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German Pages 396 Year 2009
INNOVATION UND RECHT III
Innovationsverantwortung
Herausgegeben von
Martin Eifert Wolfgang Hoffmann-Riem
asdfghjk Duncker & Humblot
Innovationsverantwortung
Innovationsverantwortung Innovation und Recht III
Herausgegeben von Martin Eifert Wolfgang Hoffmann-Riem
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
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Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-12973-7 (Innovation und Recht – Gesamtausgabe) 978-3-428-13151-8 (Innovation und Recht III) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Der vorliegende dritte Band der Reihe „Innovation und Recht“ befasst sich – basierend auf den Ergebnissen einer Tagung des von der VW-Stiftung finanzierten Projekts „Innovationsrecht“ – mit dem Konzept rechtlicher Innovationsverantwortung und seiner referenziellen und instrumentellen Realisierung. Der Begriff der Innovationsverantwortung bezieht sich auf Vorkehrungen zur Sicherung der Gemeinwohlverträglichkeit von Innovationen und ist damit eine Chiffre für eine normative Umhegung von Innovationsprozessen. Nachdem der erste Band des Projekts „Geistiges Eigentum und Innovation“ behandelt und der zweite sich der „Innovationsfördernden Regulierung“ zugewandt hat, werden im vorliegenden Band Aufgaben und Kapazitäten des Rechts zur Sicherung von Rechtsgütern und rechtlich geschützten oder nur gesellschaftlich anerkannten Interessen bei der Entwicklung von Innovationen ausgelotet. Nach rechtswissenschaftlich, soziologisch und institutionenökonomisch ausgerichteten einführenden Darlegungen werden Fragen der Risikoabschätzung und Vorsorge behandelt, bevor einzelne Referenzfelder näher bearbeitet werden, so die der Nanotechnologie, der Entwicklung neuronaler Implantate, des Chemikalienrechts (REACh) und des Elektrogesetzes. Abschließend folgen Überlegungen zu Strategien, Verfahren und Instrumenten, mittels derer die Folgen von Innovationen abgeschätzt, Informationen zur Reduktion von Ungewissheit generiert und Verantwortungsbereiche im Zusammenhang mit Innovationsrisiken zugewiesen und ausgestaltet werden können. Für die redaktionelle Begleitung des Bandes konnten die Herausgeber wieder auf die bewährte Betreuung durch Saskia Fritzsche vertrauen. Gießen / Hamburg, Mai 2009
Martin Eifert Wolfgang Hoffmann-Riem
Inhaltsverzeichnis Innovationsverantwortung – zur Einleitung Von Wolfgang Hoffmann-Riem und Saskia Fritzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I – Innovationsverantwortung als normativer Rahmen einer Gesellschaft der Selbst-Experimentation Zukunftsfähigkeit und Innovationsverantwortung – Zum gesellschaftlichen Umgang mit komplexer Temporalität Von Alfons Bora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Innovationsverantwortung durch Gemeinwohlverpflichtung rationaler Innovatoren – Ansätze der Institutionenökonomik Von Erik Gawel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil II – Risikoabschätzung und Vorsorge Vorsorge – Hemmschuh oder Katalysator für Innovation? Von Ortwin Renn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Das Innovationspotenzial des Vorsorgeprinzips unter besonderer Berücksichtigung des integrierten Umweltschutzes Von Christian Calliess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Aufgaben und Verfahren der Innnovationsfolgenabschätzung Von Ivo Appel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Teil III – Referenzfelder Innovationsverantwortung in der Nanotechnologie Von Arno Scherzberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Transgene und andere Nutzpflanzen für energietechnische Nutzungen: Innovationen zwischen klimaschutzpolitischen Imperativen, öffentlichen Subventionen und widersprechendem Implikationswissen Von Stephan Albrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Innovationsverantwortung für neuronale Implantate – Einige ethische und rechtspolitische Vorüberlegungen Von Michael Decker und Katja Stoppenbrink . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
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Inhaltsverzeichnis
Innovationsverantwortung im Chemikalienrecht Von Eckhard Pache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Innovationsverantwortung im Elektrogesetz Von Alexander Roßnagel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Teil IV – Verfahren und Instrumente Innovationsverantwortung in Verwaltungsverfahren Von Jens-Peter Schneider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Zuordnung der Innovations-Verantwortlichkeiten im Risikoverwaltungsrecht – Das Beispiel der REACh-Verordnung Von Martin Führ und Kilian Bizer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Zuweisung von Innovationsverantwortung durch Haftungsregeln Von Anne Röthel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Innovationsverantwortung als Ausgestaltungsdirektive beim Mix unterschiedlicher Instrumente Von Lothar Michael . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Innovationsverantwortung in der Zeit Von Martin Eifert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Die Autoren und Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393
Abkürzungen a.A.
andere Ansicht
ABl.
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Amtl. Slg.
Amtliche Sammlung
AöR
Archiv des öffentlichen Rechts
AVR
Archiv des Völkerrechts
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FS
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10
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VersR
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Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
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Zeitschrift für Europäisches Privatrecht
ZfU
Zeitschrift für Umweltpolitik und Umweltrecht
ZG
Zeitschrift für Gesetzgebung
ZUR
Zeitschrift für Umweltrecht
Innovationsverantwortung – zur Einleitung Von Wolfgang Hoffmann-Riem und Saskia Fritzsche
I. Zu Begriff und Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Zum Begriff der Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Zum Begriff der Innovationsverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Schwächen rechtlicher Innovationsregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Innovationsoffenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Ambivalenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Optimierungsgebote zwischen grundrechtlichen Freiheitsgewährleistungen, Schutzpflichten und innovationserheblichen Staatszielbestimmungen . . . . . . . . . . . .
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III. Insbesondere: Innovationsnachhaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Aufgabenverteilung zwischen Staat und Privaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Stimulierung der Wissensgenerierung durch Haftungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Prozessbindung und -konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Komplexe Temporalität als strukturelles Merkmal von Innovationsregulierung
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2. Ungewissheit als Charakteristikum innovationsregulatorischer Entscheidungen
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3. Herausforderungen für die rechtliche Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VII. Beispiele für rechtliche Wahrnehmungs- und Bewältigungsstrategien: Verfahren und Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VIII. Zum Nutzen intra- und transdisziplinärer Vorgehensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Innovationsrechtliche Verschränkung von öffentlichem Recht und Privatrecht . .
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2. Transdisziplinäre Offenheit und transdisziplinärer Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Zu Begriff und Herausforderungen 1. Zum Begriff der Innovation Vor allem in der wirtschaftswissenschaftlich geprägten Literatur werden Innovationen als Neuerungen von einer gewissen Signifikanz bzw. Nachhaltigkeit verstan-
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Wolfgang Hoffmann-Riem und Saskia Fritzsche
den, die in der Art der Lösung eines bekannten, evtl. aber auch in der Entdeckung eines neuen Problems und dessen Lösung bestehen und mit dem Ziel wirtschaftlicher Verwertung sowie gegebenenfalls der Sicherung von Wettbewerbsvorteilen am Markt erfolgen.1 Das Projekt Innovationsrecht ist demgegenüber nicht auf dieses Begriffsverständnis begrenzt. Da es sich nicht allein mit marktrelevanten, sondern allgemein mit Innovationen im außerrechtlichen Bereich und ihrer Beeinflussung durch Recht befasst, empfiehlt es sich vielmehr, das als Innovation zu verstehen, was in den vom Recht jeweils betroffenen gesellschaftlichen Bereichen als Innovation definiert wird.2 Im Vordergrund des Projekts stehen dabei technikorientierte (technologische) Innovationen, die aber mit sozialen Innovationen3 gekoppelt sein können. Die Befassung des Rechts mit solchen Innovationen kann weiter auch dazu führen, dass Normen auf neuartige Weise ausgelegt oder neue rechtliche Instrumente u. ä. geschaffen werden, also Innovationen im Recht erfolgen. Innovationen erschließen und binden durch Realisierung bislang unerschlossener technischer und sozialer Entwicklungspotentiale die Möglichkeiten in der Zukunft. Dies gilt für kleine (insbesondere inkrementelle) Innovationen ebenso wie für die Entwicklung neuer, basisinnovativer Technologien. Beispiele dafür bieten etwa die in diesem Band unter dem Gesichtspunkt der Innovationsverantwortung bearbeiteten Referenzfelder Nanotechnologie4 oder neuronale Medizintechnik.5 Letztere revolutionieren in ihren Anwendungsfeldern bisherige Vorstellungen des zukünftig Möglichen und beeinflussen etwa in Gestalt nachfolgender Anwendungsinnovationen technologische Entwicklungspfade. Auf solche Weise verändern Innovationen direkt und über soziale, ökologische und ökonomische Folgewirkungen den von Rechtsnormen in Bezug genommenen Wirklichkeitsausschnitt (ihren sog. Realbereich6). Die entsprechenden Änderungen 1 Vgl. zu entsprechenden Definitionsversuchen etwa Jürgen Hauschildt, Innovationsmanagement, 3. Aufl. 2004, S. 3 ff.; Torsten J. Gerpott, Strategisches Technologie- und Innovationsmanagement, 2. Aufl., 2005 S. 37 ff.; Alexander Gerybadze, Technologie- und Innovationsmanagement, 2004, S. 69 ff. Zur Profitmotivation von Innovationsanstrengungen s. Erik Gawel (Innovationsverantwortung durch Gemeinwohlverpflichtung rationaler Innovatoren – Ansätze der Institutionenökonomik,) i.d.B. S. 70. Ergänzend sei erwähnt, dass Innovationen keineswegs nur durch ökonomische Antriebe stimuliert werden, s. dazu etwa Margit Osterloh / Roger Luethi, Comments without Tragedy: Das Beispiel Open Source Software, in: Martin Eifert / Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Geistiges Eigentum und Innovation, 2008, S. 145 (151 ff.). 2 Diese Empfehlung durch eine wissenssoziologische Bewertung sozialer Deutungsmuster für die Einordnung einer Hervorbringung als Innovation abstützend Alfons Bora, Innovationsregulierung als Wissensregulierung, in: Eifert, Martin / Hoffmann-Riem, Wolfgang (Hrsg.), Innovationsfördernde Regulierung, 2008, S. 23 (30). 3 Dazu vgl. Wolfgang Hoffmann-Riem, Soziale Innovationen. Eine Herausforderung auch für die Rechtswissenschaft, Der Staat 2008, S. 588 ff. 4 Arnold Scherzberg, Innovationsverantwortung in der Nanotechnologie, i.d.B. S. 185 ff. 5 Michael Decker / Katja Stoppenbrink, Innovationsverantwortung für neuronale Implantate, i.d.B. S. 219 ff.
Innovationsverantwortung – zur Einleitung
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können den Ausgangs- und Anknüpfungspunkt für die Konkretisierung und Ausfüllung von Normen bilden bzw. einen Anstoß zu ihrer Modifikation geben. 2. Zum Begriff der Innovationsverantwortung Sowohl die Änderung bestehenden als auch die Schaffung veränderten Rechts hat viele Rücksichten zu nehmen, so insbesondere auf die Interessen, die in einem demokratisch fundierten Prozess als „Gemeinwohl“ definiert werden7. Dieses umfasst sowohl Individualinteressen als auch Interessen der Gesellschaft insgesamt oder ihrer Teile. Sie sollen mit Hilfe des Rechts berücksichtigt (möglichst befriedigt) und in diesem Sinne erwünschte Wirkungen erzielt sowie Lösungen vermieden werden, die zu unerwünschten Wirkungen führen. Für die Sorge um die Gemeinwohlverträglichkeit von Innovationen (in diesem weiten Sinne) soll der Begriff Innovationsverantwortung stehen. Seine Orientierungsdimension bezieht sich auf das Verhalten sowohl innovationsorientierter privater Akteure als auch des Staates anlässlich von Aufgaben der Gemeinwohlsicherung im Feld von Innovationen. Eine solche Innovationsverantwortung abzusichern, stellt das Recht vor eine große Herausforderung. Während das Recht in einem Rechtsstaat der Planbarkeit im Dienste von Rechtssicherheit und Gemeinwohl verpflichtet und mithin auf Erwartungssicherheit gerichtet ist, verlaufen Innovationsprozesse meist in spontandynamischer und damit nur bedingt zu prognostizierender Weise. Insbesondere die – gemäß der Untergliederung des Innovationsprozesses durch den Ökonom Joseph A. Schumpeter8 – als Invention und Innovation bezeichneten frühen Phasen einer (technologischen) Neuerung von der Erfindung über die Erforschung und Erprobung der technischen Realisierbarkeit bis hin zur Anwendungs- und Marktreife zeichnen sich meist durch schwer vorhersehbare, insbesondere rekursive, diskontinuierliche und fragmentierte Verläufe aus. Diese kann das Recht mit seinen Instrumenten – insbesondere den klassischen des Ordnungsrechts, wie den (relativ) statischen Ge- und Verboten – nur sehr begrenzt erfassen.9 Innovationen können 6 Zu dem Begriff siehe Andreas Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 1 Rn. 29 ff. 7 Zur Gemeinwohldiskussion s. statt vieler Herfried Münkler / Karsten Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht: Konkretisierung und Realisierung öffentlicher Interessen, 2002; Gunnar Folke Schuppert, Gemeinwohldefinition im pluralistischen Verfassungsstaat, GewArch 2004, S. 441. 8 Joseph A. Schumpeter, Konjunkturzyklen, Bd. 1, 1991, S. 91 ff. (in der amerikanischen Originalausgabe von 1939 S. 84 ff.). 9 Zur Rekursivität des Innovationsprozesses s. etwa Holger Braun-Thürmann, Innovationen, 2005, S. 38 ff. und Jan Fagerberg, Innovation – A Guide to the Literature, in: Ders. / Mowery, David C. / Nelson, Richard R. (eds.), The Oxford Handbook of Innovation, S. 8 f. (Box 1.3) jeweils m. w. N.
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Wolfgang Hoffmann-Riem und Saskia Fritzsche
nicht geboten, sondern nur ermöglicht werden. Umgekehrt ist es zwar möglich, sie zu verbieten, ein solches Verbot setzt regelmäßig aber ihre Vorhersehbarkeit in dem Sinne voraus, dass unerwünschte Folgen sich – was zumeist ja gerade nicht der Fall ist – hinreichend konkret abzeichnen. Auch andere Steuerungsansätze10, etwa anreizorientiertes Recht11, stehen vor dem Problem der nur begrenzten Vorhersehbarkeit von Entwicklungen sowie der Auswirkungen bestimmter rechtlicher Instrumente auf den Innovationsprozess und die Innovationsergebnisse. 3. Schwächen rechtlicher Innovationsregulierung Der Glaube, dass Recht die durch die ständige Erwartung von Innovationen in modernen Gesellschaften geschaffenen Herausforderungen angemessen meistern kann, ist keineswegs Allgemeingut. So wird Recht vielfach als Innovationshemmschuh oder Kreativitätsfessel und mittelbar als Wachstumsbremse bewertet.12 Und auch die – zur Überwindung entsprechender tatsächlicher Effekte bzw. zur Bewältigung der Dynamik und Komplexität der Verwaltungsaufgaben – stetig voranschreitende Ausdifferenzierung von Handlungs- und Bewirkungsformen des Rechts sowie von Verwaltungsverfahren (Verfahrensstufung u. a.) und Verwaltungsorganisation wird – da zeitaufwendig und unsicherheitsbehaftet – gelegentlich als innovationshemmend gegeißelt.13 Von Sozialwissenschaftlern wie auch von Rechtswissenschaftlern wurde die unterschiedliche Temporalität und Dynamik der technologischen sowie der parallelen sozialen Entwicklung auf der einen und des Rechts auf der anderen Seite im Rahmen der hier wie dort vor allem in den 1980er Jahren konstatierten Steuerungskrise des Rechts bearbeitet.14 Die zunehmende Geschwindigkeit und wachsende Kom10 Zu den Leistungsfunktionen von Recht s. etwa Wolfgang Hoffmann-Riem, Immaterialgüterrecht als Referenzgebiet innovationserheblichen Rechts, in: Eifert, Martin / HoffmannRiem, Wolfgang (Hrsg.), Geistiges Eigentum und Innovation, 2008, S. 15 (16 ff.). 11 Die Anreizfunktion des Rechts für Innovationen stand im Vordergrund der meisten Beiträge in Martin Eifert / Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Innovationsfördernde Regulierung, 2009. 12 So zuletzt die Studie des BDI u. a., Innovationsindikator Deutschland 2008, S. 9, 25; mit vergleichbaren Diagnosen bereits Mitte der 90er Jahre das Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung u. a., Zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands – Aktualisierung und Erweiterung 1996, S. 41 ff., 57. Vgl. auch Peter Nisipeanu / Markus Thomzik, Das deutsche Umweltrecht als Einflussfaktor für Innovationen zum nachhaltigen Wirtschaften – Das Beispiel der Co-Vergärung von biogenen Abfällen in Faulräumen von Abwasserbehandlungsanlagen, ZfU 2004, S. 167 (175 f.). 13 Zur fehlenden Sensibilisierung der Regulierten für die langfristige Entlastungsfunktion einer ausdifferenzierten Gestaltung der Entscheidungsprozesse vgl. Christian Calliess (Das Innovationspotenzial des Vorsorgeprinzips unter besonderer Berücksichtigung des integrierten Umweltschutzes) i.d.B. S. 121. S. auch Ivo Appel (Aufgaben und Verfahren der Innovationsfolgenabschätzung) i.d.B. S. 153, der die Bedeutungsrelativität von „Entscheidungsoptimierung“ vor Augen führt.
Innovationsverantwortung – zur Einleitung
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plexität der technologischen und gesellschaftlichen Entwicklung und die daraus resultierende Wissensproblematik wurden als Grenzen für die Vorhersehbarkeit regulativer Kausalketten und damit der Funktionalität und Problemangemessenheit vor allem von imperativen, insbesondere starr-konditional programmierenden Normen erkannt.15 Diese Feststellung greift erst recht dort, wo der Staat gemäß der ihm obliegenden Gemeinwohl- und Zukunftssicherung die Regulierung kollektiver Belange durch Vorsorge- und Schutzrecht verfolgt.16 Hier wird die in der offensichtlichen Paradoxie des innovationsbezogenen Rechts liegende Herausforderung, das Neue regeln zu wollen, bevor es Wirklichkeit geworden, ja, bevor es überhaupt in seinem konkreten Gehalt bekannt ist, besonders deutlich.17 Mit ihr verbunden ist das Risiko einer Unter-, Über- oder sonstigen Fehlregulierung infolge von Fehleinschätzungen und Fehlbewertungen von Innovationen und Innovationsfolgen (sog. Risiko zweiter Ordnung) sowie entsprechender, von der Allgemeinheit zu tragender Irrtumskosten.18
14 So als eine der ersten Renate Mayntz, Regulative Politik in der Krise?, in: Matthes, Joachim (Hrsg.), Sozialer Wandel in Westeuropa. Verhandlungen des 19. Deutschen Soziologentages, 1979, S. 55 ff. Vgl. auch Helmut Willke, Entzauberung des Staates, 1983, S. 50 ff. und Martin Jänicke, Staatsversagen, München 1986. Für die rechtssoziologische Literatur s. zusammenfassend Klaus F. Röhl, Rechtssoziologische Befunde zum Versagen von Gesetzen, in: Hof, Hagen / Lübbe-Wolff, Gertrude (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht I. Wirkungen und Erfolgsbedingungen von Gesetzen, 1999, S. 413 ff. In der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Diskussion wurde die Krise entsprechend den empirischen Befunden (etwa Gerd Winter, Das Vollzugsdefizit im Wasserrecht, 1975 und Renate Mayntz u. a., Vollzugsprobleme der Umweltpolitik, 1978) bereits früh differenziert als Steuerungsschwäche des klassischen Ordnungsrechts erfasst und in ihrem konstruktiven Gehalt als Motor institutionellen Wandels und methodischer Neuausrichtung verarbeitet; vgl. zusammenfasend Voßkuhle (Fn. 6), Rn. 10 ff. Sie bildet insofern eine wesentliche Grundlage der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft, deren methodische Erweiterungen wiederum die Grundbedingung des Nachdenkens über rechtliche Innovationsteuerung darstellen. 15 Vgl. zu den Problemdimensionen der Ungewissheit für das Recht Arno Scherzberg, Wissen, Nichtwissen und Ungewissheit im Recht, in: Engel, Christoph / Halfmann, Jost / Schulte, Martin (Hrsg.), Wissen – Nichtwissen – Unsicheres Wissen, 2002, S. 113 ff. 16 Zum Vorsorgeprinzip siehe Christian Calliess und Ortwin Renn, Vorsorge – Hemmschuh oder Katalysator für Innovation?, i.d.B. S. 122 ff. bzw. S. 105 ff. 17 Zur Paradoxie der rechtlichen Innovationsregulierung Alexander Roßnagel, Das Neue regeln, bevor es Wirklichkeit geworden ist – rechtliche Regelungen als Voraussetzung technischer Innovation, in: Sauer, Dieter / Lang, Christa (Hrsg.), Paradoxien der Innovation, 1999, S. 193 (198 ff.). 18 Zu den Folgerisiken gesetzgeberischer Tätigkeit unter Unsicherheitsbedingungen und dem Begriff des Risikos zweiter Ordnung s. Arno Scherzberg, Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht: Ermöglichung oder Begrenzung von Innovationen?, VVDStRL 63 (2004), S. 213 (220). Daneben m. w. N. Wolfgang Hoffmann-Riem, Risiko- und Innovationsrecht im Verbund, DV 2005, S. 211 (147 ff.).
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4. Innovationsoffenheit Entgegen der Haltung mancher Steuerungspessimisten gibt es keinen Grund, solche Herausforderungen nicht anzunehmen. So ist – wie in dem Forschungsprojekt Innovationsrecht und der aus ihm hervorgegangenen Tagungsbandreihe exemplarisch in Angriff genommen und vorgestellt – insbesondere zu untersuchen, unter welchen Bedingungen Innovationen auch gerade durch rechtliche Regelungsstrukturen ermöglicht (Innovationsoffenheit des Rechts) und zugleich auf Gemeinwohlverträglichkeit in einem weiten Sinne ausgerichtet werden können. Insofern können auch Innovationen im Recht, insbesondere die Ausbildung neuer Handlungs- und Bewirkungsformen und moderner Regulierungsmuster, eine Rolle spielen, etwa wenn sie zur Überwindung von Widersprüchen bei der Einwirkung auf Innovationsprozesse dienen können und insbesondere die produktive Seite des innovationsregulatorischen Paradoxons aktivieren.19 5. Ambivalenzen Angesichts des janusköpfigen Potentials von Innovationen als Schubkraft von Modernisierung und damit wesentlichem Faktor für die Zukunftsbewältigung einer Gesellschaft auf der einen, zugleich aber Schrittmacher gesellschaftlicher Selbstgefährdung auf der anderen Seite, kann das an Innovationen anknüpfende öffentliche Interesse ebenfalls durch Gegenläufigkeit geprägt sein. Das öffentliche Interesse zielt gleichzeitig, jedoch mit wechselnder Gewichtung, auf Innovationsermöglichung und auf Innovationsbegrenzung durch Recht ab.20 Maßgebende Einflussgrößen der Interessengewichtung sind dabei nicht nur grundrechtlich abgesicherte Individualinteressen wie etwa das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 3 GG) und die Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG), sondern auch anerkannte und zum Teil verfassungsrechtlich verankerte Gemeinwohlbelange wie z. B. der (nachhaltige) Umweltschutz oder der aus sozialstaatlicher und individualrechtlicher Sicht wichtige medizinische Fortschritt, die sich hinsichtlich der Bewertung von Innovationen aber oft diametral gegenüber stehen. So werden etwa mit der Entwicklung und Herstellung transgener Pflanzen Hoffnungen auf die Ertragsoptimierung bei der Gewinnung von Nahrungsmitteln oder pflanzlicher Treibstoffe21 und auf verbesserte, insbesondere nebenwirkungsbereinigte 19 Die schöpferische Funktion von Paradoxien bei der Strukturbildung sozialer Systeme bezogen auf die Innovationsregulierung hebt Alfons Bora, Innovationsregulierung als Wissensregulierung, in: Hoffmann-Riem / Eifert (Fn. 11), S. 24 (38 ff.) hervor. Ebenfalls den Blick auf die Produktivität von Paradoxien als Herausforderungen lenkend Rainer Wolf, Innovation, Risiko und Sicherheit, in: Sauer / Lang (Fn. 17), S. 211 (212 f.). 20 Siehe Wolfgang-Hoffmann-Riem, Innovationsoffenheit und Innovationsverantwortung durch Recht, AöR 131 (2006), S. 255 (265 ff.). 21 Dazu kritisch Stephan Albrecht, Transgene und andere Nutzpflanzen für energietechnische Nutzungen: Innovationen zwischen klimaschutzpolitischen Imperativen, öffentlichen Subventionen und widersprechendem Implikationswissen, i.d.B. S. 203 ff.
Innovationsverantwortung – zur Einleitung
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Pharmawirkstoffe sowie eine Kostenminimierung ihrer Herstellung in zumindest zweistellig-prozentualer Höhe verbunden. Entsprechende Chancen können eine verfassungsrechtliche bzw. grundrechtliche Absicherung durch das Staatsziel Umweltschutz (Art. 20a GG) bzw. durch den Auftrag zur Sicherung von Entfaltungsfreiheit sowie Schutz von Leib und Leben (Art. 2 GG) erfahren. Zugleich entstehen durch Erzeugung transgener Pflanzen aber auch immense, da mit irreversiblem Schadenspotential verknüpfte Risiken – etwa in Gestalt der durch natürliche Auskreuzung bedingten Verunreinigung der Nahrungskette –, deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit gerade auch durch die oben benannten grundrechtlichen und verfassungsrechtlichen Verbürgungen begrenzt wird. Ungeachtet solcher Ambivalenzen besteht für moderne, auf Fortschritt verpflichtete und dementsprechend auf ständigen Wandel ausgerichtete Gesellschaften eine Notwendigkeit, Innovationen zu ermöglichen, aber zugleich vorzusorgen, dass sie gemeinwohlverträglich sind. Der den modernen Rechtsstaaten gemäße Weg zur Navigation zwischen der Skylla innovationshindernder Regelungsstrukturen und der Charybdis einer Gemeinwohlschädigung durch allein am Eigennutz orientierte innovative Entwicklungen ist durch Recht gepflastert. Es bedarf angemessener rechtlicher Arrangements, die aus einer Kombination materiell-rechtlicher und verfahrensrechtlicher Regelungen sowie institutioneller Vorkehrungen bestehen sollten. Diesbezügliche Gestaltungsspielräume auszuloten und Gestaltungsalternativen zu bewerten, ist Ziel des Projekts Innovationsrecht. Innovationsverantwortung dient dabei als Leitbegriff und normatives Leitkonzept einer gemeinwohlorientierten Regulierung innovationsoffener Lebensbereiche.
II. Optimierungsgebote zwischen grundrechtlichen Freiheitsgewährleistungen, Schutzpflichten und innovationserheblichen Staatszielbestimmungen Innovationssteuerung durch Recht ist in den verfassungsrechtlichen Rahmen eingebunden. Grundrechtlich formulierte Verfassungsprinzipien, namentlich die Wettbewerbs- und Wissenschaftsfreiheit, die Chancengleichheit 22 als Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes, der Gesundheitsschutz und schließlich auch die Garantie der Menschenwürde an sich23 verweisen nicht nur auf subjektiv-rechtliche Vorgaben, sondern auch auf einen innovationsbedeutsamen, insbesondere an den Gesetzgeber, aber auch die übrigen Gewalten gerichteten objektiv-rechtlichen Schutz- und Gewährleistungsauftrag. Er zielt auf Optimierung unter Berücksichtigung der tatsächlichen sowie rechtlichen Möglichkeiten und Notwendigkeiten. 22 Zur Berücksichtigung dieser und des komplementären Gesichtspunkts der Verteilungsgerechtigkeit bei der Innovationsregulierung vgl. Lothar Michael, i.d.B., S. 362 f. 23 Die Relevanz der Menschenwürdegarantie hinsichtlich jüngster neurotechnologischer Entwicklungen beleuchtet vorliegend der Beitrag von Michael Decker und Katja Stoppenbrink zur Innovationsverantwortung für neuronale Implantate, i.d.B. S. 243 f.
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Dem können Vorkehrungen der Innovationsermöglichung ebenso dienen wie – mit Blick auf mögliche oder sichere, negativ bewertete Folgen von Neuerungen – die der Innovationsbegrenzung. Vielfach empfehlen sich Kopplungen von beidem und zwar in Gestalt eines (auf Regelungselemente bezogenen) re-entry der Unterscheidung von Innovationsförderung und Innovationsbegrenzung in die durch sie unterschiedenen Regulierungsansätze. In dem Maße, wie Innovationen durch ihr Leistungspotential die tatsächlichen Möglichkeiten der Grundrechtsrealisierung erhöhen (z. B. in Gestalt von Heilungschancen durch die technologiegestützte Entwicklung neuer Therapien), zugleich aber spezifische, etwa das Gemeingut Umwelt betreffende Risiken schaffen, verändern sich die rechtlichen Möglichkeiten und Notwendigkeiten optimierender Grundrechtsgewährleistung.24 Dies kann zur Folge haben, dass für den Gesetzgeber eine verfassungsrechtliche Regelungs- oder Nachfassungspflicht entsteht oder auch eine gesetzliche Regelung verfassungswidrig wird und die daraus folgende Regelungslücke zu schließen ist.25 Aus verfassungsrechtlicher Sicht handelt es sich bei dem Ausgleich der unterschiedlichen, teils konfligierenden Grundrechtspositionen im Rahmen einzelner regulatorische Maßnahmen im Kern um einen Auftrag zur Herstellung praktischer Konkordanz.26
III. Insbesondere: Innovationsnachhaltigkeit Das Konzept der Innovationsverantwortung kann verschiedene Dimensionen haben. Eine sei hier besonders hervorgehoben: die Nachhaltigkeit der innovationsbedingten Entwicklung, und zwar im Sinne des auf europäischer Ebene als grundlegendes (Verfassungs-)Prinzip des EU- und des EG-Rechts27 wie auch im Wege der Verfassungsvergleichung als gemeineuropäischer Rechtsgrundsatz nachgewiesenen28 Nachhaltigkeitsgrundsatzes, der mit der Schutzdimension ,Nachweltschutz‘ des Art. 20a GG als Umweltrechtsprinzip auch Eingang in das nationale Recht gefunden hat (Nachhaltigkeit im ökologischen Sinne).29 Danach sind die 24 Die Abhängigkeit der Realisierung objektiv-rechtlicher Grundrechtsgehalte von den tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten wird beispielsweise herausgearbeitet durch die Prinzipientheorie Robert Alexys (Theorie der Grundrechte, 1985 (Neudruck 1986), S. 75 ff., ist aber auch Allgemeingut in der Rechtswissenschaft. 25 Vgl. für den Regelungsbereich des Atomrechts BVerfGE 49, 89 (132). 26 Hoffmann-Riem (Fn. 20), S. 267. 27 S. dazu statt vieler Christian Calliess, in: Ders. / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 6 EGV Rn. 13. 28 Vgl. Peter Häberle, in: Wolfgang Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 2008, S. 180 ff. 29 Vgl. Hans-Joachim Menzel, Das Konzept der „nachhaltigen Entwicklung“ – Herausforderungen an Rechtssetzung und Rechtsanwendung, ZRP 2001, S. 221 (226); Ivo Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge, 2005, S. 57 ff. Zur verfassungsrechtlichen Per-
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natürlichen Lebensgrundlagen, also alle natürlichen Umweltgüter, die funktional Grundlage menschlichen Lebens sind, auch mit Blick auf künftige Generationen30 in den Verantwortungsradius des Staates einzubeziehen. 31 Die Abstimmung des nachhaltigen Schutzes natürlicher Lebensgrundlagen mit umweltrelevanten ökonomischen und sozialen Belangen, wie sie das europäische Recht infolge eines weiten, holistischen Verständnisses von Nachhaltigkeit gemäß dem in der Rio-Deklaration formulierten Drei-Säulen-Konzepts der Nachhaltigkeit fordert, ist mit deutschem Verfassungsrecht vereinbar, gerät als rechtliches Gebot allerdings nur in begrenztem Maße in den Blick. Es lässt sich – unter Nutzung des Grundsatzes der Einheitlichkeit der Verfassung – insbesondere unter Rückgriff auf das Sozialstaatsprinzip und grundrechtliche Schutzaufträge entwickeln; dabei müssen aber auch Grenzen beachtet werden, so etwa die verfassungsrechtlichen Regelungen zur Staatsverschuldung.32 Das tatsächliche (aus der Zukunftsplatzierung des Regelungsgegenstandes folgende) Erfordernis, gegenwärtige innovationsregulatorische Entscheidungen einer Langzeitperspektive zu unterwerfen (prospektive Orientierung), erfährt durch das Nachhaltigkeitsprinzip einen primärrechtlichen Rückhalt und eine normative Bindung. Nachhaltige Innovationsregulierung hat sich mithin dadurch auszuzeichnen, dass die Abwägung von Innovationsnutzen und Innovationsrisiken insbesondere hinsichtlich ökologischer und peripher ökonomischer und sozialer Aspekte wesentlich langfristiger, namentlich auf eine potentiell unendliche Zukunft hin angelegt wird, als dies bei Abwägungen kurzfristiger Risiken der Fall wäre. Eine Weichenstellung in diese Richtung ist es, Gemeinwohl als zentrale Kenngröße innovationsregulatorischer Risiko-Nutzen-Bewertungen nicht nur als gegenwartsbezogen Zustand, sondern zugleich in seiner Funktion als Bedingungs- und Kausalkontext bzw. Quelle zukünftigen Gemeinwohls zu bestimmen.33 Nachhaltigkeitsorientierte innovationsregulatorische Entscheidungen haben demnach auch eine Antwort darauf zu geben, welche natürlichen, ökonomischen und sozialen Ressourcen den spektive des Nachhaltigkeitsgrundsatzes de lege ferrenda jüngst Wolfgang Kahl, Staatsziel Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit, DÖV 2009, S. 2 ff. 30 Zum hinter dem Nachhaltigkeitsgrundsatz stehenden (normativen) Gebot der Generationengerechtigkeit vgl. Helmuth Schulze-Fielitz in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20a Rn. 35 ff.; Ivo Appel (Fn. 29), S. 329 f. 31 Vgl. nur Hertha Däubler-Gmelin, Die Verankerung von Generationengerechtigkeit im Grundgesetz, ZRP 2000, S. 27 (28) m. w. N. 32 So etwa Menzel (Fn. 29), S. 226 m. w N.; vgl. auch Appel (Fn. 29), S. 296, der historische und teleologische Gründe sowie den völker- und europarechtlichen Rahmen für eine ganzheitliche Lesart des dem Wortlaut nach lediglich einen Teilaspekt der integrativen Nachhaltigkeit erfassenden Art. 20a GG benennt. 33 So grundlegend für die Verknüpfung von Nachhaltigkeit und Gemeinwohl Jan-Henrik Klement, Nachhaltigkeit und Gemeinwohl, in: Kahl, Wolfgang (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 2008, S. 99 (123). Dies umsetzend vgl. § 1 des von der Bundesregierung eingebrachten (zwischenzeitlich aber gescheiterten) Entwurfs eines Gesetzes über den Transport und die dauerhafte Speicherung von Kohlendioxid (KSpG-E– BT-Drs. 16/12782 abrufbar unter http: //dipbt.bundestag.de/dip21/btd/16/127/1612782.pdf [zuletzt abgerufen am 29. 04. 2009]).
