu Art. 98 bay PAG, §§ 7 bad- württ PolG; 14 ASOG (Bln); 6 BbGPolG; 6 I Brem PolG; 9 Hmb SOG; 7 HSOG; 70 SOG MV; 7 NGefAG; 5 PolG NW-18 OBG NW; 5 POG RP; 5 SPolG; 5 Sächs PolG; 8 SOG LSA; 21 LVwG SH; 8 Thür PAG. 10 Norbert Wimmer, Die Verantwortlichkeit des Online-Providers nach dem neuen Multimediarecht – zugleich ein Überblick über die Entwicklung der Rechtsprechung seit dem 1. 8. 1997, ZUM 1999, S. 436 (441); eingehend Gerald Spindler / Christian Volkmann, Die öffentlich-rechtliche Störerhaftung der Access-Provider K&R 2002, S. 398 (402 ff.). 11 Zum Einfluss des Vorsorgeprinzips auf die Innovationsfreundlichkeit Christian Calliess, Das Innovationspotential des Vorsorgeprinzips unter besonderer Berücksichtigung des integrierten Umweltschutzes, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Innovationsverantwortung (Fn 3), S. 119 (131 ff.) m. w. N.
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2. Determinanten am Beispiel der Verkehrspflichten a) Kriterienmix Verkehrspflichten dienen sowohl dazu, die Haftung bei unterlassenen Handlungen zu begründen als auch die Haftung bei mittelbaren Rechtsgutsverletzungen zu beschränken. Sie setzen die Verantwortlichkeit des Pflichtigen für eine bestimmte Gefahrenquelle voraus; eine allgemeine Rechtspflicht, andere vor Schäden zu bewahren, stellt die Rechtsordnung jedoch nicht auf.12 Vom Pflichtigen wird gefordert, sein Verhalten (ohne dass es auf die Frage eines Unterlassens oder positiven Tuns ankäme) gegenüber anderen in zumutbarer Weise so zu gestalten, dass es nicht zu vermeidbaren Verletzungen von in § 823 Abs. 1 BGB beschriebenen Rechtsgütern kommt.13 Gleichwohl besteht die Frage nach handhabbaren Abwägungskriterien, um sowohl die Verantwortlichkeit für eine konkrete Gefahrenquelle zu bestimmen als auch zu einem konkreten Pflichtenmaßstab zu gelangen. Weder die vom Reichsgericht benutzte Formel der „billigen Rücksichtnahme“ auf die Interessen Betroffener14 noch die in der Rechtswissenschaft herausgearbeiteten Geltungsgründe für Verkehrspflichten15 sind aufgrund ihres hohen Abstraktionsniveaus für die Risikozuweisung und Konkretisierung hilfreich. Die Bestimmung der Verantwortlichkeit und des geforderten Umfangs der Verhaltenspflichten hat sich an mehreren, durch Interessenabwägung in ein Gleichgewicht zu bringenden Kriterien zu orientieren. Zu nennen sind die Gefahreröffnung und -beherrschung, die Beherrschbarkeit der Gefahren, einschließlich der Abwägung zu den Möglichkeiten des Selbstschutzes der Dritten sowie die Vorteilsziehung des Pflichtigen aus bestimmten Aktivitäten, die berechtigten Sicherheitserwartungen der betroffenen Verkehrskreise, die wirtschaftliche Zumutbarkeit für 12 Allg. M., vgl. nur BGH, Urteil v. 02. 02. 2006, Az. III ZR 159 / 05 – NVwZ 2006, 1084 ff.; Spindler, in: Bamberger / Roth, BGB (Fn. 5), § 823 Rn. 225; Wagner, MK-BGB (Fn. 5), § 823 Rn. 64; Johannes Hager, in: Staudinger, Julius v. (Begr), §§ 823 E-I, 824, 825 (Unerlaubte Handlungen 1 / Tlbd. 2), Neubearb. 2009, § 823 E Rn. 25; Karl Larenz / ClausWilhelm Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II / 2: Besonderer Teil, 13. Aufl. 1994, § 76 III 4a. 13 Vgl. BGHZ 65, 221 (224); BGH, Urteil v. 16. 05. 2006, Az. VI ZR 189 / 05 – NJW 2006, 2326 f.; Hans-Joachim Mertens, Verkehrspflichten und Deliktsrecht, VersR 1980, S. 397 (398 f., 401); Ernst v. Caemmerer, Wandlungen des Deliktsrechts, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I, 1968, S. 452 (478 ff.). 14 RGZ 54, 53 (58); Wagner, MK-BGB (Fn. 5), § 823 Rn. 64. 15 Genannt werden sozial-ethische Rücksichtsgebote, die die eigene Handlungsfreiheit begrenzen und sich zu einer deliktischen Verantwortlichkeit für die Sicherheit anderer verdichten können, vgl. Mertens, Verkehrspflichten (Fn. 13), S. 401 f.; mit deutlicher Kritik an ihrem theoretischen Sonderstatus Wagner, MK-BGB (Fn. 5), § 823 Rn. 233; Gert Brüggemeier, Deliktsrecht, 1986, Rn. 77; ähnlich Erich Steffen, Verkehrspflichten im Spannungsfeld von Bestandsschutz und Haftungsfreiheit, VersR 1980, S. 409 (410); Rüdiger Krause, in: Soergel, BGB (Fn. 5), § 823 Anh II Rn. 8, 12.
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den Pflichtigen, Vorhersehbarkeit der Risiken, Art und Umfang der drohenden Gefahren und der betroffenen Rechtsgüter.16 Die Verkehrspflichten finden damit aber auch ihre Begrenzung, wenn im Handlungszeitpunkt Gefahren ebenso wenig wie Steuerungstechnologien bekannt sind.17 b) Beschränkungen hinsichtlich der Beherrschbarkeit einer Gefahrenquelle Die Beherrschung einer Gefahrenquelle, aus der ein Nutzen gezogen wird,18 begründet die Verantwortlichkeit für diese Gefahrenquelle.19 Der (Zustands-)Verantwortliche muss dabei nicht identisch mit demjenigen sein, der die Gefahrenquelle geschaffen hat.20 Der Pflichtige ist dabei auch für Gefahren verantwortlich, die von Dritten – selbst vorsätzlich21 – geschaffen wurden und andauern, wenn er gegen diese Gefahren fahrlässig nichts unternimmt.22 Letzteres setzt zumindest Kenntnis bzw. fahrlässige Unkenntnis der von einem Dritten geschaffenen und noch andauernden Gefahr voraus. Die Verantwortlichkeit für eine Gefahrenquelle wird jedoch in zwei Richtungen maßgeblich begrenzt. Eine Verantwortlichkeit kommt zum einen in der Regel nur im Rahmen der von ihm freigegebenen bestimmungsgemäßen Nutzung bzw. für den bestimmungsgemäßen Nutzerkreis in Betracht.23 Dieser Regel liegt die Überlegung zu Grunde, dass sich bestimmungswidrig verhaltende Nutzer und unbefugte Nutzer nicht damit rechnen können, dass zu ihren Gunsten Sicherungsmaßnahmen getroffen werden. Beachtenswert ist, dass der Beherrscher die Nutzung der Gefahrenquelle insofern in der Hand hat, als er die Art und Weise der Nutzung sowie den Nutzerkreis durch eine konkludente oder ausdrückliche Widmung bestimmen 16 Vgl. Hans-Joachim Mertens, in: Säcker, Franz Jürgen / Rixecker, Roland (Hrsg.), MüKoBGB, Bd. 5, 3. Aufl. 1997, § 823 Rn. 24 f. m. w. N. 17 Näher Röthel, Innovationsverantwortung (Fn. 6), S. 338 f. m. w. N. 18 Vgl. BGHZ 60, 54 (55); Christian v. Bar, Verkehrspflichten, 1980, S. 122 ff. 19 BGH, Urteil v. 20. 09. 1994, Az. VI ZR 162 / 93 – NJW 1994, 3348 f.; BGH, Urteil v. 16. 01. 1990, Az. VI ZR 109 / 89 – NJW-RR 1990, 409 (410); OLG Jena, Urteil v. 22. 07. 1997, Az. 3 U 1571 / 96 (31), 3 U 1571 / 96 – VersR 1998, 903 (904), Revision nicht angenommen; BGH, Beschluss v. 24. 03. 1998, Az. VI ZR 274 / 97; Wagner, MK-BGB (Fn. 5), § 823 Rn. 292. 20 Vgl. Larenz / Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts (Fn. 12), § 76 III 3a; Hager, in: Staudinger, BGB (Fn. 12), § 823 E Rn. 16; Erich Steffen in: RGRK-BGB, Bd. II / 5, 12. Aufl. 1989, § 823 Rn. 153. 21 BGHZ 37, 165 (170); BGH, Urteil v. 12. 02. 1985, Az. VI ZR 193 / 83 – NJW 1985, 1773 (1774); BGH, Urteil v. 19. 12. 1989, Az. VI ZR 182 / 89 – NJW 1990, 1236 (1237); Larenz / Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts (Fn. 12), § 76 III 4 a. 22 BGH, Urteil v. 02. 02. 1988, Az. VI ZR 11 / 87 – NJW-RR 1988, 659 (660). 23 BGH, Urteil v. 11. 12. 1984, Az. VI ZR 292 / 82 – NJW 1985, 1078 (1079); BGH, Urteil v. 27. 01. 1987, Az. VI ZR 114 / 86 – NJW 1987, 2671 (2672); OLG Jena, Urteil v. 22. 07. 1997, Az. 3 U 1571 / 96 (31), 3 U 1571 / 96 – VersR 1998, 903 (904).
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kann. Gleichwohl entspricht es allgemeiner Auffassung, dass den Verantwortlichen im Einzelfall auch gegenüber Dritten, die die Gefahrenquelle möglicherweise bestimmungswidrig und unbefugt benutzen, Handlungspflichten zur Gefahrenabwehr treffen.24 Dies gilt insbesondere dann, wenn besonders schwerwiegende Schäden an Rechtsgütern, vor allem höheren Ranges, drohen.25 Weitergehend kann eine Verantwortlichkeit für eine Gefahrenquelle nur dann angenommen werden, wenn die tatsächliche und rechtliche Möglichkeit zur Gefahrsteuerung im konkreten Einzelfall gegeben ist.26 Wer keine Möglichkeiten zur Schadensvermeidung hat, den sollen keine entsprechenden Pflichten treffen.27 Allerdings ist dabei zu bedenken, dass es im konkreten Einzelfall eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen zur Schadensvermeidung geben kann. Wenn beispielsweise technische Möglichkeiten zur unmittelbaren Vermeidung der Gefahr nicht gegeben sind, kann nichtsdestotrotz eine entsprechende Hinweis- und Warnpflicht bestehen. Insbesondere das Produkthaftungsrecht lehrt, dass die fehlende tatsächliche Beherrschung einer möglichen Gefahrenquelle nicht zu einem Pflichtenentfall führt, sondern lediglich das Pflichtenheft ändert.28 c) Wirtschaftliche Zumutbarkeit Die konkrete Reichweite einzelner Pflichten wird nach allgemeiner Auffassung zudem durch das Kriterium der wirtschaftlichen Zumutbarkeit bestimmt.29 Der Pflichtige hat nur im Rahmen des wirtschaftlich Zumutbaren dafür zu sorgen, dass sein Verhalten keine Rechtsgüter Dritter verletzt.30 Hieraus folgt, dass nicht jede von einem Verhalten des Pflichtigen ausgehende Gefahr von diesem auch abgewehrt oder beherrscht werden muss. Dritte sind daher vor einer möglichen Verletzung von Rechts wegen nicht völlig geschützt.31 Die entscheidende Frage, welche Handlungen wirtschaftlich zumutbar sind und welche nicht, kann nur unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles beantwortet werden. Allgemeiner Lesart folgend ist eine bestimmte Hand24 BGHZ 37, 165 (170); BGH, Urteil v. 19. 12. 1989, Az. VI ZR 182 / 89 – NJW 1990, 1236 (1237). 25 Spindler, in: Bamberger / Roth, BGB (Fn. 4), § 823 Rn. 246 m. w. N. 26 BGHZ 9, 373 (383); BGHZ 14, 83 (87); v. Bar, Verkehrspflichten (Fn. 18), S. 122 ff.; Wagner, MK-BGB (Fn. 5), § 823 Rn. 237 m. w. N. aus der Rechtsprechung. 27 Wagner, MK-BGB (Fn. 5), § 823 Rn. 237. 28 Spindler, in: Bamberger / Roth, BGB (Fn. 3), S. 131 ff. 29 So ausdrücklich BGHZ 104, 323 (329). 30 BGHZ 31, 73 (74); 108, 273 (274); BGH, Urteil v. 20. 09. 1994, Az. VI ZR 162 / 93 – NJW 1994, 3348 f.; BGH, Urteil v. 03. 02. 2004, Az. VI ZR 95 / 03 – NJW 2004, 1449, (1451); s. auch BGHZ 44, 103 (106): keine Pflicht des Schulträgers, den gesamten Schulweg zu überwachen und Lehrer zu postieren. 31 BGHZ 31, 73 (74); 108, 273 (274); BGH, Urteil v. 20. 09. 1994, Az. VI ZR 162 / 93 – NJW 1994, 3348 f.
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lung wirtschaftlich dann zumutbar, wenn diese in einem wirtschaftlich angemessenen Verhältnis zu einem drohenden Schaden an einem konkreten Rechtsgut steht.32 Die in dieser Definition liegende Tautologie lässt sich anhand der sogenannten Learned-Hand-Formel zu einem weiten Teil auflösen. Nach dieser Formel, die auf einen amerikanischen Richter namens Learned Hand zurückgeht,33 ist eine Handlung wirtschaftlich dann zumutbar, wenn der wirtschaftliche Aufwand zur Verhinderung des Schadens kleiner ist als der mögliche Schaden multipliziert mit der Schadenswahrscheinlichkeit. An der zum Klassiker taugenden Streupflicht des Grundstückseigentümers wird diese mathematisch geprägte Formel handgreiflich. Dem zur Streuung Verpflichteten ist es mit dem entsprechenden wirtschaftlichen Aufwand (z. B. durch die Beauftragung eines Dienstleisters) tatsächlich möglich, rund um die Uhr zu streuen. Da aber beispielsweise in den Nachtstunden die Wahrscheinlichkeit der Benutzung eines Gehweges durch Passanten und damit die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts bei einem Passanten gering ist, besteht grundsätzlich keine Pflicht, den Gehweg auch zur Nachtzeit zu streuen.34 Trotz der handgreiflicheren Fassung der wirtschaftlichen Zumutbarkeit in der Learned-Hand-Formel, verbleiben angesichts der notwendigen Bestimmung des wahrscheinlichen Schadenseintritts und Schadensumfangs einerseits und der notwendigen Bestimmung des wirtschaftlichen Aufwandes andererseits in der Praxis große Unsicherheiten. Die Rechtsprechung lässt erkennen, dass bei der Bestimmung des wahrscheinlichen Schadens der Rang des bedrohten Rechtsgutes ebenso eine wesentliche Rolle spielt wie die Schwere eines möglichen Schadens.35 Dies ist insofern zutreffend als bei der Bestimmung des wahrscheinlichen Schadens die Schadenshöhe wesentlicher Faktor ist. Hinsichtlich der Bestimmung des wirtschaftlichen Aufwandes ist es nach Auffassung der Rechtsprechung scheinbar von Belang, ob und in welchem Umfang aus der Gefahrenquelle ein wirtschaftlicher Nutzen gezogen wird.36 Indes können sich auch bei einer völligen Unentgeltlichkeit zumutbare Verhaltenspflichten ergeben, wie beispielsweise Hinweis- und Warnpflichten.37 Hat allerdings der Dritte keine Möglichkeit, sich selbst zu schützen, so erhöht dies die Zumutbarkeit für den Pflichtigen.38 32 BGHZ 58, 149 (158); 112, 74 (75 f.); BGH, Urteil v. 19. 12. 1989, Az. VI ZR 182 / 89 NJW 1990, 1236 (1237); BGH, Urteil v. 16. 05. 2006, Az. VI ZR 189 / 05 – VersR 2006, 1083 f. 33 United States v. Carroll Towing Co., 159 F.2d 169 (2d Cir. 1947). 34 Vgl. nur BGH, Urteil v. 30. 11. 1959, Az. III ZR 177 / 58 – NJW 1960, 432 f.; BGH, Urteil v. 15. 02. 1979, Az. III ZR 172 / 77 – VersR 1979, 541 (542); BGH, Beschluss v. 11. 08. 2009, Az. VI ZR 163 / 08 – WuM 2009, 677 f. 35 Vgl. BGHZ 58, 149 (156); Wagner, MK-BGB (Fn. 5), § 823 Rn. 259; Hager, in: Staudinger, BGB (Fn. 12), § 823 E Rn. 31. 36 BGH, Urteil v. 29. 11. 1983, Az. VI ZR 137 / 82 – NJW 1984, 801 (802) (betr. Pflicht zur Errichtung von Fangzäunen beim Eishockeyspiel). 37 Spindler, in: Bamberger / Roth, BGB (Fn. 5), § 823 Rn. 240; Hager, in: Staudinger, BGB (Fn. 12), § 823 E Rn. 31. 38 BGH, Urteil v. 29. 11. 1983, Az. VI ZR 137 / 82 – NJW 1984, 801 (803).
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d) Sozialadäquanz In einer technologisch hochentwickelten Gesellschaft lässt sich in bestimmten Lebensbereichen eine Gefährdung Dritter nicht völlig verbieten.39 Dies gilt selbst dann, wenn die von der Eröffnung des Verkehrs ausgehenden Gefahren abstrakt vorhersehbar und vermeidbar sind. Zu nennen sind hier eine Reihe ganz handgreiflicher Beispiele: der Straßen-, Schienen- und Flugverkehr, der Betrieb von Industrieanlagen, die Errichtung von Werken im Hoch- und Tiefbau, der Abbau von Bodenschätzen zu Land und zu Wasser sowie die Gewinnung von Energie (z. B. Betreiben eines Atomkraftwerkes). Es käme heute kaum jemand auf den Gedanken, den Betrieb dieser „Verkehre“ aufgrund der von ihnen abstrakt ausgehenden Gefahren zu verbieten. Die Begründung hierfür liegt in dem sozialen Nutzen, den der Betrieb dieser Verkehre für die Gesellschaft mit sich bringt. Der Straßenverkehr erlaubt ein schnelles Fortkommen von A nach B, der Betrieb der Chemieanlage erlaubt die Herstellung neuartiger Materialien mit verbesserten Eigenschaften, der Betrieb eines Atomkraftwerkes liefert Energie. Der besondere soziale Nutzen eines Verkehrs ist es, der dessen abstrakte Gefährlichkeit als erlaubt bzw. als sozialadäquat erscheinen lässt. Die Rechtsordnung begegnet in derartigen Fällen dem Konflikt zwischen dem erwünschten sozialen Nutzen eines Verkehrs einerseits und der besonderen Gefährdung von Rechtsgütern durch die Eröffnung des Verkehrs andererseits in unterschiedlicher Weise.40 In der Mehrzahl der Fälle ordnet die Rechtsordnung eine Gefährdungshaftung an, die als Ausnahme vom Verschuldensprinzip eine Sonderstellung im Haftungsrecht einnimmt. Daneben sieht sie außerordentlich konkretisierte, nicht selten auch öffentlich-rechtliche Verhaltenspflichten vor (Bestimmungen des Brandschutzes, des Arbeitsschutzes, technische Vorschriften, Nebenbestimmung zum Betriebe von Anlagen [BImSchG]). Diese zielen darauf ab, die (abstrakt vorhersehbare und vermeidbare) Gefährdung durch den jeweiligen Verkehr soweit wie möglich zu minimieren, ohne dass dieser Verkehr gänzlich zum Erliegen kommt.41 Bislang ist fraglich geblieben, an welcher Stelle das Problem der Sozialadäquanz dogmatisch zu verorten ist. Denkbar ist es, einem sozialadäquaten Verhalten bereits die Pflichtwidrigkeit abzusprechen. Vorstellbar ist aber auch, eine Pflichtwidrigkeit zu bejahen, eine Rechtswidrigkeit des sozialadäquaten Verhaltens zu verneinen. e) „Cheapest cost avoider“ In der neueren Literatur wird zunehmend das Kriterium des „cheapest cost avoider“ aufgegriffen, um die Verantwortlichkeiten der Beteiligten für einen ein39 s. hierzu v. Caemmerer, Wandlungen (Fn. 13), S. 486 Erwin Deutsch, Haftungsrecht, Bd. I: Allgemeine Lehren, 1976, S. 192. 40 s. dazu BGHZ 24, 21 (25). 41 So auch BGHZ 24, 21 (26).
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getretenen Schaden zu bestimmen.42 Das von Calabresi43 entwickelte Konzept des cheapest cost avoider ist ein Produkt der ökonomischen Analyse des Rechts. Es basiert auf der wohlfahrtsökonomischen Überlegung, dass unter verschiedenen Beteiligten derjenige den eingetretenen Schaden zu tragen hat, der am effizientesten den Schaden hätte verhindern können (Kosten-Nutzen-Kalkül). Allgemeiner gesprochen soll derjenige das Risiko des Schadenseintritts tragen, der am Besten in der Lage ist, die Kosten der Gefahrenabwehr zu minimieren. Das Konzept des cheapest cost avoider weist jedoch nicht nur die Haftung einem konkreten Beteiligten zu. Ausgehend von dem der ökonomischen Analyse zugrunde liegenden Ziel, Anreizstrukturen für ein effizientes Verhalten zu setzen, bestimmt das Konzept zugleich die konkreten Handlungspflichten der Beteiligten in Hinblick auf die Vermeidung des Schadens. Das Konzept erfüllt damit eine zentrale Steuerungsfunktion: Der cheapest cost avoider soll dazu gebracht werden, sein Handeln auf die Minimierung der Schadenswahrscheinlichkeit auszurichten. Er soll Maßnahmen technischer oder sonstiger Art ergreifen, welche die Wahrscheinlichkeit des Schadens reduzieren. Die theoretische und auch praktische Anwendung des Konzeptes steht jedoch nicht nur wegen derartiger Ergebnisse in vielerlei Hinsicht in der Diskussion. Dies gründet sich zunächst darauf, dass es sich bei dem Konzept des cheapest cost avoider um ein rechtsökonomisches Modell handelt, das auf einer Reihe von Annahmen beruht. Calabresi selbst benennt als solche einen bestimmten Wissensstand der Beteiligten und eine entsprechende Umsetzung dieses Wissens. So kann nach seiner Auffassung von den Beteiligten nur derjenige cheapest cost avoider sein, wer (1) das bessere Wissen über die involvierten Gefahren und deren Abwehr hat, (2) besser in der Lage ist, dieses Wissen effizient zur Findung der günstigsten Gefahrenabwehralternative einzusetzen und (3) besser in der Lage ist, auf das Verhalten anderer Beteiligter einzuwirken, wenn dies die effizienteste Gefahrenabwehralternative ist.44 Hinzu tritt, dass das Konzept nur in den sogenannten „Entweder-Oder-Fällen“ vollends zu überzeugen vermag.45 Es handelt sich dabei um Fälle, in denen entweder der eine oder der andere Beteiligte (allein) den Schaden am effizientesten hätte vermeiden können. Aus diesem Grunde wird verschiedentlich betont, dass in den sogenannten „bilateralen Fällen“, in denen beide Beteiligten den Schaden hätten vermeiden können, das Konzept nicht singulär angewendet werden kann, sondern überdies Mitverschul42 Hans-Bernd Schäfer / Claus Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 4. Aufl. 2005, S. 121 ff., 221 ff.; Michael Adams, Ökonomische Analyse der Gefährdungsund Verschuldenshaftung, 1985, S. 21; Jochen Taupitz, Ökonomische Analyse und Haftungsrecht – Eine Zwischenbilanz, AcP 196 (1996), S. 114 (137 ff.); Gregor Thüsing, Wertende Schadensberechnung, 2001, S. 334 ff., 357 ff.; Hartmut Oetker in: Säcker, Franz Jürgen / Rixecker, Roland (Hrsg.), MüKo-BGB, Bd. 2, 5. Aufl. 2007, § 249 Rn. 12 f. 43 Guido Calabresi, The Costs of Accidents, 1970, S. 135 ff., 174 ff. 44 Guido Calabresi, Concerning Cause and the Law of Torts: An Essay for Harry Kalven, Jr., 43 U. Chi. L. Rev. (1975), S. 69 (84). 45 Stephen G. Gilles, Negligence, Strict Liability, and the Cheapest Cost-Avoider, 78 Va. L. Rev. (1992), S. 1291 (1294); Schäfer / Ott, Ökonomische Analyse (Fn. 42), S. 228.
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densregeln zur Geltung zu bringen sind.46 Schlussendlich ist zu bedenken, dass das Konzept nicht zur Geltung kommen kann, wenn das Gesetz (oder ein Vertrag) eine konkrete Risikozuweisung hinsichtlich des einen oder des anderen Beteiligten vornimmt und damit die Pflichten der Beteiligten konkret bestimmt. Dieses kann eine gesetzgeberische Entscheidung über die Verteilung von Risiken nicht konterkarieren, mag diese unter wohlfahrtsökonomischen Gesichtspunkten auch nicht überzeugen. Hat der Gesetzgeber (oder die Vertragsparteien) hingegen einen konkreten Pflichtenmaßstab nicht bestimmt, ist es Aufgabe des Gerichts, für den konkreten Fall die konkreten Handlungspflichten der Beteiligtem festzulegen. Wendet das Gericht dabei das Konzept des cheapest cost avoider an, muss eine Vielzahl von Faktoren bestimmt bzw. quantifiziert werden. Dazu rechnen vor allem das Wissen der Beteiligten in Hinblick auf die Gefahren, die Möglichkeiten zur Umsetzung des Wissens in Hinblick auf die Gefahrenabwehr, die Kosten verschiedener Gefahrenabwehrmöglichkeiten. Die praktischen Schwierigkeiten, die dies den Beteiligten und dem Gericht bereiten, sind offensichtlich. Unter Umständen muss das Gericht auch Dritte in die Abwägung einbeziehen. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen nicht ein Einzelner, sondern eine Mehrzahl von Personen einer Gefahr ausgesetzt ist. Hier ist im Rahmen der ökonomischen Betrachtung die Summe der Vermeidungskosten sämtlicher Personen anzusetzen. So wären im bekannten Wildschutzzaun-Fall des BGH47, bei dem ein Verkehrsteilnehmer durch eine Kollision mit Wild Schaden erlitt, nicht nur die Vermeidungskosten des im konkreten Fall betroffenen Verkehrsteilnehmers zu berücksichtigen gewesen, sondern die Vermeidungskosten sämtlicher die Straße benutzenden Verkehrsteilnehmer. Die Ausführungen zeigen zweierlei. Erstens hat das zunehmend beachtete Konzept des cheapest cost avoider einen auch rechtlich nicht zu vernachlässigenden wohlfahrtsökonomischen richtigen Kern. Dies gilt insbesondere für die verhaltenssteuernde Funktion. Zweitens zeigen die vielfältigen Einschränkungen des lediglich Modellcharakter habenden Konzeptes des cheapest cost avoider, dass dieses mit Vorsicht anzuwenden ist.48 f) Zwischenfazit Die genannten Kriterien stellen zum Teil auch auf die technischen Kontrollmöglichkeiten ab, allerdings keineswegs nur anhand technischer Maßgaben, sondern unter expliziter Einbeziehung ökonomischer und gesellschaftspolitischer Wertungen. Nicht jede technische Kontrollmöglichkeit führt demnach dazu, dass sie in eine Verkehrspflicht umgesetzt wird; vielmehr werden die technischen Möglich46 Steven Shavell, Economic Analysis of Accident Law, 1987, S. 18; s. auch Gilles, Negligence (Fn. 45), S. 1303. 47 BGHZ 108, 273 ff.; dazu Hein Kötz / Hans-Bernd Schäfer, Judex oeconomicus, 2003, S. 1 ff.; Taupitz, Ökonomische Analyse (Fn. 42), S. 155 ff.; Kathrin Sailer, Prävention im Haftungsrecht, 2005, S. 181 ff. 48 So auch Shavell, Economic Analysis (Fn. 46), S. 18.
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keiten durch ihre wirtschaftliche Machbarkeit und Zumutbarkeit begrenzt, aber auch durch die Sozialadäquanz. Aus Sicht eines innovationsorientierten Rechts wäre allerdings fraglich, ob damit tatsächlich die richtigen Anreize gesetzt werden: Zwar werden externe Risiken bzw. Schäden internalisiert, so dass an sich Schädiger Anreize haben, ihre Technologien fortzuentwickeln, um weitere Schäden zu vermeiden. Doch stellen die Determinanten für die Konkretisierung der Verkehrspflichten auf einen bestehenden status quo ab, setzen also eine bestimmte Kontrollmöglichkeit ab; sind die bekannten technischen Kontrollmöglichkeiten z. B. eher unterentwickelt, kann sich ein Handelnder auf diese Standards berufen und so seine Haftung ausschließen, da er das Verkehrsübliche unternommen hat. Zwar ist immer wieder die Rede davon, dass zu niedrige Verkehrsstandards nicht als das objektiv Gebotene zivilrechtlich geschuldet sind, schlechte Gewohnheiten nicht auch noch zivilrechtlich im Rahmen von Pflichtenstandards verfestigt werden. Doch ändert dies nichts daran, dass für die Feststellung, dass bessere technische Kontrollmöglichkeiten zur Verfügung stehen als derzeit marktüblich, es erforderlich ist, als „Benchmark“ die gebotenen objektiven technischen Kontrollmaßnahmen zu ermitteln – was naturgemäß kaum ohne Mitwirkung der Marktteilnehmer möglich sein wird, so dass sich der Kreis schließt. Anreizfunktionen zur Weiterentwicklung von technischen Kontrollmöglichkeiten können daher nicht allein darauf gegründet werden, dass über Verkehrspflichten und Schadenstragungen Internet-Intermediäre zur Innovation angereizt werden. Vielmehr sind hier weitere Flankierungen erforderlich, sei es über Beweislastverteilungen, sei es über weiterführende Haftungsregelungen (sofern man dies gesellschaftspolitisch für wünschenswert erachtet), sei es über hybride Standardentwicklungen unter Beteiligung von gesellschaftlichen Gruppen und des Staates, die wiederum auf die Konkretisierung von Verkehrspflichten einwirken können. Vor diesem Hintergrund gilt es das derzeitig vorherrschende Konzept der Haftung und Verantwortlichkeit von Providern zu beleuchten:
III. Derzeitiges Haftungs- und Verantwortungskonzept 1. Gesetzliche Verantwortlichkeitskriterien: Kenntnis sowie grob fahrlässige Unkenntnis Das europäische Konzept – und damit naturgemäß die deutschen Regelungen zum TMG – zeichnen sich dadurch aus, dass sie zum einen proaktive Überwachungspflichten untersagen, zum anderen eine Haftung – wenn überhaupt – an die positive Kenntnis von der rechtswidrigen Tätigkeit oder zumindest der Kenntnis von Umständen, die evident auf derartige Tätigkeiten oder Inhalte anknüpfen, Art. 14 E-Commerce-Richtlinie (ECRL) bzw. § 10 TMG. Dass damit letztlich der Provider privilegiert wird, der sich möglichst jeglicher Kenntnis enthält, liegt auf der Hand. Bei einem Haftungskriterium, das auf positive Kenntnis abstellt und kei-
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nerlei Pflichtenmaßstäbe enthält, kann nicht erwartet werden, dass Provider von sich aus neue Filtertechnologien oder Kontrollmöglichkeiten entwickeln. Damit tritt aber auch jedenfalls mittelfristig der fragwürdige Effekt ein, dass sowohl Provider mit ausgefeilten Kontrolltechnologien gleich denjenigen behandelt werden, die auf jede Technologieentwicklung verzichten. Im Gegenteil: Mangels eines Good-Samaritan-Privilegs, das um die Entwicklung neuer Kontrollmöglichkeiten bemühte Provider von der Haftung befreit, werden diejenigen Provider, die Kontrolltechnologien oder Angestellte zur Beobachtung der Plattformen einsetzen, sogar dafür sanktioniert, dass sie leichter Kenntnis von rechtswidrigen Inhalten und Aktivitäten erlangen können.
2. Die Störerhaftung Die entscheidende Rolle in der Diskussion der letzten fünf Jahre spielt indes die gerade in Deutschland besonders ausgeprägte Störerhaftung. Nachdem zunächst die Störerhaftung im Rahmen der Einführung der Haftungsprivilegierungen kaum eine Rolle zu spielen schien,49 setzte sich ab der Jahrtausendwende die Erkenntnis durch, dass aufgrund der weitgezogenen Störerhaftung auch Provider als Störer in die Pflicht genommen werden konnten, da sie im Prinzip einen kausalen Beitrag zur Rechtsverletzung durch den Dritten leisten.50 Die damit extrem weit gezogene Störerhaftung rief auch schon frühzeitig – und nicht nur durch Internetsachverhalte bedingt – Bestrebungen hervor, die Haftung einzugrenzen. Die Rechtsprechung zog im Laufe der Zeit vor allem das Konzept der zumutbaren Prüfungs- und Kontrollpflichten heran, um die Störerhaftung einzuschränken.51 Gerade für Internetsachverhalte, hier allen voran die Internetauktionsplattformen, machte die Rechtsprechung von diesem Instrument Gebrauch, um nach Kenntniserlangung des Providers von den rechtswidrigen Aktivitäten grundsätzlich eine Unterlassungshaftung des Providers anzunehmen – wobei der BGH gleichzeitig betonte, dass die Anerkennung der Störerhaftung nicht dazu führen dürfe, dass (zulässige) Geschäftsmodelle aufgegeben werden müssten.52 Obwohl mit der Störerhaftung und insbesondere der Kerntheorie53 de facto damit eine weitreichende Kontroll- und Übers. dazu Gerald Spindler, Störerhaftung im Internet, K&R 1998, S. 177 f. Vgl. hierzu Gerald Spindler / Christian Volkmann, Die zivilrechtliche Störerhaftung der Internet-Provider, WRP 2003, S. 1 (2); Spindler, Störerhaftung (Fn. 49), S. 180. 51 BGHZ 158, 236 (251) = JZ 2005, 33 (36) m. Anm. Gerald Spindler – Internet-Versteigerung I; BGHZ 172, 119 (131) = MMR 2007, 507 (510) m. Anm. Gerald Spindler – Internet-Versteigerung II; BGHZ 158, 343 (350) – Schöner Wetten; hierzu Gerald Spindler, Hyperlinks und ausländische Glücksspiele – Karlsruhe locuta causa finita?, GRUR 2004, S. 724 ff.; BGHZ 148, 13 (17) – ambiente.de; zusammenfassend jüngst Matthias Leistner, Störerhaftung und mittelbare Schutzrechtsverletzung, GRUR-Beil. 2010, S. 1 f. und Jürgen Ensthaler / Mirko Heinemann, Zur Haftung des Host-Providers, WRP 2010, S. 309 (313 ff.). 52 BGHZ 158, 236 (251). 53 Georgios Gounalakis / Lars Rhode, Persönlichkeitsschutz im Internet, 2002, Rn. 331. 49 50
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wachungspflicht der Provider eingeführt wurde, die quasi alle Inhalte auf ihren Servern in Zukunft darauf hin prüfen mussten, ob sie dem zu unterlassenden bzw. zu sperrenden Inhalt entsprechen, sah der BGH keinen Konflikt mit dem grundsätzlichen Verbot der Einführung von proaktiven Überwachungspflichten – denn hier handele es sich um spezifische, nicht um allgemeine Überwachungspflichten, die allein von dem in Art. 15 ECRL statuierten Verbot erfasst seien, weswegen er auch von einer Vorlage an den EuGH absah.54 Ob im konkreten Einzelfall dann tatsächlich eine zumutbare Prüfungspflicht verletzt worden sei, soll nach Auffassung des BGH in der Vollstreckung erörtert werden55 – entsprechende Fälle sind aber bislang offenbar noch nicht an die Vollstreckungsgerichte gelangt. Diesen Ansatz hat der BGH in verschiedenen Entscheidungen beibehalten und weiter ausgebaut, etwa hinsichtlich einer Kontrollpflicht der Betreiber elektronischer Plattformen hinsichtlich des Jugendschutzes.56 Andere Senate des BGH haben dies aufgegriffen, etwa für das Persönlichkeitsrecht, wobei ausdrücklich eine Subsidiarität der Störerhaftung der Provider abgelehnt wurde.57 Diese höchstrichterliche Rechtsprechung ist in mannigfaltiger Hinsicht von der Praxis und den Instanzgerichten aufgegriffen und auf andere Provider oder Kommunikationsformen im Internet angewandt worden, von ungesicherten WLANAnschlüssen58 oder Hyperlinks auf rechtswidrige Angebote, die in online-Presseberichten enthalten waren,59 bis hin zur Aufsichtspflicht von Eltern gegenüber ihren minderjährigen Kindern für die Verwendung von File-Sharing-Programmen60 oder von sogenannten Admin-Cs, den technischen Kontakten im Rahmen der Domainregistrierung, für rechtswidrige Aktivitäten, die unter der von ihnen verwalteten Domain stattfanden.61 Selbst für Access-Provider und Suchmaschinen wurde eine Störerhaftung diskutiert, bislang aber von der überwiegenden Rechtsprechung (zu Recht) abgelehnt.62 Obwohl sich offenbar eine einheitliche Linie abzeichnet, 54 BGHZ 158, 236 ff.; näher im Zusammenhang zur „verpassten“ Vorlagepflicht Stefan Leible / Olaf Sosnitza, Neues zur Störerhaftung von Internet-Auktionshäusern. NJW 2004, S. 3225 (3226); BGHZ 172, 119 (120). 55 BGHZ 172, 119 (136). 56 BGHZ 173, 188 ff. – Jugendgefährdende Medien bei eBay. 57 BGH, Urteil v. 27. 03. 2007, Az. VI ZR 101 / 06 – GRUR 2007, 724 ff. 58 BGH, Urteil v. 12. 05. 2010, Az. I ZR 121 / 08 – GRUR 2010, 633 ff. – WLAN / Sommer unseres Lebens; dazu Gerald Spindler, Haftung für private WLANs im Delikts- und Urheberrecht, CR 2010, S. 592 ff. 59 BGHZ 158, 343 ff. – Schöner Wetten; OLG München, Urteil v. 23. 10. 2008, Az. 29 U 5696 / 07 – CR 2009, 33 ff. 60 OLG Frankfurt a. M., Urteil v. 20. 12. 2007, Az. 11 W 58 / 07 – GRUR-RR 2008, 73 f.; LG Hamburg, Beschluss v. 21. 04. 2006, Az. 308 O 139 / 06 – CR 2007, 121 f. 61 Zunächst Haftung bejaht durch OLG Stuttgart, Beschluss v. 01. 09. 2003, Az. 2 W 27 / 03 – CR 2004, 133 ff., inzwischen von mehreren Gerichten abgelehnt, etwa OLG Köln, Urteil v. 15. 08. 2008; Az. I-6 U 51 / 08, 6 U 51 / 08 – CR 2009, 118 (119). 62 OLG Frankfurt a.M., Urteil v. 22. 01. 2008, Az. 6 W 10 / 08 – GRUR-RR 2008, 93 f.
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sind in der Rechtsprechung doch noch zahlreiche Unsicherheiten zu konstatieren, etwa wann einem Provider die manuelle Nachkontrolle in großem Umfang zugemutet werden kann oder wann – wie im Falle von Rapidsharehosting – ein Geschäftsmodell offensichtlich nur auf rechtswidrige Aktivitäten ausgerichtet ist.63 Auch wenn die Rechtsprechung auf den ersten Blick hin eine strenge Linie verfolgt, hat sie dies gerade gegenüber WLAN-Betreibern erst jüngst wieder relativiert: Demnach ist der (private) Betreiber eines WLANs nur zu solchen Sicherungsvorkehrungen verpflichtet, die einfach und verkehrsüblich für jedermann handhabbar sind.64 Eine generelle Kontrollpflicht des Anschlusses eines InternetAccount-Inhabers hat der BGH zunächst jedenfalls nicht angenommen, sondern sich auf diejenigen Pflichten beschränkt, die dem Account-Inhaber ohne Weiteres möglich sind.65 Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Darlegungs- und Beweislast: Denn die Zumutbarkeit von Prüf- und Kontrollpflichten hängt unter anderem entscheidend von den technischen Möglichkeiten ab, die generell zur Verfügung stehen, um rechtswidrige Inhalte zu kontrollieren. Hier herrscht in der deutschen Rechtsprechung keine endgültige Klarheit; die Mehrzahl der Gerichte tendiert offenbar dazu, die Frage des Nachweises der technischen Standards dem Anspruchsteller aufzubürden, so dass sich der Provider nur entlasten müsste – was die Durchsetzung entsprechender Ansprüche naturgemäß erheblich erschwert. Die Darlegungs- und Beweislast des Antragstellers wird allerdings dadurch gemildert, dass den Anspruchsgegner (den Provider) insoweit eine sekundäre Darlegungslast trifft. Dieser hat im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast Einblick in die „technischen Möglichkeiten“ und „internen Betriebsabläufe“ zu gewähren, damit der Anspruchssteller in die Lage versetzt wird, seinen Antrag entsprechend zu konkretisieren66. Das soll jedoch nicht bei sog. „offenen Systemen“ gelten, deren Funktion bekannt ist und die daher keinerlei spezielle Kenntnisse voraussetzen.67 Der Nachweis bzw. Beweis technischer Kontrollmöglichkeiten und Vorkehrungen beim Provider birgt zudem ein fundamentales Problem, das in anderer Form auch aus anderen Rechtsgebieten und Prozessen bekannt ist, etwa im Bereich der Haftung der Banken für unsichere ec-Karten68: Denn wenn dem Provider der Nachweis genügender Kontrollvorkehrungen aufgebürdet wird, ist er gezwungen, 63 OLG Köln, Urteil v. 21. 09. 2007, Az. 6 U 86 / 07 – MMR 2007, 786 ff.; OLG Hamburg, Urteil v. 02. 07. 2008; Az. 5 U 73 / 07 – MMR 2008, 823 ff. 64 BGH, Urteil v. 12. 05. 2010, Az. I ZR 121 / 08 – GRUR 2010, 633 (635); dazu Spindler (Fn. 58). 65 BGH, Urteil v. 12. 05. 2010, Az. I ZR 121 / 08 – GRUR 2010, 633 (635); dazu Spindler (Fn. 58). 66 BGH, Urteil v. 10. 04. 2008, Az. I ZR 227 / 05 – GRUR 2008, 1097 (1099). 67 OLG Hamburg, Urteil v. 14. 01. 2009, Az. 5 U 113 / 07 – MMR 2009, 631 (635) – Usenet I (Spring nicht). 68 BGHZ 160, 308 ff.; hierzu Gerald Spindler, Haftungsrisiken und Beweislast bei ec-Karten, BB 2004, S. 2766 (2768).
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seine Sicherungsmaßnahmen im Prozess – und damit tendenziell gegenüber Dritten – zu offenbaren, was die Sicherungsvorkehrungen in aller Regel erheblich entwertet. Wird ihm dieser Nachweis aufgebürdet, befindet sich der Provider damit zwischen Scylla und Charybdis, zwischen Unterliegen im Prozess und Offenbarung der Sicherungsmaßnahmen. Einen Ausweg können hier in-camera-Verfahren vergleichbar den Vorgaben bzw. Möglichkeiten der Enforcement-Richtlinie darstellen, die etwa für Patentverletzungen vorgesehen sind. Einen zusätzlichen Impetus erfährt die Diskussion um die Störerhaftung durch die Kontroversen um Sperrungen von bestimmten Webseiten durch Access-Provider: Im Rahmen des Zugangserschwerungsgesetzes, das in der letzten Legislaturperiode verabschiedet wurde, nunmehr aber aufgrund einer – verfassungsrechtlich sehr fragwürdigen – Verwaltungsvorgabe, das Gesetz „nicht anzuwenden“69, praktisch außer Kraft gesetzt wurde, stellte sich in ähnlicher Weise wie in der Störerhaftung die Frage, inwieweit Access-Provider überhaupt in der Lage sind, bestimmte Webseiten zu kontrollieren und zu sperren, ebenso wie weit die Umgehungsmöglichkeiten reichen. Ähnlich wie im Zivilrecht für Sperren der AccessProvider setzt sich aber auch hier die Einsicht durch, dass derartige Sperren auf erhebliche technische Kontrollprobleme stoßen – mithin der Ansatz, bei AccessProvidern möglichst den Zugang zu rechtswidrigen Inhalten zu unterbinden, wahrscheinlich kaum zielführend sein und stattdessen erhebliche rechtliche „Kollateralschäden“ in Gestalt der Unterbindung von zulässigen Kommunikationsbeziehungen herbeiführen dürfte. Die deutsche Rechtsprechung und ihre inzwischen ausziselierte Kasuistik spielen offensichtlich eine Art Vorreiterrolle in der Europäischen Union. Zahlreiche Gerichte in anderen Mitgliedstaaten, wie in den Niederlanden ebenso wie in Großbritannien, teilweise auch in Frankreich, haben sich von dem Vorbild des BGH leiten lassen und ihrerseits zum Teil eine Störerhaftung von Providern angenommen, mitunter aber auch gegenteilig entschieden, wie etwa im Falle des Kinderstuhlherstellers Stokke in den Niederlanden.70 Von einer einheitlichen Linie in Europa kann daher keineswegs schon gesprochen werden. Während der BGH noch keine 69 Laut Medienberichten vom 08. 02. 2010 (vgl. http:// www.spiegel.de/politik/deutschland/ 0,1518,676669,00.html) hat sich die Bundesregierung noch vor Ausfertigung durch den damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler vom ZugErschwG distanziert. In einem Schreiben vom 17. 02. 2010, das vom Internet-Aktivisten Alvar Freude in dessen Blog veröffentlicht wurde (abrufbar unter http:// blog.odem.org/2010/02/9/Erlass-ZugErschwG.pdf), wird das BKA vom BMI angewiesen, keine Zugangssperren vorzunehmen, sondern sich auf Grundlage des ZugErschwG nur für eine Löschung kinderpornographischer Seiten einzusetzen. Zuletzt bestätigte Bundesinnenminister Thomas de Maizière am 22. 06. 2010 in einer Rede über die „Grundlagen für eine gemeinsame Netzpolitik der Zukunft“ (abrufbar unter http://www. bmi.bund.de/cln_174/SharedDocs/Reden/DE/2010/06/bm_netzpolitik.html), dass eine Sperrung derartiger Seiten zunächst nicht stattfinden solle. 70 District Court of Zwolle-Lelystad (final judgment in first instance), 2007, Stokke BV vs. Marktplaats BV 14 / 03 LJN number AW6288, case number 106031 / HA ZA 05 – 211, abrufbar unter www.rechtspraak.nl.
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Notwendigkeit sah, die Frage der Störerhaftung vor den EuGH zu bringen,71 hat der High Court of Justice nunmehr in dem Fall L’Oreal gegen eBay die Vorlage an den EuGH beschlossen,72 so dass eine Harmonisierung der Störerhaftung – hoffentlich – zu erwarten ist. 3. Konkurrierende Entwürfe a) Notice-and-Take-Down-Verfahren Obwohl der DMCA neben dem deutschen TDG Pate für die ECRL stand, sucht man doch vergeblich nach einer passgenauen Rezeption eines der Kernelemente des DMCA, dem Notice-and-Take-Down-Verfahren. Bekanntlich entlässt der DMCA den Provider aus der Verantwortung im Urheberrecht, wenn er auf eine entsprechende Nachricht hin (Notice) den Inhalteanbieter informiert und den Inhalt zunächst entfernt bzw. sperrt (Take Down).73 Man kann allerdings Art. 14 ECRL in diese Richtung interpretieren, soll doch der Host-Provider nur dann verantwortlich sein, wenn er Kenntnis von der rechtswidrigen Tätigkeit bzw. Inhalt hat, ohne entsprechende Mitteilung (Notice) wird dies nicht der Fall sein. Erhält er Kenntnis davon, muss er unverzüglich den Inhalt entfernen bzw. sperren, so dass dies dem Take-Down gleichkommt. Dennoch geht die ECRL über den DMCA hinaus, indem sie auch schon grobe Fahrlässigkeit genügen lässt. Interessanterweise haben sich einige Mitgliedstaaten dafür entschieden, das Notice-and-Take-Down-Verfahren in ihren Umsetzungsgesetzen zu verankern, allen voran Finnland, das fast in identischer Weise den DMCA diesbezüglich übernommen hat. Aber auch Ungarn und Polen kennen entsprechende Verfahren. Finnland hat allerdings ebenso wie der DMCA das Notice-and-Take-Down-Verfahren auf die Bereiche des Immaterialgüterrechts beschränkt; für Persönlichkeitsrechtsverletzungen oder andere rechtswidrige Inhalte (etwa Kinderpornographie) gilt dieses Verfahren nicht. Indes ist auch fraglich, ob das NTD-Verfahren tatsächlich zur Umsetzung von Art. 14 ECRL herangezogen werden kann – zumindest für die grob fahrlässige Unkenntnis dürfte es untauglich sein, was nicht bedeutet, dass man aus rechtspolitischer Sicht nicht über die Einführung des NTD-Verfahrens nachdenken sollte. Auch sind die Erfahrungen mit dem DMCA noch nicht völlig ausgelotet: So wird von massenhaften Nachrichten an Provider berichtet, mit denen an sich auch rechtmäßiger Content entfernt wird. Ferner fehlt es – soweit ersichtlich – bislang an umfangreicheren rechtstatsächlichen Untersuchungen, aus denen abgeleitet werden könnte, ob der in Sec. 512 (i) DMCA („Conditions for Eligibility“) enthaltene AnZur möglichen Vorlagepflicht Leible / Sosnitza, Störerhaftung (Fn. 54), S. 3226. Ebay v. L’Oreal [2009] EWHC 1094 (Ch). 73 Näher in Bezug auf das amerikanische Recht Bernd Holznagel, Zur Providerhaftung – Notice and Take-Down in § 512 U.S. Copyright Act, GRUR Int. 2007, S. 971 ff. 71 72
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reiz der Haftungserleichterung für Provider, die Kontrollverfahren zur Sperrung bzw. Aufdeckung und Entfernung rechtswidriger Inhalte zu verbessern und am Stand der Technik auzusrichten, tatsächlich in der Praxis verfängt. Sec. 512 (i) DMCA bestimmt, dass die „limitations on liability established by this section shall apply to a service provider only if the service provider – (A) has adopted and reasonably implemented, and informs subscribers and account holders of the service provider’s system or network of, a policy that provides for the termination in appropriate circumstances of subscribers and account holders of the service provider’s system or network who are repeat infringers; and (B) accommodates and does not interfere with standard technical measures.“. Derartige standard technical measures sind aber offenbar bislang noch nicht in Form von Normungen etc. verfügbar.74 Gleiches gilt für das sog. Good-Samaritan-Privileg, das der Communication Decency Act (CDA) in Sec. 230(c)75 enthält, wonach Informationsdienstleister gegen Rechtsverstöße, die ein – möglicherweise anonymer – Dritter zu vertreten hat, immun gestellt werden. Der Diensteanbieter solle darüber hinaus nicht zur Verantwortung gezogen werden können, wenn er freiwillig und in gutem Glauben Maßnahmen trifft, Zugang zu rechtsverletzendem Material zu verhindern. Mit dieser Haftungsfreistellung bezweckte der US-amerikanische Gesetzgeber gleichermaßen, Hemmnisse Privater hinsichtlich der Entwicklung neuer Kontrolltechniken aus dem Weg zu räumen.76 Die Regelung wurde aber von der Rechtsprechung77 lange 74 Diese notwendigen technischen Standardmaßnahmen werden in Sec. 512 (i)(2) entwicklungsoffen definiert: „As used in this subsection, the term „standard technical measures“ means technical measures that are used by copyright owners to identify or protect copyrighted works and – (A) have been developed pursuant to a broad consensus of copyright owners and service providers in an open, fair, voluntary, multi-industry standards process; (B) are available to any person on reasonable and nondiscriminatory terms; and (C) do not impose substantial costs on service providers or substantial burdens on their systems or networks.“ 75 Sec. 230(c) CDA („Protection for „Good Samaritan“ blocking and screening of offensive material“): „(1) Treatment of publisher or speaker: No provider or user of an interactive computer service shall be treated as the publisher or speaker of any information provided by another information content provider. (2) Civil liability: No provider or user of an interactive computer service shall be held liable on account of – (A) any action voluntarily taken in good faith to restrict access to or availability of material that the provider or user considers to be obscene, lewd, lascivious, filthy, excessively violent, harassing, or otherwise objectionable, whether or not such material is constitutionally protected; or (B) any action taken to enable or make available to information content providers or others the technical means to restrict access to material described in paragraph (1).“ 76 H.R. Rep. No. 104 – 458, at 194 (1996); S. Rep. No. 104 – 230, at 194; Zeran v. America Online, Inc., 129 F.3d 327 (4th Cir. 1997). 77 Die Rechtsprechung geht zurück auf die Entscheidung des 4th Circuit Court of Appeals, Zeran v. America Online, Inc., 129 F.3d 327 (4th Cir. 1997) der Diensteanbieter weitgehend von einer Haftung freistellte. Im diesem ersten auf Grundlage von Sec. 230 CDA entschiedenen Fall wurde der Internet-Service-Provider AOL verklagt, weil er fahrlässig verleumderische Nachrichten zu spät entfernt zu und nichts gegen ein Wiederauftauchen unternommen habe. Das Gericht entschied jedoch, dass Sec. 230 CDA einer Inanspruchnahme von AOL entgegenstünde, da es auch die Inanspruchnahme für die Zugänglichmachung von rechtsver-
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Zeit so ausgelegt, dass eine Verantwortung auch bei Kenntnis von rechtsverletzenden Inhalten ausgeschlossen sei. Dies erscheint als fragwürdig, da ein Gesetzgeber, der Diensteanbieter in der Entwicklung von Kontrollmechanismen zur Ermittlung von Rechtsverletzungen unterstützt, auch die Beseitigung dieser Rechtsverletzung bezweckt haben muss.78 Indes fehlt es auch hier an breiteren empirischen Untersuchungen, wie sich die Haftungsprivilegierungen auf die Entwicklung von neuen Technologien auswirken. Allerdings legt es die von den Gerichten angenommene „Blankoimmunität“ und der Anstieg von Rechtsverletzungen im Internet79 eher nahe, dass Provider keinerlei diesbezügliche Anstrengungen unternehmen.80 Letztlich ist damit der Notice-and-Take-Down-Ansatz ähnlichen Zweifeln ausgesetzt wie das Verfahren nach der ECRL. Zudem ist nach wie vor offen, wie die Rechtsprechung mit injunctions bzw. Unterlassungsansprüchen in der Zukunft umgeht.81 b) Three-Strikes-Model In Europa haben sich inzwischen verschiedene nationale Initiativen herausgebildet, die neben den Versuchen, über Access Provider den Zugang zu kinderpornoletzendem Material ausschließe, vgl. hierzu ausführlich Sewali J. Patel, Immunizing Internet Service Providers From Third-Party Internet Defamation Claims: How Far Schould Courts Go?, 55 Vand. L. Rev. (2002), S. 647 (662 ff.); dieser Auffassung folgten noch viele weitere Entscheidungen, etwa Ben Ezra, Weinstein & Co. v. America Online, Inc., 206 F.3d 980, 984 – 85 (10th Cir. 2000) und Blumenthal v. Drudge, 992 F. Supp. 44, 51 – 52 (D.D.C. 1998); vgl. hierzu umfassend KrisAnn Norby-Jahner, „Minor“ Online Sexual Harassment and the CDA § 230 Defense: New Directions for Internet Service Provider Liability, 32 Hamline L. Rev. (2009), S. 207 (236 ff.). Neuere Gerichtsentscheidungen schließen sich allerdings der weitgehenden Haftungsfreistellung nicht mehr an; so legte der 7th District Court, Chicago Lawyers’ Comm. v. Craigslist, Inc., 519 F.3d 666, 668 (7th Cir. 2008) dar, dass dem CDA keine „Blankoimmunität“ von Internet-Service-Providern zu entnehmen sei und dies auch nicht dem gesetzgeberischen Willen entspreche; der 9th District Circuit, Fair Housing Council v. Roommates.com, L.L.C., 521 F.3d 1157, 1162 (9th Cir. 2008), entschied, dass eine Verantwortlichkeit des Diensteanbieters dann nicht ausgeschlossen sei, wenn er durch die Gestaltung seines Dienstes Rechtsverletzungen anregt oder sogar vorsieht. 78 Norby-Jahner, Sexual Harassment (Fn. 77), S. 249 ff.; David R. Sheridan, Zeran v. AOL and the Effect of Section 230 of the Communications Decency Act upon Liability for Defamation on the Internet, 61 Alb. L. Rev. (1997), S. 147 (169 f.). 79 So Norby-Jahner, Sexual Harassment (Fn. 77), S. 245 f., welche die angestrebte Selbstregulierung daher als nicht ausreichend erachtet. 80 Laut Norby-Jahner, Sexual Harassment (Fn. 77), S. 259 ff., müsse eine Reformierung der Verantwortlichkeitsregelung der Sec. 230 CDA erfolgen, die klarstellt, dass Internet-Service-Provider rechtsverletzende Inhalte bei Kenntnis entfernen müssen und näher darlegt, wann eine Haftung als Inhalteanbieter einschlägig ist. Dies könne die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen verbessern und dadurch die Internet-Service-Provider zur Implementierung und Durchsetzung von Kontrolltechniken anregen. 81 Holznagel, Providerhaftung (Fn. 73), S. 986; Alfred C. Yen, Internet Service Provider Liability for Subscriber Copyrightt Infringement, Enterprise Liability, and the First Amendment, 88 Geo. L. J. (2000), S. 1833 (1890).
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graphischen Inhalten zu unterbinden, sich wiederum auf den Immaterialgüterrechtssektor konzentrieren, unter denen vor allem der in Frankreich veröffentlichte Olivennes-Report und seine Vorschläge für eine abgestufte Reaktion gegenüber Rechtsverletzungen im Netz hervorstechen.82 Demnach sollen Rechteinhaber gegenüber dem Provider, über den der jeweilige Nutzer Rechtsverletzungen begangen hat, verlangen können, dass der Provider den Nutzer quasi abmahnt bzw. warnt, die Rechtsverletzungen fortzusetzen. Bei wiederholtem Verstoß soll der Nutzer dann von dem Provider an jeder Netzteilnahme gesperrt werden. Die Vorschläge des Olivennes-Reports wurden im sog. Loi Hadopi83 gesetzlich implementiert, das vom französischen Verfassungsrat gebilligt84 am 01. 01. 2010 in Kraft trat. Urheberrechtsverletzungen können damit, neben den im Code de la propriété intellectuelle vorgesehenen Geld- und Freiheitsstrafen, mit einer bis zu einjährigen Sperrung des Internetzugangs sanktioniert werden.85 Neben Frankreich hat nach anfänglicher Skepsis nun auch Großbritannien ein ähnliches Verfahren gesetzlich implementiert.86 So reizvoll dieser Vorschlag auf den ersten Blick erscheint, offenbart er doch bei genauerem Hinsehen erhebliche Tücken: Er setzt zunächst voraus, dass der Nutzer ohne weiteres identifiziert werden kann, was sich technisch durch verschiedene Maßnahmen, insbesondere dem Einsatz von Proxy-Servern umgehen lässt. Viel schwerer – und vor allem mit verfassungsrechtlichem Gewicht aufgrund der Eingriffe in die Kommunikationsgrundrechte – wiegt aber der Einwand, dass 82 Abrufbar in französischer Sprache unter http:// www.culture.gouv.fr/culture/actualites/ index-olivennes231107.htm (zuletzt abgerufen am 16. 07. 2010); vgl. hierzu Kerstin Bäcker, Starkes Recht und schwache Durchsetzung, ZUM 2008, S. 391 (395 f.); Karl-Heinz Ladeur, Die gemeinsame Clearing-Stelle von Rechteinhabern und Providern, K&R 2008, S. 650 (652). 83 Loi n° 2009 -669 du 12 juin 2009 favorisant la diffusion et la protection de la création sur internet, abrufbar unter http:// legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=JORFTEXT 000020735432. 84 Entscheidung Nr. 2009-590 DC vom 22. 10. 2009, abrufbar unter http:// www.conseilconstitutionnel.fr/conseil-constitutionnel/root/bank/download/2009-590DC-de2009_590dc.pdf. 85 Article L. 335-7: „Lorsque l’infraction est commise au moyen d’un service de communication au public en ligne, les personnes coupables des infractions prévues aux articles L. 335-2, L. 335-3 et L. 335-4 peuvent en outre être condamnées à la peine complémentaire de suspension de l’accès à un service de communication au public en ligne pour une durée maximale d’un an, assortie de l’interdiction de souscrire pendant la même période un autre contrat portant sur un service de même nature auprès de tout opérateur.“ 86 Zwar wurden Netzsperren noch im Juni 2009 abgelehnt, vgl. http:// www.heise.de/ct/ meldung/Britische-Regierung-erwaegt-technische-Massnahmen-gegen-illegales-Filesharing220817.html (zuletzt abgerufen am 16. 07. 2010), jedoch wurde im April 2010 der Digital Millenium Act verabschiedet, der unter anderem die Einführung eines Systems der abgestuften Erwiderung auf Copyright-Verstöße vorsieht (zur Möglichkeit von Zugangssperren vgl. Section 10 und 11), http:// www.statutelaw.gov.uk/content.aspx?activeTextDocId=3699621 (zuletzt abgerufen am 16. 07. 2010). Britische Provider haben gegen das neue Gesetz Klage eingereicht und kritisieren die Beeinträchtigung von Bürgerrechten und geschäftsschädigende Auswirkungen des Gesetzes, http:// www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,706209,00. html (zuletzt abgerufen am 16. 07. 2010).
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eine völlige Entkoppelung des Nutzers einer Art digitalem Gefängnis gleich käme, indem der Nutzer von jeglicher, damit auch von rechtmäßiger Kommunikation (E-Mail, News, Online-Banking etc.) abgeschnitten wäre. Als Nutzer von Inhalten gewährt ihm die Informationsfreiheit in Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 GG das Recht, „sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“. Die Sperrung des Internetzugangs stellt ein Hindernis an der Unterrichtung aus einer solchen allgemein zugänglichen, also an einen individuell nicht bestimmbaren Personenkreis gerichteten Quelle dar und ist damit ein Grundrechtseingriff.87 Als Inhalteanbieter ist der Nutzer in seiner Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 GG88 und auch in seinem Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt, wenn er durch die Zugangssperre in seiner wirtschaftlichen Tätigkeit betroffen wird. Auch hinsichtlich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG bestehen Bedenken, da die gemeldeten Verstöße in irgendeiner Weise überwacht und gespeichert werden müssten, was zu der Frage führt, wie eine Liste mit den gemeldeten Rechtsverletzungen geführt und ob diese etwa bei einem Providerwechsel weitergegeben wird. Aus deutscher verfassungsrechtlicher Sicht wäre eine solche Abkoppelung vom Netz nur mit einem Richtervorbehalt möglich und stünde unter dem Verdikt der Verhältnismäßigkeit, jedoch erscheint es zweifelhaft, dass eine Three-Strikes-Regelung den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit genügen kann.89 Auf europäischer Ebene wurde im Rahmen der Reformierung des TelekomPaketes ein Zusatz diskutiert, bei dem es lange Zeit umstritten war, ob die endgültige Formulierung nationale Three-Strikes-Regelung erlauben würde. Während der ursprüngliche Entwurf noch einen Richtervorbehalt enthielt,90 findet sich in der letzten Fassung lediglich die Formulierung, dass bei „Maßnahmen betreffend den Zugang zu oder die Nutzung von Diensten [ein] vorheriges, faires und unpar87 So auch Andreas Neumann, Ordnungsrechtliche Sperrungsverfügungen und die Informationsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 2. Alt. GG, abrufbar unter http:// www.artikel5.de/ artikel/sperrunginffreiheit.html (zuletzt abgerufen am 16. 07. 2010). 88 Ergänzend ist schließlich auf den hier nicht zu vertiefenden Streit hinzuweisen, ob nicht schon jede Meinungsäußerung im Internet der Pressefreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG unterfällt, Thomas Stadler, Haftung für Informationen im Internet, 2. Aufl. 2005, Rn. 120; dagegen etwa Herbert Bethge, in: Sachs, Michael (Hrsg.), GG, 5. Aufl. 2009, Art. 5 Rn. 73a, 88; wohl auch Christoph Kannengießer, in: Schmidt-Bleibtreu, Bruno / Hofmann, Hans / Hopfauf, Axel (Hrsg.), GG, 11. Aufl. 2008, Art. 5 Rn. 12, bezieht sich hier jedoch ausdrücklich nur auf Online-Publikationen. 89 So auch Udo Fink, Internet-Zugangssperren: Wäre „Three-Strikes“ in Deutschland verfassungsgemäß?, http:// carta.info/13113 / (zuletzt abgerufen am 16. 07. 2010), der dies, aufgrund des dem Three-Strikes Ansatz wesensimmanenten Verzichts auf eine einzelfallorientierte Gesamtabwägung, bezweifelt. 90 Version vom 24. 09. 2008 des sog. „Amendment 138“: „keinesfalls ohne vorherige Entscheidung der Justizbehörden“, abrufbar unter http:// www.europarl.europa.eu/sides/getDoc. do?pubRef=–//EP//TEXT+TA+P6-TA-2008-0449+0+DOC+XML+V0//DE (zuletzt abgerufen am 16. 07. 2010).
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teiisches Verfahren“ notwendig sei.91 Damit sind nationale Maßnahmen zur Regelung von Zugangssperren europarechtlich zulässig, allerdings hat die EU-Kommission selbst den Vorschlag bislang noch nicht aufgenommen, um die ECRL entsprechend zu reformieren und so auf europäischer Ebene ein obligatorisches Three-Strikes-System oder ein System „abgestufter Maßnahmen“ einzuführen.92 Schließlich fragt sich allgemein, warum ausgerechnet die Immaterialgüterrechtsverletzungen eine hervorgehobene Stellung genießen sollen, während die Rechtslage etwa bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen oder anderen Rechtsbrüchen beim Status quo verharren. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ergeben sich hier etliche Probleme der Gleichbehandlung und des Rangs von grundrechtlich geschützten Rechtsgütern. IV. Reformperspektiven Dieser hier nur kurz und grob skizzierte Stand der Rechtsprechung in Europa zur Haftung der Provider zeigt, dass das alte vom Gesetzgeber in den neunziger Jahren formulierte Haftungsprivileg inzwischen erheblich ins Wanken gekommen ist – und die alten Grundsatzfragen aufs Neue aufleben lässt: Eine Reform des Haftungsrechts der Provider muss bei ihren Funktionen und Aufgaben im Rahmen der Internetkommunikation, den technischen Möglichkeiten, den Anreizen zu deren Verbesserung sowie der Möglichkeit der Betroffenen, sich selbst zu schützen und gegen Verletzer vorzugehen ansetzen. Haftungs- und Verantwortlichkeitszuweisungen dürfen sich hier weder innovationsschädlich auswirken in dem Sinne, dass die Entwicklung von neuen Technologien zu einer verschärften Haftung führt, noch Dritte belastend, indem alle entstehenden Schäden und Rechtsverletzungen trotz technologischer Möglichkeiten allein beim Dritten „belassen“ werden mangels einer Verfolgbarkeit der eigentlichen Täter bzw. Urheber der schädigenden Handlungen. Alle Faktoren stehen in einem komplexen Verhältnis zueinander. Weder der extreme Pol der völligen Freistellung von jeglicher Verantwortlichkeit, der selbst die aktive Förderung fremder Rechtsbrüche freistellen würde, kann hier ein Ausgangspunkt für die Überlegungen sein, noch das entgegengesetzte Ende der Skala, die Pflicht zur völligen Überwachung der eigenen Server, und sei es auch ummantelt mit der Beschränkung auf „spezifische“ Überwachungspflichten.
91 Dies wurde als Punkt 3a in Art. 1 der Richtlinie 2002 / 21 / EG (Rahmenrichtlinie) eingefügt, http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2009:337:0037:01:DE: HTML (zuletzt abgerufen am 16. 07. 2010). 92 Dies bekräftigte zuletzt Luc Devigne, der für die EU-Kommission die Verhandlungen zum geplanten internationalen Anti-Piraterie-Abkommen ACTA führt, um Gerüchten zu widersprechen, wonach die EU im Zuge des ACTA-Prozesses die Einführung einer europaweiten Three-Strikes-Regelung vorbereite, http:// trade.ec.europa.eu/doclib/press/index.cfm? id=517 (zuletzt abgerufen am 16. 07. 2010).
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1. Subsidiarität Ein erster Ansatzpunkt könnte der im französischen Presse- (und damit auch Internet-)recht praktizierte Grundsatz der Subsidiarität sein, auch hinsichtlich der Störerhaftung.93 Hinsichtlich der Präventionsanreize wäre es – auch ohne tiefgründige ökonomische Analyse – unmittelbar einsichtig, dass der Verletzte sich nicht von vornherein an alle Beteiligte halten können soll, die an der „Vertriebs“-Kette des Verletzers beteiligt sind – zwar entspricht dies einer alten Tradition in der deutschen Störerhaftung, doch belegt gerade die Kette an Entscheidungen, die versuchen, diese Haftung wieder zu begrenzen, dass letztlich nur die unmittelbar in einen Rechtskreis des Verletzers einbezogenen „Gehilfen“ zur Verantwortung gezogen werden sollen.94 Eine generelle neue Ausrichtung (und Reduzierung) der früher weit gezogenen Störerhaftung unter Ausdifferenzierung der verschiedenen Fallgruppen, ob „klassisch“ oder internetbezogen, wäre dementsprechend wünschenswert und wird sich wohl langfristig etablieren. Wenn allerdings der Geschädigte auf den unmittelbaren Verletzer verwiesen werden soll, bedingt dies, dass die Rechtsdurchsetzung ihm gegenüber Erfolg verspricht. Erforderlich ist dann aber, dass die Identität des Verletzers zweifelsfrei festgestellt werden kann, dass zudem eine Vollstreckung überhaupt möglich ist – erfolgversprechend muss sie nicht sein, da auch sonst der Geschädigte das allgemeine Vollstreckungsrisiko trägt. Die Identitätsfeststellung hängt ihrerseits davon ab, ob den Betroffenen ein Anspruch auf Bekanntgabe der entsprechenden Daten gegenüber den Providern zusteht. Nach Umsetzung der Enforcement-Richtlinie durch § 101a UrhG ist jedoch mit dem geschaffenen Auskunftsanspruch der erste Schritt unternommen worden, um den Betroffenen entsprechende Hilfsmittel gegenüber Providern in die Hand zu geben; das Problem liegt indes darin, dass Auskunftsbegehren ins Blaue hinein umgekehrt auf hochrangige verfassungsrechtlich geschützte Rechtspositionen der (vermeintlichen) Verletzer treffen, nämlich deren Recht auf Wahrung der Anonymität und der informationellen Selbstbestimmung. Deshalb ist es nur konsequent, dass wie im deutschen Umsetzungsgesetz zur Enforcement-Richtlinie der Auskunftsanspruch gegenüber einem Access-Provider unter einen Richtervorbehalt gestellt wird. Weitergehende Vorstellungen, etwa nach dem französischen Vorbild bzw. dem Three-Strikes-Modell, würden unter Umständen reinen Verdachtsausforschungen Tür und Tor öffnen und eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung der Kommunikationsgrundfreiheiten der Internetteilnehmer implizieren. Sofern daher unter Richtervorbehalt dem Betroffenen die Identitätsdaten des Verletzers zur Verfügung gestellt werden können, spricht vieles dafür, einen Grundsatz der Subsidiarität der Haftung des Providers (auch zur Unterlassung) zu verankern – erst wenn (erfolglos) versucht worden ist, den eigentlichen Rechtsverletzer in Anspruch 93 TGI Paris, 13 / 06 / 2005, SA Tiscali, 13 / 06 / 2005, Telecom Italia, AFA, France Telecom et autres c. / UEJF; No. RG : 05 / 15722. 94 Darauf zielt dagegen der Versuch von Helmut Köhler, Täter und Störer im Wettbewerbsund Markenrecht, GRUR 2008, S. 1 (2), ab.
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zu nehmen, sollte der Provider in die Pflicht genommen werden können. Schon allein mit einer solchen Subsidiarität dürfte ein erheblicher Teil der Verfahren von vornherein auf die eigentlichen Verletzer verlagert werden. Erst wenn ein Verfahren gegen einen Rechtsverletzer keinen Erfolg verspricht, etwa weil er im (nicht kooperierenden) Ausland sitzt, kommt die Verantwortlichkeit der Provider in Betracht, um den weiteren Zugang zu den rechtswidrigen Aktivitäten zu unterbinden. Ein vollständiges Notice-and-Take-Down-Verfahren würde zwar noch einen Schritt weiter gehen und alle Rechtsstreitigkeiten in das Verhältnis von Verletzer und Betroffenen verlagern; doch hat sich in der US-amerikanischen Praxis gezeigt, dass dies unter Umständen zu massenhaft verschickten Notices führt, die auch zur Blockade von bestimmten Inhalteanbietern dienen sollen. Die Gefahren etwa für die Meinungsfreiheit, aber auch für gewerbliche Angebote liegen auf der Hand. Unter dem Gesichtspunkt der Förderung von technologischen Neuentwicklungen, um die Kontrolle von rechtswidrigen Inhalten oder Aktivitäten zu verbessern, führen naturgemäß derartige vollständige Verlagerungen auf den Urheber der rechtsverletzenden Aktivität nicht zu entsprechenden Anreizen; denn wie schon im Notice-and-Take-Down-Verfahren genügt es dem Provider, den Geschädigten auf die Inanspruchnahme des Täters zu verweisen, allenfalls die Nachricht vom System „herunterzunehmen“.
2. Technische Standards und Verantwortlichkeit Das Kardinalproblem besteht letztlich darin, dass entsprechende Kontroll- und Prüfungspflichten von technischen Standards abhängen, die zum einen selbst von den Providern mit entwickelt werden müssten, zum anderen des Nachweises und des „Benchmarks“ für die technischen Standards bedürfen. Zudem führen solche Kontroll- und Prüfungspflichten zum Marktaustritt von kleinen Providern bzw. Diensteanbietern, die sich derartige Kontrollverfahren nicht leisten können. Dieser Effekt muss allerdings letztlich hingenommen werden, da (fast) jede Verbesserung der Sicherheit dazu führt, dass kleine oder ertrags- bzw. kapitalschwache Anbieter den Markt verlassen. Dass mit der Frage der technischen Standards unmittelbar die Frage der Auswirkungen auf Innovationen angesprochen ist, liegt auf der Hand. Denn in Abhängigkeit der rechtlichen Verantwortlichkeitszuweisungen werden Anreize gesetzt oder auch blockiert, um neue Technologien zu schaffen. Wenn in einem tragbaren Ausmaß Anreize für Provider geschaffen werden können, selbst zur Entwicklung von Technologien beizutragen, die rechtswidrige Tätigkeiten verhindern, wäre dies aller Wahrscheinlichkeit nach eine effizientere Lösung, als wenn Technologien von staatlicher Seite aus zur Verfügung gestellt würden, da die Provider diejenigen sind, die am ehesten die Technologie beherrschen können. Allerdings dürfen diese Anreize nicht derart ausfallen, dass sozial gewünschte (mit positiven Externalitäten
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einhergehende) Aktivitäten eingestellt werden, etwa die Verbindung zu elektronischen Kommunikationsnetzen. Eine derartige Maßnahme zur Setzung von Anreizen könnte das Good-Samaritan-Privilege des CDA und auch im gewissen Maße des DMCA sein, wonach Provider, die solche Technologien entwickeln, sich auf das Haftungsprivileg berufen können – allerdings müssten diese Privilegien noch wesentlich schärfer formuliert und ausgeformt werden, da sie bislang auch Provider noch in den Genuss der Privilegierungen kommen lassen, die keine expliziten Forschungsanstrengungen unternehmen. Die derzeitige Haftungsprivilegierung jedenfalls prämiert denjenigen, der möglichst die Hände in den Schoß legt und sich auch jeder Einsicht in die Vorgänge auf seinen Servern verschließt. Im Grundsatz sind daher die von der Rechtsprechung entwickelten Prüf- und Kontrollpflichten durchaus geeignet, den Providern entsprechende Anreize zu setzen – wobei sie aufgrund des Rückbezugs zu allgemein verfügbaren Technologien nicht dazu führen, dass über die allgemeinen Regeln der Technik hinaus zukunftsweisende Techniken entwickelt würden; der Effekt liegt vielmehr in einer Art rechtlich abgesicherten Verbreitung des Vorhandenen, des „state of the art“. Das derzeitige Konzept von Prüf- und Kontrollpflichten sieht gerade keinen Bezug zu einem „Stand der Technik“, wie er etwa im Bereich des Anlagensicherheitsrechts oder bei einer Art Innovationserforschungspflicht auf der Grundlage der Produktbeoachtungspflichten 95 gebraucht wird, vor. Derartige Weiterungen könnten auch nicht durch eine Umkehr der Beweislast zu Lasten der Provider erreicht werden, da stets offen bliebe, was als Stand der Technik im Sinne der neuesten, aber praktisch anwendbaren Verfahren zu gelten hätte – die grundsätzliche Informationsasymmetrie bliebe auch hier zu Lasten der Geschädigten bestehen. Will man daher Anreize für Provider setzen, einen Stand der Technik einzuhalten, ist eine staatliche Impulsgebung durch Beteiligung an technologiesetzenden Gremien oder Institutionen unausweichlich – trotz der beschriebenen Defizite, was die effiziente Technologieentwicklung betrifft. Zwar sind Marktmechanismen grundsätzlich überlegen, um Technologieschübe und Innovation zu fördern, ordnungsrechtliche Regeln für den Stand der Technik dagegen nur bedingt geeignet;96 doch gilt dies nur solange Märkte überhaupt dazu führen können, dass Kosten internalisiert werden, also nicht, solange externe Effekte und damit Marktversagen entsteht. Daher ist häufig ein Instrumentenmix erforderlich.97 Auch eine Art Produktbeobachtungspflicht für Provider, sich stets an den neuesten Technologien zu orientieren, wird im spezifischen Bereich der Internet-Verantwortlichkeit mit dem Problem konfrontiert, dass die einschlägigen Technologien weitgehend als Sicherungsmechanismen geheim gehalten werden, so dass es an Orientierungspunkten für Prüf- und Kontrollpflichten der (anderen) Provider fehlt. s. dazu Röthel, Innovationsverantwortung (Fn. 6), S. 354 f. m. w. N. Dazu Erik Gawel, Technologieförderung durch „Stand der Technik“: Bilanz und Perspektiven, in: Eifert, Martin / Hoffmann-Riem, Wolfgang (Hrsg.), Innovationsfördernde Regulierung, 2009, S. 197 ff. m. w. N. 97 Martin Eifert, Innovationsfördernde Regulierung, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Innovationsfördernde Regulierung (Fn. 96), S. 11 (18 f.). 95 96
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Eine solche staatliche Beteiligung kann aber auch dazu führen, dass indirekt Nachteile durch eine kasuistische Fortentwicklung der Rechtsprechung weitgehend kompensiert werden können. Denn es ist nicht zu verkennen, dass infolge der immer weiter ausgreifenden Rechtsprechung zur Störerhaftung eine erhebliche Rechtsunsicherheit darüber herrscht, welche technischen Standards einzuhalten sind, um den zumutbaren Kontroll- und Prüfpflichten zu genügen. Zwar beschränken sich die Verfahren bislang weitgehend auf rechtliche Erwägungen, insbesondere der Frage der Zumutbarkeit, was jüngst an dem dargelegten WLAN-Urteil des BGH deutlich wird; doch werden die Gerichte ab einer bestimmten Schwelle umfangreiche Beweisaufnahmen durchführen und bestimmte Technologien als „state of the art“ anerkennen müssen, wenn der Weg der Prüf- und Kontrollpflichten konsequent weiter beschritten wird. Bedenkt man, dass solche Verfahren nur für den Einzelfall gelten – etwa für ungesicherte WLANs – und eine endgültige Klärung mehrere Jahre benötigen kann, sich in dieser Zeit womöglich die verfügbaren Technologien wiederum weiter entwickeln könnten, wird deutlich, dass auf diesem Wege des kasuistischen Herantastens kaum Lösungen für die Verantwortlichkeit und die Ausprägung des Pflichtenprogramms der Provider gefunden werden können. Eine mögliche Antwort, die die staatliche Impulsgebung vereint mit einer gewissen Rechtssicherheit, wäre die Einführung von Standardisierungskommittees, die zwar unter Umständen auch nicht mit dem rasanten Fortschritt in der IT-Branche stets Schritt halten könnte, die aber eher in der Lage wäre, über Vermutungsregeln eine Rechtssicherheit zu schaffen. Entwickelt sich der Stand der Technik über die entsprechenden Normungen hinaus, könnte dies von einem Kläger in einem Prozess stets vorgebracht und unter Beweis gestellt werden; dennoch würden sich Provider zunächst „auf der sicheren Seite“ fühlen können, wenn sie die entsprechenden Normungen einhielten. Zudem erlaubt eine solche Vorgehensweise von vornherein eine Abstufung nach den verschiedenen Fallgestaltungen, etwa Access-Providern, für die kaum sinnvolle Kontroll- bzw. Sperrverfahren möglich sind, oder Host-Providern bis hin zu kleinen Netzbetreibern, etwa WLANs. Andere, flankierende Lösungen werden damit nicht ausgeschlossen: So kann es durchaus sinnvoll sein, im Sinne einer Pigou-Steuer eine Steuer bzw. Abgabe auf Internet-Anschlüsse einzuführen, die ähnlich wie derzeitige Geräteabgabe im Urheberrecht in Verbindung mit der Schranke der Privatkopie in § 53 Abs. 1 UrhG alle Tätigkeiten über solche Anschlüsse legitimieren würde. Zwar erzeugt eine solche Abgabe ihrerseits zahlreiche Probleme und wäre wohl derzeit mit dem EURecht (der Information-Society-Directive) nicht vereinbar;98 doch könnte sie eine second-best-Lösung gegenüber der ineffizienten Verfolgung von Rechtsverletzun98 So auch Alexander Roßnagel / Silke Jandt / Christoph Schnabel / Anne Yliniva-Hoffmann, Die Zulässigkeit einer Kulturflatrate nach nationalem und europäischem Recht, 2009, S. 24 f., abrufbar unter: http:// www.gruene-bundestag.de/cms/netzpolitik/dokbin/278/278059. kurzgutachten_zur_kulturflatrate.pdf (zuletzt abgerufen am 16. 07. 2010).
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gen darstellen. Indes ist bislang die Reichweite einer solchen Lösung beschränkt: sie vermag nur die – allerdings zugegebenermaßen quantitativ hervorstechenden – Immaterialgüterrechtsverletzungen, insbesondere im Urheberrechtsbereich, zu bewältigen. Persönlichkeitsrechtverletzungen, Datenschutzverstöße oder andere strafbare Handlungen oder Inhalte könnten mit einer solchen Abgabe nicht gelöst werden. Eine pauschale Abgabe auf Internet-Anschlüsse vermag es kaum zu rechtfertigen, dass die Persönlichkeit von Dritten verletzt wird, ebenso wenig etwa, dass kinderpornografische Inhalte im Netz verbreitet oder heruntergeladen werden.
V. Fazit Lässt man den Rundgang durch das Recht der Verantwortlichkeit der Provider und der Begrenzung der Verantwortlichkeit durch technische Kontrollmaßnahmen Revue passieren, zeigt sich, dass die technologische Beherrschung eine essentielle Bedingung der Verantwortlichkeit der Provider ist, die Regelungen zur Haftung aber auch kaum Anreize enthalten, neuere Technologien zu entwickeln, die in der Lage wären, rechtswidrige Tätigkeiten oder Inhalte zu unterbinden. Will man den Teufelskreis aus sozial erwünschten Aktivitäten der Provider und nötigen Kontrollmechanismen durchbrechen, erscheint eine staatliche Beteiligung in Gestalt von impulsgebenden technischen Standards unausweichlich. Eine Patentformel hierfür kann freilich bis heute keiner bieten – weswegen auch politischer Aktionismus eher schädlich denn förderlich sein kann.
Teil II Diensteinnovationen und die Veränderungen regulatorischer Anknüpfungspunkte
Recht der Mediendienste auf der Suche nach operationalisierbaren Kriterien kohärenter Ausdifferenzierung Von Bernd Holznagel*
I.
Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Historische Entwicklung der Dienstekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Erste Phase: Der klassische Rundfunkbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Zweite Phase: Tele-, Mediendienste und Rundfunk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3. Dritte Phase: Telemedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 4. Vierte Phase: Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste und 12. RÄndStV . . . 103 5. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 III. Modelle der Diensteabgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 1. Einzelkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 a) Technische Unterscheidungsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 aa) Art des Übertragungsprotokolls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 bb) Lineare und nichtlineare Dienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 b) Kommunikationsbezogene Unterscheidungsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 aa) Interaktivitätsgrad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 bb) Ausmaß der Selektionsleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 c) Reichweite als Maßstab für die publizistische Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 2. Mischmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 a) Offene Typenmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 b) Listenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 IV. Schlussfolgerungen für eine operationalisierbare Dienstedifferenzierung . . . . . . . . . . . 115 V. Folgen für Innovationen im Mediensektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 1. Innovationsrechtliche Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2. Auswirkungen auf Innovationstätigkeit öffentlich-rechtlicher Anstalten . . . . . . . . . 118 3. Auswirkungen auf Innovationstätigkeit privater Anbieter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 * Für die Mithilfe bei der Recherche und Erstellung dieses Beitrages danke ich meinen Mitarbeitern Christine Nolden, Sebastian Deckers und Dr. Pascal Schumacher.
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I. Problemstellung Mit seiner unbändigen Innovationskraft bringt das Internet beinahe täglich neue Arten von elektronischen Mediendiensten hervor. Und die Schlagzahl erhöht sich exponentiell. Standen am Beginn noch einige wenige Angebote wie Newsletter und Online-Zeitungen oder Textdienste, rief die Konvergenzentwicklung schon bald Streaming-Verfahren und Video-on-Demand ins Leben. Die Digitalisierung führt inzwischen zu einer grundlegenden Neuordnung der gesamten Medienwelt. Die Vielfalt reicht von der Präsentation privater Urlaubserlebnisse bis hin zu ganzen Enzyklopädien. Neue Geschäftsmodelle vermischen häufig unterschiedliche Elemente der klassischen Massenmedien mit neuen Komponenten. Dabei hat gerade das Web 2.0, das eng mit der intensiven Einbindung des Nutzers in das Angebot verknüpft ist, einen neuen Boom bei der Vielfalt der Angebote hervorgerufen. Die rasante Entwicklung nimmt keinerlei Rücksicht auf hergebrachte rechtliche Einordnungen. Daher sieht sich das Recht mit einem Phänomen konfrontiert, das Alexander Roßnagel einmal als Innovationsparadoxie beschrieben hat:1 Rechtliche Regelungen müssen im Kern den Anspruch haben, das Neue zu regeln, noch bevor es Wirklichkeit geworden ist. Um Multimediadienste kohärent regulieren zu können, benötigt der Gesetzgeber eigentlich Kenntnisse über den konkreten Dienst und dessen Bedingungen. Obwohl ihm diese fehlen, muss er dennoch Regulierungsentscheidungen treffen, um die Integration in gesellschaftliche Strukturen zu gewährleisten. Der Gesetzgeber muss dabei nicht nur der Janusköpfigkeit von Multimediadiensten als Kultur- und Wirtschaftsgut auf der einen und dem Bedürfnis der Medienunternehmer nach Planungssicherheit auf der anderen Seite gerecht werden. Die rechtsstaatliche Notwendigkeit einer frühzeitigen Erfassung durch das Recht spiegelt sich auch in der potentiellen Meinungsrelevanz der Dienste und deren grundlegender Bedeutung für die Demokratie wider. Dieser Herausforderung genügt das Recht der Telemedien – um es vorsichtig zu formulieren – bislang nicht in vollem Maße. Immer wieder steht der Vorwurf mangelnder klarer Konzeptionalisierung und Handhabbarkeit im Raum.2 Anlass genug, um mich im Folgenden mit Ihnen auf die Suche nach kohärenten Kriterien einer Ausdifferenzierung zu begeben und schließlich danach zu fragen, wie sich die Dienstekategorisierung auf die Innovationskraft der Medienlandschaft auswirkt. 1 Alexander Roßnagel, in: Sauer, Dieter / Lang, Christa (Hrsg.), Paradoxien der Innovation, 1999, S. 193 (200); ders., in: Hof, Hagen / Wengenroth, Ulrich (Hrsg.), Innovationsforschung – Ansätze, Methoden, Grenzen und Perspektiven, 2007, S. 9 (14). 2 Zur Kritik vgl. nur Raimund Schütz, Rundfunkbegriff: Neutralität der Inhalte oder der Übertragung? Konvergenz und Innovation, MMR 2009, S. 228 ff.; Roland L. Klaes, Verfassungsrechtlicher Rundfunkbegriff und Internet, ZUM 2009, S. 135 ff.; Oliver Castendyk / Kathrin Böttcher, Ein neuer Rundfunkbegriff für Deutschland? Die Richtlinie für audiovisuelle Mediendienste und der deutsche Rundfunkbegriff, MMR 2008, S. 13 ff.; Hubertus Gersdorf, Der Rundfunkbegriff, 2007, passim; Rolf Schwartmann, in: ders. (Hrsg.), Praxishandbuch Medien, IT- und Urheberrecht, Kap. 1.2 Rn. 39; Carl Eugen Eberle, in: ders. / Rudolf, Walter / Wasserburg, Klaus (Hrsg.), Mainzer Rechtshandbuch der Neuen Medien, Kap. I Rn. 1 ff.
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II. Historische Entwicklung der Dienstekategorien Historisch war die Rundfunkordnung zunächst auf den klassischen Rundfunk zugeschnitten. Schon früh wurde aber deutlich, dass die regulatorische Behandlung „neuer“ Dienste dem nicht mehr gerecht wird. Der Gesetzgeber begann deshalb bald, Rundfunk und rundfunkähnliche Dienste zu unterscheiden und sie unterschiedlichen Regimen zu unterwerfen. 1. Erste Phase: Der klassische Rundfunkbegriff Der Begriff des Rundfunks wird im Grundgesetz bekanntlich nicht definiert sondern vorausgesetzt.3 Auch das BVerfG enthält sich bewusst einer Bestimmung des sich aus seiner Sicht wandelnden Begriffs.4 Gleichzeitig fordert es vom Gesetzgeber zur Ausgestaltung der Rundfunkfreiheit die Schaffung einer positiven Rundfunkordnung. Geboten und gerechtfertigt ist dies wegen der herausragenden Funktion des Rundfunks, die er als Medium und Faktor der öffentlichen Meinungsbildung hat. Das BVerfG hat immer wieder betont, dass diese Vermittlungsfunktion des Rundfunks durch seine Breitenwirkung, seine Aktualität und seine Suggestivkraft geprägt ist.5 Diese Motivation bringt es mit sich, dass der verfassungsrechtliche Rundfunkbegriff dynamisch angelegt ist – die Art der technischen Verbreitung ist zweitrangig.6 Vor diesem Hintergrund schufen die Landesgesetzgeber zunächst einfachgesetzliche Regelungen (RStV und LMG) für den Rundfunk. Deren Legaldefinition knüpfte an die vom BVerfG vorgegebenen Merkmale (insb. die Meinungsbildungsrelevanz) an und konkretisierte sie durch die drei konstitutiven Merkmale Verbreitung, Allgemeinheit und Darbietung. Gleichwohl unterfiel nicht jeder Dienst, der unter den Schutz der Rundfunkfreiheit fiel, auch der einfachgesetzlichen Rundfunkregulierung. Mit der sog. „rundfunkähnlichen Kommunikation“ wurde bereits Mitte der 1980 Jahre eine zweite Dienstekategorie eingeführt.7 Hierunter fielen 3 Dieter Dörr, Der Einfluss der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts auf das Medienrecht, VerwArch 2001, S. 149 ff. 4 BVerfGE 74, 297 (350). 5 BVerfGE 90, 60 (87); BVerfG, Urteil v. 11. 09. 2007, Az. 1 BvR 2270 / 05 – MMR 2007, 770 m. Anm. Alexander Scheuer m. w. N.; jüngst hierzu etwa Christian von Coelln, Die Rundfunkrechtsordnung Deutschlands – eine entwicklungsoffene Ordnung, AfP 2008, S. 433 ff. 6 Reinhard Hartstein / Wolf-Dieter Ring / Johannes Kreile / Dieter Dörr / Rupert Stettner, Rundfunkstaatsvertrag, Loseblatt (Stand Mai 2008), § 2 RStV Rn. 4; Helmuth Schulze-Fielitz, in: Dreier, Horst (Hrsg.), GG, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 5 Rn. 100. 7 Z. B. das LMedienG BW von 1984, das zwischen Rundfunk und rundfunkähnlicher Kommunikation differenzierte. Nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 LMedienG BW a. F. war rundfunkähnliche Kommunikation weder Rundfunk noch Individualkommunikation. Als rundfunkähnliche Kommunikation wurden im Gesetz Videotext, Ton- und Bewegtbildangebote auf Abruf und Ton- und Bewegtbildangebote auf Zugriff geregelt.
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etwa der Videotext sowie Ton- und Bewegtbildangebote auf Abruf bzw. Zugriff. Diese unterschieden sich in der Übertragungstechnik nicht vom Rundfunk, jedoch in der Art und Weise der Bereitstellung und der Beeinflussbarkeit des Nutzungszeitpunktes durch die Rezipienten. Obwohl auch diese dem Schutz des Art. 5 GG unterfallen, konnten sie abgesenkten regulativen Verpflichtungen unterworfen werden,8 was aufgrund der geringeren Meinungsrelevanz verfassungsrechtlich ohne weiteres zulässig ist. 2. Zweite Phase: Tele-, Mediendienste und Rundfunk Das Aufkommen der Neuen Medien stellte die klassische Abgrenzung vor besondere Probleme. Viele Online-Dienste können unter den verfassungsrechtlichen Begriff des Rundfunks subsumiert werden. Politisch war man sich gleichwohl einig, dass auf einfachgesetzlicher Ebene eine abgestufte Regulierungsdichte Platz greifen solle. Eine Reform führte daher zu einer umfassenden gesetzlichen Neugestaltung, welche an die drei Dienstekategorien Rundfunk, Mediendienste und Teledienste anknüpfte. Der Rundfunkstaatsvertrag oktroyierte dem Rundfunk ein hohes Regelungsniveau. Bspw. mussten und müssen Rundfunkveranstalter ein Zulassungsverfahren mitsamt einer spezifischen Medienkonzentrationskontrolle durchlaufen. In seinem inhaltlichen Anwendungsbereich knüpfte der RStV weiter an die drei Merkmale der Allgemeinheit, Darbietung und Verbreitung an. An die „Allgemeinheit“ gerichtet sind alle Angebote, die an einen unbestimmten Empfängerkreis gerichtet sind. Anhand dieses Merkmals können alle Formen der Individualkommunikation abgegrenzt werden. Teilweise wurde vertreten, dass eine Verbreitung an die Allgemeinheit nur bei Diensten gegeben sei, die – point to multipoint – zum zeitgleichen Empfang bestimmt waren.9 Dem ist das BVerfG entgegengetreten,10 da es für das Merkmal der Allgemeinheit nur auf die Unbestimmtheit des Empfängerkreises ankommt. Dies kann auch bei Diensten auf Abruf oder Zugriff gegeben sein. Die „Verbreitung“ eines Angebots liegt vor, wenn es mittels Fernmeldetechnik über eine räumBVerfGE 74, 297 (350). Hierzu Christoph Degenhart, Programmauftrag Internet – Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten und Online-Dienste, MMR 1998, S. 137 (138); ders., ZUM 1998, S. 333 (341 f.); Hubertus Gersdorf, Multi-Media: Der Rundfunkbegriff im Umbruch? Insbesondere zur verfassungsrechtlichen Einordnung der Zugriffs- und Abrufdienste AfP 1995, S. 565 (570 f.); ders., Der verfassungsrechtliche Rundfunkbegriff im Lichte der Digitalisierung der Telekommunikation, 1995, S. 143; Wolfgang Hoffmann-Riem, Pay TV im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, 1996, S. 56 ff.; Hans Dieter Jarass, Online-Dienste und Funktionsbereich des ZDF, 1997, S. 14; Hansjörg Kuch, Der Staatsvertrag über Mediendienste, ZUM 1997, S. 225 (227); Albrecht Hesse, Zur aktuellen Entwicklung des Rundfunkrechts, BayVBl 1997, S. 132 (135). Zur Unterscheidung von Verteil-, Zugriff- und Abrufdiensten vgl. ferner Wolfgang Hoffmann-Riem, Der Rundfunkbegriff in der Differenzierung kommunikativer Dienste, AfP 1996, S. 9 (13). 10 BVerfGE 74, 297 (351 f.); ähnlich BVerfGE 83, 238 (302). 8 9
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liche Distanz übermittelt wird. Dieses Merkmal dient vor allem der Abgrenzung zur körperlich verbreiteten Presse und Filmen, die am Ort des Abspielens für Publikum bereitgestellt werden. Ambivalent ist das Kriterium der „Darbietung“. Erfasst werden Inhalte, denen eine gewisse Bedeutsamkeit für die öffentliche Meinungsbildung zukommt. Ob darüber hinaus eine planvolle redaktionelle Gestaltung des Angebots erforderlich ist, ist streitig.11 Dieses Kriterium dient in der Praxis dazu, Inhalte wie Teleshopping oder Fernsehtext vom Rundfunk abzugrenzen. Dem Teleshopping soll die Eignung zur Beeinflussung der öffentlichen Meinungsbildung jedenfalls dann fehlen, wenn die Produktpräsentation und der Leistungsaustausch im Vordergrund stehen; beim Textdienst soll sie deshalb gering sein, weil ihm – trotz redaktioneller Gestaltung – die Suggestivkraft der bewegten Bilder fehlt.12 Ebenfalls anhand des Merkmals der Darbietung werden je nach Gestaltung Abruf- und Zugriffsdienste aus dem Rundfunkbegriff ausgeschieden. Fehlen programmliche Gestaltungselemente, werden z. B. elektronische Videotheken nicht als Rundfunk eingestuft.13 Für die elektronischen Dienste, die danach nicht dem „Rundfunk“ unterfallen, wurden der Mediendienste-Staatsvertrag (MDStV)14 der Länder und das Teledienstegesetz (TDG)15 des Bundes geschaffen. Systematisch sollten alle elektronischen Dienste jenseits des „Rundfunks“ sog. Informations- und Kommunikationsdienste sein: Diejenigen Inhalte, die ein gewisses Potential zur Beeinflussung der Meinungsbildung hatten, wurden als „Mediendienste“ 16 qualifiziert, die Sonstigen wurden „Teledienste“17 genannt. Innerhalb des MDStV war technisch zwischen verschiedenen Kategorien zu unterscheiden. Umfasst waren zum einen Verteildienste, die wie Rundfunk verbreitet 11 Siehe z. B. Hartstein / Ring / Kreile / Dörr / Stettner, Rundfunkstaatsvertrag (Fn. 6), § 2 Rn. 8; Bernd Holznagel / Babette Kibele, in: Spindler, Gerald / Schuster, Fabian (Hrsg.), Recht der elektronischen Medien, 2008, § 2 RStV Rn. 46 sowie Wolfgang Schulz, in: Hahn, Werner / Vesting (Hrsg.), Thomas, Beck’scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 2. Aufl. 2008, § 2 RStV Rn. 21; jüngst hierzu etwa Castendyk / Böttcher, Neuer Rundfunkbegriff? (Fn. 2), S. 16; Johannes Weberling, Zwischen Presserecht und Rundfunkrecht, AfP 2008, S. 445 (447 f.). 12 DLM, Drittes Strukturpapier der Landesmedienanstalten über die Unterscheidung von Rundfunk und Mediendiensten v. 06. 11. 2003, S. 12 u. 14. 13 Holznagel / Kibele, in: Spindler / Schuster (Hrsg.), Recht der elektronischen Medien (Fn. 11), § 2 RStV Rn. 51. 14 Staatsvertrag über Mediendienste (MDStV) v. 20.01. / 12. 02. 1997 (vgl. nur NW GVBl. 1997, S. 158), in Kraft von 01. 08. 1997 – 28. 02. 2007. 15 Gesetz über die Nutzung von Telediensten (TDG) v. 22. 07. 1997, BGBl. I, S. 1870, in Kraft von 01. 08. 1997 – 28. 02. 2007. 16 Vgl. § 2 Abs. 1 S. 1 MDStV: „an die Allgemeinheit gerichtete Informations- und Kommunikationsdienste (Mediendienste) in Text, Ton oder Bild, die unter Benutzung elektromagnetischer Schwingungen ohne Verbindungsleitung oder längs oder mittels eines Leiters verbreitet werden“. 17 Vgl. § 2 Abs. 1 TDG: „elektronischen Informations- und Kommunikationsdienste, die für eine individuelle Nutzung von kombinierbaren Daten wie Zeichen, Bilder oder Töne bestimmt sind und denen eine Übermittlung mittels Telekommunikation zu Grunde liegt“.