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Menschen in Zukunft zur weiteren Verwirklichung von Gemeinwohl zur Verfügung stehen müssen bzw. auf welcher Basis der Erhalt und die Weiterentwicklung von Gemeinwohl zukünftig möglich sein kann. Die Verwirklichung von gegenwärtigen Gemeinwohlbelangen unter Nutzung innovativer Produkte und Verfahren wäre folglich nur zu solchen Kosten (insbesondere Innovationsnebenfolgen) vertretbar und mit dem Nachhaltigkeitsgrundsatz vereinbar, die die Gemeinwohlfähigkeit zukünftiger Gesellschaften nach heutigem Maßstab bestehen lassen. Würde mit bestimmten Anwendungen einer technologischen Innovation zwar ein Gemeinwohlbelang in der Gegenwart (kurzfristig) gefördert, für nachfolgende Generationen dadurch jedoch das Risiko eines existenziellen Gemeinwohldefizits in Folge möglicher Nebenfolgen dieser Anwendung geschaffen, und wäre dieses Defizit nicht absehbar durch zukünftige bzw. nachträgliche Reaktionen zu vermeiden oder zu bewältigen, stünde dies mit dem Grundsatz der Generationengerechtigkeit im Konflikt. Gefordert ist auf Grundlage des Nachhaltigkeitsgrundsatzes dementsprechend ein regulatorisches Handeln, das eine risikobehaftete innovative Entwicklung oder Anwendung dann und solange begrenzt34 und insbesondere informationell umhegt, wie deren Risiken inbegriffen wägbares Nichtwissen35 bei Realisierung die elementaren Voraussetzungen zukünftigen Gemeinwohls, insbesondere das ökologische Existenzminimum, irreversibel zerstören würden.36 Diese Forderung unterscheidet sich bewusst von dem in der Nachhaltigkeitsdebatte teilweise geforderten Offenhalten sämtlicher Handlungsoptionen oder strikten Verschlechterungsverbot37, das konsequent umgesetzt eine Absage an jedwede Veränderung ökologischer Faktoren und damit eine innovationsfeindliche, eingriffsintensive Regulierung verlangen würde, die insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz38 nicht hinreichend Rechnung trüge. 34 Etwa durch Begrenzung der Erprobung und Nutzung der Innovation auf geschlossene Systeme (räumliche Begrenzung), durch Verankerung eines obligatorischen Erforderlichkeitsnachweises (quantitative Begrenzung) – für die Nanotechnologie entsprechend s. Scherzberg i.d.B., S. 201 – oder durch ein befristetes Erprobungsgesetz (zeitliche Begrenzung). 35 D. h. spezifisches, hinsichtlich seines Risikopotentials bewertbares Nichtwissen; vgl. grundlegend dazu Klaus Peter Japp, Die Beobachtung von. Nichtwissen, Soziale Systeme 3, 1997, S. ff. Es gibt aber auch unspezifisches Nicht-Wissen, nämlich ein kategorisch (noch oder dauerhaft) unverfügbares Nicht-Wissen: Es lässt sich insofern nicht einmal sagen, was (noch) nicht gewusst wird. 36 Zur Bedeutung der Reversibilität von gefährdeten Gemeinwohlbelangen bzw. der Restitutionsfähigkeit bedrohter Rechtsgütern bei regulatorischen Abwägungsentscheidungen unter Ungewissheit s. Indra Spiecker gen. Döhmann, Entscheidungen unter Unsicherheit – juristische und ökonomische Vorgaben. Preprint aus der Max-Planck-Projektgruppe Recht der Gemeinschaftsgüter, Bonn 2000 / 10, S. 25; abrufbar unter: http: //www.coll.mpg.de/pdf_dat/ 2000-10online.pdf (zuletzt abgerufen am 29. 04. 2009). 37 Zum Verschlechterungsverbot s. Dietrich Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, 2. Aufl. 1999, Art. 20a Rn. 44; Michael Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 3 Rn. 25, 32; Norbert Bernsdorff, Positivierung des Umweltschutzes im Grundgesetz, NuR 1997, 328 (332).
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Es erscheint auch nicht angemessen, gemäß dem Jonas’schen „Prinzip Verantwortung“39 Innovationen im Interesse der Risikovermeidung im Zweifel – also bei Konfligieren optimistischer und pessimistischer Risikoprognosen – generell zu unterbinden.40 Eine nachhaltige, auch Innovationschancen einberechnende regulatorische Verarbeitung von Innovationsrisiken erfordert zwar zunächst – d. h. vor Zulassung der unsicherheitsbehafteten Tätigkeit – eine weitestmögliche Verringerung der Ungewissheit über Wirkungszusammenhänge durch eigene und /oder übertragene Aufklärungsmaßnahmen (Aufklärungs- und Informationspflichten). Sie ermöglicht aber auch unter Ungewissheitsbedingungen die Realisierung der Innovation, soweit die verbliebene Ungewissheit insbesondere durch Überwachungsund Kontrollmaßnahmen, reaktive Handlungsspielräume der Verwaltung sowie (zumindest substitutive) Vor- und Nachsorgepflichten hinreichend mehrdimensional gebunden wird.41 In eben diese Richtung weist auch das Verständnis des Vorsorgeprinzips als Verpflichtung auf einen umsichtigen und rational nachvollziehbaren Umgang mit Ungewissheit, nach dem zur Vermeidung von Irreversibilitäten und Risikostreuung solange nur eine graduelle bzw. schrittweise Diffusion risikoreicher Aktivitäten oder Technologien zugelassen ist, bis mehr Wissen und Erfahrung vorliegen.42 Würde nachhaltige bzw. vorsorgende Innovationsverantwortung hingegen mit einem ausnahmslosen Verbot ungewissheits- und risikobelasteter innovativer Aktivitäten oder Produkte gleichgesetzt, drohte das regulatorische Optimierungsgebot Nachhaltigkeit durch vorschnelle Vernichtung von Entwicklungschancen selbst die gesellschaftliche Zukunftsfähigkeit zu gefährden. Schließlich ebenfalls dem Gewährleistungsspektrum nachhaltiger Innovationsverantwortung (und zwar als re-entry der Zielvorgabe Innovationsoffenheit) zuzuordnen ist die langfristige Sicherung technologischer Alternativität. Angesichts der Ungewissheitsbedingungen von Innovationsregulierung43 und der Risikobehaftung des entsprechenden legislativen und exekutiven Handelns (Fehlsteuerungsrisiko)44 auf der einen Seite und den Erkenntnissen über die Dynamik technologischer Pfad38 Guy Beaucamp, Das Konzept der zukunftsfähigen Entwicklung im Recht, 2002, S. 215; Eckhard Rehbinder, Das deutsche Umweltrecht auf dem Weg zur Nachhaltigkeit, NVwZ 2002, S. 657 (659). 39 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, 2. Auflage 1992, insbes. S. 70 ff., 84 ff. 40 Dagegen schon Scherzberg (Fn. 18), S. 233. 41 In diesem Sinne könnte der bereits oben (Fn. 33) erwähnte Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von Abscheidung, Transport und dauerhafter Speicherung von Kohlendioxid eine Vorbildfunktion für die gesetzliche Fixierung nachhaltiger Innovationsregulierung entfalten – ohne dass mit dieser Aussage auch eine Stellungnahme zu dem Vorhaben der CO2-Einlagerung selbst verbunden sein soll. Ausführlich zu Strategien des regulatorischen Umgangs mit Ungewissheit unter III. 42 So Renn, i.d.B. S. 112. 43 Dazu näher unter III. 44 Bereits angesprochen auf S. 15 mit Nachweisen Fn. 18.
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abhängigkeiten45 auf der anderen, gilt es zur Vermeidung technologischer Verriegelungseffekte (sog. Lock-in’s) und daraus folgender, gemeinwohlgegenläufiger Innovationsverluste Möglichkeitsräume für ein bewusstes Abweichen von einem eingeschlagenen Pfad offenzuhalten.46
IV. Aufgabenverteilung zwischen Staat und Privaten Das verfassungsrechtlich fundierte Konzept der Innovationsverantwortung ist als Handreichung zur Realisierung einer gemeinwohlförderlichen Innovationssteuerung zunächst an den Staat bzw. die rechtserzeugenden und rechtsanwendenden47 staatlichen Akteure gerichtet. Der Staat ist, wie oben gezeigt, qua seiner grundlegenden Verpflichtung auf das Gemeinwohl und aufgrund von Schutzpflichten und Optimierungsgeboten primär und zentral für die Realisierung der normativen Gebundenheit des Innovationsverhaltens und des Einsatzes von innovativen Produkten zuständig. Er ist Träger der ex-ante-Verantwortung für eine gesellschaftsund gemeinwohlverträgliche Technikentwicklung.48 Die Erwartung an die Verantwortungswahrnehmung konzentriert sich in der Praxis allerdings vielfach auf die Sicherung nachhaltiger Gemeinwohlkonformität technologischer Innovationen durch oder im Zusammenwirken mit Privaten.49 Gerade die Regulierung von Innovationen, d. h. eines primär marktwirtschaftlich bzw. durch Wettbewerb gesteuerten Phänomens, kann meist nur dadurch angemessen bzw. effektiv wahrgenommen werden, dass der Staat versucht, die Eigeninteressen und -rationalitäten der Innovationsakteure zielgerichtet und motivational zur Erreichung von Steuerungszielen zu nutzen.50 Dies kann mittels und im Rahmen der 45 Vgl. Jürgen Beyer, Pfadabhängigkeit ist nicht gleich Pfadabhängigkeit! Wider den impliziten Konservativismus eines gängigen Konzepts, Zeitschrift für Soziologie, Jg. 34 (2005), Heft 1, S. ff. 46 Dazu unter Verweis auf die ,lock-in-Situation‘ der Innovationspolitik bzgl. Technologien zur Verbrennung fossiler Michael Rodi, Innovationsförderung durch ökonomische Instrumente der Umweltpolitik, in: Eifert / Hoffmann-Riem (Fn. 11), S. 147 (157). Vgl. außerdem mit Überlegungen zur Kreation von Pfadalternativen Raymund Werle, Pfadabhängigkeit, in: Benz et al. (Hrsg.), Handbuch Governance, 2007, S. 119 (128 f.) sowie mit Ausführungen zum Konzept des „strategischen Nischenmanagements“ Timothy J. Foxon, Technological lock-in and the role of innovation, in: Atkinson / Dietz / Neumayer (Hrsg.), Handbook of Sustainable Development, 2007, S. 140 ff. 47 Zur qualitativen Überschneidung von Rechtsanwendung und Rechtserzeugung im Zuge ungewissheitsbedingt offener materieller Programmierung vgl. Appel, i.d.B. S. 176 f. 48 Zur Unterscheidung von ex-ante und ex-post-Verantwortung s. Jan-Henrik Klement, Verantwortung, 2006, S. 50 ff. und für die soziologische Betrachtung beider Varianten Bora i.d.B. S. 50. 49 Vgl. Wolfgang Hoffmann-Riem, Steuerung und Stimulierung innovativen Verhaltens Privater durch die Verwaltung, in: Hof, Hagen / Lübbe-Wolff, Gertrude (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht I. Wirkungen und Erfolgsbedingungen von Gesetzen, 1999, S. 239 (240 ff.).
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Installation eines Systems hoheitlich regulierter Selbstregulierung geschehen,51 dessen Funktionalität der Staat zu beaufsichtigen und bei Versagen zu korrigieren oder durch Selbsteintritt aufzufangen hat.52 Insofern erstreckt sich die Forderung nach Innovationsverantwortung auch auf die Privaten. Rein hoheitlich-imperative Handlungs- und Rechtsformen werden zwar nicht stets obsolet, bieten sich aber am ehesten in Bereichen an, in denen eindeutige Grenzen53 zu ziehen sind, etwa weil der Staat den ihm im Kontext von Innovationen obliegenden Schutzpflichten anders nicht oder nicht hinreichend gerecht werden kann.54 Es wird aber auch viele innovationsaffine Regelungsfelder geben, die sich für eine kooperative Aufgabenwahrnehmung55 empfehlen. 50 Dies am Beispiel der Stoffstromsteuerung im Bereich der Elektro- und Elektronikprodukte exemplifizierend Alexander Roßnagel (Innovationsverantwortung im Elektrogesetz) i.d.B., S. 270 ff. S. dazu außerdem Martin Eifert, Innovationsfördernde Regulierung, in: Eifert / Hoffmann-Riem (Fn. 11), S. 11 (17 f.) mit Verweisen auf diesbezügliche Darlegungen im Rahmen des Forschungsprojekts Innovationsrecht und Hoffmann-Riem (Fn. 18), S. 171 f. unter Verweis auch auf die diesbezüglichen Einsichten der Institutionenökonomie. 51 Dazu Wolfgang Hoffmann-Riem, Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung als Reaktion auf gesellschaftlichen Innovationsbedarf, in: Eifert, Martin / ders. (Hrsg.), Innovation und rechtliche Regulierung, 2002, S. 26 (41 f.). Allgemein zum Steuerungsmodus regulierter Selbstregulierung vgl. Martin Eifert, Regulierungsstrategien, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 19 Rn. 52 ff. sowie die Beiträge in: Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaats, DV, Beiheft 4, 2001 sowie die Beiträge von Matthias Schmidt-Preuß und Udo Di Fabio, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1997), S. 160 ff., 235 ff. 52 Zur Auffangverantwortung des modernen (Gewährleistungs-)Staates vgl. HoffmannRiem (Fn. 49), S. 246 ff.; ders., Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff moderner Gesellschaften, in: Kirchhoff, Paul u. a. (Hrsg.), FS Klaus Vogel, 2000, S. 47 (54 f.). 53 Diese für die verschiedenen Formen des Regulierungswissens herausarbeitende Bora (Fn. 19), S. 31 ff.; mit den Informationsasymmetrien und daraus folgenden Wissensdefiziten der Verwaltung in rein ordnungsrechtlichen Verhältnissen befassen sich u. a. auch die Beiträge von Erik Gawel (Technologieförderung durch ,Stand der Technik‘: Bilanz und Perspektiven, S. 197 [199] und Christian Calliess (Genehmigung und Alternativenprüfung, S. [235 f.]) in: Eifert / Hoffmann-Riem (Fn. 11). 54 Vgl. Wolfgang Hoffmann-Riem, Innovationssteuerung durch die Verwaltung: Rahmenbedingungen und Beispiele, DV 2000, S. 155 (169). 55 Aus der Notwendigkeit kooperativen Aufgabenwahrnehmung bei der Wissensgenerierung eine ,hybriden Struktur der Verantwortungsteilung‘ ableitend s. Rainer Pitschas, Kooperative Wissensgenerierung als Element eines neuen Staat-Bürger-Verhältnisses – Thesen zur Reformulierung des Verwaltungsrechts in der Wissensgesellschaft, in: Spiecker gen. Döhmann, Indra / Collin, Peter, Generierung und Transfer staatlichen Wissens, 2008, S. 29 (31). Allgemein zur kooperativen Gemeinwohlkonkretisierung durch Verwaltung und gesellschaftliche Akteure s. etwa Lothar Michael, Rechtsetzende Gewalt im kooperierenden Verfassungsstaat, 2002, sowie bereits Jens-Peter Schneider, Kooperative Verwaltungsverfahren, VerwArch 1996, S. 38 ff. Zur rechtlichen Qualität des über das Umweltrecht hinausweisende Kooperationsprinzip als Steuerungsmodus siehe etwa Gunnar Folke Schuppert, Staatswissenschaft, 2003, S. 475 ff.; Christoph Gusy, Kooperation als staatlicher Steuerungsmodus, ZUR 2001, S. 1 ff.
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Bei dem Umgang mit solchen Verknüpfungen der Aufgabenerfüllung kann die rechtswissenschaftliche Innovationsforschung an den allgemeinen verwaltungsrechtswissenschaftlichen Diskurs um die Verschiebung der staatlichen Verantwortung von der Erfüllungs- auf die Gewährleistungsebene56 anknüpfen. Danach geht die qualitative Umformung – keineswegs aber Entäußerung – staatlicher Verantwortung einher mit der partiellen (Rück-)Übertragung von (zuvor) hoheitlichen Aufgaben in den Bereich der Gesellschaft bzw. mit der Zuweisung einer entsprechenden Eigenverantwortung an private Akteure, ohne aber die fortwährende Verantwortung des Staates für die Schaffung von Strukturen, Verfahren, Spielregeln u. ä. zwecks Gewährleistung des gebotenen Maßes an Gemeinwohlsicherung aufzuheben. Ein innovationsrechtlich erhebliches Beispiel ist die partielle Zuweisung von Informationsverantwortung an Private durch verfahrens- oder materiell-rechtlich begründete Beibringungspflichten im Genehmigungsverfahren unter Beibehalt, aber tendenzieller Verkürzung des Amtsermittlungsgrundsatzes auf eine begleitende57 oder auch nur nachvollziehende58 Amtsermittlung. Ein weiteres Beispiel ist die durch hoheitliche Rahmenvorgaben erfolgende Stimulierung der Einrichtung eines effektiven und effizienten Risikomanagements im Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich der wirtschaftlichen Nutznießer möglicher Innovationen.59
V. Stimulierung der Wissensgenerierung durch Haftungsrecht Diese und verwandte Verantwortungsattributionen können zugleich Anknüpfungspunkte bzw. öffentlich-rechtliche Vorprägungen des zeitlich nachgelagerten Regelungsregimes des privaten Haftungsrechts darstellen und so den Rahmen der ex-post-Verantwortlichkeit der Innovationsakteure mitbestimmen.60 Umgekehrt kann im Sinne einer Verzahnung von öffentlichem Recht und Privatrecht als wech56 Zu den verschiedenen Verantwortungsdimensionen s. statt vieler Helmuth SchulzeFielitz, Grundmodi der Aufgabenwahrnehmung, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / SchmidtAßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), GVwR I 2006 § 12 Rn. 148 ff. und Schuppert (Fn. 55), S. 289 ff. 57 Diese skizzierend und unter Verweis auf seine Verankerung im Rechtsstaatsprinzip einfordernd Indra Spiecker gen. Döhmann, Die informationelle Inanspruchnahme des Bürgers im Verwaltungsverfahren: Der Amtsermittlungsgrundsatz nach § 24 VwVfG, in: Dies. / Collin Peter (Hrsg.), Generierung und Transfer staatlichen Wissens, 2008, S. 196 (215 f.). 58 Dazu Jens-Peter Schneider, Nachvollziehende Amtsermittlung bei der Umweltverträglichkeitsprüfung, 1991. 59 Vgl. zu den entsprechenden Regelungen im Chemikalienrecht (Erwg. 18 und 86 der REACh-VO) Eckhard Pache (Innovationsverantwortung im Chemikalienrecht), i.d.B. S. 257 f. sowie Kilian Bizer / Martin Führ (Zuordnung der Innovations-Verantwortlichkeiten im Risikoverwaltungsrecht – Das Beispiel der REACh-Verordnung), i.d.B. S. 314 f. 60 Vgl. dazu den Beitrag von Anne Röthel (Zuweisung von Innovationsverantwortung durch Haftungsregeln), i.d.B. S. 335 f.
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selseitigen Auffangordnungen eine partielle Verlagerung von Innovationsverantwortung auf die Schultern der privaten Akteure auch durch (bereichsspezifische) Gestaltungen des Haftungsrechts erreicht werden. Zu nennen sind etwa die mittels widerlegbarer Ursachenvermutung bewirkten Beweislastregeln im Umwelthaftungsrecht.61 Die dadurch ausgelösten Verschärfungen des Haftungsrisikos sowie parallel dazu vorgesehene Risikobewertungspflichten im öffentlichen Recht sollen Anreize zur fortlaufenden Bearbeitung und Minimierung des Nichtwissens und der damit verknüpften Risiken durch den Risikoemittenten setzen.62 Dies kann allerdings nur insoweit gelingen, wie die Ursachenvermutung zu Lasten des Risikoemittenten auch im Falle der Genehmigungskonformität der schadensursächlichen Umwelteinwirkungen greift. Denn ein Ausschluss der Schadensursächlichkeitsvermutung für genehmigungsrechtlich legalisierte Umwelteinwirkungen würde die Wahrscheinlichkeit haftungsrechtlicher Inanspruchnahme im Schadensfalle aufgrund der Beweisschwierigkeiten schadensbegründender Kausalität von technischindustriellen Umweltnutzungen ansonsten so weit minimieren, dass vorsorgliche Anstrengungen zur Reduktion von Ungewissheitsrisiken – jedenfalls aus ökonomischer Warte – ad absurdum geführt würden.63 Insgesamt kann das Haftungsrecht damit aber durchaus zur Erlangung des im Innovationsbereich wichtigen Risikowissens, etwa des Wissens über Entwicklungsrisiken, beitragen, indem es mittelbar Anreize zur Wissenserzeugung setzt. Dies gilt allerdings weniger für die Verschuldenshaftung, nach der eine Verkehrspflichtverletzung verneint zu werden pflegt, wenn ein umsichtiger Hersteller im Zeitpunkt des Inverkehrbringens eines Produkts nach dem Stand der Wissenschaft und Technik nicht erkennen konnte, dass es bei zweckgemäßer Verwendung Schäden verursacht.64 Hier kann folglich eine Schadensvermeidungspflicht ebenso wie ein daraus folgendes Unterlassungsgebot haftungsrechtlich solange nicht angenommen werden, wie entsprechendes Risikowissen nicht verfügbar ist. Immerhin verlangt die Rechtsprechung aber zumutbare Gefahrenvermeidungsstrategien.65 Durch Verschärfung des fahrlässigkeitsdefinierenden Sorgfältigkeitsmaßstabs, insbesondere mittels der Annahme von Produktbeobachtungspflichten oder gar einer Innovationserforschungspflicht, könnten überdies Anreize zur weiteren Wissensgenerierung geschaffen werden. 61 Außer in § 6 Abs. 1 UmweltHG ist eine solche auch in § 34 Abs. 1 GentG vorgesehen, dort allerdings erst für den einer positiven allgemeinen Kausalitätsfeststellung nachgelagerten Beweis der Ursächlichkeit der durch die gentechnische Veränderung hervorgebrachten Eigenschaften eines Organismus. 62 Dazu Calliess, i.d.B. S. 127 f. 63 Der Vermutungsausschluss in § 6 Abs. 2 UmweltHG wird in der Kommentierung des UmweltHG von Salje und Peter insofern gar als Verlängerung der „(partiellen) Macht- und Wirkungslosigkeit des Verwaltungsrechts in das Zivilrecht hinein“ gegeißelt (Peter Salje / Jörg Peter, Umwelthaftungsrecht, 2. Aufl. 2005, § 6, Rn. 34). 64 Vgl. statt vieler Rüdiger Krause, Entwicklungsrisiken und Produkthaftung, in: Vieweg, Klaus (Hrsg.), Risiko – Recht – Verantwortung, 2006, S. 451 (456). 65 Vgl. etwa BGHZ 58, 159 (156); 108, 273 (274 f.); 112, 74 (75 f.).
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Deutliche Anreize zur Generierung von Risikowissen bestehen bereits im Rahmen der – allerdings nur punktuell (spezialgesetzlich) vorgesehenen – Gefährdungshaftung. Hier könnte das Kriterium der Zumutbarkeit zugunsten weiterer Anreize zur Wissensgenerierung ausgestaltet werden, etwa dadurch, dass die Zumutbarkeit der Aufklärung spezifischen Nicht-Wissens umso eher bejaht wird, je größer die Ungewissheit über die Risiken und je spezifischer das Nicht-Wissen ist.66 VI. Prozessbindung und -konzeption Die Einwirkung auf die Ermöglichung von Innovationen und auf die Sicherung der Gemeinwohlverträglichkeit setzt Erkenntnisse über die Abläufe von Innovationsprozessen und über Ansatzpunkte für eine erfolgreiche Beeinflussung dieser Prozesse voraus. Die Frage nach dem ,Wann‘ des Regulierungszugriffs ist dabei mit der Frage nach dem ,Wie‘, d. h. der Wahl des Regulierungsmittels, verbunden. Beide Fragen müssen für jede Sachmaterie mit Blick auf die betroffene Innovationsqualität und das konkrete Steuerungsziel zwar differenziert beantwortet werden67; aus den sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchungen zur Bedeutung bzw. Erheblichkeit rechtlicher Regulierung im Innovationsprozess können aber auch verallgemeinerungsfähige Erkenntnisse über die Leistungsfähigkeit der unterschiedlichen innovationsregulatorischen Instrumente während der verschiedenen Innovationsphasen gewonnen werden.68 1. Komplexe Temporalität als strukturelles Merkmal von Innovationsregulierung Sowohl für die ökonomische wie auch für die sozialwissenschaftliche Innovationsforschung stellt die Zeitstruktur des Innovationsprozesses ein zentrales Aufmerksamkeitsfeld dar. Während die modellhafte Abbildung dieser Struktur in der ökonomischen Innovationsforschung primär auf die wirtschaftliche Optimierung wirtschaftspolitischer (Makroebene) oder unternehmerischer (Mikroebene) Innovationsentscheidungen und Strukturbedingungen ausgerichtet ist, konzentriert sich das Erkenntnisinteresse der innovationssoziologischen Forschung69 zunächst auf So Röthel i.d.B. S. 354 f. So ist Innovationsverantwortung in Gestalt der Stimulierung ökologischer Effektivität und Effizienz technischer (Weiter-)Entwicklungen zeitlich und instrumentell anders zu bewerkstelligen als Innovationsverantwortung anlässlich einer radikalen, mit maximalem Unwissen belasteten Innovation. 68 Vgl. dazu den Ansatz von Lothar Michael (Innovationsverantwortung als Ausgestaltungsdirektive beim Mix unterschiedlicher Instrumente), i.d.B. S. 364 ff. 69 Diese ist hinsichtlich ihres Erkenntnisinteresses und Leistungsanspruchs von techniksoziologischen Ansätzen wie der Technikfolgen-Abschätzung [technology assessment – TA] oder der Technikgenese zu unterscheiden. 66 67
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die prozessbezogene und strukturelle Offenlegung zeitlicher Verschränkungen bei der gesellschaftlichen Hervorbringung und Bewältigung von Innovation per se.70 Die Forschungen beider Disziplinen – insbesondere aus den letzten drei Jahrzehnten – haben gezeigt, dass strikt lineare, eine rein chronologische Ordnung von Innovationsphasen propagierende Modellbildungen weder die Dynamik noch die Komplexität moderner Innovationen erfassen können. Innovationen sind in zeitlicher bzw. prozessualer Hinsicht vielmehr durch rekursiv miteinander verschränkte Phasen geprägt (Rückkopplungsmodell) und zeichnen sich strukturell durch die institutionelle Grenzen überwindende Vernetzung heterogener Innovationsakteure über ein weitverzweigtes und komplexes Beziehungsgeflecht (Netzwerkarchitektur) aus.71 Aus diesen Erkenntnissen lassen sich Konstruktionsanforderungen für die rechtliche Innovationsregulierung ableiten. 2. Ungewissheit als Charakteristikum innovationsregulatorischer Entscheidungen Die in Innovationsprozessen als Folge ihrer komplexen Temporalität angelegte Unvorhersehbarkeit des Verlaufs und verbundenen Risiko- (und Chancen-)potentials von Neuerungen kann durch die Tiefen- und Breitenwirkung von Innovationen weiter verstärkt werden. Anschauungsmaterial bieten IT-gestützte techn(olog)ische Innovationen, die die Geschwindigkeit und Parallelität von Entwicklung, Erprobung und Anwendung72 potenzieren können. Eine solche Feststellung rückt – verbunden mit dem in den letzten Jahrzehnten angesichts von industriellen Umweltschäden ausgebildeten politischen und gesellschaftlichen Folgenbewusstsein73 und Vgl. Braun-Thürmann (Fn. 9), S. 30 f. Beispielhaft für die soziologische Modellbildung s. Uli Kowol / Wolfgang Krohn, Innovation und Vernetzung. Die Konzeption der Innovationsnetzwerke, in: Weyer, Johannes (Hrsg.), Soziale Netzwerke: Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung, 2000, S. 135 ff. und Werner Rammert, Innovationen im Netz. Neue Zeiten für technische Innovationen: global verteilt und heterogen vernetzt, Soziale Welt 48 (1997), 4, S. 397 ff. sowie für die ökonomische etwa Brian Uzzi, The Sources and Consequences of Embeddedness for the Economic Performance of Organizations: The Network Effect, American Sociological Review, 1996 (61), 4: 674 – 698. Die Komplementarität des prozessualen Rückkopplungsmodells und des Strukturmodells ,Netzwerke‘ hervorhebend s. Braun-Thürmann (Fn. 9), S. 13 f. S. ferner (mit besonderem Blick auf die zivilrechtliche Ebene) Gunther Teubner, Netzwerk als Vertragsverbund: Virtuelle Unternehmen, Franchising just-in-time in sozialwissenschaftlicher und juristischer Sicht, 2004. 72 Hier gerät die räumliche Verlagerung der Experimentierphase aus einer kontrollierten Laborsituation in die reale Umwelt (experimentelle Umweltnutzung) in den Blick. Vgl. dazu statt vieler Ralf Kleindieck, Wissenschaft und Freiheit in der Risikogesellschaft, 1998 S. 121 ff. sowie für die sozialwissenschaftliche Begriffsschöpfung des ,Realexperiments‘ Wolfgang Krohn / Johannes Weyer, Die Gesellschaft als Labor. Die Erzeugung sozialer Risiken durch experimentelle Forschung, Soziale Welt 40 (1989), S. 349 ff. 73 S. dazu vorliegend den Beitrag von Appel, i.d.B. S. 149 f. sowie ders., Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge, 2005, S. 45 ff. und Scherzberg (Fn. 15), S. 116 ff. Wegen 70 71
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der stetig wachsenden Wahrnehmung des Nichtwissens in modernen Gesellschaften74 – die Ungewissheitsproblematik ins Zentrum zukunftsgerichteter Regulierung.75 Ungewissheit bzw. mangelndes oder unsicheres Bewertungs-, Folge-, Prognose- und Kontextwissen76 werden zu ständigen Begleitern der gesetzgeberischen Entscheidung über Bedarf und ggf. Gestaltung der normativen Einfassung technologischer oder technikvermittelter Innovationen und des behördlichen Umgangs mit innovationsgeprägten Sachverhalten. Zur Verarbeitung und Absorption von Ungewissheit sind Verwaltung und Gesetzgeber auf einen zeitlich gestreckten und phasenübergreifenden Prozess der Handlungs- und Entscheidungsoptimierung verwiesen, der im Zeitraum vor der Entscheidungsfindung eine größtmögliche Verbreiterung der informationellen Entscheidungsbasis ermöglichen und im Nachgang der Entscheidung durch Überwachungs-, Evaluations- und Begleitforschungsvorgaben die kontinuierliche Aktualisierung der Wissensbestände sichern soll sowie durch Relativierungen des Bestandsschutzes die Reaktionsmöglichkeiten der Verwaltung in der Zeit flexibilisiert.77 In dem Maße, in dem sich auf der ersten Ebene Probleme gedanklich nicht mehr vorwegnehmen und noch weniger abschließend determinieren lassen, wächst der lern- und revisionsoffenen Programmierung von Entscheidungen und der korrelierenden Sicherung einer kontinuierlichen Generierung und Verarbeitung von Risikoinformationen im Nachgang derselben eine kompensatorische und legitimatorische78, auch durch grundrechtliche Schutz- bzw. Risikoerforschungspflichten verfassungsrechtlich abgestützte Funktion zu. der Dringlichkeit der Folgenproblematik ist es im Übrigen angezeigt, rechtswissenschaftliche und rechtspraktische Bemühungen verstärkt auf die Bewirkungsdimensionen von Recht auszurichten und insofern insbesondere auch spezifische Bewirkungsformen in den Blick zu nehmen, dazu s. Wolfgang Hoffmann-Riem, Rechtsformen, Handlungsformen, Bewirkungsformen, GVwR II, § 33. 74 Dazu ebenfalls Appel (Fn. 73) und Scherzberg (Fn. 15), S. 115 f. sowie Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft, 2007, etwa S. 211. 75 Dies belegt eindrucksvoll die Vielzahl der zu diesem Thema in den letzten Jahren veröffentlichten rechtswissenschaftlichen Literatur. Als einige besonders prominente Veröffentlichungen sind zu nennen: Indra Spiecker gen. Döhmann, Staatliche Entscheidungen unter Unsicherheit, i.E.; Dies. / Peter Collin (Hrsg.), Generierung und Transfer staatlichen Wissens, 2008; Appel (Fn. 73); die Berichte von Arno Scherzberg und Oliver Lepsius, VVDStRL 63 (2004), S. 214 ff. bzw. S. 264 ff. auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 2004; Engel / Halfmann / Schulte (Fn. 15), S. 113 (116 ff.); Udo di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994; Hoffmann-Riem (Fn. 18), S. 145 ff. I.d.B. finden sich Überlegungen dazu desweiteren bei Schneider, S. 287 sowie passim; Scherzberg, S. 191. 76 Zu den verschiedenen Wissensdimensionen s. Wolfgang Hoffmann-Riem, Wissen, Recht und Innovation – Überlegungen zu einer rechtlichen Wissensordnung, in: Die Verwaltung 2009, Sonderheft (i.E.). 77 Vgl. dazu auch die Ausführungen und Verweise von Martin Eifert (Innovationsverantwortung in der Zeit), i.d.B. S. 396 ff. 78 Zur Legitimationsfunktion von prozeduralen Gestaltungen allgemein Hans-Heinrich Trute, Die demokratische Legitimation der Verwaltung, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 6, Rn. 48.
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Die Absicherung einer dynamischen Aktualisierung behördlicher Wissensbestände sowie des Zugangs zu sonstigen Wissensbeständen und der Anpassungsoffenheit von Gesetzesumsetzung und -konkretisierung muss durch differenzierte verfahrensrechtliche Ausgestaltungen und sachangemessene organisationsrechtliche Strukturen geleistet werden.79 Angesichts des Wechselverhältnisses zwischen der materiellen Verwaltungsentscheidung und der Gestaltung der verfahrensmäßigen Informationsverarbeitung (i.w.S.) wird die verfahrens- und organisationsrechtliche Ordnung zum konstitutiven Bestandteil gemeinwohlorientierter Entscheidungen.80 3. Herausforderungen für die rechtliche Regulierung Die Leistungskraft prozeduraler Entscheidungselemente kann sich allerdings nur entfalten, wenn die Verwaltung Verfahren und materielle Maßstäbe folgenreich verkoppelt. Dies setzt etwa taugliche (über die bloße Zweckbestimmung der Regelung hinausgehende) Bewertungsmaßstäbe für die Erfassung der Relevanz von Tatsachen und die Würdigung der im Verfahren generierten Informationen voraus. Auch darf es angesichts der Unendlichkeit möglicher Informationen und der Existenz unspezifischen Nichtwissens – also von kategorisch nicht verfügbarem Wissen – bestimmter Stoppregeln der weiteren Aufklärung.81 Innerhalb von Beurteilungsspielräumen, die der Verwaltung aufgrund prognostischer Ungewissheit bzw. im Zuge von Akzentverschiebungen im Gewaltenteilungsmodell 82 zuwachsen, reichen Maßstäbe nicht, wie sie etwa zur Bewältigung allein situativer Ungewissheit (etwa bei Prüfungsentscheidungen über die Leistung des Prüflings) entwickelt worden sind. Für die Beurteilung weit in die Zukunft reichender Entwicklungen sind vielmehr Folgenbewertungen vordringlich, die etwa durch die Gegenüberstellung von Alternativen erleichtert werden können83; auch kann versucht werden, durch 79 Vgl. dazu i.d.B. etwa Appel, S. 175 f.; 180 f. und am Beispiel des integrierten Umweltschutzes Calliess, i.d.B. S. 136 f. 80 Vgl. statt vieler Thomas Vesting, Die Bedeutung von Information und Kommunikation für die verwaltungsrechtliche Systembildung, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), GVwR II, 2008, § 20, Rn. 8. 81 So mit Blick auf Verfahren der Innovationsfolgenabschätzung Appel, i.d.B. S. 177 ff. und hinsichtlich notwendiger Grenzen der Wissensgenerierung Jens-Peter Schneider (Innovationsverantwortung in Verwaltungsverfahren), i.d.B. S. 295. Vgl. zur Notwendigkeit von Maßstabs- und Stoppregeln des exekutiven Umgangs mit Ungewissheit allgemein auch Hoffmann-Riem (Fn. 18), S. 166 und Rainer Pitschas, Maßstäbe des Verwaltungshandelns, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), GVwR II, 2008, § 42, Rn. 186. 82 Udo di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 289. Zur Notwendigkeit einer Neukonzeption der Lehre vom Handeln in Optionenräumen s. Wolfgang HoffmannRiem, Eigenständigkeit der Verwaltung, in: GVwR I, 2006, § 10, Rn. 81 ff. 83 Zum Rationalisierungspotential (dargestellt vor dem Hintergrund verschiedener theoretische Ansätze) s. Gerd Winter, Alternativen in der administrativen Entscheidungsbildung, 1997, S. 12 ff.
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einen verfahrensrechtlich vorstrukturierten Vergleich von Alternativen relativ abgesicherte (gegebenenfalls nur pragmatisch begründete) Bewertungsmaßstäbe zu erarbeiten.84 Als Stoppregeln für die Informationsgenerierung kommen neben formell-rechtlichen Vorgaben wie Fristen- oder Beweislastregelungen insbesondere auch effizienzbezogene85 Anforderungen an das Verwaltungshandeln sowie auf materiellrechtlicher Ebene Grenzwertbestimmungen und die Standardisierung von Konformitätsnachweisen in Betracht.86 Überlegungen zu verfahrens- und organisationsrechtlichen Möglichkeiten der Ungewissheitsverarbeitung im Kontext innovationsregulatorischer Entscheidungen weisen darauf hin, dass auf diesen beiden Ebenen überdies quasi als Spiegelung der komplexen Temporalität der zu entscheidenden Fragen rekursive Verknüpfungen eingerichtet werden müssen.87 Gefordert werden reflektierende Bezüge zwischen aufeinander aufbauenden oder einander modifizierenden Entscheidungen (,rekursive Verfahrensketten‘88), netzwerkartige Verzahnungen des öffentlichprivaten Informationsaustausches89 sowie Transferkanäle zwischen den funktional diversifizierten und daher nur begrenzt aufgabenübergreifend zu erschließenden behördlichen Informationsströmen90. Zur Erfassung entsprechender Verknüpfungen muss die wirkungsorientierte Betrachtung des Verwaltungsverfahrens ausgeweitet werden. Daher sind unter Überwindung der verengenden Beschreibung des Verwaltungsverfahrens in § 9 VwVfG auch die der Eröffnung vor- und der Entscheidung nachgelagerten Verfahrensphasen bzw. Vor- und Anschlussverfahren zu erfassen und neben den außenrechtlichen Verfahrensbeziehungen ebenso die verwaltungsinternen Entscheidungsprozeduren und -zuständigkeiten in den Blick zu nehmen.91 Vgl. Appel, i.d.B. S. 158, 169 f. Zur Unterscheidung von Effizienz und Effektivität vgl. Wolfgang Hoffmann-Riem, Effizienz als Herausforderung an das Verwaltungsrecht, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / SchmidtAßmann, Eberhard (Hrsg.), Effizienz als Herausforderung an das Verwaltungsrecht, 1998, S. 11 (17 ff.). 86 Zu möglichen Stoppregeln der Wirklichkeitserfassung s. Wolfgang Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Schmidt-Aßmann, Eberhard / Hoffmann-Riem, Wolfgang (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 9 (64 ff.). 87 Dazu vgl. Schneider, i.d.B. S. 299 ff.; Eifert, i.d.B. S. 389 ff. 88 s. den Beitrag Schneider, i.d.B. S. 299. 89 Dazu unter Verweis auf die netzwerktheoretischen Organisationsmodelle Ladeurs i.d.B. Bora, S. 61. 90 Vgl. Eifert, i.d.B. S. 380 f. 91 Zur Betrachtung des Verwaltungshandelns auf der Folie der Steuerungsaufgabe vgl. etwa Wolfgang Hoffmann-Riem, Ermöglichung von Flexibilität und Innovationsoffenheit im Verwaltungsrecht – Einleitende Problemskizze, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 7 84 85
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VII. Beispiele für rechtliche Wahrnehmungs- und Bewältigungsstrategien: Verfahren und Instrumente Zur Illustration dieser relativ abstrakten Darstellungen und Forderungen sollen beispielhaft einzelne Instrumente und Verfahrensgestaltungen erwähnt werden, die als besonders geeignet zur Erreichung der jeweils in den Blick genommenen Steuerungsziele angesehen werden können. Jens-Peter Scheider etwa benennt ergänzend zu seiner zeitlich abschichtenden Querschnittsanalyse des Verwaltungsverfahrens exemplarisch Verfahrenselemente des besonderen Verwaltungsrechts, die dezidiert auf die Strukturierung der mit einer auf Innovationsverantwortung bezogenen Entscheidung verbundenen Prämissen (Gemeinwohlverträglichkeit, Nachhaltigkeit u. a.) und ihrer prozeduralen Sicherungen (Kooperation, Partizipation, Transparenz und Flexibilität u. a.) abzielen. Anlässlich von Überlegungen zur Optimierung der informationellen Entscheidungsgrundlagen verweist er etwa auf die verfahrensrechtlich durch die §§ 25 Abs. 5 – 8 und 25 b AMG vorskizzierten komplexen, auch netzwerkartigen Kommunikations- und Benehmensprozesse im Arzneimittelzulassungsverfahren92 und rückt exemplarisch das Monitoringverfahren der §§ 62 ff. AMG ins Zentrum seiner Überlegungen zur verfahrensstrukturierten Entscheidungsnachsorge.93 Auch Martin Eifert arbeitet heraus, dass die Stufung von Entscheidungsprozessen und die Flexibilisierung von Entscheidungswirkungen nicht per se, sondern nur im Verbund mit einer rechtlich gesicherten Dynamisierung der entscheidungserheblichen Wissensbestände eine verfassungsrechtlich hinreichende Strategie im Umgang mit Ungewissheit darstellt. Mit Verweisen zur kompetenziellen Differenzierung von fachwissenschaftlicher Risikobewertung und rechtlichem Risikomanagement im Lebens- und Arzneimittelrecht gibt er Beispiele für den von ihm geforderten Zweischritt hin zu einer organisationsbasierten Informationsordnung, die anstatt einer durchgängigen Verzahnung von wissenschaftlichen und politischen Bewertungen lediglich punktuelle Verknüpfungen bzw. Abstimmungen von Risikoabschätzung und Risikomanagement auf Basis einer grundsätzlichen organisationsrechtlichen Verselbstständigung von Informations- und Entscheidungsebene vorsieht. Als in seiner Gesamtheit innovationsangemessenes Regulierungsarrangement wird auch das durch die REACh-Verordnung reformierte europäische Chemikalienrecht in den Blick genommen. Die REACh-VO zielt auf die staatlich angeordnete Registrierung, Evaluation, Autorisierung und Begrenzung von Chemikalien im Interesse der Risikobewältigung. Dem Normenkomplex liegt ein Paradigmawechsel bei der Regulierung von chemischen Stoffen zugrunde: Anstelle einer (29 ff.) sowie Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, Kap. 6, Rn. 155. 92 Vgl. Schneider, i.d.B. S. 293. 93 Vgl. Schneider, i.d.B. S. 330.
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staatlichen Vorabkontrolle in Gestalt eines Genehmigungsverfahrens und daher unter Ablösung hoheitlicher Prüfprogramme wird die Verantwortung der wirtschaftlichen Akteure gestärkt. Sie selbst sollen die Aufgabe erfüllen, stoffbezogene Risiken angemessen zu erfassen und zu beherrschen. Mit den entsprechenden Neuerungen befassen sich vorliegend die – einander perspektivisch ergänzenden – Beiträge von Eckhard Pache sowie von Kilian Bizer und Martin Führ. Punktuelle Verweise auf das Chemikalienrecht finden sich darüber hinaus auch in den Beiträgen von Christian Calliess, Jens-Peter Schneider und Lothar Michael. Eckhard Pache arbeitet in einer Art Modulanalyse die einzelnen innovationsrelevanten Instrumente der Verordnung heraus und erläutert anhand dieser den auf tatsächlicher Ebene und hinsichtlich des Regulierungsansatzes vollzogenen Paradigmenwechsel von der ,toxic ignorance‘ zur informationellen Risikotransparenz des Chemikalienrechts bzw. von einer umfassenden hoheitlichen Prüfzuständigkeit der Behörden zu einer lediglich hoheitlich vorstrukturierten Eigenverantwortlichkeit der privaten Akteure für die Risikobeherrschung.94 Der Beitrag des interdisziplinären Autorengespanns Kilian Bizer und Martin Führ befasst sich darüber hinaus aus einer stärker systemorientierten Perspektive mit der Stellung, Funktion und wechselseitigen Abhängigkeit der REACh-Adressaten und -Akteure, ihren Entscheidungspräferenzen vor dem Hintergrund informationell überwindbarer Marktzutrittsbarrieren und verweist auf den Bedarf zur Abstimmung und Ergänzung der REACh-VO mit anderen, (auch) stoffbezogenen umweltrechtlichen Regelwerken.95 Er stellt insofern eine Vertiefung der im zweiten Band der Tagungsbandreihe ,Innovation und Recht‘ veröffentlichten REACh-Analyse von Bizer / Führ aus der Perspektive der Innovationsverantwortung dar und akzentuiert auf diese Weise Möglichkeiten des Zusammenspiel von Innovationsverantwortung und Innovationsförderung durch Zuordnung von Verantwortlichkeit(en) im Risikoverwaltungsrecht. So soll mit dem REACh-Ansatz Unwissen, das andernfalls zum Verbot der Anwendung von Chemikalien führen könnte, als produktive Chance genutzt werden, einen Prozess der Wissensgenerierung zu initiieren: In einem staatlich regulierten Rahmen werden die an der Wertschöpfung Beteiligten als Wissensspeicher und -generierer eingesetzt und die Wissensbereitstellung organisiert; nicht nur durch Nutzung vorfindlicher Wissensbestände und Entdeckung neuer Optionen ihrer Nutzung, sondern gerade auch durch Erzeugung neuen Wissens im Zusammenwirken mehrerer. Das gestufte REACh-Instrumentarium wirkt darauf hin, dass alle Akteure entlang der Wertschöpfungskette ihren spezifischen Beitrag leisten, um Risikopotentiale erkennen und vermeiden zu können. Entgegen der Grundannahme früherer Regulierungskonzepte gibt der Staat dabei den Anspruch auf, sämtliche Risikopotentiale von Stoffen und bestimmten Arten der Stoffverwendung kennen zu können, und unterwirft die Risikoermittlung stattdessen einem (dezentralen) Outsourcing, das allerdings durch staatliche Auffangvorkehrungen 94 95
Vgl. Pache, i.d.B. S. 251 ff. Vgl. Bizer / Führ, i.d.B. S. 303 ff.
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ergänzt und insofern durch zusätzliche Gemeinwohlvorkehrungen erweitert wird. Die wesentliche Änderung im herkömmlichen Regulierungsregime besteht insoweit darin, dass der Marktzugang für sämtliche (d. h. sowohl für neue wie auch für die sog. Altstoffe) nicht durch ein Zulassungssystem, sondern durch die Erfüllung bestimmter Informationspflichten eingeleitet wird: So erlaubt bereits die unter Beifügung hinreichender Risikoinformationen erfolgende fristgerechte Registrierung die (weitere) Vermarktung von Stoffen. Lediglich für Stoffe mit bestimmten Gefährdungsmerkmalen bzw. erhöhten Besorgungspotentialen wird auf das klassische Instrument der Zulassungspflicht zurückgegriffen. Die Zuordnung eines ,Risikostoffes‘ zum Zulassungsregime kann und soll aber durch Nachweis einer wirksamen Risikokontrolle (technischer oder organisatorischer Vorkehrungen) des Stoffverantwortlichen vermieden werden. Entsprechende Anreize folgen u. a. aus der Verknüpfung der Zulassungspflicht mit einer marktrelevanten Statuszuweisung (negative Öffentlichkeit durch sog. Kandidatenstatus). Unterstützend können dabei insbesondere die durch REACh eingeräumten Datenzugangsrechte der Verbraucher wirken. Ziel der REACh-VO ist also insgesamt, eine stoffbezogene „Informations- und Kommunikationsordnung“ zu etablieren, die die wirtschaftlichen Akteure veranlasst, verfügbares Wissen aufzubereiten, es zu erweitern und vor allem das verteilte Wissen kooperativ zu verknüpfen; auch und gerade mit der Intention, gemeinwohlverträglicher Alternativen aufzuzeigen bzw. zu entwickeln (Innovationsförderung). Nur an zweiter Stelle geht es ihr hingegen darum, die für (nachrangige) hoheitliche Interventionen wichtige Informationslage staatlicher Stellen als solche zu verbessern. Die Bandbreite des instrumentellen Spektrums der Innovationsregulierung wird in dem Beitrag von Lothar Michael umrissen, der sich mit den Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer konzeptionellen Verzahnung verschiedenartiger Instrumente im Rahmen der Innovationsregulierung (sog. innovationsrechtlicher Instrumentenmix) befasst. Unter Betonung der normativ geprägten Bipolarität der Innovationsverantwortung zwischen Innovationsermöglichung auf der einen und Innovationsbegrenzung auf der anderen Seite skizziert er das Modell eines dreistufigen Mix kompensatorischer Instrumentenkombinationen. 96 Die Modellierung des Instrumentenmix entlang den (vereinfacht) linear beschriebenen Phasen des Innovationsprozesses ermöglicht eine instrumentelle Abbildung des notwendig prozesshaften bzw. iterativen Charakters der Innovationsregulierung. Auch macht sie die Notwendigkeit phasenübergreifender konsekutiver Abstimmung der Instrumente im Interesse der Etablierung einer längerfristigen Anreiz- und Verantwortungsstruktur deutlich.
96
Vgl. Michael, i.d.B. S. 364 ff.
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VIII. Zum Nutzen intra- und transdisziplinärer Vorgehensweisen 1. Innovationsrechtliche Verschränkung von öffentlichem Recht und Privatrecht Innovationen sind – ungeachtet der vorliegenden Fokussierung auf ihre öffentlich-rechtliche Erheblichkeit und Umhegung – nicht nur als Gegenstand politischer resp. legislativer Abstimmungsprozesse und exekutiver (Einzelfall-)Regelungen, sondern gleichermaßen als Gegenstand privatrechtlicher Übereinkünfte und Rechtsbeziehungen sowie als Schutzobjekt geistiger Eigentums- und gewerblicher Schutzrechte rechtlich bedeutsam. Dementsprechend ist auch Innovationsregulierung weder allein dem Regime des öffentlichen Rechts noch dem des Privatrechts, sondern – mit unterschiedlichen Regelungsgehalten – beiden Ordnungssystemen zuzuweisen. Zwar wurzelt das Konzept der Innovationsverantwortung vor allem im öffentlichen, namentlich im Verfassungs- und Europarecht, und ist die rechtswissenschaftliche Innovationsforschung auch fakultär schwerpunktmäßig im öffentlich-rechtlichen Bereich angesiedelt. Allerdings wurde (auch) im Rahmen instrumenteller Überlegungen zum Innovationsrecht die Notwendigkeit einer funktionalen Verschränkung der Teilrechtsordnungen ,Öffentliches Recht‘ und ,Privatrecht‘ bei der Innovationsregulierung im Sinne wechselseitiger Ergänzungs- und Auffangordnungen herausgearbeitet. 97 Grundlage der Forderung nach einer „arbeitsteiligen“ Verknüpfung ist die aus der Gegenüberstellung der Handlungsorientierung von öffentlichem Recht und Privatrecht (Gemeinwohl vs. Privatnutz) fließende Erkenntnis, dass abhängig vom Nutzenkalkül der Innovateure die Leistungsfähigkeit der einen oder der anderen Ordnung überwiegt: Sofern und soweit das privatautonome Nutzenkalkül der privaten Akteure (Innovateure, Innovationsmittler und -distributoren) nicht nur individuell, sondern auch gesamtgesellschaftlich akzeptable Ergebnisse ermöglicht, ist – angesichts der Steuerungskraft des Eigennutzes auf der einen (Opportunität) und der Rechtfertigungsbedürftigkeit freiheitsbeschränkender hoheitlich-imperativer Regulierung der Innovationstätigkeit auf der anderen Seite (insbes. Übermaßverbot) – das Vertrauen auf das Privatrecht bzw. auf einen Interessenausgleich im Wege privatautonomen Aushandelns und marktlicher Interaktion die probate Strategie. Dies gilt insbesondere unter der Prämisse, dass über einen – die privatrechtlichen Institute Vertragsfreiheit, Wettbewerb und Privateigentum strukturierenden – gesetzlichen Rahmen dysfunktionale Machtasymmetrien verhindert oder ausgeglichen werden (können). Drohen privatautonome Nutzenkalküle hingegen die Erreichung normativ-begründeter innovationsregulatorischer Zielsetzungen zu vereiteln und 97 Vgl. dazu Wolfgang Hoffmann-Riem, Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen – Systematisierung und Entwicklungsperspektiven, in: ders. / Schmidt-Aßmann, Eberhard, Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996, S. 261 (331 ff.).
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muss daher die Steuerungskraft des Eigennutzes durch gemeinwohlorientierte Instrumente konterkariert und abgebaut werden, so ist der betroffene Regelungsbereich im Zweifel dem Regime des öffentlichen Rechts zu unterstellen bzw. in dessen normative Verantwortungsstrukturen einzubinden.98 Da die Erwartung an die Wahrnehmung staatlicher Innovationsverantwortung allerdings wie oben gezeigt99 vornehmlich auf eine umhegende hoheitliche Steuerung privater Selbstregulierung oder aber die Kooperation von staatlichen und privaten Akteuren bei der Ungewissheits- und Risikobewältigung abzielt, haben am Eigennutz orientierte Instrumente als Mittel der Akzeptanz- und Konsensbildung sowie zur Stimulierung privater Verhaltensbeiträge Eingang auch in das Instrumentarium öffentlich-rechtlicher Innovationssteuerung gefunden,100 so etwa in Gestalt von anreizwirksamen Freistellungen101 oder Stufungen in Gebührensystemen102, Lenkungsabgaben103, handelbaren Emissionsrechten104 und dynamischen Standardsetzungskonzepten mit Benchmarking-Charakter (technology forcing)105. Angesichts der eingeschränkten Kalkulierbarkeit der zu steuernden autonomen Allokationsentscheidung ist die (potentielle) Leistungsfähigkeit dieser Instrumente allerdings rechtlich bedeutsamen Unsicherheitsbedenken (Geeignetheitserfordernis, Untermaßverbot) 98 Dazu ausführlich und mit zahlreichen Verweisen Hoffmann-Riem (Fn. 91), S. 268 ff., 285 ff., 290 f. 99 s. oben S. 22 f. 100 Vgl. zu dieser Entwicklung allgemein Claudio Franzius, Die Herausbildung der Instrumente indirekter Verhaltenssteuerung im Umweltrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2000, S. 103 ff. 101 s. etwa § 10 Abs. 3 und 4 des Abwasserabgabengesetzes (AbwAG). 102 Solche zugunsten einer verantwortungsvollen Innovationsgestaltung für die Stoffstromregulierung im Bereich von Elektro- und Elektronikprodukte einfordernd Roßnagel, i.d.B. S. 271. 103 Als prominentestes Beispiel ist auf die im Strom-, Energie- (ehemals Mineralöl-) und Kraftfahrzeugsteuergesetz normierte Ökosteuer (Mengensteuer auf den Energieverbrauch) zu verweisen. Für die Entwicklung der ökologischen Besteuerung vgl. das Gesetz zum Einstieg in die ökologische Steuerreform vom 24. 03. 1999 (BGBl. I [1999], S. ) und die Gesetze zu ihrer Fortführung und Fortentwicklung vom 16. 12. 1999 bzw. 23. 12. 2002 (BGBl. I [1999], S. 2432 bzw. BGBl. I [2002], S. 4602). 104 Vgl. für den europäischen Emissionsrechtehandel die Richtlinie 2003 / 87 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. 10. 2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der RL 96 / 61 / EG des Rates. Zu den Schwierigkeiten einer effektiven Ausgestaltung des Emissionshandels auf nationaler Ebene Mario Martini / Jochen Gebauer, „Alles umsonst?“ Zur Zuteilung von CO2-Emissionszertifikaten: Ökonomische Idee und rechtliche Rahmenbedingungen, ZUR 2007, S. 225 ff. 105 Trotz wiederholten politischen Rufen nach der Implementierung von Konzepten des international erfolgreich modellierten und praktizierten (vgl. dazu Martin Jänicke / Stefan Lindemann, Innovationsfördernde Umweltpolitik, in: Eifert / Hoffmann-Riem (Fn. 11), S. 171 [178]) technology forcing in das deutsche Umweltrecht (vgl. etwa den entsprechenden Antrag von Abgeordneten der Fraktionen von SPD und BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN ,Industrielle Arbeitsplätze sichern, Energieeffizienz steigern‘ – BT-Drs. 15 / 5469) hat dieses dort wie auch im deutschen Recht insgesamt bislang keinen Niederschlag gefunden.
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ausgesetzt; deshalb werden sie – abgesehen von Bereichen gefahren- und risikounabhängiger Vorsorge – regelmäßig mit imperativ-ordnungsrechtlichen Instrumenten zu regulativ-anreizenden Verbundmustern verknüpft.106 Diese wechselseitige Durchwirkung privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Regulierung stellt eine erste, transferorientierte Ausprägung der Verschränkung zwischen den Teilrechtsordnungen öffentliches Recht und Privatrecht im Rahmen des Innovationsrechts dar. Sie wird meist allerdings weniger zwischen zivilrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Forschung diskutiert, sondern ist vielmehr insbesondere unter der Überschrift „Ökonomisierung des Verwaltungsrechts“ Gegenstand und anteilig auch Produkt des in den letzten zwei Jahrzehnten etwa für das Umweltrecht geführten interdisziplinären Dialogs zwischen Rechtswissenschaftlern und Ökonomen107. Entsprechend werden auch für die (funktionale) Bewertung der innovationsrechtlichen Problemadäquanz mischinstrumenteller Arrangements des besonderen Verwaltungsrechts in erster Linie ökonomische Theorien und Modellbildungen herangezogen,108 obwohl dies durchaus auch Anlass für Kritik an dieser Einengung sein kann. Eine weitere, innerhalb des innovationserheblichen Rechts zu diagnostizierende Verschränkung der Teilrechtsordnungen bildet die präventive Abstützung öffentlich-rechtlicher Pflichten und der entsprechenden Verantwortungszuweisung durch privatrechtliche Allokationskorrekturen, insbesondere in Gestalt haftungsrechtlicher Umverteilung von Schadens- bzw. Innovationsrisiken. Haftungsrechtliche Einstandspflichten, die mittelbar über das Verschuldenserfordernis an Grenzwertüberschreitungen, die Missachtung öffentlich-rechtlicher Auflagen oder Verstöße gegen Überwachungs- und Prüfpflichten andocken, nivellieren die Einsparungsanreize zu pflichtwidrigem Handeln durch parallele Zuweisung wahrscheinlichkeitstheoretisch-quantifizierbarer zukünftiger Schadenersatzlasten. Spezialgesetzliche Haftungstatbestände, die bereits an die Gefahrträchtigkeit des Handelns anknüpfen (spezialgesetzliche Gefährdungshaftung), sind – im Verbund mit materiell-rechtlichen Beweiserleichterungen und / oder Auskunftsansprüchen – darüber hinaus potentiell in der Lage, oberhalb des öffentlich-rechtlich vorgeprägten Sorgfalts- und Aktivitätsniveaus Risikominimierungs- bzw. Schadensvermeidungsan106 Vgl. Rodi (Fn. 46), S. 160 ff. Eine beispielhafte Auflistung findet sich etwa bei Lothar Michael, Formen- und Instrumentenmix, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), GVwR II, 2008, § 11 Rn. 43 ff. 107 Vgl. dazu beispielsweise die Beiträge in Teil IV des Sammelbandes von Erik Gawel und Gertrude Lübbe-Wolff (Hrsg.), Rationale Umweltpolitik – Rationales Umweltrecht, 1999 und Teile des von Martin Junkernheinrich u. a. herausgegebenen ,Handbuch zur Umweltökonomie‘ (etwa die S. 148 ff.). Für seine Ausprägung im Rahmen der ,Ökonomischen Theorie des öffentlichen Rechts‘ vgl. etwa die Beiträge in Christoph Engel / Martin Morlok (Hrsg.), Öffentliches Recht als ein Gegenstand ökonomischer Forschung, 1998, sowie als diesbezüglichen Beitrag jüngeren Datums Anne von Aaken, Vom Nutzen der ökonomischen Theorie für das öffentliche Recht: Methode und Anwendungsmöglichkeiten, in: Bungenberg, Marc u. a. (Hrsg.), Recht und Ökonomik, 2004, S. 1 ff. 108 Beispielhaft insoweit der interdisziplinäre Beitrag von Bizer / Führ i.d.B. S. 303 ff.
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strengungen der risikoemittierenen Akteure (Hersteller / Produzenten und Betreiber) auszulösen. Gänzlich eigenständige Bedeutung kommt der haftungsrechtlichen Zuweisung von Innovationsverantwortung schließlich dann zu, wenn der Gesetzgeber innovative Technologien bzw. Anwendungen mangels Kenntnis oder aus anderen Erwägungen noch keinem behördlichen Zulassungsverfahren unterworfen hat und insofern keine öffentlich-rechtliche (Vorab-)Prüfung der Gemeinwohlverträglichkeit im Einzelfall stattfindet. Denn trotz des Regulierungsverzichts können Herstellung, Nutzung und Vertrieb gleichwohl dann zu einer zivilrechtlichen Haftung führen, wenn es unter den Vorzeichen von Erkennbarkeit und Vermeidbarkeit der Gefahrträchtigkeit des Handelns zur Verletzung von Verkehrspflichten (Schadensvermeidungspflichten) kommt. Mithin können die einschlägigen Haftungsdrohungen auch in dieser Konstellation Anreize zur Gefahrvermeidung setzen.109 Eine strategische Interaktion zwischen ordnungsrechtlicher Basissteuerung und kumulativ verhaltenssteuernden Haftungsregeln bedarf zu ihrer Funktionalität bzw. Ausbalancierung zwischen regulatorischem Unter- und Übermaß allerdings eines – intradisziplinäre Grenzziehungen überwindenden – Verständigungs- und Abstimmungsprozesses zwischen zivil- und öffentlich-rechtlicher Forschung. So kann sich etwa angesichts der oben beschriebenen Ökonomisierungstendenzen im Verwaltungsrecht die Problematik mehrfacher Entgeltlichkeit der Umweltnutzung durch Kumulation von Abgaben- und Schadensersatzpflicht ergeben. Umgekehrt weist das gegenwärtige Konzept der Regelbildung im Recht der Gefährdungshaftung (Reaktion erst auf Schadensereignis und nicht bereits auf Risikowissen) ein „legal lag“ zwischen Risikoerkenntnis und gesetzlicher Reaktion auf110, aufgrund dessen sich das kompensatorische Potential des Haftungsrechts für den Zeitraum des ungewissheitsbedingten Verzichts auf ein öffentliches-rechtliches Zulassungsregime nicht voll entfalten kann. Auch ist zu bedenken, dass das Zusammenspiel zwischen ordnungsrechtlichen Vorgaben und materiellen Haftungsregeln auf haftungsrechtlicher Ebene erheblich durch materielle Beweislastregelungen und Auskunftspflichten sowie weiter durch parallele versicherungsrechtliche Vorgaben zur Deckungsvorsorge bei Innovationsrisiken (Pflichtversicherungen, Fonds- oder Genossenschaftslösungen111) beeinflusst wird. Auch diese sind damit als Faktoren in Überlegungen zur innovationsrechtlichen Verzahnung von öffentlichem Recht und Privatrecht einzustellen. Dieser komplexen Aufgabe hat sich im vorliegenden Bande112 und darüber hinaus durch kooperative Ausrichtung eines wissenschaft109 Vgl. zu dieser Stufung der präventiven bzw. kompensatorischen Leistungsfähigkeit des Haftungsrechts insgesamt den Beitrag von Röthel i.d.B. S. 335 ff. 110 Vgl. dazu mit zahlreichen Beispielen zur haftungsrechtlichen Reaktionsgesetzgebung Röthel, i.d.B. S. 344 f. 111 Dazu Eckard Rehbinder, Der Beitrag von Versicherungs- und Fondslösungen zur Verhütung von Umweltschäden aus juristischer Sicht, in: Ders. / Endres, Alfred / Schwarze, Reimung (Hrsg.), Haftung und Versicherung für Umweltschäden aus ökonomischer und juristischer Sicht, 1992, S. 120 ff.
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lichen Rundgesprächs zum Thema ,Haftung und Innovation‘ innerhalb des Forschungsprojekts ,Innovationsrecht‘113Anne Röthel angenommen. Schließlich ist auch noch auf die Verschränkung öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Regulierung bei der innovationsökonomisch äußerst relevanten Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Immaterialgüterrechtsschutz und rechtskonkretisierender privatverbandlicher Normung bzw. zwischen technischem Schutzrecht und formeller technischer Norm zu verweisen. Patentierung und Normungsbeteiligung erfüllen unterschiedliche strategische Funktionen im Innovationsprozess: Während die Ausschließungsbefugnis des Patents dem Inhaber über die Kontrolle der Erfindungsnutzung im Wettbewerb die Einspielung der Inventionsinvestitionen und daran anknüpfend die Erzielung eines Risikolohns ermöglicht, kann mit der Beteiligung am Normungsprozess ein zumindest begrenzter Einfluss auf den Inhalt der Norm dergestalt genommen werden, dass sie nach Veröffentlichung zur Überwindung von Absatzhemmnissen114 (auch) der eigenen Produkte beiträgt (Diffusionsmedium).115 Normungsbasierte Strategien kooperativer Gesetzeskonkretisierung wie insbesondere der für die europäischen Produktregulierung und damit den Zugang zum europäischen Binnenmarkt maßgebende „New Approach“116 sind folglich daran zu messen, ob sie unter dem Gesichtspunkt der Innovationsoffenheit den Normungsteilnehmern eine komplementäre Verknüpfung beider Strategien ermöglichen, zugleich aber im Sinne gemeinwohldefinierter Innovationsverantwortung die Allgemeinzugänglichkeit und Neutralität von Normungsprozess und Normungsprodukt garantieren.
S. 335 ff. Mangels Zusammenfassung der Beiträge in einem Tagungsband ist beispielhaft auf inhaltlich parallele Veröffentlichungen zweier Referenten (Rüdiger Krause [Fn. 64], S. 451 ff.; Erik Gawel, Umwelthaftungsrecht und Umweltordnungsrecht – Probleme regulativer Interaktion, in: Ministerium für Umwelt- und Naturschutz u. a. des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Umwelthaftung aus juristischer und ökonomische Sicht, 1994, S. 151 ff.) zu verweisen. 114 Bspw. Sicherheits- oder Qualitätssorgen der Verbraucher, abnahmeseitige Informationsdefizite oder -asymmetrien, (noch) mangelnder technischer Aufnahmebereitschaft auch aufgrund Fehlens nutzungsnotwendiger Komplementärtechnologien und -geräte. 115 Vgl. die entsprechende Gegenüberstellung etwa bei Hanns Ullrich, Patente, Wettbewerb und technische Normen: Rechts- und ordnungspolitische Fragestellungen, GRUR 2007, S. 817 ff. 116 Grundlage dieses neuen Konzepts für die Produktregulierung und für das Gesamtkonzept der Konformitätsbewertung bildet die Entschließung des Rates vom 7. 5. 1985 über eine Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und der Normung (sog. „new approach“), Abl. C 136 vom 4. 6. 1985, S. 1. Vgl. dazu den von der Kommission herausgegebenen ,Leitfaden für die Umsetzung der nach dem neuen Konzept und dem Gesamtkonzept verfassten Richtlinien‘ aus dem Jahr 2000, abrufbar unter http: //ec.europa.eu/enterprise/ newapproach/legislation/guide/document/guidepublicde.pdf (zuletzt abgerufen am 29. 04. 2009). 112 113
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Das Recht des Geistigen Eigentums bildet als historisch wohl erste Rechtsschicht, die gezielt auf eine Innovationsförderung hin ausgebildet wurde, selbstverständlich auch insgesamt ein zentrales Bearbeitungsfeld innovationsrechtlicher Forschung und – bezogen auf die verfassungsrechtliche Abbildung der Immaterialgüterrechtsordnung – auch einen Schwerpunkt des Dialogs zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht.117 Diese Gewichtung begründen und veranschaulichen gesellschaftlich und rechtspolitisch hochbrisante Beispiele wie der Streit über den patentrechtlichen Schutz für genetische Information resp. gentechnologische Erfindungen, bei denen die Konkretisierung fundamentaler verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen im Zusammenhang mit Innovationen bereits und gerade auf der Stufe des Immaterialgüterrechts gefordert ist.118
2. Transdisziplinäre Offenheit und transdisziplinärer Dialog Wie oben bereits anlässlich der Ausführungen zur komplexen Temporalität von Innovationsprozessen dargestellt119, ist die Berücksichtigung und Verarbeitung wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse über Entstehungs- und Durchsetzungsbedingungen von Innovationen sowie Möglichkeiten des Rechts zur regulierenden Beeinflussung individuellen Verhaltens oder gesellschaftlicher Prozesse eine grundlegende Voraussetzung der rechtswissenschaftlichen Begutachtung, Bewertung und Anleitung rechtlicher Einwirkungen auf Innovationsprozesse. Missverständlichen Interpretationen vorbeugend sei betont, dass mit dieser Feststellung keineswegs die grundsätzliche Verfasstheit der Rechtswissenschaft als normative Wissenschaft in Frage gestellt wird. Allerdings ist der Rückgriff auf methodisch fundiertes Wissen etwa der Nachbardisziplinen Ökonomie und Soziologie im Interesse einer sachgerechten, nicht nur an alltagstheoretische Annahmen anknüpfenden Erfassung des Realbereichs von Normen bei der rechtswissenschaftlichen Beobachtung und Konzeption von Recht eine das rechtsstaatliche Rationalitätsversprechen des modernen Staates120 wiederspiegelnde Notwendigkeit. Im vorliegenden Tagungsband finden sich entsprechend sowohl grundlegende Beiträge zur rechtlichen Innovationsverantwortung aus wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Sicht wie auch nachbarwissenschaftliche Erschließungen innovationsrechtlicher Referenzfelder121, und werden innerhalb rechtswissenschaftlicher Beiträge
117 Vgl. insofern insgesamt den ersten Band der Tagungsbandreihe ,Innovation und Recht‘ (Eifert, Martin / Hoffmann-Riem, Wolfgang (Hrsg.), Geistiges Eigentum und Innovation, 2008) dort insbesondere die Beiträge zu Teil II und V. 118 Vgl. dazu Ingrid Schneider, Innovationsfreiheit und -verantwortung: Geistiges Eigentum und öffentliche Ziele, in: Eifert / Hoffmann-Riem (Fn. 117), S. 309 (334 ff.). 119 s. o. S. 26 f. 120 Dazu im Kontext notwendiger Dynamisierung staatlicher Wissensbestände und mit weiteren Nachweisen Eifert, i.d.B. S. 374.