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werden, aber in ihrer Meinungsrelevanz hinter dem Rundfunk zurückbleiben. Davon waren technisch die Abrufdienste zu unterscheiden, denen aufgrund ihrer fehlenden programmlichen Gestaltung die rundfunktypische Meinungsbildungsrelevanz abgesprochen wurde. Unabhängig von technischen Verbreitungsparametern waren außerdem Mediendienste mit journalistisch-redaktioneller Gestaltung (elektronische Presse, § 10 Abs. 3 MDStV) zu unterscheiden, die erhöhte Pflichten z. B. die Aufnahme von Gegendarstellungen (§ 14 MDStV) oder die Einhaltung der journalistischen Sorgfalt (§ 11 Abs. 1 MDStV) zu erfüllen hatten. Schließlich konnten Mediendienste, die eine dem Rundfunk vergleichbare Meinungsrelevanz aufwiesen, nach § 20 Abs. 2 RStV der rundfunkrechtlichen Zulassungspflicht unterworfen werden. Rechtssicher war diese Klassifizierung für die Anbieter nicht. Zwar konnten Teledienste, bei denen es auf die individuelle Nutzung (Punkt-zuPunkt) ankam, noch am deutlichsten vom Rundfunk (Punkt-zu-Mehrpunkt) unterschieden werden. Mit den „Mediendiensten“ war aber ein großer Graubereich geschaffen worden, der Dienste von stark divergierender Art (von Teletext bis elektronischer Presse) umfasste.18
3. Dritte Phase: Telemedien Vor dem Hintergrund der schwierigen Handhabbarkeit vereinheitlichte der Gesetzgeber erstmals im Jahr 2003 die Begriffe Tele- und Mediendienst im Rahmen der Novellierung des Jugendschutzgesetzes. Bund und Länder einigten sich darauf, die Jugendschutzvorschriften für Rundfunk, Teledienste und Mediendienste im JMStV einheitlich unter dem Begriff der Telemedien zu regeln. Das zum 01. 03. 2007 in Kraft getretene Telemediengesetz (TMG)19 und der gleichzeitig in Kraft getretene 9. RÄStV übernahmen diese Vereinheitlichung der Begriffe. MDStV und TDG traten außer Kraft. Das TMG verzichtet auf eine positive Begriffsdefinition. Es gilt für alle elektronischen Informations- und Kommunikationsdienste, soweit sie nicht TK-Dienste, tk-gestützte Dienste oder Rundfunk sind.20 Damit fallen hierunter auch die früheren Mediendienste. Die Qualifizierung sollte ausweislich der Gesetzesbegründung ausdrücklich an den Inhalten und nicht an ihrer Verbreitungstechnik festgemacht werden.21 Die Regelung war insoweit technologieneutral. Die frühere (technische) Differenzierung nach Abruf- und Verteildiensten war entfallen, da sie i. R. d. Konvergenzentwicklung als nicht mehr zeitgemäß erachtet wurde.22 18 Vgl. Definition und Beispiele in § 2 Abs. 1 und 2 MDStV; ferner Schütz, Rundfunkbegriff (Fn. 2), S. 228. 19 TMG v. 26. 02. 2007, in Kraft getreten am 01. 03. 2007, BGBl. I, S. 179. 20 Vgl. § 1 Abs. 1 TMG sowie zur Zuordnung der einzelnen Angebote (Live-Streaming, Web-Casting, Fernsehtext, Video auf Abruf etc.) die Begründung zum 9. RÄStV, S. 4 ff., veröffentlicht in Abgeordnetenhaus Berlin, Drs. 16 / 0026 v. 30. 10. 2006. 21 Begründung zum ElGVG, BT-Drs. 16 / 3078, S. 11. 22 Vgl. die Begründung zum ElGVG, BT-Drs. 16 / 3078, S. 1.
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Obwohl die zuvor schwierige Abgrenzung von Mediendiensten und Telediensten mit Einführung des TMG entfiel, bestanden die alten Abgrenzungsprobleme weiter fort. Innerhalb der Dienstekategorie der Telemedien sind verschiedene Arten von Telemedien zu unterscheiden. Die Abgrenzungsprobleme haben sich in diesen Bereich verlagert. Die unterschiedlichen Telemedienkategorien sind in den §§ 54 ff. des Rundfunkstaatsvertrags geregelt, aus dem sich jetzt die an die Inhalte von Telemedien zu richtenden besonderen Anforderungen ergeben (§ 1 Abs. 4 TMG): Für „einfache“ Telemedien gelten insbesondere die Impressumspflichten nach § 55 Abs. 1 RStV. Hiervon zu unterscheiden sind die Telemedien, die ausschließlich persönlichen oder familiären Zwecken dienen, die von der Impressumspflicht ausgenommen sind. Journalistisch-redaktionell gestaltete Telemedien unterliegen erhöhten Anforderungen bezüglich Impressum, Gegendarstellung und Werberegeln. Daneben kennt der RStV die Kategorie der dem Rundfunk vergleichbaren Telemedien, die in § 50 RStV legaldefiniert sind als Telemedien, die an die Allgemeinheit gerichtet sind.23 Weiterhin können über die Öffnungsklausel des § 20 Abs. 2 RStV Telemedien aufgrund rundfunkgleicher Gefährdungslage der Rundfunkregulierung zugeordnet werden. Mit dem 12. RÄStV sind als weitere Kategorie die Telemedien, die journalistisch-redaktionell veranlasst und verfasst sind (§ 11d RStV), hinzugekommen. Zwar wurde damit die im Praxistest für untauglich befundene Trennung von Telediensten und Mediendiensten durch das TMG beseitigt.24 Angesichts der weiterhin notwendigen Abgrenzung verschiedenster Kategorien von Telemedien leben die meisten Abgrenzungsschwierigkeiten aber in neuem Gewand fort.25 Geht man von den unterschiedlichen rechtlichen Anforderungen aus, denen die verschiedenen Telemedienangebote unterworfen sind, lassen sich nun bis zu sechs Unterkategorien unterscheiden, die abzugrenzen sind, um jeden Dienst den für ihn vorgesehenen Vorschriften zuzuordnen. Gleich geblieben sind auch die Schwierigkeiten, die mit der Abgrenzung von Telemedien vom Rundfunk verbunden sind.
4. Vierte Phase: Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste und 12. RÄndStV Angesichts der fortbestehenden Abgrenzungsschwierigkeiten stand eigentlich zu erwarten, dass innerhalb der Kategorie der Telemedien eine Vereinfachung erfolgt. Anstatt dessen erfolgte durch den 12. RÄStV eine Neufassung des Rundfunkbegriffs. Anlass für die Neufassung war die EU-Richtlinie über audiovisuelle Vgl. Begründung zum 9. RÄStV (Fn. 20), S. 12. Peter Schmitz, in: Spindler / Schuster, Elektronische Medien (Fn. 11), § 1 TMG Rn. 3. 25 Andrey Rumyantsew, Journalistisch-redaktionelle Gestaltung: Eine verfassungswidrige Forderung?, ZUM 2008, S. 33 ff.; Marc Jäger, jurisPR-ITR 4 / 2007, Anm. 4, unter II.; Stefan Engels / Uwe Jürgens / Saskia Fritzsche, Die Entwicklung des Telemedienrechts im Jahr 2006, K&R 2007, S. 57 ff. 23 24
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Mediendienste (AMRL)26, deren Anwendungsbereich alle Arten von audiovisuellen Mediendiensten erfasst und die zwischen linearen und nicht-linearen audiovisuellen Mediendiensten unterscheidet. Die Abgrenzung ist danach vorzunehmen, ob der Inhalt zum gleichzeitigen Empfang durch die Allgemeinheit bestimmt ist oder nicht. Hierin wird überwiegend ein technisches Kriterium gesehen.27 Der deutsche Gesetzgeber hat sich bei der Neufassung des Rundfunkbegriffs weitgehend an der europarechtlichen Unterscheidung orientiert.28 Nachdem es zuvor zurückgedrängt worden war, erlebt damit nunmehr auch im deutschen Recht wieder ein technisches Kriterium seinen zweiten Frühling. § 2 Abs. 1 Satz 1 RStV n. F. lautet nunmehr: Rundfunk ist ein linearer Informations- und Kommunikationsdienst; er ist die für die Allgemeinheit bestimmte und zum zeitgleichen Empfang bestimmte Veranstaltung und Verbreitung von Angeboten in Bewegtbild oder Ton entlang eines Sendeplans unter Benutzung elektromagnetischer Schwingungen.
Die Begriffsmerkmale „Allgemeinheit“ und „Verbreitung“ bleiben damit neben dem neuen Kriterium der „Linearität“ für den Rundfunkbegriff konstitutiv. Mit dem Begriff der „Linearität“ greift der Gesetzgeber die frühere technische Unterscheidung zwischen Abruf- und Verteildiensten (mit neuer Terminologie aber inhaltlich unverändert29) wieder auf. Der Grund hierfür dürfte wohl weniger sachgelenkt gewesen sein, als vielmehr auf die politischen Mehrheitsverhältnisse in Brüssel bei Erlass der AMRL zurückzuführen sein. So wurde denn auch im RStV das Merkmal Darbietung gestrichen mit dem Verweis, dass der RStV an die AMRL angepasst werden soll. Damit stellt sich für die Prüfung des Rundfunkbegriffs die Frage, ob der deutsche Gesetzgeber die verfassungsgerichtlichen Kriterien zur Bestimmung der Meinungsrelevanz bei der Prüfung des Rundfunkbegriffs ausschließen wollte. Das ist im Ergebnis zu vernei26 Richtlinie 2007 / 65 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. 12. 2007 zur Änderung der Richtlinie 89 / 552 / EWG des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechtsund Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl. EU Nr. L 332 / 27 v. 18. 12. 2007, S. 27 ff., abrufbar unter: http:// eur-lex.europa.eu/Lex UriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:32007L0065:DE:NOT (zuletzt abgerufen am: 04. 02. 2010). 27 Ulrich Ellinghaus, Rundfunkregulierung im Umbruch?, CR 2008, S. 216 (219); Wolff Heintschel von Heinegg, Auswirkungen des Europarechts auf die rechtlichen Rahmenbedingungen des Internet-Fernsehens und des IP-TV, AfP 2008, S. 452 (459 f.); Stefan Mückl, Paradigmenwechsel im europäischen Medienrecht: Von der Fernsehrichtlinie zur Richtlinie über audiovisuelle Dienste, DVBl. 2006, S. 1201 (1210); Castendyk / Böttcher, Neuer Rundfunkbegriff? (Fn. 2), S. 17; Wolfgang Schulz, Medienkonvergenz light – Zur neuen Europäischen Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste, EuZW 2008, S. 107 (111); Thomas Kleist / Alexander Scheuer, Audiovisuelle Mediendienste ohne Grenzen, MMR 2006, S. 127 (132). 28 Jan O. Baier, Zulassungspflicht für Web-TV? – Maßgebliche Kriterien im Lichte des Rundfunkbegriffs, CR 2008, S. 769 (774). 29 Bernd Holznagel / Babette Kibele, in: Spindler, Gerald / Schuster, Fabian (Hrsg.), Recht der elektronischen Medien, 2. Aufl. 2010 (i. E.), § 2 RStV Rn. 65.
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nen. Eine Einstufung als Rundfunk setzt nach deutschem Recht nach wie vor eine gewisse Relevanz für die öffentliche und private Meinungsbildung voraus. Hierfür spricht zunächst, dass der Gesetzgeber selbst in der Begründung zum 12. RÄStV ausdrücklich und unverändert die drei Vorgaben des BVerfG (Breitenwirkung, Aktualität und Suggestivkraft) erwähnt und sie zur Voraussetzung für Rundfunk i. S. d. RStV erklärt. Daneben folgt aus der Zusammenschau mit § 2 Abs. 3 RStV, dass Rundfunk eine bestimmte inhaltliche Gestaltung voraussetzt, die wiederum meinungsbildend wirkt. Dort zählt ein Negativkatalog Ausnahmen auf, die nicht dem Rundfunkbegriff unterfallen. Dazu gehören v. a. solche Dienste, denen aus unterschiedlichen Gründen die besondere rundfunktypische Wirkungsintensität für die Meinungsbildung fehlt. Nach § 2 Abs. 3 Nr. 4 RStV sind bspw. Angebote, die eigentlich die Rundfunkvoraussetzungen nach § 2 Abs. 1 S. 1 RStV erfüllen kein Rundfunk, wenn sie nicht journalistisch-redaktionell gestaltet sind. Damit nimmt der RStV Bezug auf das, was bisher unter dem Begriff Darbietung verstanden wurde, nämlich die planvoll-redaktionelle Gestaltung von Inhalten und Informationen zu einem Gesamtangebot. Gleichzeitig korrespondiert Nr. 4 auch mit dem Begriff der Programmfreiheit des BVerfG30 und dem Begriff des Sendeplans bzw. Katalogs in Art. 1 lit. d) AMRL.31
5. Zwischenfazit Der vorstehende Überblick über die einfachgesetzliche Entwicklung der Dienstekategorien zeigt, dass der Gesetzgeber niemals von nur einem einzigen Abgrenzungskriterium ausging. Vielmehr war immer ein Kriterienbündel maßgeblich. In der ersten und zweiten Phase spielten sowohl inhaltliche Merkmale der Dienste als auch technische Kriterien eine Rolle. In der dritten Phase hat der Gesetzgeber die Bedeutung des technischen Merkmals dann in den Hintergrund gerückt, weil es die Meinungsbildungsrelevanz eines Dienstes in einem technisch konvergenten Umfeld nicht mehr aussagekräftig reflektiert. Gegenwärtig gewinnen technische Aspekte mit dem Tatbestandsmerkmal der Linearität erneut an Bedeutung. Die Abgrenzung erfolgt gleichwohl nicht alleine nach diesem Gesichtspunkt, sondern weiterhin unter Berücksichtigung der rundfunktypischen Wirkungsintensität eines Dienstes auf die öffentliche und individuelle Meinungsbildung. Dieser tatsächlichen Rechtsentwicklung sollen im Folgenden die im Schrifttum diskutierten Abgrenzungstheorien gegenübergestellt werden, um – losgelöst von 30 Programm ist nach ständiger Rspr. die auf längere Dauer angelegte, planmäßige und strukturierte Abfolge von Sendungen oder Beiträgen, vgl. nur BVerfGE 59, 231 (258); 87, 181 (201); 90, 60 (87); 97, 298 (310). 31 Sendung ist nach Art. 1 lit. b) AMRL eine Abfolge von Bildern mit oder ohne Ton, die Einzelbestandteil eines von einem Mediendiensteanbieters erstellten Sendeplans oder Katalogs ist und deren Form und Inhalt mit der Form und dem Inhalt von Fernsehsendungen vergleichbar ist.
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rechtspraktischen und -politischen Zwängen – einen grundsätzlichen Überblick über verfügbare Modelle zu gewinnen.
III. Modelle der Diensteabgrenzung Grundlegend lassen sich zwei Arten von Modellen, die sog. reinen und die Mischmodelle, unterscheiden. 1. Einzelkriterien Reine Modelle knüpfen an einzelne Dienstemerkmale an. Die Weichenstellung erfolgt hier gleich zu Beginn: Konzeptionell sind drei verschiedene Ansätze denkbar. Zum einen lassen sich Dienste nach ihren technischen Merkmalen differenzieren [a)]. Zum anderen kann nach Eigenschaften des kommunikativen Inhaltes unterschieden werden [b)]. Schließlich ist die empirisch belegbare Reichweite eine weitere Unterscheidungsmöglichkeit [c)]. a) Technische Unterscheidungsmerkmale Die technische Differenzierung wiederum kann sowohl an das den Diensten zu Grunde liegende (netztechnische) Übertragungsprotokoll [aa)] als auch an die technischen Eigenschaften der Dienste selbst anknüpfen [bb)]. aa) Art des Übertragungsprotokolls Immer wieder wird vorgeschlagen, Rundfunk von den anderen Diensten nach der Art des netztechnischen Übertragungsprotokolls abzugrenzen. Die Verbreitung mittels „übertragungstechnischem Rundruf“ (Broadcasting) wäre danach Rundfunk, auf Einzelruf (Unicasting) aufbauende Dienste wären kein Rundfunk. Eine solche Differenzierung verspricht auf den ersten Blick Eindeutigkeit. Die Dienstekategorien der Vergangenheit lassen sich mit dieser Differenzierung problemlos beherrschen. Analoges Kabelfernsehen wurde an die Allgemeinheit (Broadcasting) ausgestrahlt. Analoge Telefonie erfolgt über den Einzelruf (Unicast). Der gewichtige Nachteil dieser Lösung wird aber deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es in der IP-Welt Graubereiche zwischen Broadcasting und Unicasting gibt. Ein Beispiel ist das sog. Multicasting, das beim IPTV eingesetzt wird. Dieses Verfahren kombiniert aus Gründen der Netzoptimierung Merkmale der herkömmlichen Übermittlungstechnik (Broadcasting) und des Unicasting: Signale werden zwar nur auf Anforderung zum Endkunden übertragen. Der Datenverkehr wird aber zuvor – für den Kunden nicht ersichtlich – gebündelt.32 Stellt man hier 32 Nico Jurran, Technology Review Nr. 9 / 2006, S. 72 (73); Gregor Honsel, Technology Review 9 / 2006, S. 64 (66); Albrecht Ziemer, Digitales Fernsehen, 3. Aufl. 2003, S. 122; Harald
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auf die Übertragung des Fernsehsignals zum Netzbündelungspunkt ab, wird IPTV mittels Broadcasting übermittelt und wäre damit Rundfunk. Betrachtet man hingegen die Kommunikation vom Netzbündelungspunkt zum Endkunden, wird das Fernsehsignal mittels Unicast übertragen und wäre damit kein Rundfunk. bb) Lineare und nichtlineare Dienste Eine andere technische Unterscheidungsmöglichkeit ist die Differenzierung anhand der Linearität eines Dienstes. Die Abgrenzung zwischen linearen und nicht-linearen Diensten wird danach vorgenommen, ob der Inhalt zum gleichzeitigen Empfang durch die Allgemeinheit bestimmt ist oder nicht. Nicht gleichzusetzen ist das Begriffspaar linear / nicht-linear mit der oben beschriebenen Unterscheidung zwischen Unicasting und Broadcasting. Die Linearität des Dienstes ist vielmehr ausschließlich abhängig vom Zuschnitt des (auf der Netzebene aufbauenden) Dienstes. Der gleichzeitige Empfang eines Dienstes durch die Allgemeinheit ist sowohl in Verteilnetzen als auch bei Abrufsystemen möglich (z. B. Streaming).33 Das Kriterium setzt damit auf die gesellschaftliche Bedeutung der Gleichzeitigkeit eines Mediums. Es geht von der Prämisse aus, dass eine geringere Regulierungstiefe bei nicht-linearen Diensten gerechtfertigt ist, da diese weitergehende Auswahl- und Steuerungsmöglichkeiten der Nutzer bieten und nicht so weite Auswirkungen auf die Gesellschaft haben.34 Die vermeintlich unkomplizierte, begrifflich klare Lösung ist einer Vielzahl von Kritikpunkten ausgesetzt. Zunächst ist vollkommene Simultanität schon technisch nicht immer möglich, was z. B. bei den Latenzzeiten von Satellitenübertragungen deutlich wird. Ferner schafft auch das Kriterium der Linearität keine Klarheit in praktischen Abgrenzungsfragen, etwa wie mit dem für das IPTV relevanten Multicasting umzugehen ist. Denn hierbei entscheidet zwar der Nutzer, wann die Übertragung des Signals beginnt. Funktional kann es sich bei Multicasting-Diensten aber sehr wohl um Äquivalente zu linearen Inhalten handeln, wie z. B. IPTV zum klassischen Fernsehen. Ähnlich verhält es sich beim Video-on-Demand (VOD). Es kann (je nach technischer Ausgestaltung) entweder linear oder nicht-linear organisiert sein,35 was freilich für den Nutzer keinen wahrnehmbaren Unterschied macht. Allgemein dürfte das Kriterium der technischen Gleichzeitigkeit der Übertragung Gebhard / Rüdiger Kays, Virtueller Rundfunk über das Internet, FKT 2001, S. 13 (14); Gersdorf, Der Rundfunkbegriff (Fn. 2), S. 15; Uwe Schnepf, IPTV: Fernsehen über das InternetProtokoll, FKT 2007, S. 58 (61). 33 Gersdorf, Der Rundfunkbegriff (Fn. 2), S. 44, 67. 34 Erwägungsgrund 28 KOM (2005) 646 endg. 35 Video-on-Demand Dienste funktionieren z. T. technisch nicht-linear durch die (aufwändige und teure) exklusive Übertragung des Videosignals auf Wunsch des Nutzers. Ein anderes, lineares, Verfahren verwenden sog. VOD-Push-Dienste, die über Nacht Daten laden, welche tagsüber vom Nutzer auf dessen Wunsch abgespielt werden können.
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überbewertet sein. Entscheidender als wann ist doch eher, ob ein Programm gesehen wird. Dies gilt jedenfalls für geringe Zeitverzögerungen im Minuten- oder Stundenbereich. Auch die Anknüpfung an die Person, die über den technischen Zeitpunkt der Übertragung entscheidet, erscheint i. E. zu grobschlächtig. Sie versagt bei Netzen ohne physikalische Baumstruktur, da hier letztlich jeder Datenverkehr zumindest in einzelnen Netzstufen technisch nicht-linear verläuft. Insgesamt wird an den benannten Beispielen deutlich, dass eine Dienstekategorisierung alleine nach technischen Merkmalen im Zeitalter der Konvergenz zu zufälligen Ergebnissen führen kann.36 Die Abgrenzung ist also nur scheinbar eindeutig. Sie funktioniert nur bei herkömmlichen Diensten problemlos, versagt hingegen bei vielen neuen Diensten. b) Kommunikationsbezogene Unterscheidungsmerkmale Nicht an der Technik sondern an qualitativen Angebotsmerkmalen des Dienstes setzen kommunikationsbezogene Theorien an. Aus qualitativer Sicht ist insbesondere die Abgrenzung nach dem Interaktivitätsgrad [aa)] und dem Ausmaß der Selektionsleistung [bb)] möglich. aa) Interaktivitätsgrad Die Interaktivität eines Mediums wird vornehmlich als Hilfskriterium diskutiert.37 Hintergrund ist der Gedanke, dass die Einfachheit der Bedienung sich auf die Nutzungshäufigkeit und damit auf das Beeinflussungspotenzial auswirkt. Je geringer der Aufwand beim Empfänger für die Informationserlangung sei, desto höher sei die Nutzungsquantität, desto größer die aufgenommene Information, desto höher der Einfluss auf die Meinungsbildung.38 Es werden folgende Interaktivitätsgrade unterschieden:39 Interaktivitätslevel 0: Hier kann der Nutzer lediglich ein- bzw. ausschalten. Entsprechende Dienste wären Rundfunk. Bei Diensten des Interaktivitätslevels 1 hat der Nutzer Auswahlmöglichkeiten zwischen Kameraperspektiven, aber keinen Einfluss auf den Programmablauf. Diese Dienste wären ebenfalls Rundfunk. DLM, Drittes Strukturpapier (Fn. 12), S. 8. Wolfgang Lent, Rundfunk-, Medien-, Teledienste, 2001, S. 120. 38 DLM, Drittes Strukturpapier (Fn. 12), S. 10; vgl. auch Wolfgang Schulz, Jenseits der Meinungsrelevanz – Verfassungsrechtliche Überlegungen zu Ausgestaltung und Gesetzgebungskompetenzen bei neuen Kommunikationsformen, ZUM 1996, S. 487 (490 f.); Wolfgang Schulz / Thorsten Held / Manfred Kops, Perspektiven der Gewährleistung freier öffentlicher Kommunikation, 2002, S. 102 ff. 39 Lent, Rundfunk-, Medien-, Teledienste (Fn. 37), S. 120 ff. 36 37
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Das Interaktivitätslevel 2 ermöglicht die Nutzung ergänzender Informationen zu rein passiv rezipierbaren Programmteilen. Entsprechende Dienste müssten nach dem Schwerpunkt abgegrenzt werden. Dienste, die den individuellen Abruf von Inhalten ermöglichen, wären auf dem Interaktivitätslevel 3 kein Rundfunk. Interaktivitätslevel 4: Kommunikative Interaktion in Echtzeit wäre ebenfalls kein Rundfunk.
Für eine Differenzierung anhand des Interaktivitätsgrades wird die Bedeutung des Programmcharakters angeführt. Erst das planvolle und zeitlich geordnete Programm (Sendeplan) ermögliche das „hineinfallen lassen“ in ein Programm (couch viewing). Zudem erzeuge das Programm eine besondere Bindungswirkung.40 Allerdings lässt sich auch problemlos die Gegenthese vertreten, wonach das Beeinflussungspotenzial der Massenmedien reziprok mit der Aufmerksamkeit des Nutzers wächst, die wiederum maßgeblich von der Möglichkeit interaktiver Auswahlsteuerung abhängt.41 So wird z. T. vertreten, es entspreche schon lange nicht mehr den Nutzungsgewohnheiten der Rezipienten, sich in ein bestimmtes Programm hineinfallen zu lassen und bei diesem „hängen“ zu bleiben. Die Vervielfältigung des Fernsehangebots habe das Nutzungsverhalten der Rezipienten in erheblicher Weise verändert.42 Das „Wellenreiten auf den Fernsehkanälen“ entspreche dem „Surfen“ im Internet.43 Auch die Kommunikationsforschung konnte empirisch nicht verifizieren, dass passive Rezeption eine größere Manipulationsgefahr birgt als (inter-)aktive. In der modernen Kommunikationsforschung spielt das Begriffspaar aktiv / passiv daher keine Rolle mehr für die Ermittlung der medialen Wirkungen.44 Schließlich wird der Kern eines Angebots durch die größeren Interaktionsmöglichkeiten auch nicht verändert. Die Attraktivität eines solchen Angebots steht und fällt nämlich auch hier mit den übertragenen Inhalten.45
40 Vgl. Gersdorf, Der Rundfunkbegriff (Fn. 2), S. 34, 38; ders., Grundzüge des Rundfunkrechts, 2003, S. 78; DLM, Drittes Strukturpapier (Fn. 12), S. 10; Lent, Rundfunk-, Medien-, Teledienste (Fn. 37), S. 120 ff. 41 Gersdorf, Der Rundfunkbegriff (Fn. 2), S. 63. 42 Vgl. Bernd Holznagel / Thorsten Ricke, IPTV – Eine medienrechtliche Einordnung, in: Klumpp, Dieter / Kubicek, Herbert / Roßnagel, Alexander / Schulz, Wolfgang (Hrsg.), Informationelles Vertrauen für die Informationsgesellschaft, 2008, S. 267 (279). 43 Gersdorf, Der Rundfunkbegriff (Fn. 2), S. 90. 44 Lent, Rundfunk-, Medien-, Teledienste (Fn. 37), S. 53 ff. 45 Vgl. Tom Eilers, Fußballübertragungsrechte für Internet und Mobilfunktechnik – Abgegrenzte Gebiete oder Doppelvergabe der Fernsehrechte?, SpuRt 2006, S. 221 (223).
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bb) Ausmaß der Selektionsleistung Neben der Interaktivität wird auch das Ausmaß der redaktionellen Selektion und Gestaltung als Abgrenzungskriterium vorgeschlagen. Ein Dienst sei umso rundfunktypischer, je stärker die redaktionelle Selektion und Gestaltung seiner Inhalte ist. Eine Programmstruktur, die den Nutzer vom Aus- oder Umschalten abhält, führe zu längerer Rezeption des Dienstes und damit zu stärkerem Einfluss auf die Meinungsbildung. Daher begründeten die einseitigen Selektions- und Gestaltungsspielräume des Veranstalters den besonderen Regulierungsbedarf des Rundfunks.46 Daraus folgt, dass ein Dienst dann kein Rundfunk ist, wenn der Sender nicht über die einseitige Programmgestaltungskompetenz verfügt. Dies soll dann der Fall sein, wenn der Benutzer bei Abrufdiensten über die „Aktivierung“ der vom Dienstbetreiber bereitgestellten Information entscheiden kann.47 Bei Lichte besehen taugt das Kriterium der redaktionellen Aufbereitung einer Information aber schon gedanklich nicht als alleiniges und abschließendes Kriterium zur Abgrenzung des Rundfunks von anderen Diensten. Denn redaktionell gestaltet ist eigentlich alles. Ungefilterte Rohinformationen werden den Rezipienten nur äußerst selten vermittelt, nämlich nur dort, wo das Informationsangebot vollständig ist.48 Selbst das Internet bietet aber kaum Zugriff auf Rohinformation.49 Dort werden die Selektionsleistungen nur immer weniger von qualifizierten Journalisten, sondern z. B. von Suchmaschinen wahrgenommen.
c) Reichweite als Maßstab für die publizistische Wirkung Ein letztes Kriterium grenzt Rundfunk von den Telemedien durch seine besondere Reichweite ab. Je mehr Menschen dieselben Inhalte gleichzeitig rezipieren, desto größer ist die Beteiligung am „Selbstgespräch der Gesellschaft“, die Einflussnahme auf die individuelle und auf die öffentliche Meinungsbildung (Breitenwirkung). Mit steigender konkreter Reichweite erhöht sich die Personenzahl, die sich mit dem verbreiteten Inhalt auseinandersetzen kann. Anders als das Kriterium der Adressierung an die Allgemeinheit, für das nur die intendierte, potentielle Empfangbarkeit von Bedeutung ist, rekurriert die Breitenwirkung also auf die tatsächliche Verbreitung eines Dienstes.50 Diesen Ansatzpunkt greift nun auch der 46 Vgl. Schulz / Held / Kops, Perspektiven (Fn. 38), S. 98; DLM, Drittes Strukturpapier (Fn. 12), S. 9; siehe auch Bernd Blöbaum, Journalismus als soziales System. Geschichte, Ausdifferenzierung und Verselbständigung, 1994, S. 267 f.; Walter Schmitt Glaeser, Kabelkommunikation und Verfassung, 1979, S. 187 f.; kritisch hierzu Gersdorf, Der Rundfunkbegriff (Fn. 2), S. 64 ff.; Eberhard König, Die Teletexte, 1980, S. 38; Joachim Scherer, Telekommunikationsrecht und Telekommunikationspolitik, 1985, S. 593. 47 Schmitt Glaeser, Kabelkommunikation (Fn. 46), S. 187 f.; ähnlich DLM, Drittes Strukturpapier (Fn. 12), S. 9. 48 Gersdorf, Der Rundfunkbegriff (Fn. 2), S. 65. 49 Ebd.
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Rundfunkgesetzgeber auf. Nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 RStV ist die Einstufung von IPTV- bzw. DSL-Fernsehen und ähnlichen Angeboten als Rundfunk davon abhängig, dass das Angebot von potentiell mindestens 500 Personen gleichzeitig genutzt wird.51 Darunter sieht der Gesetzgeber eine ausreichende Breitenwirkung des Angebotes als nicht mehr gegeben an. Für diese Differenzierung anhand der Reichweite spricht, dass durch sie die Bedeutung einzelner Dienste einzelfallgerecht ermittelt werden kann. So wachsen sozialer Bezug und Funktion eines Dienstes linear mit seiner Reichweite.52 Ein praktischer Nachteil ist demgegenüber der relativ hohe Aufwand. Zum einen sind empirische Nutzerbefragungen notwendig. Zum anderen müssen zahlreiche Märkte zeitlich, sachlich nach Themen, Alter der Zielgruppe sowie räumlich voneinander abgegrenzt werden. Nur so kann bestimmt werden, welche Nutzerzahlen welchem Dienst zugerechnet werden können. Ferner sind zentrale Wertungsentscheidungen erforderlich. Bspw. muss entschieden werden, ob und wie der einmalige Zugriff auf einen Dienst bzw. die kumulierte Aufmerksamkeitsdauer für die Ermittlung der Reichweite relevant sein sollen. Soll jedes Angebot selbständig oder sollen gesamte Dienstetypen gemeinsam betrachtet werden? Zählt nur die unmittelbare Breitenwirkung oder auch die mittelbare? Wie kann ein einheitlicher Maßstab gewährleistet werden?53 Letztlich werden die Abgrenzungsschwierigkeiten auf die Ebene der empirischen Basis und der Festlegung der Erhebungsdesigns verlagert. Solch wesentliche Entscheidungen dürften aber dem Parlamentsvorbehalt unterliegen und müssten daher wohl durch den Gesetzgeber selbst getroffen werden, um dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit zu entgehen. 2. Mischmodelle Die zuvor dargestellten Einzelkriterien werden angesichts ihrer jeweiligen „Schwächen“ seltener als Alleinstellungsmerkmale einer Diensteabgrenzung verwendet. Vor allem in der Praxis ist der Ansatz verbreitet, sie in Mischmodellen zu kombinieren. 50 Schulz, in: Hahn / Vesting, Rundfunkrecht (Fn. 11), § 2 RStV Rn. 41; Dieter Dörr, Konzentrationskontrolle im Rundfunk, in: Schiwy, Peter / Schütz, Walter / Dörr, Dieter, Medienrecht, 5. Aufl. 2010, S. 321; Armin Trafkowski, Medienkartellrecht, 2002, S. 215; Schulz / Held / Kops, Perspektiven (Fn. 38), S. 79 f.; siehe zur Bedeutung der Reichweite auch WolfDieter Ring / Andreas Gummer, Medienrechtliche Einordnung neuer Angebote über neue Übertragungswege (z. B. IP-TV, Mobil-TV etc.), ZUM 2007, S. 433 (437). 51 So auch bereits DLM, Überarbeitung des dritten Strukturpapiers, 2007, S. 6 u. 8, abrufbar unter: http:// www.alm.de/fileadmin/forschungsprojekte/GSPWM/Beschluss_IP-TV.pdf (zuletzt abgerufen am: 4. 2. 2010). Kritisch zur Bestimmbarkeit in der Praxis Baier, Zulassungspflicht (Fn. 28), S. 775. 52 Gersdorf, Der Rundfunkbegriff (Fn. 2), S. 75. 53 Schulz / Held / Kops, Perspektiven (Fn. 38), S. 82 f.
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a) Offene Typenmerkmale Die Landesmedienanstalten, die in der Praxis gem. § 20 Abs. 2 RStV für die Einordnung konkreter Angebote als Telemedium oder als Rundfunk im Einzelfall zuständig sind, halten eine abschließende Zuordnung anhand von abstrakten Merkmalen für nicht möglich. Ausgehend von dem Ziel der Rundfunkregulierung (Abwehr von Einflussnahmen auf die öffentliche Meinungsbildung) könne lediglich eine das Erscheinungsbild berücksichtigende Beschreibung abgegeben werden. Der Begriff Rundfunk sei daher als Typus anhand von sog. offenen Typenmerkmalen zu definieren. Die Landesmedienanstalten identifizieren fünf Hauptkategorien: die redaktionelle Gestaltung, die Wirkungsintensität, die Realitätsnähe der Inhalte, die Reichweite und gleichzeitige Rezeptionsmöglichkeit (Breitenwirkung), und schließlich die geringe Interaktivität des Nutzers beim Rezeptionsvorgang.54
Als Leitbild sowohl für die Zusammenstellung der Merkmale als auch für die abschließende Bewertung dient dabei das Beeinflussungspotenzial für die individuelle und öffentliche Meinungsbildung. Ausgangspunkt sind die die Meinungsbildungsrelevanz umschreibenden Kriterien der Breitenwirkung, Aktualität und Suggestivkraft. Die Art des Verbreitungsweges stelle demgegenüber kein Merkmal dar, an dem sich die Zuordnung Rundfunk oder Telemedien festmachen lasse. In verfahrensrechtlicher Hinsicht normiert der RStV Informations- und Abstimmungserfordernisse55 zwischen den Landesmedienanstalten und den zuständigen Bundesbehörden, um sicherzustellen, dass bei der Einordnung eines Dienstes als Rundfunk nicht die Zuständigkeit des Bundes für Wirtschaft und Telekommunikation übergangen wird. Vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Verbots der Mischverwaltung wird mittels Koordination und Kooperation den Defiziten begegnet, die das materielle Recht infolge der Dynamik der Regelungsmaterie alleine nicht dauerhaft zu bewältigen vermag.56 Um dem Bedürfnis der Unternehmer nach Rechtssicherheit zu genügen, fixieren die Landesmedienanstalten die vorstehenden Überlegungen in sog. „Strukturpapieren“, welche regelmäßig überarbeitet und aktualisiert werden. Neben der Beschreibung der entscheidungsleitenden Abwägungskriterien enthalten die Strukturpapiere auch umfangreiche Listen von Einzelfallbeispielen.57 DLM, Drittes Strukturpapier (Fn. 12), S. 8 ff. Vgl. nur § 39a RStV. 56 Bernd Holznagel / Daniel Krone, in: Spindler / Schuster, Elektronische Medien (Fn. 11), § 39a RStV Rn. 3. 57 Vgl. DLM, Drittes Strukturpapier (Fn. 12), 13 ff.; dies., Überarbeitung des dritten Strukturpapiers (Fn. 51), S. 10 zum Teleshopping: „( . . . ) Angesichts der besonderen Suggestivkraft von Live-Übertragungen im Sport können Teleshoppingangebote mit Live-Übertragung 54 55
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b) Listenbildung Dem halten andere das Wesentlichkeitsprinzip entgegen, würden doch mit dem Typenmodell die Abgrenzungsschwierigkeiten auf die Rechtsanwendungsseite verlagert. Letztlich müssten dann Aufsichtsbehörden und Gerichte über wichtige Wertungsfragen entscheiden. Vielmehr solle der Gesetzgeber selbst aktiv werden und durch Listenbildung Dienstekategorien normativ festschreiben. Bekannt ist das Prinzip der Listenbildung aus dem Umwelt- und Immissionsschutzrecht, wo etwa „Kriterien zur Bestimmung des Standes der Technik“ als Anlage zum BImSchG normiert sind. Schulz / Held / Kops bspw. regen eine Listenbildung von regulierungsbedürftigen Diensteformen anhand eines von ihnen so genannten „Zwei-Stufen-Tests“ an.58 Die Funktionsweise ist ähnlich wie bei dem Drei-Kriterien-Test gem. § 10 Abs. 2 TKG, mit dem die Schwelle der Regulierungsbedürftigkeit von Telekommunikationsmärkten bestimmt wird. Der logische Ausgangspunkt für Regulierung von Rundfunk ist nach Schulz / Held / Kops dabei ein ökonomischer. Sie gehen davon aus, dass die vom BVerfG postulierten kommunikationspolitischen Ziele des Rundfunks grundsätzlich am besten durch den Markt verwirklicht werden können. Der „Markt (sei) das leistungsfähigste Bereitstellungsverfahren, sowohl was die effiziente Verwendung der Ressourcen betrifft ( . . . ), als auch was ihre gerechte und anreizverträgliche Verteilung zwischen den Mitgliedern der Volkswirtschaft ( . . . ) anbelangt.“59 Nur dort, wo die verfassungsrechtlichen Ziele in einem marktlichen Umfeld drohten verfehlt zu werden, sei Regulierung angebracht. Im Einzelnen schlagen sie folgende Prüfungsfolge vor: Auf der ersten Stufe wird nach den Spezifika des Diensteangebots gefragt, die die besondere „Bedeutsamkeit“ der Rundfunkdienste für die individuelle und öffentliche Willens- bzw. Meinungsbildung bestimmen. Insofern knüpft der Test an die vom BVerfG entwickelte Leitvorstellung der Gewährleistung freier öffentlicher Kommunikation an. Bei der Bestimmung der gesellschaftlichen Bedeutsamkeit eines Dienstes unterscheiden sie die kommunikationswissenschaftlichen Determinanten Breitenwirkung, Kriterien publizistischer Wirkmacht (wiederum unterschieden in entscheidungsbezogene und medienbezogene), die Suggestivkraft, die Interaktivität sowie die Bedeutsamkeit aufgrund von durch nachgelagerte Dienste (z. B. Suchmaschinen) vermittelten Wirkungen. Auf der zweiten Stufe des Tests wird dann überprüft, inwieweit strukturelle Marktdefizite vorliegen, aufgrund derer regulatorische Maßnahmen sinnvoll oder sogar von Verfassungs wegen geboten sind. Schulz / Held / Kops nennen dies nur dann noch als Mediendienst qualifiziert werden, wenn sich die Live-Übertragung eindeutig diesem gewerblichen Zweck unterordnet und jede Form von redaktioneller Sportberichterstattung sowie alle unterhaltenden Elemente ausgeschlossen sind.“ 58 Schulz / Held / Kops, Perspektiven (Fn. 38), passim. 59 Schulz / Held / Kops, Perspektiven (Fn. 38), S. 107.
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„Mängel der marktlichen Bereitstellung“. Unter Marktmängeln verstehen die Autoren die negativen Abweichungen der Versorgungsergebnisse von den verfassungsrechtlichen Anforderungen, die bei einer marktlichen Bereitstellung dieser Kommunikationsdienste eintreten würden. Hierzu zählen Defizite, die aus Marktunvollkommenheiten resultieren und die in der ökonomischen Theorie als „Marktversagen“ bezeichnet werden. Sie umfassen aber auch die unter den Bedingungen vollkommener Märkte eintretenden Versorgungsergebnisse, soweit mit diesen die angestrebten kommunikationspolitischen Ziele nicht erfüllt werden, bspw. weil der Markt auch in solchen Lebensbereichen den kommerziellen Wettbewerb zum Selektions- und Steuerungsprinzip erhebt, die sich hierfür nicht eignen, oder weil er alle Güter nach Maßgabe der individuellen Kaufkraft verteilt (wodurch z. B. der verfassungsrechtlich geforderte freie Zugang zu Kommunikationsdiensten für alle Mitglieder der Gesellschaft nicht gewährleistet wird). Sowohl Dienste mit einer vergleichsweise geringen gesellschaftlichen Bedeutsamkeit, aber gleichzeitig gravierenden Marktmängeln als auch Dienste mit einer vergleichsweise hohen gesellschaftlichen Bedeutsamkeit bei gleichzeitig geringeren Marktmängeln wären danach einer unregulierten kommerziellen Bereitstellung zu entziehen.60 Im kommerziellen Sektor müssten solche Dienstetypen vielmehr strengen Regulierungsinstrumenten unterworfen werden. Alternativ könnten sie in die Aktivitäten öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten einbezogen werden. Die Erfahrung im journalistischen Bereich lasse dies vor allem zum Ausgleich von Defiziten publizistischer Dienstetypen geeignet erscheinen. Hinweise auf derartige Defizite wurden in der Untersuchung etwa für publizistisch gestaltete Portale oder Newsarchive gefunden.61 Der Zwei-Stufen-Test soll schließlich in einen Punktekatalog münden, der die Regulierungsbedürftigkeit der einzelnen Dienste vergleichbar festlegt.62 In der Tat hätte eine Dienstekategorisierung qua Listenbildung den Vorteil der Rechtssicherheit hinsichtlich der aufgeführten Dienste auf ihrer Seite. Zudem wäre eine solche Lösung technologieneutral.63 Ein weiterer Vorteil des Zwei-StufenTests ist, dass sich mit ihm eine (kommunikations-)wissenschaftlich fundierte Erklärung für eine abgestufte Regulierungsdichte finden lässt. So lässt sich der Grund für die Regulierungsintensität mit entsprechenden Punkten belegen.64 Ob mit der Prüfung des Marktversagens sämtliche gesellschaftlichen Defizite abgebildet werden können, hängt maßgeblich von dem zugrunde liegenden Prüfprogramm ab.65 In der ökonomischen Literatur besteht insoweit kein einheitlicher 60 Dies., Perspektiven der Gewährleistung freier öffentlicher Kommunikation, ZUM 2001, S. 621 (626). 61 Dies., Gewährleistung (Fn. 60), S. 635. 62 Schulz / Held / Kops, Perspektiven (Fn. 38), S. 77 f. 63 Ebd., S. 244. 64 Ebd., S. 44. 65 So auch ebd., S. 114.
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Katalog von Marktfehlern.66 Allerdings wäre genau dies die Sollbruchstelle, an welcher der Gesetzgeber die ihm obliegenden Wertentscheidungen durch die Definition von Kriterien treffen kann. Ihm steht insoweit ein weiter Prognosespielraum zur Verfügung, mittels dessen auch die Vielfalt künstlerischer und kultureller Ausdrucksformen oder gesellschaftliche Sichtweisen einbezogen werden können. In Fragen des organisationsrechtlichen Ablaufs liegt bei dem Konzept hingegen einiges im Argen.67 Verfahrensrechtlich festgelegt haben sich Schulz / Held / Kops in ihrem Vorschlag nur auf die Prämisse, die Aufgabe der eigentlichen Durchführung des Tests und die Listenbildung beim Gesetzgeber anzusiedeln. Dies erscheint aber wenig überzeugend. Denn vor dem Hintergrund der explodierenden DiensteEvolution wird eine Liste niemals abschließend sein. Sie müsste laufend aktualisiert werden. Dies ist aber praktisch kaum handhabbar. Für jeden neuen Dienst müsste ein vollständiges Gesetzgebungsverfahren durchlaufen werden. Angesichts der gespaltenen Gesetzgebungszuständigkeit der Länder in Rundfunkfragen und des Bundes für Telekommunikation und Wirtschaft (Telemedien) würde das Verfahren zusätzlich verkompliziert. Der Verfassungsgrundsatz der Bundestreue geböte es, hier zumindest Abstimmungsmechanismen auf Gesetzgebungsebene einzuführen. Dies kann mit erheblichen Verzögerungen verbunden sein. Sowohl die Rundfunkfreiheit als auch das Recht der Unternehmer auf wirtschaftlich klare Rahmenbedingungen machen aber eine frühzeitige Erfassung neuer Dienste erforderlich. IV. Schlussfolgerungen für eine operationalisierbare Dienstedifferenzierung Nach den vorstehenden Ausführungen lassen sich zwei Grundaussagen über eine operationalisierbare Ausgestaltung des Rechts der Multimediadienste treffen: Zum einen ist deutlich geworden, dass Einzelkriterien kaum geeignet sind, Diensteformen kohärent auszudifferenzieren. Insbesondere in den Randbereichen des Rundfunkbegriffs versagen sie eine verlässliche Einordnung. Dies gilt sowohl für technische Kriterien als auch für inhaltliche Angebotsmerkmale. Eine Antwort auf die komplexen Abgrenzungsfragen können daher nur Mischmodelle bieten. Zum anderen ist angesichts der komplexen Ausdifferenzierung der Dienstelandschaft und ihrer ausgeprägten Dynamik eine starke Prozeduralisierung des Einordnungsverfahrens notwendig. Diese Aufgabe beim Gesetzgeber anzusiedeln, erscheint praxis66 Vgl. jüngst die Kontroverse über Marktversagen im Internet: Ralf Deweter / Justus Haucap, Ökonomische Auswirkungen von öffentlich-rechtlichen Angeboten, 2009, S. 3 ff. einerseits und Arnold Picot, Erlöspolitik für Informationsangebote im Internet, Wirtschaftsdienst 2009, S. 643 ff. andererseits. 67 Auch die Autoren sind sich darüber im Klaren und verstehen ihren Zwei-Stufen-Test als Beitrag für „eine Intensivierung des politischen Diskurses und eine Verbesserung des wissenschaftlichen Kenntnisstands ( . . . ), um auch die distributive Leistungsfähigkeit einer marktlichen Bereitstellung von Kommunikationsdiensten in die quantitative Analyse einbeziehen zu können.“; Schulz / Held / Kops, Gewährleistung (Fn. 60), S. 638.
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fern und spiegelt die Realität der Dienstentwicklung nicht hinreichend wider. Eine parlamentarische Kategorisierung einzelner Dienste ist auch rechtsstaatlich nicht zwingend vorgeschrieben. Die Wesentlichkeitstheorie verlangt vom Gesetzgeber nur, dass die vorgreiflichen Wertungsentscheidungen für den Rahmen der Einordnung festgeschrieben werden. Dass bei dieser Lösung auf eine gesetzlich-begriffliche Auflösung der Einordnungsschwierigkeiten von Rundfunk und Telemedien verzichtet wird, ist zu konzedieren. Allerdings liegt dies geradezu in der Natur des von der Verfassung postulierten entwicklungsoffenen und dynamischen Rundfunkbegriffs. Auf gesetzlicher Ebene kann es kaum gelingen, scharfe Abgrenzungskriterien der Meinungsbildungsrelevanz zu entwickeln, die alle auch künftig möglichen Arten elektronischer Inhalte sachgerecht erfassen. Im Ergebnis wird immer eine einzelfallbezogene Beurteilung erforderlich sein, ob bestimmte Inhalte in Umsetzung des grundgesetzlichen Ordnungsauftrags einer rundfunkrechtlichen Regulierung unterworfen werden müssen.68 Insofern ist die Vorgehensweise der Landesmedienanstalten im Grundsatz zu begrüßen. Der von Schulz / Held / Kops entwickelte Zwei-Stufen-Test sollte hierbei nicht als Alternative, sondern komplementär zum bestehenden Verfahren verstanden werden. Er kann eine wissenschaftliche Fundierung für die einzelfallgerechte Einordnung von Diensten bieten und das Verfahren damit rechtsstaatlich noch weiter absichern. Die Vorgaben des BVerfG werden durch die Anknüpfung an die Meinungsbildungsrelevanz des Dienstes dabei passgenau umgesetzt. Schlussendlich lässt sich die vorgeschlagene Lösung auch mit der AMRL vereinbaren. Die Befürchtung, das Gemeinschaftsrecht fordere mit dem Kriterium der Linearität eine rein technisch orientierte Abgrenzung von Rundfunk und Telemedien erweist sich bei näherer Betrachtung als unzutreffend. Bereits in ihrem Ausgangspunkt folgt die AMRL dem Prinzip der Plattformneutralität, d. h. grundsätzlich sollen alle vergleichbaren audiovisuellen Angebote rechtlich gleichbehandelt werden, unabhängig davon, welches Übertragungsmedium genutzt wird (Stichwort: Loslösung der Inhalteregulierung vom Übertragungsmodus69). Zwar 68 Auch im Immissionsschutzrecht sind in der Anlage zum BImSchG nur abstrakte Kriterien für die Bestimmung des Standes der Technik festgeschrieben (z. B. der „Einsatz abfallarmer Technologie“ oder „Fortschritte in der Technologie und in den wissenschaftlichen Erkenntnissen“). 69 Vgl. die Erwägungsgründe 3 und 16 RL 2007 / 65 / EG, ABl. L 332 v. 18. 12. 2007, S. 27 u. 29. Nach Erwägungsgrund 3 sind audiovisuelle Mediendienste gleichermaßen Kultur- und Wirtschaftsdienste. Ihre immer größere Bedeutung für die Gesellschaften, die Demokratie – vor allem zur Sicherung der Informationsfreiheit, der Meinungsvielfalt und des Medienpluralismus –, die Bildung und die Kultur rechtfertigt die Anwendung besonderer Vorschriften auf diese Dienste. Nach Erwägungsgrund 16 sollte für die Zwecke dieser Richtlinie ( . . . ) der Begriff der audiovisuellen Mediendienste lediglich die entweder als Fernsehprogramm oder auf Abruf bereitgestellten audiovisuellen Mediendienste erfassen, bei denen es sich um Massenmedien handelt, das heißt, die für den Empfang durch einen wesentlichen Teil der Allgemeinheit bestimmt sind und bei dieser eine deutliche Wirkung entfalten könnten.
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erfolgt dabei die Unterscheidung zwischen den stärker regulierten Fernsehprogrammen70 und den weniger stark regulierten audiovisuellen Mediendiensten auf Abruf71 primär anhand eines technischen Kriteriums, nämlich der Linearität des Angebots.72 Allerdings ist auch nach europäischem Recht Voraussetzung für einen audiovisuellen Mediendienst (Oberbegriff für Fernsehprogramme und Abrufdienste), dass eine gewisse inhaltlich-redaktionelle Gestaltung und damit im Ergebnis meinungsbildende Relevanz vorliegt. So ist nach der Legaldefinition ein audiovisueller Mediendienst eine Dienstleitung, für die der Anbieter die redaktionelle Verantwortung trägt und deren Hauptzweck die Bereitstellung von Sendungen zur Information, Unterhaltung oder Bildung der allgemeinen Öffentlichkeit ist.73 Schließlich steht es dem nationalen Gesetzgeber gem. Art. 3 AMRL frei, ein höheres Schutzniveau für bestimmte Dienste beizubehalten bzw. einzuführen,74 was einen gewissen Ausgestaltungsspielraum eröffnet. Insoweit ist die Bewertung eines Dienstes nach seiner Relevanz für die Meinungsbildung auch konform mit der europäischen AMRL.
V. Folgen für Innovationen im Mediensektor Nach alldem gilt es abschließend noch zu eruieren, wie sich die Dienstekategorisierung auf die Innovationskraft der Medienlandschaft auswirkt.
1. Innovationsrechtliche Ausgangslage Innovationen im Bereich des Internet werden heute erheblich über die sogenannten Applikationen gesteuert. Die größte Aufmerksamkeit genießen technikgetriebene Innovationen wie YouTube, Twitter, IPTV oder die anderen Spielarten des Web 2.0. Wie aus dem vorstehenden Beitrag deutlich geworden sein sollte, wohnt den innovativen Diensten trotz ihres Technikbezugs regelmäßig ein erhebliches Potential auch für die Meinungsrelevanz inne. Aus diesem Grund lassen sich technische von medieninhaltlichen Innovationen nicht trennschaft unterscheiden. Die neuen Angebote werden dabei überwiegend in den Vereinigten Staaten entwickelt und von dort aus global vermarktet. Die Bundesrepublik spielt hier gegen70 Ein Fernsehprogramm ist ein linearer audiovisueller (Massen-)Mediendienst, d. h. Empfang gleichzeitig durch eine unbestimmte Vielzahl von Empfängern. 71 Ein audiovisueller Mediendienst auf Abruf ist ein nicht-linearer (Massen-)Mediendienst, d. h. der Nutzer kann individuell den Zeitpunkt der Nutzung bestimmen, d. h. keine Gleichzeitigkeit. Vgl. Art. 1 lit g) AMRL. 72 Art. 1 lit. e) AMRL. 73 Art. 1 lit. a) AMRL; hierzu vgl. auch Castendyk / Böttcher, Neuer Rundfunkbegriff? (Fn. 2), S. 14; Schulz, Medienkonvergenz light (Fn. 27), S. 108. 74 Torsten Brand, Rundfunk i. S. d. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG, 2002, S. 26.
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wärtig nur eine geringe Rolle. Eine kohärente Strategie der Innovationsförderung wäre angezeigt, um global wieder konkurrenzfähig zu werden. Zwar lassen sich Innovationen nicht staatlich oktroyieren. Es handelt sich um ein hochsensibles Entwicklungsfeld, das maßgeblich auf die Kreativität und Eigenleistungen der Innovateure angewiesen ist. Es ist daher anzunehmen, dass das traditionell imperative Recht nur begrenzt in der Lage ist, Innovationen zu ermöglichen.75 Jedoch haben Untersuchungen ergeben, dass sich durch bestimmte Rechtssetzungs- und -anwendungsformen Innovationen stimulieren und in ihrer Komplexität steuern lassen.76 Wichtig ist es, eine ausgewogene Balance zwischen Flexibilität, festen Grenzen und richtigen Anreizen zu schaffen. Das richtige Maß variiert je nach Anwendungsfeld, sodass der Regulierungsbaukasten in jedem Referenzgebiet neu anzupassen und zu justieren ist77. Diese Grundannahmen sind prinzipiell auch auf den Mediensektor übertragbar, jedoch bestehen hier aufgrund der Rundfunkfreiheit und ihrer grundlegenden Bedeutung für die Demokratie normative Besonderheiten. Sie spiegeln sich einfachrechtlich in dem Prinzip der abgestuften Regelungsdichte wieder, wonach verschiedene Dienstekategorien unterschiedlichen Public-Service-Verpflichtungen unterworfen sind. Die Erfüllung solcher Verpflichtungen ist mit erheblichen finanziellen Mehraufwendungen verbunden, die sich zumeist nicht durch Werbeeinkünfte refinanzieren lassen und daher für kommerzielle Anbieter uninteressant sind. Auch im Bereich der Innovation von Mediendiensten muss daher dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine wichtige Rolle zugebilligt werden, um die verfassungsrechtlichen Rückbindungen von Medieninnovationen zu gewährleisten.
2. Auswirkungen auf Innovationstätigkeit öffentlich-rechtlicher Anstalten Es ist indes zweifelhaft, ob der gegenwärtige Trend der Diensteausgestaltung diesem Ansatz gerecht wird. Eine möglichst enge Fassung des Rundfunkbegriffs, wie sie im Zuge der Umsetzung der AMRL eingeführt wurde, hat in der Bundesrepublik zur Folge, dass der Wirkungskreis des öffentlich-rechtlichen Rundfunks begrenzt wird. Die Europäische Kommission hat dieses Ziel auch immer offensiv verfolgt. Dies zeigen die Auseinandersetzungen um die beihilfenrechtliche Zulässigkeit der Rundfunkgebühr. Den kommerziellen Anbietern soll hierdurch ein In75 Vgl. nur Wolfgang Hoffmann-Riem, Innovationen durch Recht und im Recht, in: Schulte, Martin (Hrsg.), Technische Innovation und Recht – Antrieb oder Hemmnis?, 1997, S. 3 (7); ders., Risiko und Innvationsrecht im Verbund, DV 2005, S. 145 (155). 76 Pascal Schumacher, Innovationsregulierung im Recht der netzgebundenen Elektrizitätswirtschaft, 2009. 77 Hoffmann-Riem, Risiko und Innovationsrecht (Fn. 75), S. 169; ders., Innovationsoffenheit und Innovationsverantwortung durch Recht. Aufgaben rechtswissenschaftlicher Innovationsforschung, AöR 2006, S. 255 (272).
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novationsraum eröffnet werden, der die europäischen Volkswirtschaften insgesamt voranbringt. Insbesondere der Schutz der Presseunternehmen liegt Brüssel offenbar sehr am Herzen. Denn dies ist neben der Glücksspielindustrie der einzige Sektor, der von der Anwendung der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste freigestellt wird. Die neuen europäischen Leitlinien zur Anwendung des Beihilfenrechts im Bereich des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gestatten neuerdings zwar, dass sich auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Bereich des Internets betätigt und dort seinen Programmauftrag verwirklicht.78 Bisher waren z. B. in der Bundesrepublik nur sendungsbezogene Telemedienaktivitäten erlaubt. Dieser Spielraum wird jedoch sogleich durch bürokratische Hemmnisse wieder erheblich eingeschränkt. Telemedienkonzepte der öffentlich-rechtlichen Anstalten müssen einen Drei-Stufen-Test durchlaufen, in dem insbesondere die marktlichen Auswirkungen der neuen Angebote genau analysiert werden. Dies ist langwierig und mit erheblichen Kosten verbunden. So wird geschätzt, dass allein die Kosten für die erforderlichen marktlichen Gutachten zur Prüfung des derzeitigen Bestandes an Telemedienangeboten mehr als 10 Millionen Euro betragen. Zudem haben die Anstalten zahlreiche neue Stellen geschaffen, die nur mit der Durchführung des Drei-Stufen-Tests beschäftigt sind. Das Testverfahren lässt so eine spontane Reaktion auf den schnelllebigen Telemedienmärkten kaum noch zu. Daher drohen die Anstalten zunehmend als Innovationsmotor auszufallen. Eine Rolle, die sie in der Medienentwicklung der Bundesrepublik immer wieder haben übernehmen können. Medienökonomen warnen demgegenüber immer mehr davor, das Innovationspotenzial der kommerziellen Inhalteanbieter im Internet nicht zu überschätzen. Da die Onlineangebote nahezu ausschließlich durch Werbung finanziert seien, ließen sich ähnliche Marktversagenstatbestände identifizieren, wie sie aus dem Fernsehen seit langem bekannt seien.79 Sie fordern Angebote im Netz, die der Public-ServiceIdee verpflichtet seien. Diese sollen traditionell journalistische Aufgaben wahrnehmen, wie die Sicherung von Qualität und eine angemessene Selektion der Inhalte. Gefordert wird ein sog. Public-Publisher-Modell, bei dem gezielt qualitativ hochstehende Angebote für das Internet bereitgestellt werden.80 Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten können diesen Forderungen nur begrenzt nachkommen. Ihr Auftrag, Telemedien zu verbreiten, ist hierzu viel zu defensiv ausgestaltet. Auch müsste der öffentliche Rundfunk viel stärker als bisher die Aufgaben eines 78 Erwägungsgründe 47 und 81 der Mitteilung 2009 / C 257 / 01 der Kommission über die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, ABl. C 257 vom 27. 10. 2009, S. 1 ff. 79 Deweter / Haucap, Ökonomische Auswirkungen (Fn. 66), S. 3 ff. einerseits und Picot, Erlöspolitik (Fn. 66), S. 643 andererseits. 80 Vgl. hierzu Jürgen Krönig, BBC-Gebühren für Channel 4?, tendenz 01 / 2008, S. 24; ders., Das kleinere Übel – Warum es in England keine „Stiftung Medientest“ geben wird, epd medien 28 / 2008, S. 5 ff.; ders., Der Tabubruch – Großbritannien ist auf dem Weg zum Gebührensplitting, epd medien 49 / 2009, S. 3; Picot, Erlöspolitik (Fn. 66), S. 645 f.
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medialen Archivs wahrnehmen. Dies kann eine wichtige Fundgrube sein, um verfügbare Wissensbestände zu geringen Kosten für Innovationsentwicklungen bereit zu stellen. Es ist nicht einzusehen, dass der Rundfunkstaatsvertrag Verweildauern für bereits ausgestrahlte Sendungen im Netz außerordentlich knapp bemessen hat. Hierzu war die Bundesrepublik auch europarechtlich nicht verpflichtet. In einer Informationsgesellschaft ist es angezeigt, dass den Bürgern ein freier Zugang zu den Inhalten gewährt wird, die sie bereits durch ihre Rundfunkgebühr bezahlt haben. 3. Auswirkungen auf Innovationstätigkeit privater Anbieter Auch die Rahmenvorgaben für kommerzielle Mediendiensteanbieter sind aus innovationsrechtlicher Perspektive nicht optimal ausgestaltet. Auf der europäischen Ebene ist frühzeitig damit begonnen worden, die Internetmärkte von den als restriktiv empfundenen Regulierungstraditionen des Rundfunkrechts freizustellen. Bereits durch die E-Commerce Richtlinie aus dem Jahre 2000 sind die sog. Dienste der Informationsgesellschaft von einer staatlichen Genehmigungspflicht ausgenommen worden.81 Die Anforderungen an die Medieninhalte waren gering und betrafen nur den notwendigen Schutz von Drittbelangen. Diese Maßnahmen sind damit begründet worden, dass der Online-Bereich möglichst von Regulierung freigestellt sein muss, damit er sein Innovationspotenzial voll entfalten könne.82 Nicht Regulierung nach dem Vorbild des Rundfunksektors, sondern die Vorstellung einer Selbstregulierung der Akteure war die herrschende Leitidee in Europa. Die damit einhergehende Ungleichbehandlung vergleichbarer Inhalte je nach Übertragungsweg ist auch aus innovationsrechtlicher Perspektive zu kritisieren. Es ist keinesfalls einsehbar, warum Rundfunkanbieter strikten Standards unterliegen, während ähnliche Angebote im Internet von der Regulierung freigestellt werden. Ob diese Ungleichbehandlung zu Lasten des kommerziellen Rundfunks insgesamt innovationshemmend oder innovationsfördernd war, lässt sich schwer beurteilen. Es ist aber zu vermuten, dass die unterschiedlichen Wettbewerbsbedingungen mit dafür verantwortlich sind, dass die Rundfunkbranche zunehmend gegenüber den Onlineanbietern wie Google Terrain verliert. In den letzten Monaten droht die weitgehende Freistellung der Internetmärkte von Regulierung zu einem Pyrrhussieg auszuarten. Der Zugriff des Staates hat auf 81 Art. 1 Abs. 5 lit. b der Richtlinie 2000 / 31 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 08. 06. 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“), ABl. EU Nr. L 178 vom 17. 07. 2000, S. 1 ff., abrufbar unter: http:// eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri= OJ:L:2000: 178:0001:0016:DE:PDF (zuletzt abgerufen am: 4. 2. 2010). 82 Dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt u. a. das Beispiel China. Dort sind auch Webseiten einer staatlichen Genehmigung unterworfen. Ausführlich Bernd Holznagel / Junqi, Xu / Hart, Thomas, Regulating Telecommunications in the EU and China: What Lessons to be Learned?, 2009.
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diese Märkte in einigen Aufsichtsbereichen erheblich zugenommen. In Frankreich ist gar eine neue Behörde eingerichtet worden, die bei Urheberrechtsverletzungen zu drastischen Mitteln greifen kann.83 Es ist sogar möglich, den einzelnen Nutzer vom Zugang zum globalen Netz abzuschneiden. In der Bundesrepublik sind zur Bekämpfung der Kinderpornographie umfangreiche Sperrmöglichkeiten von Webseiten geschaffen worden.84 Schon bald hat sich aber die Musikindustrie mit der Forderung gemeldet, dass solche Maßnahmen auch bei Urheberrechtsverletzungen zur Anwendung kommen sollen. Derzeit scheint es so, dass die Regulierung von Telemedien zu einem Spielball von Lobbyisten wird. Ungelöst sind auch die Fragen des Datenschutzes im Internet, wie die Auseinandersetzung um Google Street View oder den Persönlichkeitsrechtsverletzungen z. B. bei YouTube zeigen. Aus Sicht einer geordneten Innovationspolitik hätte es näher gelegen, die Medienaufsicht frühzeitig mit diesen Problemen zu befassen und schrittweise geeignete Instrumente zu entwickeln. War es in den 80er und 90er Jahren praktisch unmöglich, einen öffentlichen Diskurs über eine moderate Regulierung dieser Märkte zu führen, droht jetzt in einigen Bereichen eine Überregulierung. Das Beunruhigende an dieser Debatte ist, dass die Maßstäbe der Staatsfreiheit und der Grundrechtssicherung im öffentlichen Diskurs häufig nicht mehr hinreichend gewürdigt werden. Der chinesische Ansatz, unerwünschte Webseiten zu sperren und den öffentlichen Diskurs in diesem Bereich einzuschränken, scheint auch in der westlichen Welt mehr und mehr hoffähig zu werden. Es überrascht, wie schnell die Idee einer unbegrenzten „free flow of ideas and information“ ihre Vorherrschaft eingebüßt hat. Die Auswirkungen dieses Trends für die Innovationsentwicklung dürften negativ sein.
83 Haute Autorité pour la Diffusion des œuvres et la Protection des Droits sur Internet (kurz: Hadopi), vgl. hierzu auch Axel Spies, Frankreich: Eins, zwei drei, das Internet ist weg – oder doch nicht?, MMR 2009, S. 437 f. 84 Vgl. hierzu insb. das Gesetz zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornographischen Inhalten in Kommunikationsnetzen (Zugangserschwerungsgesetz), welches bereits von Bundestag und Bundesrat abgesegnet wurde. Im Rahmen der Koalitionsverhandlungen 2009 beschlossen Union und FDP jedoch, die Internetsperren zunächst auszusetzen und stattdessen eine Löschung von Kinderpornos anzustreben.
Innovationsverantwortung und Haftung im Internet Von Thomas Hoeren I.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
II.
Der Content-Provider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
III. Der Access-Provider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 IV. Der Host-Provider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 V.
Haftung für Links . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 2. Haftung für manuell gesetzte Hyperlinks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 3. Suchdienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
VI. Haftung für sonstige Innovations-Intermediäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 VII. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
I. Einleitung Wer sich unter innovationshemmenden Bedingungen für die Internetwirtschaft umschaut, wird vor allem auf die komplexen Regelungen des Haftungsrechts stoßen. Klare Regeln zur Verantwortlichkeit helfen, Innovationen zu fördern und neue Dienste in ein auch ex-ante klar zu überschauendes Regulierungssystem zu bringen.1 Sind die Regeln zur Haftung unklar, wirkt sich dies automatisch auch innovationshemmend aus. Daher ist es wichtig, das Haftungssystem des Telemediengesetzes genauer zu verstehen, um es dann abschließend kurz im Hinblick auf dessen Auswirkungen zu würdigen. Die Haftung von Providern ist einheitlich im Telemediengesetz (TMG) geregelt. Der früher erforderlichen Differenzierung zwischen Tele- (TDG) und Mediendienst (MDStV) bedarf es nicht mehr. Das TDG stammt ursprünglich aus dem Jahre 1997.2 Es war damals Bestandteil eines größeren Gesetzespakets, dem sog. Informations- und Kommunikationsdienstegesetz (IuKDG). Es musste später auf1 s. dazu auch Anne Röthel, Zuweisung von Innovationsverantwortung durch Haftungsregeln, in: Eifert, Martin / Hoffmann-Riem, Wolfgang (Hrsg), Innovationsverantwortung, Berlin 2009, S. 335 ff. 2 BGBl. I 2001, S. 1870.
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grund der Vorgaben der E-Commerce-Richtlinie novelliert werden.3 Die aktuellste Fassung, enthalten im sog. Elektronischen Geschäftsverkehr-Gesetz (EGG), ist in ihren wesentlichen Teilen zum 21. 12. 2001 in Kraft getreten.4 Die für die Haftung relevanten §§ 8 – 11 TDG bzw. §§ 6 – 9 MDStV wurden inhaltsgleich in das TMG übernommen. Im TMG werden vier Arten von Diensteanbietern genannt. § 7 TMG erfasst Diensteanbieter, die eigene Informationen zur Nutzung bereithalten, § 8 TMG Diensteanbieter, die fremde Informationen übermitteln oder den Zugang zu ihrer Nutzung vermitteln. Einen Unterfall dieser Diensteanbieter stellen diejenigen dar, die gem. § 9 TMG fremde Informationen automatisch, zeitlich begrenzt zwischenspeichern, um die Übermittlung der fremden Informationen effizienter zu gestalten. Schließlich behandelt § 10 TMG Diensteanbieter, die fremde Informationen für den Nutzer speichern. Das Gesetz unterscheidet damit zwischen drei verschiedenen Providern: dem Content-Provider (§ 7 Abs. 1 TMG), dem Access-Provider (§§ 8, 9 TMG) und dem Host-Provider (§ 10 TMG).
II. Der Content-Provider Der Content-Provider, also derjenige, der eigene Informationen zur Nutzung bereithält, ist ein Informationslieferant. Bietet er eine Homepage im Internet an, muss er für deren Inhalt einstehen. Ihm werden insofern zu Recht die Innovationsrisiken voll zugewiesen. Das TMG verweist in § 7 Abs. 1 deklaratorisch auf die „allgemeinen Gesetze“. Die E-Commerce-Richtlinie und das EGG änderten diese Rechtslage nicht. Es bleibt beim Grundsatz der Haftung des Content-Providers nach den allgemeinen Gesetzen. Nach allerdings zweifelhafter Auffassung des LG Hamburg5 gehören zu den eigenen Informationen auch solche, für deren Verbreitung der Betreiber einer Internetseite seinen eigenen Internetauftritt zur Verfügung stellt. Unbeachtlich sei dabei, dass eine dritte Person die konkrete Information eingestellt hat. Dies sei die Folge des Umstandes, dass der Inhaber der jeweiligen Internetdomain diejenige Person ist, die für die Inhalte, die über den betreffenden Internetauftritt verbreitet werden, die rechtliche Verantwortung trägt. Von eigenen Informationen könne erst dann nicht mehr gesprochen werden, wenn sich der Website-Inhaber von der betreffenden Äußerung nicht pauschal, sondern konkret und ausdrücklich distanziert. 3 Georg M. Bröhl, Gesetz über rechtliche Rahmenbedingungen des elektronischen Geschäftsverkehrs – Erläuterungen zum Referentenentwurf, MMR 2001, S. 67 ff. 4 BGBl. I 2001, S. 3721; s. dazu auch Bröhl, Rahmenbedingungen (Fn. 3), S. 67 ff.; Niko Härting, Gesetzesentwurf zur Umsetzung der E-Commerce-Richtlinie, CR 2001, S. 271 ff.; Gerald Spindler, Der Entwurf zur Umsetzung der E-Commerce-Richtlinie, ZRP 2001, S. 203 ff. 5 LG Hamburg, Urteil v. 27. 04. 2007, Az. 324 O 600 / 06 – MMR 2007, 450 ff.
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Ein solches „Zueigenmachen“ soll im Übrigen vorliegen, wenn sich der Diensteanbieter mit den fremden Inhalten derart identifiziert, dass er die Verantwortung insgesamt oder für bewusst ausgewählte Teile davon übernimmt. Entscheidende Kriterien sind die Art der Datenübernahme, ihr Zweck und die konkrete Präsentation der Inhalte durch den Übernehmenden, wobei es hier auf die Gesamtschau des jeweiligen Angebots aus der Perspektive eines objektiven Betrachters ankommt.6 Zu beachten ist hier insbesondere die deliktsrechtliche Haftung für die Rechtmäßigkeit des Inhalts (etwa in Bezug auf Urheberrechtsverletzungen). Hier treffen den Content-Provider sehr hohe Sorgfaltspflichten. Er kann sich z. B. nicht darauf verlassen, dass der Rechteinhaber mit dem Bereitstellen seiner Software im Internet einverstanden ist. Er muß vielmehr prüfen, ob der Berechtigte das Programm zur öffentlichen Zugänglichmachung freigegeben hat.7
III. Der Access-Provider Beim Access-Provider greifen §§ 8, 9 TMG ein, die Art. 12 der E-CommerceRichtlinie umsetzen. Hiernach ist der Diensteanbieter für die Durchleitung von Informationen von der Verantwortlichkeit freigestellt. Eine Durchleitung liegt aber nur vor, wenn es um die Weiterleitung von Nutzerinformationen oder um die Zugangsvermittlung zu einem Kommunikationsnetz geht. Die Übermittlung darf nicht vom Diensteanbieter selbst veranlasst worden sein; nur passive, automatische Verfahren sind privilegiert (Erwägungsgrund 42 der Richtlinie). Sonderbestimmungen regeln das Caching (§ 9 TMG). Besonders problematisch ist der Hinweis in § 7 Abs. 2 S. 2 TMG, wonach Verpflichtungen zur Entfernung oder Sperrung nach den allgemeinen Gesetzen unberührt bleiben. Durch diesen im Widerspruch zur E-Commerce-Richtlinie integrierten Hinweis wird über die Hintertür wieder eine unkonturierte Verantwortlichkeit der Access-Provider heraufbeschworen. Dabei ist besonders fatal, dass die früher im TDG enthaltenen Hinweise auf die technische Möglichkeit und wirtschaftliche Zumutbarkeit der Sperrung nicht mehr im Gesetz enthalten sind. Man könnte das so interpretieren, dass Access-Provider uneingeschränkt zur Sperrung aufgrund von behördlichen oder gerichtlichen Unterlassungsanordnungen verpflichtet werden könnten. Hier gilt jedoch auch der Grundsatz des „impossibilium nemo obligatur“. Wenn ein Access-Provider nicht sperren kann, kann man dies auch nicht von ihm verlangen. Versuche, die AccessProvider zur Sperrung zu verpflichten, gingen daher bislang ins Leere. Denn zum Beispiel eine DNS-Sperre kann durch bloße Eintragung eines anderen DNS-Servers spielend umgangen werden. Im Übrigen steht der Access-Provider nur am äußersten Ende der Innovationskette. Er bietet Infrastruktur und Telekommunikationsdienste und ist insofern nicht primär an Innovationsrisiken beteiligt. Insofern wird er im Kern als Nicht-Störer und Nicht-Täter behandelt. 6 7
KG Berlin, Beschluss v. 10. 07. 2009, Az. 9 W 119 / 08 – AfP 2009, 600 ff. BGH, Urteil v. 20. 05. 2009, Az. I ZR 239 / 06 – WRP 2009, 1143 ff.
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Der Freiraum für die Access-Provider wird allerdings aufgrund des Drucks der Content-Industrie immer enger. Die Industrie will die Access-Provider zwingen, den Zugang zu missliebigen Downloadmöglichkeiten im Ausland zu sperren und Auskunft über die Identität der Nutzer, insbesondere von P2P-Diensten, zu geben. Art. 8 Abs. 3 der InfoSoc-Richtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten auch effektive Schutzmaßnahmen gegen Access-Provider im Kampf gegen Piraterie vorsehen müssen. Daraus wird eine entsprechende Sperrungs- und Auskunftsverpflichtung der Access-Provider abgeleitet. Das BMJ plante im Zuge des zweiten Korbs eine solche Verpflichtung ausdrücklich im UrhG zu verankern. Wie gezeigt, wird nunmehr mit der Umsetzung von Art. 8 Abs. 1 lit. c) der Enforcement-Richtlinie (2004 / 48 / EG) ein Auskunftsanspruch gegen die Access-Provider in § 101 Abs. 2 UrhG eingeführt. Die Gerichte sehen allerdings de lege lata eine Sperrungspflicht des Access-Providers als nicht gegeben an.8 Zum einen seien die Provider weder Täter noch Teilnehmer in Bezug auf die vorgenommenen Zuwiderhandlungen, da sie auf die Webseiten mit den inkriminierenden Inhalten keinen Zugriff haben. Zum anderen käme auch eine Haftung als so genannter mittelbarer Störer nicht in Betracht. Nach dieser Rechtsfigur kann neben einer eigenverantwortlich handelnden Person auch derjenige auf Unterlassung in Anspruch genommen werden, der willentlich und adäquat kausal an einer Rechtsverletzung mitwirkt. Eine solche Haftung sah das LG Kiel aufgrund der fehlenden rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeit der Provider zur Verhinderung der Rechtsverletzungen als nicht gegeben an. In rechtlicher Hinsicht fehlte es an einer vertraglichen Beziehung zu den Anbietern. In tatsächlicher Hinsicht könne die Sperrung durch einzelne Provider aufgrund der leichten Umgehbarkeit den Zugriff auf die Inhalte weder verhindern noch erschweren. Insbesondere können sie wegen fehlender Zumutbarkeit der Sperrung (insbesondere einer technisch unzureichenden DNS-Sperre) nicht auf Unterlassung in Anspruch genommen werden.9
IV. Der Host-Provider Schwieriger ist die Rechtslage bei fremden Inhalten, die Provider zur Nutzung bereithalten, also speichern (sog. Host-Providing). Sie sollten für diese nach dem Wortlaut des alten TDG (§ 5 Abs. 2 a. F.) („nur . . . wenn“) grundsätzlich nicht verantwortlich sein. Eine Ausnahme galt nur, wenn dem Anbieter die Inhalte bekannt sind und es ihm technisch möglich und zumutbar ist, ihre Verbreitung zu verhin8 OLG Frankfurt, Beschluss v. 22. 01. 2008, Az. 6 W 10 / 08 – CR 2008, 242 ff.; LG Frankfurt, Urteil v. 05. 12. 2007, Az. 2-03 O 526 / 07 – MMR 2008, 121 ff.; LG Frankfurt, Urteil v. 08. 02. 2008, Az. 3-12 O 171 / 07 – MMR 2008, 344 ff.; LG Düsseldorf, Urteil v. 13. 12. 2007, Az. 12 O 550 / 07 – MMR 2008, 349 ff.; LG Kiel, Urteil v. 23. 11. 2007, Az. 14 O 125 / 07 – MMR 2008, 123 ff.; a. A. zu Urheberrechtsverletzungen LG Köln, Urteil v. 12. 09. 2007, Az. 28 O 339 / 07 – ZUM 2007, 872 ff. 9 LG Hamburg, Urteil v. 12. 11. 2008, Az. 308 O 548 / 08 – ZUM 2009, 587 ff.
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dern. Ausweislich der amtlichen Begründung des Gesetzgebers zu § 5 Abs. 2 TDG a. F. sollte eine Haftung des Diensteanbieters also nur gegeben sein, wenn er die fremden rechtswidrigen Inhalte bewusst zum Abruf bereithält. Ähnlich ist nun der Wortlaut des TMG formuliert. Der Host-Provider wird insofern erst einmal innerhalb der Innovationskette dem Access-Provider (s. o.) gleichgestellt; nur für einen engen technisch-kognitiven Bereich eigener Zugriffsrechte werden ihm Verkehrspflichten auferlegt. Nach § 10 TMG sind Diensteanbieter für fremde Informationen, welche sie für einen Nutzer speichern, nicht verantwortlich, sofern sie keine Kenntnis von der rechtswidrigen Handlung oder der Information haben und ihnen im Falle von Schadensersatzansprüchen auch keine Tatsachen oder Umstände bekannt sind, aus denen die rechtswidrige Handlung oder die Information offensichtlich wird oder sofern sie bei Kenntniserlangung unverzüglich tätig geworden sind, um die Information zu entfernen oder den Zugang zu ihr zu sperren. Entscheidend ist das Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale „Kenntnis“ und „offensichtliche“ Rechtswidrigkeit. Der Anspruchsteller trägt die volle Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Kenntnis.10 Damit soll die Haftung der Host-Provider auf Vorsatzstraftaten und -delikte beschränkt werden. Das OLG Düsseldorf verneint deshalb die Überprüfungspflichten des Host Providers und sieht eine Haftung erst ab Kenntnis der Rechtswidrigkeit als begründet an.11 Jedoch kann das Haftungsprivileg gem. § 10 S. 1 TMG unanwendbar sein, insbesondere wenn ein Unterlassungsanspruch gegen den Anbieter besteht. Dies gilt sowohl für den auf eine bereits geschehene Verletzung gestützten12 als auch den vorbeugenden Unterlassungsanspruch13. Fraglich ist, wann von einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit ausgegangen werden kann. Rechtsverletzungen rund um Werbung und Allgemeine Geschäftsbedingungen sollen nach Auffassung des österreichischen OGH14 bei weitem das übersteigen, was für einen juristischen Laien ohne weitere Nachforschungen offenkundig als rechtswidrig erkennbar ist. Host-Provider können daher mit wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsansprüchen nur dann in Anspruch genommen werden, wenn Rechtsverletzungen durch ihre Kunden für juristische Laien ohne weitere Nachforschungen offenkundig sind. 10 BGH, Urteil v. 23. 09. 2003, Az. VI ZR 335 / 02 – MMR 2004, 166 ff. zu § 5 Abs. 2 TDG a. F. gegen Gerald Spindler, Haftungsrechtliche Grundprobleme der neuen Medien, NJW 1997, S. 3193 (3198); sowie auch Gerald Spindler, Das Gesetz zum elektronischen Geschäftsverkehr – Verantwortlichkeit der Diensteanbieter und Herkunftslandprinzip, NJW 2002, S. 921 (925). 11 OLG Düsseldorf, Urteil v. 17. 03. 2006, Az. 6 U 163 / 05 – CR 2006, 682 ff. 12 BGH, Urteil v. 11. 03. 2004, Az. I ZR 304 / 01 („Internet Versteigerung I“) – CR 2004, 763 ff. m. Anm. Volkmann. 13 BGH, Urteil v. 19. 04. 2007, Az. I ZR 35 / 04 („Internet Versteigerung II“) – CR 2007, 523 ff. m. Anm. Rössel. 14 ÖOGH, Urteil v. 06. 07. 2004, Az. 4 Ob 66 / 04s („megasex.at“) – MMR 2004, 807 ff.
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Mit der Regelung des § 10 TMG konterkariert der Gesetzgeber seine eigenen Bemühungen, die Provider zur innerbetrieblichen oder verbandsseitigen Selbstkontrolle zu verpflichten. Denn wenn die bloße Kenntnis vom Inhalt als subjektives Element ausreichen soll, wird niemand daran Interesse haben, Personal mit der Sichtung des Online-Angebots zu beauftragen. Er wird vielmehr auf jedwede Selbstkontrolle verzichten – getreu dem Motto: Nichts gesehen, nichts gehört. Auch das LG München hat dieses Problem gesehen. Seiner Auffassung nach würden bei der amtlichen Auslegung des TMG sowohl Art. 14 GG als auch die Regelungen in Art. 8, 10 und 14 WIPO-Vertrag unterlaufen. Selbst „bewusstes Wegschauen“ würde zu einem Haftungsausschluss führen. Dies könne nicht zugelassen werden.15 Das Landgericht fordert, Prüfungspflichten hinsichtlich der die Rechtswidrigkeit begründenden Umstände aufzunehmen. Es hätte sich auch angeboten, wenigstens für die Fälle eine Prüfungspflicht zu bejahen, in denen ein Verstoß gegen Strafgesetze nahe liegt (etwa bei der Bezeichnung einer Newsgroup als „alt. binaries.children-pornography“). Eine solche Prüfungspflicht bei eklatanter Missbrauchsgefahr hätte auch der geltenden Rechtslage im Zivil- und Strafrecht entsprochen. Art. 15 Abs. 1 der E-Commerce-Richtlinie sieht jedoch ausdrücklich von einer Prüfungspflicht ab. § 10 TMG stellt für das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit auf grobe Rechtsverstöße ab. Die bloße Tatsache, dass ein Rechenzentrumsmitarbeiter eine Newsgroup gesichtet hat, heißt ja noch nicht, dass er deren Inhalt richtig, d. h. als Rechtsverstoß, bewerten kann. Zumindest für die zivilrechtliche Haftung schließt Vorsatz neben dem Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung auch das Bewusstsein von der Rechtswidrigkeit des Angebots mit ein. Da diese Wertung gerade im fließenden E-Commerce-Recht schwierig zu ziehen ist, hat es der Gesetzgeber bei Schadensersatzansprüchen für erforderlich erachtet, dass der Anbieter sich der Tatsachen und Umstände bewusst ist, aus denen die rechtswidrige Information offensichtlich wird.16 V. Haftung für Links 1. Überblick Die haftungsrechtliche Einordnung von Hyperlinks17 fällt schon allein deshalb schwer, da sich diese elektronischen Verweise weder einer der drei zuvor beschriebenen Gruppen des TMG zuordnen lassen noch in der E-Commerce-Richtlinie hierzu Regelungen vorgesehen sind. Diese (bewusste) Regelungslücke liegt darin LG München I, Urteil v. 30. 03. 2000, Az. 7 O 3625 / 98 – MMR 2000, 431 (434). Falsch ist m. E. die Auffassung von Alexander Tettenborn u. a., Beilage K&R 12 / 2001, S. 1 (32), wonach durch diese Formulierung eine Haftung für grob fahrlässige Unkenntnis eingeführt worden sei. 17 Vgl. z. B. schon früh LG Hamburg, Urteil v. 12. 05. 1998, Az. 312 O 85 / 98 – CR 1998, 565 ff.; AG Berlin-Tiergarten, Beschluss v. 30. 06. 1997, Az. 260 Ds 857 / 96 – CR 1998, 111 ff. m. Anm. Vassilaki. 15 16
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begründet, dass sich das TMG wie auch die E-Commerce-Richtlinie hinsichtlich der Haftung von Akteuren im Internet auf die Regelung von Haftungsprivilegierungen für das Access- und Hostproviding sowie das Caching beschränken und sich Hyperlinks oder Suchdienste nicht unter die vorstehend bereits erläuterten Kategorien subsumieren lassen. Zu beachten ist, dass ein Hyperlink als solcher nie eine Haftung auslösen kann, denn dieser ist dem Grunde nach nur eine elektronische Verknüpfung bzw. eine technische Referenz innerhalb eines HTML-Textes. Entscheidend ist daher – zumindest beim manuellen Hyperlinking – grundsätzlich die inhaltliche Aussage, die mit dem Link unter Berücksichtigung seines Kontextes verbunden ist. So betonte auch schon das AG Berlin-Tiergarten18 als erstes Gericht in Deutschland zutreffend, dass sich die Verantwortlichkeit des Link-Setzers nach der mit dem Link getroffenen Gesamtaussage richte. In dem Fall des vorgenannten Amtsgerichts ging es um die Abgeordnete Angela Marquardt, die einen Link auf einen niederländischen Server gesetzt hatte, auf dem sich die strafrechtlich verbotene Zeitschrift „Radikal“ befand. Der Generalbundesanwalt hatte die Bundestagsabgeordnete der Beihilfe zur Bildung einer terroristischen Vereinigung angeklagt und sah in dem Link auf die Zeitschrift den entscheidenden Unterstützungsbeitrag. Dieser Ansicht hat sich das Amtsgericht nicht angeschlossen. Strafrechtlich relevant sei nur eine konkrete Ausgabe der Zeitschrift „Radikal“ gewesen. Es hätten sich aber keine Feststellungen darüber treffen lassen, ob und vor allem wann die Angeklagte von der Einspeisung der rechtswidrigen Ausgabe Kenntnis erlangt habe. Die bloße Weiterexistenz des Links könne eine Strafbarkeit jedenfalls dann nicht begründen, wenn nicht positiv festgestellt werden könne, dass die Angeklagte den Link bewusst und gewollt in Kenntnis des Inhalts und der Existenz der Ausgabe weiter aufrechterhielt. Unter dem Gesichtspunkt der Ingerenz könne an das Unterlassen einer regelmäßigen Überprüfung des eigenen Links allenfalls der Fahrlässigkeitsvorwurf erhoben werden, der hier allerdings nicht relevant sei. Das (kurze) Urteil des Amtsgerichts verweist auf die entscheidende Frage, welchen Aussagegehalt der Link haben kann. Solidarisiert sich jemand mit dem rechtswidrigen Inhalt eines anderen durch das Setzen eines Links, ist er so zu behandeln, als sei er ein Content-Provider.19 Folglich greift in diesem Fall für das Setzen eines Hyperlinks keine Privilegierung, sondern es gilt der Grundgedanke des § 7 Abs. 1 TMG. Es besteht eine Haftung nach allgemeinen Grundsätzen: der Link-Setzer haftet für die gelinkten Inhalte so, als wären es seine eigenen. Anders ist der Fall zu beurteilen, wenn sich jemand den fremden Inhalt nicht (inhaltlich) zu eigen macht. Setzt mithin jemand – etwa aus wissenschaftlichem Interesse heraus – einen Link auf fremde Webseiten und Inhalte ohne jedweden 18 AG Berlin-Tiergarten, Beschluss v. 30. 06. 1997, Az. 260 Ds 857 / 96 – CR 1998, 111 ff. m. Anm. Vassilaki. 19 s. dazu etwa den Fall des OLG München, Urteil v. 06. 07. 2001, Az. 21 U 4864 / 00 – ZUM 2001, 809 ff. In dem zu Grunde liegenden Fall wurden Links mit Namensnennungen kombiniert, wobei der gelinkte Inhalt eine üble Nachrede im Sinne des § 186 StGB enthielt.
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Solidarisierungseffekt, ist er grundsätzlich ähnlich wie ein Access-Provider zu beurteilen, so dass die Wertungen von § 8 TMG zum Tragen kommen. Ein Grundsatzurteil ist hier die Entscheidung des LG Hamburg20 bezüglich einer LinkSammlung zu den sog. Steinhöfel-Hassseiten. Der betroffene Anwalt nahm den Link-Setzer wegen Ehrverletzung in Anspruch. Das LG Hamburg verurteilte den Webseitenbetreiber, weil dieser sich nicht hinreichend von den ehrverletzenden Äußerungen Dritter distanziert hatte, und sich daher dieselben durch die Bereithaltung der Links zu Eigen gemacht habe. Allerdings hat sich die Rechtsprechung inzwischen auch hier ausdifferenziert. So soll zum Beispiel ein Link von einem privaten Internetanbieter auf eine fremde Website keine Haftung auslösen.21 Für sog. „Downloadlinks“ wird dagegen eine Haftung bejaht.22 Die Haftung kann auch soweit gehen, dass wegen Förderung fremden Wettbewerbs für einen Link auf die nach deutschem Recht wettbewerbswidrigen Seiten der amerikanischen Muttergesellschaft gehaftet wird.23 Auch wird teilweise eine Internetverkehrssicherungspflicht dahingehend bejaht, dass der Verwender eines Links auch für das Risiko hafte, dass die Verweisungsseite nachträglich geändert wird.24 Zur Klarstellung der Rechtslage wird vereinzelt eine ausdrückliche Regelung im TMG in Form einer Haftungsprivilegierung für Hyperlinks gefordert.25 2. Haftung für manuell gesetzte Hyperlinks26 Das OLG Hamburg27 hat die Auffassung vertreten, dass die Schaltung eines Werbebanners nicht unter das TMG falle und auch das Haftungsregime der E-Commerce-Richtlinie nicht passe. Durch die mit dem Banner verbundene Werbung könne jedoch der Werbende als Mitstörer angesehen werden, selbst wenn das beworbene Internetangebot vom Ausland aus betrieben werde. Diese Regeln seien nicht nur für Banner, sondern auch für (manuell gesetzte) Links einschlägig. Nach dem „Schöner Wetten“-Urteil des BGH28 sollen dagegen zumindest Presseorgane nicht für Hyperlinks auf rechtswidrige Angebote haften, soweit diese als ErLG Hamburg, Urteil v. 12. 05. 1998, Az. 312 O 85 / 98 – CR 1998, 565 ff. OLG Schleswig, Urteil v. 19. 12. 2000, Az. 6 U 51 / 00 – K&R 2001, 220 ff. 22 LG Braunschweig, Urteil v. 06. 09. 2000, Az. 9 O 188 / 00 (027), 9 O 188 / 00 – CR 2001, 47 f. 23 OLG München, Urteil v. 15. 03. 2002, Az. 21 U 1914 / 02 – MMR 2002, 625 ff. 24 So das OLG München, Urteil v. 15. 03. 2002, Az. 21 U 1914 / 02 – MMR 2002, 625 ff.; ausführlich zu dieser Entscheidung Mischa Dippelhofer, JurPC Web-Dok. 304 / 2002. 25 Igor Stenzel, Ergänzung der Reform der Telemedien um eine Haftungsprivilegierung für Hyperlinks notwendig, MMR 9 / 2006, S. V. 26 s. dazu auch unter www.linksandlaw.de (zuletzt abgerufen am 12. 02. 2010). 27 OLG Hamburg, Urteil v. 05. 06. 2002, Az. 5 U 74 / 01 – CR 2003, 56 ff. 28 BGH, Urteil v. 01. 04. 2004, Az. I ZR 317 / 01 („Schöner Wetten“) – CR 2004, 613 ff. m. Anm. Dietlein; ähnlich LG Deggendorf, Urteil v. 12. 10. 2004, Az. 1 S 36 / 04 – CR 2005, 130 ff. 20 21
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gänzung eines redaktionellen Artikels ohne Wettbewerbsabsicht gesetzt werden und der Inhalt der verlinkten Seite nicht eindeutig als strafbar zu erkennen ist. Wer einen Link auf ein nach § 284 StGB im Inland unerlaubtes Glücksspielangebot setze, handele nicht zwingend in Wettbewerbsabsicht. Als Mitstörer einer Wettbewerbsrechtsverletzung hafte der Linksetzende nur dann, wenn er bei der Einrichtung und Aufrechterhaltung des Links zumutbare Prüfungspflichten verletzt habe. Eine Ergänzung redaktioneller Inhalte durch einen Link, der auf nicht offensichtlich rechtswidrige Inhalte verweist, begründe wegen Art. 5 GG noch keine Störerhaftung. Das Urteil ist allerdings – wie das fälschlicherweise als Suchmaschinen-Entscheidung bekannt gewordene „Paperboy“-Urteil des BGH29 – spezifisch presserechtlich ausgerichtet. Der BGH hat in dem für das Urheberrecht richtungweisenden Urteil entschieden, dass durch das Setzen von Hyperlinks zu einer Datei auf einer fremden Webseite mit einem urheberrechtlich geschützten Werk grundsätzlich nicht in das Vervielfältigungsrecht an diesem Werk eingegriffen werde. Ein Berechtigter, der ein urheberrechtlich geschütztes Werk ohne technische Schutzmaßnahmen im Internet öffentlich zugänglich mache, ermögliche nach Ansicht des Gerichts vielmehr dadurch bereits selbst die Nutzungen, die ein Abrufender vornehmen könne. Es werde deshalb grundsätzlich schon kein urheberrechtlicher Störungszustand geschaffen, wenn der Zugang zu dem Werk durch das Setzen von Hyperlinks (auch in der Form von Deep Links) erleichtert würde. Für andere Bereiche gilt dagegen grundsätzlich eine nicht privilegierte Linkhaftung. Wer also mittels Werbebanner auf die Seiten anderer Unternehmen verlinkt, soll nach Auffassung des OLG Hamburg30 als wettbewerbsrechtlicher Mitstörer für die Rechtswidrigkeit der gelinkten Inhalte verantwortlich sein. Dies gilt zumindest dann, wenn das linksetzende Unternehmen damit wirbt, vor Schaltung eines Links die beworbene Seite auf Rechtsverletzungen zu prüfen. Das LG Berlin31 hat der Betreiberin eines Webportals untersagt, mittels eines Links im geschäftlichen Verkehr urheberrechtlich geschützte Lieder einer bestimmten Gruppe im MP3-Format öffentlich zugänglich zu machen. Die Richter meinten, dass die Antragsgegnerin für die Rechtsverletzungen als Störerin unabhängig vom Verschulden allein deshalb hafte, weil sie über die tatsächliche und rechtliche Möglichkeit verfügte, den Eingriff in das fremde Recht durch Entfernung des Links zu unterbinden. Aus einem auf der Website erwähnten Haftungsausschluss folge nichts anderes. Diese Klausel sei ihrem Inhalt nach auf Schadensersatzansprüche zugeschnitten, die nicht Gegenstand des Verfahrens sind. Die Antragsgegnerin könne daraus für sich kein Recht auf Fortsetzung einer als unrechtmäßig erkannten Handlungsweise ableiten. Ähnlich argumentierte das VG Berlin 29 BGH, Urteil v. 17. 07. 2003, Az. I ZR 259 / 00 („Paperboy“) – NJW 2003, 3406; Thomas Hoeren, Keine wettbewerbsrechtlichen Bedenken mehr gegen Hyperlinks? – Anmerkung zum BGH-Urteil „Paperboy“ – GRUR 2004, S. 1 ff. 30 OLG Hamburg, Urteil v. 14. 07. 2004, Az. 5 U 160 / 03 – MMR 2004, 822 ff. 31 LG Berlin, Urteil v. 14. 06. 2005, Az. 16 O 229 / 05 – MMR 2005, 718 ff.