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ökonomische Modell- oder soziologische Theoriebildungen in Bezug genommen122. Allerdings lässt sich die Fruchtbarkeit des transdisziplinären Dialogs, wie sie bei der dem Tagungsband zugrundeliegenden Veranstaltung durch die Möglichkeit des unmittelbaren Nachfragens und Diskutierens, d. h. in einem Verständigungs- und Übersetzungsforum, erlebbar war, in der Verschriftlichung der Beiträge nur bedingt abbilden. Alfons Bora verdeutlicht, indem er die dem oben umrissenen Konzept der Innovationsverantwortung inhärente Zuweisung von Innovationsverantwortlichkeit123 – vermittelt über die Leitmaxime ,Zukunftsfähigkeit‘124 – der äquivalenten Figur des Lernens gegenüberstellt, dass rechtliche Innovationsverantwortung mehr als nur eine Zuschreibungs- und Relationsskizze125 zu sein hat. Denn während die Zuschreibung von Verantwortlichkeit der soziologischen Modellbildung zufolge Verantwortlichkeit lediglich externalisiert bzw. zwischen sozialen Systemen verschiebt, wird erst durch die Vorgabe eines lernenden und damit Entwicklungsflexibilität sichernden Modus der ,Einengung gegenwärtiger Zukünfte‘ (Defuturalisierung) Innovationsverantwortung im Sinne zukunftsfähiger Zukunftsorientierung etabliert. Als einen solchen Modus rückt Alfons Bora reflexives und lernendes Recht in das Zentrum der Aufmerksamkeit und bestätigt mithin eine grundlegende rechtstheoretische126 und auch im Kontext des Innovationsrechts von Anfang an erhobene127 Forderung an die Gestaltung komplexitäts- und ungewissheitsverarbeitenden Rechts. Zugleich ist seinen Ausführungen über die Verschränkung von Zeitlichkeit und Zurechnung zukünftiger Ereignisse auch eine (wissens-)soziologische Grundlegung des kompensativen Zusammenspiels von öffentlich-rechtlich normierten Pflichten und deren haftungsrechtlicher Bekräftigung zu entnehmen. „Die in der prospektiven Verantwortung enthaltene normative, auf zukünftigen Zustand bezogene Erwartung ist“, so Bora, „letztlich auch die Bedingung der Möglichkeit retro-
121 Vgl. die Beiträge i.d.B. von Albrecht (S. 203 ff.) und Decker / Stoppenbrink (S. 219 ff.) sowie die referenzfeldübergreifende Analyse des Vorsorgeprinzips durch den Soziologen Ortwin Renn (S. 105 ff.). 122 So etwa angedeutet bei Michael, i.d.B. S. 360 f., oder bei Appel, i.d.B. S. 177). 123 Verstanden als die Pflicht, für zukünftige zurechenbare Handlungen bzw. Handlungserfolge gegebenenfalls Rechenschaft abzulegen und für die Beseitigung von Folgen einzustehen. 124 Bei Bora definiert als die Summe der „gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit evolutionär erfolgreichen Operierens in einer komplexen, durch gesellschaftliche Einflüsse selbst dauernd mit veränderten Umwelt“, vgl. i.d.B. S. 46. 125 Grundlegend zum Verständnis von Verantwortung als ,Zuschreibungsrelationsbegriff‘ s. Hans Lenk, Von Deutungen zu Wertungen. Eine Einführung in aktuelles Philosophieren, 1994, S. 240. 126 Vgl. Karl-Heinz Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie, 1992, insbes. S. 167 ff., 205 ff. 127 So etwa Wolfgang Hoffmann-Riem, Zur Innovationstauglichkeit der MultimediaGesetze – Vorüberlegungen, K&R 1999, S. (488).
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spektiver Zurechnung, in welcher normative Erwartungen an zukünftiges pflichtgemäßes Verhalten gewissermaßen rückblickend konfirmiert werden.“ Erik Gawel entwickelt vorliegend auf Basis des institutionenökonomischen Theoriegerüsts wirtschafts- bzw. anreizethische Leitlinien sowie darauf aufbauend regulative Strategien zur Realisierung gemeinwohlorientierter Innovationsverantwortung in dezentralen marktlichen Zusammenhängen. Im Sinne eines transdisziplinären Brückenschlags stellt er dabei die ökonomische Rekonstruktion von Verantwortung an den Anfang seines Beitrages und führt den Leser so zunächst in die Hauptsätze der Wohlfahrtsökonomik und anschließend in die – das neoklassische Modell des ,homo oeconomicus‘ um institutionelle Faktoren ergänzende – Neue Institutionenökonomik ein. Mit der anschließenden Analyse von Störungen des ökonomischen Verantwortungskonzepts arbeitet er die Bedeutung von Unwissen und asymmetrischer Wissensverteilung als Hindernisse einer effizienten Risikoallokationsordnung und damit als zentrale Ursachen von Unter- und Überverantwortung heraus, und bekräftigt so die oben128 getroffenen innovationsrechtlichen Feststellungen über rechtliche Herausforderungen im Umgang mit der Ungewissheitsproblematik. Im Umkehrschluss betont er die Notwendigkeit insbesondere rechtlicher Anreize zur Bereitstellung von innovationsbezogenem Risikowissen bzw. zur Überwindung der informationsökonomisch begründeten strukturellen Hindernisse dezentraler privater (Risiko-)Informationsgewinnung. Als solche kommen nach Gawel – und damit analog zu den regulatorischen Effizienzerwägungen der rechtswissenschaftlichen Innovationsforschung – zuvorderst rechtliche Bewirkungsformen129 in Betracht, die die marktliche Institutionenemergenz als „Gegenkräfte gegen marktliche Dysfunktionen der Generierung und Verbreitung von Risikowissen“ wirksam unterstützen oder ergänzen.
S. 28 f. Zu diesem Begriff in Abgrenzung von Rechts- und Handlungsformen Wolfgang Hoffmann-Riem, Rechtsformen, Handlungsformen, Bewirkungsformen, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), GVwR II, 2008, § 33 Rn. 16 ff. 128 129
Teil I Innovationsverantwortung als normativer Rahmen einer Gesellschaft der Selbst-Experimentation
Zukunftsfähigkeit und Innovationsverantwortung – Zum gesellschaftlichen Umgang mit komplexer Temporalität Von Alfons Bora1 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Die komplexe Temporalität von Innovationsregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Innovationsverantwortung und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Zukunftsfähigkeit und Lernen als funktionale Äquivalente für Verantwortungszuschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Innovationsverantwortung als Form der Erzeugung von Zukunftsfähigkeit? . . . . . .
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung Das Thema Innovationsverantwortung liegt auf den ersten Blick ein wenig abseits des soziologischen Interesses. Denn die Soziologie leistet als Erfahrungswissenschaft keinen direkten Beitrag zu normativen Diskussionen über Verantwortung, sei es im Recht, sei es in der Ethik. Vielmehr erforscht sie zum einen die tatsächlichen Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen normativer Programme. Zum anderen fragt sie nach den hinter konkreten Normen liegenden sozialen Bezugsproblemen und nach Varianten für deren Lösung. In beiden Fällen kann sie die normative Debatte dann vielleicht indirekt befruchten. Im Falle der Innovationsverantwortung besteht das spezifische Angebot der Soziologie in der Analyse gesellschaftlicher Mechanismen, die eventuell ähnliche Funktionen übernehmen wie die Figur der Verantwortung in den genannten normativen Zusammenhängen. Aus einem derartigen Vergleich mit funktionalen Äquivalenten, so die zu Grunde liegende Idee, ergeben sich Möglichkeiten, die gesellschaftliche Leistungsfähigkeit des Konzepts der Innovationsverantwortung einzuschätzen. 1 Mein Dank gilt meinem Kollegen Michael Huber (vgl. Huber 2008) und den Mitgliedern unserer DoktorandInnen-Gruppe „Zukunftsfähigkeit“ sowie TeilnehmerInnen des Seminars „Die wissenschaftliche Konstruktion von Zukunft“ im Wintersemester 2007 / 08, von deren Diskussionsbeiträgen der vorliegende Beitrag in starkem Maße profitiert.
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Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist ein wissenssoziologischer, auf die zeitliche Dimension von Verantwortung und ähnlicher Konzepte abstellender. Wenn man sich dem Thema der Innovationsverantwortung zuwendet, fällt auf, dass Innovation und Verantwortung einen Aspekt gemeinsam haben, nämlich eine – jedenfalls in spezifischer Hinsicht ausgeprägte – komplexe Temporalstruktur. Von dieser ausgehend plädiere ich im Folgenden für eine Forschungsperspektive, die den gesellschaftlichen Umgang mit Innovationen im Allgemeinen und die rechtliche Innovationsregulierung im Besonderen auf deren jeweiligen Umgang mit der erwähnten Temporalstruktur befragt. Der entscheidende Gesichtspunkt scheint mir dabei in dem zu liegen, was ich Zukunftsfähigkeit nennen will. Zukunftsfähigkeit, so mein Vorschlag, bezeichnet allgemein die Fähigkeit sozialer Systeme, sich auf komplexe Temporalität einzustellen und in diesem Sinne dann evolutionär erfolgreiche Formen auszubilden. Ein wesentliches Merkmal von Zukunftsfähigkeit betrifft die Frage, ob und wie Gesellschaft und ihre Subsysteme Lernfähigkeit entwickeln und zur Verfügung stellen. Auch wenn ich als Soziologe, wie gesagt, kein normatives Konzept von Verantwortung vertrete, ergibt sich vor diesem Hintergrund die Möglichkeit, die gesellschaftliche Semantik der Verantwortung bzw. Verantwortlichkeit daraufhin zu beobachten, welche Leistung sie im Prozess der Entwicklung gesellschaftlicher Lernmechanismen übernehmen kann. Dieser Aufsatz ist in vier Abschnitte gegliedert. Zunächst wird im Rückgriff auf einen früheren Beitrag im Rahmen des Projekts „Innovationsrecht“ näher erläutert, inwiefern Innovationsregulierung eine komplexe Temporalstruktur aufweist. Im zweiten Schritt wird die Semantik der Innovationsverantwortung als eine von mehreren vorstellbaren Reaktionen auf diese Komplexität interpretiert. Zugleich werden die Probleme dieser Form der Komplexitätsreduktion skizziert. Die Zuschreibung von Verantwortung stellt für die Regulierung wissenschaftlich-technischer Innovationen eine an und für sich nahe liegende Lösungsfigur dar. In Folge ihrer strukturellen Verwandtschaft mit dem Konzept des Risikos weist sie allerdings auch einige risikotypische Schwierigkeiten auf. Im dritten Abschnitt werden deshalb Zukunftsfähigkeit und Lernen als funktionale Äquivalente für Verantwortungszuschreibung untersucht, mit denen die erwähnten Schwierigkeiten vermeiden werden. Zukunftsfähigkeit verstanden als die Fähigkeit zu evolutionär erfolgreichem Operieren in einer komplexen, durch gesellschaftliche Einflüsse selbst dauernd mit veränderten Umwelt setzt, so die zentrale These dieses Aufsatzes, allgemein so etwas wie die Fähigkeit zu sozialem Lernen voraus. Mit dieser These knüpft meine Argumentation an eine in der Soziologie geführte Debatte an, die meines Erachtens in der zurückliegenden Zeit zu Unrecht ein wenig in Vergessenheit geraten ist. Das weite und begrifflich schwierige Feld der soziologischen Lerntheorie wird hier allerdings in keiner Weise vollständig ausgeleuchtet. Vielmehr geht es mir lediglich darum, dessen mögliche Bedeutung für Fragen der Innovationsregulierung einigermaßen plausibel zu machen. Im vierten Abschnitt versuche ich, den möglichen Gewinn einer solchen Perspektive im Hinblick auf Fragen der Innovationsverantwortung anzudeuten.
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Insgesamt handelt es sich bei den vorliegenden Überlegungen um eine eher noch im Versuchsstadium steckende und nicht in jeder Hinsicht abgeschlossene Argumentation. Das Feld der Zukunftsorientierung sozialer Strukturen ist soziologisch noch wenig erforscht. Eine „Sociology of the Future“, die sich nicht in futurologischen Prognoseversuchen erschöpft, sondern auf struktureller Ebene generalisierbare Erkenntnisse über die Funktion und die Formen gesellschaftlicher Zukunftsorientierung zu erlangen sucht, ist wohl erst im Entstehen begriffen und ermangelt noch vielfach der theoretischen Konsistenz (vgl. Adam / Groves 2007, Brown et al. 2000, Grunwald 2007). Dass sie in ausgearbeiteter Form einen Gewinn für das Verständnis der Problemlagen verspricht, die mit dem Konzept der Innovationsverantwortung verbunden sein könnten, soll mit diesem Aufsatz dargelegt werden. Im Modus des Versprechens liegt allerdings selbst schon ein Stück Konstruktion von Zukunft, das, wie ich sogleich zeigen will, mit Prognosen und Utopien hantiert und nur von daher seinen Gebrauchswert für die je aktuelle Diskussion gewinnen kann.
II. Die komplexe Temporalität von Innovationsregulierung Mit dem Hinweis auf die Zeitstruktur von Innovationsprozessen und auf die Implikationen, die sich daraus für Regulierungsansätze ergeben, greift man auf den ersten Blick ein in der Literatur durchaus bekanntes Phänomen auf. Bei näherer Betrachtung bleiben jedoch spezifisch soziologische Ansätze eher selten. Die Zeitlichkeit von Innovationen spielt zwar nicht nur in der Ökonomie, sondern auch in der Techniksoziologie und der soziologischen Innovationsforschung eine Rolle, bleibt aber dabei eher ein Nebenaspekt. Sie wird im Wesentlichen unter zwei Aspekten thematisiert. Zum einen sind für die Innovationstheorie zyklische Vorstellungen von Bedeutung, nach denen die Technikentwicklung allgemein einem zeitlichen Rhythmus unterliegt, der möglicherweise in Form allgemeiner Gesetzmäßigkeiten beschrieben werden kann. (Braun-Thürmann 2005, Weyer 2008, Freeman / Louça 2001). Von Interesse waren immer schon die besonders langfristigen zeitlichen Strukturen, aus der Makroökonomie stammend und zunächst als Konjunkturzyklen verstanden. Bereits Schumpeter beschreibt Zyklen der Technikentwicklung als Kondratieff-Zyklen (Schumpeter 1939.) Daneben haben überdies in jüngerer Zeit Forschungen über Innovationsnetzwerke auf einen besonderen Synchronisationsbedarf zwischen wissenschaftlichtechnischer Innovation und deren sozialer Umwelt hingewiesen, der sich aus den Eigentümlichkeiten netzwerkförmiger Innovationsprozesse speist. (Rammert 1997, Rammert / Bechmann 1997, Rollwagen 2008). Vor diesem allgemeinen Hintergrund stellt sich auch Innovationsregulierung als Frage der Synchronisation dar. Das hat beispielsweise Bender (1996) gezeigt, der Regulierung und Standardsetzung als normative Zukunftskonstruktionen betrachtet, die wiederum die Frage nach der Synchronisation mit den Prozessen technologischer Innovation aufwerfen.
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Beide Ansätze, der makrostrukturelle Ansatz langer Zyklen wie der eher mesostrukturelle Ansatz der Innovationsnetzwerke führen zu der im Folgenden eingenommenen Perspektive hin, die in Abgrenzung zu den eben erwähnten als mikrostrukturelle Perspektive gekennzeichnet werden kann. Von der ebenfalls auf der Mikroebene angesiedelten ökonomischen Betrachtung von Zeitphänomenen, die insbesondere das richtige „Timing“ von Innovationsentscheidungen problematisieren (Rollwagen 2008, 24 ff.), unterscheidet sich die mikrosoziologische Perspektive allerdings deutlich. Die Zeitlichkeit von Innovation und deren Regulierung wird in der recht umfangreichen mikroökonomischen Literatur zur zeitlichen Organisation von Innovationsprozessen in Unternehmen vorwiegend im Hinblick auf die Optimierung dieser Prozesse behandelt. Im Unterschied dazu geht es mir um die strukturelle Ebene der Deutungsmuster, vor deren Hintergrund dann solche Strategien erst ihren inhärenten Sinn entfalten. Dabei stößt man auf einen in den Innovationsprozess in viel grundlegenderer Weise eingelassenen Aspekt der Zeitlichkeit. Diese Zeitlichkeit wird sichtbar, wenn man Innovation, wie ich dies im Folgenden tun will, mit Hilfe einer wissenssoziologischen Begrifflichkeit zu erfassen sucht. Ich knüpfe damit konzeptionell an meine wissenssoziologischen Überlegungen zur Innovationsregulierung an, die in einem früheren Band dieser Reihe veröffentlicht wurden (Bora 2008) und versuche darauf aufbauend die Funktion von Verantwortung zu präzisieren. Ich vertrete einen wissenssoziologischen Ansatz, mit dessen Hilfe die Herausforderung, die mit der Regulierung von Innovationen verbunden ist, sich in einem etwas anderen Lichte zeigt als aus einer auf die Synchronisation von Unternehmens-, Forschungs- und Verwaltungshandeln ausgerichteten Perspektive. Innovation wird in dieser Sichtweise als Ergebnis eines sozialen Deutungsprozesses verstanden. Damit ist kein naiver Sozialkonstruktivismus verbunden, der gewissermaßen jede Sachdimension hinter den sozialen Deutungen zu leugnen versuchte. Vielmehr geht es lediglich um den Hinweis, dass ein bloßer Wandel in der Sache selbst, das Hervorbringen einer Erkenntnis, die Entwicklung einer Technik als solche noch keine Innovation ausmacht. Diese kommt nach der hier vertretenen Auffassung vielmehr erst mit dem Hinzutreten einer Deutung des Hervorgebrachten als innovativ zustande (ausführlich dazu Bora 2008). Innovation umfasst nach dieser im Folgenden zu Grunde gelegten Ansicht drei Wissensformen, nämlich Inventionswissen (Wissen, das eine geistige oder materielle Hervorbringung ermöglicht), emergentes Wissen (Wissen, das mit der Hervorbringung generiert wird) und Innovations- oder Deutungswissen (Wissen, das die Deutung der Hervorbringung als Innovation bewirkt). Man erkennt vor diesem Hintergrund die jedenfalls analytische Eigenständigkeit der sozialen Deutung im Innovationsprozess. Auch wenn man de facto von einem eng verzahnten Zusammenwirken aller drei Aspekte ausgehen wird, so sieht man doch bereits an Hand der begrifflichen Unterscheidung, dass im Vollzug von Innovation das Zusammenspiel dieser Wissensformen in eine im strengen Sinne rückblickende Deutung einer gegebenen Hervorbringung als Innovation mündet. Innovationen sind insofern zeit-
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lich komplex, als ihre Temporalstruktur die rein chronologische Ordnung der drei Wissensformen mit einer rückblickenden zeitlichen Festlegung verschränkt. Das als Innovation Gedeutete wird im Prozess seiner Durchsetzung erst als neu interpretiert. Innovationsregulierung als Wissensregulierung ist an diese Temporalstruktur angelagert (vgl. Rossnagel 1999, Hoffmann-Riem 2006). Sie macht ihrerseits von verschiedenen Wissensformen Gebrauch, die man Prognosewissen (Wissen über zukünftig erwartbare Innovationen), Risikoentscheidungswissen (Wissen um unerkennbare zukünftige Innovationsfolgen und deren Zurechnung auf Entscheidungen) und regulierungstechnisches Wissen (Wissen über Funktionsweise und Wirkung verschiedener Regulierungsinstrumente zukünftige Innovationen und Risiken) bezeichnen kann. Alle drei Formen des Regulierungswissens operieren in je spezifischer Weise im Horizont zukünftiger Ereignisse. Sie verkörpern jeweils den Umgang mit der Zukunftsoffenheit sowohl der Innovation als auch ihrer Regulierung. Sie stellen damit, so kann man aus wissenssoziologischer Sicht sagen, Formen der gesellschaftlichen Konstruktion von Zukunft dar.
III. Innovationsverantwortung und ihre Folgen Die Semantik der Innovationsverantwortung scheint mir nun im Kern eine Reaktion auf diese komplexe Zeitlichkeit von Innovation und Innovationsregulierung darzustellen. Dabei ist die Zukunftsorientierung, die auch der Begriff der Verantwortung beinhaltet, meines Erachtens der Schlüssel zum Verständnis dieser Figur. Ich will dies verdeutlichen, indem ich zunächst etwas näher auf das Konzept der Verantwortung eingehe und deren Probleme kurz anreiße. Zukunftsorientierung wird daran anschließend als allgemeinerer Begriff eingeführt. Verantwortung ist ein altes Thema der Philosophie, insbesondere zunächst der Ethik. Dort taucht sie in der Antike wohl eher in Gestalt von Schuld- bzw. Imputationslehren auf. „Verantwortung“ erscheint im älteren deutschen Sprachgebrauch etwa des 15. bis 17. Jahrhundert zunächst folgerichtig als Ausdruck für apologia oder defensio, also für Verteidigung allgemein und spezieller die Rechtfertigung vor Gericht, häufig auch Rechtfertigung vor Gottes Richterstuhl, sodann für Rechtfertigung ganz allgemein.2 Dazu kommt etwa seit dem 17. Jahrhundert, spätestens aber bei Kant, der Gebrauch im Sinne eines abstrakten Zustands der Verantwortlichkeit, bei welchem die Handlung der Verantwortung nur als Möglichkeit gedacht ist. Daraus erwächst auch der heute eingeführte prospektive Gebrauch im Sinne einer Pflicht, für zukünftige zurechenbare Handlungen bzw. Handlungserfolge gegebenenfalls, d. h. im Falle eines Schadenseintritts bei Dritten, Rechenschaft abzulegen, sich zu rechtfertigen oder für die Beseitigung von Folgen einzustehen. 2
Vgl. dazu die Nachweise in Grimms Wörterbuch der Deutschen Sprache
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Diese Zurechung zukünftiger Ereignisse auf Personen und an diese Zurechnung geknüpfte Erwartungen stellt eine neuartige Verschränkung von Zurechenbarkeit und Zeitlichkeit dar, wie sie etwa in Form von Prognose, Vorhersehbarkeit, Folgenabschätzung zum Ausdruck kommt. In der neukantianischen Tradition hat bekanntlich Max Weber mit dem Prinzip der Verantwortungsethik eine solche, auf die Handlungsfolgen abstellende Betrachtung für den Bereich des Politischen etabliert.3 In der heutigen Diskussion (vgl. zum Überblick Werner 2006, Lenk / Maring 2001) wird der Begriff der Verantwortung als Zuschreibungsbegriff in beiderlei Hinsicht verwendet, nämlich sowohl retrospektiv als auch prospektiv. Zurechnung wird dabei als Kopplung eines Ereignisses und eines Akteurs verstanden. Sie bewirkt, dass ein Ereignis mit Erwartungen an diesen Akteur in Verbindung gebracht wird. Die retrospektive Variante umfasst die Zurechnung von Handlungen bzw. Handlungsergebnissen auf konkrete Akteure. Die prospektive enthält die eher auf Rollen und soziale Positionen gemünzte Zuschreibung von Pflichten mit Bezug auf Situationen, Objekte etc. Beiden Verwendungsweisen liegen kognitive (nämlich kausale) und normative (nämlich moralische, rechtliche oder politische) Erwartungsstrukturen zu Grunde. Die in der prospektiven Verantwortung enthaltene normative, auf zukünftigen Zustand bezogene Erwartung ist letztlich auch die Bedingung der Möglichkeit retrospektiver Zurechnung, in welcher normative Erwartungen an zukünftiges pflichtgemäßes Verhalten gewissermaßen rückblickend konfirmiert werden. Der prospektive Verantwortungsbegriff enthält damit auch bereits die spezifische verantwortungstypische, nämlich normative Form der Zeitbindung, also der Markierung von Zukunft im Horizont gegenwärtigen Operierens. Mit dem prospektiven Begriff der Verantwortung werden Zukünfte nicht einfach nur als kognitiv erwartbar und damit kausal zurechenbar, sondern enttäuschungsfest in Gestalt von Pflichten an gegenwärtiges Handeln und Entscheiden gebunden.4 Als prominentes Beispiel sei etwa an Hans Jonas’ „ökologischen Imperativ“ erinnert, der angesichts der in die „technologische Zivilisation“ eingelassenen Gefährdungspotentiale explizit die Zukunftsdimension gegenwärtigen Entscheidens zum Thema macht: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“ (Jonas 1979, 36). Der Appell an menschliche Verantwortung hat hier ersichtlich prospektive Gestalt und formuliert im Blick auf zukünftige Verhältnisse normative Erwartungen. Insofern ist die Temporalstruktur einfach gebaut und dem juristischen Blick vertraut. Bei näherer Betrachtung fallen allerdings zwei Schwierigkeiten auf, die mit dem zukunftsorientierten, prospektiven Appell an Verantwortung verbunden sind. 3 Weber 1917 / 19, 57 f. Darin zeigt sich, wie beispielsweise schon bei John Stuart Mill die stark politische Komponente des Verantwortungsbegriffs. 4 Weitere Implikationen des Verantwortungsbegriffs – Handlungsfreiheit, normative Bedingungen der Auswahl kausaler Verknüpfungen (Sozialadäquanz) usw. – bleiben hier außer Betracht, da ausschließlich auf die Zeitdimension von Verantwortung abgestellt wird, weil sie auf das Moment der gesellschaftlichen Konstruktion von Zukunft im Verantwortungsbegriff aufmerksam macht.
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Zum ersten ist die implikative Form dieses Appells zu nennen. Zukünftige Zurechnungen sind nämlich entscheidungsabhängig. Wir setzen die Kausalketten, die wir in Zukunft möglicherweise für die Zurechnung benutzen werden, selbst in Gang. Und die konkrete Auswahl unter den gegenwärtig als Optionen zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten wird als Entscheidung erfahren, die von den gegenwärtigen Deutungen abhängig ist, also von den Normen, Präferenzen und kognitiven Wissensbeständen, die den Horizont je aktuellen Entscheidens bilden. Damit wird jedoch die prospektive Verantwortung, der Appell an die Berücksichtigung zukünftiger Zurechnungsmöglichkeiten, selbst zu einem Teil des Unsicherheit erzeugenden gegenwärtigen Handelns. Mit anderen Worten: in sozialer Hinsicht ist die Berufung auf Verantwortung in die Erzeugung ihrer eigenen Effekte unhintergehbar eingebunden. Man kann nun diese Implikatur ihrerseits noch einmal ethisch – eben verantwortungsethisch – zu lösen versuchen. Dabei wird man mit einem Regressproblem konfrontiert und mit der Frage nach Stoppregeln für die Attribution von Verantwortungsverantwortung. Man kann die geschilderte Komplexität der Temporalstruktur andererseits aber auch in Form von Risikokalkülen klein arbeiten. Dieser Weg weist, wie ich andernorts zu zeigen versucht habe, auf einen wichtigen sozialen Mechanismus der Verantwortungsallokation hin, der allerdings in vergleichbarer Weise mit dem Problem fehlender Stoppregeln behaftet ist (vgl. noch einmal Bora 2008). Das zweite Problem mit Verantwortungsattributionen besteht aus soziologischer Perspektive darin, dass die Semantik der Verantwortung zwar als Form der Selbstbeschreibung in sozialen Systemen geeignet ist, Probleme zu identifizieren, dass die Problemlösung selbst aber in der Semantik keineswegs schon angelegt ist. Im Gegenteil, man kann eher beobachten, dass Verantwortung als generalisiertes Medium fungiert, in welchem Zurechnungsprobleme zwischen sozialen Systemen hin und her geschoben werden, mit der Folge von temporärer Verantwortungsinflation bzw. komplementär dazu mit deflationärer Angst an anderer Stelle, von der Übernahme von Verantwortung abgeschnitten zu sein, einer Angst, die dann beispielsweise gesteigerte Partizipationsforderungen nach sich ziehen kann. Auch dieser zweite Gesichtspunkt macht also Analogien zwischen Verantwortung und Risiko sichtbar und weist damit auch auf eine dem Verantwortungsbegriff innewohnende Schwäche hin. Zusammenfassend kann man sagen: Verantwortung und Risiko werden typischerweise zwischen Entscheidern verschoben. Politik und Recht externalisieren beispielsweise auf die Wissenschaft durch die Verantwortungszuschreibung für Grenzwerte oder für die Stichhaltigkeit von Prognosen. Ähnliches kann gesagt werden für Prozesse der Verrechtlichung politischer Entscheidungsspielräume, aber auch der Ökonomisierung durch Versicherungslösungen und so weiter. Techniken der Risiko- und Verantwortungsverschiebung sind also ein allgemeiner und grundsätzlicher Aspekt von Innovationsregulierung. Diese Externalisierungs- und Verschiebungsmechanismen funktionieren freilich nicht nach dem Modell eines perpetuum mobile. Vielmehr rufen sie Effekte hervor, die sich als Wiederkehr des
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Verdrängten erweisen. So verursachen zum Beispiel die politischen Kosten partizipativer Externalisierung unter Umständen sogar sehr stark delegitimierende Effekte, etwa die so genannte Politikverdrossenheit, die gerade durch das Versprechen zivilgesellschaftlicher Partizipation in Kombination mit strukturell überfrachteten Partizipationsformen gesteigert wird. Verantwortung erweist sich damit zwar im Umgang mit wissenschaftlich-technischen Innovation als eine nahe liegende – weil die in jede Entscheidung eingelassene komplexe Zeitstruktur aufgreifende – Semantik. In Folge ihrer strukturellen Ähnlichkeit mit dem Risikobegriff kopiert sie allerdings in gewisser Weise auch dessen Probleme. Diese bestehen in sozialer Hinsicht vor allem in einer schwer zu unterbrechenden Dynamik der Verschiebung von Entscheidungsrisiken zwischen den Funktionssystemen der Gesellschaft. Die tiefere Ursache dieser Dynamik liegt in der komplexen Zeitstruktur, die sowohl Risiko als auch Verantwortung charakterisiert und in der die Sachdimension (Gefährdung) und die Sozialdimension (Entscheider / Betroffene) im zukünftigen Zeitpunkt der Zurechnung verborgen das Hier und Jetzt des Entscheidens affizieren. Damit stellt sich aus der soziologischen Perspektive die Frage, ob es neben Risiko und Verantwortung weitere, funktional äquivalente Formen der Zukunftsorientierung gibt und welches gegebenenfalls deren Vor- und Nachteile wären. Gibt es andere bzw. komplementäre Optionen des gesellschaftlichen Umgangs mit komplexer Temporalität, also alternative Formen der gesellschaftlichen Konstruktion von Zukunft? Mit dieser Frage wenden wir uns dem Thema Zukunftsfähigkeit zu. IV. Zukunftsfähigkeit und Lernen als funktionale Äquivalente für Verantwortungszuschreibung Kann man unterschiedliche gesellschaftliche Formen der Zukunftsorientierung in ihrer Leistungsfähigkeit miteinander vergleichen? Zur Beantwortung dieser Frage, möchte ich, wie gesagt, das Konzept der Zukunftsfähigkeit benutzen. Vor dem Versuch einer Antwort ist jedoch ein rascher Blick auf die soziologische Zeittheorie und den Begriff der Zukunft erforderlich. Aus der eben angesprochenen wissenssoziologischen Perspektive hat Zukunft weniger einen ontologischen Charakter im Sinne tatsächlich auf uns zukommender späterer Ereignisse als vielmehr den Status einer zeitlichen Orientierung, die das je aktuelle, gegenwärtige Kommunizieren strukturiert. Zukunft bildet für alle sozialen Systeme den Horizont gegenwärtigen Operierens. Dieser Horizont wird in den Erwartungen gebildet, die in zeitlicher Hinsicht das gegenwärtige Operieren der Systeme orientieren. Gegenwärtiges Operieren bezieht sich immer in irgendeiner Weise auf den Horizont der Zukunft und wird von der Art und Weise geprägt, in welcher diese Zukunftsorientierung die Deutung der je gegenwärtigen Situation mit bestimmt. Diese Sichtweise gründet in der sozialphänomenologischen Tradition Edmund Husserls und Alfred Schütz’. Sie hat von dort aus Eingang in die neuere soziologische Systemtheorie gefunden, die sich im Einklang mit dem hier gewählten Ausgangspunkt als
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kommunikationstheoretisch fundierte Wissenssoziologie interpretieren lässt. Zur Erläuterung sollen einige kursorische Bemerkungen zum Konzept der Zukunft als Horizont bei Alfred Schütz und zur kommunikativen Konstruktion von Zukunft bei Niklas Luhmann dienen. Alfred Schütz (1972) widmet sich in seinem Aufsatz „Tiresias oder Unser Wissen von zukünftigen Ereignissen“ der Frage, in welcher Weise Zukunft das gegenwärtige Handeln zu strukturieren vermag. Letzteres beruht nach sozialphänomenologischer Auffassung stets auf routinehaft eingespielten Typen des Handelns, die Bestandteil des aktuellen, „zuhandenen“ (264) Wissensvorrats geworden sind und als solche gewissermaßen eine Folie für die Integration zukünftiger Ereignisse darstellen, so als ob diese bereits erfolgt seien. „Zuhandenes“ Wissen ist, so Schütz, immer im Hinblick auf seine situative Relevanz organisiert (266). Handlungsroutinen schaffen so die Antizipierbarkeit zukünftigen Handelns, das damit Teil des Horizonts je aktuellen Handelns wird. Die „Typizität“ von Erfahrung (266 ff.) schafft zugleich die „Typizität zukünftiger Ereignisse“ (271), wobei man sich darunter keine quasi naturwissenschaftliche Determiniertheit, sondern lediglich eine fallible Erwartbarkeit „bis auf Widerruf“ vorzustellen hat (271). Die Fragilität dieses Konstrukts und seine begrenzte soziologische Reichweite sind häufig kritisiert worden und brauchen hier nicht zu interessieren. Wichtig an Schütz’ Ansatz erscheint allerdings auch heute noch die generelle Einsicht, dass Zukunft den (immer gegenwärtigen) Horizont gegenwärtigen Handelns / Operierens darstellt und von diesem Ausgangspunkt her soziologisch unter die Lupe zu nehmen ist (275). Zukunftshorizonte laufen, so kann man daher sagen, in allen Situationen gewissermaßen mit und prägen die je gegenwärtigen sozialen Erwartungen. Dieses Moment der situativen Relevanz, also des Gegenwartsbezugs von Zukunft – Grunwald (2007) spricht von der „Immanenz der Gegenwart“ – wird in der soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns kommunikationstheoretisch eingebettet und damit soziologisch verfügbar gemacht. In einem Aufsatz mit dem Titel „The Future Cannot Begin“ (1976) unterscheidet er drei Konzepte der Zeit. (1) In einem chronologischen Konzept erscheint die Zeit als kontinuierliche Abfolge von Daten wobei die Zukunft diejenigen Ereignisse enthält, die nach der Gegenwart kommen werden. Dieses Konzept fügt sich allerdings nur mit Mühe der alltäglichen Erfahrung diskontinuierlicher Zeitverläufe. Überdies erweis es sich im interkulturellen Vergleich als nur eins von vielen möglichen. (2) Ein modales Konzept der Zeit dagegen unterscheidet drei mögliche Formen des Sprachgebrauchs – Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft –, die gleichberechtigt zur Verfügung stehen, mit der Folge, dass man ein Ereignis in jedem der Modi kommunizieren kann, dies allerdings wiederum nicht gleichzeitig, sondern nur sequentiell. Dabei erweist sich der Vorteil des Konzepts – Gleichberechtigung der Modi – zugleich als Nachteil. Es ist blind gegenüber der Sonderstellung der Gegenwart. (3) Diese wiederum wird in dem oben eingeführten phänomenologischen Konzept deutlich sichtbar. Zukunft und Vergangenheit erweisen sich aus dieser Perspektive als Horizont gegenwärtigen Operierens. In diesem Sinne, so Luhmann, kann Zukunft auch nie-
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mals beginnen. Sie ist immer schon in das Gegenwärtige eingelassen. Als Horizont begrenzt sie das Blickfeld und bleibt dabei immer unerreichbar. Sie wandert gewissermaßen in gleichem Abstand mit dem je aktuellen Operieren mit. In dieser Weise, so Luhmann, bildet Zukunft einen Teil des aktuellen Wissensvorrats und trägt immer zur Definition der je gegenwärtigen Situation bei (140). Das Besondere an Luhmanns Argument besteht sodann darin, dass er das phänomenologische Konzept modalisiert und auf chronologische Abläufe anwendet, es also mit den beiden zuerst genannten Zeitkonzepten verbindet. Dies geschieht mit Hilfe der Unterscheidung von gegenwärtigen Zukünften – also Projektionen, etwa in Gestalt von Utopien oder Leitbildern – und zukünftigen Gegenwarten – also technologischen Orientierungen, kausalen oder stochastischen Verbindungen zukünftiger Ereignisse (140 ff.). Die zu Beginn meiner Argumentation entfaltete Problematik offener Zukunft wird damit in temporaler Hinsicht komplexer formulierbar, nämlich als gegenwärtige Zukunft, die Raum bietet für mehrere wechselseitig exklusive zukünftige Gegenwarten (ebd.). Im Unterschied zu früheren Zeiten erleben wir, so Luhmann, unsere Zukunft als einen Horizont überschießender, kontingenter Möglichkeiten, die wir, je mehr wir uns mit ihnen befassen, umso stärker begrenzen müssen. Als „Futurisierung“ bezeichnet Luhmann folglich die im Gegenwärtigen sich vollziehende Ausweitung von (gegenwärtigen) Zukünften. Mit „Defuturisierung“ bezeichnet er entsprechend die Einengung gegenwärtiger Zukünfte. Beide Vorgänge bilden zusammen die zeitliche Integration einer gegebenen sozialen Situation. Luhmann unterscheidet, wie schon angedeutet, im Wesentlichen zwei Mechanismen der Defuturisierung, nämlich Utopien und Technologien. Während Utopien der Konstruktion (nie erreichter, sondern in dem oben erwähnten Sinne immer „mitlaufender“) gegenwärtiger Zukünfte dienen, schaffen Technologien zukünftige Gegenwarten (143 f.). Sowohl utopische als auch technische Formen der Defuturisierung kommen in der modernen Gesellschaft vor. Es gibt in dieser Gesellschaft keine einheitliche, gewissermaßen allgemein verbindliche Form der gesellschaftlichen Konstruktion von Zukunft. Vielmehr kommt Zukunft in unterschiedlichen Funktionssystemen in je spezifischer Weise zum Ausdruck. Der Grund dafür liegt in der charakteristischen Gestalt der Differenzierung moderner Gesellschaft, die als funktionale Differenzierung zu einer Pluralität gesellschaftlicher Subsysteme geführt hat (Luhmann 1997). In der Vielfalt gesellschaftlicher Funktionssysteme, so kann man jedenfalls vermuten, werden wir ebenso vielfältige Formen der Defuturisierung beobachten. Vor diesem Hintergrund kann dann die Frage gestellt werden, welchen Stellenwert Zukunft in den einzelnen Funktionssystemen erlangt, ob diese in ihren Operationen etwa gezielt gegenwärtige Zukünfte produzieren oder ob sie im Gegenteil versuchen, die Thematisierung von Zukunft zu vermeiden und mit welchen Mitteln dies jeweils geschieht. Bei der Auswahl solcher zukünftiger Gegenwarten kommen Präferenzen und Werte zum Einsatz. Und diese Konstruktion zukünftiger Gegenwarten bringt neue Kontingenzen ins Spiel, in Form von Überraschungen und Abweichungen vom
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vorhergesehenen Ablauf der Dinge. Sie verlangt deshalb in der jeweiligen Gegenwart ihrer Kommunikation nach entsprechenden Mechanismen der Überraschungsverarbeitung (Luhmann a. a. O., 144). Und hier stehen, wie ich eingangs anzudeuten versucht habe, mehrere Kandidaten als funktionale Äquivalente zur Auswahl: Risiko- und Verantwortungsattribution, aber auch Lernen. Lernen hat als funktionales Äquivalent deswegen eine gewisse Attraktivität, weil, wie wir gesehen haben, die beiden anderen Mechanismen an bestimmten Stellen leer zu laufen drohen. Bevor ich unterschiedliche Formen der Defuturisierung in der modernen Gesellschaft betrachte, ist eine historische Klarstellung notwendig. Die bislang geschilderte explizite Orientierung gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse auf eine offene Zukunft hin ist – auch wenn das erstaunlich klingen mag – eine geschichtlich noch relativ junge Errungenschaft, die sich erst im Übergang zur modernen, funktional differenzierten Gesellschaft entwickelt. Dies belegen historische Studien, etwa von Reinhart Koselleck (1979) und Lucian Hölscher (1999). Noch im Mittelalter waren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von einem „gemeinsamen geschichtlichen Horizont umschlossen“ (Koselleck 1979, 18). Die Zukunft bildete dabei gewissermaßen ein Reservoir von präexistenten bzw. bereits definierten Ereignissen, die aus diesem Reservoir auftauchen und wieder vergehen. Die uns geläufige Vorstellung der chronologischen Linearität spielte dabei keine entscheidende Rolle. Die christliche Tradition, so Koselleck, lebte in der Erfahrung einer andauernden Endzeit, die im Weltuntergang und der Wiederkehr Christi ihre natürliche und feststehende Grenze habe. Mit Beginn der Neuzeit und insbesondere durch die Reformation verstärkte sich einerseits diese eschatologische Haltung; zahlreiche Zeichen wie die Spaltung der Christenheit, der heraufziehende Bürgerkrieg, das Vordringen der Türken schienen das Weltende konkret anzukündigen. Gleichzeitig beförderten diese historischen Ereignisse allerdings auch den Trend zu einer konkreten Datierung des Weltendes. Derartige Datierungsversuche nahmen zu und untergruben damit unwillkürlich die überkommenen Zeitbegriffe. Die Religionskriege und politischen Umwälzungen mündeten weder in den Weltuntergang noch das Jüngste Gericht. Dessen konkrete Terminierung musste fortlaufend angepasst werden. Geschichte konnte kaum mehr unbefangen als Heilsgeschichte aufgefasst werden. Stattdessen wurde sie als Naturgeschichte einerseits (deren nunmehr sehr fernes Ende dann den Weltuntergang markierte) und als politische Geschichte andererseits aufgefasst (ebd. 25). Das Politische emanzipierte sich endgültig als der Bereich gesellschaftlicher Gestaltung. Die Konsequenzen dieser Entwicklung für das Verständnis von Zukunft sind erheblich. Zeitlich limitierte Vorstellungen einer vom Weltende bestimmten Zukunft als Reservoir möglicher Ereignisse werden nunmehr durch Prognosen einerseits und geschichtsphilosophische Konzepte andererseits abgelöst (ebd. 29 ff. und 34 ff.). Wir erkennen in diesen beiden Momenten die von Luhmann als Technologie und Utopie charakterisierten Varianten zukünftiger Gegenwart und gegenwärtiger Zukunft.
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Am Ende dieses über mindestens drei Jahrhunderte hinweg verlaufenden Modernisierungsprozesses haben wir es im Wesentlichen mit zwei Effekten zu tun. Einerseits beobachten wir die Herausbildung einer universalen Weltzeit (vgl. Dux 1989, 312 ff.). Andererseits werden aber vor dem Hintergrund dieses weltweiten zeitlichen Referenzrahmens, wie wir bereits gesehen haben, die Temporalstrukturen der modernen Gesellschaft nicht von einem einzelnen Funktionssystem reguliert. Vielmehr haben wir es innerhalb weltzeitlicher Einheit mit einer Vielzahl von Zukunftshorizonten zu tun, die mit gleichem Geltungsanspruch nebeneinander existieren. In der Literatur spricht man inzwischen von „contested futures“ (Brown et al. 2000, Grunwald 2007), also von untereinander nicht unmittelbar kompatiblen Zukunftsentwürfen, die gleichzeitig in der Gesellschaft zirkulieren. Angesichts dieser Situation stellt sich für die Soziologie die Frage, wie in der modernen Gesellschaft gegenwärtige Zukunft und zukünftige Gegenwart – Utopien und Leitbilder, Kausalmodelle und Prognosen – konstruiert werden, welche Bedeutung also der Zukunft für gegenwärtiges Kommunizieren zukommt.5 Bei der Beantwortung dieser Frage ist davon auszugehen, dass grundsätzlich alle Funktionssysteme immer auch im Modus der Zukunft kommunizieren. Alle „kennen“ gewissermaßen Zukunft. Alle bearbeiten mit ihren je spezifischen Mitteln die Frage, wie mit Überraschungen umzugehen ist, wie diese begrenzt, reduziert oder anderweitig verarbeitet werden können. Sie unterscheiden sich jedoch voneinander in operativer und in struktureller Hinsicht: In operativer Hinsicht unterscheiden sie sich durch die Formen des Erwartens, auf die sie jeweils bauen. Als Erwartung soll dabei die Kommunikation von Zukunft in einem der drei Geltungsmodi Wahrheit, Richtigkeit oder Authentizität bezeichnet werden. Als Beispiele für wahrheitscodierte Zukunftskommunikation kann man die Prognose oder die Wette als Fälle kognitiven Erwartens anführen (Behrend 2005). Richtigkeitscodierte Zukunftskommunikationen sind vor allem normative Erwartungen. Als authentizitätscodiert können wir beispielsweise Wünsche, Hoffnungen oder Befürchtungen bezeichnen. In struktureller Hinsicht unterscheiden sich Zukunftshorizonte darüber hinaus durch die Art und Weise ihres Umgangs mit Kontingenz. Erzeugen sie geradezu Kontingenz, um darüber interne Strukturaufbauwerte zu erhalten, wie man das vielleicht dem politischen System attestieren kann? Sind sie intern tendenziell eher kontingenzarm, haben aber Suchinstrumente zur Erzeugung von „externer“ Kontingenz ausgebildet, wie man das etwa am Rechtssystem und dessen organisatorischen Einrichtungen zum Aufspüren von „Fällen“ beobachten könnte? Wäre die Wissenschaft dann ein System, das in der Bewältigung von Kontingenz, dem Erzeugen von gesetzesförmigem, prognosefähigem Wissen einerseits dauernde Kontingenzvernichtung betreibt, dabei aber stets neue Kontingenzen mitproduziert, 5 Mike Michael (2000, 35) bezeichnet diesen Gebrauch der Zukunft zur Konstruktion von Gegenwart, die Repräsentation der Zukunft im Präsens als „prehension“.
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die dem System selbst eine zukünftige Gegenwart in Form der Gewissheit stets neuer ungelöster Fragen garantieren? In einem ersten, noch unvollständigen und unabgeschlossenen Überblick kann man versuchsweise die Formen der Defuturisierung in einigen wichtigen Funktionssystemen der modernen Gesellschaft folgendermaßen charakterisieren: In der Wissenschaft geht es primär um kognitive Erwartungen. Mittels Prognosen werden zukünftige Gegenwarten in einer Form kommuniziert, die der Überprüfung und ggf. der Korrektur fähig ist. Das Instrument der Enttäuschungsverarbeitung ist mit anderen Worten in den Operationsmodus des Systems mit eingebaut, da wissenschaftliche Erwartungen im Enttäuschungsfalle auf Lernen hinauslaufen. Dies gilt auch für die in gewisser Hinsicht abgeleiteten Formen technologischen Wissens, das primär nicht auf Wahrheitsfähigkeit, sondern eher auf reibungsloses Funktionieren ausgerichtet ist, im Enttäuschungsfall aber gleichfalls mit Lernen reagiert. Die Politik ist demgegenüber insgesamt stärker auf gegenwärtige Zukünfte in Gestalt politischer Leitbilder und Utopien hin ausgerichtet. Auf dieser Basis erzeugt sie zugleich zukünftige Gegenwarten durch kollektiv verbindliche Entscheidungen. Die Reaktionen im Enttäuschungsfall sind vielgestaltig. Eine wichtige Rolle dürfte das Vergessen spielen, das in der Produktion neuer, gewissermaßen voraussetzungsloser Entscheidungen zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig spielt jedoch auch in diesem Fall Lernen eine mögliche Rolle, jedenfalls dann, wenn die neuen Entscheidungen in spezifischer Weise an die Beobachtung früherer anschließen. Zu guter Letzt kommt hier außerdem noch eine normative Variante der Enttäuschungsverarbeitung in Frage, nämlich das kontrafaktische Konfirmieren enttäuschter Erwartungen. Das Beispiel macht zugleich sichtbar, dass die Auswahl einer konkreten Form der Enttäuschungsverarbeitung situativ variiert und deshalb nur empirisch erforscht, nicht jedoch begrifflich vorab festgelegt werden kann. Im Rechtssystem dominiert die zuletzt genannte Form normativen Erwartens. Zukunft wird in Gestalt von Normsätzen konstruiert, in denen gegenwärtige Zukünfte zum Ausdruck kommen, nunmehr allerdings nicht in Gestalt von Utopien, sondern von tatbestandlich definierten Verhaltensanforderungen. Die Enttäuschungsverarbeitung hat hier in der Regel die Gestalt der Sanktion, mit welcher die ursprüngliche Erwartung konfirmiert wird. Noch eher selten findet sich ins Rechtssystem eingelassen die Figur des Lernens. Lernendes Recht ist gewissermaßen die rechtsinterne Reaktion auf ausbleibende Programmierungsleistungen in Gestalt gesetzgeberischen politischen Handelns. Es enthält im Vergleich zum rein normativen Erwarten eine gewisse Flexibilität der Defuturisierungsformen und gewinnt aus diesem Grunde in der Rechtstheorie und in Teilen der Praxis eine gewisse Attraktivität. Auf dem Gebiet der Zukunftsfähigkeit spielt es daher eine prominente Rolle; dazu sogleich mehr. Diese knappen Bemerkungen zu Wissenschaft, Politik und Recht sollten lediglich beispielhaft die analytische Perspektive auf moderne Formen der Zukunftsori-
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entierung verdeutlichen. Für weitere Funktionssysteme der modernen Gesellschaft lassen sich dann vergleichbare Überlegungen anstellen, die in der folgenden Tabelle zusammenfassend angedeutet sind: Zukunftsmodi gesellschaftlicher Funktionssysteme Primärer Zukunftsmodus
Formen der Erwartungsbildung
Wissenschaft Kognitive Erwartungen Prognosen (zukünftige Gegenwarten) Technologien
Umgang mit Enttäuschung Lernen
Politik
Leitbilder / Utopien (gegenwärtige Zukünfte und zukünftige Gegenwarten)
Erzeugen von Zukunft Vergessen durch Entscheidungen (neue Entscheidungen) Lernen Konfirmieren
Recht
Normative Erwartungen (gegenwärtige Zukünfte)
Normen
Ökonomie
Kognitive Erwartungen Knappheit (zukünftige Gegenwarten) Zahlungen Risiko-Kalkulation Wette
Lernen Risiko (Rück-)Versicherungen als Entparadoxierungsin
Erziehung
Erziehungsziele, Werte, Menschenbilder etc. (gegenwärtige Zukünfte und zukünftige Gegenwarten)
Curricula Didaktik
Konfirmieren (Attribuierung auf Personen: Notenskalen etc.)
Religion
Offenbarung Prophetie (gegenwärtige Zukünfte)
Heilsgeschichte
Konfirmieren und anpassen (ggf. neue Prophetie)
Medien
Kollektive / öffentliche Entwürfe (gegenwärtige Zukünfte)
Öffentliche Debatte
Konfirmieren der Form (Debatte), Vergessen der Themen
Soziale (negative) Utopien Bewegungen (gegenwärtige Zukünfte und zukünftige Gegenwarten)
Konfirmieren (Sanktion) Lernendes Recht
Erzeugen von Zukunft Konfirmieren der Form, durch Warnungen Vergessen der Themen (neue Warnungen)
Auf der Basis dieses Ansatzes ist es grundsätzlich denkbar, die Frage nach der analytischen Vergleichbarkeit solcher funktional äquivalenter Formen der Zukunftsorientierung zu stellen. Ein möglicher Gesichtspunkt für eine solche Systematisierung liegt im Aspekt der Zukunftsfähigkeit.
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Der Begriff der Zukunftsfähigkeit bedarf der Erläuterung, da er deskriptive und evaluative Aspekte enthält und außerdem semantisch in gewisser Nähe zu Konzepten wie Nachhaltigkeit und Ähnlichem steht. Im vorliegenden Zusammenhang soll er jedoch abstrakter und genereller verwendet werden, nämlich als Bezeichnung für das spezifische Leistungsvermögen unterschiedlicher Defuturisierungsformen der modernen Gesellschaft. Unter Zukunftsfähigkeit verstehe ich deshalb im Folgenden die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit evolutionär erfolgreichen Operierens in einer komplexen, durch gesellschaftliche Einflüsse selbst dauernd mit veränderten Umwelt. Ich benutze damit einen äußerst voraussetzungsreichen Begriff, der mit dem Aspekt des evolutionären Erfolgs eine problematische, weil in den gängigen Evolutionskonzepten selbst nicht unmittelbar angelegte Bedingung – nämlich diejenige des Erfolges – formuliert. Diese begriffliche Hürde zu überwinden lohnt sich freilich. Denn soweit sich damit eine Möglichkeit abzeichnet, einen solchen anspruchsvollen Begriff in eine operationalisierbare Form zu gießen, verspricht der Ansatz insgesamt ein recht hohes Erklärungspotential im Hinblick auf den Vergleich unterschiedlicher Formen des Umgangs mit Zukunft. Die Suche nach einem solchen Vergleichsgesichtspunkt erscheint möglicherweise weniger überraschend, wenn man sich klar macht, dass damit ein Anliegen der klassischen Soziologie wieder aufgegriffen wird, nämlich die Frage, ob sich in der gesellschaftlichen Entwicklung Trends ausmachen lassen. Nun ist seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts das Vertrauen in die Bearbeitung derart großer Fragen eher geschwunden. In vielen der tonangebenden Theorien gibt es kaum noch eine in großem Maßstab ausgearbeitete Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung. Dort, wo eine solche Entwicklungskomponente weiterhin eine wichtige konzeptionelle Rolle spielt, hat sie allerdings ihre im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert ausschlaggebende, auf der Erforschung von Entwicklungsgesetzen beruhende prognostische Funktion zugunsten eines streng evolutionistisch gebauten Modells verloren. In Evolutionsmodellen gelten Prognosen als schwierig bis unmöglich. Die evolutionären Teilprozesse Variation, Selektion und Restabilisierung sind in vielfacher Hinsicht kontingent und ermöglichen allenfalls ex post die Rekonstruktion funktionaler Äquivalente, nicht jedoch ex ante eine Bestimmung vorhersehbarer Verläufe. Diese Sichtweise hat insbesondere auch die Schwierigkeiten von Prognosen in ein helleres Licht treten lassen. Planung und Steuerung sozialer Prozesse, das ist das zentrale Ergebnis der seit den siebziger Jahren geführten Steuerungsdebatte in den Sozialwissenschaften, werden allenfalls in Ansätzen für möglich gehalten. Wissenschaftliche Bemühungen, die darauf anzielen, Entscheidungen auf zukünftige Folgen hin vollständig rationalisierbar und damit Zukunft planbar zu machen, gelten gemeinhin eher als gescheitert. Das technokratische Programm grundsätzlicher Planbarkeit von Zukunft hat sich wissenschaftlich nicht durchgesetzt. Hinter diesen Stand der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Frage nach der Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Zukünfte kann man wohl nicht mit
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guten Gründen zurückgehen. Gleichwohl wird man fragen dürfen, ob die in den vergangenen Jahrzehnten vorherrschende wissenschaftliche Zurückhaltung im Umgang mit dem Thema Zukunft – und damit der Rückzug aus diesem Forschungsthema und die Überlassung desselben an die Futurologie – angesichts des Standes der Forschung noch zwingend ist. Wenn man beispielsweise nochmals bei Luhmanns Unterscheidung von zukünftigen Gegenwarten und gegenwärtigen Zukünften anknüpft, so kann man ja immerhin fragen, ob es jenseits der Dichotomie von Utopien und Technologie weitere Möglichkeiten der Defuturisierung gibt. Bereits in dem eingangs zitierten Aufsatz von 1976 ist das Verhältnis der beiden Seiten letztlich ambivalent oder sogar unklar. Die Prognose-Seite wird rein technologisch interpretiert, nämlich letztlich im Sinne quantifizierender Vorhersagen. Demgegenüber hatte beispielsweise schon Koselleck in einem Beitrag über Lorenz von Stein (in Koselleck 1979) deutlich gemacht, dass es zwei Arten von Prognose geben kann, nämlich eine quantifizierende und eine, die man in soziologischen Begrifflichkeiten als strukturrekonstruktive, also eher hermeneutisch-interpretativ verfahrende kennzeichnen würde. Damit thematisiert Koselleck mehr als lediglich eine methodische Unterscheidung. Denn die Bedingung der Möglichkeit von Prognose überhaupt liegt für ihn – zutreffend, wie ich meine – im Strukturbegriff (ähnlich Behrend 2005). Strukturen machen soziale Phänomene jenseits der Kontingenz von Ereignissen sichtbar, ohne damit die Seite der Utopie in Luhmanns Unterscheidung von gegenwärtigen Zukünften und zukünftigen Gegenwarten zu bezeichnen. Luhmann hat, so mein Eindruck, einfach ein technokratisches Verständnis von Prognose übernommen, das zu der Zeit, als der besagte Aufsatz entstand, sicherlich die wissenschaftliche Debatte noch in gewissen Umfang prägte. Damit übersah er freilich eine grundlegende Eigenschaft von Prognosen, die letztlich das Wissen um Kausalzusammenhänge, auf denen sie immer basieren, aus der Erkenntnis sozialer Strukturen gewinnen müssen. In einem solchen Sinne erhält dann die oben skizzierte Perspektive der Zukunftsfähigkeit eine zeitgemäße Gestalt: als vergleichende Frage nach strukturellen Eigenschaften sozialer Phänomene. Wenn man die Prämisse akzeptiert, dass eine soziologische Analyse des gesellschaftlichen Umgangs mit Zukunft in vergleichender Perspektive Einsichten über die Zukunftsfähigkeit je spezifischer sozialer Strukturen in unterschiedlichen Bereichen, etwa gesellschaftlichen Funktionssystemen, aber auch Organisationen, zu Tage fördert, so bleibt die Frage nach der konkreten Umsetzung des Kriteriums der Zukunftsfähigkeit zu klären. Ich kann das damit umrissene wissenschaftliche Programm hier bestenfalls noch andeuten. Neben allen Detailfragen ist in diesem Zusammenhang der Begriff des Lernens von entscheidender Bedeutung, da er der Operationalisierung des Kriteriums „evolutionärer Erfolg“ dienen kann. Der Begriff enthält enorme theoriekonstruktive Schwierigkeiten und kann hier nicht ausführlich behandelt werden. Wesentliche Vorarbeiten sind neuerdings in einem Beitrag von Mölders zu finden (Mölders 2009), der auch eine größere Arbeit zu dem Thema vorbereitet. An dieser Stelle geht es lediglich darum, den Stellenwert eines solchen Ansatzes für die Innovationsregulierung herauszuarbeiten.
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Wenn man annimmt, dass Strukturen, die Lernen ermöglichen, sich als in dem oben genannten Sinne zukunftsfähig erweisen, stellt die Lernfähigkeit sozialer Systeme eine wesentliche Bedingung der Zukunftsfähigkeit dar. Auf dem Gebiet des Rechts allgemein, aber auch der rechtlichen Innovationsregulierung knüpfen wir mit diesem Ansatz, wie oben bereits erwähnt wurde, an eine seit langem geführte Debatte über reflexives und lernendes Recht an. Ich erinnere zunächst an einige wesentliche Charakteristika dieser Debatte, um sodann einen neueren Ansatz aufzugreifen, der unter dem Stichwort „prospektives Recht“ vertreten wird. Aus den steuerungstheoretischen Diskussionen der siebziger und achtziger Jahre heraus entwickelte sich bekanntlich eine länger anhaltende Auseinandersetzung über die Frage, welche Qualitäten das Recht in der modernen Gesellschaft aufweise beziehungsweise aufweisen müsse, um sich auf die plurale Gesellschaft der Moderne einstellen zu können. Diese Debatte wurde vor allem durch den Aufsatz von Gunther Teubner und Helmut Willke „Kontext und Autonomie: Gesellschaftliche Selbststeuerung durch reflexives Recht“ (Teubner / Willke 1984) angestoßen. Reflexivität – verstanden als Sensibilisierung für die Bedingungen des eigenen Operierens ebenso wie für dessen Auswirkungen in der Umwelt –, verbunden mit einer radikalen Dezentrierung gesellschaftstheoretischer Konzepte, führte in der Folge zu Modellen eines „ökologischen“, „relationalen“ oder „postmodernen“ Rechts (Willke 1992, Ladeur 1992). Aus dem problematisch werdenden Verhältnis des Rechts zu Wissenschaft und Technik, vor allem zu neuen, möglicherweise risikobehafteten Technologien, resultierte in dieser Phase die Vorstellung eines „lernenden“ Rechts. Von der reinen, quasi passiven Rezeption wissenschaftlicher Erfahrung, so hat vor allem Karl-Heinz Ladeur immer wieder gefordert, solle das Rechtssystem zu der Fähigkeit gelangen, Prozesse der Modellierung unter Ungewissheitsbedingungen anzustoßen (Ladeur 1995). Dieser Ansatz reagiert damit auf den Ausfall von Programmierungsleistungen in Wissenschaft und Politik, den ich oben bereits kurz erwähnt habe. In diesem Zusammenhang wird unter anderem auch der Einsatz von Szenariomethoden und Simulationsverfahren angeregt, die Ungewissheiten sichtbar machen. Verfahren des Monitoring und Selbstbeobachtung sollen dann Lernprozesse sowohl im Recht als auch in den regulierten gesellschaftlichen Bereichen anstoßen (Ladeur 1995, 143 ff.). Das Augenmerk in dieser Debatte lag sehr stark auf organisatorischen Aspekten der regulierten Lebensbereiche. Ladeur regte die Bildung „hybrider“, „grenzüberschreitender“ Institutionen in einem interorganisatorischen Netzwerk an (Ladeur 1995, 149 f.) Neben Marktmodellen der umweltrechtlichen Regulierung solle auch ein „kognitivistischer“ Ansatz verfolgt werden, der gewissermaßen an der Schnittstelle zwischen dem Recht und den Systemen in seiner Umwelt Lernprozesse in diesen Systemen anstößt. Damit werde es möglich, die Fähigkeit beispielsweise von Unternehmen zur Wahrnehmung von Problemsichten ihrer natürlichen und sozialen Umwelt zu erhöhen, ebenso aber auch die Flexibilität des Verwaltungshandelns und die „wechselperspektivische Verschränkung von Fremd- und Selbstbeobachtung“ (ebenda, 244). In einem neueren Beitrag (Ladeur 2008) werden diese organisati-
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onsbezogenen Überlegungen dann auch auf die öffentliche Verwaltung ausgedehnt, in welcher „joint administrations“ als organisationsübergreifende „Expertengemeinschaften“ fungieren, in denen Wissensbestände und Entscheidungen reflektiert werden. Eine der Formen, in denen das Recht selbst mit Szenarien operiert, ist die seit einiger Zeit diskutierte und in wenigen Einzelfällen experimentell eingesetzte „prospektive Gesetzesfolgenabschätzung“. Hinter dem Wortungetüm verbirgt sich der Versuch, mittels vergleichender Folgenbeurteilungen verschiedene in einer konkreten Situation gegebene Regelungsalternativen auf ihre Zweckmäßigkeit zur Erreichung einer gegebenen Regelungsintention hin zu prüfen und damit letztlich auch die Regelungsintention selbst kritisch zu reflektieren (vgl. Bräunlein 2004, BMI 2002, Böhret / Konzendorf 2001, Mölders 2009). Der in der Realität eher wenig bedeutende Fall ist für uns ausschließlich deshalb von Interesse, weil an ihm der konkrete Gehalt lernenden Rechts exemplarisch vorgeführt werden kann. Diese exemplarische Analyse ist das Ziel der noch laufenden Untersuchung von Marc Mölders, aus der inzwischen ein erster Bericht vorliegt (Mölders 2009). Mölders untersucht die prospektive Gesetzesfolgenabschätzung als ein Instrument, mit dem das Rechtssystem mögliche Konflikte sucht, um sie vorausschauend zu bearbeiten. „Das prospektive Recht“, so Mölders, „ist ein Immunsystem, das Infektionen simuliert, um dann vorsorglich Antikörper zu bilden.“ (ebenda, 5). Um diese eher bildhafte Vorstellung soziologisch nutzbar machen zu können, bedarf es eines Lernbegriffs, der nicht vorwiegend auf Organismen und psychische Systeme, sondern nun vor allem auch auf soziale Systeme anwendbar ist. Mölders zeigt in Auseinandersetzung mit der soziologischen Lerntheorie (vgl. Miller 2006) und mit den Ergebnissen der sozialpsychologischen Lernforschung in der Tradition Jean Piagets, dass von sozialem Lernen gesprochen werden kann, wenn ein Strukturwandel in einem sozialen System geeignet ist, Probleme zu lösen, auf welche die bisherige Struktur des Systems keine Antwort hatte (Mölders 2009, 7). Induziert werden derartige lernenden Strukturveränderungen durch Irritationen, also quasi nicht in das vorhandene Schema „passende“ Beobachtungen.6 Dieser, an Problemlösungskapazitäten festgemachte Lernbegriff erfüllt die oben formulierten Bedingungen für ein Kriterium der Zukunftsfähigkeit. Soziale Systeme, die sich in diesem Sinne als lernfähig erweisen, können im Vergleich zu anderen, denen diese Problemlösungskapazität fehlt, als zukunftsfähig bezeichnet werden. Zugleich wird auch sichtbar, dass es immer mehrere in diesem Sinne evolutionär erfolgreiche Lösungen geben kann, dass Lernen also keineswegs als unilineares Konzept missverstanden werden sollt, das in jedem Falle auf eine einzige beste Lösung verweist. Viel6 Ein solcher Lernbegriff steht konzeptionell in gewisser Nähe zu einem evolutionstheoretisch interpretierten Innovationsbegriff, wie er etwa bei John (2005) vertreten wird. Dieser trägt allerdings gewisse normative Züge, die mit dem hier eingangs vorgeschlagenen wissenssoziologischen Ansatz gerade vermieden werden sollen. Und auch der Lernbegriff, wie ihn Mölders (2009) entwickelt, steht eher in der Tradition des Äquivalenzfunktionalismus und von dessen Evolutionstheorie als in derjenigen der klassischen Evolutionskonzepte.
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mehr ermöglicht es im Einklang mit den oben formulierten Bedingungen eine komparatistische Sicht auf funktional äquivalente Strukturen, in denen zukünftige Gegenwarten und gegenwärtige Zukünfte reflexiv gehandhabt werden. Man kann dann Leitbilder und Utopien ebenso wie Technologien und Prognosen auf ihre Lernpotentiale und damit auf ihre strukturelle Problemlösungskapazität hin befragen. Am Ende dieses Abschnitts lässt sich zusammenfassend folgendes festhalten: Zukunftsfähigkeit und Lernen können im Kontext von Innovationsregulierung als funktionale Äquivalente zur Verantwortungsattribution und deren komplexer Zeitstruktur interpretiert werden. Der generelle Gesichtspunkt im Umgang mit komplexer Temporalität von Innovationsprozessen liegt nach der hier vertretenen These in dem, was eher vorläufig und noch in suchender Bewegung mit Zukunftsfähigkeit bezeichnet wird. Zukunftsfähigkeit, so wurde argumentiert, steht für das Vermögen sozialer Systeme, in institutioneller und prozessualer Hinsicht Lernbereitschaft und Lernfähigkeit vorzuhalten. Dieses Vermögen stattet soziale Systeme bei der der Konstruktion ihrer Zukünfte mit der Fähigkeit aus, Erwartungen beim Auftreten von Problemen in ihrer Struktur so zu verändern, dass neue Problemlösungsmöglichkeiten entstehen können.