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für Links einer Studentenschaft, soweit diese auf Websites mit allgemeinpolitischem Inhalt verweisen.32 Nach Auffassung des LG Karlsruhe33 ist eine Hausdurchsuchung gerechtfertigt, wenn jemand einen Link auf kinderpornographische Seiten setzt. Strafbar macht sich der Betreiber einer Website bereits dadurch, dass er einen gezielten Link auf eine Internetseite mit derartigen Inhalten setzt und sich diese zu einem eigenen Inhalt macht. Aufgrund der netzartigen Struktur des World Wide Web ist „jeder einzelne Link ( . . . ) kausal für die Verbreitung krimineller Inhalte, auch wenn diese erst über eine Kette von Links anderer Anbieter erreichbar sind“. Das LG Stuttgart34 hat entschieden, dass das Setzen von Links auf ausländische, in Deutschland strafbare Webseiten mit rechtsradikalem Gedankengut nicht strafbar ist. Voraussetzung sei jedoch, dass sich der Linksetzende von den dortigen Inhalten distanziere und die Verlinkung Teil einer Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens ist. Das OLG Köln35 hielt es für zumutbar, einen Sharehoster dazu zu verpflichten, Linksammlungen, die auch auf seiner Seite befindliche Links auflisten, manuell zu überprüfen, wenn diese Links zu einem rechtswidrigen Inhalt führen und der Diensteanbieter zuvor darauf aufmerksam gemacht worden ist. Nach Auffassung des LG München36 geht es zu weit, die Störerhaftung auf Fälle auszudehnen, in denen ein nicht kausaler, aber irgendwie auch unterstützender Effekt für Urheberrechtsverstöße von Dritten von einer Handlung ausgeht, die der Betreffende nach Bekanntgabe nicht ausreichend unterbunden hat (hier: Link auf Raubkopie eines Films bei VodPod trotz Hinweises auf dessen Rechtswidrigkeit). Verboten ist jedoch die umfangreiche Verbreitung von Downloadlinks bei Rapidshare.37 Das LG München38 und das OLG München39 haben den Rechtsstreit von acht Unternehmen der Musikindustrie gegen den Heise Zeitschriften Verlag entschieden. Anlass des Verfahrens war eine Meldung von heise online über die neue Version einer Software zum Kopieren von DVDs. Dieser Beitrag enthielt in der Originalversion neben einer kritischen Würdigung der Angaben des Softwareherstellers Slysoft auch einen Link auf die Website des Unternehmens. Nach Ansicht der Münchener Richter hat heise online durch das Setzen des Links auf die EingangsVG Berlin, Beschluss v. 01. 11. 2004, Az. 2 A 113 / 04 – MMR 2005, 63 ff. LG Karlsruhe, Beschluss v. 26. 03. 2009, Az. Qs 45 / 09 – MMR 2009, 418 ff. 34 LG Stuttgart, Urteil v. 15. 06. 2005, Az. 38 Ns 2 Js 21471 / 02 – CR 2005, 675 ff.; s. auch die Berufungsinstanz OLG Stuttgart, Urteil v. 24. 04. 2006, Az. 1 Ss 449 / 05 – CR 2006, 542 ff. m. Anm. Kaufmann. 35 OLG Köln, Urteil v. 21. 09. 2007, Az. 6 U 86 / 07 – MMR 2007, 786 ff. 36 LG München I, Beschluss v. 31. 03. 2009, Az. 21 O 5012 / 09 – MMR 2009, 435 ff. 37 LG Hamburg, Urteil v. 12. 06. 2009, Az. 310 O 93 / 08 – ZUM 2009, 863 ff. 38 LG München I, Urteil v. 05. 12. 2003, Az. 5 U 2546 / 02 – CR 2005, 460 ff. m. Anm. Lejeune; LG München I, Urteil v. 07. 03. 2005, Az. 21 O 3220 / 05 – MMR 2005, 385 ff. m. Anm. Hoeren; ähnlich in der Hauptsache LG München I, Urteil v. 14. 11.2007, Az. 21 O 6742 / 07 – MMR 2008, 192 ff. 39 OLG München, Urteil v. 28. 07. 2005, Az. 29 U 2887 / 05 – MMR 2005, 768 ff. 32 33
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seite der Unternehmenspräsenz vorsätzlich Beihilfe zu einer unerlaubten Handlung geleistet und hafte daher als Gehilfe gemäß § 830 BGB wie der Hersteller selbst. Dem stehe nicht entgegen, dass ein Download der Software erst mit zwei weiteren Klicks möglich sei. Maßgeblich sei allein, dass die Leser der Meldung über den gesetzten Link direkt auf den Internetauftritt geführt würden. Auch sei es nicht relevant, dass die Leser das Produkt auch über eine Suchmaschine finden könnten. Durch das Setzen des Links werde das Auffinden „um ein Vielfaches bequemer gemacht“ und damit die Gefahr von Rechtsgutverletzungen erheblich erhöht. Der Verlag könne sich zur Rechtfertigung der Linksetzung nicht auf die Pressefreiheit durch Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG berufen. Diese finde in den entsprechenden Vorschriften des Urheberrechts eine wirksame Einschränkung und müsse im vorliegenden Fall gegenüber den Eigentumsinteressen der Musikindustrie zurückstehen.
3. Suchdienste Wie eingangs schon angemerkt, gibt es im TMG auch für Suchdienste keine einschlägigen Vorschriften. Die Haftungsprivilegierungen der §§ 8 – 10 TMG sind vielmehr – mangels planwidriger Regelungslücke auch nicht analog40 – auf den Betrieb einer Suchmaschine nicht anwendbar: Der bei Suchdiensten automatisch generierte Link auf Trefferlisten selbst lässt sich nicht unter § 7 Abs. 1 TMG subsumieren, da es bei diesem technischen Verweis an einem eigenen Inhalt fehlt. Die neben dem bloßen Link vorgesehenen Kurzbeschreibungen auf den Trefferseiten von Navigationshilfen sind vielmehr in der Regel von der verlinkten Seite ausschnittsweise ohne jegliche Wertung übernommen, so dass es sich dabei grundsätzlich um fremde Inhalte handelt. Für fremde Inhalte ist jedoch § 7 Abs. 1 TMG nicht anwendbar, es sei denn, die von Navigationshilfen erstellten Snippets könnten dieser haftungsrechtlich zugerechnet werden.41 Eine Anwendung von § 8 Abs. 1 TMG scheidet bei Suchdiensten ebenfalls aus, da Navigationshilfen im Internet nicht auf die Zugangsvermittlung von Informationen ausgerichtet sind, denn es fehlt an der nur geringfügigen Einwirkungsmöglichkeit und Neutralität, die für das Access-Providing charakteristisch sind. Die von den Suchmaschinen zur Verfügung gestellte Leistung ist zudem nicht vergleichbar mit der in § 8 TMG privilegierten technischen Zugangsvermittlung zu einem Kommunikationsnetz durch einen AccessProvider. Denkbar wäre daher allenfalls ein Rückgriff auf die Wertungen des § 9 TMG. Abgesehen davon, dass wegen des Fehlens einer planwidrigen Regelungslücke eine Analogie ausscheidet, kann jedoch die Übermittlung von Trefferlisten durch Suchdienste nicht als Zwischenspeicherung zur beschleunigten Übermittlung von Informationen gesehen werden. Aufgrund der von Suchmaschinen vorgenomVgl. hierzu ausführlich Michael Rath, Recht der Internet-Suchmaschinen, 2005, S. 275 ff. Vgl. hierzu etwa Frank A. Koch, Perspektiven für die Link- und Suchmaschinen-Haftung, CR 2004, 213 (215); Alexander Koch, Zur Einordnung von Internet- und Suchmaschinen nach dem EGG, K&R 2002, 120 (122). 40 41
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menen Webseitenanalyse und der dateninvertierten Speicherung dieser Inhalte in dem Datenbank-Index der Navigationshilfe erfolgt gerade keine von § 9 TMG vorausgesetzte identische Übernahme des gesamten aufgefundenen Webinhaltes.42 Grundsätzlich ist der Anbieter einer Suchmaschine trotz der automatisierten Erfassung der fremden Webangebote und der auf eine Suchanfrage hin automatisch generierten Trefferlisten wie ein normaler Content-Anbieter für das eigentliche Suchmaschinen-Angebot nach den allgemeinen Gesetzen verantwortlich. Er haftet somit grundsätzlich nach den allgemein anerkannten Grundsätzen der Störerhaftung, da für ihn Garanten- und Verkehrssicherungspflichten aus der Eröffnung der „Gefahrenquelle Internet-Suchmaschine“ bestehen. Auch nach allgemeinen Grundsätzen kann den Betreibern von Suchdiensten jedoch – dies ist auch den Wertungen der §§ 7 – 10 TMG zu entnehmen – nicht zugemutet werden, ständig eine Überprüfung der von ihnen automatisch erfassten und indexierten Webangebote vorzunehmen.43 Eine vollständige Haftungsbefreiung des Suchmaschinenbetreibers für die von ihm zur Verfügung gestellten Trefferlisten kommt umgekehrt nur dann in Betracht, sofern dieser nach Kenntniserlangung von dem Verweis auf rechtswidrige Informationen auf der fremden Webseite unverzüglich tätig geworden ist, um die rechtswidrigen Informationen zu entfernen oder den Zugang zu ihnen zu sperren. Wegen der enormen Datenmassen, die von Suchdiensten verwaltet werden, ist jedoch nur dann eine ausreichende Kenntnis und damit eine Haftung zu bejahen, wenn der betreffende Verstoß für den Anbieter der Navigationshilfe ohne weitere Nachforschungen zweifelsfrei und unschwer zu erkennen ist. Von einer solchen Erkennbarkeit ist etwa auszugehen, wenn entweder ein rechtskräftiger Titel vorliegt oder aber die Rechtsverletzung auf andere Art und Weise derart eindeutig ist, dass sie sich aufdrängen muss.44 Das OLG Hamburg45 lehnte die Haftung eines Suchmaschinenbetreibers für Snippets in dem der Entscheidung zu Grunde liegenden Fall ab. Der Betreiber hafte weder als Äußernder oder Verbreiter noch unter dem Gesichtspunkt der Störerhaftung, da es schon an einer Rechtsverletzung fehle. Die einzelnen Worte der Trefferliste zeigten rechtlich problematische Äußerungen an. Der Kläger befürchtete mit diesen in Verbindung gebracht zu werden, weil auch sein Name im weiteren Verlauf des Suchergebnisses genannt wurde. Das Gericht lehnte einen solchen Rück42 Vgl. zur Haftung von Suchmaschinen für Suchergebnislisten etwa Oliver Köster / Uwe Jürgens, Die Haftung von Suchmaschinen für Suchergebnislisten, K&R 2006, 108 ff.; Rath, Internet-Suchmaschinen (Fn. 40), S. 308. 43 So im Ergebnis auch LG Frankenthal, Urteil v. 16. 05. 2006, Az. 6 O 541 / 05 – CR 2006, 698, das die Entscheidung von einer Interessenabwägung zwischen dem Interesse des Urhebers, eine Veröffentlichung ohne seine Einwilligung unterbinden zu können und dem Interesse des Suchmaschinenbetreibers an der Aufrechterhaltung seiner Suchmaschine abhängig machen will. 44 Vgl. hierzu auch Rath, Internet-Suchmaschinen (Fn. 40), S. 367 ff. 45 OLG Hamburg, Urteil v. 20. 02. 2007, Az. 7 U 126 / 06 – MMR 2007, 315 f.
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schluss ab. Dem durchschnittlichen Internetnutzer sei klar, dass die gefundenen Seiten ohne menschliche Einwirkung angezeigt werden. Eine inhaltliche Aussage werde mit dem Suchergebnis jedenfalls dann nicht getroffen, wenn nicht ganze Sätze der gefundenen Seite angezeigt werden. Ähnlich hat das OLG Hamburg jetzt eine Haftung von Suchmaschinen für persönlichkeitsrechtliche Inhalte abgelehnt.46 Betreiber von Suchmaschinen müssen die (Such-)Ergebnisse selbst dann nicht auf (Persönlichkeits-)Rechtsverletzungen prüfen, wenn ihnen bereits ähnliche Verstöße bekannt geworden sind. Dies würde das die Störerhaftung begrenzende Kriterium der Zumutbarkeit überschreiten, weil die von dem Betroffenen im Kern beanstandete, in der Einstellung einer rechtswidrigen Äußerung in das Internet liegende Verletzung von Rechten ohne jede Mitwirkung des Betreibers der Suchmaschine stattfindet, so dass ihm nicht aufgegeben werden kann, von sich aus beständig jeder bloßen Möglichkeit einer Beeinträchtigung von Rechten Dritter nachzugehen, um einer eigenen Haftung als Störer durch Mitwirkung an der Verbreitung zu entgehen. Die haftungsrechtlichen Anforderungen an den Suchdienstbetreiber sind jedoch auch in Fällen der von der Suchmaschine ermöglichten Manipulationen der Trefferlisten erhöht, weil der Anbieter einer solchen Navigationshilfe hierbei ein eigenes wirtschaftliches Interesse verfolgt: Für solche kollusive Manipulationen wie das Paid Listing oder das Keyword Advertisement47 kann der SuchmaschinenAnbieter daher ggf. grundsätzlich auch (entweder als Störer oder wegen des eigenen Verursachungsbeitrages zu der Rechtsverletzung sogar unmittelbar) markenund wettbewerbsrechtlich verantwortlich sein. Dies ist im Einzelfall nach der jeweiligen Haftungsnorm zu bestimmen. Die Haftung von Suchmaschinenbetreibern wird von der Rechtsprechung derzeit uneinheitlich beurteilt. So hat beispielsweise das AG Bielefeld48 bei der Verwendung von Bildern als Thumbnails in einer Suchmaschine eine urheberrechtliche Haftung abgelehnt, da §§ 7, 8 und 9 TMG als spezielle Vorschriften die ansonsten bestehende urheberrechtliche Verantwortlichkeit der Beklagten ausschließen würden. Nach Ansicht des Gerichts besteht durch § 7 Abs. 2 S. 1 TMG eine Haftungsprivilegierung, da hinsichtlich der Übermittlung von Bildern die Vorschrift des § 8 TMG und hinsichtlich der Speicherung die Vorschrift des § 9 TMG einschlägig ist. Ähnlich nahmen die Gerichte in Hamburg49 Google lange Zeit weitOLG Hamburg, Urteil v. 13. 11. 2009, Az. 7 W 125 / 09 – K&R 2010, 63 ff. s. hierzu etwa Stefan Ernst, Suchmaschinenmarketing im Wettbewerbs- und Markenrecht, WRP 2004, 278 ff.; ders., Rechtliche Probleme des Suchmaschinen-Marketings, ITRB 2005, S. 91 (93); ders., Adword-Werbung in Internet-Suchmaschinen als kennzeichen- und wettbewerbsrechtliches Problem, MarkenR 2006, S. 57 (59). 48 AG Bielefeld, Urteil v. 18. 02. 2005, Az. 42 C 767 / 04 – CR 2006, 72 ff.; ähnlich AG Charlottenburg, Urteil v. 25. 02. 2005, Az. 234 C 264 / 04, www.suchmaschinen-und-recht.de/ urteile/Amtsgericht-Charlottenburg-20050225.html (zuletzt abgerufen am 12. 02. 2010). 49 OLG Hamburg, Urteil v. 22. 05. 2007, Az. 7 U 137 / 06 – MMR 2007, 601 ff.; OLG Hamburg, Urteil v. 20. 02. 2007, Az. 7 U 126 / 06 – MMR 2007, 315 (316). 46 47
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gehend von der Haftung aus. Das hat sich jetzt geändert. Das LG Hamburg hat die Bildersuche mit Thumbnails als problematisch angesehen. Insbesondere wurde hier auf Grund der Klage eines Comiczeichners Google verurteilt, entsprechende Thumbnails zu unterlassen. Die stark verkleinerten Vorschaubilder seien keine selbstständigen Werke; die Umgestaltung der rechtlich geschützten Comiczeichnungen würden daher ausschließliche Urheberrechte des Klägers verletzen. Neben Google wurde in einem zweiten Verfahren auch ein Internetprovider verurteilt, Schnittstellen zu der Google-Bildersuche zu unterlassen.50 Das LG Berlin hingegen hat eine Haftung der Betreiber einer Meta-Suchmaschine bejaht, soweit es um Prüfungspflichten in Bezug auf die Rechtswidrigkeit bereits abgemahnter Einträge aus einer Trefferliste geht.51 Das KG52 hat allerdings im Februar 2006 die vorgenannte einstweilige Verfügung des LG Berlin aufgehoben und entschieden, dass eine Meta-Suchmaschine einer primären Navigationshilfe gleichstehe und daher auch erst ab Kenntnis der Rechtsverletzung hafte. Im Markenrecht wird von der Rechtsprechung (so etwa OLG Braunschweig,53 LG Düsseldorf,54 LG Hamburg55 und LG Braunschweig)56 teilweise eine markenrechtliche Verantwortung nach § 14 Abs. 2 MarkenG bejaht, so insbesondere bei sog. „Adword“-Werbeanzeigen für Dritte.57 Nur bei ausreichender Kennzeichnung als Werbeanzeige soll nach Ansicht des LG Hamburg58 keine Markenverletzung anzunehmen sein. Auch im Wettbewerbsrecht gibt es zu der Frage der Zulässigkeit von Paid Listings noch keine einheitliche Rechtsprechung. So hat beispielsweise das LG Hamburg59 im einstweiligen Rechtsschutz bei der Schaltung von Paid Listings eine Haftung des Suchmaschinen-Anbieters bejaht, während das LG München60 in einem fast identischen Fall die Haftung des Suchdienst-Anbieters mit Hinweis auf die Unzumutbarkeit einer Prüfungspflicht abgelehnt hat. Für Preissuchmaschinen wird die Haftung anders beurteilt. Bedient sich ein Unternehmen einer Preissuchmaschine, dann haftet es für etwaige rechtswidrige 50
LG Hamburg, Urteil v. 26. 05. 2008, Az. 308 O 42 / 06 – MMR 2009, 55 m. Anm. Hoe-
ren. LG Berlin, Urteil v. 22. 02. 2005, Az. 27 O 45 / 05 – MMR 2005, 324 ff. KG, Urteil v. 10. 02. 2006, Az. 9 U 55 / 05 – MMR 2006, 393 ff. 53 OLG Braunschweig, Urteil v. 05. 12. 2006, Az. 2 W 23 / 06 – CR 2007, 177. 54 LG Düsseldorf, Urteil v. 30. 03. 2005, Az. 2a O 10 / 05 – CR 2006, 205 ff. 55 LG Hamburg, Urteil v. 21. 09. 2004, Az. 312 O 324 / 04 – MMR 2005, 631 ff. 56 LG Braunschweig, Beschluss v. 28. 12. 2005, Az. 9 O 2852 / 05 (388), 9 O 2852 / 05 – K&R 2006, 143. 57 Vgl. zur Zulässigkeit einer Benutzung von Kennzeichen und Marken als Adword LG München, Urteil v. 26. 10. 2006, Az. 7 O 16794 / 06 – CR 2007, 467 (468). 58 LG Hamburg, Urteil v. 21. 12. 2004, Az. 312 O 950 / 04 – MMR 2005, 629. 59 LG Hamburg, Beschluss v. 14. 11. 2003, Az. 312 O 887 / 03. 60 LG München I, Beschluss v. 02. 12. 2003, Az. 33 O 21461 / 03 – MMR 2004, 261 f. 51 52
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Daten in der Preissuchmaschine.61 Es ist wettbewerbswidrig, wenn der angezeigte Verkaufspreis in einer Preissuchmaschine von dem späteren, tatsächlichen Preis im verlinkten Online-Shop abweicht. Dies gilt auch dann, wenn die Abweichung nur für wenige Stunden vorhanden ist.
VI. Haftung für sonstige Innovations-Intermediäre Die Rechtsprechung denkt auch über eine Haftung sonstiger Innovations-Intermediäre nach. Unstreitig ist der Anbieter von Produkten bei Online-Auktionen für die Rechtmäßigkeit seines Angebots z. B. in markenrechtlicher Hinsicht verantwortlich, selbst wenn es sich nur um Privatverkäufe handelt.62 Dasselbe gilt für Online-Versandhändler, die als Betriebsinhaber für alle in ihrem geschäftlichen Bereich begangenen Markenrechtsverletzungen haften, auch wenn diese durch Beauftragte begangen wurden.63 Streitig ist allerdings, ob sich der Betreiber des OnlineAuktionshauses die Angaben in den Angeboten Dritter als eigene Inhalte zurechnen lassen muss.64 Derzeit laufen vor verschiedenen Gerichten Verfahren, in denen das Unternehmen Rolex Auktionshäuser wie eBay und Ricardo wegen des Vertriebs markenrechtsverletzender Replika von Rolex-Uhren in Anspruch nimmt. Die Auktionshäuser sahen sich als Host-Provider, die erst nach Information durch Rolex tätig werden müssen. Das LG Köln schloss sich jedoch der Klägerin an und betrachtete die Angebote als eigene Inhalte des Auktionshauses, da zumindest die Überschriften der Angebote als eigener Inhalt vorgestellt werden. Ein eigener Inhalt liege auch vor, wenn aus der Sicht des Nutzers eine Verquickung dergestalt stattfinde, dass Diensteanbieter und Fremdinhalt als Einheit erscheinen. Insofern wurde Ricardo als Content-Provider wegen Markenrechtsverletzung zur Unterlassung verurteilt.65 Diese Entscheidung ist zwar vom OLG Köln aufgehoben worden.66 Der BGH hat jedoch nunmehr klargestellt, dass der Betreiber einer Plattform für Versteigerungen im Internet auf Unterlassung in Anspruch genommen werden kann, wenn Anbieter auf dieser Plattform gefälschte Markenprodukte anbieten.67 Der BGH hat betont, dass die Regelungen des TMG, die für Dienste ein Haftungsprivileg vorsehen, bei denen der Betreiber Dritten die Speicherung fremder Inhalte erlaubt („Hosting“), für den Schadensersatzanspruch, nicht aber für den OLG Stuttgart, Urteil v. 01. 07. 2008, Az. 2 U 12 / 07 – MMR 2008, 754 ff. LG Berlin, Urteil v. 05. 11. 2001, Az. 103 O 149 / 01 – CR 2002, 371 m. Anm. Leible / Sosnitza. 63 OLG Köln, Urteil v. 24. 05. 2006, Az. 6 U 200 / 05 – CR 2007, 184 ff. 64 LG Köln, Urteil v. 31. 10. 2000, Az. 33 O 251 / 00 – CR 2001, 417 ff. 65 Ähnlich auch LG Hamburg, Urteil v. 14. 06. 2002, Az. 406 O 52 / 02 – CR 2002, 919. 66 OLG Köln, Urteil v. 02. 11. 2001, Az. 6 U 12 / 01 – MMR 2002, 110 m. Anm. Hoeren = CR 2002, 50 m. Anm. Wiebe = K&R 2002, 93 m. Anm. Spindler S. 83; ähnlich auch LG Düsseldorf, Urteil v. 29. 10. 2002, Az. 4a O 464 / 01 – MMR 2003, 120 m. Anm. Leupold. 67 BGH, Urteil v. 11. 03. 2004, Az. I ZR 304 / 01 – MMR 2004, 668; ähnlich BGH, Urteil v. 10. 04. 2008, Az. I ZR 227 / 05 – NJW 2008, 3714 ff. 61 62
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Unterlassungsanspruch gelten.68 Damit komme eine Haftung der Beklagten als Störerin in Betracht. Dieser Anspruch setze Handeln im geschäftlichen Verkehr voraus69 und eine zumutbare Kontrollmöglichkeit für den Betreiber, die Markenverletzung zu unterbinden. Ihm sei nicht zuzumuten, jedes Angebot, das in einem automatischen Verfahren unmittelbar vom Anbieter ins Internet gestellt wird, darauf zu überprüfen, ob Schutzrechte Dritter verletzt würden. Daher könne auch ein vorbeugender Unterlassungsanspruch in dem Fall einer (noch) nicht vorliegenden Schutzrechtsverletzung geltend gemacht werden.70 Werde ihr aber ein Fall einer Markenverletzung bekannt, müsse sie nicht nur das konkrete Angebot unverzüglich sperren, sondern auch Vorsorge dafür treffen, dass es nicht zu weiteren entsprechenden Markenverletzungen komme. Einen Schadensersatzanspruch gegen den Betreiber hat der BGH allerdings verneint.71 Das Auktionshaus müsse, wenn ihm ein Fall einer Markenverletzung bekannt wird, nicht nur das konkrete Angebot unverzüglich sperren, sondern auch technisch mögliche und zumutbare Maßnahmen ergreifen, um Vorsorge dafür zu treffen, dass es nicht zu weiteren entsprechenden Markenverletzungen kommt.72 Neuerdings hat sich das OLG Hamburg73 ausführlichst mit der Verantwortlichkeit von eBay für Markenrechtsverletzungen beschäftigt und die Auffassung vertreten, eBay sei nicht nur Störer, sondern auch Mittäter einer Rechtsverletzung wegen Beihilfe durch Unterlassen. Diese Meinung hätte weitreichende Folgen, insbesondere auch im Hinblick auf die Geltendmachung von Auskunftsansprüchen gegen eBay und deren Prüfungspflichten. Die Hamburger Linie entspricht jedoch nicht der herrschenden Meinung und ist dogmatisch unhaltbar. Soweit der Inhaber eines eBay-Accounts einem Dritten die erforderlichen Zugangsdaten mitteilt und dieser Dritte anschließend dort Plagiate von geschützten Marken versteigert, haftet nach Ansicht des OLG Frankfurt74 und des OLG Stuttgart75 dafür auch der Accountinhaber. Auch wenn der Inhaber nicht selbst die Ware angeboten hat, sei er dennoch passivlegitimiert. Dies folge aus dem Umstand 68 Hierzu zählt auch der vorbeugende Unterlassungsanspruch, BGH, Urteil v. 19. 04. 2007, Az. I ZR 35 / 04 – MMR 2007, 507 ff. 69 Vgl. zu der Frage, ob ein Angebot im Auktionsbereich im geschäftlichen Verkehr erfolgt, OLG Frankfurt a. M., Beschluss v. 07. 04. 2005, Az. 6 U 149 / 04 – MMR 2005, 458 ff. 70 BGH, Urteil v. 19. 04. 2007, Az. I ZR 35 / 04 – MMR 2007, 507; s. auch BGH, Urteil v. 12. 07. 2007, Az. I ZR 18 / 04 - MMR 2007, 634. 71 BGH, Urteil v. 11. 03. 2004, Az. I ZR 304 / 01 – MMR 2004, 668 ff. 72 BGH, Urteil v. 19. 04. 2007, Az. I ZR 35 / 04 – MMR 2007, 507 ff.; LG Hamburg, Urteil v. 04. 01. 2005, Az. 312 O 753 / 04 – MMR 2005, 326 m. Anm. Rachlock; ähnlich auch das OLG Brandenburg, Urteil v. 16. 11. 2005, Az. 4 U 5 / 05 – CR 2006, 124. 73 OLG Hamburg, Urteil v. 24. 07. 2008, Az. 3 U 216 / 06 – MMR 2009, 129 m. Anm. Witzmann. 74 OLG Frankfurt a. M., Beschluss v. 13. 06. 2005, Az. 6 W 20 / 05 – CR 2005, 655; ähnlich LG Bonn, Urteil v. 07. 12. 2004, Az. 11 O 48 / 04 – CR 2005, 602 f. für UWG-Verstöße und OLG Stuttgart, Urteil v. 16. 04. 2007, Az. 2 W 71 / 06 – GRUR-RR 2007, 336. 75 OLG Stuttgart, Urteil v. 16. 04. 2007, Az. 2 W 71 / 06 – GRUR-RR 2007, 336.
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der Mitstörerhaftung, da der Accountinhaber mit der Ermöglichung des Zugangs willentlich und adäquat kausal zur Markenverletzung beigetragen habe. Auch wenn die Prüfungspflichten für einen Accountinhaber nicht überspannt werden dürften, liege jedenfalls dann eine Verantwortung für das fremde Verhalten vor, wenn er sich überhaupt nicht darum kümmert, welche Waren von fremden Dritten über seinen Account angeboten werden. Nach Auffassung des OLG Koblenz76 haftet der sog. Admin-C,77 der vom Domaininhaber zu benennende administrative Kontakt, nicht für Kennzeichenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit einer Domain. Auch das OLG Hamburg78 urteilte in dem Fall einer Persönlichkeitsrechtsverletzung in diesem Sinn. Der Admin-C sei zwar Ansprechpartner der DENIC. Rechtlich verantwortlich für Kennzeichenrechtsverletzungen sei jedoch der Domaininhaber. Diese Argumentation steht im Widerspruch zur Auffassung des OLG München, wonach die unmittelbare Einflussmöglichkeit des Admin-C auf den Domainnamen dessen Störerhaftung begründe.79 Das KG Berlin hat eine Prüfungspflicht des Admin-C dann bejaht, wenn der Domaininhaber und Betreiber einer Meta-Suchmaschine zuvor erfolglos aufgefordert worden ist, den persönlichkeitsverletzenden Suchergebniseintrag zu löschen oder diese Aufforderung von vornherein keinen Erfolg versprechen würde.80 Angesichts der bestehenden Rechtsunsicherheit sollten diejenigen, die sich als Admin-C zur Verfügung stellen, vor Registrierung der Domain darauf achten, dass keine rechtlichen Bedenken gegen die Zuweisung der Domain bestehen. Neuerdings lehnen Oberlandesgerichte jedoch zu Recht die Haftung des Admin-C ab.81 Denn der Pflichtenkreis des Admin-C bezieht sich allein auf das Innenverhältnis zwischen Domaininhaber und der DENIC, die den Registrierungsvertrag, in den die Domainrichtlinien einbezogen sind, schließen und an dem der 76 OLG Koblenz, Urteil v. 25. 01. 2002, Az. 8 U 1842 / 00 – MMR 2002, 466 ff. m. Anm. Ernst / Vallendar; ebenso OLG Koblenz, Urteil v. 23. 04. 2009, Az. 6 U 730 / 08 – MMR 2009, 549 ff. 77 Vgl. Thomas Hoeren / Sonja Eustergerling, Die Haftung des Admin-C – Ein kritischer Blick auf die Rechtsprechung, MMR 2006, S. 132 ff.; Jörg Wimmers / Carsten Schulz, Stört der Admin-C? Eine kritische Betrachtung der Störerhaftung am Beispiel des sog. administrativen Ansprechpartners, CR 2006, S. 754 (756). 78 OLG Hamburg, Urteil v. 22. 05. 2007, Az. 7 U 137 / 06 – MMR 2007, 601 ff. 79 OLG München, Urteil v. 20. 01. 2000, Az. 29 U 5819 / 99 – MMR 2000, 277; ähnlich auch OLG Stuttgart, Beschluss vom 01. 08. 2003, Az. 2 W 27 / 03 – MMR 2004, 38; LG Stuttgart, Urteil v. 27. 01. 2009, Az. 41 O 149 / 08, www.webhosting-und-recht.de/urteile/ Mitstoererhaftung-des-Admin-C-Landgericht-Stuttgart-20090127.html (zuletzt abgerufen am 12. 02. 2010); LG München I, Urteil v. 10. 02. 2005, Az. 7 O 18567 / 04 – CR 2005, 532; AG Bonn, Urteil v. 24. 08. 2004, Az. 4 C 252 / 04 – MMR 2004, 826 (für den Bereich des UWG); LG Hamburg, Urteil v. 15. 03. 2007, Az. 327 O 718 / 06, www.webhosting-undrecht.de/urteile/Landgericht-Hamburg-20070315.html (zuletzt abgerufen am 12. 02. 2010). 80 KG, Beschluss v. 20. 03. 2006, Az. 10 W 27 / 05 – CR 2006, 778; ähnlich LG Berlin, Urteil v. 13. 01. 2009, Az. 15 O 957 / 07 – MMR 2009, 348. 81 OLG Köln, Urteil v. 15. 08. 2008, Az. 6 U 51 / 08 – MMR 2009, 48 ff.; OLG Düsseldorf, Urteil v. 03. 02. 2009, Az. 20 U 1 / 08 – MMR 2009, 336.
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Admin-C ebenso wenig beteiligt ist wie an seiner Benennung, die einseitig durch den Domaininhaber erfolgt. Schon diese rechtliche Konstellation verbietet es, (Prüfungs-)Pflichten des Admin-C im Außenverhältnis zu Dritten anzunehmen. Vielmehr ist allein der Anmelder für die Zulässigkeit einer bestimmten Domainbezeichnung verantwortlich, wobei es rechtlich unerheblich ist, ob er im Inland oder Ausland seinen Sitz hat. Der BGH82 hat im Übrigen die Haftung für Domainprovider in diesem Zusammenhang erweitert. Wer auf eine Anfrage, einen Internet-Auftritt unter einem bestimmten Domain-Namen zu erstellen, diesen für sich registrieren lasse, könne unter dem Gesichtspunkt einer gezielten Behinderung eines Mitbewerbers nach § 4 Nr. 10 UWG und eines Verschuldens bei Vertragsverhandlungen zur Unterlassung der Verwendung der Domain-Namen und zur Einwilligung in die Löschung der Registrierungen verpflichtet sein. Nach Ansicht des OLG Hamburg ist der im Impressum bezeichnete Diensteanbieter auch für Inhalte in dem Nutzer verborgen bleibenden Subdomains verantwortlich.83 Für den Betreiber einer Domainbörse kommt es für die Haftung auf den Zeitpunkt positiver Kenntnis an, wie das LG Düsseldorf bekräftigt hat.84 Hiernach kann bei einer solchen Domainbörse, bei der ungenutzte Domains geparkt und zum Verkauf angeboten werden, eine Haftung erst ab dem Zeitpunkt positiver Kenntnis des Börsenanbieters von einer Markenrechtsverletzung angenommen werden. Eine darüber hinaus gehende markenrechtliche Prüfung aller geparkten Domains sei den Börsenbetreibern nicht zumutbar. Der Verpächter einer Domain wird nach Auffassung des BGH nicht einem Verleger gleichgestellt: Er sei nicht Herr des Angebots und hafte daher erst dann als Störer, wenn es nach Kenntniserlangung zu weiteren Rechtsverletzungen gekommen sei.85 Es haften die Parteien für die Versendung politischer E-Cards über ihre Server.86 Selbst wenn die Partei die E-Mails nicht selbst versandt habe, sei diese als (mittelbare) Mitstörerin anzusehen, falls auf ihrer Homepage der Versand von E-Mails durch eine sog. E-Card-Funktion angeboten werde und eine Kontrolle der Berechtigung des Sendenden nicht stattfinde. Solange ein Rechtsmissbrauch durch die E-Cards nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden könne, sei es möglich, dass sich die Verwender zur Begehung des rechtswidrigen Eingriffs in Rechte Dritter hinter dem Anbieter der E-Card-Funktion versteckten. Es sei dem Verwender der Funktion daher zuzumuten, notfalls gänzlich auf diesen Mechanismus zu verzichten. Wer Newsletter nicht als Blindkopie, sondern direkt an sämtBGH, Urteil v. 16. 12. 2004, Az. I ZR 69 / 02 – MMR 2005, 374 f. OLG Hamburg, Urteil v. 09. 09. 2004, Az. 5 U 194 / 03 – MMR 2005, 322 ff. 84 LG Düsseldorf, Urteil v. 15. 01. 2008, Az. I 20 U 95 / 07 – MMR 2008, 254 ff.; LG Hamburg, Urteil v. 18. 07. 2008, Az. 408 O 274 / 08 – MMR 2009, 218; LG Berlin, Urteil v. 03. 06. 2008, Az. 103 O 15 / 08 – MMR 2009, 218; LG Frankfurt, Urteil v. 26. 02. 2009, Az. 2-03 O 384 / 08 – MMR 2009, 364. 85 BGH, Urteil v. 30. 06. 2009, Az. VI ZR 210 / 08 – NJW-RR 2009, 1413 ff. 86 LG München I, Urteil v. 15. 04. 2003, Az. 33 O 5791 / 03 – MMR 2003, 483 ff.; AG Rostock, Urteil v. 28. 01. 2003, Az. 43 C 68 / 02 – MMR 2003, 345. 82 83
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liche im Adressenfeld aufgeführten E-Mail-Adressen versendet, wirkt an der Verbreitung der Adressenlisten mit und ist Mitstörer.87 Eine besonders scharfe Haftung kann den Betreiber eines Internet-Gästebuchs treffen.88 Wer in seinem Gästebuch das Abmahnverhalten eines Anwalts thematisiert, muss mit Einträgen ehrverletzender Art rechnen. Er ist daher auch verpflichtet, die Einträge regelmäßig zu kontrollieren. Andernfalls macht er sich die fremden Inhalte zu eigen und wird einem Content-Provider im Sinne von § 7 Abs. 1 TMG gleichgestellt. Eine Haftung für Spam übernimmt der Vermieter von Subdomains: Wer Subdomains an Erotik-Anbieter vermietet, haftet für Spam-Mails, die die Erotik-Anbieter versenden.89 Das LG Köln bejahte eine Haftung eines Portalbetreibers für offensichtlich rechtswidrige Kleinanzeigen. 90 Haften soll der Portalbetreiber auch, wenn er Anzeigen durchgesehen hat und übersieht, dass diese persönlichkeitsrechtsverletzend sind.91 Der Mitveranstalter von Amateurfußballspielen hat nach sehr zweifelhafter Ansicht des OLG Stuttgart92 gegen den Betreiber eines Internetportals, in dem eingestellte Filmaufnahmen von Amateurfußballspielen gezeigt werden, einen Unterlassungsanspruch hinsichtlich der öffentlichen Zugänglichmachung von Filmaufzeichnungen von Fußballspielen. Der BGH hat mittlerweile mit Urteil vom 28. 10. 2010 anders entschieden. Haften soll auch der im Impressum angegebene „ViSdP“.93 Wer im Übrigen zur Unterlassung ehrverletzender Äußerungen verurteilt worden ist, muss dafür Sorge tragen, dass die Äußerungen auch im Online-Archiv nicht mehr zu finden sind.94 Ähnlich ist der Forenbetreiber zum Ersatz der entstandenen Rechtsverfolgungskosten verpflichtet, wenn ein Betroffener mittels E-Mail von ihm die Löschung einer beleidigenden Fotomontage eines Dritten verlangt und der verantwortliche Betreiber dem in der gesetzten Frist nicht nachkommt.95 Ohnehin treffen auch den Forenbetreiber gesteigerte Haftungspflichten. So ist er nach Auffassung des LG Hamburg96 auch dann als Störer für fremde, rechtswidrige Postings OLG Düsseldorf, Urteil v. 24. 05. 2006, Az. I- 15 U 45 / 06 – MMR 2006, 681 ff. LG Düsseldorf, Urteil v. 08. 05. 2002, Az. 6 U 195 / 01 – MMR 2003, 61. 89 AG Leipzig, Urteil v. 27. 02. 2003, Az. 02 C 8566 / 02 – MMR 2003, 610. 90 LG Köln, Urteil v. 26. 11. 2003, Az. 28 O 706 / 02 – CR 2004, 304 ff. 91 LG Köln, Urteil v. 26. 11. 2003, Az. 28 O 706 / 02 – MMR 2004, 183 ff. m. Anm. Christiansen; Oliver Spieker, Verantwortlichkeit von Internetsuchdiensten für Persönlichkeitsverletzungen in ihren Suchergebnislisten, MMR 2005, 727 ff. 92 OLG Stuttgart, Urteil v. 19. 03. 2009, Az. 2 U 47 / 08 – CR 2009, 386 ff.; LG Stuttgart, Urteil v. 08. 05. 2008, Az. 41 O 3 / 08 KfH – MMR 2008, 551 m. Anm. Hoeren / Schröder = CR 2008, 528 m. Anm. Frey. 93 OLG Frankfurt, Urteil v. 10. 02. 2008, Az. 11 U 28 / 07 – GRUR-RR 2008, 385 f. 94 OLG München, Beschluss v. 11. 11. 2002, Az. 21 W 1991 / 02 – K&R 2003, 145. 95 AG Winsen / Luhe, Urteil v. 06. 06. 2005, Az. 23 C 155 / 05 – CR 2005, 722. 96 LG Hamburg, Urteil v. 02. 12. 2005, Az. 324 O 712 / 05 – MMR 2006, 491; ähnlich für Äußerungen in Blogs LG Hamburg, Urteil v. 04. 12. 2007, Az. 324 O 794 / 07 – MMR 2008, 265; anderer Ansicht etwa AG Frankfurt, Urteil v. 16. 07. 2008, Az. 31 C 2575 / 07-17 – CR 2009, 60 f. 87 88
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in Online-Foren verantwortlich, wenn er von den konkreten Beiträgen keine Kenntnis besitzt. Denn der Forenbetreiber müsse die fremden eingestellten „Texte vorher automatisch oder manuell“ auf ihre Rechtmäßigkeit prüfen. In der Berufungsentscheidung hat das OLG Hamburg97 eine derartige Prüfungspflicht abgelehnt. Den Betreiber treffe lediglich eine spezielle Pflicht zur Überprüfung des konkreten Einzelforum-Threads, wenn er entweder durch sein eigenes Verhalten vorhersehbar rechtswidrige Beiträge Dritter provoziert hat oder ihm bereits mindestens eine Rechtsverletzung von einigem Gewicht benannt worden ist und sich damit die Gefahr weiterer Rechtsverletzungshandlungen durch einzelne Nutzer bereits konkretisiert hat. Der Betreiber ist jedoch nach Kenntnis einer Rechtsverletzung zur unverzüglichen Löschung des Beitrages verpflichtet.98 Der Betreiber eines Meinungsforums ist nicht zur vorsorglichen Überprüfung sämtlicher Inhalte verpflichtet.99 Dies würde die Überwachungspflichten des Betreibers überspannen und die Presse- und Meinungsäußerungsfreiheit, unter deren Schutz Internetforen stünden, verletzen. Die Meinungsäußerungsfreiheit umfasst nach Art. 5 Abs. 1 GG auch die Meinungsäußerung in Form von Bildern, so dass nichts anderes für einen Forenbeitrag aus Text und Bild gelten kann. In die gleiche Richtung bejaht das LG Hamburg100 eine Haftung für Interviews. Die Presse trage nach den Regeln der Verbreiterhaftung die volle Haftung für Äußerungen von Interviewpartnern. Würde man allein die Interviewform als hinreichende Distanzierung ausreichen lassen oder eine Prüfpflicht auf besonders schwere Beeinträchtigungen des Persönlichkeitsrechts reduzieren, dürften nach Auffassung des Landgerichts Äußerungen von Presseunternehmen in Interviewform (ohne inhaltliche Distanzierung) verbreitet werden, die bei Verbreitung durch andere journalistische Textformen unzulässig wären. Dies würde dazu führen, dass Presseunternehmen allein durch die Wahl der Form des Interviews unwahre Tatsachenbehauptungen bis zur Schwelle besonders schwerer Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts sanktionslos verbreiten könnten. Es würde das Risiko geschaffen, dass allein durch die Wahl der Interviewform einem Betroffenen die Möglichkeit genommen würde, ein Verbot der Verbreitung unwahrer Tatsachenbehauptungen durchzusetzen. Diese Auffassung hat mit den bisherigen Regeln zur Pressehaftung nichts mehr gemein und steht nicht mehr auf dem Boden der deutschen Rechtsordnung. Das LG Hamburg begründet hier halsstarrig und ohne Blick für die Entscheidungspraxis anderer Gerichte (auch des BGH) einen Sonderweg, der von cleveren Anwälten im Zusammenhang mit dem fliegenden Internet-Gerichtsstand 97 OLG Hamburg, Urteil v. 22. 08. 2006, Az. 7 U 50 / 06 – MMR 2006, 744; vgl. auch OLG Düsseldorf, Urteil v. 07. 06. 2006, Az. I-15 U21 / 06 – MMR 2006, 618; Uwe Jürgens / Oliver Köster, Die Haftung von Webforen für rechtsverletzende Einträge, AfP 2006, 219 ff.; Tobias H. Strömer / Andreas Grootz, Internet-Foren: Betreiber- und Kenntnisverschaffungspflichten – Wege aus der Haftungsfalle, K&R 2006, 553 ff. 98 LG Düsseldorf, Urteil v. 25. 01. 2006, Az. 12 O 546 / 05 – CR 2006, 563 ff. 99 OLG Hamburg, Urteil v. 04.02. 2009, Az. 5 U 180 / 07 – MMR 2009, 479. 100 LG Hamburg, Urteil v. 22. 02. 2008, Az. 324 O 998 / 07 – AfP 2008, 414 ff.
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zur Flucht nach Hamburg genutzt wird. Man kann nur hoffen, dass die Oberinstanzen das Landgericht allmählich wieder zur Vernunft bringen. Die Haftung von Online-Pressearchiven für Persönlichkeitsrechtsverletzungen wird in der Rechtsprechung unterschiedlich bewertet. Hierbei zeigt sich bereits eine uneinheitliche Beurteilung der Frage, wann durch das Bereithalten von Inhalten in einem Online-Archiv überhaupt eine Persönlichkeitsrechtsverletzung gegeben ist. Gegenstand der gerichtlichen Entscheidungen sind zumeist Berichte über Straftaten, in denen die Namen der Straftäter genannt und Bilder von ihnen verwendet werden. Während das LG Frankfurt a.M.101 eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts ablehnt, weil der archivierte Artikel keine mit einem aktuellen Beitrag vergleichbare Breitenwirkung erzeuge, bejaht das LG Hamburg102 eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts. Die Möglichkeit einer blitzschnellen Auffindbarkeit durch den Einsatz hocheffizienter Suchmaschinen begründe ein erheblich intensiviertes und ganz eigenes Maß an perpetuierter Beeinträchtigung. In einer aktuellen Entscheidung schloss sich das OLG Hamburg allerdings im Ergebnis der Meinung an, nach der eine grundsätzliche Löschungspflicht nach dem Ablauf einer bestimmten Zeit nicht bejaht werden kann.103 Der BGH104 hat die Löschungspflichten von Archivbetreibern jetzt auf ein Minimum reduziert. Im Veröffentlichungszeitpunkt zulässige Mitschriften nicht mehr aktueller Rundfunkbeiträge dürfen hiernach auch unter voller Namensnennung verurteilter Straftäter zum Abruf im Internet bereitgehalten werden. Ein Interesse der Öffentlichkeit besteht auch an der Recherche vergangener, zeitgeschichtlicher Ereignisse. Zu berücksichtigen sei darüber hinaus, dass ein anerkennenswertes Interesse der Öffentlichkeit nicht nur an der Information über das aktuelle Zeitgeschehen, sondern auch an der Möglichkeit bestehe, vergangene zeitgeschichtliche Ereignisse zu recherchieren. Das von den Klägern begehrte Verbot würde den freien Informationsund Kommunikationsprozess einschnüren und hätte abschreckende Auswirkungen auf den Gebrauch der Meinungs- und Medienfreiheit. Nach Auffassung des OLG Hamburg haftet Google nicht für Ad-Words (Werbebanner Dritter) wegen einer eventuellen Verletzung von Markenrechten.105 Ein LG Frankfurt a. M., Urteil v. 05. 10. 2006, Az. 2 / 3 O 358 / 06 – MMR 2007, 59 f. LG Hamburg, Urteil v. 01. 06. 2007, Az. 324 O 717 / 06 – MMR 2007, 666 f. 103 OLG Hamburg, Beschluss v. 11. 03. 2008, Az. 7 W 22 / 08, http:// www.suchmaschinenund-recht.de/urteile/Oberlandesgericht-Hamburg-20080311.html (zuletzt abgerufen am 12. 02. 2010). 104 BGH, Urteile v. 15. 12. 2009, Az. VI ZR 227 / 08, http:// juris.bundesgerichtshof.de/ cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&nr=50648&pos=0&anz=1 (zuletzt abgerufen am 12. 02. 2010) und VI ZR 228 / 08, http:// juris.bundesgerichtshof.de/cgibin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=9cfbe9718e0adc3630bee929ea 5ad32b&nr=50649&pos=0&anz=2 (zuletzt abgerufen am 12. 20. 2010). 105 OLG Hamburg, Urteil v. 04. 05. 2006, Az. 3 U 180 / 04 – MMR 2006, 754 ff.; LG Leipzig, Urteil v. 08. 02. 2005, Az. 05 O 146 / 05 – MMR, 2005, 622 f.; ähnlich OLG Stuttgart, Urteil v. 26. 11. 2008, Az. 4 U 109-08 – MMR 2009, 190; für Persönlichkeitsrechtsverletzungen vgl. Sebastian Meyer, Google AdWords: Wer haftet für vermeintliche Rechtsverlet101 102
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Händler ist für die von seinem Affiliate begangenen Markenverletzungen nicht als Mitstörer mitverantwortlich.106 Anders sah dies noch das OLG Köln.107 Eine Mitstörerhaftung wäre erst dann ausgeschlossen, wenn der Händler seiner Affiliates eine entsprechende Liste der relevanten Marken zur Verfügung stellen und die Verwendung dieser Begriffe ausdrücklich vertraglich verbieten würde.108
VII. Zusammenfassung und Ausblick Die derzeitige Situation im Internet-Haftungsrecht zeichnet sich dadurch aus, dass innovationsfördernde Anreize zur differenzierten Betrachtung der einzelnen Internet-Akteure gesetzgeberisch gesetzt worden sind. Allerdings wird der Gesetzgebungsbefehl aus Brüssel, insbesondere aus der E-Commerce-Richtlinie, von der Rechtsprechung nicht ernst genommen. Zwar hat der nationale Gesetzgeber die entsprechenden Vorgaben noch im Kern richtig umgesetzt. Durch die Weigerung des Bundesgerichtshofs, diese Regelungen im Bereich des Immaterialgüterrechts und Lauterkeitsrechts anzuwenden, ist allerdings eine unklare Situation entstanden, die zu einer Fülle von Einzelfallentscheidungen geführt hat. Wie oben gezeigt, hat der BGH aus § 7 TMG und dem dortigen Satz zu den Sperrungspflichten restaurativ geschlossen, dass die bis zum Telemediengesetz geltenden Regelungen zur Haftung weiter bestehen bleiben können. Da aber die Konturen der Störer- und Täterhaftung nicht klar sind, gibt es bis zum heutigen Tag keine klaren Entwicklungslinien etwa für die Frage, wann jemand als Internet–Intermediär für rechtswidrige Zusammenhänge verantwortlich gemacht werden kann. Erstaunlich ist im Übrigen auch, dass der BGH seine Abwendung vom Gesetz nicht beim Europäischen Gerichtshof vorgelegt hat. Denn der Geist der E-Commerce-Richtlinie ist auf jeden Fall von diesem deutschen Sonderweg nachhaltig berührt. Clevere Anwälte benutzen jedenfalls die sehr unterschiedlichen Perspektiven der Instanzgerichte, um Forum Shopping zu treiben und gerade besonders haftungsfreundliche Gerichte wie in Hamburg oder Köln für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Insofern ist das Haftungskapitel ein Kapitel, um zu lernen, wie Juristen durch unklare Leitperspektiven innovationshemmende Rahmenbedingungen setzen können. Insofern wird auch hier das Recht nur bedingt seiner Bereitstellungsfunktion gerecht.109 zungen? Zur Zulässigkeit der Nutzung fremder Kennzeichen als AdWords, K&R 2006, 557 ff.; Matthias Schaefer, Kennzeichenrechtliche Haftung von Suchmaschinen für Adwords – Rechtsprechungsübersicht und kritische Analyse, MMR 2005, 807 ff. 106 BGH, Urteil v. 07. 10. 2009, Az. I ZR 109 / 06 – GRUR 2009, 1167 ff. 107 OLG Köln, Urteil v. 08. 02. 2008, Az. 6 U 149 / 07 – K&R 2008, 465 ff. 108 OLG München, Urteil v. 11. 09. 2008, Az. 29 U 3629 / 08 – MMR 2009, 126; LG Köln, Urteil v. 06. 10. 2005, Az. 31 O 8 / 05 – CR 2006, 64 ff.; ähnlich LG Berlin, Urteil v. 16. 08. 2005, Az. 15 O 321 / 05 – MMR 2006, 118; a. A. LG Hamburg, Urteil v. 03. 08. 2005, Az. 315 O 296 / 05 – CR 2006, 130. 109 s. dazu Wolfgang Hoffmann-Riem, Risiko- und Innovationsrecht im Verbund, Die Verwaltung 38 (2005) S. 147 (154 ff.).
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Das Internet-Haftungsrecht ist insofern ein eher ambivalentes Referenzgebiet innovationserheblichen Rechts.110 Zunächst einmal sind die grundsätzlichen Annahmen über die internetspezifischen Risiken ungeklärt. Das LG und das OLG Hamburg gehen z. B. eher von der These aus, dass das Internet generell gefährlich und die Unbeherrschbarkeit des Internet gerade Anlass für eine ausgedehnte Störeroder gar Täterhaftung für Internetprovider sei. Andere Gerichte sehen in der Unkontrollierbarkeit des Mediums Web einen Grund für eine Reduzierung der Haftung für Internet-Intermediäre (s. o.). Auch das der E-Commerce-Richtlinie inhärente Element der Kenntnis ist problematisch. Will man die Haftung eines HostProviders von seiner Kenntnis des rechtswidrigen Inhalts abhängig machen, würde das die Provider begünstigen, die sich zumindest von sich aus nie Kenntnis von den gehosteten Inhalten verschaffen (wollen). Damit werden Anreize zur Generierung des Risikowissens ausgeschlossen; die optimale Risikosteuerung besteht im Nichtwissen. Selbst wenn aber – wie der BGH in den eBay-Fällen – eine Pflicht zur Kenntnisverschaffung ab Ersthinweis statuiert wird, kann sich diese nur auf „ähnlich gelagerte Fälle“ (so der BGH) beziehen. Was aber „ähnlich gelagert“ ist, ist in der heterogenen Produktwelt des Internet schwer zu bestimmen. Letztlich fehlt es angesichts der unterschiedlichen Haftungsansätze an einer hinreichenden Rechtsbindung als Stabilisierungsfaktor für Innovation. Es bleibt vieles im Bereich der Einzelfallrechtsprechung stecken, der typischerweise das Phänomen einer über den Einzelfall hinausgehenden Rechtsbindung fehlt.111 Insofern droht das derzeitige Haftungssystem im Internetrecht innovationshemmend zu wirken; denn es fehlt die Vorhersehbarkeit und Prägnanz des klassischen Deliktsrechts.112
110 s. dazu Wolfgang Hoffmann-Riem, Immaterialgüterrecht als Referenzgebiet innovationserheblichen Rechts, in: Eifert, Martin / Hoffman-Riem, Wolfgang (Hrsg.), Geistiges Eigentum und Innovation, 2008, S. 16 ff. 111 Zur Bedeutung von Haftungsregeln für Innovateure ausführlich Wolfgang HoffmannRiem, Wissen, Recht und Innovation, in: Röhl, Hans Christian (Hrsg.), Wissen – Zur kognitiven Dimension des Rechts, Die Verwaltung, Beiheft 9, 2010, S. 159 ff. 112 Dazu Röthel, Haftungsregeln (Fn. 1), S. 337 ff.
Teil III Generierung innovativer Inhalte
Akteursbezogene Stimulierung innovativer Angebote im öffentlich-rechtlichen Rundfunk Die Bedeutung von Redaktionen und Rundfunkräten Von Barbara Thomaß
I.
Innovationsfördernde und innovationshindernde Elemente der Rundfunkgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
II. Innovation im Rundfunk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 III. Public value als Innovationsquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 IV. Rundfunkräte und Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 V. Qualitätssicherung als Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 VI. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Öffentlich-rechtlicher Rundfunk – als gemeinwohlbezogene Organisationsform von Rundfunk, die garantieren soll, dass Inhalte von Hörfunk und Fernsehen unabhängig von jedweden wirtschaftlichen und politischen Interessen produziert und verbreitet werden – hat in seiner Geschichte immer wieder eine innovative Rolle bei der Einführung von neuen Techniken gespielt (Kleinsteuber, S. 390). Dies ist für die Anfänge der Fernsehübertragung zutreffend, für die Entwicklung von Farbübertragungssystemen wie auch für das Vorantreiben von digitalen und High-definition-Standards der Übertragung. Seit der Zulassung privat-kommerzieller Anbieter ist diese innovative Kraft allerdings immer dort auf diese übergegangen, wo lukrative Märkte zu erhoffen sind – zum Beispiel im Bereich des mobile content. Auf der Seite der Fernsehinhalte hingegen hat gerade das Bemühen des Gesetzgebers um mehr Anbietervielfalt gezeigt, dass die neuen kommerziellen Anbieter Genre- und Produktinnovationen generiert haben, die in der Zeit des öffentlichrechtlichen Monopols nicht denkbar waren. Die Frage nach den Maßnahmen, die der Gesetzgeber ergreifen kann, um öffentlich-rechtliche Anbieter auf innovative Inhalte zu verpflichten, verbietet sich in dieser Form angesichts des Gebotes der Staatsferne bzw. der Nichtintervention staatlicher Akteure in Rundfunkinhalte. Als Frage nach möglichen Anreizsystemen, die innovative Inhalte generieren können,
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ist sie aber durchaus legitim. Diese Frage stellt sich vor dem Hintergrund der aktuellen rundfunkpolitischen und rundfunkmarktlichen Entwicklungen in besonderer Weise. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk steht europaweit im Zusammenhang mit seiner Rolle als elektronisches Leitmedium, seinen gesellschaftspolitischen Aufgaben für das Funktionieren der Demokratie und damit nicht zuletzt für die Wahrung des Rechtsstaates vor entscheidenden Herausforderungen: Die zunehmende Konkurrenzsituation im dualen System sowie die Klagen privater Rundfunkveranstalter gegen öffentlich-rechtliche Anbieter auf Grundlage des europäischen Wettbewerbsrechtes und die daraus resultierenden Verhandlungen mit der EU-Kommission erzwingen – vor allem für den Bereich neuer Mediendienste – eine klare und präzise Definition des öffentlich rechtlichen Auftrags sowie entsprechende Verfahren zu dessen Bewertung und Beurteilung. Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach Stimulierung von Innovationen zu betrachten. Eine These dieses Beitrages hierzu lautet: Innovation ist im öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Wesentlichen durch neue Rahmensetzungen verursacht worden, die vom Gesetzgeber formuliert worden sind. Eine Gegenthese hierzu wird weiter unten entwickelt.
I. Innovationsfördernde und innovationshindernde Elemente der Rundfunkgesetzgebung Eine zentrale Idee bei der Einführung des dualen Rundfunksystems war, dass dem Publikum mehr Wahlmöglichkeiten geboten werden müssten, dass Innovationskraft und die Fähigkeit, jüngere Zuschauer mit neuen Formaten und anderen Inhalten anzusprechen, erst durch das Hinzutreten anderer (privatwirtschaftlich organisierter) Sender zu ermöglichen wären, was dann auch positive Rückwirkungen auf die gebührenfinanzierten Sender haben würde. Beide Annahmen sind zwar nur bedingt Realität geworden; und die neuen Formate und Inhalte sowie die Reaktion der öffentlich-rechtlichen Sender darauf entsprachen nicht immer den Erwartungen der Befürworter des neuen Systems. Zu sehr waren und sind etliche der neuen Angebote der kommerziellen Sender darauf gerichtet, möglichst breite Zuschauerschichten – und darunter große Anteile bildungsferner Schichten – bei ihren aktuellen Unterhaltungsbedürfnissen abzuholen, ohne die in den öffentlichen Sendern impliziten oder expliziten Qualitätsansprüche zu berücksichtigen. Aber man kann festhalten: Es ist erst die Zulassung kommerzieller Sender gewesen, die dazu geführt hat, dass sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk weg von einer angebotsorientierten Programmgestaltung hin zu einer nachfragegeleiteten Programmgestaltung entwickelt hat, die neue Angebote erbracht hat. Er musste seine Rolle als Anbieter von Information, Bildung und Unterhaltung, die in ihrer Ausrichtung in Zeiten der öffentlich-rechtlichen Alleinstellung eher nach Maßgabe der Wertvorstellungen der dort Tätigen erfolgten, so modifizieren, dass er Publi-
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kumswünsche stärker in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellte. Neue Formate, neue (oft jüngere) Akteure vor der Kamera und auch neue ästhetische Gestaltungsmerkmale waren die Folgen (vgl. Thomaß). In jüngerer Zeit geht diese innovationsfördernde Wirkung von den im Rundfunkstaatsvertrag geforderten Selbstverpflichtungserklärungen und dem Drei-StufenTest aus. Während die Selbstverpflichtungserklärungen gemäß § 11 Abs. 4 des Rundfunkstaatsvertrages (RStV) öffentlich-rechtlichen Anbietern abfordern, alle zwei Jahre einen umfassenden Bericht über ihre Tätigkeit und die Ausfüllung ihres öffentlich-rechtlichen Auftrags in der vergangenen Periode sowie über die geplanten Schwerpunkte der jeweils anstehenden programmlichen Leistungen zu veröffentlichen, sieht der Drei-Stufen-Test (§ 11 f. Abs. 4 RStV) vor, dass neue Angebote im Rahmen der digitalen Mediendienste auf ihren gesellschaftlichen Mehrwert hin überprüft werden sollen. Beide Instrumente bewirkten bzw. können Anreize im Hinblick auf die Kreation innovativer Inhalte bewirken. Dies wird im Einzelnen noch auszuführen sein. Es lässt sich aber auch eine Gegenthese zu dieser Annahme aufstellen: Die bisherige Form der Rundfunkaufsicht verhindert Innovation im öffentlich-rechtlichen Sektor, da in ihr gesellschaftlich eher konservativ wirkende Kräfte über Neuerungen zu befinden haben. Diese These nimmt die Akteure in den Blick, die letztlich über Innovationen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu befinden haben. Die Legitimationspflicht, der sich neue Angebote im Telemediensektor mittels des DreiStufen-Tests unterwerfen müssen, und das Forum, vor dem sie legitimiert werden müssen, werden von den Entwicklern antizipiert und wirken eher bremsend. Für beide Thesen soll im Folgenden eine Argumentation nach Plausibilität entwickelt werden – ihre empirische Überprüfung steht allerdings noch aus, sofern sie denn überhaupt möglich ist. Dazu soll zunächst der Begriff der Innovation geklärt und geprüft werden, wie sich die im Innovationskonzept genannten Elemente in Rundfunkpolitik und Rundfunkanstalten wiederfinden lassen. Dabei soll auch untersucht werden, welche Rolle der Rundfunkstaatsvertrag spielt. Des Weiteren werden die innovationsbezogenen Elemente des Rundfunkänderungsstaatsvertrages analysiert und das Zusammenwirken von Redaktionen und Rundfunkräten bei der Entwicklung und Implementierung von innovativen Angeboten betrachtet. Im Ergebnis sollen beide Beiträge beim Zustandekommen von Innovationen gewichtet und gewürdigt werden. II. Innovation im Rundfunk Obwohl der Innovationsprozess – vor allem im Rahmen der Betriebswirtschaftslehre – gut erforscht ist, ist der Innovationsbegriff doch mit einigen definitorischen Problemen behaftet. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Definitionen (vgl. Hauschildt 1997, S. 4 ff.), so dass hier auf die Grundlagen der Innovationsforschung und pragmatische Definition bei Joseph A. Schumpeter zurückgegriffen
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wird, der in seiner „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ Innovation als kreative unternehmerische Antwort auf sich verändernde Umfeldbedingungen fasste. Er sprach in seinem Buch noch nicht von Innovation, sondern von der „Durchsetzung neuer Kombinationen“, die nicht regelmäßig und in kleinen Verbesserungsschritten des Bestehenden erfolgt, sondern diskontinuierlich auftritt (vgl. Voßkamp, S. 64). Den Begriff der Innovation verwendet Schumpeter erst 1939 (vgl. Hauschildt 1997, S. 7). In der früheren Schrift identifiziert er fünf Klassen von neuen Kombinationen, von denen vor allem die erste für den hier interessierenden Rahmen von Rundfunkpolitik relevant ist: „1. Herstellung eines neuen, d. h. dem Konsumentenkreise noch nicht vertrauten Gutes oder einer neuen Qualität eines Gutes“ (Schumpeter, S. 100 f.). Hier lassen sich programmliche Innovationen eindeutig verorten. Aber auch die anderen Klassen von Innovationen lassen sich bedingt im Rahmen der Rundfunkproduktion anwenden „2. Produktionsmethode“ (ebda.). Analog ließen sich hier die Entwicklung digitaler Übertragungstechniken als eine neue Kombination – im Sinne bekannter Inhalte, die auf innovativem Verbreitungswege dem Sender Kostenvorteile einbringen, da bestehende Frequenzen günstiger genutzt werden können. „3. Erschließung eines neuen Absatzmarktes“ (ebda.). Hier ist beispielsweise an die Gewinnung neuer z. B. jugendlicher Zuschauergruppen – ggf. durch innovative Inhalte – zu denken. „4. Eroberung einer neuen Bezugsquelle von Rohstoffen oder Halbfabrikaten“ (ebda.). Dies lässt sich auf die Arbeit mit Autoren und anderen Kreativen beziehen, die den Input für Rundfunkinhalte liefern. „5. Durchführung einer Neuorganisation“ (ebda.). Die in allen Medien fortschreitende Entwicklung zu integrierten Redaktionen und zu Cross-media-Produktion stellt eine Neuorganisation bei der Entwicklung von Inhalten dar. Auch die Entwicklung von Qualitätssicherungsverfahren, auf die am Ende dieses Beitrages noch einzugehen sein wird, lässt sich hier verorten. Für die bewusste Gestaltung von Innovationsprozessen und deren Rahmenbedingungen gilt, dass Innovationsmanagement etwas substanziell anderes ist als das Management von wiederholten Routineentscheidungen. Da davon auszugehen ist, dass die Orientierung auf Neues Teil des journalistischen, aber auch anderen redaktionellen Arbeitens in einer Rundfunkanstalt ist, könnte man davon sprechen, dass innerhalb von Sendern prinzipiell Innovationsmanagement stattfindet. Andererseits spricht man innerhalb der Journalistik ebenso grundsätzlich davon, dass Arbeitsroutinen überhaupt die journalistische Produktion erst möglich machen; analog ist das sicher auch für die redaktionelle Programmplanung anzunehmen (Blöbaum, Rühl). Innovationsmanagement in Redaktionen – so könnte man schlussfolgern – erfordert die Fähigkeit zum Ausbalancieren von Routineabläufen und deren Öffnung zugunsten von Innovationen.
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Innovationsmanagement ist nicht nur die bewusste Gestaltung von Innovationsprozessen, sondern muss auch Sorge tragen, dass die Rahmenbedingungen dafür möglichst günstig sind. Dies betrifft sowohl die Innovationskultur und die Strukturen in der innovierenden Unternehmung oder Organisation, also auch die Umfeldbedingungen und die Partner, mit denen eine Neuerung entwickelt und durchgesetzt werden soll. Überträgt man diesen Gedanken auf die Entwicklung von Innovationen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, so ließe sich für die Rundfunkpolitik schlussfolgern, dass die Gestaltung der Umfeldbedingungen zuvorderst dem Gesetzgeber obliegt und dass die Akteure in den Intendanzen der öffentlich-rechtlichen Anstalten erst auf dieser Grundlage Innovationen in ihrem Wirkungskreise generieren oder gestalten können. Innovationen – so ist weiter der Innovationsliteratur zu entnehmen – entstehen nicht im Selbstlauf. Neuerungen und deren Durchsetzung setzen kreative Akteure voraus, die bereit sind, Neues zu denken, bessere Lösungen zu entwickeln und auch gegen Widerstand neue Wege zu beschreiten. Die Suche nach neuen Erkenntnissen oder Lösungen setzt Neugier und Lust auf Erneuerung voraus. Innovationen setzten also einerseits Innovatoren voraus, andererseits aber auch Strukturen, innerhalb deren sie ihr Potenzial entfalten können. Als Innovatoren müssten gemäß dem oben Gesagten Redakteure bzw. Journalisten in den Sendern gelten, die diese Haltungen mitbringen. Strukturen sind innerhalb der Organisation Rundfunk jedoch mit einem eher beharrenden Moment gegeben, das für ein innovationsförderndes Klima ausgehebelt werden müsste. Darüber hinaus existieren viele verschiedene Phasenmodelle des Innovationsprozesses (Verworn / Herstatt), die in der Beschreibung des substanziellen Geschehens auf zwei Komponenten zu fokussieren sind: die Ideengenerierung und -prüfung und die Ideenimplementierung, die schließlich für den Erfolg beziehungsweise Misserfolg einer Innovation maßgeblich sein dürften. Die Ideengenerierung bezieht sich beim Rundfunk auf die Entwicklung von neuen medialen Angeboten, die den rechtlichen Rahmen voll ausschöpfen und den Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks weiterentwickeln und präzisieren. Die Innovationsimplementierung ist als Umsetzung der neuen Angebote zu denken – vor allem durch Entwicklung neuer innerredaktioneller Kooperations- und Arbeitsformen, da angesichts der gegebenen Kostendeckelung bzw. dem Zwang, die Aufrechterhaltung des klassischen Vollprogramms und die Neuentwicklung von Telemedienangeboten auszubalancieren, Innovationen weitgehend kostenneutral durchgeführt werden müssen. Zur Innovationsimplementierung gehört des Weiteren als zentrales Element das Werben um Akzeptanz der neuen Angebote bei den Vertretern der sogenannten gesellschaftlich relevanten Gruppen, die in den Rundfunkräten über die Genehmigung neuer Angebote zu befinden haben, und bei den Rezipienten, die neue Angebote nutzen sollen, sowie in der weiteren Medienöffentlichkeit, die solche Angebote kommentierend begleitet.
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Voraussetzung für den Prozess der Ideengenerierung ist, dass eine Person eine Divergenz zwischen der betrieblichen Realität und gesellschaftlichen Erwartungen wahrnimmt, wobei diese Differenz als Herausforderung interpretiert werden und ausreichend hoch sein muss (vgl. Krause). Für den Rundfunksektor lässt sich diese Divergenz als Diskrepanz zwischen dem veränderten Nutzerverhalten, das sich aufgrund der Möglichkeiten der Online- Kommunikation zunehmend fragmentiert, individualisiert, mobile Formen goutiert und vor allem von dem linearen Vollprogramm entfernt darstellt, und dem Auftrag, Rundfunk für die Gesellschaft auszustrahlen, interpretieren. Sie ist den Redaktionen und Führungskräften in den Sendern wohl bewusst. Die individuelle Bewertung, dass der alte Zustand zwar veränderungsbedürftig ist, reicht allein für die Ideengenerierung nicht aus. Hinzukommen muss die Überzeugung der Person, dass dieser Zustand auch veränderungsfähig ist. Daran könnten potentielle Innovatoren allerdings zweifeln, wenn man die Beobachtung zu Grunde legt, dass zumindest in dem von Printunternehmen dominierten Meinungsdiskurs zum öffentlichen Rundfunk die Vorgabe massiv verteidigt wird, der öffentliche Rundfunk solle bei dem alten Rundfunkbegriff bleiben und dürfe sich nicht in die Online-Welt weiterentwickeln. Außerdem ist die Ideengenerierung an eine Motivationshaltung auf Seiten der im jeweiligen Unternehmen Tätigen gegeben, die das Interesse an Neuerungen fundiert. Hier ließe sich – wie oben angedeutet – argumentieren, dass die motivationale Ausgangslage in der Tat von einem Berufsethos geprägt ist, dass das Neue zum Credo des alltäglichen Tuns erhebt. Die Ideengenerierung umfasst dabei Prozesse der Problemformulierung und Problemanalyse, der Ideenfindung und -entwicklung, den resultierenden Ideenvorschlag, seine Bewertung und die Entscheidung, ob eine Idee weiterverfolgt wird. Auf der Handlungsebene kann sich dieser Prozess darin zeigen, dass jemand experimentierfreudig ist, das Problem mit anderen diskutiert oder Zeit und Kraft investiert, um eine bessere Variante herauszufinden. Der Initiator muss darüber hinaus bereit sein, seine Idee einer entscheidungsbefugten Instanz – beispielsweise seinem Chef – mitzuteilen, um die nötige Ressourcenfreigabe für das Innovationsprojekt zu erhalten. Die Initiative kann formal geplant sein oder ad hoc aus den täglichen Arbeitsprozessen entstehen, sie kann reaktiv oder proaktiv sein und von Personen aller Hierarchieebenen angeregt werden. Alle diese Arbeitsschritte können in den Redaktionen aufgrund der Zuordnung von Journalisten und Redakteuren zu den kreativen Berufen vorausgesetzt werden. Schließlich werden aus den generierten Ideen einige ausgewählt und einer entscheidungsbefugten Instanz präsentiert, von der sie in technischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht auf ihre Angemessenheit zur Problemlösung und Effizienz hin geprüft werden, um eine Entscheidung für oder gegen die Durchsetzung der Innovation zu treffen. Diese Instanz sind im öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Hinblick auf neue Mediendienste die Rundfunkräte, die in dem schon genannten
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Drei-Stufen-Test nicht nur über die Legitimität neuer Angebote zu entscheiden haben, sondern ebenso über die Angemessenheit des entsprechenden Mitteleinsatzes. Man könnte nun argumentieren, dass erst die Existenz der kommerziellen Anbieter, die – um ihren Platz am Markt zu behaupten – mit einer Fülle von Innovationen im Programm aufgetreten sind, die öffentlichen Rundfunkanstalten dazu gebracht hat, ihr Innovationspotential zu erkennen, zu fördern und entsprechende Ideen zur Implementierung zu bringen, dass also das am Beginn der Privatisierung des Rundfunksektors stehende rundfunkpolitische Interesse, mehr Wettbewerb und damit Vielfalt im Angebot durch die Zulassung neuer Anbieter zu generieren (vgl. Künzler), ein innovationsförderndes Umfeld geschaffen hat. Durch die Schaffung von Rahmenbedingungen, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk dem publizistischen Wettbewerb aussetzen, hätte der Gesetzgeber also Innovationsanreize geschaffen. III. Public value als Innovationsquelle Die neuere Gesetzgebung setzt allerdings Rahmenbedingungen, die von zwei gegenläufigen Tendenzen gekennzeichnet sind, welche im Hinblick auf ihre innovationsfördernde Wirkung widersprüchlich sind: Mit dem Verweildauerkonzept sind den öffentlich-rechtlichen Telemedien formal klare und auch enge Grenzen gesetzt, die innovationsbehindernd wirken. Der Rundfunkstaatsvertrag sieht vor, dass nur Archive mit zeit- und kulturgeschichtlichen Inhalten unbegrenzt auf den Webseiten der öffentlich-rechtlichen Anstalten vorgehalten werden dürfen. Alle anderen Inhalte unterliegen einschränkenden Regelungen, die ihre Verweildauer im Netz drastisch begrenzen (§ 11d Abs. 2 RStV). Andererseits beinhaltet die im Rahmen des Drei-Stufen-Testes vorgesehene Prüfung, ob soziale, kulturelle und demokratische Bedürfnisse der Gesellschaft erfüllt werden, geradezu die Aufforderungen, Angebote zu entwickeln, die aus Sicht der Kommunikatoren diese Erfordernisse erfüllen, was als innovationsfördernd eingeschätzt werden kann. (§ 11 f. Abs. 4 RStV).
Ersteres bedeutet, dass im Staatsvertrag Zeitfenster festgelegt sind, während derer Inhalte, die die öffentlichen Anbieter in ihre Mediathek zum Abruf bereit stellen, online bleiben dürfen. Diese Zeitdauer beträgt beispielweise für Übertragungen der Fußball-Bundesliga und anderer sportlicher Großereignisse 24 Stunden und für sendungsbezogene Inhalte sieben Tage; Unterhaltungsprogramme sind als zulässiger Inhalt von Telemedienkonzepten ausgeschlossen. Diese Festsetzungen wirken innovationsbehindernd, weil die sehr eng gefassten Verweildauern nicht ermöglichen, die Online-Potentiale für die Telemedienangebote vollumfänglich zu nutzen. Sie widersprechen sowohl der Logik des Netzes, das keine inhaltlichen Grenzen kennt, als auch den Interessen der Nutzer, die gebührenfinanzierte Angebote nicht in dem Umfang nutzen können, die das Internet ermöglichen würde.
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Diese Regelungen haben zudem dazu geführt, dass die öffentlich-rechtlichen Anstalten einen erheblichen Teil ihres Webangebotes „depublizieren“ mussten – eine neue Wortschöpfung, die den einzigartigen Vorgang, dass ein Medium gezwungen wird, einmal im Internet Publiziertes zurückzunehmen, umschreibt. Der Drei-Stufen-Test hingegen übersetzt den Willen des Gesetzgebers, einen Kompromiss zwischen den Vorstellungen der EU-Kommission zum Beihilferecht der Europäischen Union, die die Rundfunkgebühr als kompatibel mit dem EUWettbewerbsrecht anzweifelt, und den deutschen verfassungsmäßigen Vorgaben zur Rundfunkfreiheit bzw. Staatsferne des Rundfunks herzustellen. Die EU wollte den Gesetzgeber bei der Festlegung des Funktionsauftrages nachhaltig in die Pflicht nehmen. Die EU-Kommission vertrat dabei die Ansicht, „dass die derzeit den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten eingeräumte Möglichkeit, Zusatzkanäle mit Schwerpunktsetzung auf Information, Kultur und Bildung anzubieten, nicht ausreichend präzise abgegrenzt ist“ (EU). Der Beihilfekompromiss, so wie er jetzt im Rundfunkstaatsvertrag festgelegt ist, folgt der Forderung des Bundesverfassungsgerichtes nach Zurückhaltung des Gesetzgebers bei der Detaillierung des Funktionsauftrages und überlässt diese den Aufsichtsgremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, also den Rundfunk- bzw. Fernsehräten. Die Konkretisierung des Funktionsauftrages wird vor allem bei allen neuen Aktivitäten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks relevant, die sich infolge der Digitalisierung und der Medienkonvergenz ergeben. So wird das bestehende Programm keiner weiteren Legitimationsprüfung hinsichtlich seiner Finanzierungsgrundlage unterzogen. Für die neuen Digitalprogramme jedoch gilt, dass ihre Programmkonzepte nach Durchlaufen des Drei-Stufen-Testes als Anlage zum RStV genommen werden. Die Mediatheken von ARD und ZDF werden im Rahmen des SiebentageAbrufes unmittelbar durch den Staatsvertrag mandatiert. Die notwendige Detaillierung des Funktionsauftrages bezieht sich insbesondere auf den Telemedienauftrag, sie enthält aber nur Vorgaben hinsichtlich der Zielrichtung und des äußeren Rahmens der Online-Angebote. Ihre Ausgestaltung obliegt den Rundfunkräten. Der RStV gibt lediglich das Verfahren vor, im Rahmen dessen die Gremien den Funktionsauftrag detaillieren sollen: Es ist die Prüfung, ob das Konzept eines neuen (oder geänderten) Telemedienangebotes dem öffentlichen Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks entspricht. Dieses Verfahren ist der Drei-Stufen-Test. Er stellt eine ordnungspolitische Grenzziehung zwischen dem kommerziellen und dem öffentlich-rechtlichen Bereich dar, und formuliert somit die Aufforderung, zu entwickeln und zu definieren, was diesseits dieser Grenze angeboten wird. Im Zentrum der geforderten Definition steht die Frage, welches die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse einer Gesellschaft sind. Hier liegt ein wesentlicher Ansatz zur Stimulation von Innovation: Es soll etwas definiert werden, was bislang in abstrakten Ausführungen der juristischen, demokratietheoretischen, kulturwissenschaftlichen etc. Disziplinen und Publikationen
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zu finden war, dort jedoch nie eine Konkretionsebene erreicht hatte, die für die redaktionelle Arbeit der Kommunikatoren notwendig bzw. präzise genug für eine justitiable Belastbarkeit gewesen wäre. Angesichts der Praxis der Rundfunkräte (vgl. Lilienthal) und ihres notwendigerweise eher distanzierten Verhältnisses ihrer Arbeit zur konkreten Redaktionsarbeit in den Anstalten ist es eine offene Frage, wer letztlich auf der Grundlage dieser Definition die Ausgestaltung und Detaillierung des Funktionsauftrages vornimmt: die Gremien, die über die jeweilige Telemedienkonzepte entscheiden müssen, oder die Redaktionen, die Konzepte ausarbeiten und sie genehmigt bekommen wollen. Welches die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse einer Gesellschaft sind, davon haben die Gremienvertreter jeweils eigene, möglicherweise nur sehr vage Vorstellungen, da weder in den entsendenden Organisationen, noch in den Rundfunkräten selbst bis zur Implementierung des Drei-Stufen-Testes ein fundierter Diskurs zur Thematik stattgefunden hat. Diese Vorstellungen existieren also individualisiert, sind oft – oder zumindest zu Beginn des Monate dauernden Prozesses eines Verfahrens zum Drei-Stufen-Test – unausgesprochen, können auch als vorwissenschaftlich bezeichnet werden, da sie von den entsprechenden wissenschaftlichen Überlegungen und Entwicklungen entfernt bzw. wenig tangiert sind. Dieser Umstand lässt sich nicht zuletzt auch durch die Tatsache illustrieren, dass sowohl in ARD als auch im ZDF Fortbildungsveranstaltungen für die Rundfunkräte zur Klärung der Problematik anberaumt wurden und werden. Dabei soll nicht der Anmaßung das Wort geredet werden, dass nur der wissenschaftliche Diskurs den erforderlichen Input geben kann, der zur Bewertung neuer Rundfunkangebote und Telemediendienste notwendig ist. Doch wird gerade in diesem Punkt der Verantwortung der Rundfunkräte deutlich, wie sehr gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Diskurs zur Frage der Aufgaben des öffentlichen Rundfunks und der Bewertung der Qualität, mit der er diese Aufgaben erfüllt, divergieren. Mit dieser Feststellung soll auch nicht dem verbreiteten (Vor-)Urteil das Wort geredet werden, den Gremienvertretern fehle es an fachlicher Kompetenz. Vielmehr geht es darum klarzustellen, dass die Ausgestaltung des Funktionsauftrages mit einer Konkretisierung dessen einhergeht, wie die postulierten demokratischen, kulturellen und sozialen Bedürfnisse auf konkrete Programmangebote herunter zu brechen sind. Dies ist bisher nicht systematisch geschehen bzw. entstand aus dem Urteil der Kreativität und Innovation der Redaktionen heraus. Die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse sind nun also am Beispiel von Programmkonzepten und Programmangeboten bzw. neuen Telemedienangeboten zu konkretisieren. Die Konzepte und Angebote müssen folgerichtig in den Redaktionen so innovativ entworfen werden, dass sie Antworten auf diese offene Frage geben.
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Ein Dreh- und Angelpunkt bei der Entwicklung und Bewertung von public value – an diesem von der BBC geprägten Begriff orientiert sich auch die deutsche Diskussion um den gesellschaftlichen Mehrwert von öffentlichem Rundfunk1 – ist die Frage, wie innovative Angebote von den Gremienvertretern, also den Vertretern der sogenannten gesellschaftlich relevanten Gruppen in den Rundfunkräten gewertet werden, weshalb hier ein kurzer Exkurs zur Klärung des Public-value-Begriffs erfolgen soll. Ausgehend von Hallins und Mancinis Medienregulierungsmodellen unterscheidet Karmasin drei idealtypische Deutungsmuster von public value (Karmasin, S. 95), in denen die Funktionen des öffentlichen Rundfunks jeweils anders gewichtet werden. Public value als öffentliches Gut
Diese Interpretation definiert public value aus medienökonomischer Perspektive als öffentlich regulierte Kompensation der Marktmängel und des Marktversagens in der jeweiligen Medienlandschaft. Sie ist vornehmlich einem wirtschaftsliberalen Regulierungsmodell zuzuordnen. Public value als Kulturgut
Hier wird die Meritorik an die Förderung kultureller und nationaler Identität gebunden. Public value wird somit als kulturelles Gegengewicht dem medienökonomischen Paradigma entgegengesetzt. Public value als demokratisches Gut
Der dritte Idealtyp wird von der ordnungspolitischen Vorstellung von den demokratischen Aufgaben der Medien dominiert. In ihm bestehen die Hauptaufgaben von public value darin, die Meinungsvielfalt in der Gesellschaft zu gewährleisten und eine aktive Öffentlichkeit zu unterstützen. Public value weist also durchaus unterschiedliche inhaltliche Auslegungen auf, die je nach vorherrschendem Regulierungsmodell anders gewichtet werden. Trotzdem stechen zwei modellübergreifende Kernprinzipien heraus: a) die Gewährleistung von Vielfalt organisationeller, kultureller und publizistischer Art b) die Förderung der gesellschaftlichen Teilhabe an öffentlicher Kommunikation (Radoslavov / Thomaß 2010). Public value wurde für die BBC mit folgenden Elementen konkretisiert (BBC 2006) sustaining citizenship and civil society promoting education and learning stimulating creativity and cultural excellence representing the UK, its nations, regions and communities bringing the UK to the world and the world to the UK in promoting its other purposes, helping to deliver to the public the benefit of emerging communications technologies and services and, in addition, taking a leading role in the switchover to digital television.
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Die Funktionen der öffentlich-rechtlichen Telemedienangebote, an denen sich die Bewertung innovativer Angebote durch die Gremienvertreter orientieren muss, sind in § 11d Abs. 3 RStV festgeschrieben: Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen an der Informationsgesellschaft Orientierungshilfe Förderung der Medienkompetenz aller Generationen und von Minderheiten.
Sie lassen sich also vor allem unter einem Verständnis von public value als demokratischem Gut subsumieren.
IV. Rundfunkräte und Innovation Welche Dimension von gesellschaftlichem Mehrwert von denen, die über neue Angebote des öffentlichen Rundfunks zu befinden haben, bevorzugt werden, wird Einfluss darauf haben, wie das Innovationspotential der Redaktionen zum Tragen kommen kann. Denn es ist anzunehmen, dass in den Redaktionen vor allem die Innovationen entwickelt werden, von denen die Redakteure annehmen können, dass sie in den Rundfunkräten goutiert, bzw. akzeptiert werden. Sowohl die Wertvorstellungen der Rundfunkräte vom gesellschaftlichen Mehrwert des öffentlichen Rundfunks als auch die individuellen Geschmacksvorlieben und Nutzungsmuster haben also – rückwirkend – Einfluss auf den Charakter von Innovationsentwicklungen, weil sie – im Sinne der oben ausgeführten Elemente des Innovationsprozesses – Umfeldbedingungen darstellen, an denen sich die potentiellen Innovatoren orientieren. Hier stellt sich nun die Frage, inwieweit die Repräsentanz in den Rundfunkräten selbst als innovationsfreundlich zu bezeichnen ist. Lässt sich aus der Zusammensetzung der Räte schließen, inwieweit hier Innovatoren versammelt sind – also – wie oben formuliert „kreative Köpfe und Personen, die bereit sind, Neues zu denken, an bessere Lösungen zu glauben und auch gegen Widerstand neue Wege zu beschreiten“? Dies berührt auch die Fragestellung, ob die Gremien die Zusammensetzung der gegenwärtigen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland adäquat widerspiegeln. Ein kurzer Exkurs zu einem jüngeren Konflikt um eine Personalie im ZDF im Jahr 2009 soll dies problematisieren. Zwar wurde die Auseinandersetzung um die Verlängerung des Vertrages des ZDF-Chefredakteurs des ZDF, Nikolaus Brender, vornehmlich im Verwaltungsrat geführt, doch war auch der Fernsehrat von dem Konflikt nicht unberührt. Im Zuge der Auseinandersetzung wurden Zweifel an der Staatsferne des Verwaltungsrates geäußert, wie es in einer Stellungnahme von Staatsrechtlern zu der Angelegenheit formuliert wurde: „Sollte sich herausstellen, dass letztlich ein Ministerpräsident als Meinungsführer stark genug ist, um einen bestimmten Chefredakteur zu verhindern, so würde
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dies einen praktischen Beleg dafür liefern, dass die zum Teil geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber der Zusammensetzung des Gremiums nicht unbegründet sind . . . Staatsfreiheit heißt, dass sich Mehrheiten im Sinne einer autonomen Ausübung der Rundfunkfreiheit nach Sachgesichtspunkten zusammenfinden“ (Offener Brief der Staatsrechtslehrer). Diese Bedenken gegenüber der Zusammensetzung des Gremiums lassen sich auch im Hinblick auf die Repräsentanz der aktuellen Gesellschaft Deutschlands formulieren. Die Rundfunkgesetze der Länder bzw. der dem ZDF zugrunde liegende Staatsvertrag haben die Auswahl der Vertreter der sogenannten gesellschaftlich relevanten Gruppen vor dem Hintergrund eines Gesellschaftsbildes getroffen, das aktuellen Bedingungen hinterherhinkt. Allein der Hinweis auf die mangelnde Repräsentanz von Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland einen Anteil von 18,6% (Klingler / Kutteroff, S. 297) ausmachen, ist hier bedeutsam. Im Hinblick auf das Innovationspotential ist die geringe Repräsentanz der Zuschauergruppen relevant, die als early adopters neuer Kommunikationstechonologien oder gar digital natives gelten können, oder die zumindest in relativ jungem Erwachsenenalter im Umgang mit digitalen Medien vertraut geworden sind. Diese Überlegungen sind aus folgendem Grund für die hier behandelte Frage nach dem Innovationspotential gesetzlicher Anreize bedeutsam: Wenn Innovation über bestehende Geschmacks-, Sehgewohnheiten, Mediennutzungsmuster etc. hinauszugehen hat, letztlich aber Vertreter über solche Innovationen zu urteilen haben, die eher als die bewahrenden Kräfte der Gesellschaft zu gelten haben, die nicht unbedingt als die early adopters von Medieninnovationen zu gelten haben – ist dann Innovation von den Redaktionen erfolgreich abzufordern? An einem besonderen Beispiel soll dieser Gedanke verdeutlicht werden: Wenn mit Vertretern des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger Verbandsvertreter in den Gremien sitzen, die als Wettbewerber am Markt mit einer eigenen Agenda gelten können, über innovative Angebote des öffentlichen Rundfunks entscheiden, ist dann eine an den Vorgaben des RStV orientierte sachgerechte Entscheidung zu erwarten? Diese Überlegungen lassen andere Gründe für die Zusammensetzung der Rundfunkräte – wie zum Beispiel Stellenwert und Bedeutung von gesellschaftlichen Organisationen für die politische Willensbildung – außer Acht; hier sollen allein die Innovationskultur und die dazu gehörigen Umfeldbedingungen betrachtet werden. Die Rundfunkräte – so das zentrale Argument – sind als wesentliche Akteure zu diesem Umfeld hinzuzurechnen.
V. Qualitätssicherung als Innovation Das Innovationspotential der Redaktionen ist angesichts der Vorgaben des Rundfunkstaatsvertrages mit der Entwicklung und Darstellung des Mehrwertes des
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öffentlichen Rundfunks verbunden. Diese erfordert neben der Profilschärfung der Sender vor allem eine Entwicklung von Qualität und damit auch von Qualitätssicherung. Die Entwicklung von Qualitätssicherungsverfahren kann als ein Aspekt von Innovation gedeutet werden. Gemäß den eingangs angeführten fünf Klassen von neuen Kombinationen nach Schumpeter lassen sich Qualitätssicherungsverfahren der „Durchführung einer Neuorganisation“ zuordnen, weil die Bewertung von Programmleistungen nach qualitativen Kriterien, die jenseits des quantitativen Kriteriums der Quote, welches vor allem aus rundfunkökonomischen Gründen am kommerziellen Markt dominant wurde, nicht nur eine Neuerung in der Bewertung von Programmen darstellt, sondern auch neue Feedbackverfahren und damit Rückkoppelungen zur Programmproduktion nach sich zog. Qualitätssicherung findet seit vielen Jahren im öffentlich-rechtlichen Rundfunk statt – es sind reichlich Konzepte und Verfahren entwickelt worden (Blumers, Breunig, Hasebrink, Metzger / Oehmichen). Aber auch dieser Prozess, der als innovativ zu bezeichnen ist, ist durch Vorgaben des RStV beschleunigt worden: Die Landesrundfunkanstalten der ARD, das ZDF und das Deutschlandradio wurden verpflichtet, „Satzungen oder Richtlinien zur näheren Ausgestaltung ihres jeweiligen Auftrags“ zu erlassen und alle zwei Jahre – erstmals zum 01. 10. 2004 – „einen Bericht über die Erfüllung ihres jeweiligen Auftrags, über die Qualität und Quantität der Angebote und Programme sowie die geplanten Schwerpunkte der jeweils anstehenden programmlichen Leistungen (Herv. B. T.)“ (ARD-Bericht und ARDLeitlinien2, entsprechend ZDF Selbstverpflichtungserklärung3) zu veröffentlichen. Diese Forderung mündete in die sogenannten Selbstverpflichtungserklärungen. Diese wurden innerhalb der Anstalten zunächst mit Skepsis betrachtet, und – zum Teil wohl zu Recht – als ein Instrument zur Gängelung und politischen Einflussnahme befürchtet. Doch ist auch eine andere Lesart denkbar, die die Möglichkeiten, welche in der Nutzung der Selbstverpflichtung für Innovationen liegen, in den Blick nimmt. Es ist kein unbilliges Anliegen, wenn Zuschauerinnen und Zuschauer Rechenschaft darüber erhalten, wie öffentliche Einrichtungen die Gebühren, die sie von ihnen erhalten, verwenden wollen (und im Rückblick: verwendet haben.) Und nichts anderes enthalten Selbstverpflichtungserklärungen im Kern: Aussagen über die Erfüllung des jeweiligen Programmauftrages, über die Qualität und Quantität der Angebote und Programme sowie die geplanten Schwerpunkte und somit auch über geplante (und im Rückblick: entwickelte) Innovationen. Die Anforderung, solche Leitlinien zu entwickeln, die sich noch stärker auf Innovationen hin fokussieren ließen, gewährt den Redaktionen die Autonomie, die journalistisches und redaktionelles Arbeiten grundsätzlich erfordert. Aus ihrer Konkretisierung ergeben sich die Vorstellungen, die anstaltsintern zur Qualität http:// www.daserste.de/service/allround.asp?uid=106t3n7ad1lm6l8x&name=leitlinien. http:// unternehmen.zdf.de/fileadmin/files/Download_Dokumente/DD_Das_ZDF/Selbst verpflichtungserklaerung_Programm_Perspektiven_2009_2010.pdf. 2 3
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konsentiert sind. Darauf aufbauend wiederum haben sich vielfältige Verfahren des Programmcontrolling entwickelt, die versuchen sollen, Qualität fass- und messbar zumachen. Die Gremienvorsitzendenkonferenz (GVK)4 der ARD hat 2009 ein Positionspapier verabschiedet, dass in dieser Thematik Orientierung liefern soll. Darin sind Positionen und Eckpunkte für die Qualitätsdebatte eingegangen. Dazu gehören die programmliche und inhaltliche Vielfalt als übergeordneter Maßstab für Qualität und die Forderung, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk gesellschaftlich relevante Themen nicht nur setzt oder aufgreift, sondern nachhaltig verfolgt und entsprechende Diskussionen in der Öffentlichkeit inhaltlich begleitet. Mit der Forderung nach Qualitätsprodukten in allen Genres den Gebührenzahler soll Erfolg durch Qualität als Gradmesser der Leistungserfüllung erzielt werden, und nicht allein die Quote als Maßstab gelten. Besonders hervorzuheben ist die Formulierung: „Die Gremien werden darauf hinwirken, dass der gesellschaftliche Mehrwert („Public Value“) des ganzen Programmspektrums als herausragendes Qualitätsmerkmal verstärkt evaluiert, reflektiert und dokumentiert wird“ (ebda.), die darauf verweist, wie unklar einerseits die Substantiierung des Konzeptes vom gesellschaftlichen Mehrwert in den Rundfunkräten noch ist, und wie sehr diese wiederum zur Aufgabe der Anstalten gemacht wird. Angeregt wird „dass über die Mitglieder der Rundfunkräte auch Anregungen aus möglichst allen Teilen der Gesellschaft in den internen Diskurs über Leistung und Qualität der öffentlich-rechtlichen Angebote einfließen“ (Herv. B. T.). Diese Formulierung lässt sich als Eingeständnis deuten, dass die Repräsentanz in den Räten sich nicht auf alle Teile der Gesellschaft bezieht. „Ein starres Kriterienraster hält die GVK für ungeeignet bei der Bewertung von Mediendiensten und zudem hinderlich bei der Erstellung journalistisch und künstlerisch hochwertiger, kreativer Mediendienste.“ Diese Formulierung berücksichtigt das Innovationspotential in den Redaktionen bzw. verweist auf die Einsicht, dass Innovation aus den Redaktionen erwachsen muss und kann. Das Papier empfiehlt ferner den Rückgriff auf die Leitlinien der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten sowie auf die bestehenden Kriteriensammlungen aus den Programmcontrollingverfahren. Es erklärt: „Die qualitätsorientierten Programmcontrollingverfahren, die bereits in vielen Landesrundfunkanstalten praktiziert werden, bedürfen einer stärkeren Abstimmung, aber keiner starren Vereinheitlichung. Angestrebt werden sollte eine engere Verzahnung von internem Programmcontrolling und Programmaufsicht durch die Gremien.“ Wenn – wie hier geschehen – die Entwicklung von Qualitätssicherungsverfahren als ein Aspekt von Innovation gedeutet worden ist, dann wird aus dieser Formulierung deutlich, dass der innovative Prozess Qualitätssicherung, der in den Landesrundfunkanstalten bereits auf eine schon längere Entwicklung zurückblicken kann, durch die gesetzlich 4 Zur Vereinheitlichung bzw. Koordination von Entscheidungsprozessen zwischen den Rundfunkräten der Landesrundfunkanstalten der ARD ist dieser Zusammenschluss der Vorsitzenden der einzelnen Rundfunkräte gebildet worden.