V. Innovationsverantwortung als Form der Erzeugung von Zukunftsfähigkeit? Insgesamt kann man damit also Zukunftsfähigkeit als komplementäres Konzept zu Innovationsverantwortung verstehen, als Konzept, in dem das Hauptaugenmerk weniger den möglichen normativen Begründungen als vielmehr den evolutionären Folgen gilt. Die weit über die Soziologie hinausgreifende Frage betrifft dabei die allgemeinen Bedingungen und Formen von Zukunftsfähigkeit, vor allem auch unter Einschluss sozialer Innovationen. Im interdisziplinären Dialog geht es vor dem konzeptionellen Hintergrund der Zukunftsfähigkeit darum, verallgemeinerbare Erkenntnisse über evolutionär erfolgreiche Entwicklungen und die Möglichkeiten zu gewinnen, diese Bedingungen zu beeinflussen. Von daher könnte gegebenenfalls dann auch die Verantwortungs-Semantik zusätzliche und neue Impulse erhalten. Grundsätzlich stellt Verantwortung einen Mechanismus der sozialen Attribution und damit letztlich der Absorption von Risiken durch Zuschreibung auf Akteure dar. Wenn sich das Risiko realisiert, muss zum Beispiel die „verantwortliche“ Person ihren Posten innerhalb einer Organisation räumen. Oder sie wird straf- oder haftungsrechtlich zur mit Sanktionen bzw. Kompensationen belegt. Das mindert weder das ursprüngliche Entscheidungsrisiko noch beseitigt es in jedem Falle die später eingetretenen Schäden nachhaltig. Es bewirkt allerdings – zumindest innerhalb des Rechtssystems – die Externalisierung des Risikos, das nunmehr qua Verantwortungssemantik mit einer konkreten Person verknüpft gewissermaßen in eine andere Sphäre wechselt und nicht weiter in den Kommunikationen des Rechts
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(bzw. der Politik, die von diesem Mechanismus profitiert) zirkuliert. Ob es von der besagten personalen Adresse aus dann qua Moralisierung oder als Verlangen nach Rechtsänderung wiederkehrt, bleibt offen. Die Möglichkeit dieser Wiederkehr macht zugleich auch die immanenten Grenzen von Verantwortungszuschreibungen sichtbar: sie können nicht beliebig ausgeweitet werden bzw. nur um den Preis nicht intendierter Rückschlag-Effekte. Wenn zuviel Verantwortung auf Personen und / oder Organisationen abgeladen wird, werden diese erneut versuchen, Risiko-Externalisierungen in Gang zu setzen. Verantwortungszuschreibung, das zeigen diese abstrakten Überlegungen, ist ebenso wenig wie andere Formen des Umgangs mit Entscheidungsrisiken geeignet, Risiken aus der gesellschaftlichen Kommunikation endgültig zu eskamotieren. Vielmehr erweisen sich diese verschiedenen Formen als funktionale Äquivalente der Risikoregulierung, die mit je spezifischen Stärken und Schwächen behaftet sind. Vor diesem Hintergrund standen die vorgestellten Überlegungen zur Zukunftsfähigkeit. Als zukunftsfähig wird sich danach nämlich ein soziales System dann erweisen, wenn es in der Lage ist, aus den geschilderten Externalisierungseffekten selbst wiederum zu lernen und seine Strukturen in irgendeiner Weise darauf einzustellen. Innovationsverantwortung zeigt sich aus der hier eingenommenen Perspektive schließlich als einer von vielen denkbaren Modi der Zukunftsorientierung. Und insofern stechen erst einmal eher die Ähnlichkeiten mit den anderen Formen ins Auge. Dieser Umstand dämpft dann vielleicht ein wenig mögliche Erwartungen in die Steuerungsleistungen von Verantwortungsattributionen. Er führt nach allem, was oben gesagt wurde, jedoch nicht zu einem generellen Steuerungspessimismus. Als Instrument der Innovationsregulierung ist Verantwortungsattribution generell ebenso erfolgreich und erfolglos wie ihre funktionalen Äquivalente. Die Frage wird daher eher sein, in welchen Situationen man sich klugerweise auf Verantwortung beruft. Dass dieser Rekurs beispielsweise in politischen Kommunikationen vorwiegend eine symbolische Funktion hat, darf man ohne Risiko vermuten. Vor diesem Hintergrund wurde hier dafür plädiert, das Konzept des Lernens wieder wissenschaftlich in den Blick zu nehmen. Es hat in den siebziger und achtziger Jahren die gesellschaftstheoretische Debatte ebenso geprägt wie die Diskussionen in einzelnen Teildiszplinen, etwa der Rechtssoziologie. Vor dem Hintergrund einer inzwischen wesentlich weiter entwickelten soziologischen Begrifflichkeit könnte, so mein Vorschlag, ein Anknüpfen an dieses soziologische Lernkonzept der Debatte um die gesellschaftliche Konstruktion von Zukunft neue Impulse verleihen. Dies zeigt sich, wie ich meine, in besonders deutlicher Weise am Gegenstand der Innovationsregulierung. Lernen, so der aus den vorgetragenen Argumenten resultierende Vorschlag, könnte als funktionales Äquivalent zu Verantwortung begriffen und im Hinblick auf die Konstruktion von Zukunftsfähigkeit näher analysiert werden. Die vorgetragenen Überlegungen hatten, wie eingangs schon vorweggeschickt, in vieler Hinsicht einen offenen und experimentellen Charakter. Diese Offenheit findet auch in dem eingangs erwähnten Versprechen einer „Sociology of the Fu-
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ture“ ihren Ausdruck, jenseits futurologischer Prognosen generalisierbare Erkenntnisse über die Funktion und die Formen gesellschaftlicher Zukunftsorientierung zu generieren und damit einen Gewinn für das Verständnis der unter dem Stichwort Innovationsverantwortung angesprochenen Probleme zu erreichen. Allerdings ist dieses Versprechen selbst eine soziale Konstruktion von Zukunft. Es entfaltet seine Wirkung nicht erst dann, wenn es in einer zukünftigen Gegenwart eingelöst wird, sondern vielmehr immer schon im je gegenwärtigen Handeln, wenn sich nämlich dieses in Folge des Versprechens ändert. Dabei enthält auch das Versprechen die Erwartung zukünftiger Zurechnung gegenwärtig noch unbekannter Folgen. Und insofern bleibt es – ebenso wie das Sich-darauf-Einlassen und das Ablehnen – riskant. Man muss daher, in der Innovationsforschung mehr noch als auf anderen Feldern, je gegenwärtig im Hinblick auf den Horizont gegenwärtiger Zukünfte über die Annahme solcher Deutungsangebote entscheiden, ohne wissen zu können, ob zukünftige Gegenwarten dies werden rechtfertigen können.
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Innovationsverantwortung durch Gemeinwohlverpflichtung rationaler Innovatoren – Ansätze der Institutionenökonomik Von Erik Gawel I. Problemstellung: Innovationsverantwortung als Marktproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Zur ökonomischen Rekonstruktion von Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Ein ökonomisches Verantwortungskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Verantwortungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Inzidenzstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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c) Wissensstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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d) Koordinationsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Verantwortungsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Innovation, Risikowissen und Risikoallokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. (Risiko-)Information als ökonomisches Gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Strategien zur Generierung von Risikowissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Generierung von Risikoinformation durch Marktinstitutionen . . . . . . . . . . . . .
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aa) Aufdeckungsanreize . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Produktionsanreize . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Suchanreize . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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dd) Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Generierung von Risikoinformation durch Außensteuerung . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Problemstellung: Innovationsverantwortung als Marktproblem Neuerungen hervorzubringen hält in erheblichem Umfange gesellschaftliche Chancen auf wirtschaftliche Entwicklung und soziale Verbesserungen bereit; Innovationsprozesse bergen freilich zugleich Risiken. Das Konzept der Innovationsver-
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antwortung1 sucht gesellschaftlich positive von problematischen Neuerungsprozessen durch Einziehen von Verantwortungsgrenzen zu scheiden. Speziell mit Blick auf staatliche Steuerung durch Recht stellt sich mithin das Problem, diejenigen Innovationen zu identifizieren und zu fördern, welche bei vertretbarem Risiko größtmöglichen gesellschaftlichen Ertrag versprechen bzw. neuartige Ertragschancen mit geringstmöglichem Risiko zu verbinden wissen.2 Innovationen entstehen ganz überwiegend dezentral in marktlichen Zusammenhängen. Pionierunternehmer bringen neuartige Antworten auf gesellschaftliche Bedürfnisse hervor, die ihnen wirtschaftlichen Erfolg und einen Gewinnvorsprung vor Konkurrenten versprechen. Die Triebfeder des Innovationsprozesses, soweit er nicht zufällig angestoßen, sondern unter Ressourceneinsatz gesucht wird, ist das profit seeking einzelner Wirtschaftssubjekte; der Wettbewerbs-Markt erweist sich als Entdeckungsverfahren zur Hervorbringung von Neuem.3 Damit scheint klar, dass die ökonomische Verhaltenshypothese vom rational-eigennützigen Individuum4 für Zwecke der Innovationsforschung zunächst uneingeschränkt anwendbar ist. Auch die Relevanz dezentral-marktlicher Hervorbringung von Neuerungen liegt auf der Hand. Es stellt sich daher nicht nur die Frage nach Innovationsverantwortung im bzw. durch Recht, sondern zunächst die Vorfrage nach den Voraussetzungen, Bedingungen und Erfolgsaussichten einer marktendogenen Verantwortungsübernahme für Neuerungen und ihre gesellschaftlichen Implikationen. Unter welchen Bedingungen handeln rational-eigennützige Marktakteure unter Wettbewerbsdruck „verantwortlich“, welches Ausmaß an Verantwortungsübernahme ist zu erwarten und wo ist mit dezentralen Verantwortungsschranken zu rechnen, die nach ergänzender staatlicher Verantwortungsregulierung verlangen? Die in einem ökonomischen Kontext zu klärenden Leitfragen lauten demnach: 1. Was ist unter einer „verantwortbaren“ Innovation ökonomisch zu verstehen (Verantwortungskonzept)? 2. Wie filtert man solchermaßen definierte „verantwortbare“ Innovationen in geeigneter Weise heraus – sei es durch marktendogene oder markttranszendente Prozesse? Im einzelnen: a) Wie identifiziert man „verantwortbare“ Innovationen? b) Wie garantiert man institutionell, dass Innovatoren „richtige“ Entscheidungen mit Blick auf das Verantwortungskriterium treffen, also nicht-verantwortbare Neuerungen unterlassen, aber verantwortbare auch in Angriff nehmen? Dazu Hoffmann-Riem in diesem Bande, S. 11 ff. Röthel (in diesem Bande), spricht in diesem Zusammenhang von „innovationsangemessenem Recht“, Hoffmann-Riem (2006), von „innovationstauglichem Recht“. 3 Von Hayek (1968). 4 Dazu jüngst zusammenfassend im Überblick Gawel (2009a), S. 617 ff. 1 2
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Um verantwortbare von nicht-verantwortbaren Neuerungen abzuschichten, bedarf es zunächst eines normativen Kriteriums, gleichsam einer Verantwortbarkeitsgrenze, welche angibt, welcher Teil des innovatorischen Aktionenraums unter Verantwortungsaspekten ungenutzt bleiben sollte. In der utilitaristischen Denktradition der neoklassischen Ökonomik bietet sich hierzu die Effizienzregel an, wonach wertmehrende Aktivitäten durchzuführen, wertsenkende hingegen zu unterlassen sind. Innovationen, deren aggregierter Grenznutzen die aggregierten Grenzkosten übersteigt, führen zu einer Wohlfahrtsmehrung und sind – als normatives Kriterium – deshalb verantwortbar, weil ihre gesellschaftlichen Vorzüge (Wertmehrungen) die entsprechenden Nachteile (Werteinbußen) insgesamt übersteigen. Ein solches Konzept ist nicht nur offen für alle gesellschaftlich werthaltigen Belange jenseits marktökonomischer Zusammenhänge oder gar nur monetärer Wertausdrücke, sondern auch für politische Wert-Definitionen dieser Belange einschließlich ihrer Gewichtung:5 Was es also eine Gesellschaft „kostet“, eine bestimmte Neuerung zur Anwendung zu bringen, kann durchaus politischer Bestimmung unterliegen. Die Abwägung zwischen Kosten und Nutzen muss keineswegs dezentralen Marktpräferenzen unterliegen. In diesem Sinne normativ „gezähmt“ könnte das Effizienzkriterium eine normative gesellschaftliche Verantwortungsgrenze markieren. Ein ökonomischer Ansatz zur Innovationsverantwortung könnte daher lauten: Identifiziere zunächst Neuerungen mit Netto-Wohlfahrtserhöhungen (Grenznutzen > Grenzkosten) und garantiere institutionell, dass relevante Entscheider, insbesondere die Innovatoren selbst, im Sinne dieses Kriteriums „richtige“ Entscheidungen treffen. Ist dies der Fall, so verbleiben einzig „verantwortbare“, d. h. werterhöhende Innovationsprozesse, und alle Innovationsprozesse mit Netto-Werterhöhungschancen werden auch tatsächlich in Angriff genommen und die daraus resultierenden Netto-Erträge den Gesellschaftsmitgliedern zur Verfügung gestellt.
II. Zur ökonomischen Rekonstruktion von Verantwortung 1. Ein ökonomisches Verantwortungskonzept „Verantwortung“ ist kein ökonomischer Begriff, wohl aber ein ökonomischer Topos. Als Terminus findet „Verantwortung“ gegenwärtig vorwiegend im wirtschaftsethischen Diskurs Verwendung, insbesondere in der Debatte um corporate social responsability von Unternehmens-Management,6 aber auch in der ökologisch orientierten Nachhaltigkeitsdiskussion.7 Unabhängig davon ist die ökono5 Dazu eingehend mit Blick auf die rechtswissenschaftliche Verwertbarkeit von Effizienzkonzepten Gawel (2001). 6 Statt vieler Haas jr. (1981). 7 Zur Konzeption von Verantwortung im Zusammenhang mit ökologischen Fragestellungen insbesondere Baumgärtner et al. (2006), S. 225 ff.
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mische Theoriebildung von Konzepten der Verantwortungsübernahme durchsetzt. Für den Ordnungstheoretiker Walter Eucken gehörte zur Gewährleistung des effizienten Einsatzes des Produktivkapitals neben dem Recht auf Privateigentum auch die Haftung als sog. konstituierendes Prinzip der Wirtschaftspolitik:8 Die Eigentümer von Produktivkapital sollen sich nicht nur die Gewinne aneignen, sondern auch die volle Haftung für getroffene Fehlentscheidungen tragen. Nur auf diese Weise sei eine funktionierende Wettbewerbsordnung zu etablieren. Aber auch die neoklassische Allokationstheorie sieht Verantwortlichkeit für eigene Handlungsfolgen als Grundbedingung für Effizienz im Wirtschaftsprozess an. Betrachten wir diese Überlegungen etwas näher. Das ökonomische Verantwortungsmodell der (neoklassischen) Allokationstheorie geht von folgenden Voraussetzungen aus: – Die soziale Realität wird unter der Prämisse dezentraler (individueller) Entscheider rekonstruiert (methodologischer Individualismus); soweit als Wertgeber für Kollektiventscheidungen ebenfalls individuelle Präferenzen maßgeblich sein sollen, gilt auch normativer Individualismus. Die Individuen verhalten sich eigennützig-rational. – Es erfolgt eine dezentrale Koordination der Einzelpläne über einen wettbewerblich organisierten Preismechanismus. – Als normatives Kriterium zur Bewertung gesellschaftlicher Zustände dient das Pareto-Kriterium, d. h. ein Zustand ist einem anderen vorzuziehen, soweit dieser mindestens ein Individuum besser, aber niemanden schlechter stellt.
In diesem Modell kommt man zu folgenden Ergebnissen: – Verantwortliches Individualverhalten bedeutet das Tragen sämtlicher (bekannten) Wertkonsequenzen eigenen Handelns („Nutzen“ und „Kosten“) und ein dezentrales Abwägen anhand des jeweiligen Nettovorteils; die Vornahme von Veränderungen erfolgt ausschließlich auf der Grundlage freiwilligen Tauschs. – Die Folge ist auch kollektiv ein verantwortbares („optimales“) gesellschaftliches Resultat, nämlich die Pareto-Optimalität der dezentralen Marktkoordination: Nach dem Ersten Hauptsatz der Wohlfahrtsökonomik ist jedes wettbewerbliche Marktgleichgewicht zugleich ein Pareto-Optimum, also unter dem Pareto-Kriterium nicht weiter verbesserbar.9 Dieses Konkurrenzgleichgewicht zeichnet sich zudem durch überlegene dezentrale Informationsausnutzung aus.
In dieser Modellsicht können eigennützig-rational handelnde Individuen folglich auf ein in bestimmter Weise definiertes Gemeinwohl ausgerichtet werden, ohne hierzu selbst gemeinwirtschaftlich agieren zu müssen. Es ist dies der von Adam Smith erstmals beschriebene Mechanismus der „unsichtbaren Hand“.
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Eucken (1960), S. 254 – 291. Hierzu im Überblick Gawel (2009a), S. 496 ff.
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Dieses „Verantwortungsmodell“ sieht sich freilich einer Reihe von Problemen gegenüber: – Das individuelle Abwägen von Wertsteigerungen („Nutzen“) und Wertminderungen („Kosten“) impliziert ein „Substitutionsdogma“, wonach alle werthaltigen Belange – im Zweifel mit Hilfe eines monetären Generalnenners (Monetarisierung) – gegeneinander aufgerechnet und durch andere werthaltige Größen ersetzt werden können. Absolutsetzungen von Werten, wie sie im Recht, aber auch in der Ökologie (etwa im Konzept der starken Nachhaltigkeit) postuliert werden, finden hier zunächst keine Resonanz. – Exogene Normquellen – jenseits individueller Präferenzen – sind hier nicht vorgesehen. Neuere Theorieansätze wie die Neue Institutionenökonomik oder die Ökologische Ökonomie versuchen dies jedoch zu integrieren. – Für die hier interessierende Fragestellung am interessantesten sind jedoch die modellimmanenten „Verantwortungsstörungen“, die die Allokationstheorie selbst intensiv beschäftigt haben. Es handelt sich dabei um Bedingungen, die den Verantwortungszusammenhang stören und damit die Herbeiführung eines „optimalen“ Koordinationsergebnisses beeinträchtigen können. Sie bilden damit einen Strauß von Marktversagenstatbeständen aus, die zu ergänzender staatlicher Steuerung Anlaß geben können.
Auch wenn die Relevanz neoklassischer Wohlfahrtstheorie hier dahinstehen kann, so sind doch die dort erstmals diskutierten Störungen im Verantwortungszusammenhang aufschlussreich. Man muss also nicht das wohlfahrtsökonomische Pareto-Optimum oder die dezentrale Marktkoordination als gesellschaftliches Zielbild akzeptieren, um die bei der Diskussion seiner Verwirklichungsbedingungen zutage getretenen Verantwortungsstörungen als hilfreich anzunehmen, nicht zuletzt bei der Erörterung ergänzender staatlicher Eingriffe durch Recht. 2. Verantwortungsstörungen a) Überblick Verantwortliches Individualverhalten ist nach der ökonomischen Theorie gegeben, wenn und soweit Individuen sämtliche Wertkonsequenzen ihres eigenen Handelns („Nutzen“ und „Kosten“) erkennen, ihren rational-abwägenden Entscheidungen zugrunde legen und dabei „richtig“ entscheiden. Das individuelle Streben nach Nettovorteilen dient zugleich als Motor und als Kontrollinstanz des Innovationsprozesses. Individuen handeln dann gerade effizient, denn es werden auf diese Weise nur Ressourcenverfügungen getroffen, die sicherstellen, dass der dadurch bewirkte gesellschaftliche Wertzuwachs größer ausfällt als der gesellschaftliche Werteverzehr. Effizienz lässt sich auf diese Weise auch als Verantwortungskonzept deuten: Es schließt gerade aus, dass Lasten und Risiken unkontrolliert auf andere oder die Gemeinschaft verlagert werden, und stellt sicher, dass Risiken, auch Inno-
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vationsrisiken nur dann eingegangen werden, wenn sie sich in der Abwägung der dadurch eröffneten (gesellschaftlichen) Chancen als „verantwortbar“, weil aufzuwiegen darstellen. Nimmt man die Möglichkeit hinzu, die Bewertung von Chancen und Risiken nicht allein individuellem Dafürhalten zu überlassen (wie in der Wohlfahrtstheorie), sondern für durch Recht vermitteltes politisches Urteil zu öffnen, indem die relativen Preise von Handlungsalternativen systematisch staatlich verändert oder einzelne Alternativen durch Verbote ausgeschlossen werden, so ergibt sich ein normativ gezähmtes Effizienzkalkül als Verantwortungskonzept, dessen konkrete Realisierung sodann dezentraler Entscheidung, sprich dem „Markt“, anheimgegeben werden könnte. Freilich treten hier vielfältige Störungen im Abwägungskalkül zutage, die die Leistungsfähigkeit einer dezentralen Chancen-Risiko-Bewertung beeinträchtigen („Verantwortungsstörungen“): – Inzidenzstörungen: Es treten Störungen in der Einheit aus Entscheidungsbefugnis, Kostentragung und Nutznießung auf. Nur wenn den dezentralen Entscheider sämtliche Kosten und Nutzen aus seiner Handlungsweise auch tatsächlich treffen, ist er in der Lage und auch motiviert, seiner Entscheidung sämtliche Wertkonsequenzen zugrunde zu legen und unverzerrte Entscheidungen zu treffen. Ist diese Einheit, die sog. fiskalische Äquivalenz, gestört, so sind verzerrte (ineffiziente) Entscheidungen die Folge, die gerade keine volle Verantwortbarkeit des Handelns sicherstellen. – Wissensstörungen: Informationsdefizite (unvollständige Information) und Informationsasymmetrien (ungleiche Verteilung unter den Akteuren) vereiteln ebenfalls ein verantwortliches Handeln bzw. verantwortbare Ergebnisse, weil auch in diesen Fällen „falsche“, da ineffiziente Entscheidungen getroffen werden können, die nicht das volle Bild der Wertkonsequenzen berücksichtigen. – Koordinationsstörungen (Rationalitätenfallen): Bestimmte Bedingungen können dazu führen, dass auch individuell perfekt verantwortliches Handeln kollektiv gerade kein gesellschaftlich verantwortbares Resultat erzeugt (soziale Dilemmata). Dies ist etwa im Fall öffentlicher Güter wie beispielsweise sauberem Wasser gegeben. In diesen Fällen droht der Marktkoordinationsmechanismus trotz einzelwirtschaftlich effizienter Teilentscheidungen zu versagen.
Das Ergebnis dieser verschiedenen Verantwortungsstörungen ist ein symmetrischer Folgenraum, der sowohl Unter- als auch Überverantwortung kennt: – Im Falle der Unterverantwortung trägt der Entscheider nicht sämtliche negativen Wertkonsequenzen und / oder erhält verzerrte Signale über die Vorteile und trifft insoweit „falsche“ (ineffiziente) Entscheidungen zu Lasten der Gemeinschaft, Dritter oder zukünftiger Generationen. Das Aktivitätsniveau wird über das sozial optimale Maß hinaus ausgedehnt.
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– Im Falle der Überverantwortung trägt der Entscheider überrelevante negative Wertkonsequenzen und / oder erhält unvollständige Signale über den Nutzen und unterlässt so eine wohlstandsmehrende Wertschöpfung (z. B. als Innovation). Das Aktivitätsniveau bleibt hinter dem sozial optimalen Maß zurück.
b) Inzidenzstörungen Betrachten wir zunächst die Verantwortungsstörungen wegen Verfehlung der fiskalischen Äquivalenz (Inzidenzstörungen). Abb. 1 zeigt zunächst zwei Konstellationen der Unterverantwortung auf. Dabei sind symbolisch „Kosten-“ (K) und „Nutzenkreise“ (N) graphisch dargestellt, die sowohl räumlich als auch zeitlich oder volumenmäßig interpretiert werden können. Die Entscheidungsinstanz (der Entscheider über Ressourcen) und ihr Verhältnis zur Kosten- und Nutzeninzidenz sind mit „E“ bezeichnet.
E
Umweltschäden
N
negative externe Effekte
K
Richterentscheidungen low-cost decisions moral hazard
E
N
Ärztl. Dienstleistungen K
Abb. 1: Unterverantwortung
Der obere Teil von Abb. 1 stellt die typische Situation bei negativen externen Effekten dar: Bei negativen Externalitäten sind die Nutzen- bzw. Produktionsfunktionen von Individuen technologisch in der Weise verschränkt, dass ökonomische Entscheidungen eines Individuums Wertschmälerungen (Kosten) bei anderen Wirtschaftssubjekten hervorrufen, ohne dass dem eine marktlich-vertragliche Vereinbarung zugrunde liegt. Umweltverschmutzende Industrieproduktion stellt hier ein klassisches Beispiel dar. Nutzen- und Kosteninzidenz fallen zeitlich, räumlich oder betragsmäßig auseinander. Der Ressourcendisponent entscheidet anhand der individuell spürbaren Wertkonsequenzen verzerrt, da Teile der Lasten „externalisiert“, d. h. auf Dritte verlagert werden können.
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Der untere Teil von Abb. 1 zeigt hingegen eine Konstellation, bei der der Entscheider gänzlich außerhalb der Kosten- und Nutzenkreise steht: Es findet gleichsam eine Fremdverfügung statt, deren Konsequenzen andere trifft. Dies ist etwa bei Richterentscheidungen der Fall: Richter tragen weder die Kosten noch den Nutzen aus ihren Entscheidungen, sondern werden – verstärkt durch richterliche Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 1 GG – im Wesentlichen allein durch professionelles Ethos gesteuert. In der Ökonomik ist hier von low-cost decisions die Rede, d. h. Entscheidungen, die nur einen Teil oder gar keine Kosten aus der Ressourcenverfügung für den Disponenten nach sich ziehen.10 Eine andere Form der Unterverantwortung wird bei ärztlichen Dienstleistungen sichtbar: Bei der ärztlichen Versorgung inzidieren die Nutzen beim Patienten, die Kosten in der Regel bei einem Versichertenkollektiv, nicht jedoch beim Entscheidungsträger selbst. Entsprechend schwach sind die Anreize zu effizienter Heilbehandlung. Die mangelnde medizinische Kompetenz des auftraggebenden Prinzipals Patient und die von außen nur schwer beobachtbare Aktivitätsentfaltung des Arztes führen zu Informationsasymmetrien, und die Kostenübernahme der Versichertenkollektive zusätzlich zu Lastexternalisierungen – ein geradezu ideales Anreizbiotop für unterverantwortliches und ineffizientes Handeln. Die Kombination aus Informationsasymmetrie und Kostenexternalisierung ist prägend für sog. moralische Risiken (moral hazard – dazu näher unter c)). Besonders ausgeprägt sind moralische Risiken auch bei Pflichtversicherungen wie beispielsweise der Gesetzlichen Krankenversicherung: Da die Gesundheitsversorgung nach dem Bedarfsprinzip organisiert ist, also beitragsunabhängig das medizinisch Notwendige garantiert, und die Kosten zwangsweise auf das Versichertenkollektiv umgelegt werden (Externalisierung), ja der Versicherer in der nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip bemessenen Prämie nicht einmal auf das persönliche Risiko des Versicherungsnehmers eingehen darf, entfällt hier nahezu jeder Anreiz, durch Vorsorge das persönliche Risiko zu mindern (Unterverantwortung). Hinzu tritt im Gesundheitsbereich noch der Anreiz, beliebige Leistungen – meist in Übereinstimmung mit den finanziellen Interessen der Leistungserbringer wie Ärzten und Krankenhäusern – abzurufen und so die als sunk costs empfundene Prämie ohne spürbare Grenzkosten der Nutzung wieder hereinzuholen – abermals ideale Voraussetzungen für nahezu unbegrenzte Ausgabensteigerungen im Gesundheitswesen. Dieses gilt zu Recht als Inbegriff institutionalisierter Unterverantwortung. Abb. 2 verdeutlicht hingegen schematisch einen Fall von Überverantwortung: Diese ist im Beispiel dadurch gekennzeichnet, dass der Nutzenkreis der Entscheidung den Kostenkreis transzendiert: Es fallen also zusätzliche Nutzen bei anderen Wirtschaftssubjekten bzw. der Gemeinschaft an, die der Entscheider in seinem Kalkül nicht zutreffend zu verarbeiten vermag; er trifft mithin verzerrte Entscheidungen, die von der betrachteten Aktivität aus gesellschaftlicher Sicht zu wenig bereitstellen. Eine solche Überverantwortung ist typisch für die private Bereitstel10
Hierzu näher Kirchgässner (1992).
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lung neuen Wissens, wenn wir zusätzlich annehmen, dass dieses risikolos sei: In diesem Fall sind die Forschungs- und Entwicklungskosten privat zu tragen und zudem sehr konkret und überschaubar. Potentielle Verwertungsnutzen des neuartigen Wissens sind hingegen unsicher und diffundieren zudem in der Gesellschaft. Wegen Überverantwortung droht bei der privaten Produktion neuartigen Wissens ein Marktversagen (Arrowsche Unterinvestitionsthese).11
E positive externe Effekte
Nicht-riskante Innovation (neues Wissen)
K
N
¨ berverantwortung Abb. 2: U
c) Wissensstörungen Wissensbedingte Verantwortungsstörungen gehen im Wesentlichen auf zwei Ursachenkomplexe zurück: – unvollständige Information: Hierbei ist eine Verkürzung des problemrelevanten Informationsstandes bei allen Beteiligten gegeben (Risiko, Unsicherheit, Ungewissheit). Als Folge kann sich Überverantwortung ergeben – in Gestalt von Marktschrumpfung, z. B. durch Transaktionskosten bei der Suche nach Transaktionspartnern oder Produkt-Informationen:12 Da marktlicher Austausch nur noch unter Inkaufnahme zusätzlicher Transaktionskosten möglich ist, verkürzt sich das Transaktionsvolumen. Eine andere mögliche Folge sind Ungleichgewichte auf Märkten durch Unsicherheit; derartige Phänomene werden in der mikroökonomischen Ungleichgewichtstheorie beschrieben.13 Verkürzte Information konfrontiert die Wirtschaftssubjekte mit der Alternative, unter Einsatz von Ressourcen fehlende Informationen zu beschaffen oder aber angesichts der Kosten der Informationsbeschaffung Fehlentscheidungen hinzunehmen, die zu Marktungleichgewichten führen. – Als Folge von unvollständiger Information ist freilich auch Unterverantwortung denkbar: Bei unzureichender Kenntnis der Kosten und Risiken verbleiben Effizienz- und damit Verantwortungs-Mängel der Entscheidung. – Verteilungsasymmetrie: Es besteht eine ungleiche Verteilung von relevanten Informationen zwischen den problemrelevanten Akteuren. Die Folge kann sowohl 11 12 13
Arrow (1962), S. 609 ff. Siehe hierzu Gawel (2009a), S. 710 ff. Ebenda, S. 800 ff.
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eine Überverantwortung sein, die sich in Marktschrumpfung und Qualitätsverschlechterung, u. U. sogar einem Marktzusammenbruch äußert bei moral hazard und adverser Selektion (Negativauslese); eine Unterverantwortung kann hingegen eintreten, wenn Ausbeutung der schlechter informierten Marktseite infolge von Opportunismus eintritt.14 Moralische Risiken und Negativauslese beschreiben Begleiterscheinungen asymmetrischer Informationsverteilung, die üblicherweise in einem PrinzipalAgenten-Setting analysiert werden: Hierbei trifft ein ressourcenbesitzender Prinzipal „vertraglich“15 auf einen zur Ressourcendisposition von diesem beauftragten Agenten. Zwischen beiden Akteuren besteht Informationsasymmetrie, die nur mittels Kosten überwunden werden kann (Agenturproblem). Betrachten wir die Problemfelder des Agenturproblems noch einmal etwas genauer: – Verborgene Eigenschaften: Ein erstes Problemfeld betrifft verborgene Eigenschaften (hidden characteristics). Vor Vertragsabschluss (ex ante) ist der Agent dem Prinzipal unter Umständen relativ unbekannt. Der Prinzipal könnte aufgrund der fehlenden Kenntnis der Eigenschaften den falschen Bewerber als Agenten gewählt haben. Um dem zu entgehen, muss der Agent eindeutige Signale senden, die von keinem schlechteren Mitbewerber imitiert werden können (Signaling), z. B. durch Vorweisen eines Hochschuldiploms). Auch der Prinzipal kann dieses Informationsdefizit beheben, indem er ein sogenanntes Screening durchführt (z. B. durch Auswahl in einem Assessment-Center). Eine weitere Lösung des Problems ergibt sich durch Self Selection, indem er dem Agenten mehrere Kontrakte vorlegt, zwischen denen der Agent aussuchen darf (z. B. Versicherungskontrakte mit und ohne Selbstbehalt). Aus der vom Agenten getroffenen Auswahl kann der Prinzipal einen Schluss über mögliche Strategien des Agenten ziehen. Umgekehrt kann auch ein Agent an einen Prinzipal mit verborgenen Eigenschaften geraten. Kann die Qualität des Gegenübers nicht zuverlässig aufgedeckt werden, so wird aus Qualitätsunsicherheit nur ein Durchschnittsentgelt gezahlt. Dies vergütet jedoch high perfomer und gute Risiken nicht angemessen, die sich zunehmend aus dem Markt zurückziehen. Es bleiben vermehrt „Zitronen“ übrig; die Vergütung sinkt weiter (Negativauslese).16 – Verborgenes Handeln und verborgene Information: Bei den Problemtypen verborgenes Handeln (hidden action) und verborgene Information (hidden information) treten die Informationsasymmetrien erst ex post, also nach Vertragsab-
14 Nach Williamson (1990), S. 34 ff., ist unter Opportunismus die Verfolgung von Individualinteressen unter Ausnutzung von Infomationsvorsprüngen zu verstehen. Opportunismus repräsentiert damit die allgemeine ökonomische Verhaltenshypothese der Vorteilsmaximierung unter den speziellen Bedingungen asymmetrisch verteilter Information. 15 Ökonomische Kontrakttheorien verstehen unter „Verträgen“ eher allgemein Vereinbarungssysteme, die ökonomische Austauschbeziehungen regeln (und damit Institutionen); der zivilrechtliche Vertragbegriff erweist sich demgegenüber als erheblich enger. 16 Grundlegend Akerlof (1970).
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schluss und während der Vertragserfüllung auf. Hidden action bedeutet, dass der Agent diskretionäre Spielräume hat, da der Prinzipal seine Handlungen nicht (vollständig) beobachten kann. Hidden information liegt dagegen vor, wenn der Prinzipal zwar die Handlungen beobachten, deren Qualität aber (z. B. aufgrund mangelnder Fachkenntnis) nicht einschätzen kann (Arzt, Rechtsanwalt, Steuerberater). In beiden Fällen besteht das Problem darin, dass der Prinzipal auch ex post nicht beurteilen kann, ob das resultierende Ergebnis durch qualifizierte Anstrengungen des Agenten erreicht wurde, oder ob (bzw. wie sehr) die Umweltzustände das Ergebnis beeinflusst haben. Dies ist regelmäßig bei sog. Vertrauensgütern der Fall. Der Agent hat hier Anreize zum moral hazard, also zur Schlechtleistung bzw. unzureichenden Prävention von Risiken. – Verborgene Absicht: Selbst wenn der Prinzipal Möglichkeiten hat, das Handeln des Agenten zu beobachten und einzuschätzen, also wenn kein verborgenes Handeln oder verborgene Information vorliegen, kann es in bestimmten Fällen immer noch zu Problemen dadurch kommen, dass der Prinzipal ex ante die Absichten des Agenten nicht kennt. Dies wird als verborgene Absicht (hidden intention) bezeichnet.
d) Koordinationsstörungen Im Gegensatz zu den Inzidenz- und Wissensstörungen sind bei Koordinationsstörungen nicht die individuellen Entscheidungen mit Verantwortungsmängeln behaftet, es ist hier vielmehr der dezentrale Koordinationsmechanismus, welcher Defizite aufweist: Die dezentrale Koordination individuell durchaus verantwortbarer Entscheidungen erzeugt u. U. gesellschaftliche Verantwortungsmängel: – Bei der privaten Bereitstellung öffentlicher Güter (saubere Umwelt, öffentliche Sicherheit) wird typischerweise Überverantwortung deutlich: Gesellschaftlich mit Nettonutzen verbundene Güter können aufgrund von Problemen bei der Ausschließung Zahlungsunwilliger und mangelnder Konsumrivalität (gemeinsamer Konsum ist möglich) nicht oder nur eingeschränkt über Märkte angeboten werden.17 – Bei Gütern mit steigenden Grenzerträgen (Netzwerkgüter: Informationstechnologie, Software, Rundfunk- und Fernsehen), die um so nützlicher sind, je mehr Nutzer im Netz untereinander verbunden sind,18 treten kritische-Masse-Phänomene auf: Netzwerkeffekte sorgen bei bestimmten Gütern für steigende Grenzerträge und führen unterhalb einer kritischen Masse an Marktteilnehmern durch Ebenda, S. 740 ff. Bei der Nutzung einer Software kann dieselbe Gutseinheit nicht nur „nichtrival“ von beliebig vielen Individuen eingesetzt werden, je mehr Nutzer ein bestimmtes Software-Netzwerk bilden (z. B. Microsoft Excel), desto ergiebiger ist die Verwendung für den einzelnen, da ein Standard gegeben ist mit erleichterten Austauschmöglichkeiten, Hilfe-Angeboten und Komplementärprodukten. 17 18
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positive Rückkopplung zu Marktversagen, obwohl sich jeder einzelne Nutzer rational verhält. – Überverantwortung mit Marktversagensfolge kann schließlich auch durch Pfadabhängigkeiten eintreten: Gesellschaftlich lohnende Technologiewechsel unterbleiben oder werden verzögert, da die Kosten von technologischen Pfadwechseln einzelwirtschaftlich zu hoch sind; in der Folge verbleibt die Gesellschaft auf ineffizienten Technologiepfaden, da die Nutzen des Wechsels nicht in individuellen „Wechselprämien“ dezentral vereinnahmt werden können. Diese Probleme werden in der Theorie des institutionellen Wandels und der Netzwerkökonomik diskutiert.
Dieser knappe Überblick über die ökonomische Theorie des Marktversagens mit dem Ergebnis der „Verantwortungsstörung“ macht Steuerungsprobleme auf folgenden Ebenen deutlich: – Kompetenzallokation: Es ist zunächst die Frage zu beantworten, wer über bestimmte Ressourcen entscheidungsbefugt sein soll (Entscheider E). Unter Verantwortungsgesichtspunkten sollte dies auch unter Beachtung der fiskalischen Äquivalenz von Kosten- und Nutzenkreisen geschehen.19 – Nutzen- und Kostenallokation (Nutzen N, Kosten K): Bei wem inzidieren Nutzen und Kosten einer Handlung (z. B. einer Innovation), und lassen sich aufgrund von Korrekturen (z. B. Internalisierung) Effizienz und damit zugleich Verantwortlichkeiten beim Entscheider verbessern? – Risikoallokation: In einer Welt unvollständiger Information ist speziell die Frage der Risikoallokation zu klären. Darunter wird die Festlegung verstanden, auf wessen Vermögens- bzw. Wohlfahrtsposition sich ein durch eine risikobehaftete Größe beeinflusster Zahlungsstrom auswirken soll, wer also den durch Realisierung von Risiken ausgelösten Ressourcenverzehr zu tragen hat. Die ökonomische Risikoallokationstheorie hat in ihren verschiedenen Anwendungsfeldern (institutionenökonomische Vertragstheorie, ökonomische Analyse des Rechts) Kriterien entwickelt, welchen Beteiligten bestimmte Risiken zuzuordnen sein sollen. Hierzu zählen die Konzepte des cheapest cost avoider (optimaler Risikoträger ist derjenige, der das Risiko mit den geringsten Kosten steuern, d. h. vermeiden kann), des cheapest insurers (optimaler Risikoträger ist derjenige, der das Risiko am günstigsten versichern und damit streuen kann) und des superior risk bearers (ist das Risiko weder steuer- noch versicherbar, so gilt als optimaler Risikoträger derjenige Beteiligte mit dem höchsten informationellen Risikoaufdeckungspotential bzw. der größten Robustheit, z. B. durch interne Diversifizierung).20 19 In der finanzwissenschaftlichen Theorie des Föderalismus wird genau diese Frage mit Blick auf die räumliche Inzidenz von Kosten und Nutzen zu beantworten versucht; das Ergebnis ist eine möglichst effiziente (verantwortungsvolle) Komptenzzuweisung zu den föderativen Ebenen und Gliedern. 20 Siehe hierzu einführend Schäfer / Ott (2005), S. 401 ff.
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– Design des Koordinationsmechanismus: Die Leistungsfähigkeit dezentraler Koordination und ggf. staatlicher Korrektureingriffe auf einzelwirtschaftlicher Ebene macht jeweils deutlich, in welchem Umfang und in welchen Bereichen „verantwortbare“ Ressourcenverfügung marktlich organisiert werden kann bzw. dem dezentralen Zugriff ganz oder teilweise entwunden werden muss.
3. Verantwortungsquellen Es liegt auf der Hand, dass das zuvor skizzierte ökonomische Verantwortungsmodell auf speziellen extrinsischen Anreizen, vorzugsweise marktendogener Institutionen, hilfsweise staatlichen Regulierungen beruht. Damit ist die Frage nach den denkmöglichen Verantwortungsquellen aufgeworfen: Woraus speist sich jeweils der Antrieb zum verantwortlichen Handeln? Und welche Leistungsfähigkeit kommt den alternativen Quellen mit Blick auf die Verantwortungsinduktion jeweils zu? Dies führt schließlich auf die (ökonomische) Analyse einer Institutionenkonkurrenz zur Gewährleistung verantwortlicher Entscheidungen. Eine grobe Dreiteilung der Verantwortungsquellen erscheint nützlich: So kann die Verarbeitung von Gemeinwohlinteressen durch intrinsische (Moralkapital) oder durch extrinsische Veranlassung gesteuert und motiviert sein. Die extrinsische Veranlassung wiederum zerfällt in eine marktliche Selbststeuerung (Wettbewerb, Institutionenemergenz) und eine staatliche Außensteuerung (regulativ durch Verkürzung des Handlungsfeldes oder pretial durch Eingriff in die relativen Preise) (Tab. 1). Tabelle 1 ¨ konomische Systematisierung von Verantwortungsquellen O Verantwortungsquellen intrinsisch
extrinsisch Marktliche Selbststeuerung (Institutionenemergenz)
Moralkapital
Sanktionspotential der Marktgegenseite (Signaling, Screening, Reputation, „Verträge“)
Sanktionspotential der Marktnebenseite (Wettbewerb)
Außensteuerung Pretial (Preisadministrierung, Haftung)
Regulativ (Ge- und Verbote)
Der institutionenökonomische Ansatz betrachtet in diesem Zusammenhang den Vergleich unterschiedlicher institutioneller Arrangements zur Gewährleistung von
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Gemeinwohlorientierung und leitet daraus Empfehlungen für institutional choice und institutional design ab. Welchen Beitrag leistet beispielsweise aus ökonomischer Sicht die Moral zur Gemeinwohlorientierung – im Vergleich zu den übrigen Verantwortungsquellen? Zunächst kann hohes Moralkapital, soweit es auf Gemeinwohlinteressen ausgerichtet ist, bei Entscheidern zu einer Heilung der oben beschriebenen Marktmängel und Verantwortungsstörungen beitragen (z. B. bei der Erstellung öffentlicher Güter). Ganz offensichtlich kann hierauf unter Wettbewerbsbedingungen aber wohl flächendeckend nicht vertraut werden. Damit gerät das Verhältnis von Märkten, Wettbewerbsprinzip und Moral in den Fokus. Tatsächlich ist der Markt keine moralische Veranstaltung. Er dient als Koordinationsmechanismus lediglich der gesamtwirtschaftlich optimalen Abstimmung der individuellen Wirtschaftspläne der Akteure innerhalb des gesetzlichen Rahmens. Das eigennützige Verhalten der Individuen ist dabei der Motor des Marktmechanismus und insofern grundsätzlich ebenso notwendig wie wünschenswert. Der Markt wirkt als „Effizienzmaschine“ und verarbeitet bestmöglich Knappheiten unter Berücksichtigung der Ziele der Marktteilnehmer. Dies bringt auch fortlaufend Innovationen hervor. Die moralische Qualität des Marktes ist daher an den Rahmenbedingungen und Wertvorgaben zu messen, die der Institution des Marktes gesellschaftlich oder politisch vorgegeben werden: Fehlen diese Orientierungsmarken, liegt kein Marktversagen, sondern ein Regulierungsversagen vor. Unmoralisches Verhalten ist aus dieser Sicht nicht das Ergebnis des Marktprozesses, sondern das mittelbare Resultat eines nicht zieladäquat ausgestalteten Handlungsrahmens. Aus ökonomischer Sicht gilt, dass moralische Verhaltensäußerungen auch durch Kosten und Nutzen der Moral gesteuert werden und es daher darauf ankommt, die Kosten der Moral zu senken bzw. ihre Nutzen zu erhöhen, so dass moralische Anstrengung vom Markt honoriert bzw. moralische Gleichgültigkeit gleichwohl in moralisches Handeln transformiert werden kann. Diese Perspektive betont nicht das ,Wollen‘, sondern das ,Können‘ der Akteure: Im Mittelpunkt stehen dann nicht die Präferenzen der Akteure, sondern die Restriktionen ihres Handelns – die wettbewerblichen Anreize, die einen daran hindern, sich moralisch zu verhalten, selbst wenn man es wollte. Insofern kann man die ökonomische Ethik auch als Ordnungsethik oder Anreizethik kennzeichnen. Moral ist aber keineswegs entbehrlich für das Funktionieren des Marktmechanismus’ – dies hat vor allem die neue Institutionenökonomik herausgearbeitet: Eine gewisse „Minimalmoral“, 21 die z. B. Vertragstreue und Zuverlässigkeit umgreift, macht Tauschtransaktionen erst ohne übermäßige Transaktionskosten der Absicherung in der Realität möglich. Vertrauen als Institution, d. h. die wechselseitige Erwartungsbestätigung unter den Tauschpartnern, stabilisiert die Austauschbeziehungen und senkt in erheblichem Umfang Transaktionskosten. Dabei kann der Marktmechanismus selbst für Investitionen in Moralkapital sorgen, indem mora21
Hierzu etwa Kirchgässner (1996).
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lisches Verhalten, z. B. bei wiederholten Interaktionen, honoriert wird: Der Markt zahlt eine Vertrauensprämie, die – wenn sie höher ausfällt als die sog. Opportunismusprämie, d. h. den Zusatzertrag bei Hintergehen des Tauschpartners – moralisches Verhalten anreizt. Demgegenüber kann Opportunismus, d. h. die Ausnutzung von Informationsvorsprüngen bei asymmetrisch verteilten Informationen, den Marktmechanismus bis hin zum Marktversagen lähmen (Fall des Akerlofschen „Marktes für Zitronen“). Danach ist klar: Der Markt kann in einer Welt mit Transaktionskosten ohne Minimalmoral nicht funktionieren. Allerdings kann der Markt selbst u. U. zu moralischem Verhalten anreizen, wenn geeignete Marktsanktionsmöglichkeiten gegen Amoralität bereitstehen. Die Frage aber, wie sich der Marktmechanismus gegenüber moralisch motivierten Vor- und Mehrleistungen Einzelner – Individuen oder Unternehmen – verhält, wenn diese „geeigneten Sanktionen“ gerade nicht spontan marktlich induziert werden können, verweist auf den Restbereich staatlicher Korrektureingriffe. In diesen Fällen würde der reine Wettbewerb zu gravierenden Nachteilen für moralische Individuen bis hin zum Ausscheiden aus dem Markt führen, und zwar immer dann, sofern den erhöhten Kosten moralischen Handelns keine kompensierenden Vorteile gegenüberstehen, so dass es zu Nutzeneinbußen kommt. Unter Konkurrenzbedingungen besteht die Tendenz zur Grenzmoral, d. h. dem Abschleifen der moralischen Verhaltensäußerungen bis zu jenem Grade, ab dem die Tauschpartner zu sanktionieren beginnen und die Opportunismusprämie schrumpft. Die institutionenökonomische Analyse ist daher in besonderer Weise am Zusammenspiel der Institutionen (Wettbewerb, Moral- und Rechtsnormen) sowie an spontanen Selbststeuerungskräften interessiert, die durch marktliche Institutionenemergenz Verantwortungsstörungen heilen können. Dadurch wird die Grenzziehung zu notwendigen Eingriffen durch regulatives Recht in feinerer Auflösung bestimmt. U. U. genügt in einer milderen Eingriffsstufe zunächst regelsetzendes, d. h. garantierendes Recht, bevor im Gemeinwohlinteresse regulativ durchgegriffen werden muss.
III. Innovation, Risikowissen und Risikoallokation Mit Blick auf die Verantwortung von Innovationsrisiken kommt es zunächst darauf an, ausreichendes Risikowissen bereitzustellen und auf dieser Grundlage eine effiziente Risikoallokationsordnung zu etablieren. Mit Blick auf den Beitrag der Rechtsordnung zu diesen Zielen formuliert Röthel ganz analog, dass „Rechtsregeln vorzugswürdig“ seien, „die erstens Anreize zur Generierung des hierzu nötigen Risikowissens und zweitens Anreize zur optimalen Risikosteuerung setzen.“ Das Ergebnis seien „innovationsangemessene Rechtsregeln.“22 Die ökonomische Fundierung einer solchen innovationsadäquaten Rechtsordnung ist kein leichtes 22
Röthel (in diesem Bande).
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Unterfangen und bildet ein eigenes Forschungsprogramm aus. Nachfolgend sollen jedoch einige Überlegungen zur Aufdeckung von Risikowissen und zur Risikosteuerung als Beitrag zur Sicherung von Innovationsverantwortung aus ökonomischer Sicht vorgestellt werden. Innovation setzt neuartiges Wissen voraus. Information ist zweckorientiertes Wissen. Daher ist die ökonomische Analyse der Bereitstellung von Information, insbesondere von Risikoinformation, essentiell für die Lösung des Innovationsproblems auch unter Verantwortungsaspekten (Abschnitt 1). Überlegungen zur marktlichen und regulativen Generierung von Risikowissen beschließen diesen Beitrag (Abschnitt 2). 1. (Risiko-)Information als ökonomisches Gut Aus ökonomischer Sicht wird unter Information üblicherweise zweckorientiertes Wissen als individuelle Handlungsressource verstanden. Das Gut „Information“ ist ökonomisch – nicht nur für Innovationsprozesse – von überragender Bedeutung und weist zugleich eine ganze Reihe wichtiger Besonderheiten in der Gutscharakteristik auf: – Information ist zunächst ein immaterielles Gut; – Information stellt darüber hinaus ein (gemischt-) öffentliches Gut dar mit Nichtrivalität im Konsum und ambivalenter Exkludierbarkeit; – Informationsverfügung weist in erheblichem Maße externe Effekte zugunsten Dritter auf; – Information ist ein sog. Erfahrungsgut, über dessen Qualität erst nach Erwerb und Verwendung geurteilt werden kann; – Information ist z. T. ein Netzwerkgut, dessen Nützlichkeit von der Anzahl der Wissenden abhängt; – Information weist Besonderheiten in der Produktionstechnologie auf, da kein funktional stabiler, insbesondere kein streng monotoner Zusammenhang zwischen Faktoreinsatz und Informationsoutput besteht in dem Sinne, dass eine Mehrung des Faktoreinsatzes (Zeit, Manpower, Forschungsaufwand) auch eine Steigerung des neuartigen Wissens garantierte. – Bei der (privaten) Produktion neuen Wissens stellen sich besondere ökonomische Probleme: Angesichts der Unsicherheit der Produktionsergebnisse und der Gefahr der Wissensdiffusion nach Erstellung der Innovation droht das Arrow-Problem der „Unterinvestition“ risikoaverser Informationsproduzenten.23 Die Innovationsproduktion leidet nach Arrow unter einem Doppelproblem: Zum einen sind die Kosten der Innovationsbemühungen sicher, die Nutzen hingegen 23
Arrow (1962), S. 609 ff.
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zweifelhaft; zum anderen fallen die Kosten privat,24 die Nutzen aber u. U. durch Externalisierung öffentlich an („Flüchtigkeit“ der Information). Im Ergebnis wird – gemessen an der sozialen Erwünschtheit von Innovationen – von risikoaversen Privaten zu wenig in die Hervorbringung neuen Wissens investiert.25 In dieser kurzen Auflistung begegnen uns erneut zahlreiche Verursacher von Verantwortungsstörungen, die zuvor in Abschnitt II. kurz angeschnitten wurden. Eine eigene Theorierichtung, die Informationsökonomik, erörtert die damit in Verbindung stehenden Probleme. Betrachten wir einige dieser Besonderheiten etwas näher. Information weist zunächst wesentliche Charakteristika öffentlicher Güter auf: – Es besteht i. d. R. eine perfekte Nichtrivalität im Konsum: Information „verbraucht“ sich nicht durch individuelle Verwertung und steht beliebig vielen weiteren Nutzern unvermindert zur Verfügung.26 Einmal in der Welt, kann Information nahezu mit Grenzkosten von Null beliebig weitergetragen werden. Dies gefährdet das Erlöspotential der Informationsproduktion. Die staatliche Institution des Patentschutzes versucht daher, die freie Weiterverwendung von Wissen zu begrenzen und dem Innovator die Erlöschance zumindest befristet zu erhalten, bevor das Wettbewerbsinteresse zugunsten von Nachahmern wieder höher bewertet werden muss. – Das zweite zentrale Kriterium für den Öffentlichkeitsgrad von Gütern, die Unmöglichkeit des Ausschlusses nicht zahlungswilliger Nachfrager, ist freilich nur bedingt gegeben: Der immaterielle Gehalt und der fehlende physische Verzehr erschweren zwar auch den preislichen Ausschluss nicht-zahlungswilliger Informationssuchender: Der Gebrauch von Informationen ist im allgemeinen mit externen Effekten zugunsten Dritter verbunden, was den Erwerb und die Wahrung von Verfügungsrechten an Informationen erschwert; u. U. ist sogar ein Ausschluss anderer völlig unmöglich, weil Information als inkorporiertes Kuppelprodukt physischer Güter im Leistungsaustausch nicht verborgen werden kann: Dies ist der Fall bei Produkt-Innovationen, die mit dem Gut selbst unvermeidlich aufgedeckt werden und für den Kenner entschlüsselbar sind (Problem des Schutzes von Produkt-Innovationen).27 In anderen Fällen hingegen wird ein Mit Ausnahme der sozialen Kosten einer Inovation. Die Arrowsche Unterinvestitionsthese ist nicht unwidersprochen geblieben. Kritik wurde insbesondere von Demsetz (1969) geäußert, der die potentiellen (externen) Nutznießer der Innovation bereit sieht, den andernfalls zur Unterlassung neigenden Innovator durch Kompensationszahlungen zur verstärkten Informationsproduktion anzuregen. Hirshleifer (1971, 1973) stellt der Arrow-Behauptung eine „Überinvestitionsthese“ gegenüber, derzufolge der Innovator aufgrund seines Informationsvorsprunges ein spekulatives Interesse an Informationsverbreitung und -durchsetzung habe, um antizipierte Vermögensumverteilungen zu seinen Gunsten zu realisieren. Die Kritik bleibt damit allerdings eher akademisch und allenfalls in wohldefinierten Randkonstellationen relevant. 26 In besonderen Fällen kann es allerdings zu einer Entwertung des Wissens führen, wenn es von vielen geteilt wird, z. B. bei Insider-Wissen. 24 25
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Wissensausschluss gelingen, weil geeignete Exklusionstechniken vorliegen, z. B. beim Angebot professioneller Beratungsleistungen, welche nur nachfragerspezifisch erbracht werden können.28 Im Ausmaß fehlender Exkludierbarkeit von Wissen diffundiert Information: An die Stelle nachfrageorientierter Produktion bzw. des Vertriebs tritt eine nicht marktlich vermittelte (technologische) Wissensdiffusion. Dies kann z. B. technologisch als inkorporierter Gutsbestandteil im Warenverkehr geschehen: Mit der Güterdistribution wird auch das darin enthaltene Know-how ausgebreitet. Dieser Prozess wird noch begünstigt durch den Umstand in aller Regel minimaler Grenzkosten der Verbreitung. Information hat also strukturelle Erlösschwächen. Umgekehrt ist aber die Produktion neuer Informationen u. U. mit erheblichen Kosten belastet: Die erstmalige Erstellung einer Information kann langwierige Forschungsanstrengungen voraussetzen (hohe Grenzkosten der ersten Einheit). Im Ergebnis droht ein Marktversagen durch prohibitive Kosten des Inverkehrbringens bei gleichzeitig ungewisser Verwertungschance angesichts des hohen Öffentlichkeitsgrades erstellten Wissens (Unterinvestitionsthese). Selbst wenn der Ausschluss aufgrund einer rentablen Exklusionstechnik gelingt, werden Informationsmärkte jedoch noch durch ein weiteres Problem in der Gutscharakteristik von Wissen belastet: Für Informationsgüter gilt die Besonderheit, dass ihr Wert erst nach ihrem Erwerb offensichtlich wird (Information als Erfahrungsgut). Eine vorherige Aufdeckung dieses Wertes macht die Kenntnis der Information erforderlich und damit den Erwerbsakt überflüssig; dies ließe ein Informationsangebot erst gar nicht zustande kommen. Information gilt daher als spezielle Form eines Erfahrungsgutes, über dessen Qualität zwischen Anbietern und Nachfragern (mindestens) bis zur Vertragserfüllung asymmetrisch verteiltes Wissen besteht. Gründe für stabile Asymmetrien bzw. subjektiv unvollständige Informationen, d. h. den Verzicht auf Einebnung gegebener Informationsdifferentiale, können dabei sein – hohe güterspezifische Transaktionskosten der Informationsbeschaffung, die den Nutzen vermehrter Information aufzuzehren drohen (einzelwirtschaftliche Unwirtschaftlichkeit der Informationsgewinnung); – mangelnde Kalkulierbarkeit des Informationswertes (Information als Erfahrungsgut), d. h. die Nutzenevaluierung der Informationsbeschaffung ist gestört; – ein hoher Öffentlichkeitsgrad der beschafften (Risiko-)Information schließlich lässt den Nutzen gesellschaftlich diffundieren, während die zur Erstellung aufgewendeten Kosten privat verbleiben (Störung der individuellen Äquivalenz von Nutzen und Kosten beim Entscheider). 27 In China dürfen ausländische Unternehmen grundsätzlich nur in joint ventures mit chinesischen Firmen aktiv werden, die dabei das technische Know-how abzugreifen bemüht sind. 28 So wird ein Steuerberater nur für Mandanten tätig, die zur Honorarzahlung bereit sind. Auch eine Weitergabe des Wissens an andere Mandanten ist hier kaum denkbar.
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Hoher Transaktionsaufwand auf der Kosten- sowie Öffentlichkeits- und Erfahrungsgutproblematik auf der Nutzenseite lassen den Prozess der Informationsgewinnung vor der vollständigen Nivellierung informationeller Asymmetrien zum Stillstand kommen; sie begründen auf diese Weise stabile Asymmetrien im Informationsstand der Transaktionsteilnehmer. Das Unterlassen von Informationsbeschaffung führt zwar einzelwirtschaftlich insoweit auf rationale Unwissenheit im Rahmen eines individuellen Nutzen-Kosten-Kalküls, kollektiv aber möglicherweise zum Marktzusammenbruch bzw. zur Nichtentfaltung wohlfahrtsteigernder Transaktionen und damit zu einem gesamtwirtschaftlich suboptimalen Ergebnis. Im Rahmen einer Systematik von Informationsgütern wird schließlich auf gesamtwirtschaftlicher Ebene zwischen „produktiven“ und „unproduktiven“ sowie auf einzelwirtschaftlicher Ebene zwischen „werterhöhenden“ und „wertsenkenden“ Informationen unterschieden (Abb. 3).
gesamtwirtschaftlich Ungut werterhöhende Information
Gut Ungut
einzelwirtschaftlich
Gut
Risikowissen
produktive Information
wertsenkende Information
unproduktive Information
Abb. 3: Risikowissen als o¨konomisches Gut
Nach Jack Hirshleifer (1971) gelten Informationen als (gesamtwirtschaftlich) „unproduktiv“, sofern diese zwar für den Inhaber, nicht aber die Gesamtgesellschaft nützlich sind (z. B. bei vorzeitigem Insider-Wissen auf Finanzmärkten); dem mit ihrer Beschaffung einhergehenden Informationsaufwand steht kein gesellschaftlicher Nutzen gegenüber. Produktive Informationen hingegen versorgen nicht nur den Inhaber – zu Lasten Dritter – mit Informationsnutzen, sondern erweisen sich gesamtwirtschaftlich als wohlfahrtssteigernd, so dass dem Beschaffungsaufwand hier auch ein sozialer Ertrag gegenübersteht. Einzelwirtschaftlich ist ferner danach zu fragen, ob sich Informationen werterhöhend oder wertsenkend auswirken: Im Falle wertsenkender Information führt ihre Verfügbarkeit zu einer verminderten Wertschätzung der betrachteten Ressour-
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ce. Dies ist beim Risikowissen der Fall, z. B. dem Wissen eines Herstellers um Produktrisiken oder eines Innovators um Innovationsrisiken. Risikowissen erweist sich damit als spezieller Unterfall von Information, welche sich gesamtwirtschaftlich als (produktives) „Gut“, einzelwirtschaftlich hingegen zunächst als (wertsenkendes) „Ungut“ darstellt. Es ist dann Aufgabe marktlicher Selbststeuerung oder geeigneter staatlicher Regulierung, den Widerspruch zwischen privatem Nachteil und öffentlichem Vorteil von Risikoinformationen aufzuheben: Indem es sich auch individuell lohnt, private Informationen wahrheitsgemäß zu offenbaren, wird Risikowissen auch einzelwirtschaftlich zum „Gut“ (Feld links oben in Abb. 3). Wie dies grundsätzlich angereizt werden kann, wird im folgenden Abschnitt erörtert. 2. Strategien zur Generierung von Risikowissen Vor dem Hintergrund der zuvor ausgebreiteten Gutscharakteristik von Risikoinformation als Grundbedingung für Innovationsverantwortung stellt sich nunmehr ökonomisch als Leitfrage das Problem, wie man dezentrale, nicht perfekt beobachtbare eigennutzorientierte und unter Wettbewerbsdruck stehende Einheiten (Innovatoren) dazu anhalten kann, nur dezentral bekanntes bzw. unter Ressourcenverzehr gewinnbares wertsenkendes Risikowissen aufzudecken bzw. in seine Mehrung oder Gewinnung zu investieren. Es handelt sich um ein klassisches Agency-Problem mit asymmetrischer Information zu Lasten des staatlichen Prinzipals. Für eine institutionenökonomische Betrachtung wesentlich ist freilich der Ansatz, zunächst die Regelungspotenz marktendogener Anreizen durch Ausbildung von Institutionen zu analysieren (Abschnitt a), bevor regulative Eingriffe (Abschnitt b) in Betracht gezogen werden. a) Generierung von Risikoinformation durch Marktinstitutionen Das Wissen um Innovationsrisiken unterliegt typischerweise einer asymmetrischen Informationsverteilung zwischen innovierendem Agenten und um Risikobegrenzung besorgtem staatlichem Prinzipal. Wo aber Informationsvorsprünge bestehen, existieren zugleich Anreize, diese zu Lasten der minderinformierten Seite auszunutzen (Opportunismus). Es wäre daher zu erwarten, dass eine Aufdeckung von Risikoinformationen dem Eigeninteresse derjenigen widerspricht, die über dieses Wissen verfügen. Diese neoklassisch-utilitaristische These sieht eine Tendenz zur Grenzmoral und zu ubiquitär waltendem Opportunismus voraus, soweit eine Externalisierung von Risiken im Rahmen asymmetrischer Informationskonstellationen gelingt. Institutionenökonomische Forschung hat dies – vom gespaltenen empirischen Befund teils opportunistischen, teils nicht-opportunistischen Verhaltens gestützt – in Zweifel gezogen29 und die Frage verfolgt, wie am Markt selbst29 Bereits Kant hatte herausgearbeitet, dass eine derartige „Misstrauensgesellschaft“ mit vollkommen erodiertem Vertrauenskapital nicht funktionsfähig ist, da – nach heutiger
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steuernd ggf. eine Anreizumkehr bewirkt werden kann, die zur Heilung von Informationsasymmetrien beitragen würde. Zentrales Erklärungskonzept bildet in diesem Zusammenhang die Institutionenemergenz, d. h. das Aufkommen von Institutionen, die auch ein Eigeninteresse der besser Informierten an der Nivellierung des Informationsvorsprunges zwecks Aufrechterhaltung des Transaktionsvolumens dokumentieren.30 Derartige Institutionen stellen Qualitätssignale (Firmen- und Markennamen, Garantieversprechen, u. U. auch Werbung und Produktpreise31), Verträge, insbesondere relationale Vertragsbeziehungen, Selbstbeschränkungen als soziales Moralkapital, kollektive Regeln und Sanktionsmechanismen dar. Institutionenemergenz kann als Antizipation von marktlichen Gegenkräften gedeutet werden,32 die opportunistische Informationsbesitzer empfindlicher treffen können als dies bei Verzicht auf die Nutzung des Informationsgefälles der Fall ist, z. B. durch völligen Marktzusammenbruch. Die Sanktionsgewalt des Marktes gegenüber der opportunistischen Ausnutzung von Wissensvorsprüngen ist dabei an verschiedene institutionelle, auch durch Recht zu vermittelnde Bedingungen geknüpft, deren Analyse zugleich die Grundlage für eine ökonomische Analyse des Rechts bildet. Dabei wird zugleich deutlich, dass sich die Problematik asymmetrischer Informationschancen bzw. die Kosten ihrer Überwindung nicht als unveränderlich darstellen, sondern vom jeweils gewählten institutionellen Rahmen des Koordinationsverfahrens abhängen: Die Organisationsform des Güter- und Leistungstauschs, insbesondere der Wissensproduktion und der Innovation wird auf diese Weise zur Effizienzvariablen (institutional choice).33 aa) Aufdeckungsanreize Im Ausmaß der Exploration von Risikowissen entwertet der Risikoträger seine eigene Marktposition. Monopolistische Risikoinformationsanbieter, deren Schweigekartell nicht von dritter Seite überprüft werden kann, werden daher kein Interesse an der Offenbarung von Risikowissen haben,34 ja u. U. sogar Veranlassung sehen, den gesellschaftlichen Informationsstand durch Desorientierung oder Täuschung herabzusetzen.35 Sprechweise – die individuelle Verhaltensweise des „Opportunismus“ nicht verallgemeinerungsfähig sei (Kant 1785 / 1961): Das System kollabiert dann als Folge von kollektiver Transaktionszurückhaltung. Die Opportunismusprämie erreicht ihr Maximum gerade dann, wenn alle übrigen Gesellschaftsmitglieder sich regelkonform verhalten; je weiter sich Opportunismus jedoch ausbreitet, desto schmaler wird der Ertrag aus individueller Regelverletzung. Auf dem Weg zur Grenzmoral wird gleichsam eine endogene „Anreizbremse“ wirksam, die das Transaktionssystem zwischen perfekter Regeleinhaltung und totalem Opportunismus in einem labilen Gleichgewicht hält. Hierzu auch ausführlicher Tietzel (1988). 30 Siehe auch Tietzel (1988), S. 31. 31 Hierzu im Überblick Schulenburg (1993), S. 521 ff. 32 Vgl. auch Schäfer / Ott (1995), S. 414 ff. 33 Hierzu statt vieler Meyer (1990). 34 Lyndon (1989), S. 1813.