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implementierte Verpflichtung auf einen gesellschaftlichen Mehrwert einen neuen Schub erhalten hat. Gesetzliche Vorgaben haben also auch hier – wie schon zuvor argumentiert – Anreize zu Innovationen bzw. ihrer Weiterentwicklung gesetzt.
VI. Resümee Eingangs sind folgende Überlegungen einander gegenüber gestellt worden: Einerseits sind es im Wesentlichen neue gesetzlich verankerte Rahmensetzungen, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu innovativen Angeboten treiben. Andererseits ist davon auszugehen, dass gesellschaftlich eher konservativ wirkende Kräfte in der Rundfunkaufsicht Medieninnovationen möglicherweise skeptisch gegenüberstehen. Beide Aspekte – so hat die Argumentation gezeigt – spielen beim Innovationsprozess innerhalb des öffentlichen Rundfunks eine Rolle. Die Vorgaben des Gesetzgebers im Rahmen der aktuellen Rundfunkgesetze schaffen Voraussetzungen, die journalistische und redaktionelle Autonomie gewährleisten und Innovation stimulieren. Innovationshemmende Einflüsse können von der Interpretation dieser Vorgaben durch Gremienvertreter ausgehen, sofern sie in ihrer Interpretation des gesellschaftlichen Mehrwertes sich von ihrem individuellen Mediennutzungsverhalten leiten lassen bzw. – wie im Falle von Marktkonkurrenten – einer anderen Agenda folgen. Welche Tendenz letztendlich überwiegt, wird sich erst in einer sorgfältigen Analyse der Vielzahl der – zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrages noch laufenden – Verfahren zum Drei-Stufen-Test klären lassen.
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Akteurübergreifende Quersubventionierung innovativer Angebote Das Beispiel der Filmförderung Von Thomas Vesting I.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
II. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk als kollektiver Akteur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 1. Akteur, juristische Person, Anstalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 2. Anstaltsbegriff und Selbstorganisation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks . . . . 171 III. Die Filmförderung nach dem Filmförderungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 1. Das Regulierungsregime des Filmförderungsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 2. Der informations- und kulturökonomische Hintergrund der Filmförderung . . . . . . 180 3. Vom akteurs- zum netzwerkbezogenen Regulierungsregime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 IV. Mehr Innovation durch Quersubventionierung in Netzwerken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
I. Einleitung Der vorliegende Beitrag versucht, eine netzwerktheoretische Perspektive auf die institutionalisierte Filmförderung nach dem Filmförderungsgesetz (FFG) zu werfen. Dabei soll das Besondere dieses akteurübergreifenden „Regulierungsregimes“ durch einen Vergleich mit der Regulierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks herausgearbeitet werden, d. h. im Vergleich zu einer öffentlich-rechtlichen Regulierung, die ursprünglich als reine „Regulierung durch Organisation“ ausgestaltet war. Deshalb wird zunächst der öffentlich-rechtliche Rundfunk als kollektiver Akteur und seine Offenheit für und Durchlässigkeit zur „Gesellschaft der Gruppen“ bzw. zur sozialstaatlichen Massendemokratie einer genaueren Analyse unterzogen (unten II), bevor näher auf die Ausgestaltung der Filmförderung nach dem FFG eingegangen wird (unten III). Den Abschluss bildet der Versuch eines Vergleichs der beiden Regulierungsregime in ihrer derzeitigen Ausgestaltung (unten IV).
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II. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk als kollektiver Akteur 1. Akteur, juristische Person, Anstalt In den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften bezeichnet der Begriff „Akteur“ normalerweise das vernünftig handelnde Individuum, d. h. den Menschen und sein Bewusstsein „als Motivationsgenerator für Wissen und Tun“1. Vor allem die Soziologie hat aber seit jeher darauf insistiert, dass der individuelle Akteur nur in sozialen (sinnhaften, kommunikativen) Bezügen handeln kann, die ein gemeinsames Wissen voraussetzen, das jenseits des Einzelnen in einer kollektiven Welt, einer Gemeinschaft oder Gesellschaft, fundiert ist. Zähneputzen beispielsweise ist eine Handlung, aber normalerweise keine soziale Handlung, während die Aussage „Ich bin gegen die Verlängerung des Vertrages von Nikolaus Brender“ in der Verwaltungsratssitzung des ZDF eine typisch soziale Handlung ist. Das Beispiel zeigt auch und zugleich, dass der individuelle Akteur stets ein gesellschaftliches Wesen ist. Der Sprechakt nutzt eine gemeinsame Sprache, die andere verstehen und lässt dabei Kontextdaten mitlaufen, die ebenfalls von anderen geteilt werden, wie etwa das Wissen darüber, dass Nikolaus Brender Redakteur des ZDF ist, sein Anstellungsvertrag abläuft und daher verlängert werden muss. Verallgemeinernd kann man deshalb sagen, dass der psychischen „Ich-Welt“, dem „Ich-Erleben“ des Akteurs, eine soziale „Wir-Welt“ vorausgeht, die Abhängigkeit von einem transsubjektiven Geschehen, das die Soziologie des 20. Jahrhundert in unterschiedlichen Terminologien zu fassen versucht hat: „objektive Kultur“ (Georg Simmel), „Strukturen der Lebenswelt“ (Alfred Schütz) oder „soziale Systeme“ (Luhmann) sind hierfür nur ein paar nahezu beliebig herausgegriffene Beispiele. Die Wirtschaftswissenschaften haben die Einbettung individuellen Handelns und Entscheidens in eine soziale „Wir-Welt“ lange Zeit vernachlässigt, aber beispielsweise lässt die neuere Institutionenökonomie keinen Zweifel daran, dass ökonomisch relevantes Handeln eine gemeinsame Infrastruktur von praktischem Regelwissen voraussetzt, ja Institutionen Verhalten sogar generieren.2 Auch in der Rechtswissenschaft sind mit „Akteur“ zunächst einmal das einzelne Individuum und die Motive einer Handlung gemeint; in diesem Sinn spricht etwa Hoffmann-Riem in einem verwaltungsrechtlichen Zusammenhang von intermediären Akteuren wie Beliehenen, Verwaltungshelfern, Beauftragten etc.3 Der artikulierte Wille wird hier ebenfalls im Licht eines gemeinsamen Wissens, dem objekArmin Nassehi, Der soziologische Diskurs der Moderne, 2006, S. 69. Vgl. nur Douglas C. North / John J. Wallis / Barry R. Weingast, Violence and Social Orders, 2009, S. 15, 29 („Institutions are the ,rules of the game‘, the patterns of interaction that govern and constrain the relationship of individuals. Institutions include formal rules, written laws, formal social conventions, informal norms of behavior, and shared beliefs about the world, as well as means of enforcement.“). 3 Wolfgang Hoffmann-Riem, Rechtsformen, in: ders. / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II: Informationsordnung, Verwaltungsverfahren, Handlungsformen, 2008, § 33 Rn. 93. 1 2
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tiven Empfängerhorizont, interpretiert. Diese Überlappung mit dem soziologischen oder ökonomischen Akteursbegriff wird in den Rechtswissenschaften aber insofern modifiziert, als rechtlich relevante Handlungen nicht nur durch individuelle Akteure durchgeführt werden können, sondern auch durch artifizielle kollektive Akteure, durch Gesamthände und Korporationen aller Art, durch Gemeinden, Stiftungen, Kirchen, Städte, Fürstentümer, Staaten, Unternehmen, hybriden Aufgabenträgern usw. Während die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften den kollektiven Akteur – die Organisation – erst im 20. Jahrhundert stärker zu ihrem Thema gemacht haben (z. B. in der Parteiensoziologie bei Robert Michels oder in der Transaktionskostentheorie von Ronald Coase), entwickelt die Rechtswissenschaft bereits im 19. Jahrhundert die Vorstellung eines von ihren leiblichen Mitgliedern abgekoppelten und dennoch selbständig rechtsfähigen (also vernunftbegabten) Subjekts dessen Ursprünge sich bis zu den römisch-rechtlichen Vorstellungen der Körperschaft seit republikanischer Zeit zurückführen lassen (corpus, universitas, collegia, corpora).4 Allerdings haben Douglass C. North, John J. Wallis und Barry R. Weingast jüngst noch einmal darauf hingewiesen, dass der römische Körperschaftsbegriff sich nicht hinreichend gegenüber seinem personalen Substrat verselbständigt und damit für politische Interventionen, vor allem für den Willen des politischen Herrschers zugänglich bleibt.5 In einer eher politikzentrierten Perspektive entspricht dem die Einsicht von Yan Thomas, dass die „klassische antike KörperMetapher“ nicht über die „konkrete Ebene der Komplementarität und der Einheit des Gesellschaftsköpers“ hinausgeht und „keinerlei Konzept einer abstrakten politischen Entität“ einschließt.6 Erst der christliche Begriff des corpus mysticum, die Korporationstheorien des kanonischen Rechts und die neuzeitlichen Staatskonstruktionen seit Hobbes lösen den Staat von seinen sterblichen Mitgliedern ab und schaffen im Medium der Schrift ein artifizielles und dennoch voll rechtsfähiges Subjekt. Vermittelt über Friedrich Carl von Savigny wird die Vorstellung einer juristischen Person dann bei Wilhelm Eduard Albrecht – in der Besprechung von Maurenbrechers Grundsätze – auch im deutschen Sprachraum auf den politischen Körper „Staat“ übertragen, der fortan als Staatspersönlichkeit, unabhängig von einer konkreten Herrscherpersönlichkeit, gedacht wird.7 4 Dazu allg. Max Kaser / Rolf Knütel, Römisches Privatrecht, 17. Aufl. 2003, S. 115 ff. Frühe Beispiele aus den Digesten hierfür sind: Was einer Körperschaft geschuldet wird, wird nicht den einzelnen Mitgliedern geschuldet, was einer Körperschaft gehört, gehört nicht den einzelnen Mitgliedern – abgedruckt bei Detlef Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 6. Aufl. 1998, Q 131, 132. 5 North et al., Orders (Fn. 2), S. 48, 63; vgl. auch Silvio Ferrari, Adapting Divine Law to Change. The Experience of the Roman Catholic Church (with some Reference to Jewish and Islamic Law), 28 Cardozo Law Review (2006 – 2007), S. 53 ff. (zum herrscherzentrierten Willensbegriff im kanonischen Recht); Harold J. Berman, Law and Revolution II. The Impact of the Protestant Reformation on Western Legal Tradition (1983), Cambridge 2003, S. 342 f. (zur Ablösung der Aktiengesellschaft als Handlungsform im Rahmen einer „communitarian ethic“ im England des 17. Jh.). 6 Yan Thomas, La Construction, S. 25, hier zitiert nach Albrecht Koschorke u. a., Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, 2007, S. 70.
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Die Flexibilität des juristischen Personenbegriffs im Hinblick auf sein personales Substrat hat allerdings eine Kehrseite, die das im 19. Jh. entwickelte Konzept der juristischen Person heute an eine Grenze führt. Diese Kehrseite besteht darin, dass alle individuellen wie kollektiven Akteure im Rechtssystem wie juristische Personen behandelt werden, und die Betonung muss dabei auf den Begriff der Person gelegt werden. Das will sagen: Das Paradigma, nach dem kollektive Akteure in der Rechtswissenschaft gedacht werden, ist das Paradigma der natürlichen Person, d. h. des leiblichen Körpers, und zwar das des menschlichen leiblichen Körpers. Dieses Paradigma wird in der Metaphorik des politischen Körpers seit der frühen Neuzeit hauptsächlich durch zwei Komponenten bestimmt: Der Körper wird als arbeitsteiliger Organismus gedacht, der jedem Körperglied eine feste Funktion zuweist, diese Funktionen aber über eine interne Hierarchie an ein Steuerungszentrum bindet; außerdem hat der Körper eine klare Innen / Außen-Grenze.8 So wie der Mensch einen Kopf und ausführende Organe wie Hand und Mund hat und eine Haut, die die Grenze des Körpers zu seiner Umwelt zieht und die Kontaktzonen festlegt, an denen der Körper für seine Umwelt empfänglich ist (Atmungsaktivität, Nahrungsaufnahme etc.), wird in der Staatstheorie der frühen Neuzeit auch die politische Einheit wie ein Mensch oder zumindest – wenn man an das berühmte Frontispiz des Leviathan von Thomas Hobbes denkt – wie eine menschenähnliche große Mensch-Maschine gedacht, die sich von anderen Mensch- Maschinen unterscheidet und nur über das Zentrum, den Kopf, Kontakte nach außen zulässt. In grober Verkürzung kann man daher thesenartig behaupten, dass eine durch den Kopf gesteuerte Handlungsfähigkeit des politischen Körpers bei der Konstruktion der juristischen Person „klassischen Typs“ als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Auch die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt folgt auf den ersten Blick diesem Paradigma: Die Anstalt hat einen Intendanten als „Kopf“ und journalistische Redaktionen als „ausführende Organe“ und eine Innenseite, die beispielsweise die Tageschau als ARD-interne Hausproduktion von einer Außenseite, der Harald Schmidt Show als ARD-eigener Auftragsproduktion, unterscheidet. Und so wie die Innenseite der Person nur für den jeweiligen Menschen selbst unmittelbar zugänglich ist, während der Beobachter auf Erfahrungen und Einschätzungen angewiesen ist, wissen auch nur Insider, was Harald Schmidt nun genau pro ausgestrahlter Harald Schmidt-Show in der ARD verdient.
7 Koschorke u. a., Staat (Fn. 6), S. 69 ff., 112 (Hobbes), 338 ff., 350 (Staat als juristische Person); vgl. auch Harold J. Berman, Recht und Revolution I. Die Bildung der westlichen Rechtstradition (1983), 1991, S. 356 ff. (zum Korporationsbegriff des kanonischen Rechts). 8 Ausführlicher und differenzierter Koschorke u. a., Staat (Fn. 6), S. 64 ff. (die u. a. die Wechselwirkung von medizinischen und sozialen Körperkonzepten betonen).
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2. Anstaltsbegriff und Selbstorganisation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks Sieht man genauer hin, fügt sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk allerdings nur schwer in die herkömmliche Vorstellung organisierter Staatlichkeit und die ihr entsprechenden Rechtsformen ein.9 Zwar werden die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten durch die Landesrundfunkgesetze und Staatsverträge als gemeinnützige Anstalten mit eigener Rechtspersönlichkeit und damit als eigentümlicher Organisationstyp der öffentlichen (Leistungs-)Verwaltung qualifiziert.10 Die Besonderheit der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt besteht aber nicht nur darin, dass sie als staatsfreie Anstalt keine typische vom Staat getragene Anstalt oder Körperschaft des öffentlichen Rechts ist,11 sondern von ihren internen (formalen) Organisationsstrukturen her gesehen gerade nicht wie eine „impermeable“ Person mit durchgehender Hierarchie konstruiert ist. Auch wenn öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten einen Intendanten haben, ist dieser doch eher ein Moderator und Stellvertreter der Anstalt nach außen als der Kopf der Anstalt, der den gesamten Apparat lenkt. Gerade das Programm wird ja nicht vom Intendanten entworfen und produziert, sondern in einem komplexen arbeitsteiligen Prozess, oft unter Beteiligung von außerhalb der Anstalt stehenden Produzenten, lediglich „verantwortet“.12 Die Anstalt als verselbständigte Rechtspersönlichkeit wird aber wie die juristische Person im Allgemeinen durch den Kopf konstituiert. Das hat nicht nur politische Gründe wie die absolutistische Vergangenheit des europäischen Staates, in dem Kopf und Krone des Königs das Staatshaupt des imaginierten Staatskörpers symbolisierten.13 Im Kopf sind ja auch die organischen und seelischen Grundlagen der Kommunikation beheimatet und damit das, was den Unterschied von Menschen und allen anderen Lebewesen ausmacht. Wie stark das Paradigma des leiblichen menschlichen Körpers für ganz zentrale kulturelle Errungenschaften ist, 9 Zu diesen Formen vgl. allg. Thomas Groß, Die Verwaltungsorganisation als Teil organisierter Staatlichkeit, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I: Methoden, Maßstäbe, Aufgaben, Organisation, 2006, § 13 Rn. 43 ff.; Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, S. 239 ff. 10 Man müsste hier im Übrigen durchaus die Frage stellen, ob die Einordnung der öffentlichen-rechtlichen Rundfunkanstalten als „Anstalten“ überhaupt kunstgerecht ist oder die Qualifizierung als Körperschaft, wie beim Deutschlandradio (vgl. § 1 DLR-StV), nicht eigentlich naheliegender wäre. Diese Fragen sind bislang nur in finanzverfassungsrechtlichen Zusammenhängen, bei der Einordnung der Rundfunkgebühr als atypischer Gebühr, diskutiert worden. 11 Vgl. nur Albrecht Hesse, Rundfunkrecht, 2003, Rn. 43 ff.; Friedrich Kübler, Medien, Menschenrechte und Demokratie. Das Recht der Massenkommunikation, 2008, S. 215 f. 12 Vgl. Hesse, Rundfunkrecht (Fn. 11), Rn. 68.; Kübler, Massenkommunikation (Fn. 11), S. 217. 13 Vor der Hinrichtung von Karl I soll Cromwell über diesen gesagt haben: „I tell you we will cut off his head with the crown on it“, hier zitiert nach Koschorke u. a., Staat (Fn. 6), S. 120 f. Deshalb ist der Tod durch das Fallbeil zunächst auch ein Adelsprivileg, d. h. der Adel wird nicht erhängt.
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zeigt auch und gerade der Fall der Schrift: Die visuell fixierte Äußerung ist ganz nach dem Vorbild der primär über Kopforgane operierenden Lautsprache organisiert.14 Es gab und gibt in der Welt alle möglichen Schriftsysteme, die in allen möglichen Formen geschrieben wurden und werden: von rechts nach links, von links nach rechts, oder abwechselnd, vertikal und horizontal, aber Schrift wird immer von oben nach unten geschrieben und nie umgekehrt. Noch die Seitenformate des Buchdrucks sprechen hier eine deutliche Sprache. Man denke nur an die Einteilung von Büchern in Kapitel, ein Wort, das sich von lat. caput (Kopf) herleitet oder an die von Juristen exzessiv gehandhabte Einrichtung der Fußnote, die eben Fußnote am unteren Seitenrand ist, Appendix zum „Haupt“-Text.15 Erst der Hypertext des Internets löst diese Hierarchien unwiderruflich auf. Die hierarchisch und zentralistisch gedachte Vorstellung des (politisch-administrativen) Körpers wird im Fall der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt also erheblich modifiziert. Ähnlich wie noch das Mittelalter eine Reihe von kollegialen und demokratischen Formen der Körperschaft kennt,16 ist die juristische Person im Fall der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt von vornherein viel stärker pluralistisch und dezentral als kopfförmig und monokratisch konstruiert, viel stärker prozesshaft als statisch – und viel stärker als am Rand zerfasert gedacht denn als klar nach außen begrenzt und abgegrenzt. Das kommt – neben den vielen hybriden Netzwerken, die es heute auf der Ebene der Programmproduktion gibt – am klarsten und deutlichsten in der Einrichtung des Rundfunkrates als dem sogenannten Vertreter der Interessen der Allgemeinheit zum Ausdruck: Die Herstellung des öffentlich-rechtlichen Gesamtprogramms wird über den Rundfunkrat an die als divergierend (und nicht einheitlich) gedachten Meinungen und Interessen „gesellschaftlicher Gruppen“ rückgekoppelt.17 Damit wird der in der sozialstaatlichen Massendemokratie – der „Gesellschaft der Organisationen“ (K.-H. Ladeur) – erreichte Grad an politischer und sozialer Vielfalt in der Anstalt selbst abgebildet und der Rundfunkprozess primär als Organisationsproblem gedacht. Mit Hoffmann-Riem könnte man auch schlagwortartig sagen: Rundfunkfreiheit durch Rundfunkorganisation.18 An die Stelle der Vorstellung einer homogenen liberalen 14 Primär, weil das gesprochene Wort stets auch Geste ist, die Gestikulation kann aber etwa auch durch Hände unterstützt werden. 15 Walter J. Ong, Orality and Literacy, 2003, S. 98 f. 16 Koschorke u. a., Staat (Fn. 6), S. 87 f.; für die Gegenwart vgl. Groß, Verwaltungsorganisation (Fn. 9), § 13 Rn. 52 ff. 17 Vgl. Peter Lerche, Landesbericht Bundesrepublik Deutschland, 1979, S. 68; Hesse, Rundfunkrecht (Fn. 11), Rn. 77; Kübler, Massenkommunikation (Fn. 11), S. 219. 18 Vgl. Wolfgang Hoffmann-Riem, Rundfunkfreiheit durch Rundfunkorganisation, 1979; ders., Regulierung der dualen Rundfunkordnung, 2000, S. 253, 273 ff.; vgl. auch Martin Eifert / Hermann Eichler, in: Hahn, Wolfgang / Vesting, Thomas (Hrsg.), Beck’scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 2008, § 11 RStV Rn. 40; kritisch Karl-Eberhard Hain, Die öffentlichrechtlichen Anstalten auf dem Weg in die digitale Welt – zwischen Karlsruhe und Brüssel, in: Stern, Klaus / Prütting, Hanns / Peifer, Karl-Nikolaus, Neue Mediendienste und öffentlichrechtlicher Rundfunk, 2009, S. 7 ff., 23.
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Honoratiorenöffentlichkeit tritt eine pluralistische Gruppenöffentlichkeit, in der das stärker prozesshaft denn substanziell gedachte Grundrecht der Rundfunkfreiheit die Möglichkeit gewährleistet, dass alle gesellschaftlich relevanten Gruppen – gemeint sind vor allem: Parteien und Verbände – „gleichgewichtig“ im Programm zu Wort kommen.19 Der Kommunikationsraum des Rundfunks wird also insgesamt politik- und staatszentriert vorgestellt: Es wird unterstellt, dass das Leben und die innere Welt der Einzelnen stark durch die Zugehörigkeit zu einer aus Parteien und Verbänden und deren Milieus geprägten Gruppenöffentlichkeit bestimmt wird. In diesen „Sinn-Provinzen“ findet eine Vorsortierung von „Themen“ statt, die qua Gruppenrepräsentation in die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt hineingetragen werden und dort den Möglichkeitsraum der anstaltsinternen Programmplanung vorstrukturieren, das als gesendetes Programm dann seinerseits eine wichtige Voraussetzung im Prozess der politischen Willensbildung übernimmt. Diesen Zusammenhang von Rundfunkrecht und Verfassungsrecht als Recht politischer Einheitsbildung kann man sich wie eine Art „Stufenmodell“ vorstellen oder vielleicht besser – mit Karl-Heinz Ladeur – als Modell „konzentrischer Kreise“, die von der „Vorformung“ des politischen Willens im Rundfunk (und anderen Medien, insbesondere der Presse) als äußerem Kreis bis zum engsten Kreis der politischen Entscheidung in der Regierung und im Parlament reicht.20 Während diese Besonderheit, die gesetzlich verankerte Kopplung der Anstaltsform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit der Gesellschaft der Organisationen in der rundfunkrechtlichen Literatur häufig übersehen wird, neigt die staats- und verfassungsrechtliche Literatur dagegen bis heute zu einem eher unfruchtbaren Streit über die Notwendigkeit des Begriffs der juristischen Person. Vor dem Hintergrund einer auch von Ernst-Wolfgang Böckenförde aufgeworfenen Frage nach der Leistungsfähigkeit der Theorie der juristischen Person hat beispielsweise Christoph Möllers in seiner Schrift Der Staat als Argument die These aufgestellt, dass die Qualifizierung des Staates als Rechtspersönlichkeit „Ergebnis einer positiv-rechtlich vorgegebenen Konstruktion“ sei und diese nicht durch eine wirklichkeitsbezogene Perspektive à la Hermann Heller substituiert werden dürfe.21 Damit geht Möllers an dem eigentlich zu lösenden Problem aber doch wohl eher vorbei: Es ist ja nicht strittig, dass das öffentliche Recht weiterhin rechtskonstruktiver Möglichkeiten der Zurechnung von Handlungen auf kollektive (und nicht nur individuelle) Akteure bedarf. Insoweit steht der Begriff der juristischen Person nicht zur Diskussion. Die entscheidende Frage ist aber, ob diese kollektiven Akteure durch das positive Recht durchgängig wie eine Person konstruiert und behandelt werden oder BVerfGE 12, 205 (262 f.).; 57, 295 (325); 73, 118 (152). Zum Stufenmodell vgl. Thomas Vesting, in: Hahn / ders., Rundfunkrecht (Fn. 18.), Einführung Rn. 14 ff.; zum Modell „konzentrischer Kreise“ Karl-Heinz Ladeur, in: Paschke, Marian / Berlit, Wolfgang / Meyer, Claus (Hrsg.), Hamburger Kommentar Gesamtes Medienrecht, 2008, 4. Abschnitt Rn. 71; ausführlich ders., Rechtliche Möglichkeiten der Qualitätssicherung im Journalismus, 2000; Ino Augsberg et al., Denken in Netzwerken, 2009, S. 45 ff. 21 Christoph Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 162; ähnlich ebd., S. 331 f. 19 20
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ob der Begriff der juristischen Person auch für andere soziale Substrate als Menschenkörper geöffnet werden darf, etwa für den Begriff der Organisation und der daran anknüpfenden „sozialen Epistemologie“,22 d. h. der Kognitionen, mit denen Individuen und Gruppen eine „Wir-Welt“ in Mustern von stabilen kollektiven Körpern entwerfen. Etwas spitzer argumentiert fragt sich, ob die Körpermetaphorik und Körperrhetorik, die einzig zulässige Metaphorik und Rhetorik des öffentlichen Rechts sind und jede andere Metaphorik und Rhetorik eine per se nicht mehr juristische, nur noch sozialwissenschaftliche, literaturwissenschaftliche, schöngeistige Metaphorik und Rhetorik ist. Letzteres erscheint eine kaum haltbare Position zu sein, weil die Rechtswissenschaft hier notwendigerweise auf literaturwissenschaftliche Supplementierungen angewiesen ist.23 Außerdem zeigt der Fall der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalt, dass diese Frage positiv-rechtlich keineswegs eindeutig entschieden ist. Die Landesrundfunkgesetze sprechen zwar von „Anstalt“, die genaueren Vorschriften über den Anstaltsaufbau (Organe) und die Beteiligung gesellschaftlich relevanter Gruppen (vgl. nur §§ 13 ff. WDR-G) zeigen jedoch, dass mit Anstalt keine gegenüber der Gesellschaft impermeable Rechtspersönlichkeit gemeint ist, sondern eine Körperschaft (im weiten Sinn), deren interne Selbstorganisationsprozesse strukturell mit dem Pluralismus der politischen Gesellschaft gekoppelt sind. Die traditionelle Logik der juristischen Person wird im Wort „Anstalt“ beibehalten, aber in einer „sekundären Modellierung“ an neuartige Erscheinungen einer gruppenpluralistischen Öffentlichkeit angepasst und die Selbstorganisation der Anstalt für Komponenten der gesellschaftlichen Fremdorganisation geöffnet. Diese Durchlässigkeit des Rundfunkorganisationsrechts für einen „offenen“ pluralistischen Anstaltstypus, den noch Ernst Forsthoff in seinem Staat der Industriegesellschaft in typischer Manier als „Nisthöhlen für Cliquen“ bezeichnet hat,24 hätte sich viel stärker als bislang als Referenz im allgemeinen Verwaltungsorganisationsrecht niederzuschlagen. Dieser Zusammenhang ist auch deshalb von weitreichender Bedeutung, weil sich daran heute die Frage anschließt, ob und inwiefern kollektive Akteure über den Begriff der Organisation hinaus für die Metaphorik und Sprache der Netzwerke und einer daran gekoppelten sozialen Epistemologie geöffnet werden können und müssen. Gunther Teubner spricht in diesem Zusammenhang von einem Übergang vom Makrokorporatismus älterer Prägung zu einem neuartigen „Polykorporatismus“,25 der – so die Terminologie einer neueren Arbeit 22 Vgl. allg. Sybille Krämer, Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, 2008, S. 253 ff., 257 (Sozialität bildet den „innersten Kern“ unserer Wissenspraktiken); Hans-Jörg Rheinberger, Historische Epistemologie zur Einführung, 2007, S. 11 (in wissenschaftshistorischer Perspektive). 23 Koschorke u. a., Staat (Fn. 6), S. 353; vgl. allg. Ino Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009, S. 12 ff. 24 Vgl. Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft (1971), 1995, S. 156; zu Forsthoffs Grenzen jetzt Anna-Bettina Kaiser, Die Kommunikation der Verwaltung, 2009, S. 219 ff. 25 So Gunther Teubner, Polykorporatismus, in: Brunkhorst, Hauke (Hrsg.), Das Recht der Republik, 1999, S. 346 ff.
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– einer Logik der heterarchischen Koordination folge, bei der „nicht mehr hierarchisch auf einen übergeordneten Zweck hin organisiert wird, sondern nur noch strategisch und situativ, ohne die Möglichkeit zwischen allgemeinem Öffentlichen und partikularem Privaten zu unterscheiden“.26 Und Karl-Heinz Ladeur sieht den Staat und seine Verwaltungsorganisationen ebenfalls im Übergang zu einer „Gesellschaft der Netzwerke“, der Entstehung einer „Wir-Welt“ jenseits der stabilen Muster von Körpern in hochvariablen „intra- und interorganisationalen Netzwerken“ und „heterarchischen hybriden Verschleifungen“.27 Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Thomas Frank und Ethel Matala de Mazza, die eine umfangreiche und detailreiche Studie zu den Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europa vorgelegt haben, beschreiben dieses Problem ganz ähnlich: „Was hat es für Folgen, wenn Gesellschaften sich nicht mehr als Organismen (beziehungsweise Systeme, die bis zu einem gewissen Grad eine Nachfolgeformation des organologischen Modells von gesellschaftlicher Einheit durch Differenzierung sind), sondern als Vielzahl interdependenter, aber höchst variabel geknüpfter und schnell veränderlicher Netze beschreiben? Was heißt es, sich inmitten von unabgeschlossenen, hybriden Strukturen statt in korporativen Zugehörigkeiten mitsamt ihren Inklusionen und Exklusionen zu imaginieren? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Definition und das Selbstverständnis von sozialen Akteuren und kollektiven Subjekten – die das Herzstück und ständiger Verhandlungsgegenstand der Fiktion des sozialen Körpers waren?“28 Wenn man so ansetzt, wird auch sofort deutlich, wo gegenwärtig die Problemzone der Konstruktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als Anstalt liegt, eine Zone, die hier ausgeweitet werden soll. Die Anstaltskonstruktion gehört in die ältere Variante des Makrokorporatismus, der Leistungsverwaltung,29 die eng mit einer Politik- und Staatszentrierung verbunden ist. Die Gesellschaft wird wie eine politische Gesellschaft imaginiert, während umgekehrt das sich als Produzent und Konsument am öffentlich-rechtlichen Rundfunk beteiligende Individuum als politisch engagierter Staatsbürger gedacht wird, der alle Kontinuitäten mit der NaziDiktatur unterbricht und die schuldhafte Verstrickung in einen „Unrechtsstaat“ durch ein umfassendes demokratisches Engagement ersetzt. Damit werden aber schon das Individuum der Massenkultur – und die bundesrepublikanische Nachkriegszeit insgesamt – idealisierend modelliert. Wenn man diese Abweichung des Integrationsmodells des öffentlich-rechtlichen Rundfunks von der Realität angesichts eines Programms, das seinen Bildungs- und Informationsauftrag zunächst auch in den Hauptprogrammen ernst nahm, auch insgesamt noch hinnehmen mag, so kann der nervöse Zuschauer der postmodernen fragmentierten „UnterhaltungsGunther Teubner, Netzwerk als Vertragsverbund, 2004, S. 38; vgl. auch S. 66 ff. Karl-Heinz Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, S. 296; vgl. dazu allg. Augsberg et al. (Fn. 20). 28 Korschoke et al., Staat (Fn. 6), S. 386. 29 Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2006, § 23 Rn. 46, 48. 26 27
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öffentlichkeit“ des „dualen Rundfunksystems“, der sich von einem Nischenprogramm zum anderen klickt, darin nicht mehr integriert werden. Vor allem die neuen Formen der Teilnahme an social networks (YouTube etc.) hat mit dem Modell des politikzentrierten Programmfernsehens, ja mit dem Rundfunk an sich, nichts mehr zu tun.30 Diese Differenzen können auch nicht durch eine verfassungsrechtliche Ausdehnung des Begriffs der Meinungsbildung, der für die dogmatische Konstruktion der Rundfunkfreiheit in Art. 5 Abs. 1 GG von zentraler Bedeutung ist, übertüncht werden. Das hieße, den Begriff der Meinungsbildung vollständig zu de-kontextualisieren und ihn in den Zustand einer unbestimmten Leere zu versetzen. Der Begriff würde dann jede Intelligibilität verlieren und wäre nichts weiter als ein Platzhalter, der mit jedem beliebigen Inhalt gefüllt werden könnte.31
III. Die Filmförderung nach dem Filmförderungsgesetz 1. Das Regulierungsregime des Filmförderungsgesetzes Für eine zentrale Komponente der „Unterhaltungsöffentlichkeit“, den KinoSpielfilm, hat sich neben der öffentlich-rechtlichen Rundfunkorganisation schon seit den 1960er Jahren ein weiteres Regulierungsregime entwickelt:32 die zunächst im Bundeswirtschaftsministerium und heute beim Beauftragten für Kultur und Medien (BKM) angesiedelte Filmförderung des Bundes nach dem Filmförderungsgesetz (FFG).33 Hier wird das Ziel der Generierung hochwertiger und innovativer Inhalte nicht an eine mit den gesellschaftlich relevanten Gruppen gekoppelte Organisation adressiert (öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt), die durch eine an das bloße Bereithalten eines Rundfunkempfangsgerätes ausgelöste „Gebühr“ finanziert wird (vgl. § 13 Abs. 2 RStV). Vielmehr schafft das FFG ein „Umlageverfahren“, 30 Vgl. Karl-Heinz Ladeur, Zur Verfassungswidrigkeit der Regelung des Dreistufentests für Online-Angebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nach § 11 f. RStV, ZUM 2009, S. 10 ff., 13; allg. ders., Neuen Medien brauchen neues Medienrecht! Zur Notwendigkeit einer Anpassung des Rechts an die Internetkommunikation, in: Bieber, Christoph / Eifert, Martin / Groß, Thomas / Lamla, Jörn (Hrsg.): Soziale Netze in der digitalen Welt. Das Internet zwischen egalitärer Teilhabe und ökonomischer Macht, 2009; vgl. auch Thomas Vesting, Grundlagen einer neuen Medienpolitik, Funk-Korrespondenz 56 (2008), S. 3 ff. (zur neuen digitalen Kommunikation als „disruptive technology“). 31 In seiner letzten Rundfunkgebührenentscheidung BVerfGE 119, 181 (214 ff.) ist das Bundesverfassungsgericht auf diese Fragen nicht eingegangen, stattdessen unterstellt es zwischen dem Rundfunk und den neuen „multi-medialen“ Möglichkeiten des Internets eine Kontinuität, die es nicht gibt. 32 Der Begriff des „Regimes“ soll hier eher unspezifisch im Sinne von Stephen D. Krasner als Einheit von „Regeln und Verfahren der Entscheidungsfindung, um die herum die Erwartungen von Akteuren in einem gegebenen Sachgebiet konvergieren“, gebraucht werden; hier zitiert nach Andreas Fischer-Lescano / Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, S. 18. 33 Eine Darstellung der Entwicklung etwa bei Jin-Seong Kong, Die Filmförderungskompetenz des Bundes, 2008, S. 10 ff.
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dessen Inklusionslogik sich an der Verwertungskette des Kinospielfilms orientiert und darüber ein Netzwerk von (privaten) Unternehmen und (öffentlich-rechtlichen) Organisationen zum Gegenstand von Filmförderungsmaßnahmen macht. Nach §§ 66 ff. FFG wird eine Filmabgabe geschaffen, die ab einem Jahresumsatz von 75.000 Euro alle in Deutschland ansässigen Filmtheater zu erbringen haben: Danach müssen bis zu 3 % des Umsatzes (Bruttoerlös) an die Filmförderungsanstalt mit Sitz in Berlin (FFA) abgeführt werden (§ 66 Abs. 2 FFG). Die Abgabe erstreckt sich auch auf die Videowirtschaft einschließlich Video-On Demand / InternetDownloads (§§ 66a Abs. 1 und Abs. 2 FFG). Dagegen erbringen die öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten und die großen privaten Fernsehveranstalter Beiträge auf der Grundlage vertraglich auszuhandelnder Vereinbarungen (§ 67 FFG). Dieses Abgabenregime ist inzwischen in seiner Gesamtheit vom Bundesverwaltungsgericht als nicht mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt und dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung nach Art. 100 Abs. 1 GG vorgelegt worden. Weil § 67 FFG keinerlei Kriterien für die Fernsehveranstalter festlege, nach denen sich ihre „Abgabe“ bemesse, sieht das Bundesverwaltungsgericht in dem Abgabenregime unzulässige Belastungsungleichheiten zwischen Kinos und Fernsehveranstaltern, die es als Verstoß gegen das Gebot der Abgabengerechtigkeit in der Form der Belastungsgleichheit qualifiziert (Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG).34 Durch die Filmabgabe hat die FFA im Jahr 2008 bei einem Kinoumsatz von ungefähr 800 Millionen Euro ungefähr 51 Millionen Euro Subventionsvolumen erwirtschaftet. Mit diesen und anderen Geldmitteln, teilweise aus dem Filmfonds der Bundesregierung, teilweise aus Landesfördermitteln, beteiligt sich der Staat vor allem an den Finanzierungskosten deutschsprachiger Filmproduktionen;35 im Jahr 2005 konnten so etwa 103 deutsche Spielfilme gedreht werden.36 Denn im Schwerpunkt ist die Filmförderung Produktionsförderung im Sinne einer Anschlussförderung oder Referenzfilmförderung nach einem entweder kommerziell oder kulturell erfolgreichen Film: Man muss als Produzent entweder am Markt (150.000 Zuschauer) oder bei internationalen Festivals (Oscar, Cannes, Venedig etc.) mit einem Film einmal erfolgreich gewesen sein, um für die nächste Produktion einen Produktionskostenzuschuss von der Filmförderungsanstalt von bis zu 2 Millionen Euro erhalten zu können; damit soll nicht zuletzt die Gesamtfinanzie34 BVerwG, Beschluss vom 25. 02. 2009, Az. 6 C 47 / 07 – Umdruck Rn. 15, 39 ff.; ebenso OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. 02. 2010, Az. OVG 10 S 37.09 – ZUM 2010, 468 ff. 35 Dabei spielt die Mischfinanzierung eine wichtige Rolle. So wurden beispielsweise Good Bye, Lenin! und Das Wunder von Bern, die beiden deutschen „Blockbuster“ aus dem Jahr 2003, durch eine Mischfinanzierung von Bund- und Länderförderung (plus privater Mittel) subventioniert. Vgl. Geschäftsbericht der FFA 2003, S. 38. 36 Michael Hutter, Neue Medienökonomik, 2006, S. 65. Der Marktanteil deutscher Spielfilme am Gesamtumsatz der Filmwirtschaft betrug seit den 1970er Jahren nie mehr als 26,8 % im „Spitzenjahr“ 2008. Ansonsten lag der Marktanteil – mit einer weiteren Ausnahme (2004) – immer unter 20% im Jahresmittel, im Jahr 2002 sogar unter 12%. Für die Video- und Internetindustrie dürfte der Anteil deutscher Spielfilme am Gesamtumsatz noch geringer sein.
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rung des neuen Vorhabens erleichtert und die Kapitalausstattung der deutschen Produktionsfirmen verbessert werden (§§ 22, 28 Abs. 4 Nr. 2 FFG). Bei Dokumentar-, Kinder- und Erstlingsfilmen, bei denen ein Regisseur erstmals die alleinige Regieverantwortung trägt, wird die Eintrittsschwelle abgesenkt (§ 23 FFG). Daneben gibt es für Newcomer auch die Drehbuchförderung (§ 47 FFG) und die sog. Projektfilmförderung nach § 3a FFG. Letztere ist aber auf (rückzahlbare) Darlehen beschränkt und – ökonomisch gesehen – eher ein unproduktives Zuschussgeschäft. Nur ca. 10% der Filme, die mit FFA-Projektfilmfördermitteln gefördert werden, sind wirtschaftlich so erfolgreich, dass sie das gewährte Darlehen an die FFA zurückführen können. Durch das Regulierungsregime des FFG wird der Staat zu einer Art “ Risikokapitalgeber“ im nationalen und globalen Filmgeschäft (vgl. auch §§ 6 ff. FFG – internationale Koproduktionen). Mit der Konzentration auf die Referenzfilmförderung, die an eine bereits erfolgreiche „Marke“ anknüpft (vgl. § 22 FFG), wird das Risiko des Scheiterns der staatlichen Intervention in den Markt zwar begrenzt, aber die Daumenregel der Praxis, dass auf 10 Filmfinanzierungen ein erfolgreicher Film kommt, gilt auch für die staatliche Filmförderung. Die rechtlichen Vorschriften zur Abgabeerhebung des FFG müssen daher in einem weiteren kulturökonomischen Zusammenhang gesehen werden: Das FFG repräsentiert den Fall einer nationalstaatlichen Intervention in das globale Vermarktungsmodells der US-amerikanisch dominierten Spielfilmindustrie (Hollywood), die sich in fast allen Ländern der Welt eine entsprechende „Abspielbasis“ geschaffen hat. Auch das durch das FFG geschaffene System der staatlichen Quersubventionierung deutschsprachiger Produktionen ruht auf der Verwertungskaskade der globalen Spielfilmindustrie, d. h. auf der Möglichkeit des Abspielens des Films in verschiedenen „Fenstern“; der Verkauf und die Verwertung von Filmrechten setzt wiederum ein komplexes Kontraktmanagement voraus, das heute üblicherweise auf Optionsverträgen (statt Kaufverträgen) basiert.37 Damit kann im Fall des durchschlagenden Erfolgs die Informationskaskade, die ein Film während eines gelungenen openings aufbaut,38 in weitere Vermarktungsknoten hinein verlängert und eine positive Rückkopplungsschleife in Gang gesetzt werden, die den erfolgreichen Film noch erfolgreicher macht („increasing returns“):39 Der mit hohem Marketingaufwand vorbereiteten Premiere eines großen Kinospielfilms in wenigen repräsentativen Kinos folgt die schnelle landesweite Kino-Auswertung, dann – normalerweise mit einem 37 Hutter, Medienökonomik (Fn. 36), S. 76 ff.; vgl. allg. auch Harold L. Vogel, Entertainment Industry Economics, 2008. Das Filmverleihgeschäft ist in Deutschland im Übrigen weitgehend in US-amerikanischer Hand; vgl. dazu Hutter (ebda.), S. 65, 121. 38 Arthur De Vany, Hollywood Economics. How extreme uncertainty shapes the film industry, 2004, S. 29, 123 m. w. N. 39 Für Filme De Vany, Hollywood (Fn. 38), S. 29; allgemein für Informationsprodukte Hutter, Medienökonomik (Fn. 36), S. 40 ff.; Carl Shapiro / Hal R. Varian, Information Rules, 1999, insb. S. 173 ff., 177; vgl. auch W. Brian Arthur, Increasing returns and Path Dependence in the Economy, 1994.
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gewissen zeitlichen Abstand – seine Vermarktung durch DVD / Video („Videotheken“), Pay-TV (einschließlich Pay-Per-View) und Free-TV und schließlich – seit neuerer Zeit – auch die Online-Verwertung etwa durch IPTV (Fernsehen über Internet-Protokoll). Im anderen Fall, im Fall eines schnellen Abfalls des Zuschauerinteresse im Zuge des openings, kann die negative Rückkopplungsschleife durch die systematische Integration des Kinospielfilms in die „multimediale“ Wertschöpfungskette abgedämpft und das wirtschaftliche Risiko der hohen Produktionskosten reduziert werden. Der Kinoflop kann zumindest im unendlich programmkonsumierenden Free-TV noch mehrfach wiederholt werden! Das hat in der Vertragspraxis zwischen den Rechteinhabern und den Fernsehsendern nicht selten zur Folge, dass Spielfilme nur in Paketen verkauft werden, und Fernsehsender häufig mit den Hits auch eine Anzahl von Flops miterwerben müssen. Bei der Schaffung der Abgabentatbestände des FFG knüpft der Gesetzgeber an diese vorfindlichen kulturökonomischen Gegebenheiten an. Er geht davon aus, dass vor allem Filmtheater, Videowirtschaft sowie Fernsehveranstalter von der staatlichen Förderung und Finanzierung deutscher Spielfilme profitieren. Dementsprechend ist die Belastungstiefe entlang der eingespielten Verwertungskette oder „Auswertungskaskade“ der Spielfilmindustrie gestaltet.40 Die Filmtheater bilden das erste „Verwertungsfenster“ in der Kette der Kinospielfilmverwertungsmöglichkeiten (vgl. § 66 Abs. 2 und 3 FFG), während etwa die Vermarktung von Spielfilmen via „elektronischer Individualkommunikation“ erst in jüngerer Zeit in die Abgabentatbestände integriert worden ist (vgl. § 66a Abs. 2 FFG). Diese gesetzgeberische Abschöpfungsstrategie erscheint grundsätzlich legitim, aber im Einzelnen nicht unproblematisch. Aufgrund des äußerst dynamischen Charakters der Filmindustrie und ihres Umfelds kann die vom Gesetzgeber gewählte Sequenz nicht als dauerhaft stabil unterstellt werden; sie bedarf daher der laufenden Beobachtung und Korrektur, die auch verfassungsrechtlich zwingend sein dürfte. Die Instabilität der Verwertungskette zeigt nicht nur ein Blick ins Ausland: In Frankreich beispielsweise werden die meisten Einnahmen aus Filmen über das Fernsehen (Canal+) generiert (51 %), die Lichtspieltheater generieren 38%, Export, freies Fernsehen und DVD-Verwertung bringen 11% Prozent ein; in den USA werden 53% des Umsatzes in der Filmindustrie durch Exporte erzielt, 25% durch DVDVerwertung, 11% durch die Kinos, 10% durch Fernsehen.41 Darüber hinaus hat sich die Verwertungskette auch in Deutschland in den letzten Jahren stark zugunsten der Videoindustrie (DVD) verschoben. 2006 lagen die abgeführten Beiträge nach § 66 FFG (Filmtheater) und § 67 FFG (Video / DVD) auf ungefähr gleicher Höhe, obwohl der Branchen-Brutto-Umsatz in absoluten Zahlen in der Kino-Branche nur ungefähr die Hälfte im Verhältnis zur Videobranche betrug. Auch hier ist 40 So die Terminologie bei Heiko Wiese, Aufspüren von Pirateriefällen im Netz, ZUM 2006, S. 696 ff. 41 Zahlen nach FAZ für das Jahr 2005; weitere Zahlen für die USA bei Yochai Benkler, The Wealth of networks: how social production transforms markets and freedom, 2006, S. 427 (40 % der inländischen Gesamtrendite durch Video / DVD).
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also fraglich, ob das vom Bundesverwaltungsgericht ausschließlich im Verhältnis von Filmindustrie und Fernsehveranstaltern in Anschlag gebrachte Gebot der Abgabengerechtigkeit vom Gesetzgeber hinreichend beachtet wird. Rechtlich noch intrikater dürfte in Zukunft allerdings werden, wie und wo der Gesetzgeber die Grenzen des Netzwerks der Abgabepflichtigen zieht. Die starke Dynamik der Verwertungskaskade macht sie an den Rändern schnell für neue Verwertungsformen empfänglich (Internet-Plattformen, T-COM, Kabel-Deutschland, Handy etc.), und insbesondere die Abgrenzung zur Computerindustrie, die mit immer komplexeren Spielen und spielfilmähnlichen Produkten aufwartet, dürfte künftig nicht einfacher werden. 2. Der informations- und kulturökonomische Hintergrund der Filmförderung Das Phänomen der „integrierten“ Vermarktung von Kinospielfilmen über eine netzwerkartige Verknüpfung von „Fenstern“ innerhalb einer „Auswertungskaskade“ gehört in den weiteren Zusammenhang der Evolution der Informationsökonomie und des mit ihr einhergehenden Aufstiegs des Wissens zur wichtigsten ökonomischen Ressource.42 Spielfilme sind wie Computersoftware ein reines Informationsprodukt.43 Die Qualität eines Films kann daher nicht so ohne weiteres mit der handwerklich-technischen Qualität eines Industrieprodukts (etwa Autos) oder der gütemäßigen Qualität landwirtschaftlicher Produkte verglichen werden. Produzenten, Investoren und sonstige an der Verwertung von Kinospielfilmen beteiligte Akteure müssen eine in klassischen Märkten in dieser Form nicht auftauchende Ungewissheit bewältigen, nämlich die im „Meta-Markt“ der Filmindustrie zu beobachtende extreme Ungewissheit, ob der „neue“ Film beim Publikum ankommt und das investierte Kapital Gewinne erwirtschaftet oder nicht.44 Diese Ungewissheit, die Tatsache, dass der Produzent nicht auf vorfindliche Interessen rekurrieren kann, sondern immer wieder selbst die Nachfrage für ein neues und unbekanntes Produkt schaffen muss, lässt sich zwar durch unterschiedliche Mechanismen, wie etwa den Einsatz von profitablen Superstars (Matt Damon, Brad Pitt, Angelina Jolie, George Clooney etc.),45 hohem Marketingaufwand, einer möglichst hohen 42 Vgl. dazu allg. Michel Gensollen, Economie non rivale et communautés d’ information, Résaux 124 (2004), S. 141 ff.; aus rechtlicher Sicht Ladeur, Staat (Fn. 27), S. 212, 299; vgl. allg. auch Thomas Vesting, Die Bedeutung von Information und Kommunikation für die verwaltungsrechtliche Systembildung, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. 2, 2008, § 20 Rn. 36 ff. 43 De Vany, Hollywood (Fn. 38), S. 259 („pure information“). 44 De Vany, Hollywood (Fn. 38), insb. S. 65 ff., 143 ff.; Hutter, Medienökonomik (Fn. 36), S. 25 ff.; vgl. allg. Boris Groys, Über das Neue, 1997. 45 Hutter, Medienökonomik (Fn. 36), S. 78; de Vany, Hollywood (Fn. 38), S. 92 f., 223; vgl. auch Sherwin Rosen, Economics of Superstars, American Economic Review 71 (1981), S. 845 ff.; Michael Pokorny / John Sedgwick, Stardom and the Profibility of Film Making,
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Abspieldichte im Zuge des „openings“ und hohen Produktionsbudgets reduzieren, aber nie vollständig ausräumen. Darüber besteht sowohl in der ökonomischen als auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur kein Streit. „Moving picture films are a fluctuating and uncertain product. Until a film has been exhibited no one knows or can accurately estimate its value as a box-office attraction, either as a first run exhibition or a subsequent run exhibition.“46 Vor dem Hintergrund dieses „nobody knows anything“ hat sich innerhalb der „Hollywood-Economics“ eine Strategie des Hits herausgebildet, des „Blockbusters“, der für eine relativ kurze Zeit eine „Informationskaskade“ aufbaut und seine Konkurrenz in diesem Zeitraum mehr oder weniger vollständig verdrängt.47 Nach den Forschungen von Arthur de Vany haben in den 90er Jahren 6,3% der erschienenen Filme etwa 80% der Gewinne erwirtschaftet. Das bedeutet: Es wird eine Streuung im Hinblick auf den Erfolg bei der Produktion akzeptiert, aber im Falle eines (überraschenden) Erfolgs erwirtschaftet der Blockbuster überdurchschnittliche Monopolrenten („increasing returns“). Dies ermöglicht Blockbustern in kurzer Zeit ein Mehrfaches ihres Budgets einzuspielen. Die Beispiele dafür sind zahlreich: Die Produktion von Titanic hat ca. 200 Millionen Dollar gekostet, aber weltweit mehr als 1,6 Milliarden US-Dollar Gesamtumsatz eingespielt. Armageddon hat es im gleichen Jahr immerhin auf 460 Millionen, Saving Private Ryan auf 420 Millionen US-Dollar gebracht.48 Ein Beispiel aus jüngster Zeit wäre SpiderMan 3. Dieser von Sony produzierte Film hat bei Produktionskosten von ca. 80 Mill. US-Dollar im Jahr 2007 ca. 336 Millionen US-Dollar eingespielt, erneut der typische Fall des „the winner takes it all“. Die Höhe dieser Rendite (ca. 400 %) wird im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen noch deutlicher: Die Automobilindustrie etwa erwirtschaftet Renditen zwischen 2 % und 12%, ein guter HedgeFond bringt es derzeit auf etwa 18%. Die Möglichkeit einer hohen Rendite bildet gewissermaßen die Kehrseite der extremen Ungewissheit in der Spielfilmindustrie, die diese – ähnlich wie Teile der Finanzmarktindustrie – in die Nähe einer „Glückspiel-Ökonomie“ rückt. Nicht zuletzt um dieses hohe Investitionsrisiko zu reduzieren, driftet auch die Distribution und Vermarktung von Kinospielfilmen seit längerem in Richtung JCE 25 (2001), S. 157 ff. sehen einen größeren Einfluss von Stars bei Low Budget Produktionen; Michele Bagella / Leonardo Becchetti, The Determinants of Motion Picture Box Office Performance, JCE 23 (1999), S. 237 ff. belegen für den Fall Italien einen Starpower Effekt von 1985 – 1996; zur Starpower und der Genese des Stars vgl. allg. auch Lorenz Engell, Sinn und Industrie, 1992, S. 110 ff. 46 So bereits der US-District Court Richter Vaught in United States vs. Griffith Amusement Co (1946), hier zitiert nach De Vany, Hollywood (Fn. 38), S. 145. 47 De Vany, Hollywood (Fn. 38), S. 122 ff.; Hutter, Medienökonomik (Fn. 36), S. 109 f. 48 Laut Schätzungen von Variety betrugen die „rentals“ für Titanic (1997) 324 Millionen US-Dollar, für Armageddon 104 Millionen US-Dollar, für Saving Private Ryan 90 Millionen US-Dollar; vgl. Liste der „All Time Top Film Rentals“ unter www.variety.com. 2010 wird voraussichtlich Avatar der große Gewinner sein.
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einer neuartigen Form der netzwerkförmigen Ordnungsbildung, die die ökonomische Verwertung des Spielfilms im Kino, die „box office revenues“,49 in eine Auswertungskaskade hinein verlängert. Auch wenn diese Vermarktungsform von unterschiedlichen Akteuren durch ein entsprechendes bilaterales Kontraktmanagement teilweise bewusst angestrebt wird, ist die (globale) Verwertungskette in der Gesamtheit der Verknüpfungen ihrer einzelnen Knoten und der durch die vielen Knoten vorangetriebenen permanenten Veränderung doch selbst ein emergenter Effekt, Ausdruck der Eigenschaft der Netzwerke als einer „transsubjektiven evolutionären Struktur“.50 Die Vermarktungsform entspricht weder dem herkömmlichen Muster eines sich über bilaterale Tauschgeschäfte konstituierenden Vertrages oder Vertragsnetzwerks noch kündigt sich darin eine neuartige Organisationsform an. Organisationen, auch und gerade ökonomische Unternehmen, sind durch eine gemeinsame Zwecksetzung charakterisiert, während Verträge spontan über punktuellen Konsens zustande kommen. Das Produktions- und Vermarktungsmodell der Spielfilmindustrie transzendiert in gewisser Weise beide Institutionen, Vertrag und Organisation: Die Verwertungskaskade basiert auf einer heterarchischen, konnexionistischen, netzwerkartigen Verknüpfung von kollektiven Akteuren, die einen „Netzwerkeffekt“ jenseits der Einzelmärkte mittelbar erzeugen und nutzen („increasing returns“), nicht aber ist die Verwertungskaskade das Resultat eines die Einzelakteure übergreifenden Konsenses oder gemeinsamen Interesses. Denn innerhalb der Verwertungskette möchte ja jeder einzelne Akteur zunächst einmal selbst so viel mit dem neuen Spielfilm verdienen wie nur möglich, insbesondere die Kino- und Videowirtschaft, wie auch die sog. Sperrfristen des § 20 FFG zeigen. Dass sich das Netzwerk gewissermaßen nur quer über verschiedene, an sich voneinander isolierte Märkte legt, kann man auch daran erkennen, dass sich die Kinomärkte zunächst relativ frei von der Dynamik anderer Medienmärkte entwickelt haben und insbesondere gegenüber dem historisch jüngeren Fernsehgeschäft lange Zeit unabhängig gewesen sind. Inzwischen sind die Medienmärkte zwar enger zusammengewachsen, was sich auch in der vertikalen („cross-medialen“) Verflechtung zu einer „integrierten“ Entertainment-Industrie niederschlägt, in Unternehmen wie AOL Time Warner, Viacom, News Corp, Disney, Sony, Bertelsmann etc.51 Dennoch handelt es sich weiterhin um abgrenzbare Einzelmärkte. Fernsehen zu machen ist weiterhin ein anderes Geschäft als die Produktion und Vermarktung von Spielfilmen.
49 Vgl. dazu nur Hutter, Medienökonomik (Fn. 36), S. 84 f., 122 f. Die Produktion von Spielfilmen hat ebenfalls schon länger die neuartige Form einer nur noch projektartigen variablen Vernetzung von kleinen Firmen und „freelancern“ angenommen (Produktionsnetzwerke). 50 Karl-Heinz Ladeur, Was leistet der Netzwerkbegriff für die Verwaltungswissenschaft (unv. Manuskript, 2006); Gunther Teubner, So ich aber die Teufel durch Beelzebub austreibe, in Ausgberg, Ino (Hrsg.), Ungewissheit als Chance, 2009, S. 109 ff., 125. 51 Hutter, Medienökonomik (Fn. 36), S. 60 ff.
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3. Vom akteurs- zum netzwerkbezogenen Regulierungsregime Für die global agierende Entertainmentindustrie kann man durchaus von einem längerfristigen Interesse an der möglichst effizienten Vermarktung ihrer Produkte über eine dynamisch stabile Verknüpfung möglichst vieler „Fenster“ in einer Verwertungskaskade ausgehen. Dabei kann aber nicht einfach ein gemeinsames wirtschaftliches Interesse aller an der Auswertungskaskade beteiligten Akteure etwa im Sinne eines gemeinsamen Interesses an einer kontinuierlichen Zufuhr von neuen deutschen Spielfilmen unterstellt werden. Das wäre nur dann plausibel, wenn eine interne Koordinationsschwäche der beteiligten Akteure zu einem „Netzwerkversagen“ führen würde, die durch ein nationalstaatliches Regulierungsregime kompensiert werden müsste; dazu ist der Marktanteil des deutschen Films in deutschen Kinotheatern, der zwischen 12% und 27% schwankt und allein Gegenstand der Fördermaßnahmen nach dem FFG ist, aber zu marginal. Ein solches Interesse folgt auch nicht aus §§ 66, 66a, 67 FFG: Das gemeinsame Interesse, die sog. „Gruppenhomogenität“ im Sinn der Sonderabgabenjudikatur verlangt ja eine „in der Rechtsordnung und der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorgegebene Interessenlage“.52 Ob man den Netzwerkeffekt der increasing returns, der aus einer Logik des Überschusses jenseits der Intentionen der einzelnen Beteiligten hervorgeht, überhaupt in der Terminologie von „Gruppenhomogenität“ und „Interessenlage“ abbilden kann, erscheint äußerst zweifelhaft. Hier müssen sich besonders die (Verwaltungs-)Gerichte künftig stärker für die neuartige evolutionäre Dynamik von Netzwerken öffnen.53 Entgegen der auch jüngst wieder geäußerten Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts fehlt es jedenfalls evidentermaßen an einem in der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorgegebenen gemeinsamen Interesse an der Förderung gerade des deutschen Spielfilms. Wieso sollen die Kinos, die mit der Ausstrahlung von Hollywood-Spielfilmen den allergrößten Teil ihres Umsatzes machen, überhaupt ein Interesse an der Subventionierung der deutschen Spielfilmindustrie haben? Die Auswertungskaskade der Spielfilmindustrie ist ein Fall der neuen Ökonomie der Netzwerke, die nicht auf Märkten mit vorfindlichen stabilen Präferenzen basiert, sondern auf einem dauerhaften prozesshaften Experimentieren mit stets neuen und für das Publikum stets unbekannten Informationsprodukten (Filmen). Die Verwertungskaskade dient der „netzwerkgerechten“ Bewältigung von hochriskanten Informationsprodukten. Zivilrechtlich gesehen handelt sich dabei möglicherweise um eine Art „Vertragsverbund“ im Sinne von Gunther Teubner.54 Daran, aber auch nur daran, kann eine öffentlich-rechtliche Regulierung anknüpfen: Sie kann diesen „Verbund“, das Netzwerk, zum Gegenstand eines einheitlichen BVerwGE 120, 311 (319). Für das öffentliche Recht vgl. etwa Karl-Heinz Ladeur, Zulässigkeit der Veröffentlichung personenbezogener Daten von Lehrern im Internetportal www.spickmich.de, JZ 2009, S. 266 ff.; für das Privatrecht Teubner, Teufel (Fn. 50), S. 109 ff., 113. 54 Vgl. Teubner, Vertragsverbund (Fn. 26), 2004, S. 109 ff. 52 53
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Regulierungsregimes machen und es mit mehr Differenz impfen, d. h. der Schaffung von Bedingungen zur Produktion eines vielfältigen Filmangebots, auch wenn die Erwartungen der an dem Regulierungsnetzwerk beteiligten Akteure hochgradig divergent sind und die Akteure für sich – auf subjektiver Ebene – eher entgegengesetzte als gleichgelagerte Interessen verfolgen. Der Gesetzgeber bezieht seine Regulierung auf einen „Netzwerkeffekt“, auf eine kulturökonomische Verwertungskaskade, für die man prinzipiell auch eine neuartige „zerstreute“ Form der „Gruppenverantwortung“ reklamieren kann. Die organisationsbezogene Regulierung des alten Makrokorporatismus wird hier gewissermaßen durch die Regulierung eines polykorporatistischen Netzwerks ergänzt. Das bedeutet aber zugleich, dass es sich nicht um eine rein ökonomische Regulierung handeln kann. Es käme ja auch niemand auf die Idee, ein solches Abgabenregime zugunsten der deutschen Automobilindustrie zu errichten, und wenn doch, dann wäre seine Rechtswidrigkeit auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene evident. Prinzipiell kann eine am Vermarktungsnetzwerk der Spielfilmindustrie anknüpfende Regulierungsstrategie, wie sie dem FFG zugrundeliegt, verfassungsrechtlich zulässig sein. Es ist jedoch über den vom Bundesverwaltungsgericht gerügten Verstoß gegen das Gebot der Belastungsgleichheit und Bestimmtheit des Abgabenregimes der §§ 66 ff. FFG hinaus sehr zweifelhaft, ob die derzeitige Ausgestaltung der Filmförderung einer näheren verfassungsrechtlichen Prüfung standhält. Angesichts der kulturellen (nationalen) Komponente, um die es bei der Filmförderung primär geht – der Förderung der deutschen Filmwirtschaft und der kreativkünstlerischen Qualität des deutschen Films (vgl. §§ 1, 2 FFG) –, dürfte schon die bundesstaatliche Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 Nr. 1 GG nicht gegeben sein; und wenn doch, müsste plausibel gemacht werden, wieso es einer Bundesfilmförderung nach Art. 72 Abs. 2 GG bedarf, wenn zugleich im Bereich der sonstigen Massenmedien – Presse, Rundfunk und Telemedien – die Regulierungskompetenz und die Aufgabe der Schaffung einer „positiven Ordnung“ unstrittiger Weise bei den Ländern liegt.55 Vor allem aber dürfte das derzeitige Regulierungsregime mit dem Finanzverfassungsrecht unvereinbar sein. Die Voraussetzungen zur Zulässigkeit einer Sonderabgabe sind jedenfalls nicht erfüllt.56 Das Bundesverwaltungs55 St. Rspr. seit BVerfGE 12, 205 (248 ff.). Mit dieser Abgrenzung bestätigte das Bundesverfassungsgericht zugleich das verfassungsrechtliche Prinzip der gegenständlichen Kompetenzabgrenzung im Bundesstaat. Nach diesem Grundsatz sind Doppelzuständigkeiten von Bund und Ländern grundsätzlich ausgeschlossen. Vgl. BVerfGE 63, 1 (39) („allgemeiner Verfassungsgrundsatz“); dazu auch Ingolf Pernice, in: Dreier, Horst (Hrsg.), GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 30 Rn. 20. Zur weiteren Akzentuierung des „Kulturellen“ im FFG 2009 vgl. Harro v. Have / Sara Ann Harris, Der neue kulturelle Test des Filmförderungsgesetzes, ZUM 2009, S. 470 (472 ff.); andere Schlussfolgerungen bei Sascha Pres, Filmwirtschaft oder Filmkulturförderung, DÖV 2009, S. 155 ff. (eindeutig Wirtschaftregulierung). 56 Dazu nur BVerfGE 55, 274 (289 f.); 110, 370 (387 f.); zuletzt BVerfGE 122, 116 (332 ff.); aus der Literatur vgl. nur Klaus Vogel / Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts. Vorbemerkung zu Art. 104 a bis 115, in: BK-GG, 2001; Lerke Osterloh, Die Zulässigkeit von Sonderabgaben, JuS 1982, S. 421 ff.
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gericht hat in diesem Zusammenhang festgestellt, dass für die Erhaltung der ökonomischen Leistungsfähigkeit der deutschen Filmwirtschaft und für deren Fortbestand nicht die Gruppe der Abgabenpflichten nach §§ 66 ff. FFG in besonderer Weise verantwortlich gemacht werden kann.57 Dem kann man nur zustimmen, aber deshalb fehlt es – entgegen der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts – auch an einem „evidenten“ Gruppennutzen der durch die Zwangsabgabe nach §§ 66 FFG belasteten Organisationen und Unternehmen. Beispielsweise wäre der Wegfall der Bundesfilmförderung für die Videowirtschaft ja keine erhebliche Beeinträchtigung oder sie speziell treffender Nachteil. Selbst wenn der Wegfall der Bundesfilmförderung zu einer geringeren Produktionsquote von deutschen Spielfilmen führen würde und insgesamt einen Nachfragerückgang nach DVDs zur Folge hätte (was heute niemand wissen kann), ist eine Umsatzeinbuße doch wohl etwas anderes als eine erhebliche Beeinträchtigung oder ein die Videowirtschaft speziell treffender Nachteil. Der Wegfall der Bundesfilmförderung träfe ja die Gruppe der auf deutsche Spielfilme festgelegten Konsumenten viel stärker als die Videowirtschaft als solche. Das Bundesverwaltungsgericht unterstellt hier ein Netzwerkversagen, das als solches aufgrund der extremen Dynamik der einzelnen Knoten des Verwertungsnetzwerks und der temporären Monopolbildung innerhalb der globalen Entertainmentindustrie keineswegs geleugnet werden kann.58 Nationalstaatliche Regulierungsstrategien, die diese transnationale evolutionäre Dynamik mit mehr Vielfalt „punktieren“ wollen, sind auch verfassungsrechtlich nicht von vornherein ausgeschlossen. Sie dienen jedoch der Erhaltung von kultureller Vielfalt in den Medien, und das ist wie die Erhaltung biologischer Diversität ein typisches Allgemeininteresse, d. h. das genaue Gegenteil eines Nutzens, der evidentermaßen einer „Gruppe“ zugerechnet werden kann.
IV. Mehr Innovation durch Quersubventionierung in Netzwerken? Auf den ersten Blick scheint manches für das Regulierungsregime der Filmförderung zu sprechen, insbesondere wenn man dieses mit der Organisationsregulierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vergleicht. Während der Gruppenpluralismus des öffentlich-rechtlichen Integrationsrundfunks in der postmodernen „Gesellschaft der Netzwerke“ (K.-H. Ladeur) seinen Halt verliert (jedenfalls haben bislang weder der Gesetzgeber noch der öffentlich-rechtliche Rundfunk selbst eine auf die Fragmentierung des Gesamtprogramms schlüssig reagierende BVerwG, Beschluss vom 25. 02. 2009, Az. 6 C 47 / 07 – Umdruck Rn. 33. Dazu ausführlicher Thomas Vesting, Zur Zukunft und Konstruktion des Medien- und Telekommunikationsrechts in den hybriden Beziehungsnetzwerken der „Informationsgesellschaft“, in: Rossen-Stadtfeld, Helge / Wieland, Joachim (Hrsg.), Steuerung medienvermittelter Kommunikation – Theorie, Praxis, Perspektiven, 2001, S. 3 ff.; Karl-Heinz Ladeur, Die vertikale Integration von Film-, Fernseh- und Video-Wirtschaft als Herausforderung der Medienregulierung, RuF 46 (1998), S. 5 ff. 57 58
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Antwort oder institutionelle Reflexionsform gefunden), folgt der Filmförderungsgesetzgeber von vornherein stärker der Logik der „Unterhaltungsöffentlichkeit“. Das zeigt sich auch in der für die Subventionsentscheidungen maßgeblich zuständigen Vergabekommission innerhalb der Filmförderanstalt (vgl. §§ 3, 7, 8 FFG). Die Vergabekommission der FFA weist zwar ähnlich wie der Gruppenpluralismus innerhalb der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ein Übergewicht von Verbandsvertretern aus Zentrum und Peripherie des politischen Systems auf; 5 von 11 Mitgliedern der Vergabekommission kommen aber immerhin aus der Filmwirtschaft (vgl. § 8 Abs. 1 Nr. 1 – 10 FFG). Vergleichbares lässt sich in Bezug auf das Präsidium und den Verwaltungsrat, die beiden anderen Entscheidungsorgane der Filmförderungsanstalt, feststellen: Dort sind neben Politik- und Verbandsvertretern, die die Mehrheit in den Gremien stellen, Filmhersteller, Filmverleiher, sowie Vertreter der Filmtheater, der Videowirtschaft und des privaten und öffentlichrechtlichen Rundfunks vertreten (vgl. §§ 5, 6 FFG). Auch das ist Ausdruck einer funktionalen Repräsentation und Orientierung in den Gremien, die das praktische Wissen einer „kulturökonomischen Gemeinschaft“ – der Filmszene – institutionell abzubilden versuchen. Der zweite Blick zeigt indessen, dass schwer zu verifizieren ist, welchen Effekt die Filmförderung auf die Produktion deutscher Spielfilme hat. Sicherlich wird das Gesamtvolumen an deutschen Spielfilmen erhöht und auch das Volumen an erfolgreichen deutschen Spielfilmen, selbst wenn man berücksichtigt, dass es in der Vergangenheit auch immer wieder Beispiele für erfolgreiche deutschsprachige Spielfilme gegeben hat, die ohne staatliche Fördermittel beim Publikum erfolgreich waren wie z. B. Keinohrhasen, der 2008 nicht unerheblich zu dem hohen Marktanteil des deutschen Films von 26,6% beigetragen hat. Aber Filmförderung kann ja nicht nur heißen, die Produktion deutscher Spielfilme und ein darum kreisendes kulturökonomisches Milieu mit seinen Festivals über ein „Umlageverfahren“ zu subventionieren, das alle finanzieren müssen, also auch und vor allem die Zuschauer von Hollywoodfilmen (bzw. die Kinos, die mit diesen Filmen mehr als 2 / 3 ihres Gesamtumsatzes machen). Von einer öffentlich-rechtlichen Regulierung, die auf Eingriffen in Eigentum und Freiheit privater Akteure beruht, muss man erwarten und verlangen können, dass sie einen greifbaren qualitativen „kreativkünstlerischen“ Effekt hat (vgl. §§ 1, 2 FFG), der eine Vielfalt fördernde Komponente in die globale Filmkultur einbringt; das dürfte auch verfassungsrechtlich von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG gefordert sein. Aber was macht die kreativkünstlerische Qualität eines deutschen Spielfilm in einer transnationalen Spielfilmkultur aus: Dass „wenigstens eine Endfassung des Films . . . in deutscher Sprache“ hergestellt und der Regisseur „Deutscher im Sinne des Art. 116 des Grundgesetzes“ ist oder „dem deutschen Kulturbereich“ angehört oder Engländer ist (§ 15 Abs. 2 Nr. 2, Nr. 4 FFG)? Sicherlich machen die Drehorte und Ateliers einen Unterschied (vgl. § 15 Abs. 2 Nr. 4 FFG), aber auch Hollywood produziert längst nicht mehr nur in Los Angeles und New York, sondern auch in Hamburg und Berlin oder in sozio-kulturellen Realitäten, die jedenfalls nahe an Hamburg, München oder Berlin liegen.
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An diesem Punkt zeigt sich, dass das FFG über seine eigenen Ziele und Zwecke mehr oder weniger schweigt und sich in allgemeinen Bekenntnissen zur „Verbesserung der Struktur der deutschen Filmwirtschaft“ (§ 2 Nr. 1 FFG) erschöpft. Und gerade wenn man – wie das FFG – auch den wirtschaftlichen und kulturellen Erfolg des deutschen Spielfilms im Ausland fördern will (§ 2 Nr. 3 FFG), muss man die Konsequenzen des eigenen Handelns in Rechnung stellen: Wer den deutschen Spielfilm global wettbewerbsfähig machen will, fördert unweigerlich Anpassungseffekte an die globale Filmkultur, die dem deutschen Spielfilm seine Andersartigkeit wenigstens ein Stückweit nimmt. Letztlich laboriert die Filmförderung an einer mangelnden Strukturiertheit ihrer Aufgabenbeschreibung bzw. einer hinreichend prozeduralen Reflexionsform für diese. Darin kommt ein allgemeines Problem zum Vorschein, das sich auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und hier vor allem im Bereich der öffentlichrechtlichen Telemedienangebote beobachten lässt. Man kann also im Regulierungsregime der Filmförderung nur schwerlich eine Alternative zur Organisationsregulierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sehen. M. E. deuten die beiden unterschiedlichen „Regime“ in ihrer derzeitigen Gestalt auf ein gemeinsames Problem hin: Während der Gruppenpluralismus des öffentlich-rechtlichen Rundfunks keine ausreichende Strukturierungsleistung mehr in einer Welt der Nischenprogramme und „social networks“ erbringt,59 läuft die Filmförderung Gefahr, eine lediglich in einem „Expertenmilieu“ rückgekoppelte Veranstaltung zu sein. Man müsste also viel stärker die qualitative (kreativ-künstlerische) Seite in den Vordergrund rücken und ein besseres institutionelles Design für die im Ansatz richtige prozesshafte und gesellschaftlich offene Ordnungsbildung in den Medien suchen. Für den Fall der Spielfilmproduktion bedeutet das u. a., dass der Gesetzgeber eine genauere Vorstrukturierungsleistung im Hinblick auf die Begründung und den Zweck der Förderung des deutschen Films entwickeln und dafür auch geeignetere Institutionen schaffen müsste. Man könnte etwa erwägen, einen „Public-Value Test“ für die Spielfilmförderung zu entwickeln, der die Gremien der FFA dazu zwingt, ihre Entscheidungspraxis systematisch zu überprüfen und gegenüber einer externen Kontrollinstanz in gewissen zeitlichen Abständen den Mehrwert plausibel zu machen, den eine subventionierte Filmlandschaft im Allgemeinen und die in den Gremien getroffenen konkreten Entscheidungen im Einzelnen mit sich bringen und gebracht haben. Keinesfalls spricht aber die bisherige Praxis einer doch in ihren Konturen nur diffus bleibenden Förderpraxis dafür, nun auch in anderen medialen Zusammenhängen damit zu beginnen, wirtschaftlich erfolgreiche Programme durch „Quersubventionierung“ abzuschöpfen, um daraus eine „Innovationsprämie“ zu generieren. Umgekehrt muss auch die Programmproduktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks viel stärker durch externe „Public Value Tests“ kontrolliert werden. Das gilt 59 Vgl. auch Ladeur, Verfassungswidrigkeit (Fn. 30), S. 10 ff., 13; zu den Differenzen von „mass-media model“ und „internet“ vgl. nur Benkler, Wealth of networks (Fn. 41), S. 177, 237.
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jedenfalls für die Online-Aktivitäten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (Telemediendienste). Wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk seinen Tätigkeitsbereich über Hörfunk und Fernsehen hinaus in das in seinen Grenzen zu anderen Medien (insbesondere zur elektronischen Presse) weitaus weniger abgegrenzte Feld der Internetkommunikation ausdehnt, signalisiert dies einen klaren Bruch mit dem bisherigen Programmrundfunk und der darauf abgestimmten Organisationsform des Gruppenpluralismus. Und das bedeutet, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk dort, wo er sich an der Evolution des Internets mit eigenen Beiträgen beteiligt (was nicht von vornherein unzulässig ist), anderen Kontrollregimen unterworfen werden muss als im Bereich des Programmfernsehens, wo der staatszentrierte Gruppenpluralismus sicherlich auch einer Anpassung bedarf, aber auch heute (noch) nicht jeden verfassungsrechtlichen Schutz verloren hat. Das hat etwa zur Konsequenz, dass im Bereich der Telemedien nicht einfach Rundfunkverfassungsrecht zur Anwendung kommt (vgl. auch §§ 54 ff. RStV) und somit auch keine rundfunkspezifische Ausgestaltungskompetenz des Gesetzgebers in Anschlag gebracht werden kann,60 gerade weil jede Ausgestaltung hier unweigerlich Eingriffe in die Freiheitsund Wirtschaftsrechte privater kollektiver Akteure mit sich bringt. Ausgangspunkt müssen hier eher die Presseregulierung und ihre Grundsätze der dezentralen Ordnungsbildung sein. Deshalb sind die neuen Vorschriften des Rundfunkstaatsvertrages zum „Dreistufentest“61 – insbesondere §§ 11d, e, und f RStV – alles andere als ein Schritt in die richtige Richtung: Sie sind kein netzwerkadäquates Medienrecht. Sie institutionalisieren ein Kontrollregime, das die Kontrolle im genuinen Feld der Netzwerke an den Gruppenpluralismus der öffentlich-rechtlichen Anstalten adressiert (§ 11f Abs. 4 RStV). Diese Konstruktion dürfte auch einer näheren verfassungsrechtlichen Prüfung, etwa im Hinblick auf die Wesentlichkeitstheorie, nicht standhalten.62 Rechtspolitisch gesehen bedarf es hier zwingend der Schaffung eines veränderten Kontrollregimes, etwa innerhalb einer gemeinsamen Landesmedienanstalt der Länder nach dem Vorbild der britischen Ofcom.
Ladeur, Verfassungswidrigkeit (Fn. 30), S. 10 ff., 13. Vgl. dazu allg. Dieter Dörr, Aktuelle Fragen des Dreistufentests, ZUM 2009, S. 897 ff.; Paul H. Klickermann, Telemedienangebote von ARD und ZDF im Fokus des Dreistufentests, MMR 2009, S. 740 ff. 62 Vgl. Ladeur, Verfassungswidrigkeit (Fn. 30), S. 10 ff. 60 61
Teil IV Soziale Innovationen und ihre rechtliche Umhegung
Netz-Communities als Grundlage sozialer Innovationen und die Aufgabe des Rechts Von Margarete Schuler-Harms
I.
Netz-Communities . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
II. Netz-Communities als Grundlage sozialer Innovationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 III. Die Aufgaben des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 2. Ermöglichungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 3. Begrenzung von Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 a) Plattformbetrieb und Nutzerschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 b) Nutzer – Nutzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 c) Der Schutz unbeteiligter Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 d) Fernwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 4. Stimulierung erwünschten Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 5. Fortlaufende Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
I. Netz-Communities Der Begriff der Netz-Community kennzeichnet – noch sehr unscharf – ein soziales Phänomen, das seinerseits eine hohe Dynamik aufweist. In einem weiten Verständnis, mit dem sich diese Dynamik wenigstens ansatzweise fassen lässt, knüpft der Begriff der Netz-Community typischerweise an Web-2.0- und künftige Web-3.0-Anwendungen an, die das Internet zum „Netz der Nutzer“ werden lassen.1 Die Anwendungen lassen sich in content-orientierte und beziehungsorientierte Plattformen sowie in sog. virtuelle Welten klassifizieren.2 Zur „Netz-Community“ werden die Nutzer solcher Anwendungen aufgrund der 1 Katharina Stanoevska-Slabeva, Web 2.0 – Grundlagen, Auswirkungen und zukünftige Trends, in: Meckel, Miriam / dies. (Hrsg.), Web 2.0, 2008, S. 13 (23). 2 Zu dieser Klassifikation von Web-2.0-Anwendungen Stanoevska-Slabeva, Web 2.0 (Fn. 1), S. 17 ff.
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neuen technikgestützten Nutzungsmöglichkeiten. Jene bestehen weniger in innovativer Technik und vielmehr in dezentralen Anwendungen, die den „user generated content“ in den Mittelpunkt stellen.3 Die Plattformen des Web 2.0 weisen technische Funktionen auf, die die breite und einfache Vernetzung der Nutzer untereinander, aber auch die Abbildung von sozialen Netzwerken und Beziehungen ermöglichen. Die Anzahl der Nutzer und die Häufigkeit der Nutzung bestimmen den sozialen, schließlich aber auch den kommerziellen Wert einer Plattform. Typisch für Netz-Communities sind außerdem Evaluationen, Bewertungen und Rankings von Anwendungen und damit ständige Rückbezüge auf die Qualität der Plattform und der auf ihnen stattfindenden Nutzungen. Im hier zugrunde gelegten Sinn bilden soziale Netzwerke wie My Space, Facebook, studiVZ oder Xing eine Unterform der Netz-Communities.4 Während letztere auch Foto- und Video-Communities wie You Tube oder My Video, Twitter5 und das Social Bookmarking6 umfassen, sind soziale Netzwerke noch weniger hierarchisch organisiert, noch stärker auf Vernetzung angelegt und um den Einzelnen als Person herum gruppiert. Die Entwicklung aller Anwendungen und ihrer Nutzung verläuft hochdynamisch. Die Übergänge sind, wie die weltweite Twitter-Bewegung und ihre soziale Dynamik zeigen,7 fließend. Die folgenden Ausführungen stellen deshalb zwar die sozialen Netzwerke im engeren Sinn in den Mittelpunkt, bleiben aber nicht auf sie beschränkt. Die Frage nach innovationsorientierter Regulierung lenkt den Blick außerdem auf künftige Trends. Die Konvergenz von Web 2.0 und mobiler Kommunikation ist im Gange. Standardisierung und plattformunabhängige Integration des Internets auf allen Mobiltelefonen8 werden neue, mobile Nutzungen ermöglichen. Foursquare und vergleichbare technische Applikationen auf Handys ermöglichen die Ortung und Vernetzung der in einer bestimmten Region befindlichen Nutzer und auch hier die Abbildung der so gewonnenen Beziehungen. Bereits im Web 2.0 nutzergenerierte soziale Verhaltensformen außerhalb des Netzes wie etwa „Flashmobs“ oder „Smartmobs“ werden dadurch zusätzlich unterstützt. Applikationen 3 Christoph Bieber / Martin Eifert / Thomas Groß / Jörg Lamla, Soziale Netzwerke in der digitalen Welt, in: dies. (Hrsg.), Soziale Netzwerke in der digitalen Welt – Das Internet zwischen egalitärer Teilhabe und ökonomischer Macht, 2009, S. 11. 4 Vgl. z. B. Christoph Mörl / Mathias Groß, Soziale Netzwerke im Internet, 2008, S. 45 f. 5 Zu Funktionsweise und ersten Rechtsfragen Henning Krieg, Twitter und Recht, K&R 2010, S. 73 ff. m. w. N. 6 Vgl. Hana Lerch / Beate Krause / Andreas Hotho / Alexander Roßnagel / Gerd Stumme, Social Bookmarking-Systeme – die unerkannten Datensammler. Ungewollte personenbezogene Datenverarbeitung?, MMR 2010, S. 454 ff. 7 Z. B. Nicole Simon / Nikolaus Bernhardt, Twitter, 2008, S. 19 ff., über die Grundidee und „was die Nutzer daraus mach(t)en“. 8 Zur Entwicklung der Standards Mörl / Groß, Soziale Netzwerke (Fn. 4), S. 143, mit Hinweis auf Google Handset Alliation (code.google.com / android).
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und Nutzungsverhalten sind auf Verbindung von virtueller und realer Vernetzung angelegt. Sie nehmen insoweit einen allgemeinen Trend hin zum „Internet der Dinge“ auf, der Verhaltensformen und Vernetzungsstrategien aus der virtuellen in die reale Welt überträgt und auch dort neue Organisationsformen, Kommunikationsformen und Lebensstile generiert. Andere Anwendungen werden den Trend von der Kommunikations- zur Dienstleistungsökonomie fortschreiben. Offene Schnittstellen sollen die Vernetzung der sozialen Netze untereinander und mit Portalen ermöglichen und so Verbindung und Austausch unterschiedlicher Contents und Netzaktivitäten ermöglichen bzw. intensivieren. Möglich werden damit unter anderem auch die Zusammenführung von E-Commerce-Anwendungen und sozialen Netzwerken und die für die Wirtschaft hochinteressante Verbindung von Konsumund anderem Sozialverhalten.9 Der weiteren virtuellen Vernetzung förderlich wären auch Verbesserungen der Suchmaschinen-Funktionen hin zu sog. Antwortmaschinen, die nicht mehr nur Websites, sondern sogleich die gewünschten Informationen zu bieten vermögen. In Verbindung mit sog. Mashups ist es den Nutzern schon heute möglich, individuelle Informationen mit allgemein verfügbaren Informationsquellen zu koppeln und deren Informationswert dadurch weiter zu steigern. Auch wenn noch offen ist, welche der Nutzungsmöglichkeiten sich durchsetzen und soziale Innovationen begründen werden, ist der Trend zur weiteren Diversifizierung und Vernetzung von Öffentlichkeiten unübersehbar. Im Bereich der Netzökonomie rekrutieren die Anwendungen technologische Kompetenz von externen Entwicklern und Startup-Unternehmen, die den Unterschied zur nicht wirtschaftlich orientierten Nutzung verschwimmen lassen und die ihrerseits einen besonderen Typus des Wirtschaftsunternehmens verkörpern. In Entwicklung befinden sich auch die Refinanzierungsstrategien der Betreiber.10 Konzepte der Direktfinanzierung durch Abonnement oder Micro-Payment sind derzeit unüblich, weil sie die Zugangshürden erhöhen, der Reichweite unzuträglich sind und die Nutzerakzeptanz für Werbung und „ungefragte Kontakte“ im Netzwerk senken. Refinanzierungsstrategien sind daher indirekt und verdeckt angelegt. Die meistdiskutierte Form ist der Verkauf von Daten an Dritte zur kommerziellen Verwendung, eine andere der Verkauf von Daten an Suchmaschinenanbieter, die damit ihre Informationsdichte erhöhen und ihr eigenes Profil optimieren könnten. Aus wirtschaftlicher Sicht besonders interessant sind auch Provisionsforderungen für sog. Shopping-Widgets und Verbindungen von Netzwerkbetreibern mit Unternehmen des E-Commerce zu „Social Shopping“-Konzepten.
9 Stichworte sind personalisierte, soziale oder auch virale Werbung. Zur Funktionsweise z. B. Christian Fuchs, Facebook, Web 2.0 und ökonomische Überwachung, DuD 2010, S. 453 f.; Facebook Beacon, ein Werbeprogramm, das Unternehmen umfassenden Zugriff auf Nutzerprofile eröffnete, wurde im September 2009 eingestellt. 10 Ausführlich z. B. Mörl / Groß, Soziale Netzwerke (Fn. 4), S. 65 ff.
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II. Netz-Communities als Grundlage sozialer Innovationen Die beschriebenen Entwicklungen und Anwendungen generieren in großer Fülle, Vielfalt und einmaliger Signifikanz neue Kommunikations- und Zeitverwendungsmuster, die bereits heute die Qualität neuer Lebensstile annehmen und damit in Anlehnung an die Definition von Zapf 11 als „soziale Innovationen“ gelten können.12 Von sozialen Innovationen kann gesprochen werden, wenn individuelle und soziale Verhaltensweisen so verbreitet sind, dass sie als Kulturen bezeichnet werden können. Dazu muss die Veränderung die Ebene der individuellen Sozialbeziehung verlassen und einen bestimmten Verbreitungsgrad erreichen. Soziale Innovationen können insbesondere in neuen Organisationsformen, neuen Regulierungen oder neuen Lebensstilen bestehen. Die beschriebenen Entwicklungen bieten reiches Anschauungsmaterial für zugleich soziale und technische Innovationen,13 die jedenfalls nicht allein aus kommerziell bedingter Innovationsbereitschaft resultieren. Neue Anwendungsformen und -möglichkeiten treffen heute auf eine gegenüber den Anfängen des Internet veränderte Nutzerschaft.14 Die Einrichtung eines Nutzerprofils und die Kommunikation auf sozialen Plattformen erfordern keine gehobenen Fertigkeiten mehr. Immer mehr Menschen unterschiedlichen Alters und Bildungsgrads sind auch bei geringem Verständnis der technischen Funktionsweisen in der Lage, einen Computer zu bedienen und das Internet zu nutzen. Die Nutzerschaft differenziert sich aus15 und ist auf dem Weg, die Gesamtbevölkerung widerzuspiegeln. Die neuen Anwendungen generieren neue Informations- und Kommunikationsformen und neuartige soziale Gruppen16 innerhalb des Netzes mit spezifischen, 11 Wolfgang Zapf, Modernisierung, Wohlfahrtsentwicklung und Transformation – Soziologische Aufsätze 1987 – 1994, 1994, S. 33; Wolfgang Hoffmann-Riem, Soziale Innovationen, Der Staat 47 (2008), S. 588 (589 f.). 12 Vgl. auch Hoffmann-Riem, Soziale Innovationen (Fn. 11), S. 600 ff. 13 Ohne den Innovationsbegriff zu gebrauchen, unterscheiden Thomas Hoeren / Gottfried Vossen, Die Rolle des Rechts in einer durch das Web 2.0 dominierten Welt, DuD 2010, S. 463, die Netzinfrastrukturdimension, die funktionelle Dimension (d. h. die Innovation der Anwendungen), die Datendimension und die soziale Dimension und fassen unter letztere neue Formen der Interaktion, der Zusammenarbeit und des Soziallebens im Internet. 14 Vgl. z. B. Tom Alby, Web 2.0 Konzepte Anwendungen Technologien, 2007, S. 10 ff., mit der Unterscheidung von Early Adopters, Early Majority und Late Majority. 15 Nutzertypologie z. B. bei Mörl / Groß, Soziale Netzwerke (Fn. 4), S. 20 ff., 23 ff. 16 Im sozialwissenschaftlichen Sinne sind Netz-Communities keine „Gemeinschaften“. Eher handelt es sich um (virtuelle) Gruppen, deren Kommunikationsdichte nicht besonders hoch, deren Schließungstendenzen nach innen und außen eher gering ausgeprägt sind und die einen nur geringen Organisationsgrad aufweisen. Ihre Zusammengehörigkeit ergibt sich aus der Zugehörigkeit zu einer Plattform und aus der Art der fortgesetzten, netzgestützten Kommunikation; vgl. Nicola Döring, Sozialpsychologie des Internet – Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen, 2003, S. 501;
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von denen der realen Welt unterschiedlichen, durch die Technik und ihren Netzcharakter geprägten Kommunikationsmustern und -intensitäten.17 Diese Anwendungen bilden soziale Kontakte ab, bringen neuartige, der realen Beziehung nachgebildete Kontakte („Freundschaften“) hervor und sind – jedenfalls gegenwärtig noch – Ausdruck eines neuen Lebens- und Kommunikationsstils. Die neuartigen, netzgebundenen Kommunikations- und Interaktionsformen wirken auf die Kommunikation und Kontaktpflege außerhalb des Netzes zurück. Ein Teil der „Offline“-Aktivitäten vor allem Jugendlicher und junger Erwachsener wird schon heute und mit zunehmender Tendenz „online“ initiiert und organisiert. Über den sozialen Status bestimmt auch die soziale Vernetzung im Netz und der dort mit Hilfe von Evaluationen, Rankings und „Followern“ bestimmte Status. Teil der Netz„gemeinschaft“ ist unter Umständen auch, wer das Netz nicht selbst nutzt und sich keiner spezifischen Community angeschlossen hat. Und schließlich gibt es heute kaum noch reale Öffentlichkeiten, die nicht auch digital wären. Noch nicht absehen lässt sich, welchen Einfluss die digitale soziale Netzwerkkultur auf die Persönlichkeitsbildung des Einzelnen und den Stil sozialer Beziehungen nehmen wird. Die Art und Tragweite der sozialen Innovationen lässt sich nach Akteursgruppen unterscheiden. Prägnant ist der Wandel des Nutzerverhaltens vom Konsum der Informationen zur aktiven und kreativen Nutzung der Informationstechnik. Die Auswirkungen dieser das Web 2.0 und die Communities prägenden Veränderung sind nicht einmal abzuschätzen. Deutlich zeichnet sich freilich ab, dass die Communities ihrerseits neue Dienstleistungen, Nutzungsformen und technische Anwendungen und damit wiederum technische und soziale Innovationen vorantreiben werden.18 Die mit dem Internet zunächst begründeten unterschiedlichen Nutzerkompetenzen und sozialen Geschwindigkeiten in der Generationenfolge scheinen hingegen eher zu schwinden als sich zu verstärken. Eine prägnante soziale Innovation innerhalb des Netzes sind die Rituale und Kulturen der Qualitätskontrolle von Netz und Nutzerverhalten durch Evaluationen, Bewertungen und Rankings, eine andere das dezentralisierte „Agenda Setting“ durch Blogs oder Weblogs, das immer häufiger auch in die traditionellen Massenmedien Eingang findet. Eine soziale Innovation ist unbedingt auch in der gewandelten Kultur der Akkumulierung von Wissen durch individuelle Anwendungen und spezifische Kommunikationsstrategien zu sehen. Andreas Schelske, Soziologie vernetzter Medien – Grundlagen computervermittelter Vergesellschaftung, 2007, S. 115; Mörl / Groß, Soziale Netzwerke (Fn. 4), S. 41 ff. 17 Zur spezifischen Verbindung von digitaler Technik und Kommunikation aus der Perspektive der Systemtheorie Thomas Vesting, Das Internet und die Notwendigkeit der Transformation des Datenschutzes, in: Ladeur, Karl-Heinz (Hrsg.), Innovationsoffene Regulierung des Internet. Neues Recht für Kommunikationsnetzwerke, 2003, S. 155 (179 f.); Vaios Karavas, Grundrechtsschutz im Web 2.0: Ein Beitrag zur Verankerung des Grundrechtsschutzes in einer Epistemologie hybrider Assoziationen zwischen Mensch und Computer, in: Bieber / Eifert / Groß / Lamla, Soziale Netzwerke (Fn. 3), S. 301 (303 ff.). 18 Vgl. auch Hoffmann-Riem, Soziale Innovationen (Fn. 11), S. 601 f.
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Allerdings sind die Communities nicht homogen und die Nutzer nicht gleichermaßen an solchen Prozessen beteiligt.19 Nur ein kleiner Teil von unter 3% verfasst Artikel für Wikipedia, schreibt Weblogs20 oder lädt Videos in Videoportalen hoch. Erheblich intensiver wird in sozialen Netzwerken kommuniziert. Ein für die private Nutzung bestimmtes Netzwerk nutzten 2009 bereits 67% der 20 – 29-Jährigen und 81% der 14 – 19-Jährigen, mit immer noch steigender Tendenz; über zwei Drittel der Nutzer mit eigenem Profil loggen sich regelmäßig, zumindest wöchentlich, ein.21 Ca. 35% aller Internetnutzer kommunizieren auf Facebook.22 Ein großer Teil vor allem der Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat die Netzwerke also längst in seinen Alltag integriert. Die Quoten dürften weiter steigen. Die sozialen Innovationen erfassen auch die Wirtschaft. Neue Marketingstrategien orientieren sich einerseits an den überkommenen Pfaden der betriebswirtschaftlichen Zielsetzungen.23 Sie generieren andererseits aber wiederum neue Strategien des Monitoring, der Bewerbung des eigenen Unternehmens und der Abwehr negativer Information und erzeugen neuen Bedarf an Kreativität und entsprechenden personellen Kompetenzen. Die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens wird heute maßgeblich durch die Entwicklung der modernen Kommunikationstechnologie bestimmt. Jene induziert neue Akzente im Innovationsmanagement der Unternehmen24 und erzeugt z. B. neuen Bedarf, aber auch neue Möglichkeiten für (soziale) Innovationen in der betrieblichen Organisation.25
III. Die Aufgaben des Rechts 1. Einleitung Solche Entwicklungen bedürfen der Ordnung und verlangen nach einem rechtlichen Rahmen. Dies ist ebenso unstreitig wie die Feststellung, dass sich die Aufgabe rechtlicher Regulierung des Internets – und damit auch der der hier besprochenen Anwendungen – anspruchsvoll gestaltet. Aufgaben und deren Grenzen der 19 Zahlen bei Martin Fisch / Christoph Gscheidle, Mitmachnetz Web 2.0: Rege Beteiligung nur in Communitys, Ergebnisse der ARD / ZDF-Online-Studie 2008, Media Perspektiven 2008, S. 356 ff. 20 „Deutsche Blogger“, FAZ vom 14. 04. 2010, S. 29. 21 ARD / ZDF-Online-Studie 2009, http:// www.ard-zdf-onlinestudie.de/index.php?id=165. 22 http:// www.alexa.com, Stichwort Facebook (zuletzt abgerufen am: 08. 08. 2010). 23 Für das Beispiel der Versicherungswirtschaft vgl. Stefan Raake / Claudia Hilker, Elektronische Versicherungswelt – Soziale Networks verändern die Branche, Versicherungswirtschaft 2010, S. 395 f.; Falk Sinß, Elektronische Versicherungswelt – Die Assekuranz beginnt zu zwitschern, Versicherungswirtschaft 2010, S. 392 ff. 24 Vgl. Tom Kehrbaum, Innovation als sozialer Prozess – Die Grounded Theory als Methodologie und Praxis der Innovationsforschung, 2009, S. 33, m. w. N. 25 Vgl. Kehrbaum, Innovation (Fn. 24), S. 35, m. w. N.
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Innovationsregulierung werden auch durch die Funktionen des Rechts und ihr Verhältnis zum konkreten Regelungsfeld bestimmt. Hoffmann-Riem unterscheidet auch für soziale Innovationen Regeln zur Ermöglichung von vertrautem oder neuartigem Verhalten, Regeln zur Bestimmung des Korridors zulässigen Verhaltens und Regeln zur Stimulierung des erwünschten Verhaltens und angestrebter Folgen, ergänzt um Maßnahmen zur Beobachtung, zur Verarbeitung von Erfahrungen und ggf. zur ändernden Korrektur.26 Die mit diesen Kategorien beschriebenen allgemeinen Zielorientierungen sind entlang der weiter bestehenden oder neuen, auch verfassungsrechtlichen27 Anforderungen zu präzisieren. Überkommene Rechtsregime, Regulierungsmodi und -instrumente sind darauf zu prüfen, ob sie, ggf. in modifizierter Form, diese Aufgaben erfüllen können. Allerdings dürften sich gerade soziale Netzwerke im Web 2.0 aufgrund ihrer dezentralen und interaktiven Struktur als neuartiges Phänomen mit neuartigen Regelungsbedürfnissen erweisen.28 Die Grenzen zwischen pfadabhängigem Recht einerseits und innovativem Recht andererseits sind freilich wiederum fließend, die Kategorien der Innovation im Recht noch nicht präzise bestimmt.29
2. Ermöglichungsfunktion Recht hält zum ersten Instrumente und Rechtsinstitute bereit, die die neuen Kommunikationsbeziehungen auf sozialen Plattformen und in sozialen Netzwerken als Rechtsbeziehungen ermöglichen. Die Geschäftsmodelle der Portal- und Netzwerkbetreiber scheinen zumindest derzeit noch auf offenen Zugang der Nutzer und eine möglichst ungehinderte Möglichkeit zur Kommunikation ausgerichtet zu sein.30 Das gilt vor allem für den Zugang zu und die Kommunikation auf sozialen Plattformen. Allerdings sind die Plattformen untereinander nicht auf Vernetzung, sondern auf wirtschaftliche Konkurrenz, auf Bildung wirtschaftlicher Machtstellung und auf Monopolbildung31 und damit nicht etwa auf Öffnung, sondern auf Schließung angelegt. Eine Aufgabe 26 Vgl. Hoffmann-Riem, Immaterialgüterrecht als Referenzgebiet innovationserheblichen Rechts, in: Eifert / ders. (Hrsg.), Geistiges Eigentum und Innovation, 2008, S. 15 (16 f.). 27 Hoffmann-Riem, Grundrechts- und Funktionsschutz für elektronisch vernetzte Kommunikation, AöR 134 (2009), S. 513 (530 ff.). 28 Bieber / Eifert / Groß / Lamla, Soziale Netzwerke (Fn. 3), S. 20 f. 29 Angedeutet z. B. bei Hoffmann-Riem, Immaterialgüterrecht (Fn. 26), S. 34, mit dem Beispiel auf ein neuartiges Problemfeld abgestimmter Verträge. 30 Vgl. auch Dirk Heckmann, Vertrauen in virtuellen Räumen?, K&R 2010, S. 1 (2). 31 Vgl. nur Alexander Roßnagel, Persönlichkeitsentfaltung zwischen Eigenverantwortung, gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Regulierung, in: Bieber / Eifert / Groß / Lamla, Soziale Netzwerke (Fn. 3), S. 269 (277 f.); Ladeur, Neue Medien brauchen neues Medienrecht! Zur Notwendigkeit einer Anpassung des Rechts an die Internetkommunikation, ebda., S. 23 (43).
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des Rechts besteht folglich darin, dafür zu sorgen, dass die wachsenden Sammlungen persönlichen, aus den Netzwerkaktivitäten resultierenden Datenguts32 nicht an die jeweilige Plattform gebunden bleiben, sondern portabel sind. Portabilität schafft stärkere Verfügungsmacht über das eigene Datengut der Nutzer, stärkt den Wettbewerb der Plattformbetreiber sozialer Plattformen und kann aus dem einen wie dem anderen Grunde soziale Innovationen stimulieren. Vergleichbaren Zielen dient eine diskriminierungsfreie Nutzung des einzelnen Netzwerks und die Offenhaltung von informationellen „Flaschenhälsen“. Die in privat genutzten Netzwerken stattfindende Kommunikation bedarf wie die Alltagskommunikation außerhalb des Netzes grundsätzlich keiner rechtlichen Umhegung. Die weitere Entwicklung des noch jungen Anwendungsfeldes ist freilich zu beobachten. Meinungsäußerung und Informationsaustausch finden ihre Grenzen im geltenden Recht. Maßnahmen zur Risikoprävention innerhalb des Netzes und der Communities sollten möglich bleiben. Das Gefahrenpotential scheint insoweit derzeit freilich gering. Für die Kommunikationsbeziehung zwischen Nutzern besteht Regulierungsbedarf, wenn sie real oder virtuell als „Rechtsbeziehung“ ausgestaltet wird und in letzterem Fall die Folgen auf die reale Welt ausgreifen.33 Auf Spieleplattformen nach dem Vorbild von „Second Life“ aktive Avatare können miteinander kommunizieren und kooperieren, miteinander handeln und sich organisieren, Verträge schließen und sich dabei betrügen. Von Nutzern erworbene oder kreierte virtuelle „Gegenstände“ können durch virtuelle Kopie, Beschädigung oder Zerstörung an Wert verlieren oder ganz verloren gehen. Die Spiel-„Regeln“ werden durch den Plattformbetreiber und ggf. die Nutzer untereinander bestimmt. Die selbstregulierende Kraft der virtuellen Spielewelt reicht zur rechtlichen Umhegung aber dann nicht aus, wenn die virtuellen Beziehungen in die reale Welt ausgreifen. Die Herausforderungen an das (reale) Recht zur Ermöglichung und zur Ordnung solcher Beziehungen werden durch die Entstehung virtuellen Rechts in virtuellen, aber die reale Welt imitierenden Spielwelten zusätzlich kompliziert. Vor allem Verfügungsund Immaterialgüterrechte bedürfen in diesen Communities einer verstärkten Beobachtung und Anpassung. Vor ähnlichen Herausforderungen stehen die Plattformbetreiber und ihre Nutzer bei der Entwicklung, dem Betrieb und dem Spiel mit virtuellen Gegenständen auf der Basis der betreiberseitig zur Verfügung gestellten Software. Die Nutzungsverträge fügen sich in den Kanon der geltenden Vertragsformen nur schwer ein und fordern vor allem die Kreativität der Rechtsprechung.34 Betreiber und Nutzer sind 32 Thomas de Mazière, Grundlagen für eine gemeinsame Netzpolitik der Zukunft, Vortrag vom 22. 06. 2010, http://www.bmi.bund.de/cln_156/SharedDocs/Reden/DE/2010/06/bm_netz politik.html: „Virtueller Hausrat“. 33 Näher z. B. Paul H. Klickermann, Virtuelle Welten ohne Rechtsansprüche?, MMR 2007, S. 766 ff.; Oliver M. Habel, Eine Welt ist nicht genug – Virtuelle Welten im Rechtsleben, MMR 2008, S. 71 ff.
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hier gleichermaßen schutzwürdig. Die neuen urheberrechtlichen Lizenzformen für Free Source Software35 bzw. Creative Commons36 bieten Ansatzpunkte für ein bedarfsorientiertes Vertrags- und Immaterialgüterrecht.37 In erster Linie müssen also nationales Vertrags- und internationales Privatrecht auf die spezifischen Bedingungen der Netz-Communities eingestellt und ein für das Vertrauen der Akteure bedeutsamer effektiver Rechtsschutz gewährleistet werden.38 Schon hier bedarf es schneller und flexibler internationaler Abstimmung,39 die ihrerseits innovative Regulierungsformen generieren könnte. Das Lizenzmodell „Creative Commons“ bietet hierfür ein eindrucksvolles Beispiel: Hier wird, ggf. im Wege der induzierten oder regulierten Selbstregulierung, die Portierung rechtlicher Innovationen in die nationalen Rechtsordnungen ermöglicht.40 3. Begrenzung von Freiheit Die Hauptaufgabe des Rechts wird im Bereich der Netz-Communities weiterhin durch seine traditionelle Funktion bestimmt, erwünschte soziale Innovationen zu fördern und zur Vermeidung unerwünschter Folgen beizutragen.41 Entsprechend 34 Zur Typologie der Nutzungsverträge z. B. Andreas Lober / Olaf Weber, Den Schöpfer verklagen – Haften Betreiber virtueller Welten ihren Nutzern für virtuelle Güter?, CR 2006, S. 837 ff.; Henry Krasemann, Onlinespielrecht – Spielweise für Juristen, MMR 2006, S. 351 ff.; Benedikt Wemmer / Kai Bodensiek, Virtueller Handel – Geld und Spiele, K&R 2004, S. 432 ff.; Ivo Geis / Esther Geis, Rechtsaspekte des virtuellen Lebens – Erste Ansätze des Rechts zur Konfliktlösung in Second Life, CR 2007, S. 721 ff. 35 Ein innovatives, allerdings von deutschen Gerichten noch nicht zur Anwendung gebrachtes Instrument ist die von der Free Software Foundation herausgegebene sog. GNULizenz für freie Dokumentation. Mit ihr bieten Lizenzgeber jedermann weitgehende Nutzungsrechte an ihren Werken an und verpflichten die Lizenznehmer im Gegenzug u. a. dazu, abgeleitete Werke unter dieselbe Lizenz zu stellen (Copyleft-Prinzip). 36 Beiträge von Thomas Groß, Georgios Gounalakis und John Hendrik Weitzmann, in: Bieber / Eifert / Groß / Lamla, Soziale Netzwerke (Fn. 3), S. 203 ff., 215 ff., 245 ff., jeweils m. w. N.; zur Besonderheit von Open-Source-Software-Innovationen als Beispiel innovationserheblichen Rechts Hoffmann-Riem, Immaterialgüterrecht (Fn. 26), S. 26 ff. 37 Zu den gegenüber dem klassischen Immaterialgüterrecht veränderten Funktionen des Immaterialgüterrechts Hoffmann-Riem, Immaterialgüterrecht (Fn. 26), S. 26 ff. 38 Zur Bedeutung des Rechtsschutzes in Rechtsbeziehungen zu weitgehend unbekannten Personen Volker Boehme-Neßler, Vertrauen im Internet – Die Rolle des Rechts, MMR 2009, S. 439 (440). 39 Vgl. Empfehlungen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Auswirkungen von sozialen Netzwerken im Internet auf Bürger und Verbraucher“, ABl. C 128 vom 18. 05. 2010, S. 69 ff., Ziff. 5.14 – 5.15. 40 John Hendrik Weitzmann, All You need is CC? Zum Verhältnis des Lizenzmodells Creative Commons zu den bestehenden Urheberrechtsregimen, in: Bieber / Eifert / Groß / Lamla, Soziale Netzwerke (Fn. 3), S. 245 ff. 41 Vgl. Bieber / Eifert / Groß / Lamla, Soziale Netzwerke (Fn. 3), S. 21 f.; in den Empfehlungen des EWS, Auswirkungen (Fn. 39), nimmt diese Funktion des Rechts einen breiten Raum ein.
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der Vielfalt der Kommunikationsbeziehungen innerhalb und außerhalb des Netzes ergeben sich dabei unterschiedliche Ansatzpunkte zur Abfederung von Gefahrenlagen und zur Risikovorsorge. a) Plattformbetrieb und Nutzerschutz Gegenüber den Betreibern scheint die Zielorientierung des Nutzerschutzes zwar auf der Hand zu liegen; die möglichen Gefährdungslagen, nach denen sich die Regelungsziele bestimmen, sind gleichwohl noch unsicher und voraussichtlich vielfältig. Besondere rechtliche Anforderungen resultieren aus dem Interesse der Betreiber sozialer Plattformen an wirtschaftlicher Wertschöpfung. Da sich auch bei indirekter Finanzierung der wirtschaftliche Wert nach Zahl und Intensität der sozialen Beziehungen bestimmt, sind die Nutzungsbedingungen auf niedrigschwelligen Zugang und Datenschutz bei hoher Datendichte angelegt. Den Betreibern spielen dabei die Akzeptanz der Netzwerke vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen und die hohe Bedeutung für deren Alltagskommunikation in die Hände. Die Bedeutung der netzgebundenen Kommunikation für die sozialen Beziehungen in der realen Welt erhöht andererseits die sozialen „Kosten“ für ein Verlassen einer sozialen Plattform und erhöht dementsprechend die Risikobereitschaft vor allem minderjähriger Nutzer zur Preisgabe persönlicher Daten. Die Funktionsbedingungen sozialer Netzwerke generieren damit nutzerseitige Gefahren, die nach klassischer Verbraucherschutzregulierung verlangen. In deren Zusammenhang bedarf die Lesart von der „Unentgeltlichkeit“ des Internets und der sozialen Plattformen der Korrektur.42 Der wirtschaftliche Wert eines Netzwerks resultiert aus den Kommunikationsprozessen unter den Nutzern, die zusammen einen Bestand von wirtschaftlich hochwertigen und damit handelbaren Informationen ergeben.43 Diesen Wert generieren die Nutzer durch ihre beständigen (produktiven oder auch nur kommunikativen) Aktionen. Wirtschaftlich wertvoll sind auch technische und soziale Innovationen, die ebenfalls durch Nutzer auf betreiberseitig betriebenen Plattformen und bereit gestellten Portalen erzeugt werden. Der Beitrag des einzelnen Nutzers ist dabei gering und im Zweifel nicht durch die ökonomische Logik geprägt,44 der generierte wirtschaftliche Gesamtwert unter Umständen jedoch immens. Ebenso Heckmann, Vertrauen (Fn. 30) S. 2; de Mazière, Grundlagen (Fn. 32), unter III. Für den Verkauf von studiVZ an Holtzbrinck sollen 85 Millionen Euro bezahlt worden sein, vgl. Heckmann, Grundlagen (Fn. 30), S. 2 m. w. N. 44 Vgl. Adam Arvidsson, Kunden als Koproduzenten, soziale Produktion und ethische Ökonomie, in: Bieber / Eifert / Groß / Lamla, Soziale Netzwerke (Fn. 3), S. 161 ff., insbes. S. 169 ff. Fuchs, Überwachung (Fn. 9), S. 454, 456 f.: „Unbezahlte Wertschöpfung durch Prosumenten“ als Teil eines Geschäftsmodells, das auf personalisierter Werbung und ökonomischer Datenüberwachung beruht. „Prosuming“ als Form kollektiver Wissensgenerierung thematisiert auch Hoffmann-Riem, Funktionsschutz (Fn. 27), S. 520 f. 42 43
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Die bestehende Konnexität von kommerziell angelegtem Nutzungsangebot und betreiberseitiger Erwartung einer Wertschöpfung durch Nutzeraktionen gilt es insbesondere für den rechtlichen Schutz minderjähriger Nutzer fruchtbar zu machen. So hängt z. B. nach § 108 BGB die Wirksamkeit eines Vertrages, der Jugendlichen nicht nur Vorteile bringt, von der Einwilligung der Eltern ab. Hieran ließe sich durch Erweiterung des Anwendungsbereichs im Wege der Analogie oder – besser – durch entsprechende Gestaltung der gesetzlichen Zugangsregeln anknüpfen. Auch die Wahrnehmung elterlicher Verantwortung über den Zugang hinaus gestaltet sich aufgrund der Verbindung von Kommunikation und Technik voraussetzungsvoll. Nutzungsbedingungen und technische Infrastruktur müssen deshalb so beschaffen sein, dass die Wahrnehmung dieser Verantwortung möglich ist und bleibt – und dass die Jugendlichen dieses auch wissen. Erwachsene Nutzer bedürfen des Schutzes in anderer Weise. Sie dürfen eine technische Infrastruktur und allgemeine Nutzungsbedingungen erwarten, die nicht einseitig den Interessen der Betreiber an Vermehrung der Daten und der Erwirtschaftung von Gewinnen Rechnung tragen, sondern auch dem Schutz der persönlichen Daten dienen.45 Die Koppelung von Zugangseröffnung und Einwilligung in die Datennutzung zu kommerziellen Zwecken dürfte jedenfalls für Anbieter mit wirtschaftlicher Marktmacht bereits gegen geltendes Recht verstoßen.46 Die aktuelle öffentliche Diskussion über die Datenschutz-Infrastruktur des Anbieters von Facebook zeigt die Notwendigkeit, aber auch die Schwierigkeit einer angemessenen Regulierung. Die bereits oben geforderte Gewährleistung eines offenen und diskriminierungsfreien Zugangs ist aus diesem Grunde zu ergänzen um eine Gewährleistung nutzerfreundlicher Konditionen und einer Infrastruktur, die niedrigschwellige technische Vorkehrungen zum Schutz persönlicher Daten vor Kenntnisnahme und Übertragung ermöglicht. Transparenz der Nutzungsbedingungen und Datenschutzregeln – wozu auch eine akzeptable, an den Communities orientierte Gestaltung der Informationen, Bedingungen und technischen Optionen zählt47 – sind nicht nur im Zeitpunkt des Zugangs, sondern während der gesamten Nutzungszeit gefordert. Zielgerecht sind Informationspflichten der Betreiber, verbunden mit Wahlmöglichkeiten 48 und Exit-Optionen der Nutzer, die sich – unter Mitnahme der gesammelten Daten – auch realisieren lassen. Eine verbraucher45 Zur geltenden Rechtslage Stephan Bauer, Personalisierte Werbung auf Social Community-Websites, MMR 2008, S. 435 ff. „Privacy-by-Design“-Anforderungen formuliert Weiss, An Information Architecture Framework for Enhancing Privacy in Social Network Applications, 2010; vgl. auch Leif-Erik Holtz, Datenschutzkonformes Social Networking: Clique und Scramble!, DuD 2010, S. 439 ff. 46 Ausführlich Bauer, Werbung (Fn. 45), S. 436 f., mit Hinw. auf § 19 GWB und w. N. 47 Gestaltungsvorschläge z. B. für das Social Bookmarking bei Lerch / Krause / Hotho / Roßnagel / Stumme, Bookmarking-Systeme (Fn. 6), S. 458. 48 Gefordert von Lerch / Krause / Hotho / Roßnagel / Stumme, Bookmarking-Systeme (Fn. 6), S. 458.
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schutzgerechte Informationsvermittlung gehört zu den Bedingungen realer Autonomie.49 Kommunikation im Netz generiert Informationen in einer Weise, die besondere Anforderungen an einen effektiven Persönlichkeits- und Datenschutz stellen. Im „nie vergessenden Netz“ wird unter Umständen die Perpetuierung von Information zum Risiko für die freie Persönlichkeitsentfaltung. Die beobachteten Trends deuten außerdem auf eine zunehmende Geschwindigkeit der Datendiffusion und damit ansteigende Risiken für die Betroffenen hin. Bereits wird über Synergieeffekte zwischen Betreibern von Suchmaschinen und vergleichbaren Portalen einerseits und den Betreibern sozialer Netzwerke andererseits offen nachgedacht. Damit würden in der sozialen Community gegebene Informationen und versandte Bilder aus dem jeweiligen sozialen und kommunikativen Kontext noch mehr als bisher schon möglich gelöst. Die Abwägungsmuster im Dreiecksverhältnis von Berufsfreiheit, Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz sind im Lichte dieser Entwicklungen zu überdenken und anzupassen.50 Auf nationalstaatlicher und EU-Ebene finden sich Vorschläge und Maßnahmen, die auf Einsicht und Selbstverpflichtung der Betreiber setzen.51 Nach aller Erfahrung braucht Selbstregulierung Anreize und Einwirkungen oder gar den Druck eines (zumindest subsidiären) staatlichen Ordnungssystems.52 Der Spielraum für nationale Medienpolitik im transnationalen Betreibermarkt und angesichts internationaler Transaktionen ist freilich beschränkt.53 Besondere Bedeutung für das Ordnungsgefüge kommt deshalb gegenwärtig Deklarationen und Dokumenten nationaler und transnationaler Verbraucherschutzverbände zu. Im transnationalen Trans Atlantic Consumer Dialogue (TACD) etwa sind europäische und US-amerikanische Verbraucherschutzorganisationen zusammengeschlossen. Dort werden 49 Martin Eifert, Freie Persönlichkeitsentfaltung in sozialen Netzen – Rechtlicher Schutz von Voraussetzungen und gegen Gefährdungen der Persönlichkeitsentfaltung im Web 2.0, in: Bieber / Eifert / Groß / Lamla, Soziale Netzwerke (Fn. 3), S. 253 (260). Vgl. auch die Leitidee „informationeller Autonomie“ bei Hoffmann-Riem, Funktionsschutz (Fn. 27), S. 522 ff. Zum Konzept der Autonomie Gabriele Britz, Freie Entfaltung durch Selbstdarstellung, 2007, S. 9 ff., mit den vorliegend wichtigen Bezügen auf die kommunikative Komponente (S. 12 ff.) und den Aspekt der Wahlmöglichkeit (S. 15 f.), jeweils m. w. N. 50 Für Bewertungsportale statt vieler z. B. Meinhard Schröder, Persönlichkeitsrechtsschutz bei Bewertungsportalen im Internet, VerwArch 2010, S. 205 (220 ff.). 51 So z. B. die von der EU-Kommission mit einigen Betreibern im Februar 2009 vereinbarten. „Safer Social Networking Principles for the EU“, 10. 02. 2009, http:// ec.europa.eu/ information_society/activities/social_networking/docs/n_principles.pdf. 52 Impulse für „Koregulierung“ fordert z. B. EWS, Auswirkungen (Fn. 39), S. 69 ff.; „gegebenenfalls Ad-hoc-Gesetzgebungsmaßnahmen“ neben Selbstkontrolle und -regulierung durch die Anbieter die Artikel-29-Datenschutzgruppe, Stellungnahme 5 / 2009 zur Nutzung sozialer Online-Netzwerke, angenommen am 12. 06. 2009, 01189 / 09 / DE WP 163, S. 14, abrufbar unter http://www.cnpd.public.lu/de/publications/groupe-art29/wp163_de.pdf. 53 Zuversichtlich hinsichtlich der nationalstaatlichen Handlungsmöglichkeiten aber Hoffmann-Riem, Funktionenschutz (Fn. 27), S. 538 ff. m. w. N.
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Verbraucherschutzinteressen herausgearbeitet, die Politiken der US-Regierung und der EU beobachtet und kommentiert und begleitend zum Aufbau und der sozialen Durchdringung sozialer Netzwerke Standards für Verbraucherschutz erarbeitet. Wesentliche Forderungen richten sich auf offenen und diskriminierungsfreien Zugang, Neutralität und Vielfalt der Angebote, nutzerfreundliche Konditionen, insbesondere für die Übertragung von persönlichen Daten, und einen angemessenen Schutz von Kindern und Jugendlichen.54 Solche Regeln und Selbstverpflichtungen, ergänzt um veröffentlichte Abmahnungen und netzinterne Bewertungen, haben den Anbieter von Facebook zeitweilig zu einer nutzerfreundlichen Gestaltung seiner Nutzungsbedingungen bewegen können.55 Eine wichtige und effektive Regulierungsressource bleiben aber die Netz-Communities selbst. Das Recht enthält Funktionen und Potential für die Stärkung ihrer Informations- und Handlungskompetenz, insbesondere durch die Beseitigung von Informationsdefiziten und Fehlvorstellungen.56 Vertrauen bildet nicht nur eine zentrale soziale Ressource für die Kommunikation in sozialen Netzwerken – die Häufung des Begriffs „Vertrauen“ in jüngeren rechtswissenschaftlichen Publikationen ist aufschlussreich57 –, sondern auch eine Voraussetzung für erwünschte soziale und technische Innovationen. Durch Begründung von Aufklärungs- und Transparenzpflichten kann Recht dazu beitragen, unbegründetes Vertrauen zu zerstören und eine belastbare Vertrauensgrundlage herzustellen. In ihrer konkreten Ausprägung und ihren Bezügen können Jugend- und Verbraucherschutz nicht nur abschreckende und damit innovationshemmende Wirkung entfalten. Klug eingesetzt wirkt der Schutz der Nutzer zugunsten einer verantwortungsvollen Kommunikationskultur innerhalb der Community, fördert damit das Vertrauen in das Netzwerk und wirkt auf diese Weise sogar innovationsstimulierend. Die TACD etwa akzentuiert in ihren Deklarationen und Dokumenten das Ziel der Innovationsförderung durch Förderung von Verbraucherschutz.58 b) Nutzer – Nutzer Auch die Kommunikation der Nutzer untereinander erfordert Regeln. Diese können die Form einer „Kommunikationskultur“ haben. Das Netzwerk Xing etwa ist bekannt für Höflichkeit. Denkbar sind auch selbstregulative Regelsetzungen, 54 Die Vereinbarung der EU-Kommission vom Februar 2009 (Fn. 51) etwa wird von der TACD als zu vage eingestuft, vgl. Resolution on Social networking, May 2009, S. 1. 55 Focus, 02. 12. 2009. 56 Von „Informationsasymmetrien“ spricht Stefan Weiss, Datenschutz Compliance in Sozialen Netzwerkanwendungen, DuD 2010, S. 444 (445). 57 Vgl. z. B. Dieter Klumpp / Herbert Kubicek / Alexander Roßnagel / Wolfgang Schulz (Hrsg.), Informationelles Vertrauen für die Informationsgesellschaft, 2008; Volker BoehmeNeßler, Vertrauen (Fn. 38); Heckmann, Vertrauen (Fn. 30), S. 530 ff. m. w. N. 58 Vgl. TACD, Charter of Consumer Rights in the Digital World, March 2008, S. 5.
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etwa in hierarchischer Form durch die Nutzungsbedingungen des Betreibers oder in Form einer nutzerseitigen Etikette. Darüber hinaus kommen die Bindungen des Datenschutz- und Persönlichkeitsrechts zum Tragen. Hoheitliche Regelsetzung verspricht in den transnational ausgerichteten Netzwerken schwierig zu bleiben. Im internationalen Vergleich sind Standards und kulturelle Sensibilitäten etwa gegenüber Pornografie, auch Kinderpornografie, Gewalt oder radikalpolitischen Inhalten sehr unterschiedlich entwickelt. Schwierig gestaltet sich auch die Herausbildung von Mechanismen der Durchsetzung und Kontrolle nationalstaatlicher Bindungen. c) Der Schutz unbeteiligter Dritter Des besonderen Schutzes bedürfen Dritte, die an der konkreten Kommunikationsbeziehung unbeteiligt, nur Objekt einer Veröffentlichung, möglicherweise nicht einmal selbst Mitglied der Netz-Community sind. Hier deuten sich Rechtsprechungslinien an, die zu den Versteigerungsportalen entwickelt wurden und zu Bewertungsportalen wie „spickmich.de“ und „meinprof.de“ fortgeschrieben werden.59 Cybermobbing, Cyberbulling und private „Rachefeldzüge“ werden diese Linienbildung nicht abreißen lassen, das Ubiquitous Computing aber wiederum neue Gefährdungslagen begründen.60 Die Übergänge von personenbezogenen Bewertungsplattformen zur Bildung von Foren und Netz-Communities sind dabei fließend.61 Der technikunabhängige verfassungs- und europarechtliche Persönlichkeitsschutz gewährleistet die autonome Bestimmung über die Selbstdarstellung und selbst den Anspruch auf Anonymität als Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts auch im Netz.62 Zwar droht weniger die Verletzung durch den Staat oder professionelle Medienunternehmen, als regelmäßig die durch „Laienjournalisten“.63 Doch dürfte sich dieser Wandel mit der dogmatischen Figur der prakti59 Vgl. aus der zahlreichen Rechtsprechung und Literatur BGHZ 181, 328 ff.; BayVGH, Urteil v. 10. 03. 2010, Az. 7 B 09.1906, juris; Karl-Nikolaus Peifer / Johannes Kamp, Datenschutz und Persönlichkeitsrecht – Anwendung der Grundsätze über Produktkritik auf das Bewerbungsportal „spickmich.de“?, ZUM 2009, S. 185 ff.; Georgios Gounalakis, Zulässigkeit von personenbezogenen Bewertungsplattformen, NJW 2010, S. 566 ff.; Entscheidungsanmerkungen von Anna-Bettina Kaiser, Bewertungsportale im Internet – Die spickmichEntscheidung des BGH, NVwZ 2009, S. 1474 ff.; Karl-Heinz Ladeur, Zulässigkeit der Veröffentlichung personenbezogener Daten von Lehrern im Internetportal www.spickmich.de, JZ 1009, S. 966 ff. 60 Zur Gefährdungslage ausführlich Roßnagel, Persönlichkeitsentfaltung (Fn. 31), S. 272 ff. 61 Im Fall des BayVGH, Urteil v. 10. 03. 2010, Az. 7 B 09.1906, juris, hatte ein Schüler auf einem privat betriebenen regionalen Online-Portal ein Diskussionsforum zum Thema „wer mag bitteschön herrn . . .“ eingerichtet. 62 Eifert, Persönlichkeitsentfaltung (Fn. 49), S. 260 f. m. w. N. 63 Begriff bei Eifert, Persönlichkeitsentfaltung (Fn. 49), S. 258. Zur Nutzung bekannter Lösungsmuster für die Lösung alter Konflikte im neuen Gewand Roßnagel, Persönlichkeitsentfaltung (Fn. 31), S. 274 f.
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schen Konkordanz weiterhin angemessen verarbeiten lassen. Einfachrechtlich stehen mit § 29 BDSG einerseits und den zivilrechtlichen Unterlassungs- und Schadensersatzansprüchen andererseits jedenfalls für das nationale Recht anschlussfähige Regelungskonzepte zur Verfügung.64 Ein besonderes Gefährdungspotential bergen die neuen Möglichkeiten der Verbreitung von Bildern. Die Verbreitung ohne Einwilligung der Abgebildeten ist in den klassischen Medien nur unter besonderen Voraussetzungen sozial und rechtlich akzeptiert. Auch für soziale Netzwerke wie für das gesamte Internet sollte gelten, dass die Betreiber, die die Informationsquelle eröffnen, dem Einwilligungsrecht zu bestmöglicher Wirksamkeit verhelfen müssen. Zu Recht wird daher von den Betreibern gefordert, nicht nur in den Nutzungsbedingungen auf Persönlichkeitsrechte Dritter hinzuweisen, sondern auch technische Vorkehrungen dafür zu schaffen, dass Verlinkungen anderer Nutzer mit den eingestellten Bildern aktiv frei geschaltet werden müssen. d) Fernwirkungen Die sozialen Innovationen des Web 2.0 erfordern rechtliche Anpassungen auch für Kommunikations- und Rechtsbeziehungen außerhalb des Netzes. Nach einer vom Bundesministerium für Verbraucherschutz in Auftrag gegebenen Studie aus dem Juli 2009 nutzen rund 28% der befragten Unternehmen die Internetrecherche bei der Personalauswahl. Ein gutes Drittel dieser Unternehmen gibt an, bei seiner Recherche auch Daten aus sozialen Netzwerken erhoben zu haben.65 Die Verwertung von Text- und Bildmaterial aus sozialen Netzwerken und Bewertungsportalen im Bewerbungsverfahren und seine Aufnahme in die Personalakte sind datenschutz- und arbeitsrechtlich relevant.66 Die Problematik wäre – auch im Sinne eines lebenslangen Datenschutzes – entschärft, wenn die automatische Löschung in den Netzwerken gesammelter und längere Zeit nicht mehr abgerufener Daten rechtlich verbindlich wäre.
4. Stimulierung erwünschten Verhaltens Recht vermag außerdem Aufgaben bei der Förderung erwünschter Innovationen und bei der Stärkung von Nutzerkompetenzen zu übernehmen. Forschungs- und Entwicklungskooperationen zwischen staatlichen und Markt-, aber auch nichtkommerziellen Akteuren richten sich auf erwünschte Innovationen. Ausführlich Eifert, Persönlichkeitsentfaltung (Fn. 49), S. 261 f. http:// www.bmelv.de/cae/servlet/contentblob/641322/publicationFile/36231/Internetnut zungVorauswahlPersonalentscheidungen.pdf, aufgerufen am 06. 08. 2010. 66 Christian Rolf / Michael Rötting, Google, Facebook & Co als Bewerberdatenbank für Arbeitgeber?, RDV 2009, S. 263 ff.; Gerit Forst, Bewerberauswahl über soziale Netzwerke im Internet?, NZA 2010, S. 427 ff. 64 65
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Ein Beispiel bildet die Förderung intelligenter Antwortsuchmaschinen durch das Bundesforschungsministerium. Auszuloten gilt es außerdem das Potential von Recht für zielorientierte Technikgestaltung,67 etwa für die Schaffung „rücksichtsvoller Grundeinstellungen“ durch die Betreiber sozialer Plattformen68 oder für die Förderung und Privilegierung von Non-Profit-Web-2.0-Plattformen, deren Datenund Nutzerschutzbedingungen den erwünschten Standard aufweisen.69 Recht kann technische Innovationen aufgreifen und begleiten etwa mit dem Ziel, Vertrauen zu schaffen,70 Authentizität als Voraussetzung eines ungehinderten Rechtsverkehrs zu unterstützen71 oder rechtssichere internetbasierte Vergabeverfahren zu gewährleisten.72 Mit Hilfe des Rechts lässt sich die Selbstregulierung der IT-Wirtschaft zusätzlich stimulieren oder begrenzen; Recht kann positive Folgen an den Einsatz erwünschter Technologien knüpfen und dysfunktionale Effekte, etwa im Bereich des Datenschutz- oder Wettbewerbsrechts, mindern. Vor allem das Recht der Infrastruktursicherung und der Zugangsregulierung bietet Instrumente, an die sich für die Stimulierung erwünschter Technologien anknüpfen lässt. Kritischer Beobachtung und intensiver rechtlicher Begleitung bedarf darüber hinaus der hohe Anteil an minderjährigen und jungen erwachsenen Mitgliedern in den Communities. Curricula für das Schul- und Bildungswesen können das Phänomen der netzgestützten Kommunikation und Gruppenbildung ignorieren oder aber darauf ausgerichtet werden, die Kompetenzen der Jugendlichen im Hinblick auf ihre informationelle Selbstbestimmung und das „Management“ eigener und fremder Daten zu entwickeln.73 Eltern benötigen Aufklärung und Unterstützung in ihrer Erziehungsverantwortung und Lehrkräfte brauchen Weiterbildung. Beides erfordert finanzielle Mittel und eine zum Aufbau von Medienkompetenzen geeignete Infrastruktur. Hier aktualisiert sich zugleich die nationalstaatliche Bildungsaufgabe. 5. Fortlaufende Beobachtung Ein hochdynamisiertes und hochkomplexes soziales Geschehen, wie es die technikgestützten sozialen Netzwerke präsentieren und initiieren, erfordert spezifische Roßnagel, Persönlichkeitsentfaltung (Fn. 31), S. 283 m. w. N. De Mazière, Grundlagen (Fn. 32), unter D. I.1.; Artikel-29-Datenschutzgruppe, Resolution (Fn. 54), S. 8, 14. 69 Vgl. Forderung und Beispiel bei Fuchs, Überwachung (Fn. 9), S. 458. 70 Beispiele bei Boehme-Neßler, Vertrauen (Fn. 38), S. 443 f. 71 Vgl. Gesetz über Rahmenbedingungen für elektronische Signaturen. 72 Roßnagel / Schnellenbach-Held / Geibig / Paul, Rechtssichere agentenbasierte Vergabeverfahren. Am Beispiel der Vergabeverfahren für Bauleistungen, 2007, S. 255 ff., m. w. N. zu sog. mobilen Software-Agenten. 73 Hoeren / Vossen, Rolle des Rechts (Fn. 13), S. 466, sprechen von „Regulierung durch Erziehung“. Ein praktisches Anschauungsbeispiel bietet auch die Studie des Fraunhofer Instituts Sichere Informationstechnologie, Privatsphärenschutz in Soziale-Netzwerke-Plattformen, 2008, S. 109 ff., die die Ergebnisse der Studie als „Ratgeber für Nutzer“ präsentiert. 67 68
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Regelungskonzepte und -strategien, die laufend schnelle Anpassungen ermöglichen. Eine entwicklungsoffene Ausgestaltung staatlich gesetzten Rechts wird mit guten Gründen gefordert,74 stößt aber angesichts der Prozesshaftigkeit des Regelungsfeldes an Grenzen.75 Innovationsbegleitende Regulierung erfordert deshalb gerade in diesem Regelungsfeld eine Konzeption nach dem von Bora beschriebenen „Modell mitlaufender Reparaturen im Prozess der Innovation“.76 Der Prozess kontinuierlicher Beobachtung und Risikoanalyse77 und mitlaufender Reparaturen ist an die Eigenart der Regulierungsanforderungen anzupassen. Die Hauptaufgabe des Rechts dürfte dabei in der Beschleunigung regulativer Prozesse liegen. Die durch Online-Communities und soziale Netzwerke angestoßenen sozialen Innovationen entwickeln sich rasant. Die Potentiale klassischer, nationaler Regulierungsstrategien sind deshalb auf dem Feld der Internetregulierung auf spezifische Weise begrenzt. Die hohe Entwicklungsdynamik der Netz-Communities erfordert zunächst, die Kraft der Regulierung nicht zu überschätzen. Mit der Entwicklung wesentlicher Leitideen und Standards (etwa im Datenschutz, Persönlichkeitsschutz und Schutz des Vertrauens in die Integrität der Systeme) und basaler Ziele staatlicher Intervention (etwa im Hinblick auf den Wettbewerb der Portalbetreiber) wäre schon viel gewonnen. Die Aufgabe ist bereits anspruchsvoll, denn Regulierungsziele und Maßnahmen lassen sich vor allem im transnationalen Zusammenhang nur grob strukturieren, und Erfahrungswissen über geeignete Regulierungstechniken ist praktisch nicht verfügbar. Andererseits bedarf gerade der Daten- und Persönlichkeitsschutz auch aus individueller Perspektive einer langfristigen und damit vorausschauenden und an technische und wirtschaftliche Innovationen fortlaufend angepassten Konzeption.78 Staatliche Gesetzgebungsorgane und Gerichte haben die Aufgabe laufender Beobachtung, welche Rechtsgrundsätze – etwa im Bereich der Vertragsgestaltung, der AGB-Kontrolle oder des Datenschutzes – die neuen Sachverhalte erfassen und wo Neuregelung erforderlich wird, welches bestehende Recht fortgeschrieben werden kann und welches neu erfunden werden muss. Der enge Zusammenhang von Regulierungs- und Infrastrukturanforderungen erfordert darüber hinaus eine eng vernetzte wissenschaftliche Beobachtung und Begleitung durch die rechts-, technik- und wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen.79 74 Beispiele bei de Mazière, Grundlagen (Fn. 32): Pfadabhängigkeit, Technikneutralität und Vorrang der Selbstregulierungsmechanismen. 75 Prägnant z. B. Brigitte Zypries, Warum wir ein NetGB brauchen, K&R 2010, Editorial Heft 6. 76 Alfons Bora, Innovationsregulierung als Wissensregulierung, in: Eifert, Martin / Hoffmann-Riem, Wolfgang (Hrsg), Innovationsfördernde Regulierung, 2009, S. 23 (36), m. w. N. 77 Im Interesse eines lebenslangen Datenschutzes Marit Hansen / Sven Thomsen, Lebenslanger Datenschutz: Anforderungen an vertrauenswürdige Infrastrukturen, DuD 2010, S. 283 (285 f.). 78 Vgl. Hansen / Thomsen, Anforderungen (Fn. 77), S. 283 ff. 79 Hoeren / Vossen, Rolle des Rechts (Fn. 13), insbes. S. 464 f.; vgl. auch Stefan Weiss, Compliance (Fn. 56), S. 445; exemplarisch auch Holtz, Social Networking (Fn. 45), S. 439 ff., mit einer Kombination von technischen und rechtlichen Anforderungen.
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Gefordert ist darüber hinaus die Beobachtung, Unterstützung und Begleitung von Selbstregulierung,80 der angesichts der unterschiedlichen nationalstaatlichen Kontrollmaßstäbe und Regulierungskonzepte vor allem, aber nicht nur, für die internationale Regelsetzung Bedeutung zukommt. Der mit der Rechtsetzung beauftragte Staat muss ermitteln, wie er durch eigene Beiträge und den Einsatz eigener Ressourcen (Geld, Daten, Öffentlichkeitsarbeit) auf eine effektive Selbstorganisation (etwa im Bereich der Vertragsgestaltung), Selbstkontrolle und Selbstregulierung der laufenden Prozesse hinwirken kann. Exemplarisch lässt sich dieser Suchprozess in der aktuellen Rolle staatlicher Stellen bei der Diskussion um den Datenschutz bei Facebook beobachten: Deren Maßnahmen reichen vom „offenen Brief“ der Verbraucherschutzministerin, der sich als Versuch einer Stimulierung der Netz-Community werten lässt, über die Einleitung eines förmlichen Bußgeldverfahrens gegen den Anbieter durch Verbraucherschutzverbände und einen Datenschutzbeauftragten bis zur Entwicklung von alternativen Netzwerken, über deren finanzielle Entwicklungsförderung ebenso zu reden wäre wie über die finanzielle Unterstützung von Kampagnen, deren Ziele mit den staatlichen übereinstimmen. Besondere Beobachtung erfordern die Maßnahmen zur Initiierung und Förderung von pädagogischen und informativen Anstrengungen, um Kompetenz und Verantwortung von Minderjährigen und Eltern im Umgang mit dem Internet zu stärken, was nicht nur, aber auch auf die Beteiligung der Jugendlichen in den Netz-Communities abzielt. Auch hier hat der Suchprozess gerade erst begonnen. Der Evolution von Wissen kommt deshalb für die im Entstehen begriffenen Netz-Communities maßgebliche Bedeutung zu. Sie erfordert ein umfassendes Wissensmanagement, zu dessen Strategien Selbstbeobachtungen, aber auch die Nutzung und Stimulierung der netzinternen Kommunikationsprozesse und -kulturen gehören. Netzinterne Bewertungssysteme, Rankings, Streitkulturen und Diskussionsstile generieren Kontext- und Erfahrungswissen. Das Internet erfordert und ermöglicht eine diskursive und wenig hierarchische Organisation von Wissen im Zusammenwirken von staatlichen Instanzen, kommerziellen Plattformbetreibern und nichtkommerziellen Nutzern. Dezentrale, netzinterne Beobachtungs-, Bewertungs- und Revisionsstrategien werden auf absehbare Zeit die wichtigste Quelle des erforderlichen Regulierungswissens bleiben und zeitweise selbst die Funktionen innovationsbezogener Regulierung übernehmen müssen. Dieser Suchprozess ist eng mit dem Modus der Governance verknüpft. „Governance“ selbst erweist sich gerade auf diesem Regulierungsfeld als ein fortlaufendes Ringen um Regeln, das die Bestimmung der Regeln ebenso wie die akteursspezifische Beteiligung am Regulierungsprozess umfasst.81 80 Hoeren / Vossen, Rolle des Rechts (Fn. 13), S. 466. Ein Beispiel bietet der Verhaltenssubkodex für Betreiber von Social Communities der FSM vom 11. 03. 2009, http:// www. fsm.de/inhalt.doc/VK_Social_Networks.pdf. 81 Vgl. Sebastian Botzem / Jeanette Hoffmann, Dynamiken transnationaler Governance: Grenzüberschreitende Normsetzung zwischen privater Selbstregulierung und öffentlicher
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Regulierung scheint in dieser Phase auch noch als „Modell mitlaufender Reparaturen im Prozess der Innovation“ latent überfordert zu sein. Dennoch ist zu erwarten (oder auch zu hoffen), dass sich der ablaufende Prozess sozialer Innovationen von anderen Innovationen auf lange Sicht nur graduell unterscheiden wird. Auch für jene hat Bora immerhin die „Illusion tatsächlicher Regulierbarkeit“ formuliert und sie zur Voraussetzung für die Herausbildung von Regulierungsverhalten, -konzepten und -strukturen erklärt.82 Diese Illusion aufrechtzuerhalten ist ebenfalls eine Aufgabe des Rechts.
Hierarchie, in: dies. / Quack, Sigrid / Schuppert, Gunnar Folke / Straßheim, Holger (Hrsg.), Governance als Prozess. Koordinationsformen im Wandel, 2009, S. 225 ff. 82 Bora, Wissensregulierung (Fn. 76), S. 36.
Wikipedia: Ein neues Produktionsmodell und seine rechtlichen Hürden Von Roger Luethi und Margit Osterloh I.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
II. Die Bedeutung von Wikipedia als Produktinnovation und neues Produktionsmodell 213 1. Bedeutung als Informationsquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 2. Bedeutung als Ort öffentlicher Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 III. Charakteristiken des neuen Produktionsmodells Wikipedia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 1. Barrierefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 2. Freiwilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 3. Belegpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 4. Hochleistungsinfrastruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 IV. Die Einpassung von Wikipedia in bestehendes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 1. Eigene Urheberrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zielkonflikt: Vision vs. Mittelbeschaffung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gefahr für Barrierefreiheit in Community-Projekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Offene Lizenzen als Ausweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Fremde Urheberrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Lizenzierungsproblematik für barrierefreie Community-Projekte . . . . . . . . . . . . b) Der beschwerliche Weg zur Nutzung gemeinfreier Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Mit Steuergeldern finanzierte Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Fazit zur Problematik fremder Urheberrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Beschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 V. Neue Bedrohungen durch Regulierungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 1. Durchsetzung nationaler Gesetze im Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 2. Entwicklungen bei Immaterialgüterrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3. Haftung und Haftungsfreistellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
I. Einleitung Wer heute im Internet nach Wissen sucht, landet unweigerlich bei Wikipedia. Ob „Deutschland“, „Hartz IV“, „Gewohnheitsrecht“ oder „Lysergsäurediethylamid“,
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Wikipedia-Artikel finden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit weit vorne in den Suchergebnissen der gängigen Internetsuchmaschinen. Eine kürzlich publizierte Studie bestätigt diesen Eindruck für Suchbegriffe aus der Medizin.1 Dreizehn Prozent aller deutschen Suchabfragen bei Google liefern einen Wikipedia-Artikel an erster Stelle.2 Marktforscher zählen die Internet-Enzyklopädie seit Jahren zu den zehn meistbesuchten Websites – für Nachrichten und Informationen gilt sie gar als die wichtigste. 94 Prozent der deutschen Jugendlichen nutzen Wikipedia.3 Jeder zehnte Autor der Zeitschrift „Nature“ gab schon 2005 an, Wikipedia regelmäßig zu konsultieren.4 Gemäß einer Umfrage sucht ein großer Teil der Ärzteschaft in Wikipedia nach medizinischen Informationen.5 Wikipedia ist aber nicht nur eine bedeutende Informationsquelle, der eine Reihe von Studien zumindest eine mit herkömmlichen Enzyklopädien vergleichbare Qualität bescheinigt.6 Wikipedia ist darüber hinaus ein wichtiger Ort öffentlicher Kommunikation und repräsentiert zugleich ein neues Produktionsmodell. Dieses legt Wissen als (ökonomische) Ressource nicht mehr auf Exklusivität an, sondern ermöglicht die Verknüpfung von bestehendem mit neuem Wissen als öffentlichem Gut (als „Wissensallmende“).7 Unterstützt wurde dies durch neue, offene Lizenzen mit Copyleft-Klauseln, welche die Weiterverwendung von Inhalten durch Andere alleine davon abhängig machen, dass die daraus entstehenden Inhalte die gleichen Rechte zur Wiederverwendung gewähren. Diese neuen Lizenzformen sind im Rahmen des geltenden Immaterialgüterrechts entwickelt worden, welches orientiert ist an der proprietären Aneignung von Erfindungen oder Schöpfungen. Zugleich aber haben sie das geltende Immaterialgüterrecht unter Druck gesetzt, weil sie demonstrieren, dass dessen proprietäre Ausrichtung Innovationen mitunter abblockt statt sie zu fördern.8 Das neue, an offenen Lizenzen und Wissensallemenden orientierte Produktionsmodell reagiert auch in anderen Rechtsbereichen anders als herkömmliche Modelle, was zu bisher wenig diskutierten Problemen führt. Unser Beitrag zeigt erstens die Bedeutung des neuen Produktionsmodells am Beispiel von Wikipedia. Zweitens legen wir dar, dass derzeitige Rechtsentwicklungen die schon bestehenden Probleme für Wikipedia verschärfen, indem zusätzliche Möglichkeiten für Verbote und ihre Durchsetzung geschaffen werden. Neben den Immaterialgüterrechten gehören dazu bspw. auch Beschränkungen der Meinungs1 Michaël R. Laurenta / Tim J. Vickers, Seeking Health Information Online: Does Wikipedia Matter?, Journal of the American Medical Informatics Association 16 (2009), S. 471 ff. 2 TRG, Warum die „Hamburger Erklärung“ am Thema vorbeigeht, 09. 09. 2009, http:// www.thereachgroup.de/hamburger-erklaerung/. 3 ARD / ZDF-Onlinestudie 2009. 4 Jim Giles, Internet encyclopaedias go head to head, Nature 438 (2005), S. 900 f. 5 Manhattan Research, Taking the Pulse, 2009. 6 Am bekanntesten ist Giles, Internet encyclopaedias (Fn. 4). 7 Wolfgang Hoffmann-Riem, Soziale Innovation: Eine Herausforderung auch für die Rechtswissenschaft, Der Staat 47 (2008), S. 588 (602). 8 Vgl. Hoffmann-Riem, ebd., S. 603.
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äußerungsfreiheit. Das Ziel unseres Beitrags ist zu zeigen, dass eine Rechtsentwicklung, die sich alleine an herkömmlichen Produktionsmodellen orientiert, alternative Modelle und damit bedeutende Innovationsquellen gefährdet. Wir gehen dabei folgendermaßen vor. Im zweiten Abschnitt zeigen wir die Bedeutung von Wikipedia als Produktinnovation und neues Produktionsmodell auf: Wikipedia ist nicht nur eine neue Form einer Enzyklopädie, sondern zugleich ein Ort der öffentlichen Kommunikation. Wir erläutern dabei den Zusammenhang von Produktinnovation und neuem Produktionsmodell. Im dritten Abschnitt stellen wir die einzelnen Charakteristiken des neuen Produktionsmodells dar, nämlich Barrierefreiheit, Freiwilligkeit, Belegpflicht und eine besondere technische Infrastruktur zu Aggregation der Informationen. Im vierten Kapitel gehen wir auf einige rechtliche Herausforderungen für Wikipedia ein und erläutern, wie sich das Projekt den bisherigen Regulierungen angepasst hat – durch die Verwendung einer offenen Lizenz, die Beschränkung auf Inhalte, die keine Lizenzgebühren erfordern, und die Wahl des Standortes für die technische Infrastruktur. Das fünfte Kapitel diskutiert die aktuelle, bzw. absehbare Rechtsentwicklung und die Konsequenzen möglicher Regulierungsänderungen für Wikipedia.
II. Die Bedeutung von Wikipedia als Produktinnovation und neues Produktionsmodell Um die Wende zum neuen Jahrtausend wurden nicht weniger als drei ambitionierte Projekte lanciert, welche eine kostenlose Internet-Enzyklopädie versprachen. Das erste Projekt wurde begeistert aufgenommen: „ein verblüffendes Füllhorn von Informationen“ sei es, „eine unersetzliche Online-Quelle“, „ein bemerkenswertes Recherchewerkzeug“, das den Preis eines Computers alleine rechtfertige.9 Das Lob erstaunt nicht, denn es waren die Inhalte der Marktführerin im englischsprachigen Raum, der Encyclopædia Britannica, die 1999 kostenlos über das Internet angeboten wurden. Ein erfolgreicher Börsenhändler finanzierte ein zweites Projekt, das von Experten geschriebene und begutachtete Artikel sammelte; daraus sollte Nupedia entstehen – eine Enzyklopädie, welche für nicht mehr als die Druckkosten erhältlich sein sollte. Das dritte Projekt wurde von Richard Stallman, einem Schwergewicht der freien Software-Szene, initiiert: GNUpedia sollte die Erfolgsgeschichte freier Software (FOSS)10 auf Universalenzyklopädien übertragen. Keines dieser drei Projekte hat die Hoffnungen erfüllt: Nupedia und GNUpedia wurden bald eingestellt, der Zugriff auf die Britannica ist wieder kostenpflichtig. 9 Yahoo! Picks of the Ages (1-3-00), 03. 01. 2000. PC Magazine, The Top 100 Web Sites, 17. 11. 1999. 10 Freie Software, auch bekannt als Free and Open Source Software (FOSS) wurde schon in den 1990er Jahren bekannt für den erfolgreichen Einsatz verteilter, freiwilliger Arbeitskraft und die Entwicklung offener Lizenzen.
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Erfolgreich war stattdessen Wikipedia, eine kostenlose Enzyklopädie, die ursprünglich gar keine sein sollte.
1. Bedeutung als Informationsquelle Wikipedia stellt eine neue Form von Enzyklopädien dar und hat gleichzeitig alternative Methoden zur Produktion von Enzyklopädien entwickelt. Das Resultat braucht, wie erwähnt, den Vergleich mit traditionell hergestellten Enzyklopädien nicht zu scheuen. Besonders interessant ist, dass dieses neue Produktionsmodell nebenher zusätzlichen Nutzen generiert, welcher mit traditionellen Methoden kaum oder gar nicht erreichbar ist. Wikipedia beschränkt sich nicht auf die traditionelle Rolle von Enzyklopädien. Informationen, die traditionell der Fachliteratur vorbehalten bleiben, werden integriert. Eine neuere Studie vergleicht Wikipedia mit einem spezialisierten Referenzwerk zu Medikamenten.11 Die Autoren der Studie bemängeln zwar unvollständige Informationen in Wikipedia, etwa zu Kontraindikationen und Dosierungen, finden aber keine inhaltlichen Fehler und loben Aktualität sowie die steigende Qualität der Artikel über die Zeit. Wikipedia bleibt oft als verlässlichste, seriöseste Quelle übrig, wenn sich andere Anbieter zurückhalten oder zurückziehen, weil sie den Zorn von Lesern, den Verlust von Werbegeldern oder juristische Auseinandersetzungen fürchten. So lobt etwa ein wissenschaftlicher Beitrag über den geheimen Gründungsmythos der als prozessfreudig bekannten Scientology den Wikipedia-Artikel zum Xenu-Mythos als den wohl nüchternsten, aufschlussreichsten Text zum Thema.12 Bezüglich Aktualität setzt die Internetenzyklopädie neue Maßstäbe. Lih weist darauf hin, dass Wikipedia eine historische Wissenslücke füllt – nämlich den Mangel an Quellen in der Zeit zwischen der Publikation aktueller Nachrichten und ihrer Verarbeitung in Geschichtsbüchern.13 Wikipedia destilliert Meldungen verschiedener Quellen oft nahezu in Echtzeit. Ein Artikel in der New York Times attestierte Wikipedia 2007 eine wachsende Bedeutung als Quelle für aktuelle Nachrichten.14 Die Vermutung liegt nahe, dass die von Wikipedia angebotene Information auch wichtige, öffentliche Entscheidungen beeinflusst. 2007 mutmaßte die Washington Post anlässlich der Ausscheidungen für die amerikanischen Präsidentschaftswahlen, 11 Kevin A. Clauson / Hyla H. Polen / Maged N. Kamel Boulos / Joan H. Dzenowagis, Scope, Completeness, and Accuracy of Drug Information in Wikipedia, Annals of Pharmacotherapy 42 (2008), S. 1814 ff. 12 Mikael Rothstein, „His name was Xenu. He used renegades . . .“: Aspects of Scientology’s Founding Myth, in: Lewis, James R. (Hrsg.), Scientology, 2009, S. 365 (371). 13 Andrew Lih, Wikipedia as Participatory Journalism: Reliable Sources?, 5th International Symposium on Online Journalism (April 16 – 17, 2004), University of Texas at Austin. 14 Jonathan Dee, All the News That’s Fit to Print Out, New York Times, 01. 07. 2007.
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dass Wikipedia-Einträge entscheidend für das öffentliche Bild von Kandidaten sein könnten.15 2. Bedeutung als Ort öffentlicher Kommunikation Manche Autoren sehen in Wikipedia eine bemerkenswerte Annäherung an Habermas’ Vorstellungen von Öffentlichkeit16 und rationalem Diskurs.17 Wikipedia ist nämlich nicht nur eine ständig wachsende Anhäufung von Informationen. Sie ist auch ein Ort, wo öffentliche Kommunikation und Diskurs stattfindet. Vor allem bei kontroversen Themen wird um Eignung, Gewichtung und Formulierung von Informationen zäh gerungen; dies geschieht vorwiegend auf separaten Diskussionsseiten, welche aber genau wie die Artikel öffentlich einsehund editierbar sind. Ein wichtiges Grundprinzip schreibt einen neutralen Standpunkt als Ziel für alle Wikipedia-Artikel vor.18 Bei Kontroversen sollen alle Ansichten, die sich auf zuverlässige Publikationen stützen können, dargestellt werden. Tatum / LaFrance haben diesen Prozess für den englischen Wikipedia-Artikel „Neoliberalism“ untersucht.19 Ein Experte für digitale Medien sieht 2001 den größten Nutzen von Wikipedia darin, dass eine Community, geschaffen wurde, in der es gelungen sei, Bildung und Online-Diskurs auf einem hohen Niveau miteinander zu verknüpfen.20 Zwar kann man dies bezweifeln, dennoch lässt sich angesichts der gezeigten Bedeutung von Wikipedia festhalten, dass prominente Abhandlungen zu vielen wichtigen Themen in barrierefreien, öffentlichen Diskussionen entwickelt werden. Darüber hinaus werden in Wikipedia Diskussionen, die andernorts stattfinden, zusammengefasst und -geführt. Die Belegpflicht schreibt vor, dass Informationen aus nachweislich zuverlässigen Publikationen stammen müssen. Die Konzentration auf verifizierbare und zuverlässige Quellen und die Eingrenzung von Meinung und Spekulation wirken disziplinierend auf Inhalte und Diskussionen. Wikipedia veranlasst unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, sich miteinander auseinanderzusetzen und wirkt damit der Fragmentierung von öffentlichen Dis15 Jose AntonioVargas, On Wikipedia, Debating 2008 Hopefuls’ Every Facet, Washington Post, 17. 9. 2007. 16 Kathryn Tabb, Authority and Authorship in a 21st-Century Encyclopaedia and a „Very Mysterious Foundation“, eSharp (2008), S. 12. 17 Sean Hansen / Nicholas Berente / Kalle Lyytinen, Wikipedia, Critical Social Theory, and the Possibility of Rational Discourse, Information Society 25 (2009), S. 38 ff. 18 Das Prinzip ist vor allem unter seinem englischen Namen Neutral Point Of View (NPOV) bekannt. 19 Clifford Tatum / Michelle LaFrance, Wikipedia as distributed knowledge laboratory: the case of neoliberalism, in: Jankowski, Nicholas W. (Hrsg.), e-Research: Transformations in Scholarly Practice, 2009, S. 310 ff. 20 James J. O’Donnell, zitiert in Peter Meyers, Fact Driven? Collegial? This Site Want You, New York Times, 20. 09. 2001.
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kussionen und Kommunikationskanälen entgegen. Die Dominanz von Wikipedia im Internet ist ein starker Anreiz für Autorinnen und Autoren, sich dort zu engagieren, weil sie hoffen, ihre Argumente prominent darstellen zu können. Wikipedia als öffentliche Informationsquelle ist gut geeignet, breite Bevölkerungskreise zu erreichen, die ansonsten nicht zum Leserkreis von Fachliteratur gehören, und diese mit Wissen zu versorgen, das sonst nur Spezialisten zugänglich ist. So haben einige Wissenschaftler ihre Kollegen dazu aufgerufen, die WikipediaArtikel in ihren Fachgebieten zu verbessern;21 das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz fördert Beiträge in Wikipedia zu nachwachsenden Rohstoffen. Offene Lizenzen erlauben die kommerzielle Weiterverwendung genau so wie die Nutzung in Ausbildung und Forschung. Die Barrierefreiheit des Produktionsprozesses erleichtert Kooperationen mit sehr unterschiedlichen Partnern. Andere barrierefreie Projekte, die offene Inhalte produzieren, profitieren von Wikipedia und tragen dazu bei. Das OpenStreetMap-Projekt sammelt beispielsweise Geodaten nach dem gleichen Prinzip wie Wikipedia. Daraus entstehen unter anderem Landkarten und Stadtpläne, welche auch in der Enzyklopädie Verwendung finden. OpenStreetMap kann wiederum Informationen zu Sehenswürdigkeiten aus Wikipedia beziehen. Der Einsatz von Wikipedia in der Ausbildung an Schulen und Universitäten wurde von mehreren Autoren untersucht.22 Die Barrierefreiheit der Internetenzyklopädie ermöglicht gerade hier vielerlei Anwendungen, ohne dass dafür Genehmigungen eingeholt oder Gebühren entrichtet werden müssten. Erkundet wird unter anderem die Verwendung von Wikipedia als Werkzeug für die Forschung.23 Molekularbiologen, die in der Fachzeitschrift RNA Biology Artikel zu RNA-Familien publizieren wollen, müssen einen entsprechenden Wikipedia-Artikel schreiben oder aufdatieren, der ebenfalls begutachtet wird; die Editoren der Zeitschrift wollen damit erreichen, dass Wikipedia aktuell und zuverlässig über dieses Gebiet der Wissenschaft informiert.24 Teams von Wissenschaftlern arbeiten mit einigem 21 Kristine L. Callis / Lindsey R. Christ / Julian Resasco / David W. Armitage u. a., Improving Wikipedia: educational opportunity and professional responsibility, Trends in Ecology & Evolution 24 (2009), S. 177 ff. Joachim Grzega, How Onomasiologists Can Help with Contributing to Wikipedia, Omomasiology Online 7 (2006), S. 1 ff. Mark B. Moldwin / N. Gross / T. Miller, Wikipedia’s Role in Science Education and Outreach, Eos 88 (2007), S. 134 f.; Rod Ward, A request for help to improve the coverage of the NHS and UK healthcare issues on Wikipedia, Health Information on the Internet 53 (2006), S. 7 f. 22 John Aycock / Alan Aycock, Why I love / hate Wikipedia: Reflections upon (not quite) subjugated knowledges, Journal of the Scholarship of Teaching and Learning 8 (2008), S. 92 ff.; Callis u. a., Improving Wikipedia (Fn. 21). Piotr Konieczny, Wikis and Wikipedia as a Teaching Tool, International Journal of Instructional Technology & Distance Learning 4 (2007), S. 15 ff. Moldwin u. a., Wikipedia’s Role (Fn. 21). Elizabeth Ann Pollard, Raising the Stakes: Writing about Witchcraft on Wikipedia, History Teacher 42 (2008), S. 9 ff. 23 Vgl. Callis u. a., Improving Wikipedia (Fn. 21), S. 177.
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Erfolg daran, Wikipedia zu einer Forschungsdatenbank für menschliche Gene auszubauen.25 Firmen nutzen Wikipedia-Inhalte für ihre eigenen Angebote. Zu den bekanntesten Beispielen gehören Google Maps, Microsofts Suchmaschine Bing, die Bertelsmann-Tochter Wissen Media Group, Spiegel Wissen und die France TélécomTochter Orange. Auch die für das Projekt entwickelte Software Mediawiki wird vielerorts eingesetzt – unter anderem von Firmen, konkurrierenden Projekten und sogar den amerikanischen Geheimdiensten. Zusammenfassend halten wir fest, dass Wikipedia auf vielfältige Weise Nutzen erzeugt und darum viel mehr ist als eine kostenlose Enzyklopädie oder eine bedeutende Informationsquelle. Dies findet auch Anerkennung unter Fachleuten. Für Jonathan Grudin, einen der führenden Forscher im Gebiet computergestützter Zusammenarbeit, ist Wikipedia das interessanteste digitale Objekt seit dem World Wide Web selbst.26 Gregory Crane, Professor an der Tufts Universität und Leiter des Perseus Digital Library-Projekts, nennt Wikipedia das wichtigste intellektuelle Phänomen des frühen 21. Jahrhunderts.27
III. Charakteristiken des neuen Produktionsmodells Wikipedia In diesem Teil diskutieren wir ausgewählte Aspekte von Wikipedia, welche das verwendete Produktionsmodell näher charakterisieren. Die Freiwilligkeit hat das Projekt mit Free and Open Source Software (FOSS) gemeinsam. Die Barrieren für Mitarbeiter wurden weiter gesenkt – Barrierefreiheit wurde zum Designprinzip, aus der andere Besonderheiten folgten. Die Belegpflicht wurde eingeführt, um die für Enzyklopädien wichtige Glaubwürdigkeit zu erreichen. Nur mit einer technischen Hochleistungsinfrastruktur konnten die Vorteile der Barrierefreiheit für die Erstellung einer Enzyklopädie ausgeschöpft werden. Dass Freiwilligkeit und offene Lizenzen alleine nicht ausreichen, demonstrierte der direkte Vorläufer von Wikipedia. Die vom ehemaligen Börsenhändler Jimmy Wales finanzierte Nupedia bildete die traditionelle Herstellung von Enzyklopädien auf das Internet ab. Die Artikel sollten von Experten geschrieben und begutachtet werden. Die Resultate würden der Welt kostenlos zur Verfügung gestellt werden, 24 Paul P. Gardner / Alex G. Bateman, A home for RNA families at RNA Biology, RNA Biology 6 (2009), S. 2 ff. 25 Jon W. Huss III / Pierre Lindenbaum / Michael Martone / Donabel Roberts u. a., The Gene Wiki: community intelligence applied to human gene annotation, Nucleic Acids Research 38 (2009): D633 ff. 26 Zitiert von Joseph Reagle, Wikipedia: the happy accident, interactions 16 (2009), S. 42 ff. 27 Zitiert von Donna Shaw, Wikipedia in the Newsroom, American Journalism Review (Februar / März 2008), http:// www.ajr.org/Article.asp?id=4461.
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als Beiträge zu einer kostenlosen Ausbildung für die Welt. Eine offene, öffentliche Institution sollte entstehen.28 Das Interesse war groß, doch die Produktion verlief schleppend. Der Aufwand für das Schreiben eines kompletten Artikels war enorm und von jeweils einem Autoren zu erbringen. Eine Wiki-Software wurde im Januar 2001 als experimentelles Werkzeug des Nupedia-Projekts aufgeschaltet.29 Diese Software sollte die einfache Entwicklung von Inhalten erlauben, welche dann durch Experten in Nupedia eingepflegt werden könnten. Um das Ansehen von Nupedia nicht zu gefährden, musste das Werkzeug mit einem eigenen Namen antreten: Wikipedia. Nupedia und Wikipedia verwendeten beide von FOSS30 inspirierte, „offene“ Lizenzen, welche die kostenlose Nutzung und Weiterverwendung der Inhalte erlauben. Das unterscheidende Merkmal des Produktionsmodells Wikipedia war von Beginn weg die Barrierefreiheit. Das hatte weit reichende Konsequenzen für die Entwicklung des Projekts.
1. Barrierefreiheit Wikipedia verlangt von seinen freiwilligen Mitarbeitern keine wissenschaftlichen Qualifikationen. Darin ähnelt es FOSS-Projekten, welche auf Hürden wie formelle Qualifikationen weitgehend verzichten. Sowohl Nutzung als auch Mitarbeit sind bei Wikipedia im Vergleich zu FOSS-Projekten noch einmal deutlich niederschwelliger.31 Das Projekt stand allen offen und wurde zum Sammelbecken für alle, die Interesse an einer freien Enzyklopädie hatten. Das unterscheidet Wikipedia von den selbstorganisierten, aber geschlossenen Güter- und Produktionsgemeinschaften, die Ostrom32 studiert hat. In barrierefreien Communities muss das Vertrauen in Personen durch Regelsysteme unterstützt werden, welche Fehlverhalten im Wege der Selbstorganisation wirksam sanktionieren oder, wie im Fall von Wikipedia, wenigstens die Folgen korrigieren.33 Die entstehende Community freiwilliger Mitarbeiter ist zwar kein repräsentatives Abbild der Gesellschaft, aber von großer Diversität. Das Projekt entwickelte, getrieben von dieser wachsenden Community, früh eine unerwartete Eigendynamik. Im März 2001 startete eine deutschsprachige Wikipe28 Ankündigung „Open content encyclopedia calls for submissions“ von Larry Sanger, März 2000. 29 Reagle, Wikipedia (Fn. 26). 30 Free and Open Source Software. 31 Für die Mitarbeit bei FOSS-Projekten sind typischerweise Programmierkenntnisse erforderlich. Auch Installation und Erlernung von FOSS-Programmen sind deutlich aufwendiger als die Benutzung von Wikipedia. 32 Elinor Ostrom, Die Verfassung der Allmende, 1999. 33 Vgl. Bernhard Kuster / Margit Osterloh, Vertrauen in geographisch verteilten Gruppen, in: Margit Osterloh / Antoinette Weibel, Investition Vertrauen, 2006, Kapitel 7, S. 237. Margit Osterloh / Sandra Rota, Open source software development: Just another case of collective invention?, Research Policy 36, S. 157 ff.
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dia, bald gefolgt von Ausgaben in weiteren Sprachen. Im September widmete die New York Times dem Projekt einen Artikel, in dem sich Jimmy Wales wunderte, dass man einfach eine Website eröffnen und die Leute die Arbeit tun lassen könne.34 2002 wurde die Wiki-Software durch eine von Freiwilligen geschriebene Eigenentwicklung ersetzt. Der Vorschlag, Wikipedia durch Werbung zu finanzieren, war mitverantwortlich für den Auszug der meisten spanischsprachigen Editoren, die ihre Ausgabe unter einem neuen Namen, Enciclopedia Libre Universal en Espan˜ol, weiterführten. In der Folge versprach Wales, auf kommerzielle Anzeigen in Wikipedia zu verzichten. 2003 enthielt die englische Wikipedia 100,000 Artikel (die deutsche 10,000). Nupedia wurde eingestellt. Alle Aktiven der Projekte wurden an die neu gegründete Non-Profit-Organisation Wikimedia Foundation übertragen. Dank der Barrierefreiheit formte sich durch Selbstselektion eine Community, welche zur treibenden Kraft hinter Wikipedia wurde. Die Freiwilligen werden nicht von oben orchestriert, sondern entwickeln Wikipedia nach ihren Vorstellungen. Durch die Verwendung einer offenen Lizenz garantiert Wikipedia, dass die erstellten Inhalte nie proprietär werden und der Community dadurch entzogen werden können. Das verleiht den Wünschen der Community enormes Gewicht. Die Abspaltung der Enciclopedia Libre demonstrierte, was es bedeutet, wenn Unzufriedene jederzeit die produzierten Inhalte kopieren können, um ein Konkurrenzprojekt zu starten.
2. Freiwilligkeit Wikipedia setzt die Motivation seiner Autoren voraus, freiwillig und ohne monetäre Belohnung zum Projekt beizutragen. Bewusst gesetzte Anreize gibt es kaum. Auch dies kann als Beitrag zur Barrierefreiheit verstanden werden. Der Verzicht auf eigens geschaffene Anreize und die damit verbundene Bevorzugung bestimmter Formen von Motivation spiegelt sich in der Vielfalt von Gründen für die Mitarbeit wieder. Ähnlich wie bei FOSS finden Untersuchungen ein sehr heterogenes Feld: Altruismus und Spaß werden oft genannt, aber das Bild bleibt uneinheitlich.35 Das Engagement der Beitragenden zu Wikipedia wird nicht dadurch gemindert, dass sich nur eine kleine Minderheit an der Arbeit beteiligt, aber Hunderte von Millionen Wikipedia als „Trittbrettfahrer“ benutzen. Altruisten sehen den Nutzen ihrer Beiträge steigen, und Menschen, die einen Standpunkt oder ein Thema der Öffentlichkeit näher bringen wollen, werden durch ein wachsendes Publikum motiviert. Ein wichtiger Motivationsaspekt ist darüber hinaus, dass sich die Mitarbeiter ihre Arbeit selbst suchen. Sie können ihr Aufgabenfeld nach Belieben erweitern Meyers, Fact Driven? (Fn. 20). Yair Amichai-Hamburger / Naama Lamdan / Rinat Madiel / Tsahi Hayat, Personality Characteristics of Wikipedia Members, Cyberpsychology & Behavior 11 (2008), S. 679 ff. Stacey Kuznetsov, Motivations of contributors to Wikipedia, ACM SIGCAS Computers and Society 36 (2006), S. 2. Oded Nov, What motivates Wikipedians?, Communications of the ACM 50 (2007), S. 60 ff. 34 35
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oder sich auf einzelne Tätigkeiten spezialisieren, bspw. Artikel schreiben oder illustrieren, Urheberrechtsprobleme abklären, Tippfehler korrigieren, Quellen für unbelegte Aussagen suchen, Neulinge betreuen und vieles andere mehr. Standardisierte Aufgabenbereiche, Karrierepfade oder Pflichtaufgaben gibt es keine. Trotzdem scheitert das Projekt nicht daran, dass bestimmte, unpopuläre Tätigkeiten unerledigt blieben. Die Ähnlichkeiten zwischen FOSS-Projekten und Wikipedia sind augenfällig.36 In einigen Punkten steht Wikipedia jedoch vor Problemen, wie sie FOSS-Projekte so nicht kennen. Zu den wichtigsten zählen Glaubwürdigkeit und Infrastruktur.
3. Belegpflicht Eine Enzyklopädie ist – im Gegensatz zu Software – weitgehend ein Vertrauensgut.37 Die Benutzer können zwar die gebotene Darstellung bewerten und offensichtliche Fehler oder Inkonsistenzen erkennen, aber die Korrektheit der Inhalte kann in aller Regel nur beurteilen, wer die gesuchte Information schon hat. Nupedia übernahm die klassische Lösung für dieses Problem. Ausgewiesene Experten als Autoren und ein Begutachtungsprozess sollten das nötige Vertrauen in die Inhalte der Enzyklopädie schaffen. Im Gegensatz dazu hat das barrierefreie Wikipedia genau auf diese Lösung verzichtet. Die Belegpflicht wurde als Methode entwickelt, Vertrauen über einen alternativen Mechanismus zu schaffen. Ein Wikipedia-Artikel ist dann vertrauenswürdig, wenn die darin enthaltenen Informationen in vertrauenswürdigen Quellen publiziert wurden. Die meisten Leser werden sich darauf verlassen, dass die freiwilligen Mitarbeiter von Wikipedia dies sicher stellen. Um diese Arbeit zu vereinfachen, wurde die Literaturliste allmählich abgelöst durch den „Einzelnachweis“: Fußnoten, welche die Quellen für einzelne Passagen oder Informationen nachweisen. Damit dieser Mechanismus funktioniert, ist Wikipedia angewiesen auf Quellen, die zuverlässig sowie leicht und dauerhaft zugänglich sind. Qualitätszeitungen, welche ihre Texte kostenlos im Internet anbieten, eignen sich hervorragend für diese Methode der Glaubwürdigkeitsbeschaffung – ihre große Zahl ist ein Glücksfall für Wikipedia-Artikel zu tagesaktuellen Themen.
36 Vgl. Margit Osterloh / Roger Luethi, Commons without Tragedy: Das Beispiel Open Source Software, in: Eifert, Martin / Hoffmann-Riem, Wolfgang (Hrsg.), Geistiges Eigentum und Innovation, 2008, S. 145 ff. 37 Die Qualität von Vertrauensgütern kann auch nach Kauf, Konsum oder Benutzung nur unzureichend beurteilt werden. Darin unterscheiden sie sich von Erfahrungsgütern, zu denen Filme, Wein und Software gehören. Benutzer von Software erkennen schnell, ob ein Programm ihren Ansprüchen genügt (eine bedeutsame Ausnahme ist die Sicherheit von Software; diese kann von Anwendern kaum beurteilt werden und ist daher Vertrauenssache).
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4. Hochleistungsinfrastruktur Wikipedia braucht eine sehr leistungsfähige, technische Infrastruktur. Weil das barrierefreie Wiki die sofortige Integration kleiner Änderungen ermöglichen will, sind die Anforderungen deutlich höher als bei einem Publikationssystem, das erst fertige Artikel zur Begutachtung einsammelt. Alleine in der deutschsprachigen Wikipedia arbeiten derzeit mehr als 6000 Freiwillige an über einer Million Artikel. Täglich werden daran über 20,000 Änderungen vorgenommen und 400 neue Artikel geschrieben. Neben den Mitarbeitern greifen auch die Nutzer der Enzyklopädie auf die gleiche Infrastruktur zu. Die Wikimedia-Server liefern durchschnittlich 4000 Artikel pro Sekunde aus. Vergleichbare Anforderungen bedient kein anderes Community-Projekt – und nur eine Handvoll Firmen. Die technische Infrastruktur ist denn auch der größte Ausgabenposten der Wikimedia Foundation. Moderne Informationstechnologien haben es möglich gemacht, dass diese Kosten mit weniger als einem Cent pro Benutzer und Jahr in einem Bereich blieben, der durch freiwillige Spenden gedeckt werden kann.
IV. Die Einpassung von Wikipedia in bestehendes Recht In diesem Teil stellen wir drei rechtliche Herausforderungen dar, die sich Wikipedia stellten und stellen: eigene Urheberrechte, fremde Urheberrechte und Beschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit. Die erste Herausforderung bestimmte die gewählte Lizenzierung des neuen Werks, die zweite limitiert die möglichen Inhalte der Internetenzyklopädie und die dritte verknüpft Inhalte und Diskussionen eng mit dem physischen Standort der technischen Infrastruktur.
1. Eigene Urheberrechte Die für Wikipedia geschaffenen Inhalte fallen automatisch unter den Schutz des Urheberrechts. Dies ist die Konsequenz des geltenden Immaterialgüterrechts, welches auf exklusives, privates Eigentum setzt, welches im Widerspruch zum Produktionsmodell von Wikipedia steht. Um Interessenkonflikte zu vermeiden, verwendet die Wikipedia-Community offene Lizenzen, die das bestehende Urheberrecht nutzen, um Innovation durch frei verfügbare Güter zu fördern. Offene Lizenzen erlauben die freie Nutzung und Weiterverwendung eines Werks. Einige enthalten eine zusätzliche, als Copyleft or Share Alike bekannte Klausel, welche diese Erlaubnis davon abhängig macht, dass das Werk und alle abgeleiteten Weiterentwicklungen nur zu den gleichen Bedingungen weitergegeben werden dürfen. Diese offenen Lizenzen haben den großen Vorteil, dass sie zum einen Zielkonflikte zwischen der Vision von Wikipedia und der Beschaffung von monetären Mitteln und zum anderen Verteilungsprobleme mildern.
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a) Zielkonflikt: Vision vs. Mittelbeschaffung Das Ziel von Wikipedia ist der freie Zugang jedes Menschen zur Gesamtheit des Wissens.38 Die bisher übliche Verwendung von Urheberrechten zur Ausschließung nichtzahlender Nutzer steht im Widerspruch zu dieser Vision. Könnte jedoch eine Lizenzpolitik, welche für bestimmte Nutzungsarten zusätzliche Auflagen machte, Wikipedia unterstützen? Lizenzgebühren für die kommerzielle Nutzung oder Verwendung von Wikipedia-Inhalten in anderen Werken, etwa in Stadtführern oder elektronischen Büchern, würden der Vision kaum direkt schaden, könnten aber dem Projekt zusätzliche Mittel verschaffen. Dabei besteht allerdings die Gefahr, dass sich der Zweck der Mittelbeschaffung verselbständigt und die Entscheidungsregeln entsprechend beeinflusst. Auch Nonprofit-Organisationen mit ähnlichen Zielen wie Wikipedia neigen dazu, Einnahmen höher zu gewichten als ihre eigentlichen Aufgaben, die weniger gut messbar sind.39 Ein Projekt wie Wikipedia, das ein soziales Ziel verfolgt – nämlich den barrierefreien Zugang zu Wissen –, kann Urheberrechte am selbst geschaffenen Werk daher nur schwer nutzen, ohne eben dieses Ziel zu gefährden. b) Gefahr für Barrierefreiheit in Community-Projekten Ein mögliches Problem bilden eigene Immaterialgüterrechte nicht nur für Projekte, welche wie Wikipedia den barrierefreien Zugang zu Wissen verfolgen, sondern auch für Projekte, die kollektiv Gesamtwerke schaffen. Wird ein Werk durch mehrere gleichberechtigte Koautoren geschaffen, entsteht bei den Rechten ein Verteilungsproblem.40 Grundsätzlich könnten Rechte von den Wikipedia-Autoren vertraglich an die Wikimedia Foundation übertragen werden. Eine solche Bündelung der Rechte würde die wirtschaftliche Verwertung vereinfachen, doch genau dieses ökonomische Potential würde das Projekt neuen Gefahren aussetzen. Die Urheber-, bzw. Verwertungsrechte an den Wikipedia-Inhalten wären viel Geld wert und ein vollständiges Rechtebündel daher ein Anreiz für Versuche, die gesammelten Rechte unter private Kontrolle zu bringen. Entscheidungen 38 „Stell dir eine Welt vor, in der jeder einzelne Mensch freien Anteil an der Gesamtheit des Wissens hat. Das ist unser Ziel.“ Vision der Wikimedia Foundation, 01. 08. 2009, http:// meta.wikimedia.org/w/index.php?title=Vision/de&oldid=1582073. 39 Ein Beispiel ist die Zielverschiebung bei Technologietransferbüros an Universitäten, welche den Umsatz maximieren und nicht, wie ursprünglich beabsichtigt, die breite Anwendung neuer Technologien. Vgl. Jerry G. Thursby / Richard Jensen / Marie C. Thursby, Objectives, Characteristics and Outcomes of University Licensing: A Survey of Major U.S. Universities, Journal of Technology Transfer 26 (2001), S. 59 ff. 40 Das Urheberrecht ist für einzelne Autoren gedacht. Selbst innerhalb von Landesgrenzen besteht viel Interpretationsspielraum für Miturheberschaft. Die Regelung der Miturheberschaft in Deutschland schreibt für alle relevanten Entscheidungen Einstimmigkeit vor, verbietet aber gleichzeitig die Verweigerung einer Einwilligung gegen Treu und Glauben (§ 8 UrhG).
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über die Verwendung der Urheberrechte müssen also Akteuren vorbehalten bleiben, welche finanziellen Versuchungen zum Trotz im Sinne des Projekts entscheiden. In barrierefreien Communities, die aus ständig wechselnden Mitgliedern bestehen, gibt es aber keine solchen Instanzen, denen die gesammelten Rechte anvertraut werden könnten. c) Offene Lizenzen als Ausweg Offene Lizenzen, wie sie FOSS und Wikipedia verwenden, entschärfen die Problematik eigener Immaterialgüterrechte auf kollektiven Innovationen, weil sie das Potential für Interessenkonflikte reduzieren. Erstens wird die Autonomie der Community geschützt. Die ökonomischen Anreize für Versuche, sich wertvolle Immaterialgüterrechte anzueignen, werden weitgehend entfernt und damit sinkt die Chance, dass Entscheidungen der Community durch externe Institutionen umgestoßen werden. Zweitens müssen die bisherigen Autoren nicht fürchten, ihre Rechte durch oder an Neuankömmlinge zu verlieren, und können diese daher leichter in Entscheidungsprozesse einbeziehen. Wer nur am ökonomischen Wert der Urheberrechte interessiert ist, bleibt dem Projekt fern. Der Schaden, den die Community durch allfällige Fehlentscheidungen neuer Mitglieder erleiden kann, ist begrenzt. Umgekehrt können Neuankömmlinge zum Werk in der Gewissheit beitragen, dass sie nicht von mit besonderen Privilegien ausgestatteten Projektgründern ausgebootet werden. Drittens gewichten Entscheidungen stärker die Interessen derer, die das Projekt in Zukunft voranbringen wollen. Wird diese Regel missachtet, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass die unterlegenen Beitragenden vom Recht Gebrauch machen, das Werk zu kopieren und im eigenen Sinn weiterzuentwickeln. Das hat die Abspaltung der Enciclopedia Libre deutlich gezeigt.
2. Fremde Urheberrechte Die Wirksamkeit offener Lizenzen endet, wo ein kollektives Innovationsprojekt fremde Immaterialgüterrechte tangiert. Fremde Urheberrechte setzen den möglichen Inhalten von Wikipedia in einigen Bereichen enge Grenze, weil barrierefreie Community-Projekte mit einer besonderen Lizenzierungsproblematik konfrontiert sind: sie brauchen oft weiter gehende, teurere Rechte als andere Produktionsmodelle, verfügen aber über geringere Mittel. Daher ist Wikipedia im Gegensatz zu herkömmlichen Enzyklopädien auf lizenzfreie Quellen angewiesen. Dazu gehören einerseits gemeinfreie Werke, deren Urheberrechtsschutz erloschen ist, und andererseits mit Steuerngeldern finanzierte Werke, die der Öffentlichkeit zur freien Verfügung gestellt werden.
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a) Lizenzierungsproblematik für barrierefreie Community-Projekte Die Standardlösung, welche die Theorie des Immaterialgüterrechts bei fremden Rechten vorsieht, ist die Lizenznahme. Für die Weiterverwendung des geschützten Gutes in neuen Werken wird eine Erlaubnis eingeholt, der Rechteinhaber wird üblicherweise durch eine Gebühr entschädigt. Die Lizenzierung von Immaterialgüterrechten für die Nutzung in barrierefreier, kollektiver Innovation ist jedoch selten möglich. Eine Lizenz, welche die Barrierefreiheit nicht beeinträchtigt, sollte jedem freiwilligen Mitarbeiter den Zugriff gewähren und die offene Lizenzierung des entstehenden, kollektiven Werks nicht gefährden. Weil damit der verbleibende, ökonomische Wert der Rechte für den Lizenzgeber typischerweise stark fällt, sind solche Lizenzen in der Regel besonders teuer. Projekte wie Wikipedia verfügen selten über die nötigen finanziellen Mittel. Sie können Lizenzkosten weder auf die freiwilligen Mitarbeiter noch auf zahlende Kunden umlegen. Barrierefreie, kollektive Innovation findet daher fast ausschließlich in Projekten statt, die sich wie Wikipedia auf Inhalte beschränken, für die keine gebührenpflichtigen Lizenzen nötig sind. Derlei Probleme treten bei Wikipedia besonders deutlich auf, weil Enzyklopädien Informationen aus anderen Werken vermitteln. Zwar können Wikipedia-Artikel von wenigen Autoren geschrieben werden, die privilegierten Zugang zu bestimmten Quellen haben. Weil die Glaubwürdigkeit der Wikipedia-Eintragungen aber belegt werden muss, ist ein unbehinderter Zugang auf die Quellen wichtig, um den Inhalt zu überprüfen. Darüber hinaus lassen sich viele Quellen nicht durch Texte belegen, weil die wesentliche Information durch eine verbale Beschreibung kaum zu vermitteln ist. Während der Inhalt von Texten zusammengefasst und Teile wörtlich zitiert werden dürfen, ohne Urheberrechte zu verletzen, gilt dasselbe in der Regel nicht für Bilder, Musik und andere Werke.41 Davon betroffen sind beispielsweise Artikel über Kunst und Kultur. Bilder etwa von Picasso und Dalí sind auf dem Internet leicht zugänglich, aber es wird noch Jahrzehnte dauern, bis Wikipedia-Artikel über die Künstler oder berühmte Werke damit illustriert werden können. Die Quellen sind gerade durch ihre Einzigartigkeit von enzyklopädischem Interesse. Für die Problematik der fremden Urheberrechte gibt es bislang keine Lösung. Dies erhöht die Bedeutung gemeinfreier Werke, doch auch deren Nutzung ist mitunter mit Steinen gepflastert. b) Der beschwerliche Weg zur Nutzung gemeinfreier Werke Gemeinfreie Werke benötigen keine Lizenzen und werden daher in Wikipedia gerne und viel genutzt. So waren Quellen wie die elfte Edition der Encyclopædia 41 Zu den Unterschieden zwischen Text-, Bild- und Musikzitaten siehe Lawrence Lessig, Remix: Making Art and Commerce Thrive in the Hybrid Economy, 2008, S. 51 ff.
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Britannica von 1911 mitverantwortlich für das schnelle, frühe Wachstum von Wikipedia. Ihre Inhalte wurden übernommen, aktualisiert und ergänzt. Alte Photos und Gemälde dienen als Illustrationen in zahlreichen Artikeln. Jedoch erschweren aktuelle Regulierungen die Nutzung gemeinfreier Werke. Zumeist muss zunächst ein Urheber identifiziert und das Datum seines Todes festgestellt werden, um daraus auf die Schutzfrist zu schließen. Das hat der Gesetzgeber nicht bedacht. Der Urheber erhält sein Recht automatisch und ohne Formalitäten. Er ist nicht verpflichtet, sein Werk zu kennzeichnen oder seinen Anspruch zu registrieren. Das ihm zugesprochene Immaterialgüterrecht verfällt viele Jahrzehnte nach seinem Tod. Daher ist der rechtliche Status zahlreicher, mutmaßlich gemeinfreier Werke praktisch nicht feststellbar.42 Dies stellt eine enorme Erschwernis dar. c) Mit Steuergeldern finanzierte Werke Neben Werken, deren Urheberrechtsschutz abgelaufen ist, sind vom Staat finanzierte Werke eine zweite bedeutende Quelle von Informationen, die ohne Lizenzgebühren verwendet werden können. Viele Informationen, die vom Staat selbst geschaffen werden, sind für eine Enzyklopädie von Interesse. Die Rechte an solchen Informationen sind in den USA und Europa unterschiedlich geregelt. Vom Urheberrechtsschutz ausgeschlossen sind in Europa typischerweise Gesetze, amtliche Erlasse und dergleichen. Im amerikanischen Recht sind diese Ausnahmen viel umfangreicher: Es gibt dort keinen Copyright-Schutz für Werke, welche von Beamten oder Angestellten der amerikanischen Bundesregierung als Teil ihrer offiziellen Pflichten geschaffen werden.43 Das gilt zum Beispiel auch für einen Künstler, der den Kommandeur einer militärischen Expedition begleitet, um im Auftrag der Regierung Zeichnungen anzufertigen – so entschied ein Gericht bereits Mitte des 19. Jahrhunderts.44 Das hat weitreichende Konsequenzen: die amerikanische Regierung ist der größte einzelne Produzent, Sammler, Konsument und Verteiler von Informationen in den USA. Die Liste der Produzenten ist lang und vielfältig. Dazu gehören bspw. die Angehörigen der amerikanischen Streitkräfte, NASA, Wissenschaftler der National Institutes of Health (NIH) und National Science Foundation (NSF), die Bundespolizei, der Fotograf des Weißen Hauses, die US-Notenbank, die Angestellten in Nationalparks und namhafte Fotografen, die im Auftrag amerikanischer Behörden Land und Leute dokumentiert haben. Gemeinfrei sind neben Texten und Bildern auch andere Werke, z. B. Datenbanken. Wikipedia hat von diesen Quellen enorm profitiert. Das CIA World Factbook war beispielsweise ein brauchbarer Start für Artikel über die Länder der Welt. Am 42 Siehe Rainer Kuhlen, Erfolgreiches Scheitern – eine Götterdämmerung des Urheberrechts?, Schriften zur Informationswissenschaft, Bd. 48, 2008, Kapitel 6.3, S. 311 ff. 43 17 USC § 101 u. 105. 44 John O. Tresansky, Copyright in Government Employee Authored Works, Catholic University Law Review 30 (1981), S. 605 ff.
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nachhaltigsten war die Wirkung aber bei Bildern. Der amerikanische Staat hat als Quelle gemeinfreier Fotos eine adäquate Bebilderung vieler Artikel erst möglich gemacht etwa mit Satellitenbildern, Fotos von Politikern, die das Weiße Haus besuchten, von Showstars, welche vor amerikanischen Truppen auftraten, oder von Kriegsgerät und seiner Anwendung.
d) Fazit zur Problematik fremder Urheberrechte Fremde Urheberrechte stellen für Wikipedia nach wie vor deutliche Einschränkungen dar. Größe und Form der Nische, in der barrierefreie Projekte operieren können, werden im Wesentlichen von der Ausgestaltung des Immaterialgüterrechts und der Lizenzierung staatlich finanzierter Werke bestimmt, welche jeweils national unterschiedlich sind.
3. Beschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit Neben fremden Urheberrechten setzen Beschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit den Inhalten einer Enzyklopädie Grenzen. Die Inhalte von Wikipedia sind mit viel höherer Wahrscheinlichkeit von solchen Einschränkungen betroffen als herkömmliche Enzyklopädien. Wikipedia dokumentiert aktuelle Debatten, deren Ausgang noch offen steht und will statt einem enzyklopädischen Konsens die stärksten Argumente präsentieren, welche in Kontroversen eine Rolle spielen. Während frühere Enzyklopädien für Sprach- und Kulturkreise mit weitgehend einheitlicher Regulierung erstellt wurden, muss sich Wikipedia als globales Projekt bewusst für einen Standard entscheiden. Auch wenn man nur die Länder in Betracht zieht, in denen die englischsprachige Wikipedia-Ausgabe die meistgenutzte ist, sind die Unterschiede groß, denn dazu zählen neben westlichen Demokratien auch Länder wie Singapur, Saudi Arabien, Pakistan und Kenia. Selbst in einzelnen westlichen Demokratien werden öffentliche Äußerungen verfolgt und bestraft, die in anderen Ländern nicht verboten sind. Deutschland geht etwa mit dem Jugendschutz und Volksverhetzungsparagraphen deutlich weiter als seine Nachbarn. In Großbritannien wird das Verleumdungsrecht ausgesprochen restriktiv ausgelegt.45 In den USA gilt die Redefreiheit nicht für vage definierte „Obszönitäten“. Anders als bei herkömmlichen Enzyklopädien betreffen Einschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit jedoch nicht nur das Produkt, sondern greifen in den Produktionsprozess ein, weil dieser bei Wikipedia öffentlich einsehbar ist. Dies deshalb, weil Grundlage für die Integrationsleistungen von Wikipedia ungehinderte, unzensurierte Debatten zwischen Menschen aus verschiedenen Ländern sind. 45 Siehe bspw. Evan Harris, Science in court: Does English libel law threaten scientific debate in health care?, BMJ 338 (2009): b2254.
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Aus diesem Grund stehen die Datenbanken der Wikimedia Foundation in den USA, weil dort die Meinungsäußerungsfreiheit besonders stark verankert ist. Nach amerikanischer Rechtssprechung darf Wikipedia sogar Inhalte wiedergeben, die sonst vom Staat als obszön verboten werden könnten, weil es als Gesamtwerk einen politischen und wissenschaftlichen Wert hat. Weil die Server in den USA stehen, können die Behörden anderer Länder nicht in das Projekt eingreifen; als einzige Möglichkeit bleibt ihnen, den Internetverkehr mit Wikipedia zu filtern oder ganz zu unterbinden.
V. Neue Bedrohungen durch Regulierungsentwicklung Im vorangehenden Abschnitt IV. haben wir gezeigt, dass Wikipedia durch offene Lizenzen und einen geeigneten Standort für die technische Infrastruktur zwei von drei rechtlichen Herausforderungen erfolgreich gemeistert hat, nämlich die Urheberrechte der Wikipedia-Autoren und die in vielen Ländern geltenden Beschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit. Wir haben zudem erläutert, dass die dritte Herausforderung – fremde Urheberrechte – ein andauerndes Problem ist, und dass staatliche Regulierung Form und Umfang dieses Problems weitgehend festlegt. Diese Analyse des Ist-Zustands ergänzen wir im Folgenden mit einem Ausblick auf anstehende juristische und politische Entscheidungen, welche den Spielraum für Projekte wie Wikipedia entscheidend beeinflussen werden. Wir diskutieren drei relevante Aspekte aktueller Rechtsentwicklung: die Durchsetzung nationaler Gesetze im Internet, Immaterialgüterrechte und Haftungsfragen.
1. Durchsetzung nationaler Gesetze im Internet Die Wikipedia-Community operierte bisher mit rechtlichen Beschränkungen, die dem internationalen Konsens entsprechen.46 Das könnte sich aber bald ändern. Viele Staaten planen eine Infrastruktur, welche die Durchsetzung nationaler Gesetze im Internet zum Ziel hat. Wenn Staaten nationale Regulierungen ohne internationalen Konsens im Internet zuverlässig durchsetzen wollen, müssen sie das Internet zähmen. Autoritäre Regimes streben nach drastischen Beschränkungen von Presse-, Kommunikationsund Meinungsäußerungsfreiheit, für die sie in der Regel nicht auf die Rechtshilfe anderer Länder zählen können. Demokratische Staaten können – und sollten – sich 46 Für das Immaterialgüterrecht gibt es einen weitgehenden Konsens, der in den meisten Ländern (nicht zuletzt dank internationaler Abkommen) in ähnlicher Weise im Gesetz verankert ist. Zu Beschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit gibt es hingegen viele unterschiedliche, nationale Regelungen, aber keinen internationalen Konsens, der über das liberale, amerikanische Recht hinausginge, dem das Projekt in erster Linie unterworfen ist. Dieses Recht entspricht also recht gut einem internationalen Minimalkonsens.
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dagegen die Frage stellen, ob die Durchsetzung nationaler Eigenheiten, für die sich auch unter befreundeten Staaten kein Konsens findet, die hohen Kosten rechtfertigt, die dafür getragen werden müssen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Effektivität solcher einschränkender Instrumente beschränkt ist, weil illegale Aktivitäten auch in privaten Zirkeln in- und außerhalb des Internets gedeihen. Jedoch werden öffentliche, barrierefreie Plattformen wie Wikipedia, welche sich Gesetzen nicht durch den Rückzug in die Privatheit entziehen können, unverhältnismäßig stark getroffen. Für die öffentliche Diskussion auf Wikipedia-Diskussionsseiten kann schon die Furcht vor möglichen juristischen Folgen lähmend wirken. Was aus der Sicht einzelstaatlicher Gesetzgeber als ein Gewinn gelten mag, kann eine Fragmentierung globaler Projekte zur Folge haben, wenn Inhalte und Diskussionen sich zum Teil widersprechenden Gesetzen genügen müssen.47
2. Entwicklungen bei Immaterialgüterrechten Der Ausbau des Immaterialgüterrechts und die Stärkung der Rechteinhaber werden fortgesetzt und verschärfen für Wikipedia die Problematik fremder Immaterialgüterrechte. Verbesserungen sind am ehesten bei Werken möglich, die mit Steuermitteln finanziert wurden, aber auch da gibt es keinen klaren Trend zur Öffnung des Zugangs. Die Rechtsentwicklung geht großenteils von der Idee aus, dass der künftige Erfolg der Informationswirtschaft durch starke Immaterialgüterrechte erreicht wird, obwohl oder gerade weil die Durchsetzung von Urheberrechten in einer digitalen, globalisierten Welt schwieriger geworden ist.48 Es besteht sogar ein weitgehender Konsens unter den Regierungen führender Industrienationen, dass die Förderung und Erhaltung dieser rechtlichen Institutionen ein eigenständiges Ziel ist. Deren positive Auswirkungen auf Innovation und Wirtschaft werden unhinterfragt vorausgesetzt, ungeachtet allfälliger Kollateralschäden. In vielen Ländern ist beispielsweise die Umgehung von Kopierschutzsperren selbst illegal – oft auch dann schon, wenn die dadurch ermöglichte Nutzung eines Werks erlaubt wäre. Verleger fordern ein zusätzliches Leistungsschutzrecht, weil auch ein konsequent durchgesetztes 47 Bspw. ist es in einigen Ländern verboten, den Völkermord an den Armeniern zu bestreiten, während in der Türkei mit juristischen Folgen rechnen muss, wer den Völkermord an den Armeniern anerkennt. 48 Bspw. steht im aktuellen Koalitionsvertrag der deutschen Bundesregierung: „Das Urheberrecht hat in der modernen Medien- und Informationsgesellschaft eine Schlüsselfunktion. Wir werden das Urheberrecht deshalb entschlossen weiterentwickeln, mit dem Ziel ein hohes Schutzniveau und eine wirksame Durchsetzbarkeit des Urheberrechts zu gewährleisten. [ . . . ] Der Schutz durch das Urheberrecht ist eine notwendige Voraussetzung für die Schaffung und für die Verwertung kreativer Leistungen. Wir wollen deshalb Maßnahmen unterstützen, die das gesellschaftliche Verständnis für die Bedeutung des Urheberrechts und den Respekt vor fremdem geistigem Eigentum fördern.“ (Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, 17. Legislaturperiode, S. 103 f.).
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Urheberrecht nur bedingt als Grundlage für Geschäftsmodelle taugt, die aus der Zeit vor der Verbreitung des Internets stammen. Die deutsche Bundesregierung strebt daher „die Schaffung eines Leistungsschutzrechts für Presseverlage zur Verbesserung des Schutzes von Presseerzeugnissen im Internet an“.49 Diese Gesetzesinitiative zielt vor allem auf Google unter Hinweis darauf, dass die Firma von den Inhalten der Verleger profitiere, ohne sie dafür zu entschädigen. Der öffentlichen Debatte zum Thema ist nicht zu entnehmen, wie ein solches Gesetz eingeführt werden könnte, ohne gleichzeitig die Verwendung von Quellen in Wikipedia in Mitleidenschaft zu ziehen. Was den Umgang mit Werken betrifft, die mit Steuergeldern finanziert werden, scheinen sich Europa und die USA auseinanderzuentwickeln. Wie bereits erwähnt, gewährt das amerikanische Recht den Bundesbehörden und ihren Angestellten keine Urheberrechte. Dieser Ansatz wurde in jüngerer Zeit bekräftigt. Der „Freedom Of Information Act“ (FOIA, 1966 und spätere Amendments) und der „Paperwork Reduction Act“ (1995) enthalten Bestimmungen, welche sicher stellen sollen, dass staatliche Stellen Informationen der Öffentlichkeit auch in nützlicher Frist und Form überlassen bzw. aktiv zugänglich machen.50 Diese Strategie wird nach Weiss durch einen Konsens in der neueren Forschung gestützt. Er besagt, dass die günstige Abgabe und ungehinderte Verbreitung von staatlichen Informationen das Wirtschaftswachstum fördert und die Einbussen durch fehlende Lizenzeinnahmen weit überkompensiert.51 Das gilt umso mehr für die Nutzung der Daten in barrierefreien Community-Projekten. Trotzdem treibt Europa – im Gegensatz zu den USA – die Privatisierung öffentlicher Informationen voran. Wo das Urheberrecht nicht greift, wurden zusätzliche Immaterialgüterrechte geschaffen. Eine EU Direktive von 1996 schützt Datenbanken, die nicht urheberrechtsfähig sind, mit einem eigenen Recht. Der Staat ist der wichtigste Betreiber von Datenbanken, die davon profitieren. Er kann diese nun durch kostenpflichtige Lizenzierung kommerzialisieren. 52 Community-Projekte wie Wikipedia werden damit von der Nutzung von mit Steuermitteln finanzierten Werken praktisch ausgeschlossen. Wo es das Gesetz zulässt, machen einzelne europäische Institutionen Teile ihrer Datensammlungen der Öffentlichkeit zugänglich53 – ein klarer Trend ist aber nicht erkennbar. Koalitionsvertrag (Fn. 48). Robert Gellman, The Foundations of United States Government Information Dissemination Policy, in: Aichholzer, Georg / Burkert, Herbert (Hrsg.), Public Sector Information in the Digital Age: Between Markets, Public Management and Citizens’ Rights, 2004, Kapitel 7, S. 123 ff. 51 Peter Weiss, Borders in Cyberspace: Conflicting Public Sector Information Policies and their Economic Impacts, in: Aichholzer / Burkert, Digital Age (Fn. 50), S. 157. 52 Herbert Burkert, The Mechanics of Public Sector Information, in: Aichholzer / Burkert, Digital Age (Fn. 50), S. 16. 53 Dazu gehört etwa die Freigabe historischer Fotos unter offenen Lizenzen durch das deutsche Bundesarchiv (100.000 Bilder) und die Deutsche Fotothek (250.000 Bilder). 49 50
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Der Ausgang der laufenden Debatte über Open Access – also freien Zugang – zu wissenschaftlichen Publikationen ist für Wikipedia ebenfalls von enormer Bedeutung. Die wenigsten zitierbaren, wissenschaftlichen Quellen sind frei zugänglich. Im Internet frei zugängliche „graue“ Manuskripte und Pre-prints sind nur bedingt zuverlässige und dauerhaft zugängliche Quellen. Der Staat als wichtigster Geldgeber für wissenschaftliche Forschung entscheidet maßgeblich über den Erfolg der Open Access-Bewegung und damit auch darüber, ob der Zugang zu wissenschaftlichen Quellen für die meisten Wikipedia-Nutzer unerschwinglich bleibt. Dies erschwert ungemein die Erstellung und Überprüfung glaubwürdiger Artikel zu wissenschaftlichen Themen.
3. Haftung und Haftungsfreistellung Regulierungen zur Haftungsbeschränkung verhindern derzeit noch, dass Projekte wie Wikipedia durch Gerichtsprozesse aufgerieben werden. Die Freiwilligen, welche Beiträge liefern und mitentscheiden, haften nicht einzeln für das Verhalten anderer oder des Kollektivs. Das Projekt haftet nicht für das Verhalten seiner freiwilligen Mitarbeiter. Allfällige Klagen müssen sich direkt gegen die fehlbare Person richten.54 Diese Haftungsbeschränkung basiert auf Normen und Gesetzen, welche die Anbieter von Internetdienstleistungen von der Haftung für Handlungen ihrer Kunden freistellen sollen.55 Die Dienstleister sollen bspw. nicht die Rechtmäßigkeit der Webinhalte ihrer Kunden überprüfen müssen. Die Wikimedia Foundation hat bisher erfolgreich argumentiert, dass sie in gleicher Weise für die Inhalte von Wikipedia nicht verantwortlich sei. Sie profitiert dabei von einer nicht unumstrittenen Rechtssprechung, die der Gesetzgeber eigentlich nicht vorgesehen hatte.56 Ändern sich jedoch die betreffenden Gesetze, könnten Projekte wie Wikipedia von Nutznießern zu Geschädigten werden. Beispielsweise könnte die Rechtsentwicklung dazu führen, dass die Haftungsbeschränkung entfällt oder nur noch für Anbieter gilt, welche fehlbare Kunden (bzw. im Fall von Wikipedia: Autoren) identifizieren 54 Zur Situation in Deutschland: Ingo Strauß, Rechtliche Verantwortlichkeit für Wikipedia – Der Streit um Tron war erst der Anfang, ZUM 2006, S. 274 ff.. 55 47 USC § 230 (CDA), 17 USC § 512 (DMCA). Richtlinie 2000 / 31 / EG. 56 Vgl. Jonathan Band / Matthew Schruers, Safe Harbors Against the Liability Hurricane: the Communications Decency Act and the Digital Millennium Copyright Act, Cardozo Art & Entertainment Law Journal 20 (2002), S. 295 ff.; Brandon Brown, Fortifying the Safe Harbors: Reevaluating the DMCA in a Web 2.0 World, Berkeley Technology Law Journal 23 (2008), S. 437 ff.; Mark A. Lemley, Rationalizing Internet Safe Harbors, Journal on Telecommunications & High Technology Law 6 (2007), S. 101 ff.; Ken S. Myers, Wikimmunity: Fitting the Communications Decency Act to Wikipedia, Harvard Journal of Law and Technology 20 (2006), S. 163 ff.; Miquel Peguera, The DMCA Safe Harbors and Their European Counterparts: A Comparative Analysis of Some Common Problems, Columbia Journal of Law & the Arts 32 (2010), S. 481 ff.
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können.57 Die dafür nötigen Kontrollstrukturen wären teuer und würden bei den freiwilligen Mitarbeitern die Furcht vor unabsehbaren Folgekosten wecken. Selbstzensur wäre eine wahrscheinliche Folge. Offene Diskussionen und die neutrale Darstellung auch kontroverser Themen, wie sie Wikipedia anstrebt, würden dadurch erschwert. VI. Fazit Wir haben in unserem Beitrag am Beispiel Wikipedia gezeigt, wie ein neues Produktionsmodell in vielfältiger Weise bedeutenden Nutzen schafft, der mit herkömmlichen Modellen nicht erzielt werden kann. Dieser Nutzen könnte noch größer sein, wenn die Weiterverwendung gemeinfreier und staatlich finanzierter Werke erleichtert würde. Der besondere Nutzen der öffentlichen Kommunikation und Integration von Informationen und Standpunkten in Wikipedia ist hingegen gefährdet, wenn die in vielen Ländern geplante Durchsetzung nationaler Gesetze im Internet umgesetzt wird. Diese Gesetze sind großenteils an herkömmlichen Produktionsmodellen orientiert, welche davon ausgehen, dass das bisherige, an der proprietären Aneignung ausgerichtete Immaterialgüterrecht am innovationsförderlichsten sei. Diese Annahme hat sich als äußerst fragwürdig herausgestellt.58 Die von uns hier dargestellte Produktion in barrierefreien Communities reagiert besonders empfindlich auf die künstliche Verknappung von Rohstoffen und Werkzeugen durch Immaterialgüterrechte und die Regulierung des Mediums Internet. Während wir uns in diesem Beitrag auf das Beispiel Wikipedia konzentriert haben, gibt es viele andere Projekte mit ähnlichen Problemen. Das Projekt Gutenberg digitalisiert seit fast vierzig Jahren Bücher, deren Urheberrecht abgelaufen ist, um sie der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. FOSS-Projekte sind bspw. durch fremde Softwarepatente gefährdet. OpenStreetMap hat großes Interesse an Luftbildern, die vom Staat oder unter seiner Regie erstellt werden. Die von Journalisten und Bürgerrechtsgruppen hoch geschätzte Whistleblower-Website Wikileaks59 muss die konsequente Durchsetzung nationaler Gesetze im Internet fürchten. Ob Informationsweiterverwendungs- oder Zugangserschwerungsgesetz, ob Leistungsschutzrechte für Verleger oder Jugendmedienschutz – die Auswirkungen von 57 Douglas Lichtman / William Landes, Indirect Liability for Copyright Infringement: An Economic Perspective, Harvard Journal of Law & Technology 16 (2003), S. 395 ff.; Mark A. Lemley, Rationalizing Internet Safe Harbors, Journal on Telecommunications & High Technology Law 6 (2007), S. 101 (117). 58 In einem Übersichtsartikel zum Patentrecht schreiben Bessen / Meurer: „Intellectual property rights appear to have at best only a weak and indirect relationship to economic growth, this relationship appears to apply only to certain groups of countries or certain specifications, and the direction of causality is unclear.“. James Bessen / Michael J. Meurer, Do Patents Perform Like Property?, Academy of Management Perspectives 22 (2008), S. 8 ff. 59 Das Projekt erhielt 2008 im Rahmen der „Index on Censorship Freedom of Expression Awards“ den Economist New Media Award und wurde 2009 von Amnesty International ausgezeichnet.
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Roger Luethi und Margit Osterloh
Regulierungen auf alternative Produktionsmodelle sollten in der Rechtsentwicklung beachtet werden. Anderenfalls werden selbstorganisierte, barrierefreie Communities und das dort entwickelte neue Produktionsmodell aus rechtlichen – nicht ökonomischen – Gründen zum Auslaufmodell.
Wahlkampf als Onlinespiel? Die Piratenpartei als Innovationsträgerin im Bundestagswahlkampf 2009 Von Christoph Bieber I.
Das Jahr der Piratenpartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
II. Die Piratenpartei im Bundestagswahlkampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 III. „Spielen“ als Kommunikationsmodus der Kampagne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 1. Spiel, Game oder Play? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 2. Das „Gameplay“ der Piratenkampagne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 3. Die Kampagne als Pervasive Game? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 IV. Die Piratenkampagne als Innovationsimpuls? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
Seit 1998 fungieren Bundestagswahlkämpfe als Innovationsgenerator für die politische Nutzung des Internet (vgl. Bieber / Leggewie). Während seinerzeit „virtuelle Parteizentralen“ als Kampagnenplattformen entwickelt und erprobt worden waren, hatte sich 2002 bereits ein weitaus differenzierteres Feld aus Parteien-, Kandidaten- und Kampagnen-Websites formiert. Im vorgezogenen Bundestagswahlkampf 2005 reüssierten die damaligen Trend-Formate Weblog und Podcast – um gleich nach der Wahl wieder weitestgehend eingestampft zu werden. Von dieser nur temporären Nutzung internetbasierter Direktkommunikation mit der Bürgerschaft hat sich die „politische Blogosphäre“ in Deutschland nie so recht erholt – genauer gesagt hat sich eine solche Kommunikationsumgebung mittlerer Reichweite, die zwischen den etablierten Massenmedien und zersplitterten politischen Teilöfffentlichkeiten vermittelt, hierzulande gar nicht erst entwickeln können. Das Wahljahr 2009 begann unter den Vorzeichen des pulsierenden „Web 2.0“, das soziale Netzwerke wie Facebook, StudiVZ und Twitter in den Fokus von Medienöffentlichkeit, Parteien und Kandidaten gerückt hatte. Während einige Kampagnen-Manager den Angriff des Internet auf das Leitmedium Fernsehen zu erwarten schienen, entwickelte sich im Jahresverlauf jedoch ein weitgehend „konventioneller“ Online-Wahlkampf. Die politische Nutzung der im Vorfeld als wesentliche Innovationsträger markierten Plattformen wie Facebook oder Twitter stagnierte, in den letzten Kampagnenwochen mussten sich die Sozialen Netzwerke der Domi-
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Christoph Bieber
nanz des Fernsehens beugen – trotz eines in vielerlei Hinsicht gescheiteren „Kanzlerduells“ und einer breiten Unzufriedenheit auch mit diesem Segment des Medienwahlkampfs. Einzig die Distribution politischer Online-Videos sowie der „Und alle so yeaahh!“-Flashmob als medialer Running Gag sorgten in den letzten Wahlkampftagen für Akzente im digitalen Wahlkampfraum (vgl. Albers). Und dann gab es da noch die Piratenpartei. Die Gruppierung war erst im Umfeld der Europawahl vom 07. 06. 2009 und der Online-Petition gegen die Einführung von „Internet-Sperren“ im Rahmen des Zugangserschwerungsgesetzes einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Im Zuge eines bemerkenswerten Mitgliederzuwachses erhielt die Partei am 31. 07. 2009 die Zulassung zur Bundestagswahl und startete erst danach in den Wahlkampf. Auf den ersten Blick mutete der InternetWahlkampf der Piraten wie eine hoffnungslos überalterte Online-Kampagne an: Die Textlastigkeit der als Wiki organisierten Zentralseite stand in größtmöglichem Kontrast zu den multimedial aufgerüsteten Plattformen der etablierten Parteien. Dennoch muss der Online-Wahlkampf der Piratenpartei als die eigentliche Innovation des Superwahljahres 2009 gelten – in einem dezentralen, weitgehend hierarchiefreien Kommunikationsumfeld ist es gelungen, eine große Zahl von Unterstützern unmittelbar in die Planung, Umsetzung und Auswertung der Kampagne einzubinden. Der von den etablierten Parteien häufig ausgerufene, aber kaum realisierte „Mitmach-Wahlkampf“ hat unter der Piratenflagge durchaus stattgefunden. Die Orientierung auf nur scheinbar überholte Formate der Online-Kommunikation darf dabei jedoch nicht als zentrale Neuerung gelten – ein wesentlicher Grund für den Erfolg der Piratenkampagne sind deren „spielerische Elemente“. Eine detaillierte Betrachtung verschiedener Bereiche des Wahlkampfs kann zeigen, dass das Motiv des „Onlinespiels“ in mehrfacher Hinsicht einen überaus produktiven und motivierenden Rahmen für die Kampagne aufgespannt hat. Der nachfolgende Beitrag zeichnet in drei Abschnitten Innovationsfelder der Piraten-Kampagne nach. Dabei wird zunächst knapp die Entwicklung der Piratenpartei bis zur Zulassung zur Bundestagswahl skizziert (I), danach folgt eine zusammenfassende Darstellung der wesentlichen Online-Aktivitäten im Bundestagswahlkampf (II). Daran anschließend wird die Konzeptualisierung der Kampagne als „Spielumgebung“ im Internet präzisiert – dazu werden ausgewählte Beispiele für die „Spielmechanik“ der Kampagne vorgestellt, zugleich erfolgt hier ein knapper Vergleich mit der Online-Kampagne von Barack Obama (III). Der Schlussabschnitt der Untersuchung hinterfragt die Innovationsfähigkeit politischer Akteure in Wahlkampfzeiten und diskutiert die Bedeutung der Piratenpartei als Innovationsträger im aktuellen Kontext des Parteiensystems der BRD (IV).
I. Das Jahr der Piratenpartei Gegründet wurde die Piratenpartei Deutschland bereits im September 2006, ein wesentlicher Gründungsimpuls ging dabei von der schwedischen Piratpartiet aus,
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die sich zu Beginn desselben Jahres formiert hatte.1 Die erste Teilnahme an einer Wahl in Deutschland datiert auf den Januar 2008 zurück, damals waren die Piraten mit einer Liste bei den hessischen Landtagswahlen vertreten und erreichten 0,2 % Prozent der Wählerstimmen. 2 Einer breiteren Öffentlichkeit ist die Partei erst im Laufe des Jahres 2009 bekannt geworden – ein erstes Schlüsselereignis war dabei die Europawahl vom 07. 06. 2009. Hier erreichte die Piratenpartei in Deutschland einen Stimmenanteil von 0,9 % (229.464 Stimmen), was zumindest eine Wahrnehmung als „Kleinstpartei“ gewährleistete. Profitiert hat die Piratenpartei Deutschland aber auch von den Erfolgen der schwedischen Piratpartiet, die mit einem Stimmenanteil von 7,1 % der Stimmen dort zur fünftstärksten Kraft3 wurde und mit Christian Engström einen Abgeordneten ins Europaparlament entsenden konnte (vgl. Bieber 2009 [Politpiraten]). Doch auch außerhalb von Wahlen und Wahlkämpfen geriet die Piratenpartei in den Fokus der Öffentlichkeit. In internationaler Perspektive ist hier das Gerichtsverfahren um die in Schweden registrierte Internet-Tauschbörse „The Pirate Bay“ zu nennen (vgl. Quack / Dobusch). In Deutschland sorgte vor allem die sogenannte #zensursula-Kampagne4 sowie die im Mai gestartete E-Petition „Internet – Keine Indizierung und Sperrung von Internetseiten“ beim Deutschen Bundes1 Eine ausführliche Darstellung zur Geschichte der Piratenpartei in Schweden findet sich unter http:// web.piratenpartei.de/Geburtstag/Piratenpartei_Schweden, die Gründung des deutschen Ablegers ist ebenfalls dokumentiert siehe http:// www.piratenpartei.de/navigation/presse/ gründung. Eine Pressemitteilung informiert über die erste Landesliste der Piraten (http:// wiki. piratenpartei.de/2007-12-02_Pressemitteilung_zur_Wahlzulassung_des_Landesverbands_Hes sen). Generell halten die verschiedenen Online-Angebote im Umfeld der Piratenpartei umfangreiche Materialien zu Gründungs- und Entwicklungsprozess bereit. Dieses „Parteiarchiv“ ist offen zugänglich und wird (bislang) auf ehrenamtlicher Basis von Parteimitgliedern betrieben. 2 Während bei der Landtagswahl 2008 insgesamt 6.962 Stimmen auf die Piratenpartei entfielen, so waren es bei der „Neuauflage“ der Wahlen bereits 13.796 Stimmen oder 0,5% (vgl. http:// www.statistik-hessen.de/subweb/ltw2009/S12.htm). 3 Noch eindrucksvoller als das Abschneiden bei den Wahlen zum Europaparlament ist die Mitgliederentwicklung der Piratpartiet: bereits vor dem Prozess gegen die Betreiber der Tauschplattform The Pirate Bay hatte die Partei knapp 10.000 Mitglieder. Nach Bekanntwerden der Haftstrafen gegen vier Personen wegen „Beihilfe an schweren Urheberrechtsschutzverletzungen“ im April 2009 wuchs die Organisation explosiv und hatte Anfang Juni knapp 50.000 Mitglieder. Seitdem sind die Zahlen allerdings rückläufig, dennoch ist die Piratpartiet inwischen nach Mitgliedern die drittgrößte Parteiorganisation in Schweden. Darüber hinaus war die Jugendorganisation Ung Pirat mit zeitweise mehr als 20.000 Mitgliedern die stärkste Gruppierung dieser Art (vgl. zu Mitgliederentwicklung und -demografie http:// www2.piratpartiet.se / partiet / medlemsstatistik). 4 Der Begriff „ #zensursula“ ist ein sogenannter „Hashtag“, der das Suchen von bestimmten Inhalten auf der Kurznachrichten-Plattform Twitter erleichtern soll. Im Zuge der OnlineKampagne gegen die von der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen protegierten „Internet-Sperren“ hatte sich das Kürzel ursprünglich herausgebildet, um Twitter-Nachrichten zu markieren. Die griffige „Wortmarke“ hatte sich jedoch schnell zu einer Chiffre für die restriktive, kontrollorientierte Position der Bundesregierung in der Debatte um digitale Bürgerrechte entwickelt (vgl. dazu ausführlich Bieber 2010, Online-Kampagnen).
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tag5 für Aufmerksamkeit – zwar geschah die Einreichung der Petition weder durch ein Mitglied der Piratenpartei noch durch ein Parteigremium, doch durch die Nähe der Debatte um „Internet-Sperren“ zu den politischen Zielen und Forderungen der Piratenpartei fand eine informelle Kopplung an die Parteiorganisation statt. Ihren Höhepunkt erreichte die gegenseitige Verstärkung von E-Petition, #zensursula-Kampagne und den Aktivitäten der Piratenpartei in der Zeit vom 16. bis 20. 06. 2009. Zunächst endete am 16. Juni die Zeichnungsfrist für die E-Petition, die schließlich von 134.015 Personen befürwortet worden war. Am 18. 06. 2009 stimmte der Bundestag mit den Stimmen der Großen Koalition für das „Zugangserschwerungsgesetz“ (ZugErschwG), das die Errichtung der umstrittenen „Internet-Sperren“ beinhaltete. Am 20. 06. 2009 fanden schließlich in zahlreichen Städten Demonstrationen gegen den Gesetzentwurf unter der Überschrift „Löschen statt Sperren“ statt6, zugleich erklärte an diesem Tag der langjährige SPD-Abgeordnete Jörg Tauss seinen Parteiaustritt und den Wechsel zur Piratenpartei. Damit stellte die Partei bis zum Ende der Legislaturperiode kurzfristig einen Bundestagsabgeordneten. Anhand des Anstiegs der Mitgliederzahlen lässt sich präzise bestimmen, dass die Ereignisse im Umfeld der Abstimmung zum Zugangserschwerungsgesetz eine zentrale Rolle für die Organisationsentwicklung der Piratenpartei gespielt hat. Erst in Folge dieses Schlüsselereignisses ist die Piratenpartei deutschlandweit von einer zu Jahresbeginn weniger als 1.000 Mitglieder zählenden Organisation überdurchschnittlich schnell zur siebtgrößten Mitgliederpartei mit knapp 12.000 Mitgliedern am Jahresende gewachsen. Dabei steigt die Zuwachsrate nicht unmittelbar nach dem relativen „Erfolg“ bei den Europawahlen am 07. 06. 2009, der größte Mitgliederzufluss ist in der Woche nach der Bundestagsabstimmung, den Demonstrationen und dem Parteieintritt von Jörg Tauss zu verzeichnen.7 In der darauffolgenden Zeit konzentrierten sich die Aktivitäten der Piratenpartei auf die Einhaltung der formalen Vorgaben für die Zulassung zur Bundestagswahl. Relevante Wegmarke war dabei die Anerkennung als Partei durch den Bundeswahlleiter vom 17. Juli, die jedoch Unterstützungsunterschriften für die Wahlvorschläge auf Kreis- oder Landesebene benötigte. Die Entscheidungen darüber fielen am 31. 07. 2009 in den zuständigen Wahlausschüssen. Parallel zu diesem mehrstuftigen Zulassungsverfahren liefen in den Landesverbänden sowie auf Wahlkreisebene zwar bereits die Vorbereitungen für den Wahlkampf, doch erst mit der endgültigen Zulassung konnte die eigentliche Kampagne gestartet werden. 5 Die offizielle Dokumentation der Petition findet sich unter https:// epetitionen.bundestag. de/index.php?action=petition;sa=details;petition=3860. 6 Vgl. hierzu ausführlich die Organisations- und Dokumentationsseite zum Aktionstag unter http:// wiki.piratenpartei.de / Demo:_LoeschenStattSperren. 7 Ausführliche Informationen zur Mitgliederentwicklung finden sich im Piraten-Wiki auf der Seite http:// wiki.piratenpartei.de/Mitglieder, hier ist auch der Sprung Ende Juni von 2011 Mitgliedern am 22. 06. 2009 bis auf 2702 Mitglieder am 27. 06. 2009 nachzuvollziehen.
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Abbildung 1: Mitgliederentwicklung der Piratenpartei (Screenshot vom 11. 12. 2009) (Quelle: http:// wiki.piratenpartei.de/Datei:Mitgliederentwicklung.png)
II. Die Piratenpartei im Bundestagswahlkampf Bei der Organisation des Bundestagswahlkampfs orientierte sich die Piratenpartei Deutschland an einem bereits in Schweden erprobten „Phasenmodell“, das die Kampagne in einzelne Etappen zerlegt und damit klare Teilziele definiert hatte. Ähnlich wie beim Vorbild der Piratpartiet lässt sich unterscheiden in Unterschriftensammlung für die Wahlzulassung der Partei Kandidatenaufstellung und Organisationsaufbau in den Wahlkreisen Durchführung der eigentlichen Wahlkampagne Mobilisierung am Wahltag.
Eine ausführliche Untersuchung der konkreten Aktivitäten im Online-Wahlkampf müsste sich mit den verschiedenen „Disziplinen“ der vielschichtigen Kampagne befassen. Schlüssig wäre dabei eine Aufteilung in klassisches Web-Campaigning („Web 1.0“), die Betrachtung der Binnenorganisation im Piratenwiki, die Präsenz in den Sozialen Netzwerken wie Facebook und StudiVZ, die Nutzung von Twitter als Kampagneninstrument und den Umgang mit Online-Videos.8
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An dieser Stelle soll jedoch lediglich auf die Textorientierung des Piratenwahlkampfs als wesentliches Merkmal für eine Abgrenzung gegenüber anderen OnlineKampagnen eingegangen werden. Die zentralen Elemente der Piratenkampagne setzten nämlich – im Gegensatz zu den für den Wahlkampf multimedial hochgerüsteten Seiten cdu.de, spd.de, fdp.de, gruene.de und (mit Abstrichen) die-linke.de – nicht auf komplexe Portalstrukturen, sondern auf einfache, textorientierte Angebote mit einem umfangreichen Wiki (wiki.piratenpartei.de) im Mittelpunkt. Das Wiki9 übernahm vor allem die Funktion einer transparenten Plattform für die Binnen- und Organisationskommunikation der Partei, darüber hinaus werden auch nach der Wahl wesentliche Materialien dokumentiert und archiviert. Dieser besondere Umgang mit Informationen ist auch Gegenstand einer permanenten Diskussion um „innerparteiliche Transparenz“: Als politische Partei versuchen die PIRATEN auch bei ihrer Parteiarbeit möglichst transparent zu arbeiten, d. h. Entscheidungsprozesse möglichst umfassend zu dokumentieren (http:// wiki.piratenpartei.de/Innerparteiliche_Transparenz).
Das Wiki als dauerhafte Hauptstruktur der innerparteilichen Online-Kommunikation wurde während des Bundestagswahlkampfs durch diverse KampagnenPlattformen ergänzt. Unter der URL http:// klarmachen-zum-aendern.de formierte sich dabei das eigentliche „Wahlkampfportal“. Diese Themen-Website war als einfach strukturiertes Weblog organisiert und stellte im Vorfeld der Bundestagswahl mit hoher Publikationsfrequenz wahlbezogene Informationen bereit. Die weitere Ausdifferenzierung der Kampagnenangebote der Piratenpartei in populäre Soziale Netzwerke manifestierte sich im Rahmen der in die Website integrierten Info-Box „Piraten Überall“, die auf Portale wie Twitter, Facebook, MeinVZ, StudiVZ, Werkennt-wen, Lokalisten, YouTube, Flickr, Digg und andere verwies. Eine weitere Spezialseite im Wahlkampf wurde zur Durchführung eines Wettbewerbs für einen Fernseh-Spot der Piratenpartei eingerichtet. Unter http://piratenspot. de konnten Vorschläge eingereicht werden, in einem offenen Abstimmungsverfahren ermittelten die Besucher der Website eine Rangfolge der Beiträge. Die Wahlwerbespots mussten unter einer Creative-Commons-Lizenz eingereicht werden, die Mitgliedschaft in der Piratenpartei war keine Voraussetzung für eine Wettbewerbsteilnahme (vgl. ausführlich http:// piratenspot.de/die-ausschreibung/). Der durch die Online-Abstimmung ermittelte Gewinner „Piratenspot – freie Lizenzen und Überwachung“ von Christopher Grabinski (http:// piratenspot.de/2009/ 07/piratenspot-freie-lizenzen-uberwachung/) wurde schließlich am 03. 09. 2009 im ZDF ausgestrahlt. Auch über die Video-Plattform YouTube.com wurde der Spot 8 Eine detaillierte Untersuchung dieser Teilaspekte ist an dieser Stelle nicht möglich. Für eine ausführliche Konzeptualisierung des Online-Wahlkampfs zur Bundestagswahl vgl. Bieber 2010 (Online-Kampagnen), ein knapper Überblick zu neuen Formaten im Online-Wahlkampf bietet Albers 2009. 9 Für weiterführende Informationen zu Idee und Funktionsweise des Piraten-Wiki vgl. http:// wiki.piratenpartei.de/Piratenwiki.
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distribuiert, dort erzielte er eine respektable Reichweite10, ohne allerdings an die Spitzenwerte des zweiten Wahlkampf-Spots „Ich bin Pirat“ heranzureichen. Dieses eher klassische „Testimonial“ wurde bis zum 27. 09. 2009 knapp 400.000 mal aufgerufen und ist damit zum erfolgreichsten Online-Wahlwerbespot sämtlicher Parteien geworden.11 Eine wichtige Rolle für die Ausbreitung der Online-Kampagne spielte die starke Vernetzung der offiziellen Partei-Seiten mit den privaten Homepages der Mitglieder – sehr oft waren dies Weblogs, die ihrerseits für eine weitere Distribution der Pirateninhalte sorgten. Am deutlichsten sichtbar wurde diese Strategie beim „Piraten Planet“ (http:// planet.piratenpartei.de/), einer automatisch gebündelten Sammlung verschiedener „Piratenblogs“. Auch nach dem 27. 09. 2009 spielte die Darstellung wahlbezogener Informationen auf den Piraten-Websites eine große Rolle, insbesondere das Piraten-Wiki wurde zur Nachbereitung und Analyse der Wahlergebnisse genutzt. Auch folgten die Online-Nutzer dem Ansatz der „innerparteilichen Transparenz“: gute Resultate in den Wahlkreisen oder auch in einzelnen Wahllokalen wurde gelobt, schwächere Ergebnisse wurden offen kritisiert. Einerseits gerieten so die „Hochburgen“ in den Mittelpunkt innerparteilicher Debatten, andererseits begann nach dem Ende der Bundestagskampagne umgehend die Fehlersuche in Regionen mit Ergebnissen unter dem Bundesdurchschnitt von 2,0%. Dadurch rückte auch das Resultat in Nordrhein-Westfalen in den Vordergrund, denn obwohl der dortige Landesverband der zweitgrößte im Bundesvergleich ist, wurde dort mit 1,7% das schlechteste Abschneiden verzeichnet. Doch geht es den Piraten hier nicht um eine Bloßstellung der „Wahlverlierer“ in den eigenen Reihen, sondern um eine konstruktive Kritik – für das schlechte Abschneiden im Ländervergleich werden Erklärungsversuche angeboten und es folgen erste Strategien für die anstehenden Landtagswahlen im Mai 2010 (vgl. dazu auch Abschnitt III.2).
10 Bei Einreichung des Manuskripts (04. 03. 2010) ist der „Piratenspot – freie Lizenzen und Überwachung“ auf YouTube.com 72.272 mal abgerufen worden (vgl. http:// www.youtube. com/watch?v=AYM-_qfytfA). Für die Zahl der Aufrufe bis zum Wahltag exisitieren keine verlässlichen Daten, gemäß der von YouTube.com angeboteten Statistik sind jedoch deutlich mehr als 60.000 Zugriffe vor dem 27. 09. 2009 erfolgt. Damit zählt dieser Wahlwerbespot gemäß der Auswertung durch VideoCounter.com zu den 10 erfolgreichsten Online-Videos aus dem Bundestagswahlkampf (vgl. dazu ausführlich Bieber 2010, Online-Wahlkampf). 11 Die Datenbank VideoCounter.com hat während des Jahres 2009 mehr als 2000 politische Online-Videos erfasst und die Zugriffe ausgewertet. Laut dieser Statistik wurde der Spot „Ich bin Pirat“ (vgl. http:// www.youtube.com/watch?v=3Ixl68QAhGw) über verschiedene Videoplattformen bis zum 27. 09. insgesamt 395.540 mal aufgerufen. Zur Systematik der Auswertung von VideoCounter.com vgl. http:// www.videocounter.com/media/2009-12-04videoportale-technik-uebersicht-PR-PDF.pdf.
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Abbildung 2: Auswertung der Wahlergebnisse im Vergleich (Screenshot vom 14. 12. 2009) (Quelle: http:// wiki.piratenpartei.de / Bundestagswahl_2009#Wahlergebnisse)
III. „Spielen“ als Kommunikationsmodus der Kampagne Mit den formalen Elementen der Online-Kampagne ist es der Piratenpartei gelungen, die Kommunikationskanäle an die Nutzungsgewohnheiten der internetaffinen Unterstützer anzupassen. Der sichere, alltägliche Umgang mit den „klassischen“ Formaten des Web 2.0 wie Wikis, Weblogs und Sozialen Netzen spiegelte sich in der authentischen Gestalt des Online-Wahlkampfs – angesichts der fehlenden Planungs- und Vorbereitungszeit sowie geringen finanziellen Mitteln und dem Fehlen einer professionell geführten Partei- bzw. Kampagnenzentrale war eine andere Form der Wahlkampfführung als die des schließlich umgesetzten „dezentralen Mitmachwahlkampfs“ nicht realisierbar. Zusätzlich zur authentischen Positionierung der Piratenpartei in den diversen Online-Plattformen spielte jedoch auch der in vielen Fällen erkennbare „spielerische“ Kommunikationsmodus eine wichtige Rolle für das Gelingen der PiratenKampagne. An verschiedenen Stellen sind dabei Muster erkennbar, die ihre Wurzeln in der Nutzungskultur von Computer- bzw. Onlinespielen haben und die durchaus gezielt zur Verbesserung von Beteiligung und Engagement der Unterstützer eingesetzt worden sind. 1. Spiel, Game oder Play? Für eine Annäherung an die „Spielähnlichkeit“ oder „Spielhaftigkeit“ des Piratenwahlkampfs sind einige Anmerkungen zur (sozial)wissenschaftlichen Computer- bzw. Onlinespieleforschung notwendig. Hier handelt es sich zwar um ein rasch wachsendes Arbeitsgebiet im Umfeld von Medien-, Kommunikations- und Kulturwissenschaften, das bislang jedoch nur wenige im klassischen Sinne sozialoder gar politikwissenschaftliche Teiluntersuchungen hervor gebracht hat. Ausnahmen stellen die Beiträge in Bevc dar, hierbei liegt jedoch der Schwerpunkt eher auf
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der Betrachtung einzelner Computer- bzw. Bildschirmspiele und weniger auf über das Internet vermittelten Spielumgebungen. Hervorzuheben sind außerdem die Arbeiten von Kücklich (2007, 2009), der bereits explizit auf die Lerneffekte von Onlinespielen im Bezug auf politische Kompetenz verweist und Computerspiele als „Medium politischer Kommunikation“ kennzeichnet (Kücklich 2009, S. 3, 9 f.). Zentral für die Konzeptualisierung der Wahlkampagne als Spiel ist jedoch die Herstellung einer gemeinsam erfahrbaren Spielumgebung sowie die Anwesenheit von Regeln, die ein Spielhandeln ermöglichen. Dennoch ist festzuhalten, dass es sich bei der dezentral organisierten Wahlkampagne der Piratenpartei nicht um ein Spiel „im engeren Sinne“ gehandelt hat – in den englischsprachigen Game Studies12 würde dafür der Begriff des eher regelhaften game verwendet. Stattdessen scheinen im vorliegenden Fall die „weicheren“ Aspekte spielerischer Elemente zu dominieren, die im Englischen mit dem Begriff des play beschrieben werden. Die Zielsetzung der nachfolgenden Überlegungen ist es, mittels einer informierten Bestandsaufnahme zentraler Begriffe einen „Werkzeugkasten“ zur produktiven Beschreibung des „Kommunikationsmodus der Kampagne“ zu erhalten. Die Piraten-Kampagne lässt sich am ehesten als Sonderform eines strategisch angelegten Onlinespiels bezeichnen, das zeitlich in das Raster der einzelnen Wahlkampfphasen (vgl. Abschnitt 2) eingebettet war – als zentrales Ziel des Spiels kann die Maximierung der Wählerstimmen am Tag der Bundestagswahl gelten. Hieraus leitete sich eine Dramaturgie bzw. eine Storyline mit der Kennzeichnung verschiedener Teil- oder Etappenziele ab: Zulassung zur Wahl, Aufstellung von Kandidaten in den Wahlkreisen, Organisation und Umsetzung der Kampagne, Mobilisierung der Wähler am Wahltag waren an konkrete Termine gekoppelt und können als Teilelemente einer „Spielhandlung“ aufgefasst werden. Diese Struktur ließe sich auch als typisches „Quest“ bezeichnen, ein Grundmuster, das in vielen Rollenspielen oder Adventures Anwendung findet – dabei hat die Hauptfigur im Spielverlauf unterschiedliche Aufgaben zu erfüllen, um das Ende ihrer so genannten „Heldenreise“ zu erreichen. An dieser Stelle findet sich auch die aus klassischen Computerspielen gebräuchliche Dramaturgie der „Levels“ wieder – ist ein Spielabschnitt erfüllt, so erfolgt daraus die Qualifikation für die nächste (höhere) Schwierigkeitsstufe13. Eine Liste 12 Vgl. einführend Gamestudies.org, die wohl wichtigste Internetzeitschrift für die akademische Auseinandersetzung mit Computerspielen. Die von einem großen Board redigierten Texte stammen aus den unterschiedlichsten Fachbereichen und beschäftigen sich mit den ästhetischen, kulturellen und kommunikativen Aspekten von Computerspielen. Grundlegende Informationen und Materialien enthalten auch die – allerdings nicht mehr aktualisierten – Dossiers Computerspiele der Bundeszentrale für Politische Bildung (http:// www1.bpb.de/themen/ ST72BG,0,0,Computerspiele.html) und Deconstructing Games des Gießener Zentrum für Medien und Interaktivität (http:// www.zmi.uni-giessen.de/publikationen/publikationen-games. html). 13 Diese Dramaturgie funktioniert auch im negativen Fall: wird eine Aufgabe nicht fristgerecht gelöst, führt dies zur Beendigung des Spiels. Auch im Piratenwahlkampf finden sich
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der „aktiven Aufgaben“ fand sich im Wahlkampf regelmäßig auf der Einstiegsseite in das Piraten-Wiki – direkte Aufforderungen zur Beteiligung im Wahlkampf verwiesen auf aktuell laufende Vorbereitungen von Veranstaltungen, benötigte Materialien oder Personalbedarf (etwa bei Plakatierungsaktionen). Eine Beschreibung und Definition von Aufgaben unterhalb der groben Gliederung entlang formaler Termine im Vorbereitungsprozess zur Bundestagswahl erfolgte zudem mittels so genannter Roadmaps14. Der ursprünglich sequenzielle Level-Aufbau ist in modernen Computerspielen längst durch weit komplexere Strukturen abgelöst worden, die bisweilen kein klar definiertes Spielziel mehr aufweisen.15 Obwohl sich die „Spielhandlung“ der Piraten-Kampagne nur auf relativ wenige Teilaufgaben beschränkte, so ist die Komplexität des Spiels dennoch als sehr hoch zu beschreiben – gerade durch ein fehlendes Regelwerk und die gleichzeitigen Handlungen einer großen Zahl von Einzelspielern oder Teams sind viele unterschiedliche Lösungsansätze für einzelne Teilaufgaben entwickelt und umgesetzt worden. Das Internet war dabei weniger auf die Konstitution eines konkreten Handlungsraums zur Durchführung spielerischer Aktionen ausgelegt, sondern fungierte als Plattform zur Verbindung der „Spielteilnehmer, dient[e] also eher als Kanal, um spielrelevante Botschaften, Züge, Handlungen auszutauschen“ (Schmidt / Dreyer / Lampert, S. 10).16 Im Wahlkampfzusammenhang können solche „Botschaften, Züge, Handlungen“ unterschiedliche Gestalt annehmen: das kann die Beteiligung an einem Infotisch in der Fußgängerzone sein, das Aufhängen von Plakaten, das Erstellen oder Kommensolche „abgebrochenen Handlungsstränge“, etwa beim Scheitern einer Direktkandidatur aufgrund der nicht ausreichenden Zahl von Unterstützungsunterschriften. 14 Der entsprechende Arbeitsbereich existiert im Piratenwiki nur noch als „veraltete Seite“ unter http:// wiki.piratenpartei.de/Roadmap. Auf der Seite wird dennoch die Idee der Projektplanung und -abwicklung erkennbar: „Die Roadmap dient der Übersicht welche Projekte in Planung sind und welche Umsetzungszeiträume gesetzt wurden. Sie enthält die Ansprechpartner der einzelnen Projekte. ( . . . ) Zweck ist die Evaluierbarkeit von Projekten, Beschlüssen sowie die Herstellung einer Übersicht über laufende Aufgaben, welche Hilfe benötigen.“ 15 Typische Beispiele hierfür ist die Grand-Theft-Auto-Reihe (1997 – 2009), die keine linearen Handlungsverläufe mehr kennt oder der interaktive Thriller Heavy Rain (2010), bei dem vier verschiedene Charaktere gesteuert werden müssen. 16 Die Rolle des Internet als Kampagnenplattform ließe sich auch als „Passive Multiplayer Online Game“ (PMOG) beschreiben. PMOG gelten als „eine sehr junge Entwicklung, die die Grenzen von Onlinespielen insofern überschreiten, als sie die normale Internetnutzung mit Hilfe spezieller Anwendungen um Spielelemente erweitern. Dadurch wird das Internet selbst zu einer großen virtuellen Spielwelt erklärt.“ (Schmidt / Dreyer / Lampert, S. 18) Zwar fehlte eine explizite Programmerweiterung, die die „Leistungen“ eines Kampagnen-Unterstützers aufzeichnet, doch die verschiedenen Rankings und Wertungssysteme (vgl. Abschnitt III.2) übernahmen eine ähnliche Rolle, während der aus den verschiedenen Websites konstituierte Kampagnenraum als „virtuelles Spielfeld“ verstanden werden konnte. Vgl. dazu auch die Entwicklung der ursprünglichen „PMOG“-Anwendung unter http:// en.wikipedia.org/wiki/ The_Nethernet.
Wahlkampf als Onlinespiel?
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tieren eines Blogeintrags oder der Upload eines Films auf eine Videoplattform. Entscheidend für die Entstehung einer „Spielatmosphäre“ ist dabei, dass solche Aktivitäten für andere sichtbar oder zumindest bei Bedarf nachvollziehbar sind. Genau dies war durch die Vielzahl der miteinander verkoppelten Online-Plattformen der Piratenpartei gewährleistet, wesentliche Beiträge lieferten dazu das „Piraten-Wiki“ und der „Piraten Planet“. Darüber hinaus zeigten sich auch in der Selbstrepräsentation der Unterstützer Konventionen, die aus Spieleumgebungen bekannt sind. Bei der Beteiligung an Diskussionen im Wiki oder in Blogs verwendeten viele Teilnehmer Pseudonyme bzw. ihren auch auf anderen Plattformen bekannten Profilnamen. Am deutlichsten sichtbar war dies im „Benutzerverzeichnis“ des Piraten-Wiki (http:// wiki.piraten partei.de/Spezial:Benutzer).17 Ein positiver Effekt dieser szenetypischen Kodifizierung ist die Vorbereitung von Vergemeinschaftungsprozessen, die in Onlinespielen ohnehin häufig zu beobachten sind, denn ( . . . ) die Spielpraxis selbst [führt] zu sozialer Integration in Gruppen unterschiedlicher Größe: Durch die regelmäßige Kommunikation innerhalb der Spiele (auch über die reine Spielhandlung hinaus) entstehen Normen, Konventionen und Rituale, die wiederum die Bildung von Vertrauen fördern (Schmidt / Dreyer / Lampert, S. 56).
Auch in Abwesenheit einer konkreten, verregelten „Spielhandlung“ boten die Online-Plattformen der Piraten-Kampagne genügend Anlässe für kontinuierliche Kommunikationsprozesse, die auf das Ziel Bundestagswahl orientiert waren. Die soziale Bindungskraft dieser Gruppen reicht nicht selten über den internet-basierten Handlungsraum hinaus: Zu den wiederholten Interaktionen im Spiel können auch begleitende Aktivitäten außerhalb der Spielumgebung selbst treten, beispielsweise in einschlägigen Diskussionsforen oder auch auf Face-to-Face-Treffen, die die Gemeinschafts- oder ( . . . ) die Szenebildung verstärken (ebd.).
Dieses Prinzip der Gruppenbildung findet sich bei der Piratenpartei auch außerhalb der Kampagne wieder, denn die in Abgrenzung zu den parteiüblichen Ortsvereinen gewählte Bezeichnung der „Crew“ als lokale Ebene innerhalb der Parteistruktur verweist auf eben jenes Muster personeller Selbstorganisation in Onlinespielen (http:// wiki.piratenpartei.de/BE:Crewkonzept). In solchen „Ähnlichkeiten“ zwischen strategieorientiertem Onlinegame und dezentraler Online-Kampagne steckt der Ansatzpunkt für deren Interpretation als 17 An dieser Stelle setzt ein scheinbar paradoxer Prozess an: für Außenstehende wirkt dieses Verzeichnis der aktiven Beiträger zum Piraten-Wiki (nur wer registriert ist, kann sämtliche Beiträge der Website lesen und auch eigene Beiträge verfassen) eher exkludierend – hier diskutiert eine mit eigenen Codes kommunizierende und dadurch abgeschlossene Gruppe. Technisch gesehen stellte die Organisation der Benutzergruppen innerhalb des Piraten-Wiki jedoch ein quasi-öffentliches Forum dar, da ein anonymes Einstellen von Beiträgen bis auf Ausnahmefälle nicht möglich war (vgl. http:// wiki.piratenpartei.de/Benutzer).
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„Spielumgebung“. Während des Wahlkampfs wurden diese Aspekte von der Piratenpartei nicht aktiv gefördert und es wurden auch keine Schritte unternommen, um die „Spielerfahrung“ künstlich zu steigern – im Gegensatz dazu ist die Spielmetapher im Rahmen der Obama-Kampagne im US-Präsidentschaftswahlkampf offen kommuniziert worden (vgl. dazu Abschnitt III.3). Der Effekt innerhalb einer solchen auch formal als Spiel „deklarierten“ Kampagne wäre eine Steigerung der „Persistenz“ der Spielumgebung gewesen. Damit wird grundsätzlich das Andauern der Spielhandlung in Abwesenheit einzelner Spieler bezeichnet – im Falle einer Wahlkampagne ist diese „Haltbarkeit“ zwar gegeben, aber die individuelle Motivation zur Spielteilnahme lässt sich durch gezielte Maßnahmen steigern: Werden die erzielten Leistungen oder Punkte aufgezeichnet, um nachfolgenden Spielern einen Maßstab für ihr eigenes Ergebnis zu liefern, findet sich bereits eine einfache Form von Persistenz. Deutlicher und in den Konsequenzen weitreichender sind solche Spielwelten, in denen über Wochen, Monate oder Jahre hinweg die Handlungen der Spieler die Umwelt für andere Spieler beeinflussen (Schmidt / Dreyer / Lampert, S. 89).
Eine solche „Umweltbeeinflussung“ hat während und nach der Kampagne der Piratenpartei durchaus stattgefunden – hierfür mussten einzelne Spieler nicht einmal zwingend Wähler oder Parteimitglied werden. Die öffentliche Sichtbarkeit der Kampagne in den Wochen vor der Wahl fungierte dabei als zusätzlicher Antrieb und Verstärker für die Beteiligung am kollektiven Kampagnenhandeln. Je mehr Aktivitäten über die verschiedenen Online-Plattformen vermittelt und abgebildet werden konnten, desto häufiger berichteten auch die klassischen Massenmedien über die Piratenpartei.18 Im öffentlichen Wahlkampfhandeln entstanden neue Herausforderungen für die Kampagne. Neben der Maximierung von Wählerstimmen als Hauptaufgabe (als handlungstragendes „Quest“) entstanden in dieser Phase neue Teilaufgaben oder „Nebenquests“: etwa die ideologische Positionierung im Parteienspektrum, der Umgang mit problematischen oder ungeschickten öffentlichen Aussagen von Mitgliedern des Parteivorstands, die Ausarbeitung und Differenzierung des Wahlprogramms oder die Abgrenzung vom Image einer „hedonistischen Spaßpartei“. Nicht alle dieser Aufgaben können in kollektiven, dezentralen Strukturen bearbeitet werden, doch wirkte diese Interaktion der in die Kampagne eingebundenen Unterstützer mit der externen Medienöffentlichkeit durchaus entlang von Mechanismen der „Persistenzbildung“ bei Computerspielen: Damit zusammenhängend sind auch die Spielziele auf ihre Offenheit bzw. Geschlossenheit zu beurteilen: Gibt es bestimmte abgrenzbare Aufgaben, bei deren Erfüllung ein Nutzer das Spiel „geschafft“ oder „besiegt“ hat? Oder kennt die Spielwelt prinzipiell keinen Endpunkt, so dass die Spieler sich ggf. eigene Spielziele stecken müssen? Diese Fragen des Spieldesigns berühren erneut unmittelbar die Motivation, den notwendigen Zeitaufwand und die mögliche Bindung eines Spielers an das Angebot (Schmidt / Dreyer / Lampert, S. 89). 18 Nach einem ganz ähnlichen Muster funktionierten nur gut zwei Monate nach der Bundestagswahl auch die studentischen Protestkampagnen #unibrennt bzw. #unsereuni. Vgl. dazu einführend Bieber 2009 (Bolognaprozess).
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Die kontinuierliche Generierung von Aufmerksamkeit erhöhte demnach auf diesem Weg die „Spielenergie“, trug dazu bei, einzelne Teilziele zu erreichen und förderte die Motivation der Unterstützer, sich auch weiterhin am Wahlkampf der Piratenpartei zu beteiligen. 2. Das „Gameplay“ der Piratenkampagne Nach dieser grundsätzlichen Einordnung der Kampagne in den Kontext von Onlinespielen sollen nachfolgend einige weiter führende Beispiele für „spielähnliche“ Mechanismen vorgestellt und diskutiert werden. Gestützt werden soll damit die These, dass der Modus des „Spielens“ während der Kampagne an vielen Stellen präsent war und hier die häufig vermutete „Nähe“ der Piratenpartei zur Netzbzw. Computerkultur aufscheint.19 Da es sich bei der Piraten-Kampagne nicht um ein tatsächliches Spiel handelt, fehlt eine das Spielgeschehen strukturierende Einheit, die die Handlungsmöglichkeiten der Spieler gestaltet und limitiert.20 Dennoch waren auf den KampagnenWebsites Mechanismen zu finden, die eine Spielemechanik – das so genannte Gameplay – erkennen lassen. In erster Linie sind hier die zahlreichen Rankings und Tabellen zu erwähnen, die eingesetzt werden, um Fortschritte innerhalb einzelner Teilaufgaben darzustellen oder die Aktivitäten auf lokaler und regionaler Ebene miteinander in Bezug zu setzen. Ein typisches Ranking findet sich etwa auf der Kampagnenseite „klarmachen-zum-aendern.de“. Die Auflistung der Websites, die am häufigsten Besucher auf die Kampagnenseite geführt haben, bildet das so genannte „Unterstützernetzwerk“ ab. Die Tabelle registriert Punkte für einen „erfolgreichen“ Verweis von der eigenen Homepage auf die Kampagnenseite. Das Resultat ähnelt den klassischen „Highscore“-Listen, die üblicherweise am Ende von Computerspielen eingeblendet werden, um die Performance des individuellen Spielers in eine Relation zur allgemeinen Benutzung zu setzen. Einen ähnlichen Ansatz zeigt die „Activity Stream-Box“ als Instrument zur Messung der „Echtzeit-Motivation“ (eingeblendet in der rechten Säule der Website). Hierbei wurden keine kumulierten Werte angezeigt, sondern ein Ausschnitt aus der Verweistätigkeit im Augenblick der Nutzung. Kurze Einträge im Format 19 Diese Nähe vermutete z. B. Frank Schirrmacher in einem Essay für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Die Revolution der Piraten“ (vgl. Schirrmacher 2009). Insbesondere portraitierte Schirrmacher die in Deutschland weitgehend unbekannte Figur des „Nerds“ als kenntnisreich-obsessiver Nutzer „Bewohner“ des Internet. Wissenschaftliche Untersuchungen in deutscher Sprache liegen dazu noch kaum vor, vgl. hierzu einführend Kendall 1999 und Nugent 2008. 20 Üblicher Weise ist hierfür die so genannte Spiel- bzw. Game-Engine verantwortlich. Vgl. hierzu ausführlich den Wikipedia-Eintrag unter http:// de.wikipedia.org/wiki/Spiel-Engine.
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„(Benutzername) schickte einen Besucher zu klarmachen-zum-aendern.de“ informierten über die aktuelle Generierung von Zugriffen auf der Website.
Abbildung 3: Ranking mit Verweisen auf klarmachen-zum-aendern.de (Screenshot vom 17. 12. 2009) (Quelle: http: // klarmachen-zum-aendern.de/unterstuetzernetzwerk/)
Ebenfalls in einer „Highscore“-artigen Tabellenform wurden die Resultate des Wettbewerbs um den Wahlwerbespot auf der Website www.piratenspot.de dargestellt. Im Begleittext finden sich Kennzahlen und Erläuterungen für die Bewertungen, außerdem wurde die Größenordnung der abgegebenen Stimmen genannt („Insgesamt wurden im Piratenspot-Wettbewerb fast 50.000 Stimmen abgegeben!“), um die gute Resonanz der Ausschreibung zu dokumentieren. Nach der Wahl spielte die „konkurrenzorientierte“ Darstellung der Wahlergebnisse eine wichtige Rolle für Aufbereitung und Analyse des Wahlkampfs. Die zentrale Seite im Piraten-Wiki (http:// wiki.piratenpartei.de/Bundestagswahl_2009) bildete dafür zunächst eine Deutschlandkarte mit den Wahlkreisergebnissen ab. Die Farbeinteilung kennzeichnet „Hochburgen“, die im Falle der Piratenpartei jedoch bis auf wenige Ausnahmen deutlich unterhalb der 5%-Hürde positioniert waren.21 Differenzierter gestaltete sich die Darstellung der Wahlergebnisse im Vergleich zwischen den Landesverbänden. Im Stile von „Fortschrittsanzeigen“, die sowohl im Rahmen von Computerspielen (z. B. als Anzeige des „Gesundheitszustandes“ 21 Da die Piratenpartei in Sachsen nur zur Landtagswahl am 30. 08. 2009 angetreten war, ist das Bundesland hier grau dargestellt.
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der Spielfigur) wie auch bei der allgemeinen Computernutzung (z. B. während eines Ladevorgangs) Anwendung finden, wurde über das Abschneiden in den einzelnen Bundesländern informiert. Um eine bessere Vergleichbarkeit herzustellen, wurden die absoluten Werte stets in Relation zu Kennziffern wie der Zahl der Wahlberechtigten (Spalte 3) oder den Ergebnissen der vorangegangenen Europawahl (Spalte 8) gesetzt. Außerdem wurde mit den „Steigerungsfaktoren“ (Spalten 7, 9) mathematisch optimierte Vergleichswerte angeboten.
Abbildung 4: Visualisierung der Wahlergebnisse der Piratenpartei (Screenshot vom 17. 12. 2009) (Quelle: http:// wiki.piratenpartei.de/Bundestagswahl_2009#Wahlergebnisse)
Die große Bedeutung statistischer Auswertungen ist ein Dauerthema unter Computerspiel-Anhängern und innerhalb der Computer- / Netzkultur. Die besondere „Empfänglichkeit“ der „Nerds“ für Zahlen und Zahlenreihen ist Gegenstand der (US-amerikanischen) Literatur (vgl. Kendall, Nugent). Und auch die für die Entwicklung der Piratenpartei relevanteste statistische Größe – die Mitgliederzahlen – wurden mittels kontinuierlich aktualisierter Ländervergleiche dargestellt. Dabei werden nicht nur die absoluten Mitgliederzahlen (blau) abgebildet, sondern stets auch die Relation „Parteimitglieder je Million Einwohner“ (rot).
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Abbildung 5: Wahlergebnisse der Piratenpartei im Ländervergleich (Screenshot vom 17. 12. 2009) (Quelle: http:// wiki.piratenpartei.de/Bundestagswahl_2009#Wahlergebnisse)
Abbildung 6: Mitgliederzahlen der Landesverbände im Vergleich (Screenshot vom 4. 03. 2010) (Quelle: http:// wiki.piratenpartei.de/mitglieder)
Gerade die Zusatzangabe der „Mitgliederdurchdringung“ je Bundesland dient dabei als Ansporn für die kleineren Landesverbände, für die auf diese Weise ein gutes Abschneiden realistisch bleibt. Neben diesen häufigen und prominenten Vergleichsdarstellungen, die bisweilen eng an Vorbilder in Computerspielen anknüpfen, finden sich aber noch weitere Verweise auf diese Nutzungskultur. So gab es etwa in der Vorbereitung der Bundes-
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tagswahlkampagne mehrere so genannte „Mumblesitzungen“ zwischen Vertretern der Bundesverbände (wiki.piratenpartei.de / Mumblesitzungen). Hinter dem Begriff des mumbling („murmeln“) verbirgt sich das Programm „Mumble“ – ein Werkzeug für Voice-Chats, also stimmenbasierte Online-Kommunikation zwischen Personen, die sich an physisch getrennten Orten befinden22. Typischer Weise wird „Mumble“ dazu genutzt, um die Aktionen einzelner Teammitglieder innerhalb von Onlinespielen zu koordinieren bzw. um eine EchtzeitKommunikation während der Spielhandlungen herzustellen. Für die Koordination der Arbeit in den Landesverbänden ist nicht so sehr der Faktor der Gleichzeitigkeit relevant – doch allein die Möglichkeit, aufgrund ausreichender Kenntnisse ein derartiges Werkzeug unmittelbar in die parteiinterne Kommunikation einzubinden, grenzt die Piratenpartei deutlich von den etablierten Parteien ab. Zugleich wird hier Nähe und Verbundenheit zu typischen Kommunikationsformen und Verständigungsroutinen der Nutzer-Community von Onlinespielen deutlich.
3. Die Kampagne als Pervasive Game? Die Integration einer Spielmechanik in den Rahmen einer Online-Wahlkampagne ist indes nicht neu – ein im Vergleich zur Piratenpartei elaboriertes (aber immer noch stark entwicklungsfähiges) Gameplay zeigte die Präsidentschaftswahlkampagne von Barack Obama. Interessanter Weise blieb dieser Aspekt bei den zahlreichen Darstellungen des „Obama-Effektes“ für den Bundestagswahlkampf 2009 unbeachtet (vgl. Bieber 2010 [Online-Wahlkampf]). In einem kurzen Blogeintrag hatte Gene Koo für „Valuable Games“, ein Blog der Harvard Law School, eine Skizzierung von my.barackobama.com als Augmented Reality Game (ARG) vorgenommen: It featured minimal graphics, no sound effects, and deeply flawed gameplay. Yet one of the most important game titles of 2008 was played by thousands and helped change the face of American politics. I’m writing about My.BarackObama.com. ( . . . ) MyBO awarded Obama supporters with points for taking real-world actions that would likely help the candidate win the primaries and the general election: making phone calls to voters, hosting gatherings, and donating money. ( . . . ) MyBO was the first serious ARG deployed by a political campaign (Koo).
Auch im Online-Wahlkampf von Barack Obama gab es klar definierte Teilaufgaben, die Unterstützer zu erledigen hatten, um zum Gelingen der Kampagne beizutragen: Telefonieren, mit Nachbarn reden, Veranstaltungen vorbereiten, Geld spenden. Auch wenn das Setting des Spiels mangelhaft war („minimale Grafik, keine Toneffekte, und eine äußerst fehlerhafte Spielmechanik“), so ist der Gedanke erkennbar – eine möglichst große Gruppe von Menschen versucht sich an der Lösung verschiedener kampagnenbezogener „Quests“, um die zentrale Spielfigur 22
Für weiterführende Informationen vgl. http:// mumble.sourceforge.net/.
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„Barack Obama“ durch das Szenario zu leiten. Anders als beim größtenteils „informellen“ Piratenwahlkampf wurden die Aufgaben durch das Kampagnenteam von Barack Obama vorstrukturiert und kontrolliert. Als „Spielaufgaben“ wurden z. B. gezielt Listen mit den Kontaktinformationen noch unentschlossener Wähler verteilt, die in einem vorgegebenen Zeitraum mittels Telefonanrufen angesprochen werden sollten.
Abbildung 7: Typische Arbeitsaufgabe auf my.barackobama.com (Screenshot vom 17. 12. 2009) (Quelle: http:// blogs.law.harvard.edu/anderkoo/files/2008/11/mybo.jpg)
Dabei wurde eine präzise Rückmeldung zur „Vergleichbarkeit“ der Leistung gegeben („You are in 68th Place. Make 1 more contacts to move up. Stats updated every 24 hours.“), außerdem gab es immer wieder Hilfestellungen und ErklärVideos als integrierte Spielanleitung. Die individuelle „Beteiligungsleistung“ eines Unterstützers wurde im Nutzerprofil durch eine Art „Scorekarte“ zusammengefasst. Mit einer Bilanz aller bereits durchgeführten Handlungen wurde auf der Kampagnenplattform nicht nur präzise aufgezeichnet, für welche Aktivitäten wieviele Punkte erzielt wurden – zugleich fand eine Einordnung in die im Laufe des Wahlkampfs auf mehr als eine Million Mitglieder angestiegene „Nutzerfamilie“ im Sozialen Netzwerk my.barackobama. com statt. Die zentrale Kampagnenkontrolle soll an dieser Stelle vor allem als
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Motivationsmotor für eine Fortsetzung und Intensivierung der Unterstützer-Tätigkeit dienen. Obwohl Koo trotz solcher Feinheiten die technische Umsetzung der Spielmechanik deutlich kritisiert, hält er Obamas Kampagnen-Website für einen radikalen Entwicklungsschritt in der Gestaltung von Wahlkampfplattformen. Von zentraler Bedeutung ist für ihn dabei die Verbindung von Online-Kommunikationsvorgängen mit Handlungen im Offline-Raum: „ ( . . . ) what made MyBO revolutionary ( . . . ) is that it also asked participants to engage in non-digital, non-virtual activity“ (Koo). Strittig ist dabei sicher die Einordnung von MyBO.com in die Kategorie der „Augmented Reality Games“, wie auch Koo selbst anmerkt – insbesondere die durch technische Lösungen erzeugte Herstellung einer „mixed reality“ aus Onlineund Offline-Elementen fehlte sowohl bei Obama wie auch in der Piratenkampagne: Bei Pervasive Games handelt es sich um einen Spieletyp, der darauf angelegt ist, die Grenzen zwischen realer und virtueller Welt zu überwinden. Das Spiel wird über das Internet koordiniert, findet aber in der Realität statt: Während die Spieler sich im realen Raum bewegen, benutzen sie mobile Kommunikationsgeräte, um mit anderen Spielern zu kommunizieren, sich abzusprechen oder einander zu orten bzw. geortet zu werden (Schmidt / Dreyer / Lampert, S. 17).
Während Pervasive Games tatsächlich auf eine unmittelbare „Verschränkung“ von Online- und Offline-Spielumgebung ausgerichtet sind, und die simultane „Anwesenheit“ der Spieler auf dem Spielfeld notwendig ist, ließen sich die beiden Kampagnen immerhin als „asynchrone“ Spielhandlungen bezeichnen. Die Wahlkämpfer konnten zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihre „Spielhandlungen“ vornehmen, um das aus den verschiedenen Wahlkampf-Websites konstituierte „Spielfeld“ zu betreten und dort „Züge, Botschaften, Handlungen auszutauschen“ (Schmidt / Dreyer / Lampert, S. 10). Entscheidend ist an dieser Stelle, dass es in beiden Fällen gelungen ist, eine Persistenz der „Spielhandlung“ herzustellen (vgl. Abschnitt III.1): als offen sichtbares „Kampagnenspiel“ für registrierte Nutzer auf der Website my.barackobama.com oder als Sammlung lose miteinander verkoppelter Online-Plattformen im Rahmen der „informell-verspielten“ Piraten-Kampagne.
IV. Die Piratenkampagne als Innovationsimpuls? Bei einer Einordnung in einen ebenso vielfältigen wie gehaltvollen OnlineWahlkampf zur Bundestagswahl 2009 (vgl. für dessen Teilbereiche Albers und Bieber 2010 [Online-Wahlkampf]) ragt die originelle Kampagne der Piratenpartei heraus. Begünstigt wurde die innovative Herangehensweise durch eine besondere Ausgangssituation im Jahr 2009. In einer turbulenten Entwicklungsphase ist die Mitgliederzahl der Piratenpartei seit Mitte des Jahres explosiv gewachsen, während gleichzeitig die Herausforderung des Bundestagswahlkampfs bewältigt werden
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musste. Dies geschah in einem Zeitraum, in dem sich noch keine nennenswerten Parteistrukturen oder gar -eliten herausgebildet hatten. Daher fehlte ein zentrales Steuerungsinstrument für die Kampagne – ganz im Gegensatz zu den etablierten Parteien, für die eine Bundestagskampagne gute Möglichkeiten für eine interne Organisations- und Personalentwicklung bietet. Das Resultat waren in diesen Fällen durch die Parteizentralen koordinierte und mit begrenzten Beteiligungsmöglichkeiten versehene Kampagnen, deren Top-down-Struktur deutlich bemerkbar war. Zur weitgehend hierarchiefreien Struktur im Wahlkampf fügten sich die finanziell knapp bemessenen Ressourcen, die nur durch gelegentliche Spenden aufgebessert werden konnten.23 Allein dadurch war die Unterhaltung einer professionellen Kampagnenzentrale nicht möglich. Der besondere Kontext des Wahljahres (vgl. dazu auch Abschnitt 1) begünstigte einen genuinen „Mitmachwahlkampf“, der bei anderen Parteien bereits aus strukturellen Gründen nicht realisierbar gewesen ist. Die mit der „Spielähnlichkeit“ des Online-Wahlkampfs verbundenen neuen Ansätze der politischen Kampagnenarbeit haben sich als besonders geeignet für die Adressierung der von den Piraten umworbenen Unterstützer-Zielgruppe erwiesen. Das kompakte Parteiprogramm mit einem eng auf die Bedürfnisse von aktiven Online-Nutzern zugeschnittenen Profil und der tief in der Computerkultur verwurzelte „Kommunikationsmodus“ der Kampagne leisteten hierzu einen wichtigen Beitrag. Diese unterschwellige Etablierung einer „Spielmechanik“ in vielen Teilen der Kampagne führte eine zusätzliche Dimension in die Wahlkampfführung der Piratenpartei ein. Neben dem technisch-formalen Konzept „niederschwelliger“ und auf Beteiligung ausgelegter Online-Plattformen sowie einer dezentralen, nicht von einer „mächtigen“ Zentrale gesteuerten Kampagnenstruktur kann dies als Erfolgsrezept und Innovation des Wahlkampfs unter der Piratenflagge gelten. Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch auch, dass eine Ausweitung des Themen-Portfolios der Piratenpartei zwar eine grundsätzliche Öffnung für eine neue Klientel zur Folge haben kann, die thematisch „breitere“ Positionierung aber auch Schwierigkeiten für die homogene Parteibinnenkommunikation bedeutet. Ein derart in die Welt der Computer- und Onlinespielkultur eingebetteter Kommunikationsmodus dürfte dann kontroverser diskutiert werden und nicht mehr so problemlos umsetzbar sein wie im Wahljahr 2009. Vieles deutet darauf hin, dass die Dramaturgie des Wahljahres 2009, die parteiinterne Entwicklungsdynamik und die Konjunktur der Thematik „Digitale Bürgerrechte“ einmalige Rahmenbedingungen konstituiert haben – innerhalb dieses Möglichkeitsraums hat die Piratenpartei als 23 Lt. Auskunft des Bundesgeschäftsführers Bernd Schlömer wird die Wahlkampfkostenerstattung in 2010 „ein mittlerer fünfstelliger Betrag (ca. 30 – 50.000 Euro)“ sein – Grund dafür ist die Deckelung entlang der „nachweisbaren Einnahmesituation“ im zugrundeliegenden Geschäftsjahr 2008 (E-Mail an den Autor vom 28. 11. 2009). Ändern wird sich die finanzielle Situation erst ab dem Jahr 2011, wenn die Wahlergebnisse des Superwahljahres 2009 die Berechnungsgrundlage zur Wahlkampfkostenerstattung liefern.
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neuer Akteur im Parteienspektrum allerdings erstaunlich wenige Fehler gemacht und eine sich bietende Chance genutzt. Auch für die anderen Parteien ist der Online-Wahlkampf das Innovationssegment in aktuellen Medienwahlkampagnen – bisher allerdings noch im Schatten der „alten Medien“. Verantwortlich ist dafür die Konstellation der Mediendemokratie in der Bundesrepublik, die zudem eine Parteiendemokratie ist. Die Verflechtungen des „politisch-medialen Komplexes“ (Hans-Jürgen Bucher) sind vor allem auf Synergien zwischen Parteien und den Großstrukturen des Mediensystems wie Verlagsund Medienhäusern sowie den öffentlich-rechtlichen Medienanbietern ausgelegt. Insofern ist es überaus schlüssig, dass der vielleicht stärkste Impuls für eine Erneuerung politischer Kommunikation aus dem Umfeld eines Akteurs stammt, der (noch) nicht in die typischen Zwänge und Strukturen der modernen Mediendemokratie eingebunden ist. Perspektivisch schließt sich daran die Frage an, wie die Piratenpartei nach einer Konsolidierung ihrer noch losen Organisationsstruktur und der Ausbildung interner Hierarchien funktionieren wird. Gelingt es, die Innovationsbereitschaft beim Aufbau der Binnenstruktur und der Etablierung der Mitgliederkommunikation zu erhalten, könnten auf diese Weise Modernisierungsanreize auch für andere Mitgliederparteien gesetzt werden. Folgt auf den erfolgreichen Kampagnensommer der Piraten aber ein Aufreiben in innerparteilichen Programm- und Strukturkämpfen, das zu einer „Normalisierung“ der Partei als typische Mitgliederorganisation führt, dann dürfte ein allmählicher Bedeutungsverlust sowie eine Rekrutierung einzelner Personen durch das politische Establishment folgen. Wie dieser Rückblick zeigt, ist die innovative Nutzung von Kommunikationsressourcen und -strategien im Internet nicht das Problem – hierfür hat der Bundestagswahlkampf 2009 zahlreiche Beispiele geliefert, und dies nicht nur im Rahmen der Piratenkampagne. Vielmehr wird der Innovationsprozess bedroht durch eingefahrene Routinen der Partei-Bürokratie, die ein Aufbrechen bewährter Kommunikations- und Organisationsstrukturen bislang erfolgreich blockieren.
Literatur Albers, Hagen: Onlinewahlkampf 2009, Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. B51 / 2009, S. 33 – 38. Bevc, Tobias (Hrsg.): Computerspiele und Politik. Zur Konstruktion von Politik und Gesellschaft in Computerspielen, Studien zur visuellen Politik. Münster, 2007. Bieber, Christoph: Twitter, Facebook, Politpiraten. Der Einfluss des Internets auf die Politik geht weit über Wahlwerbung hinaus, Internationale Politik, Jg. 64, Juli / August 2009, S. 10 – 15. – Der andere Bolognaprozess. Die Internationalisierung der Hochschulproteste im Web 2.0, Telepolis, 7. 12. 2009, Online unter http:// www.heise.de/tp/r4/artikel/31/31669/1.html.
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– NoBailout und #Zensursula. Online-Kampagnen in der Referendumsdemokratie, in: Klaus Kamps / Heike Scholten / Guido Schommer / Ingo Seeligmüller (Hrsg.), Politische Kampagnen in der Referendumsdemokratie. Wiesbaden, im Erscheinen. – Der Online-Wahlkampf zur Bundestagswahl, in: Eva Schweitzer / Steffen Albrecht (Hrsg.), Die Rolle des Internet bei der Bundestagswahl 2009. Wiesbaden, im Erscheinen. Bieber, Christoph / Leggewie, Claus: Innovationsrhetorik, Innovationsresistenz, Innovationsdesiderate, in: Olga Drossou / Stefan Krempl (Hrsg.), Open Innovation – Auf der Suche nach neuen Leitbildern. Hannover, 2006, S. 134 – 146. Kendall, Lori: Nerd Nation. Images of nerds in US popular culture, International Journal of Cultural Studies, Vol. 2 (1999), No. 2, S. 260 – 283. Koo, Gene: MyBarackObama.com as Augmented Reality Game, in: Valuable Games, 16. 11. 2008, online unter http:// blogs.law.harvard.edu/games/2008/11/16/mybarackobamacom-asaugmented-reality-game/. Kücklich, Julian: Online-Rollenspiele als soziale Experimentierräume, in: Tobias Bevc (Hrsg.), Computerspiele und Politik. Zur Konstruktion von Politik und Gesellschaft in Computerspielen. Münster, 2007, S. 55 – 76. – Computerspiele, Medialität und Öffentlichkeit, in: Lothar Bisky / Konstanze Kriese / Jürgen Scheele (Hrsg.), Medien – Macht – Demokratie. Neue Perspektiven (Rosa-LuxemburgStiftung Texte, No. 54). Berlin, 2009, S. 411 – 425. Nugent, Benjamin: American Nerd. The Story of My People. New York, 2008. Quack, Sigrid / Dobusch, Leonhard: Pirate Parties: Transnational mobilization and German elections, in: governance across borders, 01. 10. 2009, online unter http://governancexborders. wordpress.com/2009/10/01/pirate-parties-transnational-mobilization-and-german-elections/. Schirrmacher, Frank: Die Revolution der Piraten, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 21. 09. 2009, online unter http:// www.faz.net/s/Rub475F682E3FC24868A8A5276D4FB916 D7/Doc~ECDFFB52576C1433783CB47AB44B8426FÃTpl~Ecommon~Scontent.html. Schmidt, Jan / Dreyer, Stephan / Lampert, Claudia: Spielen im Netz. Zur Systematisierung des Phänomens „Online-Games“. Hamburg (Arbeitspapiere des Hans-Bredow-Instituts Nr. 19), 2008.
Innovationsverantwortung im Netz Die rechtliche Konturierung angemessener Verhaltensstandards im Internet Von Martin Eifert * I.
Zentrale Felder der Innovationsverantwortung im WWW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 1. Verantwortung als Korrelat von Vermachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 2. Verantwortungsverteilung im technischen Vermittlungszusammenhang . . . . . . . . . 259 3. Verantwortung als angemessene Interessenbalancierung in neuen Sozialbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
II. Neue Dienste im Spannungsfeld überkommener Regulierungsregime – das Beispiel der Bewertungsplattformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 1. Die überkommenen Regulierungsregime: Allgemeines Zivilrecht, Medienrecht und Datenschutzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 2. Friktionen und Anpassungsbedarfe der Regulierungsregime in der Anwendung auf innovative Dienste 262 a) Differenzierte Beschränkung des Datenschutzrechts durch teleologische Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 b) Differenzierte Ausweitung des Medienrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 III. Die Herausbildung angemessener materieller Standards des Interessenausgleichs . . 268 1. Rechtliche Kriterienentwicklung ohne Rückgriffsmöglichkeit auf Konventionen 268 a) Entkopplung von überkommenen journalistischen Standards und Gefährdungspotential . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 b) Keine Herausbildung eigener Netzstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 2. Rechtliche Konturierung der Kommunikationsräume als Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grad der Anonymität der Teilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Begrenzungen der Reichweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Präformierung der Inhalte durch die Anbieter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Kontrollintensität (Prüfpflichten) der Host-Provider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Geforderter Grad technischer Absicherung als Variable auf zweiter Ebene . . .
270 271 272 273 274 275
3. Bewegliches Kriteriensystem als funktionsgerechter Entwicklungsrahmen? . . . . . 275 IV. Angemessene Institutionen der Verantwortungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 * Für konstruktive Diskussionen über die datenschutzrechtliche Erfassung von Bewertungsplattformen während und nach der Tagung danke ich Herrn Matthias Bäcker.
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Das Internet hat sich als eigentümlicher sozialer Raum etabliert. Spätestens mit den Phänomenen des sogenannten Web 2.0, insbesondere den sozialen Netzwerken der internet-community und dem Bedeutungsgewinn des „user-generated content“, bildet es ein eigenes, neues Medium der sozialen Entfaltung1, – eine technisch ermöglichte soziale Innovation.2 Entstanden ist diese Innovation vor allem in einem engen Wechselspiel des Freiheitsgebrauchs großer Unternehmen einerseits, die schnell die Marktchancen für die Entwicklung technischer Infrastrukturen und neuer Anwendungen nutzten und der einzelnen Nutzer andererseits, die diese Grundlagen für die eigenen Zwecke und zunehmend auch für neue Spielarten der Persönlichkeitsentfaltung nutzten.3 Das Recht hat diese Entwicklung kaum näher mitgestaltet, wird durch sie aber vielfältig herausgefordert. Der nachfolgende Beitrag untersucht die rechtliche Realisation der Innovationsverantwortung als der Frage nach der Konkretisierung und Realisierung normativer Orientierungen im Innovationsprozess4 im sogenannten Web 2.0. Es werden zunächst drei zentrale Auslöser für die staatliche Innovationsverantwortung schlaglichtartig beleuchtet (I.) und dann die Probleme der rechtlichen Erfassung der neuen Dienste an Hand von Bewertungsportalen und ChatForen als neuen Gefährdungen von Persönlichkeitsrechten näher untersucht. Dabei geht es um die Spannungen der neuen Dienste mit überkommenen Regulierungsregimen (II.) sowie um die Herausbildung rechtlicher Kriterien und Parameter für eine Operationalisierung des Ausgleichs der betroffenen Rechte (III.). Abschließend erfolgt eine kurze Betrachtung institutioneller Fragen (IV.). I. Zentrale Felder der Innovationsverantwortung im WWW 1. Verantwortung als Korrelat von Vermachtung Verantwortung ist moralisch5 wie rechtlich die Schwester der Macht. Machtstellungen werden rechtlich umhegt, um einen gemeinwohlverträglichen Gebrauch zu 1 Vgl. nur Miriam Meckel / Katarina Stanoevska-Slabeva (Hrsg.), Web 2.0, 2008; Christoph Bieber / Martin Eifert / Thomas Groß / Jörn Lamla (Hrsg.), Soziale Netze in der digitalen Welt. Das Internet zwischen egalitärer Teilhabe und ökonomischer Macht, 2009; Jan Schmidt, Das neue Netz, 2009. 2 Vgl. umfassend zum gesellschaftlichen Veränderungspotential Manuel Castells, The Rise of the Network Society, 2. Aufl. 2000, darunter auch S. 385 ff. zu den Folgen der interaktiven Gesellschaft; zu sozialen Innovationen allgemeiner nur Wolfgang Hoffmann-Riem, Soziale Innovationen. Eine Herausforderung auch für die Rechtswissenschaft, Der Staat 47 (2008), S. 588 ff. 3 Vgl. Schmidt, Netz (Fn. 1), S. 22 ff., 71 ff. 4 Vgl. zur Innovationsverantwortung näher Wolfgang Hoffmann-Riem, Innovationen durch Recht und im Recht, in: Schulte, Martin (Hrsg.), Technische Innovation und Recht, 1996, S. 9 ff., und die Beiträge in Martin Eifert / Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Innovationsverantwortung, 2009. 5 Siehe nur Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 1984, S. 231 ff.
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sichern und ausdrücklich eingeräumte Privilegien werden gesetzlich regelmäßig mit spezifischen Pflichten verknüpft, wobei Privilegien und Pflichten ihren gemeinsamen Bezugspunkt in überindividuellen Funktionalitäten des Machtgebrauchs haben.6 Dies gilt in besonderem Maße für die rechtliche Regulierung von Machtstellungen im gesellschaftlichen Kommunikationsprozess. Denn dieser ist auf nachhaltige Offenheit angewiesen, nicht zuletzt wegen seiner fundamentalen Bedeutung für die gesellschaftliche Innovationsfähigkeit. Die Internet-Welt ist auf Grund ihrer ökonomischen Grundvoraussetzungen durch eine Tendenz zur Monopolbildung geprägt. Größenvorteile, positive Netzwerkeffekte, lock-in-Konstellationen und hohe Wechselkosten sind aus je verschiedenen Perspektiven die Schlüsselbegriffe für diese Tendenz7, die durch die Erfolge u. a. von Microsoft, Google, amazon, eBay und facebook eindrucksvoll veranschaulicht wird.8 Solche Monopole folgen ökonomischen Imperativen und haben aus sich keinen Anreiz zur Verantwortungsübernahme. Es bedarf deshalb einer Regulierung, wobei deren gegenwärtig bestehende wie auch zukünftig erwünschte Reichweite noch umstritten ist. Den Kristallisationspunkt dieser Diskussion bildet vor allem der Suchmaschinenanbieter Google.9 Das geltende Wirtschaftsrecht kennt nur wenige spezielle Regelungen10 und insbesondere das ökonomisch bedeutsame Recht von Inhalteanbietern auf Aufnahme und diskriminierungsfreie Einordnung in die Ergebnislisten besteht nur nach Maßgabe des allgemeinen Wettbewerbsrechts (§§ 19, 20 GWB).11 6 Vgl. zusammenfassend etwa Martin Eifert / Wolfgang Hoffmann-Riem, Medienrecht als Technikrecht, in: Schulte, Martin / Schröder, Rainer (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2. Aufl. 2010, S. 710 ff. 7 Vgl. nur Carl Shapiro / Hal Varian, Information rules, 1999, S. 8 ff.; übersichtlich Michael Hutter, Ökonomische Eigenheiten des e-Commerce, AfP 2000, S. 30 ff. 8 Die Stabilität solcher Monopole ist unter den Bedingungen der Netzwerkökonomie theoretisch zwar nicht notwendig hoch, doch halten sich die hier entstandenen Monopole faktisch schon beachtliche Zeit. 9 Vgl. nur Wolfgang Schulz / Thorsten Held / Arne Laudien, Suchmaschinen als Gatekeeper in der öffentlichen Kommunikation, 2005; Jürgen Kühling / Nicolas Gauß, Suchmaschinen – eine Gefahr für den Informationszugang und die Informationsvielfalt?, ZUM 2007, S. 881 ff.; dies., Expansionslust von Google als Herausforderung für das Kartellrecht, MMR 2007, S. 751 ff. 10 Die Rechtsstreitigkeiten betrafen bislang vor allem die Bildersuche, bei der medienrechtlich die Frage der Verantwortlichkeit gem. §§ 7 bis 10 TMG bedeutsam ist (vgl. näher Stefan Engels / Uwe Jürgens / Saskia Fritzsche, Die Entwicklung des Telemedienrechts im Jahr 2006, K&R 2007, S. 57 [65 f.] m. N. aus der Rspr.). In der Gestaltung der Algorithmen etc. sind die Anbieter von Suchmaschinen etwa frei. 11 Vgl. näher Stephan Ott, Ich will hier rein! Suchmaschinen und das Kartellrecht, MMR 2006, S. 195 ff.; Thomas Hoeren, Suchmaschinen, Navigationssysteme und das Wettbewerbsrecht, MMR 1999, S. 649 ff.; ablehnend wegen der Annahme eines fehlenden sachlichen Marktes mangels Gegenseitigkeitsverhältnis Schulz / Held / Laudien, Gatekeeper (Fn. 9), S. 59 f.
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Aus der Perspektive der Verantwortungskultur steht aber vor allem die soziale Macht im Vordergrund. Sie bildet eine zentrale Größe bei den Community-Plattformen. Dominant sind in diesem Bereich wenige große Netzwerke (facebook, StudiVZ und allenfalls 2 bis 3 andere) mit jeweils erheblicher ökonomischer Marktmacht. Deren ökonomische Macht transformiert sich in eine sozialen Macht, da durch eine strukturelle Asymmetrie zwischen Anbietern und Nutzern ein machtbegrenzender Wettbewerb in diesem Oligopol nur sehr eingeschränkt besteht. Die lock-in Effekte als Ergebnis positiver Netzwerkexternalitäten, die dadurch entstehen, dass die Nutzer im Wechselfall notwendig ihre etablierte soziale (Netz-)Einbettung verlieren würden, bilden dabei den zentralen Faktor.12 Angesichts der enormen Erschwerung der Wechselmöglichkeit bleibt als Reaktionsmöglichkeit der Nutzer auf einseitige Maßnahmen der Betreiber nur der Widerspruch, der eine relevante Wirkung aber erst bei einer Skandalisierungsmöglichkeit und der damit verbundenen Schädigung des Images haben dürfte.13 Diese strukturelle Asymmetrie beeinträchtigt einen funktionierenden Wettbewerb genauso wie die Autonomie der Nutzer und kann verbraucherschützende staatliche Regelungen legitimieren. Angesichts der wachsenden Bedeutung der sozialen Netzwerke für das gesellschaftliche Leben kann die Schutzdimension der Nutzergrundrechte die grundsätzliche Legitimierung auch zu einer Handlungspflicht verdichten. Möglich und rechtspolitisch sinnvoll erscheinen hier zunächst Regelungen zur Portabilität sozialer Beziehungen, die den lock-in-Effekt mindern. Mangels einer hinreichenden technischen Kompatibilität der Plattformen wären hier allerdings wohl keine vollen, übergreifenden Verknüpfungen möglich, Basisverweise aber durchaus möglich. Daneben sollten entsprechend anderen Bereichen typischer, grundlegender Asymmetrien der Vertragsparteien unmittelbar verbraucherschützende Regelungen treten.14 Dazu gehören Verpflichtungen zu Wahlmöglichkeiten bei Grundeinstellungen wie der Sichtbarkeit und der Möglichkeit zur Suchmaschinenerfassung, Anforderungen an eine folgenorientierte und damit bewusste Optionenwahl, die zugleich eine nutzungsnahe Förderung der Medienkompetenz mit sich brächte wie etwa Hinweise darauf, wie viele Menschen bei der gewählten Einstellung welche Informationen lesen können: (z. B. „gegenwärtig können x Personen lesen, dass Du vor allem Horrorfilme magst“) und automatische Löschzeitpunkte15 mit nur lösch12 Zum Fehlen der Möglichkeit zum Export von Identitäts- und Netzwerkdaten und den Konsequenzen auch Schmidt, Netz (Fn. 1), S. 153. 13 Vorsichtig optimistischer und mit Beispielen von Anbieterresponsivität bei Massenprotesten bei StudiVZ und facebook bei Schmidt, Netz (Fn. 1), S. 116, 154. 14 Vgl. auch Alexander Roßnagel, Persönlichkeitsentfaltung zwischen Eigenverantwortung, gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Regulierung, in: Bieber / Eifert / Groß / Lamla, Soziale Netze (Fn. 1), S. 277 ff. 15 Vgl. nur Edgar Wagner, Schutz der Privatheit – Informationsgesellschaft ohne Tabu?, DuD 2008, S. 736 ff.
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zeitnaher und damit typischerweise bewusster wahrgenommener Verlängerungsoption. Da alle digitalen Netzwerke auf der Suche danach sind, ihr zunächst soziales Kapital ökonomisch nutzbar zu machen und hierfür vor allem auf den sozialen Beziehungen aufbauende Werbeformen in Betracht kommen, dürften solche Werbeformen in Zukunft als weiteres Regelungsfeld hinzutreten. Das Recht muss in allen diesen Feldern über funktionale Anforderungen die Technikgestaltung ansprechen und deren Entwicklungspfade mitgestalten16, um der staatlichen Innovationsverantwortung gerecht werden zu können. Das Datenschutzrecht 17 zeigt, dass rechtlich induzierte Technikbeeinflussung (auch) erfolgreich sein kann. Solche Regelungsansätze begegnen zwar selbstverständlich den üblichen Begrenztheiten nationaler Regulierungsansätze auf das globale Internet, dürften aber gerade für die oligopolistischen Anbieter wegen der Image-Sensibilität auch nicht irrelevant sein. 2. Verantwortungsverteilung im technischen Vermittlungszusammenhang Das Internet bildet auch einen neuen technischen Vermittlungszusammenhang. Die hierauf bezogene Verantwortungsverteilung wurde rechtlich bereits frühzeitig in den Blick genommen, hat sich aber nur begrenzt stabilisiert. Dies wird detailliert von Spindler in diesem Band nachgezeichnet. An dieser Stelle soll nur darauf hingewiesen werden, dass die keineswegs einhellig begrüßte Differenzierung der Rechtsprechung in die repressive Haftung mit den Privilegierungen des TMG und die nicht hierunter gefasste präventive Störerhaftung mit Blick auf Innovationen durchaus ein funktionaler Ansatz ist. Sie begrenzt das Risiko der Innovatoren ohne den Rechtsgüterschutz ganz aufzugeben. Der Rechtsgüterschutz wird im Gegenteil verstärkt an der effektiven Gefahrenabwehr ausgerichtet, indem die Provider als Bottleneck dem rechtlichen Zugriff ausgesetzt sind.
3. Verantwortung als angemessene Interessenbalancierung in neuen Sozialbeziehungen Im Netz, das als Web 2.0 beschrieben wird, geht es aber nicht nur um Monopolisierungstendenzen und damit das David gegen Goliath-Bild, sondern den Inhalt der entstandenen und entstehenden sozialen Netze und damit die neuen, internetspezifischen Interaktionsmuster. Verantwortungskultur im Netz heißt hier vor allem 16 Vgl. grundlegend zur Technikgestaltung durch Recht, Alexander Roßnagel, Rechtswissenschaftliche Technikfolgenforschung – Umrisse einer Forschungsdisziplin, 1993; siehe auch Claudio Franzius, Technikermöglichungsrecht: Wechselbeziehungen zwischen Technik und Recht am Beispiel der Kommunikationstechnik, Verw 34 (2001), S. 487 ff.; zu möglichen technischen Merkmalen der Regulierung der Privatsphäre im Web 2.0 vgl. nur Schmidt, Netz (Fn. 1), S. 119 ff. 17 Siehe näher Roßnagel in diesem Bande.
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interessengerechte Abgrenzung von wirtschaftlichen Nutzungs- und sozialen Geltungsansprüchen innerhalb der netzbasierten Gemeinschaften. Diese Aufgabe ist besonders schwierig, weil es nicht wie bei der Reaktion auf Vermachtung darum geht, Autonomie als unveränderten Wert zu schützen und auch nicht um relativ formale Fragen wie die Verantwortungsverteilung, sondern um sich verändernde soziale Praktiken, die immer auch Verschiebungen in der Interessenbalancierung mit sich bringen können. Die zentralen Beispiele hierfür bilden die zögerliche und notorisch umstrittene Anpassung des Urheberrechts18 an die neuen Nutzungsmöglichkeiten und -gewohnheiten der Netzwelt und der ebenso umstrittene angemessene Schutz der Persönlichkeitsrechte bei neuen Diensten. Nachfolgend soll der Umgang mit Persönlichkeitsrechten im Internet im Zentrum stehen, weil sich hier am stärksten das gesellschaftliche Selbstverständnis des neuen sozialen Raums spiegelt. Die intensive Diskussion insbesondere um Bewertungsplattformen, die sich juristisch vor allem anlässlich der spick-mich.deEntscheidungen19 entwickelt hat20, zeigt dies nachdrücklich.
18 Vgl. statt aller Theodor Dreier, in: Schricker, Gerhard (Hrsg.), Urheberrecht auf dem Weg zur Informationsgesellschaft, 1997; Alexander Peukert, Vom Urheberrecht zum „rechtmäßigen Inhalt“: Wie das Internet das Urheberrecht verändert, in: Bieber / Eifert / Groß / Lamla, Soziale Netze (Fn. 1), S. 225 ff. 19 LG Köln, Urteil v. 11. 07. 2007, Az. 28 O 263 / 07 – CR 2007, 666 ff.; OLG Köln, Urteil v. 03. 07. 2008, Az. 15 U 43 / 08 – MMR 2008, 672 ff.; BGHZ 181, 328 ff.; zur parallel liegenden Problematik der Professorenbeurteilung LG Berlin, Urteil v. 31. 05. 2007, Az 27 S 2 / 07 – DuD 2007, 784; gute Übersicht über die frühen Urteile bei Holger Greve / Florian Schärdel, Der digitale Pranger – Bewertungsportale im Internet, MMR 2008, S. 644 ff. 20 Siehe nur Alexander Dix, Mehr Bürgerrechte im Melderecht, DuD 2006, S. 678 f.; Philipp Plog, Zur Zulässigkeit eines Bewertungsportals für Lehrer (spickmich.de) – Anmerkung zum Urteil des Landgerichts Köln v. 11. 07. 2007, Az. 28 O 263 / 07, CR 2007, S. 668 ff.; Greve / Schärdel, Pranger (Fn. 19); Miriam Ballhausen / Jan Dirk Roggenkamp, Personenbezogene Bewertungsplattformen, K&R 2008, S. 403 ff.; Karl-Heinz Ladeur, Die Zulässigkeit von Lehrerbewertungen im Internet – zugleich eine Anmerkung zum Urteil des OLG Köln vom 27. 11. 2007 (www.spickmich.de), RdJB 2008, S. 16 ff.; Günter Dorn, Lehrerbenotung im Internet. Eine kritische Würdigung des Urteils des OLG Köln vom 27. 11. 2007, DuD 2008, S. 98 ff.; Martin Eifert, Freie Persönlichkeitsentfaltung in sozialen Netzen – Rechtlicher Schutz von Voraussetzungen und gegen Gefährdungen der Persönlichkeitsentfaltung im Web 2.0, in: Bieber / ders. / Groß / Lamla, Soziale Netze (Fn. 1), S. 253 ff.; Karl-Nikolaus Peifer / Johannes Kamp, Datenschutz und Persönlichkeitsrecht – Anwendung der Grundsätze über Produktkritik auf das Bewertungsportal spickmich.de?, ZUM 2009, S. 185 ff.; Niko Härting, Prangerwirkung und Zeitfaktor. 14 Thesen zu Meinungsfreiheit, Persönlichkeitsrechten und Datenschutz im Netz, CR 2009, S. 21 ff.; Anna-Bettina Kaiser, Bewertungsportale im Internet – Die spickmich-Entscheidung des BGH, NVwZ 2009, S. 1474 ff.; Alexander Dix, Daten- und Persönlichkeitsschutz im Web 2.0, in: Klumpp, Dieter / Kubicek, Herbert / Roßnagel, Alexander / Schulz, Wolfgang (Hrsg.), Netzwelt – Wege, Werte, Wandel, 2010; Meinhard Schröder, Persönlichkeitsrechtsschutz bei Bewertungsportalen im Internet, VerwArch 101 (2010), S. 205 ff.
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II. Neue Dienste im Spannungsfeld überkommener Regulierungsregime – das Beispiel der Bewertungsplattformen Innovationen treffen immer auf gewachsene Regulierungsregime, die eine Sedimentierung und rechtliche Stabilisierung der Interessenzuordnung in überkommenen Sozialstrukturen darstellen. Als Ordnungsmuster der konkreten historischen Situation sind sie für das „Neue“ oft nur begrenzt angemessen. Die Einordnung der Innovation und die Anpassungsfähigkeit der Regime bestimmt deshalb maßgeblich die Innovationsoffenheit des Rechts. Für das Web 2.0 bilden die Bewertungsplattformen hier ein besonders anschauliches Beispiel. Bewertungsplattformen im Internet eröffnen die Möglichkeit, durch unaufwändige Akkumulation verstreuter Erfahrungswerte deren Summe auszudrücken und für individuelle Entscheidungen und öffentliche Meinungsbildung zur Verfügung zu stellen. Sie machen damit die sogenannte Schwarmintelligenz gesellschaftlich nutzbar. Zugleich stellen die Bewertungsportale eine Gefährdung der Persönlichkeitsrechte der Einzelnen dar. Sie stellen die Bewerteten in die Öffentlichkeit und prägen mit den vorgenommenen Zuschreibungen deren Wahrnehmung durch Dritte erheblich mit, so dass die „freie Entfaltung durch Selbstdarstellung“21 deutlich beeinträchtigt wird. Zum Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vor diesen Gefährdungen kommen drei etablierte Regelungsregime mit unterschiedlichen Leitideen und entsprechend verschiedenen Akzentsetzungen in Betracht: Medienrecht, Datenschutzrecht und allgemeines Zivilrecht. 1. Die überkommenen Regulierungsregime: Allgemeines Zivilrecht, Medienrecht und Datenschutzrecht Das Medienrecht im Sinne der medienbezogenen Ausformung des allgemeinen zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutzes und des Sonderrechts der Medien folgt der Leitidee einer durch professionellen Journalismus informierten Öffentlichkeit, die ihre Schranken in den Persönlichkeitsrechten der Einzelnen findet, welche gegebenenfalls vor allem eigeninitiativ gerichtlich durchzusetzen sind. Das öffentliche Interesse an meinungsbildungsrelevanten Informationen wird dabei stark akzentuiert und zugleich mit der Möglichkeit der Gegendarstellung bei Tatsachenbehauptungen eine gewisse Waffengleichheit angestrebt.22 Das Datenschutzrecht, namentlich das auf Inhaltsdaten bezogene BDSG, ist entsprechend seinen Wurzeln vor allem auf Vorgänge individueller (wenn auch ggf. 21 So der treffende Titel der Rekonstruktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch Gabriele Britz, Freie Entfaltung durch Selbstdarstellung – Eine Rekonstruktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 I GG, 2007. 22 Vgl. nur Wolfgang Hoffmann-Riem, in: Denninger, Eberhard / ders. / Schneider, Hans-Peter / Stein, Ekkehart (Hrsg.), AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 5 1, 2 Rn. 168.
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massenhaft durchgeführter) Datenverarbeitung bezogen und folgt hier dem Leitbild einer starken Kontrolle des Einzelnen bereits über den Datenverkehr an sich im Sinne eines vorverlagerten Schutzes und einer Effektivierung gerichtlicher Kontrolle. Der Akzent liegt hier auf der Stärkung der individuellen Kontrolle über die auf die eigene Person bezogenen Daten und die Ratio der daraus folgenden Vorverlagerung des Schutzes besteht vor allem in der Undurchsichtigkeit der Datenverarbeitungsvorgänge und ihrer potentiellen Folgen.23 Der allgemeine zivilrechtliche Persönlichkeitsrechtsschutz24 schließlich bildet einen Rahmen, der abwägungsoffen alle rechtlich relevanten Interessen in Beziehung zum Persönlichkeitsrecht setzen kann. Er folgt der Leitidee eines möglichst allgemeinen und entsprechend variablen Ausgleichs sich ggf. verändernder konkurrierender Privatinteressen, die zugleich eine umfassende Basisgewährleistung der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 1 GG ermöglichen soll. 2. Friktionen und Anpassungsbedarfe der Regulierungsregime in der Anwendung auf innovative Dienste Die Anwendung der allgemeinen zivilrechtlichen Regelungen über den Persönlichkeitsschutz ist für die privaten Bewertungsplattformen selbstverständlich und läßt nur die Frage der angemessenen Konkretisierung offen. Die hohe Flexibilität des Regimes verhindert prinzipielle Spannungen mit den innovativen Angeboten und da die medienspezifische Ausdifferenzierung durch Fallgruppenbildungen der Rechtsprechung erfolgte, bleibt auch die Berücksichtigung medienspezifischer Interessen möglich und der Übergang zwischen beiden Regimen variabel. Es besteht hier strukturell eine hohe Innovationsoffenheit. Angesichts ihrer spezifischeren Leitideen und der genaueren einfachgesetzlichen Ausgestaltung gilt dies für das Sonderrecht der Medien und das Datenschutzrecht nicht gleichermaßen.
a) Differenzierte Beschränkung des Datenschutzrechts durch teleologische Reduktion Das Bundesdatenschutzgesetz hatte in seiner Entwicklungsgeschichte Telemedienangebote wie an die Öffentlichkeit gerichtete Bewertungsplattformen nicht im Blick. Es bezog sich für den privaten Bereich auf überkommene geschäftliche Anwendungen wie den Adresshandel oder den Abruf von Daten im Rahmen konkreter 23 Vgl. nur Spiros Simitis, in: ders. (Hrsg.), Bundesdatenschutzgesetz, 6. Aufl. 2006, Einleitung: Geschichte – Ziele – Prinzipien. 24 Vgl. nur Horst-Peter Götting / Christian Schertz / Walter Seitz (Hrsg.), Handbuch des Persönlichkeitsrechts, 2008.
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Geschäftsbeziehungen25 und gestaltete ein relativ detailliertes, darauf abgestimmtes Regelungsregime aus. Dass sich sein Regelungsanspruch nun auch auf neue Telemedienangebote wie Bewertungsplattformen erstreckt, hat vor allem zwei Gründe: Erstens verfolgt das BDSG mit der informationellen Selbstbestimmung einen breit gefassten funktionalen Schutzzweck. In dessen Licht sind auch Bewertungen Dritter als personenbezogene Daten der Bewerteten einzuordnen26 und wird generell die Einbeziehung neuer Gefährdungen in den sachlichen Anwendungsbereich nahe gelegt. Zweitens erfolgt die Verbreitung der Informationen der Bewertungsplattformen technisch durch einen je individuellen Datenabruf, auch wenn das Angebot grundsätzlich an die allgemeine Öffentlichkeit oder Teile von ihr gerichtet ist und entsprechend mediale Züge hat. Der EuGH hat hier nachdrücklich unterstrichen, dass die Veröffentlichung von Informationen im Internet ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung (personenbezogener) Daten im Sinne der europäischen Datenschutzrichtlinie sei27 und damit notwendig dem Datenschutzregime unterworfen. Die vollständige Anwendung des Datenschutzrechts verunmöglichte allerdings mit seinen formellen Anforderungen die Entwicklung von Bewertungsplattformen.28 Die zentrale datenschutzrechtliche Hürde bildet § 29 Abs. 2 BDSG, der die Darlegung eines berechtigten Interesses durch die Abfrager der Daten fordert und dem Anbieter auch eine entsprechende Protokollierungspflicht auferlegt. Hinzu tritt die Beweiserleichterung des Löschungsanspruchs gem. § 35 Abs. 4 BDSG soweit die Angaben tatsächliche Elemente enthalten und eine Manipulationsgefahr auf Seiten der Bewertenden nicht ausgeschlossen werden kann.29 Erschwerend wirkt auch die Benachrichtigungspflicht des § 33 BDSG, nach der der Anbieter den Betroffenen über die von ihm eingestellten Wertungen Dritter informieren muss. Eine derartige Innovationsblockade wird aber ganz überwiegend als weder Zutreffend BGHZ 181, 328 (343 f.). Vgl. nur Peter Gola / Rudolf Schomerus (Hrsg.), BDSG, 10. Aufl. 2010, § 3 Rn. 6; Greve / Schärdel, Pranger (Fn. 19), S. 647 m. w. N.; Dorn, Lehrerbenotung (Fn. 20), S. 99; a. A. Härting, Prangerwirkung (Fn. 20), S. 26. 27 EuGH, Rs. C-101 / 01 (Lindqvist), Slg. 2003, I-12971 = MMR 2004, 95 ff. m. Anm. Alexander Roßnagel. 28 Hierauf ist in der Literatur (vgl. etwa Peifer / Kamp, Produktkritik [Fn. 20], S. 186; Greve / Schärdel, Pranger [Fn. 19], S. 649) und in den Stellungnahmen der Datenschutzbeauftragten (vgl. nur die Nachweise bei Markus Junker, Zivilrechtlicher Schutz gegen Internet-Veröffentlichungen personenbezogener Informationen aus strafrechtlichen Ermittlungsakten – Anmerkung zu LG Mannheim, Urteil v. 24. 11. 2006, 7 O 128 / 06 – jurisPR-ITR 15 / 2007 Anm. 5 unter C., sowie Dorn, Lehrerbenotung [Fn. 20], S. 100) verschiedentlich hingewiesen worden, wenn auch die zivilgerichtliche Rechtsprechung bis zum Urteil des BGH erkennbar Schwierigkeiten hatte, dieses ihr fremde Gesetz anzuwenden (vgl. nur OLG Köln, Urteil v. 03. 07. 2008, Az. 15 U 43 / 08 – MMR 2008, 672 [675]; immer noch ohne hinreichende Sensibilität auch LG Regensburg, Urteil v. 02. 02. 2009, Az. 1 O 1642 / 08, 1 O 1642 / 08 [2] – AfP 2009, 175), so dass die Problematik zu Unrecht in den Hintergrund rückte. 29 Siehe näher Christian Gomille, Prangerwirkung und Manipulationsgefahr bei Bewertungsforen im Internet, ZUM 2009, S. 815 (823). 25 26
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gesetzlich intendiert noch als sachangemessen angesehen. Noch nicht geklärt ist allerdings, wie diese Spannungslage aufzulösen ist. Rechtsdogmatisch kommt hier entweder eine restriktive Interpretation der einzelnen datenschutzrechtlichen Vorschriften in Betracht, sei es im Wege der teleologischen Restriktion oder im Wege verfassungskonformer Interpretation30 oder die Anwendung des sogenannten datenschutzrechtlichen Medienprivilegs, das die Medien nur einem engen Kernbestand datenschutzrechtlicher Vorschriften unterwirft und insbesondere von den genannten behindernden Regelungen freistellt. Jede tragfähige Lösung muss schließlich mit den Vorgaben der letztlich recht offen gehaltenen31 europäischen Datenschutzrichtlinie vereinbar sein. Die teleologische Reduktion hat den Vorteil, dass sie eng an den gesetzlichen Entscheidungen und Differenzierungen bleibt und deren Wertungen konkret mit der Interessenlage und den Schutzbedarfen der beim Erlass der Vorschriften noch unbekannten Bewertungsplattformen abgleicht. Sie führt zunächst zur Unanwendbarkeit der §§ 29 Abs. 2; 35 Abs. 4 BDSG. § 29 Abs. 2 BDSG sollte keine Angebote ausgrenzen, sondern nur bei den zu Grunde gelegten individualisierten Abrufen im Rahmen konkreter Geschäftsbeziehungen eine Effektivierung der gem. § 29 Abs. 1 Nr. 1 BDSG geforderten Interessenabwägung ermöglichen.32 Die prohibitive formelle Hürde kann deshalb für die an die Öffentlichkeit gerichteten Bewertungsplattformen im Wege der teleologischen Reduktion beseitigt werden, da es hier um eine generalisierte Interessenabwägung geht und das mitschwingende Anliegen eventuell differenzierter Interessenkonstellationen im Rahmen der materiellen Abwägung aufgegriffen werden kann (s. u.). Die Beweiserleichterung des § 35 Abs. 4 BDSG entfällt, da sie den Einzelnen nur davor bewahren soll, die richtigen Daten zu nennen, was im Falle der Bewertungen durch Dritte hinfällig ist.33 Europarechtlich sind diese Interpretationen unproblematisch, da die Richtlinie keine Vorgaben enthält, die hiervon betroffen sind. Weniger eindeutig ist die Lage bei der Benachrichtigungspflicht gem. § 33 BDSG. Die Benachrichtigungspflicht sichert zunächst die Kenntnis des Betroffenen von der Datenspeicherung auch wenn die Daten in Abweichung vom grundsätzlichen Gebot des § 4 Abs. 2 S. 1 BDSG nicht bei ihm selbst erhoben wurden. Hier ließe sich für die Bewertungen Dritter argumentieren, dass sie ohnehin nicht beim Betroffenen erhoben werden können und deshalb auch keine kompensatorischen Benachrichtigungspflichten erforderlich sind. Die Benachrichtigungspflicht dient jedoch auch der Effektivierung des Rechtsschutzes des Einzelnen, indem sie 30 Die verfassungskonforme Interpretation wählt der BGH in der spickmich-Entscheidung, BGHZ 181, 328 ff., und in der Literatur etwa Ballhausen / Roggenkamp, Bewertungsplattformen (Fn. 20), S. 409. Teleologische und verfassungskonforme Interpretation vermischend etwa Härting, Prangerwirkung (Fn. 20), S. 27. 31 Vgl. nur EuGH, Rs. C-101 / 01 (Lindqvist), Slg. 2003, I-12971, Rn. 84. 32 Vgl. etwa Gola / Schomerus, BDSG (Fn. 26), § 29 Rn. 26 ff. 33 Gomille, Manipulationsgefahr (Fn. 29), S. 823.
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ihn in die Lage versetzt, eventuelle Ansprüche geltend zu machen.34 Ein solches Effektivierungsinteresse besteht grundsätzlich auch, vielleicht sogar erst Recht, wenn die Daten für die Öffentlichkeit dauerhaft zum Abruf bereit gehalten werden. Eine teleologische Reduktion ließe sich deshalb nur begründen, wenn hier die Lage für die Betreiber von Bewertungsplattformen maßgeblich vom Leitbild des BDSG abwiche. Die Bereitstellung der Daten für die Öffentlichkeit bildet hier aber keine solche Abweichung, da die Benachrichtigungspflicht nicht an die individuellen Abrufe, sondern von vornherein nur an den ersten Abruf anknüpft35 und sich deshalb weder vervielfacht noch sonst ihren Charakter ändert. Die Angebote würden nicht verhindert, da die Betroffenen bei den Bewertungsplattformen regelmäßig mit ihren beruflichen Adressen leicht zu ermitteln und zu benachrichtigen wären.36 Auch Art. 5 Abs. 1 GG fordert bei dieser Interessenlage keine restriktivere Interpretation. Damit ist die Benachrichtigungspflicht auch auf Bewertungsplattformen anzuwenden. Ein Konflikt mit der Datenschutzrichtlinie, die ebenfalls grundsätzlich eine Benachrichtigung fordert, entsteht gar nicht erst, wäre aber auch bei abweichender Auslegung durch deren breitere Ausnahmetatbestände wohl vermeidbar. Einen umfassenden Ausschluss der angebotsbehindernden datenschutzrechtlichen Anforderungen brächte demgegenüber die von Teilen der Literatur37 geforderte Anwendung des Medienprivilegs gem. § 41 BDSG i. V. m. § 57 RStV mit sich. Dessen Tatbestandsmerkmale „Presse“ bzw. „journalistisch-redaktionell“ setzen allerdings offenkundig klassische Medienstrukturen im Sinne journalistischredaktioneller Arbeit voraus, die bei Bewertungsplattformen kaum zu finden sind. Auch vom Betreiber präformierte Bewertungskriterien sind zunächst nur Kategorien, deren Inhalte dann durch die von den Nutzern eingestellten, automatisch verarbeiteten Daten entstehen.38 Damit käme nur eine erweiternde Auslegung mit Blick auf die Meinungsrelevanz des Diensteangebots in Betracht. Hierfür erweist sich allerdings die offenkundig bewusst vorgenommene Abstimmung des Datenschutzrechts und des Medienrechts als Problem. Denn angesichts des gleichen Wortlautes oder funktionaler Äquivalente39 würde eine Subsumtion Vgl. nur Gola / Schomerus, BDSG (Fn. 26), § 33 Rn. 1 ff. Vgl. nur Gola / Schomerus, BDSG (Fn. 26), § 33 Rn. 10 ff., sowie Rn. 16 f. zur Diskussion, ob nicht zumindest die Speicherung oder Übermittlung neuer Arten von Daten auch eine erneute Benachrichtigung erforderlich machen. 36 Zu schnell auf eine teleologische Reduktion und die Meinungsfreiheit zurückgreifend demgegenüber Härting, Prangerwirkung (Fn. 20), S. 27. 37 Vgl. nur Plog, Bewertungsportal (Fn. 20), S. 669; Greve / Schärdel, Pranger (Fn. 18), S. 647 f. 38 Die Literatur zur Anwendung des Medienprivilegs geht demgegenüber von den Programmen als vorweggenommene redaktionelle Bearbeitung aus bzw. senkt die Anforderungen an eine redaktionelle Bearbeitung mit teleologischen Argumenten ab (vgl. nur Greve / Schärdel, Pranger [Fn. 19], S. 648). 39 So wird für die Anwendung des § 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO, der vom Wortlaut her nur fordert, dass die Person bei der Unterrichtung dienenden Informations- und Kommunikations34 35
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der Bewertungsplattformen unter das Medienprivileg zugleich zur Anwendbarkeit zahlreicher medienrechtlicher Sonderregelungen führen. Unangemessen sind hierbei vor allem jene Privilegierungen, die Funktionsvoraussetzungen typischer redaktioneller Arbeit sind – etwa das Auskunftsrecht gegenüber öffentlichen Stellen (vgl. § 55 Abs. 3 RStV) oder das Zeugnisverweigerungsrecht aus beruflichen Gründen gem. § 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO. Der Gesetzgeber, bzw. genauer: die Gesetzgeber haben das datenschutzrechtliche und das medienrechtliche Regime weitgehend in ein Alternativverhältnis gestellt, dessen regelungstechnische Kehrseite aber jedenfalls prima facie ein Einschluss in das Datenschutzrecht für alle Angebote bildet, auf die das überkommene Medienrecht keine Anwendung finden kann. Wenn man entgegen dem hier vorgeschlagenen Weg einer teleologischen Reduktion der konkreten datenschutzrechtlichen Vorschriften das Medienprivileg anwenden möchte, müsste man zumindest diese gesetzgeberische Verknüpfung von Datenschutzrecht und Medienrecht lösen und die Anwendungsbereiche auch bei identischem Wortlaut je einzeln funktional bestimmen. Der EuGH, der mangels diesbezüglichen europäischen Medienrechts auf solche Verknüpfungen keine Rücksicht nehmen muss, steht für die Datenschutzrichtlinie einem weiten Verständnis des dort ebenfalls bestehenden Medienprivilegs jedenfalls aufgeschlossen gegenüber40, so dass auch dieser Weg keinen europarechtlichen Einwänden begegnete.41 b) Differenzierte Ausweitung des Medienrechts Die medienrechtlichen Sondervorschriften sollten zwar keinesfalls einfach als Reflex auf das datenschutzrechtliche Medienprivileg angewendet werden, sind aber deshalb noch nicht prinzipiell unbeachtlich. Auch wenn das Medienrecht als konsistentes Rechtsregime insgesamt eine journalistisch-redaktionelle Aufbereitung von Inhalten zu Grunde legt, sind doch einzelne Vorschriften auf eine analoge Anwendbarkeit zu befragen. Dies gilt vor allem für solche Vorschriften, die auf die Wirkungen verbreiteter Inhalte abstellen und dabei weniger die Produktionsbedingungen der Inhalte als deren massenweise Verbreitung in Bezug nehmen. Hier stehen die Internetangebote wie Bewertungsplattformen kaum hinter journalistisch-aufbereiteten Medienangediensten mitwirkt, auf eine „redaktionelle Aufbereitung“ abgestellt (vgl. nur Lothar Senge, in: Hannich, Rolf [Hrsg.], Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2008, § 53 Rn. 30; Ulrich Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 6. Aufl. 2008, Rn. 1246). 40 Vgl. EuGH, Rs. C-73 / 07 (Satakunnan Markkinapörssi und Satamedia), Slg. 2008, I-9831, Rn. 50 ff.; noch deutlicher in den Schlussanträgen der GA Juliane Kokott, Rn. 36 ff. 41 Umgekehrt kann aber nicht gesagt werden, dass der EuGH nur diesen Weg vorzeichnet. In der Entscheidung Lindqvist hat er für die Berücksichtigung der Meinungsfreiheit auf die Abwägung im Einzelfall verwiesen (EuGH, Rs. C-101 / 01 [Lindqvist], Slg. 2003, I-12971, Rn. 79 ff.) und die Anwendung der Vorschriften über die Übermittlung in ein Drittland auch mit Blick auf deren Telos restriktiv interpretiert (ebda., Rn. 63 f.).
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boten zurück.42 Die Reichweite ist hier im Ausgangspunkt zunächst nur eine technische Reichweite im Sinne einer Verfügbarkeit. Die hier eigentlich maßgebliche tatsächliche Rezeptionsbreite ist aber oft nur schwer vorherseh- und steuerbar und kann durch Aufmerksamkeitsspiralen in kurzer Zeit rapide zunehmen. Durch die Persistenz der Informationen wird darüber hinaus die zeitliche Reichweite erhöht, wodurch die Vorhersehbarkeit nochmals abnimmt. Daneben werden die Inhalte wegen der punktuellen, interessengeleiteten Zugriffe über Suchmaschinen oft in besonders sensiblen Zusammenhängen rezipiert und erreichen damit eine erhöhte Gefährdung auch bei begrenzter Rezipientenzahl. 43 Da der Rechtsgüterschutz zunächst abhängig ist vom Gefährdungspotential, spricht hier viel für eine differenzierte Erweiterung bestehender Schutzmechanismen über den professionellen Medienbereich hinaus. Der Gegendarstellungsanspruch, mit dem eine gleiche publizistische Wirkung (Waffengleichheit) für die Betroffenen hergestellt werden soll44, knüpft für Telemedien bislang an journalistisch-redaktionell gestaltete Inhalte an. Die zentrale traditionelle Begründung für das persönlichkeitsrechtliche Schattendasein eines Laienjournalismus, nämlich seine vermeintlich geringe Reichweite45 verliert bei den neuen Internet-Diensten unabhängig von der Frage kommerziellen Betriebs aber erheblich an Plausibilität. Hier schiene eine Entkopplung sinnvoll und wäre eine analoge Anwendbarkeit zu erwägen. Alternativ könnte eine extensive Interpretation des Merkmals „journalistisch-redaktionell“ zumindest Teile der sensiblen Angebote erfassen.46
42 Vgl. zu den nachfolgend aufgegriffenen Kriterien der Persistenz, Skalierbarkeit und Durchsuchbarkeit nur Schmidt, Netz (Fn. 1), S. 107 f., der als viertes Kriterium die Duplizierbarkeit nennt. Diese führt im hier interessierenden Kontext allerdings bei einer Realisation (nur) zu einer Vermehrung der Verantwortlichen. 43 Vgl. auch Marit Hansen / Sebastian Meissner (Hrsg.), Verkettung digitaler Identitäten, 2007. Besonders relevant werden hier die Suchmaschinen wie yasni.de, die gerade der Zusammenstellung personenbezogener Informationen aus verschiedenen Quellen dienen. Zu empirischen Daten über die ungewünschte Rezeption von Angaben aus dem Internet Schmidt, Netz (Fn. 1), S. 118. 44 Vgl. statt aller BVerfGE 97, 125 ff.; Jörg Soehring, Presserecht, 4. Aufl. 2010, § 29. 45 Vgl. nur Benjamin Korte, Das Recht auf Gegendarstellung im Wandel der Medien, 2002, S. 103 f. 46 Die Literatur (vgl. nur Soehring, Presserecht [Fn. 44], § 29 Rn. 71) und die Rechtsprechung (vgl. nur KG Berlin, Beschluss v. 29. 01. 2009, Az. 10 W 73 / 08 – MMR 2009, S. 482) scheinen grundsätzlich eher eine restriktive Linie gegenüber der Verantwortlichkeit der Privaten zu haben; offengelassen werden die Chancen einer sachgerechten Ausweitung auf Formen des user-generated content von Wolfgang Schulz, in: Hahn, Werner / Vesting, Thomas (Hrsg.), Kommentar zum Rundfunkrecht, 2. Aufl. 2008, RStV § 56 Rn. 60. Konsequent aber die Annahme von Gegendarstellungsansprüchen nach Anwendung des Medienprivilegs bei Greve / Schärdel, Pranger (Fn. 19), S. 648.
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III. Die Herausbildung angemessener materieller Standards des Interessenausgleichs Die bislang beschriebenen Anpassungsbedarfe der Regulierungsregime betreffen vor allem formelle Anforderungen und den Anwendungsbereich einzelner Instrumente. Im Kern verlangen jedoch alle Regulierungsregime als materielle Rechtmäßigkeitsanforderung einen angemessenen Ausgleich zwischen den sozialen Selbstdarstellungsansprüchen der Betroffenen einerseits und der Meinungsfreiheit bzw. Medienfreiheit der Äußernden unter Berücksichtigung des Informationsinteresses der Öffentlichkeit andererseits. Dieser Interessenausgleich kann theoretisch vollständig auf den Einzelfall verlagert werden, wodurch jedoch die Aufgabe des Rechts einer Erwartungsstabilisierung auch für die Fortentwicklung der innovativen Angebote verfehlt würde. Rechtspraktisch wurde der Interessenausgleich von der Rechtsprechung schon immer über die Bildung von Kriterien und Fallgruppen auf mittlerer Abstraktionshöhe vorstrukturiert und damit sowohl rationalisiert als auch mit einer Steuerungskraft versehen. Die Fallgruppen und Kriterien müssen allerdings für die innovativen Angebote des Web 2.0 ebenfalls angepasst und teilweise neu entwickelt werden. Diesem Problem wird hier wiederum am Beispiel der Bewertungsplattformen nachgegangen, wobei viele Aspekte gleichermaßen für Chat-Foren angewendet werden können. 1. Rechtliche Kriterienentwicklung ohne Rückgriffsmöglichkeit auf Konventionen a) Entkopplung von überkommenen journalistischen Standards und Gefährdungspotential Die Kriterien und Fallgruppen des Interessenausgleichs konnten für die massenmedialen Angebote auf typischen Verknüpfungen aufbauen. Die hier wichtigste ist die Verknüpfung von professionellen Standards der Anbieter und Gefährdungspotential der Angebote. Das erhebliche Gefährdungspotential der (Massen-)Medien für die Persönlichkeitsrechte ist durch deren Reichweite und Glaubwürdigkeit bedingt. Zugleich bedürfen die (Massen-)Medien aber schon wegen der technischen und wirtschaftlichen Anforderungen einer professionellen Organisationsform, die für die Inhalteproduktion einen professionellen Journalismus hervorbrachte. Die rechtlichen Maßstäbe konnten vor diesem Hintergrund im Doppelpass rechtlich bestimmter Schutzbedürftigkeiten und professioneller journalistischer Verhaltensstandards entwickelt werden.47 Die Bestimmung der journalistischen Sorgfaltspflicht als der zentralen Weichenstellung in der Abwägung zwischen Medienfreiheit und Persönlichkeitsschutz48 bildet den Ort dieses Wechsel47 Vgl. auch Lena Wallenhorst, Medienpersönlichkeitsrecht und Selbstkontrolle der Presse, 2007. 48 Vgl. näher Soehring, Presserecht (Fn. 44), §§ 2, 15.
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spiels, in dem Aufgabe und Funktionsnotwendigkeiten der Medien mit den Persönlichkeitsrechten der Betroffenen zum Ausgleich gebracht wurden. Dieses etablierte Schutzkonzept entfällt bei den neuen Diensten, die ja gerade nicht dem Muster journalistisch-redaktioneller Aufbereitung folgen, sondern unmittelbar auf den Nutzern als Inhalteproduzenten aufbauen.
b) Keine Herausbildung eigener Netzstandards Dem für die Medien insofern vertrauten hybriden Ordnungsmuster würde es entsprechen, für die neuen Angebote auch auf sich hierfür entwickelnde professionelle Standards zurückzugreifen. Während es für die Social-Community-Plattformen zumindest Ansätze entsprechender Standards gibt49, beschränken sich entsprechende Initiativen in der sehr viel disparateren und nicht vergleichbar (oligopolistisch) organisierten Landschaft der Chats vor allem auf den Jugendschutz50 und sind im Bereich der Bewertungsplattformen nicht auszumachen. Es ist zwar offenkundig, dass eine breite Verunsicherung über die Umgangsformen im Internet herrscht, die sich in zahlreichen Ansätzen von Netiquette51; Chatiquette; UsenetNetiquette und übergreifende Basisideen niederschlägt. Dabei kann es zu Standardisierungen für einzelne Communities oder auch innerhalb von funktional gleichgerichteten Kommunikatoren kommen, die der rechtliche Interessenausgleich berücksichtigen sollte.52 Übergreifende operationalisierbare Standards kristallisieren sich hier aber keineswegs heraus und es herrscht ein buntes Nebeneinader von Höflichkeitsregeln, Mindeststandards und übergreifenden Basisideen, bei denen die Regeln „Sorge dafür, dass du online gut aussiehst“ und „Respektiere die Privatsphäre anderer“ ungeordnet nebeneinander stehen. In heiklen Punkten wie dem Umgang mit Anonymität (IP-Adressen / Klarnamen / Pseudonyme etc.) herrscht keinerlei Einigkeit. Für den Bereich der Bewertungsplattformen tritt hinzu, dass deren Wirkungen in besonderer Weise auch Menschen außerhalb der Netzgemein49 Vgl. vor allem den Verhaltenskodex für Betreiber von Social Communities bei der FSM (Stand: 11. 3. 2009), abrufbar unter https:// www.fsm.de/inhalt.doc/VK_Social_Networks. pdf. 50 Vgl. den allerdings nur sehr begrenzt unterzeichneten Verhaltenssubkodex für Chatanbieter der FSM (VK-C), Stand: 07. 06. 2007, und die positive Evaluation der FSM aus 2008 (beides abrufbar unter https:// www.fsm.de/de/Chat). 51 Siehe stellvertretend die vielfach in Bezug genommenen Netiquette Guidelines der Networking Group (www.albury.net.au/nwe-users/rfc1855.txt); vgl. auch den Überblick bei Peter Jung, Die Bedeutung der Selbstregulierung für das Lauterkeitsrecht in internationalen Computernetzwerken, GRUR Int 1998, S. 841 (842 ff.). 52 Vgl. etwa die durchaus optimistische Diskussion über die Fähigkeit einer Selbstregulierung im (wettbewerblichen) Lauterkeitsrecht, dazu statt vieler Jung, Lauterkeitsrecht (Fn. 51); Zurückhaltung aber etwa auch beim rechtlichen Rückgriff auf Netiquette-Vorschriften bei der Bestimmung rechtlicher Pflichten (hier Nebenpflichten von Content-Providern) bei Bettina Komarnicki, in: Hoeren, Thomas / Sieber, Ulrich (Hrsg.), Handbuch MultimediaRecht, 22.Aufl. 2009, Teil 12.2 Rn. 87 m. w. N.
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schaften betreffen53, was den Abstimmungsbedarf nochmals erhöht und eine kurzfristige Selbstregulierung verunmöglicht. Die verbreitete Skepsis54 gegenüber substanziellen Konventionen der heterogenen Nutzergruppen jenseits von Regeln, die eine effiziente Nutzung des Internet sichern, ist deshalb plausibel und scheint sich empirisch zu bestätigen. Dies schließt es nicht aus, die Herausbildung von Verhaltensstandards im Internet zu fördern, indem Institutionen der Beobachtung oder Selbstregulierungsorganisationen als Kristallisationskerne der Entwicklungen eingerichtet oder gefördert werden. Gegenwärtig und auf absehbare Zeit bedarf es aber einer verstärkten rechtlichen Konturierung der Kommunikationsräume im Sinne normativer Vorgaben mit hinreichender Orientierungsfunktion und dennoch Flexibilität – ohne dass ein konkretisierender Rückgriff, ein Abgleich oder auch nur eine Abgrenzung mit gefestigten außerrechtlichen Konventionen möglich ist.
2. Rechtliche Konturierung der Kommunikationsräume als Ansatz Für eine Operationalisierung der Abwägung auf mittlerer Abstraktionshöhe können dabei zumindest die allgemeinen inhaltsbezogenen Kriterien herangezogen werden, die in der allgemeinen zivilrechtlichen Rechtsprechung entwickelt wurden. So kommt es für die Schutzbedürftigkeit auch hier auf die Sensibilität der Daten oder das Vorverhalten der Betroffenen an und bemisst sich demgegenüber das öffentliche Interesse auch am Bezug zu öffentlichen Angelegenheiten und allgemeinen Diskussionen.55 Der Interessenausgleich bei den innovativen Diensten erfolgt so durch die Anbindung an konsentierte abstraktere Kriterien, die als Oberbegriffe auch die neue Konstellation umfassen. Dies macht die Leistungsstärke gerade der allgemeinen zivilrechtlichen Regeln aus. Spezifischer für Bewertungsplattformen sind aber auch aus den Gefährdungspotentialen und typischen Interessenkonstellationen Parameter abzuleiten, über die eine Steuerung des Interessenausgleichs für diese spezifischen Angebote stattfinden kann. Dies entspricht etwa den medienspezifischen Ausformungen, die sich im Zivilrecht herausgebildet haben. Der BGH hat eine solche Zwischenstufe in seiner spick-mich-Entscheidung leider ausgelassen, obwohl sich aus der Entscheidung durchaus auch verallgemeinerungsfähige Kriterien ableiten lassen.56 53 Vgl. bereits Llewellyn Joseph Gibbons, No Regulation, Government Regulation, or SelfRegulation: Social Enforcement or Social Contracting for Governance in Cyberspace, 6. Cornell J. L. & Pub. Pol’y (1996 / 97), S. 475 (509 ff.); aus neuerer Zeit nur Volker Boehme-Neßler, Wer formt den digitalen Code? Rechtsetzung in der digitalisierten Gesellschaft, ZG 2009, S. 74 (79 f.). 54 Vgl. etwa Per Christiansen, Selbstregulierung, regulatorischer Wettbewerb und staatliche Eingriffe im Internet, MMR 2000, S. 123 (125 ff.); Brian Valerius, Das globale Unrechtsbewusstsein, NStZ 2003, S. 341, (345). 55 Vgl. nur BVerfGE 7, 198 (212); 35, 202 (231). Problematisierung des aber letztlich Zustimmung zum öffentlichen Interesse als Abwägungstopos bei Schröder, Persönlichkeitsrechtsschutz (Fn. 20), S. 214 ff. m. z. N.
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Ausgehend davon, dass Anonymität und Reichweite zentrale Katalysatoren der Gefährdung von Persönlichkeitsrechten im Web 2.0 sind und die Funktion der Akkumulierung des vertreuten Wissens infrastrukturelle Begleitpflichten auslösen kann, bieten sich vier Parameter, die in der Rechtsprechung teilweise bereits angelegt sind, für die Operationalisierung des Interessenausgleichs bei den Bewertungsportalen und teilweise auch den Chat-Foren an: der Grad der Anonymität der Teilnehmer die Reichweite des Angebots eine Präformierung der Inhalte durch die Anbieter und schließlich die Kontrollintensität (Prüfpflichten) der Host-Provider.57
a) Grad der Anonymität der Teilnehmer Der Grad der Anonymität der Teilnehmer ist für die Ausgestaltung des Kommunikationsraumes von doppelter Bedeutung. Wenn eine Verwendung von Klarnamen gefordert wird, werden die Bewerter von Bewertungsplattformen und die Teilnehmer von Chats an ihren jeweiligen sozialen Kontexten festgehalten. Dies erhöht die Hemmungen gegenüber Persönlichkeitsverletzungen und Manipulationen – allerdings um den Preis der gleichzeitigen Übertragung eventuell einschüchternder Machtkonstellationen in die Internet-Kommunikation hinein. Will man die soziale Dekontextualisierung zulassen oder sogar als Machtausgleich funktional nutzen, bietet sich die Verwendung von Registrierungssystemen und ggf. Pseudonymen an. Hier kann der repressive Schutz bei Persönlichkeitsverletzungen durch die Dreieckskonstellation Nutzer-Betreiber-Betroffener dennoch gewährleistet werden, wenn der Nutzer beim Betreiber seinen Klarnamen hinterlegen muss und dieser ihn ggf. für ein Rechtsschutzverfahren offenbaren muss. Beide Optionen werden auch entgegen der Meinung des BGH in der spickmich-Entscheidung58 weder durch Eigenarten des Internet noch durch das TMG grundsätzlich ausgeschlossen. Eine anonyme Nutzung ist dem Internet nicht immanent, sondern nur eine dort regelmäßig anzutreffende Möglichkeit. Rechtlich ist die anonymisierte oder pseudonymisierte Nutzung nur zu eröffnen, soweit sie „zumutbar“ ist (§ 13 Abs. 6 TMG) und die angefallenen Daten unter bestimmten Umständen vorübergehend auch nur gesperrt statt gelöscht werden können. Diese Regelungen sind also gegenüber Ausnahmen zum Schutz der Persönlichkeitsrechte offen, wenn und soweit dort eine besondere Gefährdungssituation besteht. Eine solche ist denkbar bei besonders sensiblen Themen oder einer erwartbaren hohen Diskussionsdynamik. Die entsprechenden Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung der 56 Nach instruktiver Kritik der Entscheidung abschließend die verwendeten Kriterien zusammenfassend Kaiser, Bewertungsportale (Fn. 20), S. 1477. 57 Hierzu und zum folgenden auch Eifert, Persönlichkeitsentfaltung (Fn. 20), S. 262 ff. 58 Vgl. BGHZ 181, 328 (341 f.).
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Nutzer kann durch den Schutz der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen gerechtfertigt werden. b) Begrenzungen der Reichweite Eine anders geartete Kontextsicherung bilden Begrenzungen der Reichweite durch Zugangsbeschränkungen. Sie knüpfen nicht am Kommunikator, sondern an der Rezeptionssituation vor allem an dem Öffentlichen Interesse an den Informationen an. Im presserechtlichen Persönlichkeitsschutz ist diese Begrenzung bereits angelegt, wenn die Gerichte bei persönlichkeitsgefährdenden Inhalten auch auf das Verbreitungsgebiet der Zeitung blicken. Wird im Presserecht dann aber letztlich doch der Presse die Entscheidung über die räumliche Reichweite des öffentlichen Interesses überlassen59, so rechtfertigt sich dies über die Verknüpfung dieser Einschätzungen mit dem wirtschaftlichen Risiko, vor allem aber über das von der Pressefreiheit gedeckte Vertrauen in eine sachangemessene, autonome, an publizistischen Kriterien orientierte journalistische Entscheidung. Beide Gründe entfallen bei den Plattformbetreibern, weshalb die Konturierung des öffentlichen Interesses in räumlicher, aber auch persönlicher Hinsicht den Gerichten offen steht. Bewertungsplattformen betreffen oft die professionelle Rolle der Betroffenen und damit deren Sozialsphäre, in der sich die grundsätzliche Zulässigkeit von Berichterstattungen und Bewertungen aus den Wirkungen der Tätigkeit auf andere rechtfertigt.60 Über eine Konturierung des Kommunikationsraums kann die Zugänglichkeit an diesen Wirkungsbereich angeknüpft werden und damit einer übergroßen Reichweite und Dekontextualisierung mit ungerechtfertigten Prangerwirkungen entgegengewirkt werden.61 Die Beschränkung des Zugangs der LehrerBewertungsplattform „spickmich.de“ auf registrierte Nutzer und die technisch allerdings nicht stark abgesicherte und unscharfe Bindung der Registrierung an die betroffenen Rollen als Schüler oder Eltern des Schulbezirks, bildet hier einen überzeugenden Ansatz der Herstellung einer Deckungsgleichheit von Wirkungskreis und Diskussionsraum.62 Die Zugangsbeschränkung ist zugleich damit verbunden, dass auch über Suchmaschinen kein unmittelbarer Zugriff auf die dortigen Inhalte erfolgen kann. Eine entsprechende Kontextsicherung bildet jenseits solcher professionellen Bewertungsportale der kontextsensitive Umgang mit allgemein zugänglichen Informationen. Der Persönlichkeitsschutz geht regelmäßig davon aus, dass hinsichtlich ohnehin allgemein zugänglicher Informationen kein weiteres Schutzinteresse des BGH, Urteil v. 21. 11. 2006, Az. VI ZR 259 / 05 – NJW-RR 2007, 619 (620). Vgl. nur BGH, Urteil v. 20. 01. 1981, Az. VI ZR 163 / 79 – VersR 1981, S. 384 ff. 61 Ähnlich Schröder, Persönlichkeitsrechtsschutz (Fn. 20), S. 222 ff. 62 Zu weitreichend aber die Formulierung des Kreises berechtigter Informationsinteressenten in der spickmich-Entscheidung BGHZ 181, 328 (341). 59 60
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Betroffenen besteht. Der selbst gewählte63 oder auch dienstrechtlich erzwungene64 Weg in die Öffentlichkeit sollte allerdings nur zu einer Reduzierung des kontextspezifischen Persönlichkeitsschutzes führen, was dem oben bereits angesprochenen Gedanken der Zweckbindung entspricht und den Schutz vor kontextfremder Nutzung und Verbreitung unberührt lassen muss.65 Wenn sich also etwa ein Teilnehmer in einem themenbezogenen Fachforum äußert, dürfen die dortigen Angaben nur im Rahmen der sich dort bildenden Teilöffentlichkeit frei verwendet werden und zur Erleichterung des Dienstverkehrs veröffentlichte Angaben dürfen nicht einfach selbstverständlich in Bewertungskontexten verwertet werden.66 Damit würde der Herausbildung von spezifischen Teilöffentlichkeiten Rechnung getragen, an die ggf. dann auch spezifische eigene Standards geknüpft werden könnten.67 Eine Reichweitenbegrenzung kann schließlich auch in zeitlicher Hinsicht vorgenommen werden. Hierbei können die sich entwickelnden Grundsätze zu OnlineArchiven herangezogen werden.68 c) Präformierung der Inhalte durch die Anbieter Weder am Kommunikator noch an der Rezeptionssituation, sondern an der Dynamik des Kommunikationsgeschehens knüpfen Ausgestaltungen des Kommunikationsraums im Sinne infrastruktureller Begleitpflichten für die Anbieter als Akteure mit zentraler Einflussmöglichkeit an. Die Anforderungen an die Präformierung von Inhalten bezieht sich auf die Vorleistungen des Plattformbetreibers, der etwa bei Bewertungsplattformen die Kriterien definiert und damit den Sachgehalt der Bewertungsaussagen unabhängig von der konkreten Bewertung maßgeblich mitbestimmt.69 Hier kann an die Rechtsprechung bei Warentests angeknüpft wer63 Vgl. nur LG Berlin, Urteil v. 25. 10. 2007, Az 27 O 602 / 07 – MMR 2008, S. 353, und die Anm. von Christian v. Coelln, Aufhebung der geschützten Privatsphäre durch eigenes Erkennbarmachen in Internetforum, jurisPR-ITR 16 / 2008 Anm. 2. 64 Vgl. nur OVG Koblenz, Urteil v. 10. 09. 2007, Az. 2 A 10413 / 07 – MMR 2008, S. 635 f. mit Anm. Dirk Heckmann, Bekanntgabe von Namen, Funktion und dienstlicher Erreichbarkeit von Beamten mit Außenkontakten im Internet, jurisPR-ITR 10 / 2007 Anm. 4. 65 Vgl. vor allem mit Blick auf eine gesetzgeberische Verankerung auch Roßnagel, Persönlichkeitsentfaltung (Fn. 14), S. 282 f. 66 Zu einfach deshalb LG Berlin, Urteil v. 31. 05. 2007, Az 27 S 2 / 07 – DuD 2007, 784. 67 Vgl. Karl-Heinz Ladeur, Neue Medien brauchen neues Medienrecht! Zur Notwendigkeit einer Anpassung des Rechts an die Internetkommunikation, in: Bieber / Eifert / Groß / Lamla, Soziale Netze (Fn. 1), S. 23 ff. passim. 68 Vgl. nur jüngst OLG Hamburg, Urteil v. 10. 03. 2009, Az. 7 U 64 / 08 – ZUM 2009, S. 857 ff. und die Anm. von Julia Hoecht, Zur Frage einer Persönlichkeitsverletzung durch Online-Archivierung identifizierender Berichterstattung über verurteilte Straftäter, ZUM 2009, S. 860 ff. sowie Härting, Prangerwirkung (Fn. 20), S. 24. 69 Zu formal ist hier die Betrachtung des BGH in der spickmich-Entscheidung, vgl. BGHZ 181, 328 (335). Frühe Kritik gegenüber fehlenden Aufbereitungen bei Alexander Dix, Testberichte über Hochschullehrer, DuD 2006, S. 330 (331).
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den70 und bei den notwendigen angebotsspezifischen Abstrichen an die Professionalitätsstandards zumindest eine sachangemessene Präformierung gefordert werden.71 Die im allgemeinen Zivilrecht für individuelle Beiträge bestehende Grenze der Schmähkritik ist hier nicht eng genug, da die Kumulationswirkung auf den Plattformen die Persönlichkeitsbeeinträchtigung vertieft, so dass die Äußerungen schon bei geringeren Graden an Unsachlichkeit unzumutbar werden können (z. B. Bewertung von Lehrpersonal in der Kategorie „sexy“). Die Präformierung bezieht sich auch auf die Schwelle für statistische Auswertungen mit ihrer eigenen Wirkungsverstärkung bei gleichzeitiger Entdifferenzierung. Hier werden die bestehenden Schwellen in der Literatur meist für unzureichend gehalten72 und kann eine Verzeitlichung, die Entwicklungen transparent hält, geboten sein.
d) Kontrollintensität (Prüfpflichten) der Host-Provider Grundsätzlich können auch Prüfpflichten der Host-Provider als Begrenzungen persönlichkeitsgefährdender Kommunikationsdynamiken in Betracht kommen. Die Störerhaftung für Telemediendienste schließt nach der allerdings umstrittenen Rechtsprechung Prüfpflichten nicht grundsätzlich aus, bindet sie aber an enge Zumutbarkeitsanforderungen.73 Zu Recht wird dabei wegen der Persistenz der Verletzung auf eine Übertragung der für den Rundfunk überkommenen Privilegierung verzichtet.74 Die Förderung einer hohen Gefährdungsdynamik durch die Einführung etwa stark emotionalisierender Kriterien bei Bewertungsplattformen mit zugleich offenen Eintragungsmöglichkeiten oder thematische Chat-Foren zu stark polarisierenden und personalisierenden Themen sollten als Auslöser für Kontrollpflichten der Provider genommen werden.75 Bei Chats kann neben einer Überprüfung der Beiträge auch eine Moderation vorgenommen werden, mittels derer von vornherein eine Versachlichung der Diskussion gefördert werden kann.
70 Ausführlich, aber mit der Übernahme der Kriterien zu weitgehend Peifer / Kamp, Produktkritik (Fn. 20). 71 Zu restriktiv der BGH, BGHZ 181, 328 (342), mangels Blick auf die Präformierung. 72 Vgl. nur Ladeur, Neues Medienrecht (Fn. 67), S. 37; Sven Heller, Anmerkung zu OLG Köln, Urteil vom 27. November 2007 – 15 U 142 / 07 – spickmich.de, ZUM 2008, 243 (245); vorsichtig kritisch auch Schröder, Persönlichkeitsrechtsschutz (Fn. 20), S. 229. 73 Vgl. nur BGHZ 158, 236 ff. (für Internetversteigerungen); BGH, Urteil v. 27. 03. 2007, Az. VI ZR 101 / 06 – GRUR 2007, 724 ff. (für Meinungsforen); insgesamt näher Spindler in diesem Bande. 74 Vgl. auch schon Uwe Jürgens, Von der Provider- zur Provider- und Medienhaftung, CR 2006, S. 188 (189). 75 In diese Richtung bereits LG Hamburg, Urteil v. 02. 12. 2005, Az. 324 O 721 / 05 – AfP 2006, S. 273 ff.
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e) Geforderter Grad technischer Absicherung als Variable auf zweiter Ebene Bei den vorgenannten Parametern – besonders aber bei allen Anknüpfungen von Reichweitenbeschränkungen an persönliche Eigenschaften der Teilnehmer – ist grundsätzlich zwischen den rechtlichen Vorgaben und dem geforderten Grad ihrer technischen Absicherung zu unterscheiden. Die rechtliche Grundforderung nach einer Identifizierung der Nutzer von Bewertungsplattformen etwa kann technisch mit unterschiedlichen Sicherheitsstufen umgesetzt werden, die von der bloßen Selbstauskunft über die Abfrage wissensgebundener Angaben bis zur Benutzung einer elektronischen Signatur reichen. Der Grad der technisch vermittelten Sicherheit bildet hier eine eigene Variable auf zweiter Ebene, die in Abhängigkeit von der Schutzgutbeeinträchtigung und den Umgehungsanreizen nochmals eigenständig justiert werden muss. Nur in den seltensten Fällen dürften hier unumgehbare technische Maßnahmen gefordert sein. 3. Bewegliches Kriteriensystem als funktionsgerechter Entwicklungsrahmen? Die vorgenannten Parameter stehen teilweise in Wechselwirkung zueinander. So kann die Aufhebung der Anonymität wegen der erhöhten Hemmschwellen eine nähere Überwachung der Angebote oder die Moderation von Foren entbehrlich machen. Ähnlich kann eine enge Begrenzung der Öffentlichkeit den Bedarf nach Überwachung senken, wenn die Teilöffentlichkeit eine Kommunikationsdichte aufweist, die nachhaltige Störungen der Selbstdarstellungsfähigkeit der Betroffenen durch einzelne Beiträge unwahrscheinlich macht. Die Parameter bilden deshalb teilweise ein bewegliches System mit je-desto-Beziehungen. 76 Durch die Parameter wird deshalb kein konkretes Geschäftsmodell vorgeschrieben, aber die Operationalisierung der Abwägung dennoch erleichtert und der Erwartung der Betroffenen ein Rahmen gegeben. Damit verbunden sind zugleich Anreize, gegebenenfalls auch neue Mechanismen angemessenen Persönlichkeitsschutzes zu entwickeln. Es handelt sich insofern um ein typisches Instrument innovationsoffener Wahrnehmung von Innovationsverantwortung.
IV. Angemessene Institutionen der Verantwortungskontrolle Aus dem vorangegangenen ergeben sich zugleich institutionelle Konsequenzen für die Verantwortungskontrolle. In der Literatur werden teilweise prononciert „Cyber-Courts“ als neue, netzgerechte Institutionen der Kontrolle gefordert, die ergänzend und partiell auch substituierend eine Streitbeilegung nach netzgerechten 76 Vgl. grundlegend zum beweglichen System Franz Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 529 ff.
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Kriterien vornehmen sollen.77 Während eine Verstärkung der Beobachtung neuer sozialer Praktiken im Netz sicherlich wünschenswert ist, erscheint eine Konfliktentscheidung durch solche Gremien aber jenseits der immer möglichen freiwilligen Schiedsgerichtsbarkeit nicht sachgerecht. Als Grundvoraussetzung für eine gelingende Selbstregulierung wie sie dem Gedanken der Cyber-Courts zu Grund liegt, können eine hohe Selbstorganisationsund eine hinreichende Problemsensibilisierungsfähigkeit angesehen werden. Beides ist hier zweifelhaft.78 Denn es handelt sich bei den innovativen Diensten meist um eine große Zahl oft versuchsweiser Anbieter oder, angesichts der Monopolisierungstendenzen der Netzökonomie, um kleine Oligopole der Anbieter. Das Erste führt zu begrenzter Selbstorganisationsfähigkeit das Zweite zu ungebrochenen Einzelinteressen. Aber auch inhaltlich ist eine Selbstregulierung vor allem naheliegend, wenn es eine Überlegenheit bei der Maßstabsbildung etwa durch die Erschließung neuen Wissens geht oder sich vorverlagerte Ansatzpunkte für einen effektiven Rechtsgüterschutz ergeben. Für beides liegen aber keine hinreichenden Anhaltspunkte vor. Auf der anderen Seite spricht viel für eine besondere Eignung der Zivilgerichte. Sie sind methodisch geschult in der fallweisen Fortentwicklung rechtlicher Maßstäbe und können zugleich eine hohe Kompatibilität der Wertungen zum Persönlichkeitsschutz im Netz mit dem Persönlichkeitsschutz im Bereich der (Massen-) Medien und der realen Welt sicherstellen.79 Dies erscheint umso erforderlicher, als die Wirkungen der Netzöffentlichkeit ja gerade in der realen Welt auftreten und sich hinsichtlich der meinungsbildenden Funktionen zahlreiche Einzelparallelen zu medialen Angeboten ergeben. Beides wurde oben im Rahmen der Beschreibung der Parameter deutlich. Ein Problem der Zivilgerichtsbarkeit bildet allerdings die dezentrale Zuständigkeit für die Fälle der Persönlichkeitsverletzung, die eine konsistente Weiterentwicklung vom zeitintensiven Instanzenzug abhängig macht. Hier wäre zu wünschen, dass sich, wie etwa im Presserecht, eine faktischen Schwerpunktzuständigkeit herausbildet oder gegebenenfalls über eine gesetzliche Sonderregelung nachzudenken.80 Auf den ersten Blick irritierend mag erscheinen, dass bei einer Anwendbarkeit des BDSG auch die Datenschutzbeauftragten über den angemessenen Ausgleich der Interessen zu entscheiden haben. Diesen ist ein solcher Interessenausgleich aber nicht mehr grundsätzlich fremd, da sie im Zuge der Verbreitung der Informationsfreiheitsgesetze auch die Zuständigkeit als Informationsfreiheitsbeauftragte Vgl. ausführlich Ladeur, Neues Medienrecht (Fn. 67), S. 23 ff. Vgl. auch Roßnagel, Persönlichkeitsentfaltung (Fn. 14), S. 277 ff. 79 Vgl. aber auch zu den Problemen geringer gesetzlicher Programmierung auch für die Gerichtskontrolle Hoeren in diesem Bande. 80 Ein weiteres Problem jeder Internet-Regulierung bildet die begrenzte Implementationsreichweite nationaler Gerichte. Allerdings dürfte die Umgehungsbereitschaft für die Betreiber in den hier behandelten Konstellationen sehr begrenzt sein. 77 78
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erhalten haben (vgl. nur § 12 IFG-Bund) und in dieser Funktion regelmäßig auch das Recht auf Informationszugang gegen Persönlichkeitsrechte abzuwägen haben (vgl. nur § 5 IFG-Bund). Das Recht auf Informationszugang besteht zwar nur gegenüber öffentlichen Stellen, wird aber verbreitet als Quelle für die anschließende Veröffentlichung durch die Informationsbegehrenden genutzt, so dass für die Abwägung letztlich auch das „Informationsinteresse der Allgemeinheit“ 81 herangezogen wird. Die Abwägung ist in den Informationsfreiheitsgesetzen verschieden offen ausgestaltet, bedarf jedoch zunächst strukturell vergleichbarer Erwägungen und stellt damit eine dem zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutz grundsätzlich vergleichbare Aufgabe dar. Es muss hier allerdings auf eine Abstimmung der Wertungen in den verschiedenen Entscheidungssträngen geachtet werden, da das datenschutzrechtliche Schutzgut der informationellen Selbstbestimmung vielfach mit den verschiedenen anderen Aspekten des Persönlichkeitsrechts verschränkt ist. Dieses Abstimmungserfordernis wird durch die Parallelzuständigkeit bei Bewertungsplattformen besonders augenfällig – begründet wurde es aber bereits durch die Informationsfreiheitsgesetze. V. Fazit Die innovativen Dienste im Internet wie Bewertungsplattformen und Chat-Foren lösen eine Innovationsverantwortung des Staates aus, da sie einen Interessenausgleich mit den Persönlichkeitsrechten der Betroffenen erfordern, der zugleich hinreichend innovationsoffen sein muss, um vorschnelle Festlegungen oder gar Blockaden zu vermeiden. Die überkommenen Regulierungsregime sind jedoch hierfür umso ungeeigneter, je detaillierter sie ausgestaltet und je stärker sie aufeinander abgestimmt sind. Die insofern problematischen Regime des Datenschutz- und Medienrechts müssen deshalb durch konsequente teleologische Interpretation erheblich flexibilisiert und voneinander getrennt werden. Das allgemeine Zivilrecht bietet hingegen einen entwicklungsoffenen Rahmen, der angemessene Lösungen erlaubt. Um in diesem Rahmen eine hinreichende Erwartungssicherheit herzustellen, bedarf es jedoch der Identifikation von Kriterien und steuerungsgeeigneten Parametern auf mittlerer Abstraktionshöhe als Anleitung für den Interessenausgleich im Einzelfall. Für die Flexibilisierung der Regime wie die Entwicklung der Parameter wurden vorangehend Vorschläge gemacht. Die weitere Entwicklung sollte vor allem durch die Zivilgerichte und nicht eigene Cyber-Courts vorangetrieben werden.
81
Vgl. statt aller Friedrich Schoch, IFG, 2009, § 5 Rn. 31.
Virtuelle Welten als Innovationsräume Am Beispiel von Rechtsfragen der Repräsentation Von Wolfgang Schulz I.
Virtuelle Welten als Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
II.
Magic Circle als Leitmetapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
III. Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 IV. Rechtliche Beschreibung der Relation Nutzer – Avatar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 V.
Brauchen wir eine „digitale Person“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
VI. Beispiele: Rechtsfragen der virtuellen Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 1. Lockerung der Repräsentationsbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 2. Avatarbeleidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 3. Virtuelle Welten als Muster für kontext- und milieuorientierte Persönlichkeitsrechtskonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 4. Virtuelle Industriespionage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 VII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
I. Virtuelle Welten als Gegenstand Der Begriff der Virtualität ist etwas aus der Mode gekommen, um Erscheinungsformen netzbasierter Kommunikation zu beschreiben, obgleich er durchaus auf relevante Differenzen verweist. Virtualität ist – der wohl verbreitetsten Definition zufolge – die Eigenschaft einer Sache, nicht in der Form zu existieren, in der sie zu existieren scheint, aber in ihrem Wesen oder ihrer Wirkung einer in dieser Form existierenden Sache zu gleichen.1 Eine virtuelle Sache ist zwar nicht physisch existent, kann aber Wirkungen oder Funktionalitäten der physisch existierenden Sache haben, sodass sich die Rückführung des Begriffs auf das lateinische „virtus“ erklärt. Im Bereich digitaler Medien wird der Begriff derzeit vor allem für zwei unterschiedliche Typen von synthetischen Welten2 verwandt, zum einen die ComputerGerhard Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 8. Aufl. 2008, S. 1352. Den Begriff der synthetischen Welt bevorzugt der amerikanische Ökonom Edward Castronova, „Synthetic Worlds: The Business and Culture of Online Games“, 2005. 1 2
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spiele und zum anderen Plattformen, die nach dem Muster des mittlerweile aus der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend verschwundenen „Second Life“ graphisch Teile der „realen“ Welt nachbilden. Ich möchte beide nicht positiv definieren, aber auf den signifikanten Unterschied verweisen, der von vielen als ein Definitionsmerkmal von Spielen angesehen wird, nämlich die Selbstzweckhaftigkeit der Spielaktivität sowie die Beachtung gemeinsamer Regeln, die alle Spielenden teilen. Gemeinsam ist beiden eine gewisse Persistenz und dass mehr gegeben ist, als die Beziehung der Nutzer zueinander, „eine Welt“, was Abgrenzungen zu sozialen Netzwerken ermöglicht. Auch ein Spiel, das der Nutzer nur gegen sich selbst spielt, kann ein Innovationsraum sein, Fragen des Rechts und fiktionaler oder realer Freiheit stellen sich aber, wenn mit Dritten interagiert wird; darum soll es hier gehen.
II. Magic Circle als Leitmetapher Charakteristisch für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit virtuellen Welten ist, dass sich die Untersuchungen an der Differenz von physischer Welt und virtueller Welt abarbeiten. In der Diskussion, gerade um Computerspiele, hat sich der Begriff des „Magic Circle“ als Begrenzung des Virtuellen eingebürgert, der in diesem Fall nicht die fünf besten Londoner Rechtsanwaltskanzleien und auch nicht die britische Gewerkschaft für Zauberer bezeichnet. Die Konzeption des „Magic Circle“ geht auf Johan Huizinga zurück, der in Homo Ludens ausführt: „The arena, the card-table, the magic circle, the temple, the stage, the screen, the tennis court, the court of justice etc. are all in form and function play-grounds, i.e. forbidden spots, isolated, hatched around, hollowed, within which special rules obtain. All are temporary worlds within the ordinary world, dedicated to the performance of an act apart.“3 Die Diskussion um ein angemessenes Verständnis von Spiel und Umwelt im Onlinebereich nahm dies auf und konstruierte die Probleme der Games-Welt entlang der Differenz von Spiele-Welt und Realität.4 In der Rezeption von Huizinga wird differenziert: Nur soweit es um die Regeln geht, soll grundsätzlich zwischen offenen und geschlossenen Spielewelten unterschieden werden können, was das Spielen an sich („play“) angeht, ist es offen und geschlossen, in kultureller Dimension immer offen, es ist Teil der „realen“ Kultur.5 In der Folgediskussion wird nicht nur die wechselseitig ausschließende Funktion des „Magic Circle“ um synthetische Welten herum thematisiert, sondern vielmehr Johan Huizinga, Homo Ludens: A Study of the Play-Element in Culture, 1955, S. 10. Katie Salen / Eric Zimmerman, Rules of Play: Game Design Fundamentals, 2003. 5 Salen / Zimmerman, Rules (Fn. 4), S. 96 ff.; vgl. dazu Darryl Woodford, Abandoning the Magic Circle, http:// www.dpwoodford.net/Papers/MCSeminar.pdf, zuletzt abgerufen am: 15. 06. 2010. 3 4
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deutlich, dass es sich wesensmäßig eher um eine permeable Membran handelt. Das Interesse wird mehr auf die Beziehungen und wechselseitigen Rückwirkungen zwischen virtueller Welt und realer Welt fokussiert. Mittlerweile existiert eine ausgedehnte Forschung über die Transferebenen zwischen virtuellen Welten und Realität.6 Es streiten mehrere Konzepte um Vorrang, was die Definition der Grenze zwischen Spiel und Realität angeht, wobei etwa an die Interpretationsschema von Goffmann7 angeknüpft wird. Auf der Ebene der grundsätzlichen rechtlichen Beschreibung der Grenze zwischen Virtualität und physischer Realität ist allerdings auch ein Argumentationsmuster denkbar, das den „Magic Circle“ als undurchlässige Grenze definiert. Beispiel dafür ist der § 762 Abs. 1 BGB, der bekanntlich normiert, dass durch Spiel oder Wette eine Verbindlichkeit nicht begründet wird.8 Damit wird die Welt innerhalb des „Magic Circles“ von Spiel und Wette als normativ irrelevant normiert. Der Begriff des Spiels wird hier eng definiert und erfasst nach wohl herrschender Auffassung nur solche Vereinbarungen, deren Erfolg mehr oder weniger vom Zufall abhängt – hier wird der schöne Begriff der „Glücksverträge“9 verwandt – so dass die überwiegende Zahl der Computerspiele und erst recht die offenen virtuellen Welten nicht unter § 762 BGB fallen – anders als möglicherweise das eine oder andere Finanzmarktgeschäft. 10 Der Gedanke, der hinter der Norm steht, die fehlende rechtliche Schutzwürdigkeit entsprechender Vereinbarungen, könnte allerdings durchaus auch zu anderen „Magic Circles“ passen. Dennoch wird eine rechtliche Beschreibung, die eine solche grundsätzliche Ausgrenzung virtueller Welten vollzieht, den Interessenlagen nicht gerecht werden. Der Grund dafür ist, dass Personen über ihre Repräsentanten in der virtuellen Welt in vielseitiger Weise interagieren und die Rechtssphären in der realen Welt entsprechend vielfältig betroffen sein können, so dass die Membran hier an vielen Stellen so durchlässig erscheint, dass das Recht mit der Annahme getrennter Welten keine problemadäquate Beschreibung zur Verfügung stellen würde.
6 Vgl. etwa die Beiträge in Jack Balkin / Beth Noveck, The State of Play: Law, Games, and Virtual Worlds (Ex Machina: Law, Technology, and Society), 2006, S. 305 ff. 7 Ervin Goffmann, Frame analysis: An essay on the organization of experience, 1974. 8 Dazu allgemein Hartwig Sprau, in: Palandt, Otto (Begr.), BGB, 69. Aufl. 2010, § 762, Rn. 5; Oliver Kessler / Klaudius Heda, Wahrnehmung von Chancen als Glücksspiel, WM 2004, S. 1812; Hans Weimar, Rechtsfragen zu Spiel und Wette, MDR 1975, S. 203. 9 Norbert Engel, in: Staudinger, Julius v. (Begr.), BGB, §§ 741 – 764 (Gemeinschaft, Leibrente, Spiel), Neubearb. 2008, § 762 Rn. 1. 10 Zu Letzterem Peter Mülbert / Jörg Böhmer, Ereignisbezogene Finanzprodukte. Zivil-, Kapitalmarkt-, Wertpapier-, Straf- und Öffentliches Recht, WM 2006, S. 937 ff. und S. 985 ff.
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III. Repräsentation Aus diesem Grunde ist es hilfreich, sich dem Thema der Repräsentation in virtuellen Welten und den damit verbundenen Rechtsfragen zuzuwenden. Die Trennung von physischer Welt und virtueller Welt bringt es mit sich, dass ein Agieren innerhalb der virtuellen Welt eine Repräsentation des Nutzers voraussetzt. Soweit die virtuelle Welt sich abgrenzt – also ein „Magic Circle“ der synthetischen Welt existiert – bedarf es einer Gegenwart des abwesenden Menschen, also einer Repräsentation im klassischen Sinne.11 Damit landet die Betrachtung beim Avatar als virtueller Zeichen-Körper einer Person in Online-Welten. In der Semiotik geht man davon aus, dass die Avatare als Zeichen-Körper strukturelle Analogien zu Sprachzeichen aufweisen und schon im ersten Zugriff liegt es nahe, die Repräsentation eines Menschen in einer Online-Welt mit seinem Namen oder einem Familienwappen zu vergleichen, wobei diese Analogie schon Störungen des Verhältnisses zwischen Nutzer und Avatar anklingen lässt, etwa was Verwechslungen, Namensanmaßungen Dritter oder Nutzung von Pseudonymen angeht. Die Strukturähnlichkeit zu Sprachzeichen verweist darauf, die spätestens seit De Saussure12 in der Symbiotik etablierte Dreiecksbeziehung von Bezeichnendem, Bezeichnetem und der Bedeutung des Zeichens im Blick zu behalten und nicht eine naive Zuordnung von Avatar-Zeichen und Nutzer der Betrachtung zugrunde zu legen. Der Begriff des „Avatars“13 spielt bereits mit der Differenz von Verkörperung und Körperlosigkeit, in dem er die Inkarnation des hinduistischen Gottes Ishwara bezeichnet, der im philosophischen Konzept für Logos steht und sich immer dann manifestiert, wenn in der physischen Realität Unrecht und Böses Oberhand gewinnen. Der ludische Avatar ist demgegenüber die virtuelle Manifestation des realen Menschen in einer virtuellen Welt. Das Materialitätsverhältnis von Zeichen, Form und Bedeutung dreht sich also gegenüber dem hinduistischen Vorbild um. Es lassen sich im Hinblick auf die Typen von Repräsentationen ganz unterschiedliche Differenzen vornehmen, eine Graduierung kann im Hinblick auf die 11 Eckart Scheerer, in: Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried / Gabriel, Gottfried (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 1992, S. 790; Alexander Thumfahrt, in: Gosepath, Stefan / Hinsch, Wilfried / Rössler, Beate (Hrsg.), Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Bd. 2, 2008, S. 1113. 12 Mela Kocher, Autonome Avatare – Hybris virtueller Zeichen-Körper?, in: Nöth, Winfried / Hertling, Anke (Hrsg.), Körper – Verkörperung – Entkörperung, 2005, S. 319 ff. 13 Kocher, Avatare (Fn. 12), verweist auf die unterschiedlichen Erklärungen zur Begriffsgeschichte: Einerseits soll das Wort Avatar 1985 von Chip Morningstar für die Repräsentation des Menschen in der virtuellen Umgebung ,Habitat‘ benutzt worden sein; Konrad Lischka, Spielplatz Computer. Kultur, Geschichte und Ästhetik des Computerspiels, 2002, S. 110 ff.; eine andere Deutung ist laut Kocher (ebda.), dass der Begriff bereits 1980 vom Militär verwendet wurde: „Der Begriff Avatar wurde 1980 in den Computerbereich übertragen, als Programmierer des US-Militärs nach einer Bezeichnung für menschliche Artefakte in ihren Simulationsspielen suchten.“
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Bindung zwischen dem bezeichnenden Avatar und dem bezeichneten User liegen. Eine hohe Bindung existiert bei „klassischen“ Avataren, die wiederum differenziert werden können in textbasierte Avatare wie etwa Log-In-Namen oder Chat-Namen oder dem Mitgliedsnamen bei eBay sowie solchen, die auch in ihrer Gestalt repräsentative Funktion haben, etwa Spielfiguren in Computerspielen (die auch eine optische Referenz zum Spieler haben können, aber nicht müssen). Schon loser ist die Kopplung zum Nutzer bei Software-Agenten wie etwa Bots, die im Auftrag des Nutzers Informationen suchen und aggregieren und ein gewisses „Eigenleben“ im Netz entwickeln können. Noch weiter von einem konkreten Nutzer entfernt sind autonome Avatare oder Viotare, die als vom User mehr oder minder unabhängige Lebensformen im Netz agieren können – als ein solcher autonomer Avatar erschien jedenfalls zu Anfang Neo in dem Film „The Matrix“; heute kann man im Spiel SIMS 3 Avatare schöpfen und allein lassen, die von sich aus zur Arbeit gehen und einkaufen und jedenfalls teilautonom erscheinen (leider ist das virtuelle Off-Shore-Grading von juristischen Seminararbeiten noch nicht vorgesehen).14 Die Erkenntnis, dass auch so etwas Triviales wie ein Log-In-Name ein Avatar im Sinne einer virtuellen Repräsentation darstellt, macht deutlich, dass auch jenseits netzbasierter Hypes, die kommen und verschwinden, die Problematik der Repräsentation im Netz hoch bedeutsam sein kann, etwa, wenn man an seinen Account bei eBay oder vergleichbaren Plattformen denkt, der für den Nutzer Reputation speichern kann, die einen wirtschaftlichen Wert darstellt.
IV. Rechtliche Beschreibung der Relation Nutzer – Avatar Rechtliche Beschreibung der Relation Nutzer-Avatar in oben verstandenem Sinne können ganz unterschiedliche Aspekte betreffen, die dann auf verschiedene Rechtsregime verweisen. Zum einen ist die Beziehung Schöpfer-Geschöpf eine relevante Dimension, die naheliegender Weise auf das Urheberrecht und auch Urheberpersönlichkeitsrechte verweist. Ist die nach § 2 Abs. 1 UrhG erforderliche Schöpfungshöhe und eigenschöpferische Qualität15 der Avatargestaltung gegeben, so sind die Regelungen des Urheberrechts anwendbar. All dies geschieht allerdings im faktischen (Softwaredesign [„Code“]) und rechtlichen Rahmen, den der Inhaber der Plattform definiert. Die Einordnung von in virtuellen Welten „geschaffenen Objekten“ ist noch um14 Illustrativ Gernot Gricksch, Die Sims 3 – Wie Heidelinde die Liebe fürs Leben fand, http:// www.spiegel.de/netzwelt/games/0,1518,643422,00.html, zuletzt abgerufen am: 15. 06. 2010. 15 Allgemein Ulrich Loewenheim, in: Schricker, Gerhard (Hrsg.), UrhG, 3. Aufl. 2006, § 2 Rn. 8 ff.; Hartwig Ahlberg, in: Nicolini, Käte / Ahlberg, Hartwig (Hrsg.), UrhG, 2. Aufl. 2000, § 2 Rn. 44.
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stritten16, dass ein Werk vorliegen kann, jedenfalls wenn die Software dem Nutzer genügend kreative Spielräume belässt, wird man nicht sinnvoll bestreiten können. Diese Dimension ist ganz unabhängig von der Beziehung des Nutzers zum Avatar als eine für ihn agierenden – und ihm gegebenenfalls (nicht zwingend) ähnlich sehenden – Repräsentation. Die letztgenannte Funktion ist mit der des Namens strukturähnlich, möglicherweise kann der Avatar sogar als ein Name im Sinne von § 12 BGB angesehen werden. Die herrschende Lehre sieht den Begriff des Namens im Sinne des BGB allerdings sehr traditionell als eine Buchstabenfolge an, so dass von den oben genannten eigentlich nur der zeichenbasierte Avatar als Name in Betracht kommt.17 Bei diesem wird es im Hinblick auf die NamensEigenschaft darauf ankommen, inwieweit der Nutzungskontext in der virtuellen Realität als hinreichend anerkannt wird, um im Sinne des Namensrechts von einer namensmäßigen Führung auszugehen. Auch Pseudonyme, soweit der Benutzer darunter im Verkehr bekannt ist, sind Namen.18 Unter den Schutz des § 12 BGB fallen auch Spitznamen einer Person, wenn zwischen dem Spitznamen und der so bezeichneten Person ein Zuordnungszusammenhang besteht. Das Schutzrecht entsteht mit der Ingebrauchnahme, es bedarf keiner Verkehrsgeltung.19 Hier wird es auf die Frage ankommen, ab wann der Zuordnungszusammenhang besteht. Tendenzen in der Rechtsprechung verweisen darauf, dass in bestimmten Fällen, etwa bei Vereinssymbolen, ein Name auch dann vorliegen kann, wenn keine Buchstabenfolge vorliegt, sondern eine namensmäßig verwendete bildliche Darstellung. Schließlich ist als eine Beziehung zwischen User und Avatar die Referenz zur Persönlichkeit des Users relevant. Dies kann etwa durch den Bildnischarakter des Avatar gegeben sein, so dass durch § 22 KUG eine absolute Verfügungsberechtigung des abgebildeten Users entsteht, die lediglich durch die engen Ausnahmen des § 23 Abs. 1 KUG beschränkt wird.20 Insofern besteht keine Besonderheit, es handelt sich in diesen Fällen schlicht um digitale Bildnisse des Nutzers, wenn auch 16 Das LG Köln ging nicht von einer hinreichenden eigenpersönlichen Schöpfung gemäß § 2 Abs. 2 UrhG aus. Vielmehr sind die insoweit zu erbringenden Leistungen im eher handwerklich-technischen Bereich anzusiedeln, insbesondere im Umgang mit den grundlegenden Bearbeitungsfunktionen eines Bildbearbeitungsprogramms – vgl. LG Köln, Urteil vom 21. April 2008, Az. 28 O 124 / 08 (Der virtuelle Kölner Dom) – ZUM 2008, 533; vgl. dazu die Anmerkung von Thomas Büchner, Die urheberrechtliche Schutzfähigkeit virtueller Güter, K&R 2008, S. 425. 17 Jürgen Ellenberger, in: Palandt, BGB (Fn. 8), § 12 Rn. 1. 18 BGHZ 155, 277. 19 Karl-Heinz Fezer, Markenrecht, 4. Aufl. 2009, § 12 BGB Rn. 62; der Spitzname ist in Gebrauch genommen, sobald der Namensträger ihn aufgreift und ihn namens- oder kennzeichenmäßig verwendet (OLG Hamburg, Urteil v. 05. 07. 2001, Az. 3 U 70 / 01[„Quick Nick“] – GRUR 2002, 450 (451); so auch das LG Berlin, MD 2006, 353). 20 Überblick zur aktuellen Rechtslage beim Bildnisschutz vgl. Lars Kröner, in: Paschke, Marjan / Berlit, Wolfgang / Meyer, Claus (Hrsg.), Hamburger Kommentar – Gesamtes Medienrecht, 2008, Rn. 34 / 73 ff.
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nur für eine kleine Gruppe21 eine Erkennbarkeit gegeben ist, also das Bildnis eine Repräsentation darstellt. Auch eine Referenz zu anderen Persönlichkeitsmerkmalen wie etwa der Stimme kann gegeben sein, auch Verhaltensweisen oder das Lebensbild eines Betroffenen kann sich – ähnlich wie bei einer Comic-Figur – in einem Avatar niederschlagen.22
V. Brauchen wir eine „digitale Person“? Die Dissoziation zwischen dem Nutzer und den Avatar kann soweit gehen, dass sich die Frage stellt, ob nicht der Repräsentant selbst Träger von Rechten und Pflichten sein sollte. Diese auf den ersten Blick absurd anmutende Überlegung wird vertrauter, wenn man sich vergegenwärtigt, dass eine solche Dopplung der Rechtssubjekte im Wirtschaftsleben bereits selbstverständlich ist. Rechtsgeschäfte im wirtschaftlichen Bereich können den Unternehmer als natürliche Person berechtigen oder verpflichten, sie können aber auch das Unternehmen als juristische Person betreffen.23 Hier liegt schon eine gepaltene Identität vor. Damit stellt sich die Frage, ob die Überlegungen, die zum Rechtsinstitut der juristischen Person – im Grunde auch an Virtuelles anknüpfend – geführt haben, auch dafür streiten können, eine „digitale Person“ anzuerkennen. Der Streit von Savigny und von Gierke über den fiktiven oder realen Charakter der juristischen Person ist heute einer rein positivistischen Auffassung gewichen, die an der gesetzlichen Anerkennung anknüpft, die wiederum schlicht auf der Nützlichkeit einer solchen zusätzlichen Rechtsperson basiert. Derzeit lassen sich allerdings meines Erachtens alle rechtlichen Fragen, die durch eine Differenz von Repräsentant und Repräsentation entstehen, über ihre Auswirkungen auf die natürliche Person sachgerecht abarbeiten, so dass jedenfalls derzeit kein Bedürfnis nach Anerkennung einer „digitalen Person“ besteht. Sollte sich unsere Realität aber immer weiter ins Virtuelle verlängern, ist keineswegs ausgeschlossen, dass sich diese Bewertung ändert und digitale Personen als Anknüpfungspunkte für Rechte und Pflichten jedenfalls als Möglichkeit in den Blick treten. Dass derartige Entscheidungen sehr folgenreich sind, zeigt die rechtliche Debatte und wechselhafte Rechtsprechung des US Supreme Court seit der berühmten Entscheidung Santa Clara County v. Southern Pacific Railroad Company (118 U.S. 394, 6 S. Ct. 1132, 30 L. Ed. 118.) zu Unternehmen als Personen im Sinne der Prozessgarantie, der „due process clause“ des 14th Amendment der Amerikani21 Dies genügt für die Annahme eines Bildnisses, vgl. BGH, Urteil v. 26. 06. 1979, Az. VI ZR 108778 – GRUR 1979, 732 (733); Kröner, in: Paschke / Berlit / Meyer, HK Medienrecht (Fn. 20), 34. Abschnitt Rn. 34 / 13. 22 Zum Schutz des Persönlichkeitsbildes vgl. Kröner, in: Paschke / Berlit / Meyer, HK Medienrecht (Fn. 20), 34. Abschnitt 34 / 13. 23 Zum Konzept der juristischen Person Udo Di Fabio, in: Maunz, Theodor / Dürig, Günter (Begr.), GG, 56. Aufl. 2009, Art. 2 Rn. 224 f.
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schen Verfassung. Die Entscheidung gilt als Geburtsstunde der juristischen Person in den USA, auch wenn das Gericht sich explizit zu der Frage nicht äußert. Die Diskussion um die dadurch verstärkte gesellschaftliche Macht von Unternehmen hat sich nach der Finanzkrise sogar wieder belebt.24
VI. Beispiele: Rechtsfragen der virtuellen Repräsentation Im Folgenden sollen beispielhaft einige Rechtsfragen erörtert werden, die sich durch das Agieren mit virtuellen Repräsentanten ergeben können und belegen, dass sich die damit verbundenen Probleme tatsächlich ohne Konstruktion digitaler Personen lösen lassen. 1. Lockerung der Repräsentationsbeziehung Die Grundkonstellation, mit der es sich zu beschäftigen gilt, ist die von zwei realen Personen mit zwei virtuellen Repräsentanten und den in diesem Viereck möglichen Interaktionsbeziehungen. Eine relevante „Störung“ des Grundmusters ist die Lockerung der Repräsentationsbeziehung durch den betreffenden Nutzer selbst, indem er etwa seinen Avatar so gestaltet, dass er sich auf die repräsentierte Person nicht rückführen lässt, jedenfalls nicht von den anderen Nutzern der virtuellen Welt, die über ihre Avatare mit dem Avatar des Betreffenden interagieren. Diese Konstellation unterscheidet sich zunächst einmal nicht grundsätzlich von Agieren unter den Bedingungen der Anonymität oder unter Nutzung eines Pseudonyms in der realen Welt. Der faktische Unterschied besteht darin, dass Vielen eine derart anonyme oder pseudonyme Nutzung geradezu als dem Wesen des Internet immanent erscheint25 und in der Tat jedenfalls bei Jugendlichen das Ausprobieren „anderer Identitäten“ durchaus zum üblichen Umgang mit dem Internet gehört. Dieses Phänomen wird zwar in der öffentlichen Diskussion eher überschätzt, da für Jugendliche die authentische Selbstpräsentation ein wichtiges Leitbild und kommunikative Erwartung bei der Internetnutzung ist. Einer repräsentativen Studie zufolge sind es am ehesten noch die Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren, die fasziniert von den Möglichkeiten der Plattformen mit diesen herumexperimentieren und dann auch mit Fakeprofilen arbeiten.26 Verfassungsrechtlich ist dazu zunächst zu bemerken, dass – das hat der BGH in seiner ansonsten durchaus zu Recht umstrittenen Entscheidung zu spickmich.de 24 Zur Geschichte der Juristischen Person in den USA vgl. Steven Gerencser, The Corporate Person and Democratic Politics, Political Research Quarterly 58 (2005), S. 625 ff. 25 OLG Köln, Urteil v. 03. 07. 2008, Az. 15 U 43 / 08 – MMR 2008, 672 (674). 26 Uwe Hasebrink / Wiebke Rohde, Die Social Web-Nutzung Jugendlicher und junger Erwachsener: Nutzungsmuster, Vorlieben und Einstellungen, in: Schmidt, Jan-Hinrik / Paus-Hasebrink, Ingrid / Hasebrink, Uwe (Hrsg.), Heranwachsen mit dem Social Web, 2009, S. 83 ff.
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noch einmal betont – Kommunikation ihren Schutz durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht dadurch verliert, dass sie anonym erfolgt.27 Dies heißt auf der anderen Seite nicht, dass nicht im Rahmen der Abwägung mit anderen Rechtsgütern bedeutsam sein kann, ob „mit offenem Visier“ argumentiert wird oder nicht – man entsinne sich an strukturähnliche Diskussionen über das physische Vermummungsverbot.28 Interessanter ist, dass mit einer Verschleierung der Beziehung zwischen Repräsentiertem und Repräsentanten Risiken für die anderen Nutzer einhergehen, jedenfalls was die Durchsetzung von Ansprüchen angeht, sollte es vermittelt durch den Avatar zu Rechtsverletzungen Dritter kommen.29 Hier geht es nicht nur – vielleicht nicht einmal zuvorderst – um die Frage, inwieweit der Zwang, die Repräsentationsbeziehung offen zu legen, subjektiv die Kommunikationsfreiheit des Betreffenden beeinträchtigt. Vielmehr wird ganz im Sinne der Lehre des Bundesverfassungsgerichts – Stichwort „chilling effect“ – von der Verstärkung subjektiver Rechte durch objektive Komponenten30 zu prüfen sein, inwieweit bestimmte Formen der Kommunikation von vornherein unterbleiben, wenn eine solche Offenlegung erzwungen wird und im Ergebnis so bestimmte Kommunikationsoptionen, die das Internet bietet, nicht erschlossen werden.31 Damit würde auch das Innovationspotenzial, das virtuellen Welten innewohnt, nicht ausgeschöpft. Staatliche Einflussnahmen auf diese Repräsentationsbeziehungen sind allerdings nicht nur im Hinblick darauf zu prüfen, inwieweit sie objektive und subjektive Gewährleistungsgehalte des Art. 5 Abs. 1 GG tangieren. Auch unterschiedliche Gewährleistungsgehalte von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG sind relevant. Das „Austesten von Persönlichkeitsentwürfen“ berührt das Selbstdarstellungsrecht der Person, allerdings ist auch – bei Kindern und Jugendlichen – das „Recht auf Person werden“32 und bei Erwachsenen das „Recht auf Person sein“33 27 BGHZ 181, 328 ff.; vgl. dazu die Anmerkung von Anna-Bettina Kaiser, Bewertungsportale im Internet – Die spickmich-Entscheidung des BGH, NVwZ 2009, S. 1474 ff. 28 Sieghart Ott / Hartmut Wächtler, VersG, 6. Aufl. 1996, § 17a Rn. 1 f.; Hartmut Brenneisen / Michael Wilksen, Versammlungsrecht, 3. Aufl. 2007, S. 177. 29 Mit dem Thema, inwieweit die Informationspflichten (derzeit etwa durch § 5 TMG und § 55 RStV), die dem begegnen sollen, verfassungsrechtlich begründen lassen, setzt sich das vom Verfasser betreute Dissertationsvorhaben von S. Heilmann auseinander. 30 Dies nimmt das BVerfG bekanntlich bei privatrechtlichen Ansprüchen und strafrechtlichen Sanktionen an, so dass Gerichte die Bedeutung der Meinungsfreiheit verkennen, wenn sie etwa Schadenersatzansprüche anerkennen, wenn eine Äußerung auch eine Deutung zulässt, bei der der Anspruch nicht gegeben wäre (vgl. zur sog. Variantenlehre Wolfgang Schulz, in: Paschke / Berlit / Meyer, HK Medienrecht (Fn. 20), Rn. 5 / 61. 31 Vgl. zum Beispiel Rikke Jorgensen, Internet and Freedom of Expression, http:// www. ifla.org/files/faife/publications/ife03.pdf, zuletzt abgerufen am: 15. 06. 2010. 32 Peter Badura, in: Maunz / Dürig, GG (Fn. 23), Art. 6 Rn. 135; BVerfGE 24, 119 (144). 33 Vgl. allgemein Di Fabio, in: Maunz / Dürig, GG (Fn. 23), Art. 2 Rn. 147 ff.
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relevant, da es nicht nur um die Frage einer angemessenen Mitbestimmung bei der Fremdwahrnehmung der eigenen Person geht, sondern um die Konstitution der eigenen Persönlichkeit, die sich durch die Möglichkeit unterschiedlicher „Identitäten“ ständig neu konstruiert. Davon abgesehen ist man bei den üblichen Fragen des Datenschutzes im Internet34 und der immer noch nicht befriedigend gelösten Problematik von ProviderHaftungen und Auskunftsansprüchen35, die allerdings nicht spezifisch für virtuelle Welten sind und hier nicht weiter vertieft werden müssen.
2. Avatarbeleidigung Um weiter bei der Frage des Persönlichkeitsrechts zu bleiben, bietet der Bereich virtueller Welten auch ein gutes Testfeld zur Schärfung von Begriffen und Abwägungstopoi, etwa, wenn es um den Bereich des Persönlichkeitsrechts geht. Es ist denkbar – und in den USA schon vor einigen Jahren rechtsstreitig geworden – dass zwischen Avataren Kommunikation stattfindet, die – würde sie zwischen natürlichen Personen erfolgen – als Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts der einen Person zu werten wäre. Nun hatten wir oben festgestellt, dass Avatare derzeit nicht selber Rechtsträger sind und daher eine „Avatarbeleidigung“ gemeint als Beeinträchtigung der Rechte des Avatars selbst nicht in Betracht kommt, wohl aber ist eine Beleidigung oder Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der repräsentierten Person über seinen Avatar möglich.36 Betrachtet man die virtuelle Welt nur als Kommunikationsmedium, über das sich reale Personen beleidigen oder in ihren Persönlichkeitsrechten beeinträchtigen können, so bricht die Besonderheit der Situation weitgehend zusammen, allerdings nicht vollständig. Denn eine adäquate Deutung der getätigten Äußerungen setzt voraus, dass der Kontext der Kommunikation in Rechnung gestellt wird. Hier können nun wiederum „Störungen“ der normalen Repräsentationsbeziehung relevant werden. Wie etwa ist zu entscheiden, wenn eine weiße Person sich einen Avatar mit schwarzer Hautfarbe wählt, der in der virtuellen Welt von einem anderen als „Nigger“ beschimpft wird. Hier kommen Kommunikationsirrtümer ins Spiel, die in der realen Welt typischerweise nicht auftreten können. Ein viel diskutiertes anderes Beispiel ist der Avatar Anshe Chung der realen Person Ailin Gräf, die in Second Life eine eigene Reputation und Vermögen aufbaute 34 Aktueller Überblick bei Niko Härting, Datenschutz im Internet – Gesetzgeberischer Handlungsbedarf, BB 2010, S. 839 ff. 35 Aktueller Überblick bei Christian Volkmann, Voraussetzungen der Haftung von Internet-Providern, CR 2008 S. 232. 36 Überblick bei Wolfgang Schulz / Stefan Heilmann, Reales Recht und virtuelle Welten, 2009, S. 26 ff.
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und offenbar wegen des Vorlebens der Online-Persönlichkeit bei einem Interview obszön gestört wurde.37 Hier ging es offenbar allein um einen In-World Streit. Das Bundesverfassungsgericht nimmt als Ausgangspunkt für die Prüfung, ob eine Äußerung Rechtsgüter verletzt, die Ermittlung ihres objektiven Sinns.38 Weder die subjektive Absicht des Äußernden noch das Verständnis der von der Äußerung Betroffenen ist relevant, sondern das des unvoreingenommenen, verständigen Publikums. Der Wortlaut ist dabei entscheidend, legt den Sinn aber nicht abschließend fest. Es kommt auf den sprachlichen Kontext und die Begleitumstände an, soweit diese für die Empfänger erkennbar sind. Letzteres ist für den Kontext virtueller Welten anzunehmen.39 In dem eben genannten Beispiel wäre zu prüfen, ob durch die Begriffswahl, die auf rassistischen Sprachgebrauch zurückgreift, für die Zuhörer – etwa die anderen beteiligten Nutzer der virtuellen Welt – eine Verachtung des Betreffenden zum Ausdruck gebracht wird, die seine persönliche Ehre verletzt. Die Antwort auf diese Frage ist nicht trivial, denn es geht nicht darum, die durch die Äußerungen und die Wortwahl zum Ausdruck kommende rassistische Gesinnung zu pönalisieren, sondern um die konkrete Verächtlichmachung einer Person. Insofern wird es auf den Kontext ankommen. Sofern es Anhaltspunkte dafür gibt, dass gerade gezielt der Betreffende Nutzer über die Vokabel z. B. wegen seines Verhaltens verächtlich gemacht werden sollte, wird er in seiner Ehre betroffen sein. Nimmt dagegen ein rassistisch gesinnter Nutzer lediglich den Anblick eines mit schwarzer Haut-Textur versehen Avatars zum Anlass, seine rassistischen Gesinnung Ausdruck zu geben, wird man nicht von einer Beleidigung ausgehen können. Ob hier ein Fall von Volksverhetzung oder Ähnliches gegeben ist, soll hier außer Betracht bleiben, da es mir nur um die Frage von Repräsentationen in virtuellen Welten geht. 3. Virtuelle Welten als Muster für kontext- und milieuorientierte Persönlichkeitsrechtskonstruktion Insgesamt wird man bei der Auslegung und Bewertung von Äußerungen in virtuellen Welten auch insoweit kontextspezifische Maßstäbe anlegen müssen, als sich bestimmte Erwartungen im Hinblick auf den Umgang miteinander, bestimmte soziale Regeln in virtuellen Welten ausprägen können, die sich untereinander und auch von den realen Welten durchaus unterscheiden können. Für unterschiedliche Milieus, kommunikative Kontexte und so weiter ist gefordert worden und in der 37 Zu dem Fall siehe http:// www.spiegel.de/spiegel/print/d-50578155.html, zuletzt abgerufen am 16. 06. 2010. 38 BVerfGE 93, 266 (295). 39 Zur kontextbezogenen Bewertung und ihrer zunehmenden Bedeutung in der Rechtsprechung schon Karl-Heinz Ladeur, Meinungsfreiheit, Ehrenschutz und die Veränderung der Öffentlichkeit in der Massendemokratie, AfP 1993, S. 531.
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Rechtsprechung auch bereits zu beobachten, dass sich eine differenzierte Betrachtungsweise herauskristallisiert. Vor allem Ladeur40 und Vesting41 haben zu recht kritisiert, dass die Rechtsprechung sich bei der Konkretisierung von Geltungsansprüchen und bei der konkreten Abwägung dieser Ansprüche mit Kommunikationsgrundrechten immer noch nicht differenziert genug auf die Veränderung der Kommunikationssphären, aber auch der Fragmentierung des Subjekts einlassen. Dabei werden auch den Kommunikationsmedien immanente Reaktionsmöglichkeiten noch nicht angemessen einbezogen. Virtuelle Welten können hier als Musterfall gelten, da ein Nutzer sich hier über einen Avatar gerade über eine bestimmte Facette seiner Persönlichkeit definieren kann. Zudem können sich ganz spezifische Umgangsweisen als soziale Normen in bestimmten Welten herausschälen und auch Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, wenn man sich in seinen Rechten verletzt fühlt. So gibt es keineswegs die Sprache im Internet, sondern Online-Gemeinschaften mit dazu entwickelten Sprachvariationen, die z. T. so krass sind, dass man kaum ein reales Milieu finden würde, das so kommuniziert. Wie oben gesehen, zeichnen sich Spiele sogar gerade durch die anerkannten Regeln aus, so dass sie ggf. sogar explizit vorliegen. Das Recht muss hier jedenfalls von Welt zu Welt und innerhalb derselben differenzieren. Wer sich in Second Life in einen Rotlichtbezirk teleportieren lässt, wird es nicht sofort als Angriff auf seine Sexualehre begreifen dürfen, wenn ihm unsittliche Angebote gemacht werden.
4. Virtuelle Industriespionage Es wären noch viele weitere Konstellationen bis hin zum Identity Theft42 zu erörtern. Mit einer eher skurrilen Beobachtung möchte ich aber schließen: In einer Diskussion über virtuelle Welten stößt man auf den Fall der Spionage durch eine „spybot“-Pflanze43, die man in seinem virtuellen Laden aufstellen kann und die dann alles mitschneidet, was im Laden erzählt wird (mittlerweile ist die Pflanze „ausgestorben“). Hier sind so viele Rechtsfragen angesprochen, dass ich dies demnächst in einer Hausarbeit als Fall stellen möchte.
40 Karl-Heinz Ladeur, Meinungsfreiheit, Ehrenschutz und die Veränderung der Öffentlichkeit in der Massendemokratie, AfP 1993, S. 531. 41 Thomas Vesting, Soziale Geltungsansprüche in fragmentierten Öffentlichkeiten, AöR 122 (1997), S. 337. 42 Allgemein vgl. Jay Hoofnagle, Identity Theft: Making the Known Unknowns Known, Harvard Journal of Law and Technology 21 (2007), S. 98 ff. 43 Samuel Warren / Louis Brandeis, Common Law Privacy in a Not So Common World: Prospects for the Tort of Intrusion upon Seclusion in Virtual Worlds, s. http:// virtuallyblind. com/files/reading-room/Tigran_Palyan_Privacy_Virtual_World.pdf, zuletzt abgerufen am 17. 06. 2010.
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VII. Fazit Virtuelle Welten werden von denen, die sie nicht nutzen, in ihrer realen Bedeutung zuweilen überschätzt. Allerdings haben sie jedenfalls das Potential, als Experimentierfeld zu dienen, und zwar auch gerade für Rechtsbegriffe. Erstaunlicherweise führt der Umstand, dass eine Grenze zwischen Realität und Virtualität konstruiert werden muss, dazu, dass Differenzen eindeutiger werden. Dazu gehört die Fragmentierung des Subjekts in verschiedene Repräsentanten ebenso wie die zum Teil sogar expliziten Verhaltensnormen in virtuellen Welten, die als Maßstäbe etwa im Persönlichkeitsrecht eine kontextadäquate Abwägung ermöglichen. Insofern taugen sie sogar als Inkubatoren für rechtliche Innovationen. Und diese Funktion können sie sogar erfüllen, wenn sich praktisch für sie – wie bei Second Life – kaum noch jemand in der breiten Öffentlichkeit interessiert.
Teil V Rückblick
Rückblick auf das Projekt „Recht und Innovation“ Von Wolfgang Hoffmann-Riem I.
Zum Verlauf des Projekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
II. Komplexität der Regelungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 III. Blickrichtungen auf das Innovationsthema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 IV. Vorgehensweisen und Aufmerksamkeitsfelder der rechtswissenschaftlichen Innovationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
I. Zum Verlauf des Projekts Das Forschungsprojekt „Innovationsrecht“ sollte sich anhand ausgewählter Referenzfelder mit der Einwirkung des Rechts, insbesondere des staatlich gesetzten Rechts, auf Innovationsprozesse und deren Ergebnisse befassen, und zwar mit besonderem Blick auf technikgeprägte bzw. technologische Innovationen. Geklärt werden sollte, ob und wie weit das bestehende Recht einen förderlichen oder hemmenden Einfluss auf technologische Innovationen und die darauf bezogenen Prozesse ausübt. Um dies zu erfassen, sollte neben der rechtswissenschaftlichen Kompetenz auch wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Kompetenz herangezogen werden. Ziel des Projekts war es zugleich, auszuloten, wie weit es sinnvoll ist und gelingen kann, die Innovationssensibilität des Rechts zu stärken, ohne dass dadurch andere Ziele vereitelt werden, deren Verfolgung und Schutz Aufgabe der Rechtsordnung ist. Der Gegenstand „Innovation“ wurde für Zwecke des Projekts nicht eigenständig definiert, sondern es sollten solche nachhaltigen (signifikanten) Neuerungen – insbesondere Prozesse und Produkte – als Innovationen behandelt werden, die in dem jeweiligen gesellschaftlichen Problemfeld als solche angesehen werden.1 Kern des Projekts waren nicht „Innovationen im Recht“ – es ging vielmehr um den Einfluss des Rechts auf die Entwicklung von Neuerungen, die in Bereichen außerhalb der Rechtsordnung und Rechtswissenschaft erfolgen und dort als „Innovationen“ an1 Zu unterschiedlichen Innovationsbegriffen s. Jürgen Hauschildt / Sören Salomo, Innovationsmanagement, 5. Aufl. 2010; Torsten J. Gerpott, Strategisches Technologie- und Innovationsmanagement, 2. Aufl. 2005, S. 37 ff.; Johann Welsch, Innovationspolitik. Eine problemorientierte Einführung, 2005, S. 31 f.
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gesehen werden. Recht reagiert allerdings auf Veränderungen in nicht-rechtlichen Bereichen manchmal auch durch Änderungen seiner Gestalt – etwa der Ziele, Strategien, Instrumente und Methoden –, so dass das Projekt auch Gelegenheiten bot, Neuerungen und insbesondere „Innovationen im Recht“ zu beobachten. Die an dem Projekt beteiligten Wissenschaftler rieten in der Auftaktveranstaltung dazu, zunächst ein für den Innovationsbereich allgemein besonders wichtiges Thema herauszugreifen, nämlich das Verhältnis von geistigem Eigentum und Innovation. In der darauf bezogenen Tagung wurden nicht nur die traditionellen Rechtfertigungen des geistigen Eigentums und deren zwischenzeitliche Modifikationen behandelt. Vielmehr wurde auch auf grundsätzliche Infragestellungen eines weitreichenden Schutzes geistigen Eigentums eingegangen, die gerade durch die Entwicklung des Internet und dort insbesondere die Forderung nach größerer Zugänglichkeit, ja der Nutzung dort verfügbaren oder dort entwickelten Wissens als eine Art kollektives Gut, angelehnt an das historische Vorbild der Allmende2, ermöglicht werden könnten. Diese Tagung wurde zum Ausgangspunkt des ersten zum Projekt veröffentlichten Bandes: „Geistiges Eigentum und Innovation“.3 Schon bei der Betrachtung des Innovationsproblems aus der Perspektive des rechtlichen Schutzes von Erfindungen und deren (auch) ökonomischer Verwertung wurde nach Möglichkeiten zu einer Abstützung der Innovationsbereitschaft und der Kreativität der Innovateure gefragt und dies wurde in den Rahmen der Forderung nach einer hinreichenden Sensibilität des Rechts für Innovationsprozesse geordnet; auch wurde nach Wegen erleichterter Ermöglichung von Innovationen gesucht. Kurz: es ging um die Innovationsoffenheit des Rechts. Damit war zugleich das Spezialthema der Förderung von Innovation durch rechtliche Regulierung aufgerufen. Ihr galt der zweite aus dem Projekt hervorgegangene Band: „Innovationsfördernde Regulierung“.4 In der innovationstheoretischen Literatur und bei dem praktischen Umgang mit Innovationen wird Recht weitgehend als eine Art Black Box behandelt,5 ohne genauen Blick auf die Funktionsweise von Recht und dessen Potenzial zu unterschiedlichen rechtlichen Vorgehensweisen, also solchen, die auch Innovationsbe2 Grundlegend dazu Elinor Ostrom, Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt, 1999. Ostrom untersucht allerdings noch geschlossene, wenn auch selbst organisierte Produktionsgemeinschaften, während neue Produktionsmodelle von Wissen, wie Wikipedia, für jedermann offen nutzbar sind, aktiv und passiv. 3 Martin Eifert / Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Geistiges Eigentum und Innovation, 2008. 4 Martin Eifert / Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Innovationsfördernde Regulierung, 2009. 5 Besonders illustrativ dazu die von der OECD geförderte Entwicklung der Analyse und des Vergleichs von National Innovation Systems, s. OECD, Managing National Innovation Systems, 1999. Differenzierter zu National Innovation Systems (allerdings nicht besonders zum Umgang mit Recht) etwa Richard R. Nelson (Hrsg.), National Innovation Systems. A Comparative Analysis, 1993.
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dürfnissen der Gesellschaft gezielt und differenzierend Rechnung tragen oder doch tragen können (könnten). In der innovationstheoretischen Literatur wird Recht vielfach nur als hinderlich oder doch bremsend für Innovationen bewertet.6 Nähere Analysen, welchen sonstigen Zwecken das Recht dient und wie weit es gerechtfertigt ist, die Innovationsermöglichung im Interesse gegenläufiger Interessen zurückzustellen, werden meist nicht oder jedenfalls nicht hinreichend differenzierend vorgenommen. Deshalb galt ein weiterer Schwerpunkt des Projekts der Herausarbeitung der auch für Innovationsprozesse wichtigen rechtlichen Vorgaben, die insbesondere rechtlich schützenswerte Interessen wahren helfen sollen. Dieses Ziel ist im Rahmen des Projekts mit dem Begriff der Innovationsverantwortung gekennzeichnet worden. Zu diesem Themenfeld ist der dritte Band erschienen: „Innovationsverantwortung“.7 Sowohl bei der Behandlung der die Innovationen fördernden als auch andere Rechtsgüter (meist abwägend) ins Spiel bringenden rechtlichen Regulierung wurde auf diverse Referenzfelder verwiesen, in denen der Konflikt zwischen der Innovationsförderung und anderen Interessen offensichtlich ist, wie z. B. der Chemikalienproduktion und -nutzung8, der Nanotechnologie9 u. ä. Die Diskussionen über Referenzfelder verdeutlichten aber auch, dass die bei der Konzeption des Projekts zunächst vorgenommene Beschränkung des Blicks auf technologische Innovationen unnötig verkürzend ist. Technologische Innovationen stehen in engem Wechselverhältnis hinsichtlich ihrer Entstehung und Anwendung mit sozialen Innovationen. Insbesondere bei der Entwicklung sog. sozio-technischer Systeme10 ist die symbiotische Beziehung zwischen beiden Dimensionen unübersehbar. Dem Charakter des Projekts als eines „lernenden“ Projekts erschien es angemessen, die bisher entwickelten Fragen und Befunde noch einmal in einem Gegenstandsbereich zur Prüfung zu stellen, in dem technologische und soziale Innovationen besonders eng miteinander verzahnt sind. Ausgewählt wurde dafür der Bereich der öffentlichen Kommunikation, der die Vielschichtigkeit der Prob6 s. dazu schon die Hinw. in Wolfgang Hoffmann-Riem, Innovationen durch Recht und im Recht, in: Schulte, Martin (Hrsg.), Technische Innovation und Recht, 1997, S. 3 f. sowie die Hinw. unten in Fn. 29. 7 Martin Eifert / Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Innovationsverantwortung, 2009. Zu den Leitbildern der Innovationsoffenheit und Innovationsverantwortung s. schon etwa Wolfgang Hoffmann-Riem, Immaterialgüterrecht als Referenzgebiet innovationserheblichen Rechts, in: Eifert / ders., Geistiges Eigentum (Fn. 3), S. 18 f. 8 s. dazu Martin Führ / Kilian Bizer, Zuordnung der Innovations-Verantwortlichkeiten im Risikoverwaltungsrecht – Das Beispiel der REACh-Verordnung, sowie Eckhard Pache, Innovationsverantwortung im Chemikalienrecht, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Innovationsverantwortung (Fn. 7), S. 303 ff., 251 ff. 9 s. dazu Arno Scherzberg, Innovationsverantwortung in der Nanotechnologie, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Innovationsverantwortung (Fn. 7), S. 185 ff.; ders. / Joachim H. Wendorff (Hrsg.), Nanotechnologie. Grundlagen, Anwendungen, Risiken, Regulierung, 2008; Joachim Schummer, Nanotechnologie, 2009. 10 Dazu s. statt vieler Johannes Weyer, Techniksoziologie. Genese, Gestaltung und Steuerung sozio-technischer Systeme, 2008, S. 37 ff. und passim.
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lemlagen erkennen lässt, denen rechtswissenschaftliche Innovationsforschung gegenübersteht. Diesem Thema gilt daher der vorliegende Band. II. Komplexität der Regelungsstrukturen Die Internationalisierung und Globalisierung der Infrastrukturen und des Kommunikationsaustauschs verweisen beispielhaft auf Änderungen in der Rolle des Rechts, insbesondere auf den Bedeutungsverlust des nationalen Rechts. Dieser wird aber zum Teil durch supra- und internationales Recht11 sowie selbst gesetztes Recht der gesellschaftlichen Akteure12 kompensiert. In der Folge sind die für diesen Bereich maßgebenden Regelungsstrukturen13 zum Teil anders, vielfach auch komplexer geworden und es fällt schwerer als zuvor, Wirkungsketten zwischen einzelnen Normen und beobachtbaren Befunden zu identifizieren. Dazu tragen nicht nur die vielfältigen Entgrenzungen sowie Vernetzungen bei, sondern auch die durch den beschleunigten technologischen Fortschritt und entsprechende darauf ausgerichtete private oder geschäftliche Tätigkeiten genutzten und forcierten Änderungsprozesse14 mit vielfältigen Ausdifferenzierungen.15 Es lässt sich ebenfalls nur schwer analysieren, welche für Änderungsprozesse maßgebenden Erfahrungen, Einstellungen, Institutionen und Strategien welchen Anteil an der Erhaltung oder Überwindung des jeweiligen Status Quo und der Entwicklung von Neuerungen haben. Die Einnahme der Governance-Perspektive16 er11 Wie weit spezielle Regeln innovationsförderlich oder -hemmend sind, analysiert Ganea am WTO-Recht: Peter Ganea, TRIPS als Innovationsmotor?, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Geistiges Eigentum (Fn. 3), S. 107 ff. 12 Dazu vgl. etwa Peer Zumbansen: Lex mercatoria: Zum Geltungsanspruch transnationalen Rechts, in: Rabels Zeitschrift 67 (2003), S. 637 ff.; Klaus Peter Berger, The Creeping Codification of the New Lex Mercatoria, 2. Aufl. 2010; Gunnar Folke Schuppert, Governance und Rechtsetzung, Grundfragen einer modernen Regelungswissenschaft, 2010 (i. E.) S. 354 ff., s. aber auch Nils Christian Ipsen, Private Normenordnung als transnationales Recht?, 2009, der u. a. auf die Prägekraft nationalen Rechts verweist. 13 Zu diesem Begriff Hans-Heinrich Trute / Wolfgang Denkhaus / Doris Kühlers, Regelungsstrukturen der Kreislaufwirtschaft zwischen kooperativem Umweltrecht und Wettbewerbsrecht, 2004. 14 Zur Änderung von Staatlichkeit und zum Wandel staatlicher Aufgabenerfüllung s. statt vieler Christoph Möllers, Staat als Argument, 2000; Stephan Leibfried / Michael Zürn (Hrsg.), Transformationen des Staates?, 2006; Gunnar Folke Schuppert, Staat als Prozess, 2010. Zur Kritik an der Infragestellung des Staates als Kategorie aus dem öffentlichen Recht s. Sebastian Müller-Franken, Die demokratische Legitimation öffentlicher Gewalt in den Zeiten der Globalisierung. Zur unhintergehbaren Rolle des Staates in einer durch Europäisierung und Internationalisierung veränderten Welt, in: AöR 134 (2009), S. 542 ff. 15 Zu den verschiedenen Problemdimensionen aus rechtlicher, aber auch aus ökonomischer Perspektive am Beispiel des Kommunikationssektors s. statt vieler Bernd Holznagel / Dieter Dörr / Doris Hildebrand, Elektronische Medien. Entwicklung und Regulierungsbedarf, 2008. 16 Zur Governance-Forschung s. überblicksartig die Beiträge in Arthur Benz / Susanne Lütz / Uwe Schimank / Georg Simonis (Hrsg.), Handbuch Governance. Theoretische Grund-
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laubt es, die Komplexität und Verwobenheit unterschiedlicher Governance-Faktoren und Koordinationsmedien in den Blick zu nehmen und zu fragen: Wie funktioniert gesellschaftliche Problemlösung unter besonderer Blickrichtung auf die Innovationsfähigkeit? Aus der Governance-Perspektive geraten insbesondere die vielfach – auch im Bereich Information und Kommunikation – bestehenden Mehrebenen-Verbünde in den Blick, die durch das Ineinandergreifen von lokalen, regionalen, nationalen und über- und transnationalen Akteuren (staatlicher, privater und hybrid staatlich-privater Natur) und Regelungsschichten gekennzeichnet sind. Bedeutsam ist ferner für die Regelungsstrukturen das Ineinandergreifen verschiedener Rechtsgebiete, im Bereich Information und Kommunikation etwa die des Telekommunikationsrechts als Infrastrukturrecht, des Rundfunk- und Telemedienrechts als teilweise strukturerhebliches, vielfach aber auch als auf die Kommunikationsinhalte bezogenes Recht, des Kartellrechts als Marktstrukturrecht, ferner der verschiedenen Vorkehrungen zum Schutz bestimmter Schutzgüter, etwa zum Schutze des geistigen Eigentums17, des Jugendschutzes18, des Verbraucher- und Datenschutzes19, aber auch des Schutzes einer hinreichenden Vielfältigkeit (Pluralität) der Kommunikationswelt20. Die für die jeweiligen Rechtsgebiete kennzeichnenden und je unterschiedlichen Ziele und die dort wirkenden Interessen sind keineswegs typischerweise auf das Innovationsthema konzentriert oder gar reduziert. So ist die Herbeiführung von Innovationen meist keine eigenständige gesetzliche Zielsetzung.21 Regelhaft aber werden Innovationen eher als erwünschte Begleiterscheinungen der in den jeweiligen Rechtsgebieten geschaffenen rechtlichen Möglichkeiten, etwa für wirtschaftliche Entfaltung, angesehen. So gilt Kartellrecht als ein auf die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Marktes ausgerichtetes Recht22 wegen der damit verbundenen Absicherung von Wettbewerb als ein mögliches rechtliches Medium der mittelbaren Innovationsstimulierung. Allerdings: Nicht Innovationen als solche stehen üblicherweise im Zentrum der Aufmerksamkeit des Gesetzgebers, sondern die Vorgabe, je unterschiedliche Gemeinwohlzwecke zu erreichen. Sind Innovationen lagen und empirische Anwendungsfelder, 2007; Sebastian Botzem / Jeanette Hofmann / Sigrid Quack / Gunnar Folke Schuppert / Holger Straßheim (Hrsg.), Governance als Prozess. Koordinationsformen im Wandel, 2009. Speziell zum Verhältnis von Governance und Innovation s. Wolfgang Hoffmann-Riem, Die Governance-Perspektive in der rechtswissenschaftlichen Innovationsforschung, 2010 (i. E.). 17 Dazu s. die Beiträge in Eifert / Hoffmann-Riem, Geistiges Eigentum (Fn. 3). 18 Dazu s. etwa Erdemir in diesem Bande. 19 Dazu s. die Beiträge von Roßnagel und Eifert in diesem Bande. 20 Dazu s. beispielsweise Thomaß in diesem Bande. 21 Allerdings hat der Gesetzgeber des Telekommunikationsrechts eine solche Zielsetzung neben anderen normiert, s. § 2 Abs. 2 Nr. 3, § 9a Abs. 2 Satz 2 TKG; s. aber auch unten Fn. 38. Zur rechtlichen Anerkennung des Innovationsziels s. etwa Art. 8 Abs. 5 der Rahmenrichtlinie 2002 / 21 / EG, die auf das Ziel der Förderung „effizienter Investitionen und Innovationen“ verweist. 22 Näher dazu Jan Hecker, Marktoptimierende Wirtschaftsaufsicht, 2007.
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dafür nicht hinderlich oder sind sie gar förderlich, steht deren Entwicklung nicht im Widerspruch zu den Gesetzeszwecken oder gilt sogar als spezifisch erwünscht. Soweit rechtliche Regelungen – wie meist – darauf zielen, Entfaltungsfreiheit allgemein oder im je spezifischen Kontext abzusichern und mit anderen rechtlich geschützten Interessen kompatibel zu machen, umfasst die Rechtsordnung auch den Schutz der Freiheit zur Entfaltung in Gestalt innovativer Tätigkeiten oder der Schaffung innovativer Verfahren und Produkte. Da in einer auf Entfaltungsfreiheit ausgerichteten Rechtsordnung nicht die Entfaltung, wohl aber deren Beschränkung rechtfertigungsbedürftig ist,23 enthält eine derartige Ordnung sogar eine strukturelle Absicherung – gewissermaßen ein strukturelles Vorurteil – zugunsten der Innovationsermöglichung. Die Vorsorge vor oder die Abwehr von damit verbundenen Risiken ist demgegenüber eigenständig rechtfertigungsbedürftig.
III. Blickrichtungen auf das Innovationsthema 1. Die regelhaft gegebene (bloße) Akzessorietät des Innovationsthemas bei der Verwirklichung von spezifisch ausgerichteten Gemeinwohlzwecken durch Recht dürfte eine der Ursachen dafür sein, dass die Rechtswissenschaft das Innovationsthema bisher nur selten und meist nur beiläufig behandelt hat. Eine spezifisch rechtswissenschaftlich fundierte Innovationsforschung gibt es erst in jüngerer Zeit, und zwar mit noch bescheidenen Ansätzen.24 Auch in den sog. Gesetzgebungslehren wird das Innovationsthema allenfalls beiläufig gestreift; in Stichwortregistern taucht es nicht einmal ausdrücklich auf. Gleiches gilt für die Lehrbücher zu juristischen Methodenlehren oder zur Rechtstheorie und zur Rechtssoziologie. Allerdings befassen sich staatliche und überstaatliche Einrichtungen immer wieder mit dem Innovationsthema. So hat die Bundesregierung dem Bundestag ein „Gutachten zur Forschung, Innovation und technologischen Leistungsfähigkeit“ vorgelegt.25 Die OECD ist seit Jahren bemüht, die „National Information Systems“ zu erfassen und die in ihnen für Innovationen bedeutsamen Faktoren aufzulisten Vgl. etwa den Hinweis bei Scherzberg, Nanotechnologie (Fn. 9), S. 190. s. dazu etwa Schulte, Technische Innovation (Fn. 6); Erich Staudt (Hrsg.), Innovation trotz Regulation: Freiräume für Innovationen in bestehenden Gesetzen. Untersuchungen am Beispiel des Chemikaliengesetzes, 1997; Wolfgang Hoffmann-Riem / Jens-Peter Schneider (Hrsg.), Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung: Grundlagen, Forschungsansätze, Gegenstandsbereiche, 1998 (sowie die weiteren Publikationen in der Reihe „Schriften zur rechtswissenschaftlichen Innovationsforschung“); Stefan Kuhlmann / Christoph Bättig / Kerstin Cuhls / Viola Peter, Regulation und künftige Technikentwicklung. Pilotstudien zu einer Regulationsvorausschau, 1998. Aus monografischen Studien zu Teilaspekten seien auswahlweise erwähnt: Stefan Rutkowski, Innovationsförderung im Telekommunikationsrecht zwischen Netzzugang und Regulierungsfreistellung, 2009; Pascal Schumacher, Innovationsregulierung im Recht der netzgebundenen Elektrizitätswirtschaft, 2009. 25 Erstes Gutachten für das Jahr 2008 in BT-Drs. 16 / 8600 vom 12. 03. 2008. Dieses Gutachten wurde von einer Expertenkommission erarbeitet. 23 24
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und für Ländervergleiche zu nutzen.26 Auch die Europäische Union hat vielfältige Innovationsaktivitäten initiiert und dokumentiert.27 Erwähnt sei nur der Bericht der EG-Kommission „Reviewing Community Innovation Policy in a Changing World“, in dem bisherige innovationsbezogene Aktivitäten aufgezählt und neue in Aussicht gestellt werden.28 Allerdings fällt bei diesen und weiteren Publikationen auf, dass sie vorrangig auf technologische Innovationen ausgerichtet sind, weitgehend ökonomiezentriert arbeiten – etwa ausgerichtet an den Zielen wirtschaftlicher Stabilität und des Wachstums – und dass sie häufig eher durch Programmatik, manchmal gemischt mit Pathos, als durch empirisch fundierte, nachvollziehbare und auch auf Qualitätsparameter bezogene Wirkungsanalysen gekennzeichnet sind. 2. Die in der außerrechtlichen (insbesondere wirtschaftswissenschaftlichen) Literatur formulierte Kritik an rechtlicher Regulierung, insbesondere an deren behaupteter Innovationsfeindlichkeit29, stützt sich durchgängig auf relativ pauschale Urteile unter Verzicht auf differenzierende Analysen. Da – wie es etwa die für die nationalen Innovationssysteme entwickelten Beurteilungsparameter nahelegen30 und bei Anlegen der Governance-Perspektive31 besonders deutlich wird – eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren auf die Innovationsaktivitäten von Akteuren einwirken, ist es allerdings auch grundsätzlich schwierig, häufig sogar ausgeschlossen, einzelne herauszugreifen und als entscheidend hinzustellen, wenn nicht auch deren Interdependenzen mit anderen Faktoren erfasst und näher analysiert werden. Auch sind Dysfunktionalitäten rechtlicher Regulierung regelhaft nicht dem Recht als solchem geschuldet, sondern seiner konkreten Verwendung, etwa bei der Normierung von politischen Kompromissen, 26 Dazu vgl. Fn. 5 sowie Torsten Dunkel, Der Einfluss institutioneller Rahmenbedingungen auf die nationalen Innovationssysteme in Frankreich und Deutschland, 2004. 27 Zu Innovationspolitiken der Europäischen Union s. Susana Borrás, The Innovation Policy of the European Union, 2003; Robert Kaiser, Innovationspolitik, 2008, S. 253 ff.; Arno Scherzberg, Die EU-Innovationspolitik im Rahmen der Lissabon-Strategie, in: Blanke, Hermann-Josef / ders. / Wegner, Gerhard (Hrsg.), Dimensionen des Wettbewerbs – Europäische Integration zwischen Eigendynamik und politischer Gestaltung, 2010 (i. E.). 28 s. KOM (2009), 442 endg. vom 02. 09. 2009. 29 Intensive Kritik an der Innovationsunfähigkeit in Deutschland wurde in den Neunzigerjahren geübt, und zwar im Rahmen einer stark wirtschaftspolitischen, auf Standortinteressen ausgerichteten Diskussion (dazu s. etwa Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung u. a., Zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands – Aktualisierung und Erweiterung 1996, 1997, S. 41 ff., 57; diese Debatte hat unter anderem zur sogenannten Beschleunigungsgesetzgebung geführt, zu ihr s. etwa Bundesministerium für Wirtschaft (Hrsg.), Innovationsförderung durch flexible Genehmigungsverfahren: Bericht der Unabhängigen Expertenkommission zur Vereinfachung und Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren, 1994; zur Debatte s. auch Reinhard Sparwasser / Rüdiger Engel / Andreas Voßkuhle, Umweltrecht, 5. Aufl. 2003, S. 159 ff. 30 Dazu s. Nelson, National Innovation Systems (Fn. 5); Dunkel, Nationale Innovationssysteme (Fn. 26). 31 s. o. Fn. 16.
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die zum Zwecke der Mehrheitsbildung im Parlament nötig wurden, aber das Ergebnis hinsichtlich der eigentlich angestrebten Zielsetzung verwässerten.32 Deshalb ist es verfehlt, dem Recht ohne nähere, die Gründe für unbefriedigende Regelungen erfassende und die Interdependenzen des Rechts mit anderen Faktoren einkalkulierende Analysen eine Art Buhmannrolle zuzuschreiben, wenn die Innovationsfreudigkeit eines bestimmten Bereichs als suboptimal bewertet wird. Andererseits dürfen dem Recht auch keine „Heilserwartungen“ entgegengebracht werden, da auch seine positiv bewerteten Wirkungen einer entsprechenden rechtlichen Gestaltung bedürfen und da deren Wirkungen nur in dem durch Interdependenzen geprägten Feld – und damit nach Maßgabe der auch dort wirkenden nichtrechtlichen Steuerungsfaktoren – eintreten können. Für einzelne Typen von rechtlicher Regulierung lässt sich allerdings feststellen, dass sie auf Innovationsaktivitäten hinderlich einwirken – so etwa Forschungsoder Freisetzungsverbote hinsichtlich gentechnisch veränderter Pflanzen oder Begrenzungen der Stammzellenforschung 33 –: entsprechende Verbote verhindern zielgerichtet innovationsbezogenes Verhalten, das insoweit allenfalls im Rahmen illegaler Übertretungen möglich bleibt. Diese Wirkung ist aber von dem jeweiligen Recht ausdrücklich angestrebt und ihr liegt eine vom Gesetzgeber – der zur Gemeinwohldefinition legitimierten Instanz – stammende Entscheidung – etwa zur Vorsorge gegenüber möglichen Risiken – zugrunde.34 Es ist daher verfehlt, sie allein unter dem Aspekt der Innovationsverhinderung zu thematisieren. Soweit dies geschieht, liegt dem häufig eine einseitige – etwa industriepolitisch auf Standortsicherung begrenzte – Sichtweise zugrunde, die andere – fachpolitische Belange – bei der Beurteilung der herangezogenen Vorgaben nicht anerkennt.35 Schwierig einzuschätzen sind die innovationsbezogenen Auswirkungen unspezifischer (also nicht auf die Unterbindung unerwünschter Innovationen als solcher 32 Als ein Beispiel statt vieler s. die Ausführungen dazu von Alexander Roßnagel, Innovationsverantwortung im Elektrogesetz, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Innovationsverantwortung (Fn. 7), S. 263 ff. 33 Zu Rechtsfragen in diesen Bereichen s. statt vieler Martin Schulte / David Apel, Recht der Umwelt- und Humangentechnik, in: Schulte, Martin / Schröder, Rainer (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2. Aufl. 2010 (i. E.); zur Gefahr der Beseitigung von Innovationsanreizen: Maximilian Haedicke, Biotechnologische Erfindungen und patentrechtliche Schrankenregelungen – ein Statement, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Geistiges Eigentum (Fn. 3), S. 331 ff. 34 Dass Recht nicht nur der Freisetzung von Innovationen dient, betont etwa Alexander Roßnagel, „Technikneutrale“ Regulierung: Möglichkeiten und Grenzen, in: Eifert / HoffmannRiem, Innovationsfördernde Regulierung (Fn. 4), S. 331 ff. Die Kategorie der Innovationsverantwortung (s. oben Fn. 7) soll die Maßgeblichkeit unterschiedlicher Gemeinwohlbelange verdeutlichen. 35 Zur Unterscheidung der industriepolitischen und fachpolitischen Perspektive auf Innovationen s. Arno Scherzberg, Innovationen und Recht: Zum Stand der rechtswissenschaftlichen Innovationsforschung, in: Wolfgang Hoffmann-Riem, Offene Rechtswissenschaft 2010, S. 273 (302 f.).
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bezogener) Regulierungen, etwa die der allgemeinen Normen über den Schutz geistigen Eigentums, über Genehmigungsverfahren, über Transparenz und Informationsaustausch, über kartellrechtliche Wettbewerbsbeschränkungen oder sektorspezifische Regulierungen zur Sicherung spezifischer Gemeinwohlziele (wie Umweltschutz, Volksgesundheit usw.). Viele solcher Regelungen sind – nicht zuletzt wegen vieler den Innovationsbereich prägenden Paradoxien36 – ambivalent37: Pflichten zur Offenlegung von Wissen oder zur zwangsweisen Einräumung von Patenten oder Privilegierungen hinsichtlich regulativer Vorgaben – etwa die (allerdings dem EU-Recht widersprechenden) „Regulierungsferien“ nach § 9a TKG38 bzw. ein „innovation waiver“39– wirken auf ambivalente Weise oder erweisen sich gegenüber den beabsichtigten Zielen gelegentlich als kontraproduktiv.40 Im Übrigen bedarf jeweils der Klärung, ob rechtliche Restriktionen in dem jeweiligen Feld wirklich handlungsbestimmend sind oder ob von Innovationsaktivitäten auch ohne Rücksicht auf rechtliche Vorgaben allein aus ökonomischen, politischen, moralischen u. ä. Gründen Abstand genommen wird. In gleicher Weise steht hinsichtlich der auf Innovationsförderung ausgerichteten regulativen Aktivitäten nur selten eindeutig fest, ob die gewährten Begünstigungen auch tatsächlich innovationsfördernd wirken oder z. B. nur Mitnahmeeffekte erzeugen. 3. Es fällt grundsätzlich schwer, konkrete Bewirkungszusammenhänge zu benennen und die auf das Wechselverhältnis von Recht und sozialer Realität bezogenen innovationserheblichen Faktoren zu identifizieren, zu operationalisieren und ungeachtet ihrer zum Teil hohen Komplexität in einer allseits oder doch weithin anerkannten Weise zu bewerten. Um nähere Aufschlüsselung von innovationserheblichen Faktoren ist seit langem am stärksten die wirtschaftswissenschaftliche Innovationsliteratur bemüht: Die Ökonomie ist weiterhin die Leitdisziplin der Innovationsforschung.41 Die innova36 Dazu s. die Beiträge in Dieter Sauer / Christa Lang (Hrsg.), Paradoxien der Innovation. Perspektiven sozialwissenschaftlicher Innovationsforschung, 1999. 37 Zur Ambivalenz beispielsweise des rechtlichen Schutzes geistigen Eigentums s. die Beiträge in Eifert / Hoffmann-Riem, Geistiges Eigentum (Fn. 3). Zur Ambivalenz von Regeln über die Providerhaftung im Internet s. Spindler in diesem Bande. 38 Diese Regelung wurde vom EuGH als gemeinschaftsrechtswidrig eingestuft, EuGH, Urteil v. 03. 12. 2009 – Rs. C-424 / 07 (Kommission / Deutschland) – MMR 2010, S. 119 (120 ff.). 39 Dazu s. kritisch Rutkowski, Innovationsförderung (Fn. 24), S. 129 ff. 40 Vgl. dazu die Untersuchung von Rutkowski, Innovationsförderung (Fn. 24), S. 28 ff.; s. auch Jürgen Kühling, Innovationsschützende Zugangsregulierung in der Informationswirtschaft, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Innovationsfördernde Regulierung (Fn. 4), S. 57 ff.; Torsten J. Gerpott, Regulierung als Einflussfaktor von Innovationen in der Telekommunikationswirtschaft, ebenda, S. 93 (97); Roßnagel, Elektrogesetz (Fn. 32). 41 Vgl. etwa Joseph A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 1964; Richard Nelson / Sydney G. Winter, An Evolutionary Theory of Economic Change, 1982; Giovanni Dosi, Technological Paradigms and Technological Trajectories, Research Policy 11 (1982), S. 147 ff.; sowie übergreifend Jan Fagerberg / David C. Mowery / Richard R. Nelson (Hrsg.), The Oxford Handbook of Innovation, 2005, sowie die Hinweise o. Fn. 1.
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tionsökonomische Literatur bezieht zwar rechtliche Regelungen in ihr Aufmerksamkeitsfeld ein, aber behandelt Recht meist nur pauschal (im Sinne der schon erwähnten Black Box). Als einer von vielen Zeugen für den aktuellen Befund soll ein überblicksartiger Aufsatz von Knut Blind42 herangezogen werden. Aus ihm wird deutlich, dass das Erkenntnisinteresse eines Großteils dieser Forschung zwar darin besteht, die Wirkung von Regulierung zu erfassen, dies aber mit dem eingeengten Blick auf die Fähigkeit der Industrie zu Innovationen mit dem Ziel der Sicherung ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu untersuchen. Der Autor stellt fest, dass viele der Untersuchungen eine eher anekdotische Beweisführung vornehmen und auf systematisch-empirische Fundierung vielfach verzichten.43 Engführungen zeigen sich auch in den benutzten Begrifflichkeiten. Wird als Regulierung die Umsetzung hoheitlich gesetzter Vorgaben zur Beeinflussung des Marktgeschehens und des Verhaltens privater Akteure im Bereich der Wirtschaft verstanden,44 wird die Verfolgung von Regulierungszielen, die nicht das Marktgeschehen betreffen oder lediglich dort mittelbare Auswirkungen haben, nicht als eine positiv verbuchte Wirkungsdimension einbezogen, sondern eher als Restriktion. Beispiele wären Ziele wie der Erhalt der Umweltqualität, der Gesundheitsschutz oder der Persönlichkeitsschutz. Auch bei der Herausarbeitung verschiedener Ziele der Regulierung und der Entwicklung von Maßstäben zur Erfolgsbeurteilung erfolgt häufig eine ökonomiezentrierte Einengung. Als Maßstab ökonomischer Regulierung gilt insbesondere die Verbesserung der allgemeinen Wohlfahrt, gemessen etwa an Produktionskosten, Preisen und Erträgen.45 Als Maßstab sozialer Regulierung wird in entsprechenden Kontexten der Einfluss auf Externalitäten, insbesondere auf Umfang und Kosten verfügbarer Ressourcen, verstanden. In der ökonomiezentrierten Diskussion gibt es auch Ansätze, die es grundsätzlich besser ermöglichen, Recht und andere soziale Institutionen differenzierend mit in den Blick zu nehmen und die Wirkungskraft sämtlicher potenziell und aktuell rechtlich steuernder Faktoren einzubeziehen, wie die verfügbaren formellen und informellen Organisationen, das in ihnen eingesetzte Personal, die Verfahren u. ä. Als Beispiele für solche zum Teil recht komplex ausgerichteten Ansätze seien 42 Knut Blind, The Use of the Regulatory Framework for Innovation Policy, in: Smits, Ruud E. / Kuhlmann, Stefan / Shapira, Philip (Hrsg.), The Theory and Practice of Innovation Policy. An International Research Handbook, 2010 (i. E.). 43 Blind, Regulatory Framework (Fn. 42), S. 219. 44 Blind, Regulatory Framework (Fn. 42), S. 221; zum Begriff der Regulierung vgl. ebenfalls: Gerpott, Regulierung als Einflussfaktor (Fn. 40), S. 96, sowie als Beispiel aus der rechtswissenschaftlichen Literatur: Martin Eifert, Regulierungsstrategien, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I (im Folgenden: GVwR I): Methoden, Maßstäbe, Aufgaben, Organisation, 2006, § 19 Rn. 1 ff. 45 s. statt vieler Blind, Regulatory Framework (Fn. 42), S. 221.
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die Institutionenökonomie46, die evolutorische Ökonomie47 oder die psychologische Ökonomie48 genannt. Für Brückenschläge zwischen Wirtschafts- und Rechtswissenschaft eignet sich insbesondere die Institutionenökonomie.49 In den Kontext einer erweiterten Sichtweise gehören auch Bemühungen, die Theorie öffentlicher Güter mit dem Ziel weiterzuentwickeln, die Produkte des Wirtschaftens gegebenenfalls als nicht marktfähige, kollektiv zugängliche Güter einzurichten (Allmende).50 Ein Beispiel für Letzteres ist die Nutzung der über die neuen Kommunikationsinfrastrukturen heranziehbaren „kollektiven Intelligenz“ von Massen für Innovationen.51 Nicht nur auf wirtschaftliche Ziele und Parameter orientierte Ansätze der wirtschaftswissenschaftlichen Innovationsforschung erlauben es am ehesten, auch die Erkenntnisinteressen und Methoden sozialwissenschaftlicher Ansätze einzubeziehen, so etwa die der sozialwissenschaftlichen Innovationsforschung, insbesondere der Techniksoziologie52, aber auch die der Governance-Forschung53. 4. Neuere politikwissenschaftliche Perspektiven54 zielen auch darauf, die Verfahren der Schaffung innovationserheblicher Regelungen unter Beachtung diverser Einflussfaktoren zu analysieren. Hier sei beispielhaft auf den Verlauf der öffentlichen Diskussionen um die Gesetzgebung zur Biopatentierung55 – also ein gesell46 Zu ihr s. Mathias Erlei / Martin Leschke / Dirk Sauerland, Neue Institutionenökonomik, 2. Aufl. 2007; Stefan Voigt, Institutionenökonomik, 2. Aufl. 2009; Claude Ménard (Hrsg.), Handbook of New Institutional Economics, 2008; Rudolf Richter / Eirek G. Furubotn, Neue Institutionenökonomik, 3. Aufl. 2003; mit ausdrücklicher Anbindung zum Innovationsthema: Verena Mertins, Institutionenökonomische Analyse von Innovationsförderung. Eine theoretische und empirische Betrachtung am Beispiel Niedersachsens, 2009; Erik Gawel, Innovationsverantwortung durch Gemeinwohlverpflichtung rationaler Innovatoren – Ansätze der Institutionenökonomik, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Innovationsverantwortung (Fn. 7), S. 69 ff. 47 s. dazu etwa Georg Erdmann, Elemente einer evolutorischen Innovationstheorie, 1993. 48 Bruno S. Frey, Not Just for the Money: An Economic Theory of Personal Motivation, 1997. 49 Vgl. etwa Christian Kirchner, Rechtliche „Innovationssteuerung“ und Ökonomische Theorie des Rechts, in: Hoffmann-Riem / Schneider, Innovationsforschung (Fn. 24), S. 85, 92 ff. 50 Dazu s. Ostrom, Allmende (Fn. 2). 51 Vgl. etwa Olga Drossou / Stefan Krempl / Andreas Poltermann (Hrsg.), Die wunderbare Wissensvermehrung. Wie Open Innovation unsere Welt revolutioniert, 2006; Ralf Reichwald / Frank Piller, Interaktive Wertschöpfung. Open Innovation, Individualisierung und neue Formen der Arbeitsteilung, 2006; Frank Kleemann / G. Günter Voß / Kerstin Rieder, Crowdsourcing und der arbeitende Konsument. Arbeits- und industriesoziologische Studien, 2008, Heft 1, S. 29 ff.; Arno Rolf, Mikropolis 2010. Menschen, Computer, Internet in der globalen Gesellschaft, 2008, S. 46 ff., 69 ff., 89 ff. 52 Dazu s. Weyer, Techniksoziologie (Fn. 10); Armin Grunwald, Technik für die Gesellschaft von morgen. Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlicher Technikgestaltung, 2000. 53 Dazu s. die Nachweise oben Fn. 16. 54 Zur politikwissenschaftlichen Innovationsforschung s. statt vieler etwa Kaiser, Innovationspolitik (Fn. 27). 55 Hierzu: Haedicke, Biotechnologische Erfindungen (Fn. 33), S. 239 ff.
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schaftlich stark umstrittenes Thema – verwiesen. An ihr lässt sich insbesondere die Wirkungskraft zivilgesellschaftlicher Aktivitäten beobachten; Anregungen zivilgesellschaftlicher Akteure sind zum Teil von den Parlamenten aufgegriffen worden. Darüber erlangten auch weitere ethische und moralische Beurteilungskriterien Bedeutung und haben zum Teil das ökonomische Kalkül verbesserter Marktverwertung überlagert.56 Die vielen im Bereich der öffentlichen Kommunikation beobachtbaren zivilgesellschaftlichen Aktivitäten – dazu gehören die Bemühungen um Open Source Software57 und Open Content, aber auch die Bildung neuer sozialer Netzwerke58 – sind vor allem auf die Entwicklung sozialer Innovationen59 ausgerichtet. Hier entwickeln sich Dynamiken, in deren Sog die in den jeweiligen Communities Mitwirkenden zu weiteren sozialen Innovationen und auch zu technologischen Innovationen stimuliert werden können, gegebenenfalls auch Innovationen im Schnittfeld beider Bereiche. Dabei liegt es nahe, dass gerade in solchen Umfeldern partizipative Strukturen vermehrt Auswirkung auf die Entwicklung des Rechtssystems haben werden. Auch ist aus wertender Sicht keineswegs nahe liegend, dass die Produkte kollektiver Intelligenz – etwa im Bereich des Prosuming und Crowdsourcing60 – nur denen zugute kommen, die entsprechende Prozesse mit dem Ziel wirtschaftlicher Verwertung initiiert haben, nicht aber auf die erstreckt werden, die die Ideen aufgebracht und gegebenenfalls anwendungsreif gemacht und dadurch Mehrwert geschaffen haben.61 Jedenfalls bedarf weiterer Klärung, ob auch über56 Dazu s. Ingrid Schneider, Innovationsfreiheit und Innovationsverantwortung: Geistiges Eigentum und öffentliche Ziele, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Geistiges Eigentum (Fn. 3), S. 309 ff.; dies., Das Europäische Patentsystem: Wandel von Governance durch Parlamente und Zivilgesellschaft, 2010 (i. E.). 57 Vgl. hierzu die Beiträge von Margit Osterloh / Roger Luethi, Commons without Tragedy: Das Beispiel Open Source Software, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Geistiges Eigentum (Fn. 3), S. 145 ff.; Axel Metzger, Innovation in der Open Source Community – Herausforderungen für Theorie und Praxis des Immaterialgüterrechts, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Geistiges Eigentum (Fn. 3), S. 187 ff.; Bernd Lutterbeck, Open Source Communitys und geistiges Eigentum. Ein Kommentar zu Axel Metzger, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Geistiges Eigentum (Fn. 3), S. 207 ff. 58 Dazu s. statt vieler Tom Alby, Web 2.0, 3. Aufl. 2008; Christoph Bieber / Martin Eifert / Thomas Groß / Jörn Lamla (Hrsg.), Soziale Netze in der digitalen Welt: Das Internet zwischen egalitärer Teilhabe und ökonomischer Macht, 2009; Jan Schmidt, Das neue Netz, 2009; Schuler-Harms in diesem Bande. 59 Zu sozialen Innovationen s. Jens Aderhold / René John (Hrsg.), Innovation. Sozialwissenschaftliche Perspektiven, insbesondere die Beiträge S. 99 ff.; Wolfgang Hoffmann-Riem, Soziale Innovationen, in: Der Staat 47 (2008), S. 588 ff.; Jürgen Howaldt / Heike Jacobsen (Hrsg.), Soziale Innovation: Auf dem Weg zu einem postindustriellen Innovationsparadigma, 2010. 60 Dazu s. Paul Drews, Veränderungen in der Arbeitsteilung und Gewinnverteilung durch Open Innovation und Crowdsourcing, 2009; Christian Papsdorf, Wie Surfen zu Arbeit wird: Crowdsourcing im Web 2.0, 2009, sowie die Hinw. in Fn. 51. 61 Ob die Solidarisierungskraft der betreffenden Communities allerdings reicht, um nachhaltig Einfluss auf die Bereitstellung von Rechtsformen zu üben, die auf solche anderen
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kommene rechtliche Instrumente der Modifikation bedürfen. So ist die für Open Communities tragende Idee einer Fortentwicklung des historischen Vorbildes der Allmende62, etwa die Nutzung von Netzinfrastrukturen für die Bereitstellung von öffentlichen Gütern (wikis, software), ein möglicherweise zukunftsweisender Ansatz. IV. Vorgehensweisen und Aufmerksamkeitsfelder der rechtswissenschaftlichen Innovationsforschung Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung ist genauso komplex wie rechtswissenschaftliche Forschung allgemein, wenn sie sich trans- und interdisziplinär öffnet. Im Folgenden können daher nur beispielhaft ausgewählte – und durch Fettdruck hervorgehobene – Stichworte benannt werden, die sich auf die Vorgehensweise im Umgang mit dem Beziehungsgeflecht von Recht und Innovationen beziehen und denen eine besondere Aufmerksamkeit auch in der Zukunft zugewandt werden sollte. Die Belege verweisen nicht nur, aber vorzugsweise auf Untersuchungen aus dem Projekt und seinem Umfeld. 1. Die rechtswissenschaftliche Innovationsforschung wird sich – nicht zuletzt angesichts der Defizite der Rechtswissenschaft bei der Beschäftigung mit dem Innovationsthema – trans- und interdisziplinär ausrichten müssen, um hinreichende Einblicke in die Abläufe und Bestimmungsfaktoren von Innovationen gewinnen zu können,63 aber dabei auch die praktischen Schwierigkeiten solcher Interaktion einbeziehen müssen. Auch die intradisziplinäre Kommunikation und Kooperation in der Rechtswissenschaft sind auszubauen. Die Grenzen zwischen den rechtlichen Disziplinen sind zunehmend fließender geworden und Regelungserfolge lassen sich zum Teil durch das Zusammenspiel von Instrumenten der verschiedenen Rechtsgebiete (etwa öffentlichem Recht und Privatrecht)64 häufig besser als bei einer eindimensionalen Vorgehensweise erzielen. Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung muss grundsätzlich bemüht sein, Schleusen und Brücken zu bauen, die den in anderen Disziplinen verfügbaren Einsichten Zugang zu den rechtswissenschaftlichen Diskursen und den Prozessen der Rechtsetzung und Rechtsanwendung eröffnen. Dementsprechend war in das Projekt „Innovationsrecht“ von vornherein eine Reihe von Vertretern nicht rechtswisOrientierungen – etwa im Umfeld des Allmende-Gedankens – gerichtet sind, lässt sich gegenwärtig noch nicht beurteilen. 62 Dazu s. o. Fn. 2. 63 Vgl. Scherzberg, Innovationsforschung (Fn. 35), S. 273 ff., insbesondere S. 296 ff.; Wolfgang Hoffmann-Riem / Saskia Fritzsche, Innovationsverantwortung – zur Einleitung, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Innovationsverantwortung (Fn. 7), S. 34 ff. 64 Dazu s. die Beiträge in Wolfgang Hoffmann-Riem / Eberhard Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996.
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senschaftlicher Disziplinen einbezogen. Allerdings ging es in erster Linie darum, aus rechtswissenschaftlicher Perspektive die Prozesse und Instrumente der Rechtsetzung und Rechtsanwendung mit rechtswissenschaftlicher Kompetenz innovationsbezogen zu analysieren und dabei herauszuarbeiten, welche rechtlichen Ansatzpunkte es gibt, die gesellschaftliche Innovationsfähigkeit zu erhalten und auszubauen, ohne dabei andere rechtlich schützenswerte Interessen vernachlässigen zu müssen. Gerade die Aufgabe rechtsnormativer Abwägung und Ausbalancierung von Interessen kann nicht ohne Beachtung der rechtsnormativ geprägten präskriptiven Vorgaben65 erfolgen, die ihrerseits mit rechtswissenschaftlicher Kompetenz erfasst werden müssen. Präskriptiv ausgerichtete sozialwissenschaftliche Ansätze sind zwar ein wichtiger Anregungspool auch für die rechtswissenschaftliche Arbeit, dürfen aber wegen des Gebots der Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht ohne rechtsnormativen Transfer – und entsprechende Filterung – für rechtliche Entscheidungszusammenhänge bestimmend werden.66 2. Pauschal einsetzbare Konzepte und Rezepte zum rechtlichen Umgang mit Innovationen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen gibt es nicht. „Innovationsrecht“ ist kein eigenständiges Rechtsgebiet und es empfiehlt sich auch nicht, es als solches zu verstehen oder zu entwickeln. Die Erscheinungen sind zu vielfältig, die Bewirkungsfaktoren zu wenig erforscht und die Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts zu vielfältig, als dass es sinnvoll sein könnte, sich auf innovationsspezifische Theorien, dogmatische Konstruktionen oder auch nur pragmatische „Rezepte“ mit allgemeinerem Verwendungsanspruch zu konzentrieren. Vor allem aber dient das innovationserhebliche Recht durchgehend in erster Linie anderen als Innovationszielen, sodass es vermieden werden muss, die Innovationsperspektive zu isolieren und dadurch deren Einbettung in komplexere normative Vorgaben zu vernachlässigen. 3. Soweit Rechtswissenschaft sich mit dem Innovationsthema befasst und danach fragt, wie Innovationen im Bereich der Gesellschaft im Rahmen bestehenden Rechts zustande kommen und wie ihre Entstehung durch Recht befördert werden kann, reichen die traditionellen Methoden der Rechtswissenschaft, etwa die sog. Juristische Methode, nicht. Die auf Rechtswissenschaft als normtextorientierter Interpretationswissenschaft ausgerichteten Methodenlehren67 konzentrieren sich 65 Zu Maßstäben des Verwaltungshandelns in einem weiten Sinne s. systematisierend Rainer Pitschas, Maßstäbe des Verwaltungshandelns, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II (im Folgenden: GVwR II): Informationsordnung, Verwaltungsverfahren, Handlungsformen, 2008, § 42. 66 Zur Diskussion hierüber und über den „Selbstand“ von Rechtwissenschaft s. etwa die Beiträge in: Christoph Engel / Wolfgang Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, etwa die Beiträge von Engel und Lepsius. 67 Prototypisch etwa Karl Larenz / Claus-Wilhelm Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995; s. auch Friedrich Müller / Ralph Christensen / Michael Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 1997.
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auf Anleitungen für die Darstellung einer rechtlichen Entscheidung als rechtsfehlerfrei. Diese Aufgabe muss selbstverständlich auch bei innovationsbezogenen rechtlichen Entscheidungen erfüllt werden. Mit den entsprechenden Methoden lassen sich aber nicht Einsichten darüber gewinnen, wie Recht auf die Innovationsbereitschaft von Akteuren oder die Innovationsfähigkeit der Gesellschaft einwirkt. Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung muss ihr Augenmerk vielmehr auf die Folgen / Wirkungen rechtlicher Gestaltungen richten. Dies ist eine wichtige Fragestellung für den steuerungsorientierten Strang der Rechtswissenschaft, wie ihn die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft versteht.68 Insbesondere muss die rechtswissenschaftliche Innovationsforschung die Faktoren analysieren, die im Prozess der Herstellung rechtlich geprägter Problemlösungen maßgebend werden. Hilfreich zur analytischen Erfassung solcher Faktoren und ihrer Interdependenzen ist insbesondere die Governance-Forschung69, die sich mit dem Modus der Bewältigung von Problemen befasst.70 Dies geschieht vor allem unter der Perspektive, wie interdependente Handlungen koordiniert werden, auch wie die für Innovationen wichtigen Motivations- und Wissensprobleme bewältigt werden. Die Governance-Forschung zielt auf die Erfassung der Verhaltensrationalitäten, der Rahmenbedingungen, der Handlungs- und Verkehrsformen sowie der vielfältigen Abhängigkeiten des Handelns. Kennzeichnend für Governance-Strukturen sind gegenwärtig häufig unterschiedliche Handlungsebenen (lokale, regionale, nationale, europäische, globale), eine große Vielfalt und Ausdifferenzierung von Akteuren, die Pluralität betroffener Interessen, eine vielfach große Komplexität der zu bewältigenden Probleme sowie ein grundsätzlich weiter Strategiepool und ein potenziell weites Instrumentenarsenal.71 Verflechtungen und Interdependenzen erfordern Koordination. GovernanceForschung interessiert sich insbesondere für Muster der Handlungskoordination, also die Koordinationsmodi Hierarchie, Verhandlung, Wettbewerb / Markt, Netzwerk, von denen für Innovationen insbesondere die Modi Wettbewerb und Netzwerk von gesteigertem Interesse sind. 4. Im Laufe des Projekts „Innovationsrecht“ wurden keine Anhaltspunkte für die prinzipielle Innovationsfeindlichkeit von Recht gefunden, also dafür, dass das Mittel des Rechts als solches Innovationen entgegensteht. Wenn rechtliche Gestaltungen in einem bestimmten Feld als unzulänglich oder kontraproduktiv bewertet werden, muss insbesondere gefragt werden, ob dies an den Regelungszielen, der gewählten rechtlichen Konstruktion oder dem eingesetzten rechtlichen Instru68 Dazu s. Andreas Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / ders., GVwR I (Fn. 44), § 1 Rn. 16 ff. 69 s. o. Fn. 15. 70 Näher zu ihrem Bezug zur rechtswissenschaftlichen Innovationsforschung HoffmannRiem, Governance-Perspektive (Fn. 16). 71 Vgl. auch die Überlegungen zur „new governance theory of law“, etwa bei Michael Evan Waterstone, A New Vision of Public Enforcement, 92 Minn. L. Rev. (2007), S. 434 (480 ff.).
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ment selbst oder an der unbefriedigenden Ausgestaltung der rechtlichen Regelung liegt, die häufig auch anders ausgestaltet sein könnte, aber etwa wegen der politischen Konflikte in dem betroffenen Bereich nicht anders geworden ist.72 Die auf den Normsetzungsprozess einwirkenden Faktoren sind den Akteuren durchaus bewusst und werden manchmal beispielsweise in Parlamentsdebatten kritisch angesprochen. Sie werden aber üblicherweise in Gesetzesentwürfen nicht als solche thematisiert – und dort etwa als Rechtfertigung suboptimaler Regelungen herangezogen. Eine moderne Gesetzgebungslehre73 müsste die Gesetzesgenese auch in dem Sinne integrieren, dass die „politischen Kosten“ (insbesondere) der parlamentarischen Entscheidungspraxis thematisierbar werden. Zu diesen Kosten können auch Behinderungen von Innovationen gehören, die inhaltlich nicht durch Aspekte der Innovationsverantwortung zu rechtfertigen sind, aber im Interesse der Mehrheitsbildung hingenommen werden. Modernes Recht eröffnet jedenfalls eine große Vielfalt unterschiedlicher Vorgehensweisen74 und ermöglicht differenzierend ansetzende und flexibel ausgestaltete Instrumente.75 Soweit dem Recht innovationsbegrenzende Funktionen beigemessen werden, ist zunächst zu klären, ob sie in der Rechtsform als solcher angelegt sind oder vielmehr in den politischen Zielen und Vorgaben, die mit Hilfe des Rechts verfolgt werden sollen,76 oder in sonstigen Governance-Faktoren, die auf Innovationsprozesse einwirken.77 Auch im Hinblick auf das Verhältnis von Recht und Innovation werden die in der Innovationsforschung vielfach beschriebenen Paradoxien78 maßgeblich. Sie wirken sich u. a. im Innovationsbereich in 72 s. schon oben III. 2. Zu Möglichkeiten veränderter Interpretationen zur Neujustierung von Inoovationsverantwortung und Innovationsoffenheit s. Eifert in diesem Bande (II. 2.). 73 Zur Gesetzgebungslehre s. Gunnar Folke Schuppert, Gute Gesetzgebung. Bausteine einer kritischen Gesetzgebungslehre, Sonderheft 2003 der Zeitschrift für Gesetzgebung m. Hinw. zu weiterer Literatur. Zu ihrer Fortentwicklung zu Regelungswissenschaft s. Schuppert, Regelungswissenschaft (Fn. 12). 74 Nur als ein Beispiel für die Vielfalt rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten – hier im Umweltrecht – sei verwiesen auf: Sparwasser / Engel / Voßkuhle, Umweltrecht (Fn. 29), S. 64 ff., 85 ff. 75 Dazu s. schon Eberhard Schmidt-Aßmann, Flexibilität und Innovationsoffenheit als Entwicklungsperspektiven des Verwaltungsrechts, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 407 (415 f.); für einzelne Rechtsbereiche: Thomas Schomerus, Rechtliche Instrumente zur Verbesserung der Energienutzung, NVwZ 2009, S. 418 (419 ff.); Matthias Schmidt-Preuß, Flexible Instrumente des Umweltschutzes, in: Dolde, Klaus-Peter (Hrsg.), Umweltrecht im Wandel, 2001, S. 309 ff.; Ulrich Ramsauer, Allgemeines Umweltverwaltungsrecht, in: Koch, Hans-Joachim (Hrsg.), Umweltrecht, 2. Aufl. 2007, S. 75 ff.; zu Handlungsformen im europäischen Kontext s. Peter Szczekalla, Handlungsformen im europäischen Verwaltungsrecht, in: Terhechte, Jörg Philipp (Hrsg.), Verwaltungsrecht der europäischen Union, 2011 (i. E.). 76 Dies betont auch Martin Eifert, Innovationsfördernde Regulierung, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Innovationsfördernde Regulierung (Fn. 4). 77 Dazu s. Hoffmann-Riem, Governance-Perspektive (Fn. 16). 78 Dazu s. den Hinweis oben Fn. 36.
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den Ambivalenzen vieler rechtlicher Instrumente aus, wie etwa dem des geistigen Eigentums. Jedenfalls gibt die Beschäftigung mit dem Wechselverhältnis zwischen Recht und Innovation keinen Anlass, bestimmte in der Rechtsordnung einsetzbare Konzepte und Strategien sowie Regelungsinstrumente und Handlungs- sowie Bewirkungsformen als grundsätzlich innovationsfeindlich einzustufen (zu „verteufeln“) oder von vornherein als innovationsfördernd zu überhöhen. 5. Gerade weil das Recht nicht nur auf das Innovationsziel ausgerichtet ist, sondern um die Harmonisierung unterschiedlicher Interessen und entsprechend unterschiedlicher Ziele bemüht sein muss, ist das reichhaltige Arsenal des Rechts als ein Potenzial zu verbuchen, das vielfältige Optionen bereitstellt und grundsätzlich dafür offen ist, dass deren Wahl mit Rücksicht auf die besonderen Probleme des jeweiligen Feldes vorgenommen wird. Selbst wenn sich feststellen lässt, dass bestimmte Optionen mit besonderem Blick auf das Innovationsziel grundsätzlich besser geeignet sind als andere, steht damit nicht per se fest, dass sie in der Rechtsordnung vorzugswürdig sind: Angesichts gegenläufiger Interessen und Schutzziele kann die Wahl einzelner besonders innovationsfreundlicher Optionen auch ausscheiden. 6. Auch hinsichtlich rechtlicher Handlungsmodi kennt die Rechtsordnung verschiedene Optionen. Selbstverständlich gibt es weiterhin das traditionelle imperative Recht (gebietend, verbietend oder auf andere Weise Grenzen setzend79), das insbesondere unverzichtbar ist, wenn es darum geht, bestimmte unerwünschte Verhaltensoptionen oder risikoorientierte Strategien zu unterbinden.80 Durch vielfältige Formen des stimulierenden Rechts81, das Möglichkeitsräume eröffnet, können bestimmte Verhaltensweisen gefördert (etwa als positive Anreize durch Bereitstellung von Informationen oder finanziellen oder sonstigen Ressourcen, oder als negative Anreize, etwa durch Abgabepflichten), aber auch Infrastrukturen geschaffen und funktionsfähig gehalten werden oder es können Haftungsregimes installiert werden, die Anreize der Risikovermeidung, aber gegebenenfalls auch für das Wagnis risikoorientierten Verhaltens schaffen können.82 Recht, das Möglichkeitsräume öffnet, ohne deren Nutzung durch konkrete Verhaltenspflichten und -begrenzungen voraussetzen oder vorschreiben zu können, bedarf 79 Zum Beispielfeld Umweltschutz s. etwa die Darstellung ordnungsrechtlicher Instrumente bei Ramsauer, Umweltverwaltungsrecht (Fn. 75), S. 104 ff. 80 Insbesondere Ökonomen stehen ordnungsrechtlichen Vorgaben unter Innovationsaspekten aber skeptisch gegenüber, s. etwa die Nachweise bei: Erik Gawel, Technologieförderung durch „Stand der Technik“: Bilanz und Perspektiven, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Innovationsfördernde Regulierung (Fn. 4), S. 199. 81 Dazu vgl. beispielhaft Sparwasser / Engel / Voßkuhle, Umweltrecht (Fn. 29), S. 101 ff. 82 Zu Möglichkeiten und Ambivalenzen im Haftungsrecht s. Anne Röthel, Zuweisung von Innovationsverantwortung durch Haftungsregeln, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Innovationsverantwortung (Fn. 7), S. 335 ff.
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darauf ausgerichteter Regelungstechniken und -instrumente. Selbst wenn es einen Rahmen setzt, also den Korridor des Möglichen begrenzt, enthält es, wenn überhaupt, vielfach nur Zielvorgaben oder Orientierungen für Verhalten, darunter auch innovatives Verhalten. Es will Optimierungen ermöglichen,83 muss in der Folge aber auf Implementationsvorkehrungen verzichten, wie sie im traditionellen eingreifenden Recht verfügbar sind (wie Verwaltungszwang, Geldbußen oder gar Strafen). 7. Soweit es um den Abgleich unterschiedlicher Interessen geht, gibt es vielfältige Möglichkeiten eines (auch) auf Konsensbildung ausgerichteten Rechts oder der Kooperation zwischen den verschiedenen betroffenen Akteuren. Auch kann das Recht Mittel für die Moderierung von Konflikten, gegebenenfalls auch deren Schlichtung und selbstverständlich – bei erfolglosen Bemühungen anderer Art – der gerichtlichen Streitentscheidung, bereitstellen. Soweit bestimmte Instrumente als zu einseitig (hinsichtlich der Chancen und Risiken) eingeordnet werden, gibt es Möglichkeiten des Instrumentenmixes.84 8. Gerade unter dem Aspekt der Ermöglichung von Innovationen durch private Akteure bietet sich das Konzept regulierter Selbstregulierung85 an. Gemeint ist die verstärkte Nutzung der Strategie koordinierter Problembewältigung bei vorrangigem Vertrauen auf die Problemlösungskapazität privater Akteure, das allerdings durch eine rechtliche Strukturierung und Rahmensetzung, etwa durch Gewährleistungsverwaltungsrecht86, ergänzt wird. Typisch für das Konzept regulierter Selbstregulierung ist, dass das Recht die Hauptverantwortung der Akteure der gesellschaftlichen Selbstregulierung überlässt, aber zugleich Ordnungsleistungen vorhält, gemeinwohlsichernde Grenzen oder Stimuli setzt und Auffangordnungen für den Fall defizitärer privater Problembewältigung bereitstellt, aber auch gegebenenfalls kompensatorisch Nachteile abfedert.87 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass regulierte Selbstregulierung voraussetzungsvoll ist und neben Chancen einer angemessenen, flexiblen und für Differenzierungen offenen Problembewältigung auch Risiken provozieren kann.88 So Vgl. dazu etwa Roßnagel in diesem Bande (I. 2.). Lothar Michael, Formen- und Instrumentenmix, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, GVwR II (Fn. 65), § 41. 85 Dazu s. Eifert, Regulierungsstrategien (Fn. 44), § 19 Rn. 52 ff.; Beiträge in: Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates, Die Verwaltung, Beiheft 4, 2001, sowie die Beiträge von Matthias Schmidt-Preuß und Udo Di Fabio, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1997), S. 160 ff., 235 ff. 86 Dazu s. Andreas Voßkuhle, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatlicher Verantwortung, VVDStRL 62 (2003), S. 266 ff. Dazu s. statt vieler Eifert, Regulierungsstrategien (Fn. 44), § 19 Rn. 19 ff. 87 Zu dem Konzept s. auch Wolfgang Hoffmann-Riem, Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen – Systematisierung und Entwicklungsperspektiven, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann, Auffangordnungen (Fn. 64), S. 300 ff. 88 Dazu s. Eifert, Regulierungsstrategien (Fn. 44), § 19 Rn. 60. 83 84
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können durch die Verkoppelung unterschiedlicher Handlungsrationalitäten schwer auflösbare Komplexitäten entstehen, die Leistungen verhindern. Selbstregulierung kann zu einer verantwortungslosen Unübersichtlichkeit oder zum Fehlschlag des Zusammenwirkens heterogen orientierter Handlungsträger führen, aber auch zu einer Vermischung von Verantwortlichkeiten in der staatlichen oder der gesellschaftlichen Sphäre, darunter auch zu dem Risiko des „Capture“ staatlicher Akteure durch Träger privater Interessen. Jedenfalls ist zu vermeiden, dass bestimmte Interessen ohne normative Rechtfertigung einseitig bevorzugt werden. Auch ist zu beachten, dass Selbstregulierungsmechanismen nicht über die für hoheitlich gesetztes Recht typischen Legitimationsfaktoren verfügen – insbesondere die für staatliches Handeln typische, auch über Rechtsbindung erfolgende, demokratische Rückkoppelung an den Gesetzgeber als Vertreter der Allgemeinheit 89, die zugleich eine Rückbindung an Gemeinwohlvorgaben bedeutet. 9. Das Konzept regulierter Selbstregulierung ist eines von mehreren möglichen Mustern zur Bewältigung von Interdependenzen, durch die das Ensemble formeller und informeller Verfahren und Organisationen geprägt ist und zu deren Bewältigung unterschiedliche Koordinationsmodi einsetzbar sind. Die insbesondere von der Governance-Forschung herausgearbeiteten Koordinationsmodi Hierarchie, Verhandlung, Wettbewerb / Markt und Netzwerk (s. o. IV. 3.) sind auch in innovationsrelevanten Zusammenhängen bedeutsam. Sie verdeutlichen zugleich, dass die in vielen Teilen der wirtschaftswissenschaftlichen Innovationsforschung erfolgende Verengung auf den Koordinationsmodus Markt eine Verengung auch in analytischer Hinsicht bedeutet. Diese Koordinationsmodi können das Verhältnis unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteure untereinander, aber auch das zwischen nichtstaatlichen oder hybriden (staatlich-nichtstaatlichen) Akteuren prägen. Speziell im Innovationsbereich ist von Bedeutung, dass Erfindungen insbesondere, aber nicht nur, in Technikfeldern meist in Kombination mit anderen Innovationen, darunter solchen, die notwendig aufeinander aufbauen, beruhen.90 Dies setzt Abstimmungen voraus, die etwa durch Lizenzvereinbarungen, durch wechselseitige Standardisierung oder durch Technologietransfer erfolgen können und die von vornherein in den Innovationsprozess integriert oder im späteren Verlauf eingebaut werden. Vertragliche Vereinbarungen über Vergütungen, die Nutzung von Patenten, den Aufbau von Patentpools oder die Regelung der Weiterverwertung können hinzukommen. Recht kann aber auch Grenzen dafür setzen, etwa im Kartellrecht oder durch Einräumung von Zugangsrechten zu geistigem Eigentum, so durch urheberrechtliche Vorkehrungen. Verknüpfungen können in stabilen Hierarchien, in strategischen Partnerschaften oder im Zuge flexibler Kooperationen geschehen und dabei auf lose oder projektartig aufgebaute Netzwerke zugreifen.91 Das für Innovationsprozesse Schneider, Innovationsfreiheit (Fn. 56), S. 346 ff. Vgl. Stefan Rolf Huebner, Gemeinschaftliche Innovation und Patentpools, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Geistiges Eigentum (Fn. 3), S. 181 ff. 89 90
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so wichtige neue Wissen „ist Produkt einer relationalen (nicht mehr: personalen oder organisationalen) Intelligenz, die innerhalb strategisch und situativ agierender Communities of Creation erzeugt wird“.92 Die Wirkungsweise der eingesetzten Koordinationsmodi bedarf gegebenenfalls der Sicherung ihrer Leistungsfähigkeit durch Recht. Dies gilt etwa für den Modus Wettbewerb, für den das Recht gegebenenfalls Spielregeln bereithalten muss, um Machtasymmetrien auszuschließen, die ihn funktionsunfähig machen können, oder um Bedingungen zu gewährleisten, dass alle sich an bestimmte Spielregeln halten. Für Kooperation, ganz besonders die in Netzwerken93, bedarf es eines auf ihre Leistungen und das Verhalten der Akteure ausgerichteten Vertrauens. Rechtliche Impulse können z. B. durch die Ausgestaltung der Immaterialgüterrechte oder die rechtliche Anerkennung oder gar Abstützung von (Industrie-)Standards erfolgen, allerdings stets unter dem Risiko ambivalenter Auswirkungen auf die Innovationsbereitschaft und -fähigkeit. 10. Grundsätzlich gilt im Hinblick auf das in dem Projekt im Zentrum stehende Thema der Innovationen, dass diese nicht rechtlich geboten, sondern allenfalls rechtlich umhegt und durch Recht ermöglicht, aber zugleich mithilfe des Rechts auch an Gemeinwohlziele rückgebunden werden können und gegebenenfalls müssen, selbst wenn solche Ziele aus der Sicht der Innovateure keine Priorität haben; für andere Teile der Gesellschaft können sie gegebenenfalls unabdingbar oder jedenfalls wünschenswert sein. Insofern empfiehlt es sich weiterhin, Recht als Optionenraum zu verstehen (siehe oben IV. 5., 6.), der (auch) Möglichkeiten für Innovationen bereithält, aber in dem auch Schutz gewährt wird. Recht als Schutzrecht kann zum einen als Schutzrecht für Innovateure – Schutz ihrer Innovationstätigkeit – ausgestaltet werden.94 Da von Innovationen – oder deren Unterbleiben – aber auch andere Personen betroffen werden können, geht es auch um den Schutz derjenigen, die Möglichkeitsräume für Verhalten jenseits von Innovationstätigkeiten für sich beanspruchen, etwa – so im Medienbereich – die Möglichkeit zur nicht manipulierten kommunikativen Entfaltung oder zur ungestörten psychosozialen Entwicklung als Jugendlicher. 11. Keinesfalls darf es darum gehen, die Entwicklung von Innovationen als solche zu einem eigenständigen Zielwert zu machen, ohne zugleich auch Vorsorge für 91 Dazu vgl. Karl-Heinz Ladeur / Thomas Vesting, Geistiges Eigentum im Netzwerk – Anforderungen und Entwicklungslinien, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Geistiges Eigentum (Fn. 3), S. 123, 133 f. 92 So Ladeur / Vesting, Geistiges Eigentum (Fn. 91), S. 137. 93 Zu Netzwerken s. etwa Gunther Teubner et al. (Hrsg.), Netzwerk als Vertragsverbund: Virtuelle Unternehmen, Franchising, Just-in-time in sozialwissenschaftlicher und juristischer Sicht, 2004; Gunther Teubner, Diabolik des Netzwerkversagens, in: Augsberg, Ino (Hrsg.), Ungewissheit als Chance, 2009, S. 109 ff. 94 Dazu: Christine Godt, Innovationsfreiheit und Innovationsverantwortung: Geistiges Eigentum und öffentliche Ziele post grant, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Geistiges Eigentum (Fn. 3), S. 364 ff.
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den Umgang mit den durch Innovationen möglichen Risiken zu schaffen. Zugleich aber darf diese Vorsorge nicht so rigoros vorgesehen sein, dass die Nutzenspotenziale – etwa die der Wissensgenerierung auch im Kontext risikogeneigten Verhaltens – unausgeschöpft bleiben. Der grundsätzliche Erhalt auch solcher Potenziale gehört mit zu dem Konzept der Innovationsverantwortung95 (etwa orientiert an den Grundsätzen der Nachhaltigkeit, Umwelt-, Gesundheits- oder Demokratieverträglichkeit u. ä.), das auch auf die Generierung neuen Wissens verweist. Letzteres zielt ebenso wie das Konzept der Innovationsoffenheit 96 auf die Verfügbarkeit von Möglichkeitsräumen: auf die Schaffung und den Ausbau von Verhaltensoptionen, bei deren Wahl in einer auf Verhaltensfreiheit einerseits, aber auch auf Rücksichtnahme auf die Verhaltensfreiheit anderer andererseits ausgerichteten Weise Interessen wechselseitig zugeordnet werden, so durch Abwägung und Ausbalancierung mit dem Ziel, allen möglichst weitgehend Verwirklichungschancen zu belassen (Herstellung praktischer Konkordanz).97 12. Traditionelle Funktionen des Rechts wie Grenzsetzung, Ermöglichung, Stimulierung oder Sicherung von Anpassungsflexibilität und Zukunftsorientierung bleiben auch im innovationserheblichen Bereich wichtig. Die angelsächsischen Schlagworte des Activating, Enabling, Protecting and Providing erfassen diese Schutzfunktionen in anderer Terminologie, ohne sie als solche infrage zu stellen. Das Zusammenspiel von Grenzsetzung und der Schaffung von Optionen für eigenbestimmtes, aber Interessen anderer berücksichtigendes Verhalten kann am Besten in dem Bild des Korridors für Optionen eingefangen werden, den das Recht bereitstellt, in dem es bestimmte Verhaltensweisen rechtlich ausschließt, andere ermöglicht, für die Wahl von Optionen aber gegebenenfalls zugleich normative Orientierungen verfügbar macht, durch die ein für Innovationen begehbarer (oder sie beengender) Korridor mitbestimmt wird. Wichtig ist die Nutzbarkeit rechtlicher Instrumente für Ziele wie Rechtssicherheit, den rechts- und sozialstaatlich motivierten Schutz Schwacher und vor allem den abwägenden Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen mehrerer. 13. Die Sicherung der innovationsfreundlichen Funktionen von Recht und die Minimierung innovationshemmender oder -hindernder Wirkungen setzen voraus, dass Innovationsprozesse in Kenntnis rechtlicher Rahmenbedingungen gestaltet werden oder gar, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen als positiv verbucht werden – etwa als Stabilisierung von Erwartungen. Dies funktioniert regelmäßig nur bei einer frühzeitigen Einbeziehung rechtlicher Vorgaben in das Management von Innovationsprozessen. Notwendig dafür ist ein Recht, das eine solche frühzeitige Nutzung ermöglicht. Führen Vorbehalte gegenüber dem Recht dazu, es Dazu weiterführend Gawel, Gemeinwohlverpflichtung (Fn. 46), S. 69 ff. s. o. Fn. 7. 97 Dazu allgemein Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rn. 317 ff. S. ferner Hoffmann-Riem / Fritzsche, Innovationsverantwortung (Fn. 63), S. 17 f. 95 96
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zunächst auszublenden und darauf zu vertrauen, dass später ein Weg zur Vermeidung oder jedenfalls Verminderung rechtlicher Restriktionen gefunden wird, birgt dies das Risiko einer Fehlleitung von Innovationsbemühungen in sich. Andererseits sind Vorbehalte gegenüber dem Recht verständlich, wenn eingeschaltete Juristen sich in erster Linie als Bedenkenträger verstehen. Ziel muss es sein, auch sie so in kooperativ gestaltete Innovationsprozesse einzubinden, dass sie ihr eigenes kreatives Potenzial nutzen und Wege einer innovationsfreundlichen rechtlichen Begleitung des Innovationsprozesses finden.98 14. In den innovationserheblichen Bereichen ist wegen der Zukunftsoffenheit das Problem des Wissens oder besser des Nichtwissens und der Ungewissheit sowie des verborgenen Wissens zentral.99 Das Nicht-Wissensproblem muss möglichst legitimationssteigernd bewältigt werden. Dabei wird es einerseits darum gehen müssen, die verfügbaren Wissenspotenziale zu nutzen und Konzepte oder Strategien für den Umgang mit Nichtwissen oder Noch-Nichtwissen bereitzustellen. 100 Da zukünftige Entwicklungen aber nicht sicher vorhergesehen werden können und damit Risiken nicht auszuschließen sind101 – selbst wenn deren Eintritt im konkreten Fall zunächst für unwahrscheinlich gehalten oder gar nicht vorhergesehen worden ist –, muss für Reversibilität gesorgt werden und dafür, dass im Recht selbst auch Rückholoptionen bereitgehalten und „mitlaufende Reparaturen“ im Innovationsprozess102 ermöglicht werden. Es ist nicht nur vorzusehen, dass bestimmte Innovationsprozesse gegebenenfalls abgebrochen oder umgesteuert oder Neuerungen bei Eintritt überwiegend nachteiliger Wirkungen nicht genutzt werden, sondern auch, dass auf der Grundlage früherer Entscheidungen getroffene rechtliche Vorkehrungen nicht zum Bestandsschutz einer Qualität führen, die eine verantwortungsvolle Reaktion auf neues Gefahren- oder Nutzenwissen verhindert.103 98 Die Notwendigkeit der Berücksichtigung rechtlicher Faktoren stellt sich verstärkt, wenn – wie es insbesondere bei sozialen Innovationen häufig der Fall ist – für ihren Erfolg rechtliche Gestaltungen unverzichtbar sind. Dazu s. – wenn auch „nur“ für eine „Reform“ von Verwaltungsprozessen – Robert F. Heller / Eike Richter, Das Recht als erfolgskritischer und reformstrategischer Faktor im E-Government, DVBl. 2010, S. 345 ff. 99 Hierauf verweist die große Zahl wissenschaftlicher Diskurse zum Wissensproblem. Dazu s. Alfons Bora, Innovationsregulierung als Wissensregulierung, in: Eifert / HoffmannRiem, Innovationsfördernde Regulierung (Fn. 4), S. 26 ff.; Rainer Völker / Sigrid Sauer / Monika Simon, Wissensmanagement im Innovationsprozess, 2007; Gunnar Folke Schuppert / Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Governance von und durch Wissen, 2008; am Beispiel von Pflanzentreibstoffen: Stephan Albrecht, Transgene und andere Nutzpflanzen für energietechnische Nutzungen: Innovationen zwischen klimapolitischen Imperativen, öffentlichen Subventionen und widersprechendem Implikationswissen, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Innovationsverantwortung (Fn. 7), S. 209 ff. 100 Dazu s. etwa Wolfgang Hoffmann-Riem, Wissen, Recht und Innovation, in: Röhl, Hans Christian (Hrsg.), Wissen – Zur kognitiven Dimension des Rechts, Die Verwaltung, Beiheft 9, 2010, S. 159 ff.; Michael Rodi, Innovationsförderung durch ökonomische Instrumente der Umweltpolitik, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Innovationsfördernde Regulierung (Fn. 4), S. 154 ff. 101 Zum Risikowissen etwa Gawel, Gemeinwohlverpflichtung (Fn. 46), S. 83 ff. 102 Bora, Wissensregulierung (Fn. 99), S. 36.
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15. Dabei wird es eine wichtige Aufgabe des Rechts sein, den Modus des Umgangs mit unvollständigem Wissen oder Nichtwissen weiter zu differenzieren und neue Wege, auch prozeduraler Art, dafür zu entwickeln. Ein Beispiel dafür ist das im Bereich der Chemikalienregulierung geschaffene Vorhaben REACh104, das insbesondere Vorkehrungen zur Prozeduralisierung105 kennt. Die darin beschrittenen Wege der Wissensgenerierung, die vor allem auf das Wissenspotenzial bei den betroffenen Akteuren – im Beispiel bei denen, die an der Wertschöpfungskette von Chemikalien mitwirken – zurückgreifen, sind wichtig, da der Staat immer mehr einsehen muss, dass seine Handlungsträger allein nicht über hinreichendes Wissen verfügen und verfügen können, um Risiken und Chancen angemessen abschätzen zu können. Verantwortungsteilung wird es daher auch im Bereich der Wissensgenerierung verstärkt geben müssen, aber auch bei dem Tragen der Folgen von Nichtwissen, die sich etwa in der Verwirklichung von nicht so vorhergesehenen Risiken zeigen. Hier kann aber versucht werden, durch das Zusammenspiel unterschiedlicher Regelungsregimes für eine wechselseitige Abfederung von Regulierungsdefiziten zu sorgen, etwa durch das Zusammenspiel prozeduraler Vorkehrungen der Wissensgenerierung (Pflicht zur Informationsbereitstellung, zur Risikobewertung, zum Monitoring, zur Ermittlung von vergleichbaren Lösungsansätzen, zum Alternativenvergleich usw.) mit Haftungsregeln106 und Versicherungspflichten sowie solchen Regeln, die auf solidarischen Einstandspflichten (Fonds) oder staatliche Auffanggarantien zielen oder mit Rückholoptionen arbeiten. Wichtig dürfte es auch sein, neben der bekannten Technikfolgenabschätzung107 Aufmerksamkeit auf die Innovationsfolgen zu richten, etwa durch Institutionalisierung der Innovationsfolgenabschätzung.108 Ein Innovationsabwägungstest 109 kann dann auf die Abwägung von Chancen und Risiken zielen. So liegt es nahe, die durch Innovationsanreize etwa für den Erstinvestor aus innovationstheoretischer Sicht geschaffenen Vorteile mit den damit verbundenen Nachteilen, etwa den Beschränkungen für Nachfolgeinnovationen, systematisch zu vergleichen und abzuwägen, ob die Vorteile die Nachteile überwiegen. Dabei können auch Parameter der wirtschaftswissenschaftlichen Innovationstheorien bedeutsam werden. In diese Ab103 Vgl. dazu statt vieler Martin Eifert, Innovationsverantwortung in der Zeit, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Innovationsverantwortung (Fn. 7), S. 369 ff. 104 Zu REACh s. die Nachw. in. Fn. 8. Kritisch zu dem normativen Konzept, insbesondere seiner Umsetzung, aber etwa Jan Boris Ingerowski, Die REACh-Verordnung, 2010. 105 Zu ihr s. statt vieler Ivo Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge, 2005, S. 173 ff., 498 ff. 106 Dazu s. Röthel, Haftungsregeln (Fn. 82), S. 335 ff.; Hoeren in diesem Bande. 107 Zu ihr s. statt vieler Alexander Roßnagel, Rechtswissenschaftliche Technikfolgenabschätzung, 1993; Carl Böhret, Gesetzesfolgenabschätzung, 1997; ders. / Götz Konzendorf, Handbuch Gesetzesfolgenabschätzung, 2001; Ulrich Smeddinck, Gesetzesfolgenabschätzung und Umweltverträglichkeitsprüfung, DÖV 2004, S. 103 ff. 108 Dazu s. Ivo Appel, Aufgaben und Verfahren der Innovationsfolgenabschätzung, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Innovationsverantwortung (Fn. 7), S. 147 ff. 109 Dazu s. Kühling, Zugangsregulierung (Fn. 40), S. 60.
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wägung müssen aber gegebenenfalls weitere Gemeinwohlinteressen eingebaut werden, auch solche, die in ökonomischen Analysen zu kurz kommen. Innovationsermöglichung ist nur ein Gemeinwohlzweck unter mehreren.110 16. Recht soll regelmäßig zwar Verhaltenssicherheit gewährleisten, muss aber auch flexibel genug sein, um auf veränderte Bedingungen oder den Befund der Fehlsteuerung durch Recht angemessen reagieren zu können. In innovationsbezogenen Bereichen muss insbesondere neues Wissen – Risikowissen und Nutzenwissen – er- und verarbeitet und es muss die dafür erforderliche Verarbeitungskapazität im Recht gesichert werden. Dies läuft auf das Ziel hinaus, im konkreten Vorgang der Rechtsanwendung und Implementation zu lernen, aber auch, die Lernfähigkeit von Recht generalisierend zu sichern, es also auch als „lernendes Recht“111 einzurichten. Dies fordert eine entsprechend flexible Methodik und Dogmatik und entwicklungsoffene Konzepte der Rechtsentwicklung. 17. Die in der Innovationsforschung vielfach beobachtete Pfadabhängigkeit von Entwicklungen und insbesondere Innovationen112 – darunter die Bedeutsamkeit früherer Weichenstellungen etwa für bestimmte technologische Regimes und entsprechende Entwicklungskorridore mit den Vorteilen der Erleichterung von Folge-(Anpassungs- und Verbesserungs-)Innovationen, aber dem Nachteil des Abblockens grundlegender Neuerungen (radikale oder Basisinnnovationen) – wird durch das Recht befördert. Der von ihm eröffnete Möglichkeitsraum ist zugleich ein Parameter für den innovationsbezogenen Entwicklungskorridor. Aber auch die Entwicklung des Rechts selbst ist pfadabhängig, insbesondere eingebettet in den durch die Normgenese, die Normtexte, rechtliche Systemzusammenhänge, rechtsdogmatische Konstruktionen, Rechtskulturen der Rechtsanwendungsinstanzen und Konventionen der Rechtspraxis gestalteten Möglichkeitsraum der Rechtsinterpretation und -anwendung. Da Rechtsnormen flexibel auf ihren Realbereich – den normmaßgeblichen Ausschnitt der sozialen, ökonomischen, politischen, kulturellen, technologischen u. ä. Realität – reagieren, gibt es auch Wechselwirkungen zwischen Pfaden technologischer oder sozialer Innovation einerseits und der Rechtsentwicklung andererseits. Pfadkreativität und Pfaderneuerung113 sind in beiden Feldern wichtig zur Unterstützung innovativer Entwicklungen. Neue DenkVgl. etwa Schneider, Innovationsfreiheit (Fn. 56), S. 352. Martin Eifert, Regulierte Selbstregulierung und die lernende Verwaltung, Die Verwaltung, Beiheft 4 (Fn. 85), S. 137 ff.; ders., Innovationsverantwortung (Fn. 103), S. 377 ff.; die bislang geringe Ausprägung dieser Form im Rechtssystem betont auch Alfons Bora, Zukunftsfähigkeit und Innovationsverantwortung – Zum gesellschaftlichen Umgang mit komplexer Temporalität, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Innovationsverantwortung (Fn. 7), S. 57. 112 Zu ihr s. Dosi, Technological Paradigms (Fn. 41); Perez Carlota, Technological Revolutions and Financial Capital: The Dynamics of Bubbles and Golden Ages, 2002. 113 Erweisen sich beispielsweise – wie gegenwärtig der Ressourcenverbrauch, die Klimabelastung oder die Verteilung von Chancen im globalen Maßstab – als unverantwortlich vor zukünftigen Generationen, bedarf es einer Pfaderneuerung, die vom Recht allein aber nicht bewirkt werden kann. 110 111
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stile im Sinne Ludwik Flecks114 oder Wechsel von Paradigmen in dem von Thomas Kuhn gemeinten Sinne115 können helfen, die Richtungen von Pfaden zu verändern, neue Pfade zu erschließen oder Pfadabzweigungen zu verursachen. 18. Letztlich ist innovationsorientiertes Handeln in komplexe Infrastrukturen eingebettet, mit denen sich insbesondere die Institutionenökonomie befasst. „Institutions are . . . the patterns of interaction that govern and constrain the relationships among individuals. Institutions include formal rules, written laws, formal social conventions, informal norms and shared beliefs about the world, as well as means of enforcement“.116 Auch Innovationen werden „heute zumeist als Produkt des – nur teilweise bewussten und koordinierten – Zusammenwirkens all jener Institutionen und Akteure verstanden, die wissenschaftlich forschen, Wissen akkumulieren und vermitteln, Arbeitskräfte ausbilden, Technologien entwickeln, innovative Produkte und Verfahren hervorbringen, Kapital zur Verfügung stellen sowie Industriepolitik und Risikosteuerung betreiben und die hierfür maßgeblichen normativen Vorgaben setzen“.117 Im Entscheidungsprozeß bedarf es häufig einer fortlaufenden Anpassung an Einsichten über die Wirkungen vorangegangener Entscheidungen und an Veränderungen im Realbereich. Dies wird erleichtert, wenn die rechtlichen Regelungsstrukturen in ihrer Gestalt und Implementierung an Prinzipien wie denen der Prozeduralisierung118, Flexibilisierung119 und Temporalisierung120 orientiert sind.121 19. Stets müssen Ambivalenzen rechtlicher Regelung berücksichtigt werden.122 Das gilt etwa bei dem proprietären Schutz von Innovationen als geistiges Eigentum 114 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 1980 (zuerst 1935). 115 Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, 1962 (deutsche Ausgabe: Die Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen, 1976). 116 So – in anderem Zusammenhang – Douglass C. North / John Joseph Wallis / Barry R. Weingast, Violence and the Rise of Open-Access-Orders, Journal of Democracy 20 (2009), S. 55, 58. 117 So die Formulierung bei Scherzberg, Innovationen und Recht (Fn. 35), S. 278. 118 Dazu s. statt vieler Gralf Peter Calliess, Prozedurales Recht, 1999; Karl-Heinz Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie, 1992. 119 Dazu vgl. Bora, Zukunftsfähigkeit und Innovationsverantwortung (Fn. 111), S. 45 ff. 120 Dazu s. Ivo Appel, Methodik des Umgangs mit Ungewissheit, in: Schmidt-Aßmann, Eberhard / Hoffmann-Riem, Wolfgang (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 327, 352. 121 Scherzberg, Innovationen und Recht (Fn. 35), S. 307 f.: Dafür sind die Kontexte wichtig, in denen Beziehungen gebildet und Abläufe organisiert sind. Die verfügbaren Modi der sozialen Anregung, Koordination und Kontrolle von Innovationsprozessen müssen sektorenspezifisch und bedarfsabhängig so genutzt und aufeinander abgestimmt werden, dass sich die wissensgenerierende und -verarbeitende Kapazität von Markt, Politik, Recht und öffentlichem Diskurs in Richtung auf gesellschaftliche Entwicklungsbedarfe wirksam entfaltet. 122 s. auch oben II.2.
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oder der Kombination von Innovation und Standardisierung.123 Ein anderes Beispiel für Ambivalenz sei aus dem Telekommunikationsrecht benannt. Das Telekommunikationsrecht ist im Hinblick auf Netzinfrastrukturen bemüht, im Interesse optimaler (chancengleicher) Nutzung der Infrastrukturen für möglichst alle Durchlässigkeiten zu sichern, etwa durch Kompatibilitäts- und Interoperabilitätserfordernisse. Diese können allerdings Innovationen durch Verbote von Differenzierungen erschweren. Sie sind andererseits gegebenenfalls wegen des Vorteils, der in der allgemeinen Nutzbarkeit besteht, unverzichtbar. Werden Kommunikationsinhalte im Netz als öffentliche Güter bereit gestellt, ist es leichter zu rechtfertigen, Interessen an Ausschließlichkeitsrechten zurücktreten zu lassen. Allerdings können Ausschließlichkeitsrechte zur Sicherung besonderer Ziele, wie der Investitionsbereitschaft, in anderen Konstellationen trotz ihrer auch innovationsbeschränkenden Wirkung zu rechtfertigen sein. 20. Es bedarf weiterer Klärung, ob und wieweit Schutzziele nur mit Hilfe rechtlicher Vorgaben oder auch – allein oder verzahnt damit – auf andere Weise verfolgt werden können. Ein Beispiel sind gelegentlich gegebene Möglichkeiten, inhaltsbezogene Regelungsziele nicht durch rechtliche Anforderungen an Verhalten, sondern an den Einsatz spezifischer Techniken umzusetzen oder jedenfalls durch solche – gegebenenfalls rechtlich aufgegebene – Techniken die Umsetzung von Schutzzielen zu erleichtern. Soweit beispielsweise – wie es insbesondere im Bereich des Daten- bzw. Persönlichkeitsschutzes124 und des Jugendschutzes125 diskutiert wird – der Schutz durch Recht durch einen Schutz durch Technik, insbesondere die Architektur von Techniksystemen oder die Schaffung von Wahlmöglichkeiten bei Grundeinstellungen (wie Sichtbarkeit, Gelegenheit zur Suchmaschinenerfassung, automatische Löschzeitpunkte)126, ergänzt oder gar ersetzt werden kann, also ein hinreichendes Vertrauen in die Möglichkeit und Durchführung des Schutzes durch Technik gerechtfertigt ist, können oder müssen die Art und Dichte der rechtlichen Regulierung entsprechend modifiziert werden. Dass es dazu Möglichkeiten gibt, auch eine Reihe praktischer Anwendungen, ist beispielsweise für die Innovation der Vorsorge für Persönlichkeitsschutz durch Technikgestaltung, die dem Prinzip der Datensparsamkeit und -vermeidung verpflichtet ist, näher beschrieben worden.127
123 Zu Letzterem s. insbesondere die Fallstudie von Alexander Gerybadze, Innovationspartnerschaften, Patentpools und Standardsetzungsgemeinschaften: Verteilung und Zuteilung der Rechte und neue Organisationsformen, in: Eifert / Hoffmann-Riem, Geistiges Eigentum (Fn. 3), S. 165 ff. 124 Dazu s. etwa Alexander Roßnagel, Persönlichkeitsentfaltung zwischen Eigenverantwortung, gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Regulierung, in: Bieber / Eifert / Groß / Lamla, Soziale Netze (Fn. 58), S. 283; s. auch Roßnagel in diesem Bande. 125 Dazu s. Erdemir in diesem Bande. 126 Dazu. s. Eifert in diesem Bande (I. 1.). 127 Roßnagel in diesem Bande (insbesondere III. 3.).
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Für den Einsatz von Technik als Schutzinstrument ist allerdings regelmäßig eine Reihe darauf abgestimmter rechtlicher Regelungen erforderlich.128 Ein solches Recht versteht sich dann so – oder muss so konstruiert werden –, dass es auch Stimuli für entsprechende technologische Innovationen setzt, die einen hinreichenden Schutz durch Technik ermöglichen. Solche Anreize können darin bestehen, dass die Bemühungen der Akteure – etwa über Auditierung oder / und Zertifizierung – formell anerkannt werden129 und sie dies für Image- oder Produktwerbung u. ä. einsetzen können. 21. Recht ist aber nur ein Steuerungsmedium unter mehreren. Das Motiv, rechtskonform zu handeln, ist nur eines unter verschiedenen möglichen. Da innovationsermöglichendes Recht nicht vorrangig auf Grenzsetzung, sondern auf Eröffnung von Möglichkeitsräumen / Optimierungschancen zielt, gehört dem Motiv, sich den entsprechenden Anreizen zu öffnen, besondere Aufmerksamkeit. Ungenutzte Verwirklichungsbedingungen bestehen beispielsweise, wenn es ökonomisch attraktiv ist, sich dem Werben um die Verwirklichung rechtlich gesetzter Ziele zu entziehen – wie etwa im Web 1.0 und 2.0 durch Missachtung von Grundsätzen der Vermeidung und Sparsamkeit personenbezogener Daten aus Gründen ihrer ertragskräftigen kommerziellen Verwertung.130 Dies mag in manchen Fällen rechtswidrig sein, häufig aber nicht, nämlich dann nicht, wenn das Recht bloß Anreize setzt, deren Befolgung in der Autonomie der Betroffenen liegt. Hier zeigt sich eine andere Facette der Paradoxie von Innovationspolitik: Es gilt nicht nur, etwas zu regeln, dessen Gegenstand noch nicht einmal feststeht, nämlich Neues, bevor es Wirklichkeit geworden ist,131 sondern auch Anreize für etwas zu setzen, dessen Anreizstrukturen vielfach noch unbekannt sind. Dabei sollen normative Orientierungen verfolgt werden, die anderen Orientierungen der Akteure möglicherweise zuwider laufen. Optionenorientiertes Recht ist von Kontextbedingungen seiner Befolgung noch stärker abhängig als traditionelles (etwa imperatives) Recht, ohne diese ihrerseits so beeinflussen zu können, dass stets Kontexte erhalten bleiben, die den erhofften Mehrwert an Kreativität sichern. Auf deren Aktivierung aber zielt die Eröffnung des Möglichkeitsraumes.
Illustrativ dazu Erdemir in diesem Bande (insbesondere V.). Beispiele dazu bei Roßnagel in diesem Bande (II. 3.). 130 Dazu Roßnagel in diesem Bande (IV. 1.). 131 Dazu s. Dieter Sauer, Perspektiven sozialwissenschaftlicher Innovationsforschung – eine Einleitung, in: ders. / Lang, Christa (Hrsg.), Paradoxien der Innovation. Perspektiven sozialwissenschaftlicher Innovationsforschung, 1999, S. 9, 20 f. 128 129
Die Autoren und Herausgeber Dr. Christoph Bieber, Politikwissenschaftler am Zentrum für Medien und Interaktivität der Universität Gießen. Prof. Dr. Martin Eifert, LL.M. (Berkeley), Professor für Öffentliches Recht am Fachbereich Rechtswissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen. Dr. Murad Erdemir, Justiziar der Hessischen Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien mit Sitz in Kassel. Prof. Dr. Thomas Hoeren, Professor für Informationsrecht und Rechtsinformatik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann-Riem, LL.M. (Berkeley), Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D., em. Professor für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der Universität Hamburg. Prof. Dr. Bernd Holznagel, LL.M. (Montreal), Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Roger Luethi, Dipl.-Informatiker am Institut für Organisation und Unternehmenstheorien der Universität Zürich. Prof. Dr. Dr. h.c. Margit Osterloh, Professorin für Organisation, Technologie- und Innovationsmanagment an der Universität Zürich. Prof. Dr. Alexander Roßnagel, Vizepräsident und Professor für Öffentliches Recht an der Universität Kassel. Prof. Dr. Margarete Schuler-Harms, Professorin für Öffentliches Recht, insbesondere Öffentliches Wirtschafts- und Umweltrecht an der Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg. PD Dr. Wolfgang Schulz, geschäftsführender Direktor des Hans-Bredow-Instituts für Medienforschung an der Universität Hamburg. Prof. Dr. Gerald Spindler, Dipl.-Ökonom und Professor für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Multimedia- und Telekommunikationsrecht an der Georg-August-Universität Göttingen. Prof. Dr. Barbara Thomaß, Professorin am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Prof. Dr. Thomas Vesting, Professor für Öffentliches Recht, Recht und Theorie der Medien an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.