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Abhilfe schaffen kann hier „Wettbewerb“ um Risikoinformationen,36 welcher entweder von der Marktnebenseite (andere Anbieter) oder von der Marktgegenseite (Konsumenten) bzw. durch den Staat in Gang kommen kann. Die Gefahr der Fremdaufdeckung von individuell wertminderndem Risikowissen bietet auch einzelwirtschaftlich Anreize zur Informationsgenerierung und Risikoprävention. Alternativ kann auch eine pauschale Marktsanktion bei Nichtverfügbarkeit bzw. Nicht-Angebot diskriminierender Qualitäts- oder Risikoinformationen greifen: Preisabschläge mit Blick auf ununterscheidbare Durchschnittsrisiken oder gar der völlige Marktzusammenbruch bei Risikounsicherheit (Akerlof-Problem) sanktionieren das Schweigekartell der Anbieter. Dies bietet individuelle Anreize zur Risikosignalisierung bzw. Produktion und Angebot von Risikowissen. Wenn die Anbieter guter Risiken aufgrund des unzureichenden Diskriminierungsvermögens der Nachfrager nur nach dem Marktdurchschnitt vergütet werden oder der Markt als Folge der Akerlof-Spirale kollabiert, dürften diese versuchen, über die Risikostruktur ihres Angebotes aufzuklären. Der Anreiz ist hierbei für die besten Risiken am größten, so dass theoretisch eine trennscharfe Risikosignalisierung einsetzt.37 Risikoinformation wird auf diese Weise zum Qualitätssignal. Versagen hingegen beide „Kontrollmechanismen“, so werden „risikoreiche“ Innovationsobjekte mit „risikoarmen“ gepoolt; risikoarme Produkte werden durch das Vorhandensein nicht-beobachtbarer Risiken im Markt bestraft. Dies führt zu einer Tendenz der Bewahrung oder gar Verschärfung des Nichtwissens über Risiken, da hieraus Anbieter-Vorteile erwachsen, die um so größer ausfallen, je höher sich die Risiken ausnehmen;38 zugleich sehen sich die Anbieter „guter Risiken“ genötigt, den Markt zu verlassen oder ihrerseits mit Qualitätsverschlechterung auf die mangelnde Honorierung von Qualität bzw. Risikoarmut zu reagieren. Weitere Probleme privater Produktion von Risikowissen liegen in der Qualitätsbeeinträchtigung privat produzierter Informationen und strukturellen Glaubwürdigkeitsproblemen begründet: Nicht nur das Ausmaß der offenbarten Risikoinformation, auch deren Qualität droht durch individuelle Anreize suboptimal zu bleiben;39 schließlich unterliegen privat generierte Informationen einer Entwertung durch Glaubwürdigkeitsprobleme der Wissensproduzenten,40 da an den Markt gerichtete Risikoinformationen zunächst den Filter der Glaubwürdigkeit passieren müssen, um Resonanz zu erzeugen. 35 Vgl. Nelson (1970); Rothschild (1973), S. 1289 ff.; Beales / Craswell / Salop (1981), S. 507 ff. 36 Hierzu auch Magoulas (1985), S. 39. 37 Stiglitz (1975), S. 33; Hauser (1979), S. 742. 38 Akerlof (1970); Wilson (1980). Hier stellen sich insbesondere Fragen der staatlichen Induktion privater Risikosignale, direkt öffentlicher Signalproduktion bzw. der Reglementierung desinformierender („irreführender“) Marktsignale. 39 Siehe etwa das Modell von Oi (1973). 40 Lyndon (1989), S. 1816.
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Wirksame individuelle Anreize zur Risikooffenbarung setzen damit zusammenfassend voraus: – Die Existenz einer „Publizitätsrendite“ für offenbarte Risikoinformationen, gegeben durch Wettbewerb um beobachtbare Risikomerkmale und eine ausreichende Risikosensibilität relevanter Märkte (Gefahr der Marktsanktionierung) sowie – die staatliche Garantie dieser marktlichen Publizitätsrendite, d. h. die Abwesenheit regulativer Kassationsregeln von Markterträgen offenbarten Risikowissens, z. B. in Gestalt behördlicher Intervention nach offenbartem Risikowissen (Verbot oder Haftungsdrohung).
Mit diesem Zwischenbefund sind zugleich drei Bedingungen für regulierendes Vorgehen auf informationsdefizienten Märkten aufgezeigt: Die erste Bedingung bietet ein wichtiges Unterscheidungskriterium für die Überwindbarkeit von Informationsinsuffizienzen, die zweite Bedingung bietet Ansatzpunkte für marktunterstützendes Vorgehen, und die dritte Bedingung schließlich vermittelt die Einsicht in die Gefahren regulativer Eingriffe in Informationsmärkte.41 bb) Produktionsanreize Es wurde bereits herausgestellt, dass sich bei der Produktion neuen Wissens besondere ökonomische Probleme stellen. Im Ergebnis wird – gemessen an der sozialen Erwünschtheit von Innovationen – von risikoaversen Privaten zu wenig in die Hervorbringung neuen Wissens investiert. Die ökonomische Theorie der „rechtlichen Organisation von Innovation“,42 d. h. der rechtlichen Steuerung einer Generierung neuartigen Wissens ist regelmäßig auf den Typus „werterhöhender“ Innovation zugeschnitten. Die Analyse der Hervorbringung von Risikowissen erfordert jedoch Aussagen darüber, wie Anreize geschaffen werden können, wertreduzierende Informationen über Innovationsobjekte zu gewinnen und zu verbreiten. Hier geht es nicht mehr um patent- und wettbewerbsrechtliche Probleme von Vorstoß und Verfolgung gegenüber der Marktnebenseite,43 sondern um Schutz und Ermunterung zur Aufdeckung von Risiken im Verhältnis zur Marktgegenseite bzw. zu Drittbetroffenen, im Extremfall der Allgemeinheit. Das „klassische“ Anreizproblem von („werterhöhenden“) Innovationen wird darin gesehen, dass individuelle Vorteile eigener Forschungsanstrengungen durch Nachahmer entwertet zu werden drohen: Mangels Exkludierbarkeit kommt es hierbei zur unfreiwilligen Erstellung eines öffentlichen Gutes, z. B. weil neues Wissen
41 42 43
Hierzu auch ausführlich Gawel (1997), S. 290 ff. Dazu u. a. Schäfer / Ott (2005), S. 509 ff., sowie die Beiträge in Ott / Schäfer (1994). Schäfer / Ott, (2005), S. 509.
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in innovativen Leistungen inkorporiert ist und mit dem Inverkehrbringen notwendig öffentlich wird. Bei privater Kostentragung, jedoch weitgehend externalisierten Nutzen unterbleiben dann trotz sozialer Erwünschtheit Innovationsbemühungen. Die mangelnde Exkludierbarkeit von innovativen Informationen kann jedoch hilfsweise durch Schutzrechte für neues Wissen (u. a. durch Patentrechte) hergestellt werden. Das Risikoinnovationsproblem stellt sich hingegen spiegelbildlich dar: Aus der privaten Forschungsaktivität erwachsen u. U. individuelle Nachteile (negative Marktreaktion, einsetzende Regulierung), die durch geeignete Rechtsregeln abgefedert werden müssen, um individuelle Anreize zur Hervorbringung sozial nützlichen, aber privat „gefährlichen“ Risikowissens zu erhalten. In diesem Zusammenhang ergibt sich eine wichtige Parallele zur Innovationsproblematik öffentlicher Regulierung von Ungütern: Der Anreiz zur Hervorbringung technischen Fortschritts erlahmt, soweit dynamische Regulierungsregeln offenbartes Wissen zum Anlaß verschärfter Regulierung nehmen (Problematik des „Standes der Technik“).44 Der Staat vereinnahmt damit die Innovationsdividende des Wissensproduzenten und nimmt diesem den Anreiz, entsprechende Informationen zu generieren. Mit Blick auf die umweltpolitische Regulierung des technischen Fortschritts folgt hieraus u. U. ein „Schweigekartell“ der Emittenten. In ähnlicher Weise macht sich staatliche Regulierung von Risikowissen anheischig, durch Haftungs- oder Regulierungsdrohung (z. B. Produkt- oder Werbeverbote) die marktliche Innovationsdividende vermehrten Risikowissens zu schmälern oder ganz aufzuzehren.45 Daneben stellt sich das Problem der Publizität von Risikowissen: Privates Risikowissen ist nur bei Offenlegung überprüfbar bzw. bei Streuung über die Märkte wirksam; der öffentliche Publizitätsbedarf kann jedoch mit z. B. wettbewerblich begründeten Geheimhaltungsansprüchen des Risikoinformationsgenerators konfligieren.46 Generiertes Wissen ist zunächst noch kein öffentliches Wissen; zwischen Produktion und Publizität von Risikoin formation treten jedoch weitere Anreizprobleme, sofern es gerade auf die öffentliche Nutzung des Risikowissens ankommt. cc) Suchanreize Grundsätzlich können Informationsdifferentiale auch durch Suchprozesse der Risikobetroffenen überwunden werden, indem die Grenze zwischen tatsächlichem und objektiv vorhandenem Wissen durch individuelle Anstrengung verschoben wird. Allerdings wurde bereits aufgezeigt, dass informationelle Asymmetrien oft44 Siehe hierzu beispielsweise Gawel (1994), S. 52 ff. und 156 ff.; jüngst zusammenfassend ders. (2009b). 45 Hierzu auch Ladeur (1994), S. 80. Für die Haftung Gawel (2009c). 46 Siehe z. B. Lyndon (1989), S. 1855.
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mals aus strukturellen Gründen Bestand haben, und Suchprozesse einzelwirtschaftlich nicht als lohnend erscheinen. Eine Substitution von Informationsbeschaffungsaktivitäten durch „Vertrauen“ liegt nahe,47 stellt aber nicht in allen Fällen eine effiziente Marktantwort auf das Informationsproblem dar. Obgleich gerade neuartiges Risikowissen oftmals nicht in der Sphäre des risikosetzenden Agenten, sondern im Marktgeschehen, d. h. beim Vollzug von Konsumprozessen anfallen dürfte, besteht doch das Kernproblem in der Bündelung dispersen Risikowissens: Die in diesem Zusammenhang als Erfahrung auftretenden Informationen etwa beim Produktgebrauch sind auch für die Konsumenten u. U. nicht als verwertbare Risikoinformationen erkennbar, etwa weil sie sich erst in aggregierter Perspektive zu verwertbarem Risikowissen verdichten. Überdies bestehen vielfältige Kostenasymmetrien bei der Produktion einer Informationseinheit zu Lasten der einzelnen Nachfragereinheit, die in einem höheren Organisationsgrad, Spezialisierungsvorteilen und besserer Marktübersicht der Hersteller fußen. Daher wird üblicherweise von komparativen Vorteilen der Herstellerseite bei der Risikoerkennung ausgegangen. dd) Grenzen Die vorstehend in gedrängter Form überblicksartig beleuchteten Möglichkeiten einer selbststeuernden Überwindung des Informationsproblems auf Risikomärkten sind in ihrer Funktionalität stark abhängig von der Struktur des Risikoproblems, insbesondere der Bedingungen zur Aufdeckung von Risiken (Erfahrungsrisiken, Misstrauensrisiken; monopolistische oder kompetitive Risikoaufdeckung). Daneben spielt offensichtlich auch das jeweilige Muster der Risikoverknüpfung zwischen Risikoagent und Risikoträger eine Rolle: Besteht zwischen den Risikobetroffenen eine marktliche, u. U. sogar vertragliche Beziehung oder beschränkt sich das Band der Verknüpfung auf rein technologische Seiteneffekte, die jenseits marktlicher Kommunikation erfolgen (externe Effekte)? Nach dieser Stufung der Beziehungsintensität richtet sich natürlich auch das Potential marktlich-selbststeuernder Korrekturmechanismen (Tab. 2): Innerhalb von Vertragsbeziehungen kommen vertragsgestaltende Risikobewältigungsmechanismen in Betracht, wie sie beispielsweise in der Principal-Agent-Theorie erörtert 47 Unter Vertrauen versteht man in der Institutionenökonomik bedeutet das Erbringen einer risikoreichen Vorleistung (Handlung) aufgrund der erwarteten Vertrauenswürdigkeit einer Person (Erwartung). Man unterscheidet maximenbasiertes von instrumentellem Vertrauen: Instrumentelles Vertrauen liegt vor, wenn der Grund für die Entbietung von Vertrauen ein Mittel zum Zweck ist, d. h. die Vorleistung (z. B. Normeinhaltung) nicht um ihrer selbst willen erfolgt, sondern beispielsweise dazu, eine vorteilhafte Kooperation aufrechtzuerhalten. Maximenbasiertes Vertrauen bedeutet die Einhaltung von Normen wie Ehrlichkeit und Reziprozität aus innerer Überzeugung, d. h. um ihrer selbst willen (intrinsische Motivation). – Eine transaktionskostensparende Möglichkeit, mit Informationsdefiziten umzugehen, ist es, sich „vertrauend“ dem Verzicht auf Verbesserung des Informationsstandes hinzugeben.
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werden oder mit dem rechtsökonomischen Konstrukt des „vollständigen Vertrages“ und seiner Rekonstruktion gegeben sind.48 Kontrakttheoretische Lösungen des Risikoproblems treten insoweit noch neben die in Marktbeziehungen mögliche Institutionenemergenz. Existieren hingegen rein technologische Beziehungen über externale Verknüpfungen, wie z. B. bei Umweltrisiken, so ist Institutionenbildung nur noch teilweise zur Bewältigung von Risiken in der Lage, etwa als Versicherungslösung; der Goodwill-Mechanismus als prominenteste institutionelle Figur zur Risikobewältigung in Märkten kann hier definitionsgemäß nicht mehr greifen. Die in Tab. 2 angedeutete Stufung kann selbstverständlich beliebig weiter differenziert werden, z. B. nach relationalen und diskreten Verträgen, Art der Marktbeziehung (z. B. Entlastung von Kostenverantwortung durch Versicherungen) bzw. der Art der technologischen Verknüpfung (z. B. als Summations- und Distanzschäden) usf. Sinn der Darstellung liegt allein im Aufzeigen der institutionellen Bedingungen der Risikointeraktion als Voraussetzung für wirksame marktliche und außermarktliche Risikobewältigung. Tabelle 2 Konzepte zur Lo¨sung von Informationsproblemen in Abha¨ngigkeit vom zugrundeliegenden Muster der Risikoverknu¨pfung Risikoverknüpfung
Vertragsbeziehung
marktliche Lösungsmuster
Risikoverarbeitung im Vertrag: – Agency-Theorie – Konstrukt des vollst. Vertrages
außermarktliche Lösungsmuster
Marktbeziehung
rein technologische Beziehung
marktliche Institutionenemergenz
marktliche Institutionenemergenz
eingeschränkte Institutionenemergenz z. B. Versicherungen
Regulierung
Regulierung
Regulierung
Dass mit einer universellen marktendogenen Bereitstellung ausreichender und verlässlicher Risikoinformation – trotz marktendogener Gegenkräfte zur Überwindung der Informationsdefizite – nicht zu rechnen sein wird, liegt mit der Identifizierung der spezifischen Gutscharakteristik von Wissen bereits auf der Hand und 48 Zur Informationsökonomie vertraglicher Risikobewältigung im Überblick Magoulas (1985), S. 50 ff.
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wurde vielfach analysiert.49 Dass jedoch auch Regulierungsstrategien zur Überwindung von Marktversagen auf Informationsmärkten erfolglos bleiben, ja sogar zu einer Verschärfung der Wissensproblematik beitragen können,50 verweist auf den überaus schmalen Grat zwischen erfolgreicher Regulierung und dysfunktionaler Störung auf Informationsmärkten. Dies unterstreicht zudem erneut die Erkenntnis, dass Marktversagen allein keine hinreichende Legitimation für staatliche Eingriffe darstellt, sondern hoheitliche Interventionen gegenüber Marktergebnissen im Einzelfall wirkungsanalytisch gegenüberzustellen sind: Erst die Prüfung, ob durch Regulierung eine Verbesserung der Situation eintritt und diese Verbesserung die Kosten, die damit einhergehen, zu rechtfertigen vermag, gibt Aufschluss über die Wohlfahrtspotentiale staatlichen Tätigwerdens. Neben die Grenzen der marktendogenen Bewältigung des Risikoinformationsproblems treten so die Grenzen staatlicher Regulierungseingriffe. b) Generierung von Risikoinformation durch Außensteuerung Ein wichtiger Lösungsansatz zur Generierung von Risikoinformation durch Außensteuerung kann aus ökonomischer Sicht in der Integration privater Risikoverantwortlichkeiten in den klassischen Kanon öffentlich-rechtlicher Sicherheitsgewährleistung (und zivilrechtlicher Gestaltung des Güterverkehrs) gesehen werden. Ziel einer derartigen Verschränkung ist grundsätzlich die Sicherstellung eines ausreichenden Aufkommens an Risikoinformation, dessen Generierung und Verarbeitung ohne die Mitwirkung privater Akteure nicht gewährleistet scheint.51 Sehen sich bereits traditionelle Regulierungsstrategien dem ökonomischen Vorwurf einer ineffizienten Informationsverarbeitung gegenüber,52 so stellt sich die Problematik im Zusammenhang struktureller Ungewissheit noch verschärft dar und wird mittlerweile auch im rechtswissenschaftlichen Zusammenhang intensiv problematisiert. Als genereller Hebel eines staatlichen Risikoinformationsmanagements kann aus ökonomischer Sicht der Versuch gelten, zwischen behördlichem „(Produkt-)Sicherheitsauftrag“ und privaten Risikointeressen eine Interessenharmonie herzustellen, d. h. ein Anreizsystem zu etablieren bzw. zu schützen, das der effizienten Aufdeckung und Verarbeitung von (privatem) Risikowissen verpflichtet ist. Ein wichtiger Hebel für die Durchsetzung von Risikoinformationszielen kann dabei die Delegation von Sanktionsgewalt an den Markt sein: Staatliches Risiko49 Siehe nur mit Blick auf die Wissensinnovation Arrow (1962); hinsichtlich der Asymmetrieproblematik Arrow (1963) und Akerlof (1970); für die konkrete Risikoregulierung u. a. Lyndon (1989), S. 1810 ff. 50 So nachdrücklich Lyndon (1989), S. 1799 und 1817 ff.; Magoulas (1985), S. 24; Meyer (1990). 51 Zum Problem der Informationsversorgung der Verwaltung im Rahmen einer Sicherheitsbewältigung unter (strukturellen) Ungewissheitsbedingungen auch Pitschas (1993). 52 Hierzu Gawel (1994), S. 52 ff.
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management zielt dann ab auf die Befähigung einzelner Marktakteure zur zutreffenden Risikoerkenntnis und Risikoverarbeitung53 sowie des Gesamtsystems „Markt“ zur Institutionenemergenz gegenüber Informationsdefizienzen.54 Marktprozesse werden so zugleich zur Quelle und zum Exekutionsverfahren von Risikoinformation. Unter den Bedingungen struktureller Ungewissheit ergeben sich als zentrale Risikoallokationsaspekte eines derartigen Risikomanagements die Fragen: – Wer trägt den Schaden aus nachträglicher, objektiver Manifestation von Risiken? (Schadensrisiko) – Wem obliegt die subjektive Risikoerkenntnis, d. h. wer trägt die Last der Risikoexploration (Investitionsrisiko der Aufdeckung)? Im Umkehrschluss bedeutet dies: Wer „darf“ zwischenzeitlich auf die Abwesenheit von Risiken vertrauen?
Beide Allokationsaspekte können steuerungstechnisch gekoppelt (Haftung55) oder aber auch gesplittet werden, z. B. durch Regulierung von Schadensrisiken und separater Verfolgung von Informationsstrategien. Die Gewinnung und Verwaltung von Risikowissen, d. h. die Schaffung und Gewährleistung von „Risikotransparenz“ kann ökonomisch durch – die Nivellierung informationeller Asymmetrien (z. B. durch Statuierung von Aufklärungspflichten, Offenbarungsanreize, gezielte Abgabe behördlicher „Wissenserklärungen“)56 – bzw. die Verkürzung informationeller Defizite, d. h. Vergrößerung des objektiven „Informationsraumes“ (z. B. durch Induktion von Wissensproduktion) erfolgen.
Informationelles Risikomanagement muss dabei die wesentlichen ökonomischen Grundprobleme eines effizienten staatlichen Eingriffs auf Informationsmärkten lösen: – Wann erscheint eine regulierende Intervention und in welcher Form angezeigt, wann muss etwa ein Produkt wegen neuer Risiko-Erkenntnisse vom Markt genommen oder in private Risikokommunikation eingegriffen werden? Wie stellt sich die komparative Vorteilhaftigkeit alternativer Instrumente von Risikoinformationspolitik dar? (Interventionsproblem)
53 Z. B. im Falle geringer Opportunismusprämie bei hochspezifischem (entwertungsbedrohtem) Kapital; siehe zu diesem Beispiel Schäfer / Ott (2005), S. 442 f. 54 Beispielsweise kann versucht werden, den Marktertrag „sicherer“ Produkte, welcher in der Abwendung von Umsatzeinbußen auf risikosensibilisierten Märkten besteht, gezielt zu stützen und zu erhöhen bzw. umgekehrt die Opportunismusprämie zu schmälern – etwa durch öffentliche Eingriffe der „Wissenserklärung“. 55 Siehe hierzu Röthel (in diesem Bande), aus ökonomischer Sicht Gawel (2009c). 56 Diese treten damit neben marktendogene Bewältigungsstrategien von Asymmetrien wie Informationsbereitstellung, Risikoteilung, Marktsegmentierung und vertikale Integration – hierzu im einzelnen Meyer (1990), S. 109 ff.
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– Wie kann durch Rechtseingriffe eine „Publizitätsrendite“ geschaffen oder gewährleistet werden, um Anreize zur wahrheitsgemäßen und vollständigen Offenbarung privaten Risikowissens zu setzen? Wie kann insbesondere verhindert werden, dass kooperative Unternehmen durch sicherheitsbehördliche Inpflichtnahmen, d. h. durch die Regulierungsantwort auf Wissensoffenbarung, benachteiligt werden? (statisches Anreizproblem) – Inwieweit führen regulierende Eingriffe zu einer Schwächung von Innovationswirkungen in der Produktion neuartigen Risikowissens, etwa durch Verschärfung der Haftung für Entwicklungsrisiken? Können Benachteiligungen dynamischer Unternehmen sowie eine gesellschaftliche Überbewertung von Risiken gegenüber Chancen von Innovationen im Bedingungszusammenhang struktureller Ungewissheit vermieden werden? (Innovationsproblem)
Nachfolgend sollen kurz einige elementare Strategien der Risikoinformationspolitik im Rahmen eines staatlichen Risikomanagements aufgezeigt werden. Dabei ist insbesondere von Interesse, ob die marktliche Institutionenemergenz durch den jeweiligen staatlichen Eingriff (Regulierung im weiteren Sinne57) wirksam unterstützt oder ergänzt werden kann. Derartige „Gegenkräfte“ gegen marktliche Dysfunktionen der Generierung und Verbreitung von Risikowissen, die freilich unter dem wohlfahrtökonomischen Vorbehalt des effizienten Eingriffs stehen und auf die Markt-Institutionen Rücksicht zu nehmen haben, können etwa bestehen in: – der Investition in gesellschaftliches Moralkapital, insbesondere gruppenspezifisch (z. B. „Berufs- oder Unternehmerethos“); – der Stärkung von Marktsanktionen (Befähigung zu individueller Risikosanktion bzw. zu Institutionenemergenz); – der effektiven außermarktliche Sanktionierung opportunistischen Verhaltens (Haftung, Strafrecht etc.); – der Statuierung von Qualitäts- und Sicherheitsnormen, (Regulierung im engeren Sinne); – der Statuierung von Mitwirkungs-, Offenbarungs- und Publizitätspflichten, einschließlich der Überwachung privat generierter Risikoinformation; – schließlich der öffentliche Produktion oder Förderung privater Produktion des öffentlichen Gutes „Risikoinformation“.
57 Insbesondere die rechtsökonomische Literatur respektiert begrifflich die Unterscheidung zwischen öffentlich-rechtlicher Regulierung (im engeren Sinne) und zivilrechtlicher Haftung. Auch ordnungspolitisch wird „Haftung“ als „Übernahme der finanziellen Folgen einer nicht autorisierten Nutzung von Gütern zu Lasten Dritter“ (Meyer / Heyn (1995), S. 149) zu den konstituierenden Prinzipien der Marktwirtschaft gerechnet (Eucken 1960). Als „Regulierung im weiteren Sinne“ mag jedoch hier jedes staatlich intervenierende Tätigwerden auf Informationsmärkten gelten und insoweit die Statuierung von Haftungsregeln und imperatives Vorgehen umgreifen.
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Der gezielte, aufeinander abgestimmte Einsatz der Instrumente in einem policy mix führt zudem zur Schaffung komplexer Risikoinformationssysteme: Die Notwendigkeit der effizienten Verzahnung der einzelnen Steuerungsverfahren im Rahmen eines effizienten Mechanismus-Designs folgt aus der Klage, dass es bislang nicht in überzeugender Form gelungen sei, die verschiedenen Steuerungsansätze zu einem kohärenten System zusammenzuführen.58 Allerdings geht zwischenzeitlich eine wachsende Literatur insbesondere der Frage eines funktionalen Zusammenspiels von „Regulierung“ und „Haftung“ nach.59 Bedeutsam erscheint vor allem die Gegenüberstellung von Strategien, welche dem Markt in seiner Risikoallokation (z. B. durch Standardsetzung) unmittelbar vorgreifen (Regulierung im engeren Sinne), und solchen, die lediglich die marktliche Bewältigung von Risiken zu verbessern trachten (z. B. durch haftungsrechtliche Gestaltung privater Risikoverantwortung) (Kriterium der „Marktnähe“). Dies erscheint auch transaktionskostenökonomisch relevant, da die monetären und sozialen Kosten von Offenbarung, Warnung und Risikoüberprüfung („informationelle Strategien“) vermutlich geringer ausfallen dürften als die Kosten der direkten Regulierung von Risikoquellen (z. B. durch Vorgaben für die Emissionsreduktion, Produktverbote, Sicherheitsstandards) oder die bloße Kompensation der Geschädigten („nichtinformationelle Strategien“).60 In ähnlicher Weise wird in der ökonomischen Analyse des Rechts von einer Überlegenheit von ex-post-greifenden Haftungsregelungen gegenüber ex-ante-Regulierungen unter dem Gesichtspunkt der Transaktionskosten der Steuerung ausgegangen:61 Löst bei der Haftung erst ein eingetretener Schaden administrative Mühewaltung aus, so erfordert eine Regulierung bereits mit der aktivitätsbegleitenden Überwachung und der Sanktionierung einzelner Normverstöße staatliches Tätigwerden im Einzelfall (Kriterium „Art des Steuerungshebels“). Eine Feindifferenzierung könnte ferner Strategien mit und ohne „Anfangsverdacht“ unterscheiden: Direkte Regulierung, Haftungsverantwortung und Informationsrechte erfordern das Vorliegen manifesten Risikowissens.62 Je nach Risikokonstellation können sich aber Strategien als überlegen erweisen, die sich hinsichtlich des Informationsinputs weniger voraussetzungsvoll geben bzw. entsprechende Funktionen an dezentrale Entscheidungsverantwortung zu delegieren imstande sind (Kriterium der „informationellen Anmaßung“).
So etwa Lyndon (1989), S. 1856. Siehe nur die Beiträge von Shavell (1984); Rose-Ackerman (1991a, 1991b); Kolstad / Ulen / Johnson (1990). 60 So auch Lyndon (1989), S. 1856. 61 Siehe etwa Shavell (1987), S. 282. 62 Lyndon (1989), S. 1859. 58 59
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IV. Zusammenfassung Der Beitrag deutet die neoklassische und institutionenökonomische Theorie des Marktversagens als Lehre von den Störungen im Verantwortungszusammenhang individueller Ressourcenverfügung. Hieraus werden Überlegungen abgeleitet zu den Möglichkeiten und Grenzen einer marktendogenen Gemeinwohlorientierung rationaler Innovatoren. Der Realisierung von Innovationsverantwortung dienliche Rechtsregeln können dabei sowohl marktliche Institutionenemergenz stützen und initiieren als auch regulativ begrenzend wirken. Mit Blick auf die Verantwortung von Innovationsrisiken kommt es zunächst darauf an, ausreichendes Risikowissen bereitzustellen, um auf dieser Grundlage sodann eine effiziente Risikoallokationsordnung zu etablieren. Das Ergebnis sind „innovationsangemessene Rechtsregeln.“ Zur ökonomischen Fundierung einer solchen innovationsadäquaten Rechtsordnung werden einige Überlegungen zur Aufdeckung von Risikowissen und zur Risikosteuerung als Beitrag zur Sicherung von Innovationsverantwortung aus ökonomischer Sicht vorgestellt. Literaturverzeichnis Akerlof, George A. (1970): The Market for „Lemons“: Quality Uncertainty and the Market Mechanism, in: Quarterly Journal of Economics 84: 488 – 500. Arrow, Kenneth J. (1962): Economic Welfare and the Allocation of Resources for Invention, in: National Bureau of Economic Research (Hrsg.): The Rate and Direction of Inventive Activity. Economic and Social Factors, Princeton: 609 – 626. – (1963): Uncertainty and Medical Care, in: The American Economic Review 53: 941 – 973. Baumgärtner, Stefan / Faber, Malte / Schiller, Johannes (2006): Joint Production and Responsibility in Ecological Economics. On the Foundations of Environmental Policy, Cheltenham / Northampton. Beales, Howard / Craswell, Richard / Salop, Steven (1981): The Efficient Regulation of Consumer Information, in: Journal of Law and Economics 24: 491 – 539. Demsetz, Harold (1969): Information and Efficiency: Another View Point, in: Journal of Law and Economics 12: 1 – 22. Eucken, Walter (1960): Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1952, zitiert nach 3. Aufl. Tübingen / Zürich. Gawel, Erik (1994): Umweltallokation durch Ordnungsrecht, Tübingen. – (1997): Reguliertes Wissen um Unwissen. Zur Generierung und Distribution von Risikoinformation aus ökonomischer Sicht, in: Hart, D. (Hrsg.): Privatrecht im „Risikostaat“, Baden-Baden, S. 265 ff. – (2001): Ökonomische Effizienzanforderungen und ihre juristische Rezeption. Ein problemstrukturierender Überblick, in: ders. (Hrsg.): Effizienz im Umweltrecht. Grundsatzfragen wirtschaftlicher Umweltnutzung aus rechts-, wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Sicht, Baden-Baden, S. 9 ff.
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Teil II Risikoabschätzung und Vorsorge
Vorsorge – Hemmschuh oder Katalysator für Innovation? Von Ortwin Renn I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 II. Vorsorge im nationalen und internationalen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 III. Vorsorge bei der Risikoabschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 IV. Vorsorge bei der Risikobewertung und beim Risikomanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 V. Die europäische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 VI. Differenzierung zwischen Komplexität, Ungewissheit und Ambivalenz . . . . . . . . . . 113 VII. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
I. Einleitung Die konventionellen Formen der Risikobewertung beruhen auf der Annahme, dass die zu beurteilenden Handlungen hinsichtlich ihrer Wirkungen bekannt sind, und zwar im Hinblick auf die maximale Schadenshöhe wie auch im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeitsverteilung von potenziellen Schäden. Die Schwere und Häufigkeit der Konsequenzen einer Handlung oder eines Ereignisses werden dabei als Maßstab zur Beurteilung ihrer Akzeptabilität herangezogen. Wie aber soll man Situationen einschätzen, bei denen die Wirkung selbst noch unsicher ist? Wie kann man Gefahren beurteilen, bei denen man die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens nicht oder noch nicht berechnen kann? Wie sollten Risikomanager auf Risiken reagieren, bei denen Schadenswirkungen vermutet werden können, aber die Datenlage fehlt, um die Höhe des Schadens zuverlässig abschätzen zu können? In diesen Situationen kommt das Prinzip der Vorsorge zum Tragen1. Das Prinzip der Vorsorge ist dann angesagt, wenn hohe Ungewissheit bei der Risikoabschätzung vorliegt. Der Begriff der Vorsorge ist also auf das Problem der Ungewissheit bei der Risikoabschätzung bezogen2. Wie soll man Risiken regulie1 Gail Charnley / E. Donald Elliott, Risk versus Precaution: Environmental Law and Public Health Protection, Environ Law Rep 2002 (vol. 32): 10363 – 10366. 2 P. G. Bennet, Applying the Precautionary Principle: A Conceptual Framework, in: Cottam, M. P. / Harvey, D. W. / Paper, R. P. / Tait, J. (eds.): Foresight and Precaution. Vol. 1, 2000: 223 – 227.
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ren, bei denen man über die möglichen Folgen einer zur Debatte stehenden Handlung nichts oder wenig weiß bzw. eine Ungewissheit über die Wahrscheinlichkeitsverteilung besteht? Häufig verbleibt bei hoher Ungewissheit nur die Möglichkeit, nicht die vermuteten Wirkungen sondern die Eigenschaften des Risikos selbst als Kriterien für die Anwendung des Vorsorgeprinzips zu nutzen. Der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen hat in seinem Jahresgutachten von 1998 vorgeschlagen, die Kriterien Ubiquität, Persistenz und Irreversibilität als Ersatzvariable für die Beurteilung von Risiken heranzuziehen; und zwar in den Fällen, in denen über Wirkungen noch keine hinreichend genaue Kenntnis vorliegt3. Institutionell macht es Sinn, die Frage nach der richtigen Balance zwischen zu viel und zu wenig Vorsicht bei der Bewertung der noch unsicheren Folgen nicht allein den Wissenschaftlern oder auch den Behörden zu überlassen. Da bestimmte Gruppen – bei zu viel Vorsorge sind es die Nutznießer des Risikos; bei zu wenig Vorsorge die Geschädigten des Risikos – die Folgekosten für diesen Balanceakt tragen müssen, sollten diese Gruppen auch bei der Festlegung des Ausmaßes der Vorsorge eingebunden werden. Die deutsche Risikokommission hat in ihrem Endgutachten, das im Juni 2003 dem Umwelt- und dem Gesundheitsministerium vorgelegt wurde, zu diesem Zweck die Einrichtung eines Risikorates vorgeschlagen4. Dieser hat die Aufgabe, eine vorsorgeorientierte Risikoabschätzung sicherzustellen und eine Umsetzung des Vorsorgeprinzips im Sinne eines rational begründbaren und von den die Kosten tragenden Parteien zustimmungsfähigen Kompromisses zu gewährleisten. Die folgenden Ausführungen dienen dazu, das Vorsorgeprinzip im Rahmen der Risikoabschätzung und der Risikobewertung zu erläutern und dann einen eigenen Vorschlag zur Umsetzung des Vorsorgeprinzips darzustellen. Dieser Vorschlag ist von dem Ziel getragen, die richtige Balance zwischen Wagnis und übertriebener Vorsicht zu finden, die für die Innovationskraft und die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes wie Deutschland essentiell ist. II. Vorsorge im nationalen und internationalen Kontext Im deutschen Recht wird zwischen Schaden, Gefahr, Vorsorge und Restrisiko unterschieden5. Ist ein Schaden mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu erwarten, 3 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), Welt im Wandel: Strategien zur Bewältigung globaler Umweltrisiken. Jahresgutachten 1998, S. 53 ff. 4 Ad-hoc-Kommission, Neuordnung der Verfahren und Strukturen zur Risikobewertung und Standardsetzung im gesundheitlichen Umweltschutz der Bundesrepublik Deutschland Endbericht. Bundesanstalt für Strahlenschutz, 2003. 5 Eckhard Rehbinder, Stoffrecht, in: Arbeitskreis für Umweltrecht (Hrsg.): Grundzüge des Umweltrechtes, 1997, S. 13 / 001 bis 13 / 051
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spricht man von Gefahr. In diesem Falle ist Gefahrenabwehr geboten, sofern eine rechtliche Verpflichtung zur Abwendung des drohenden Schadens besteht. Ist die Wahrscheinlichkeit dagegen geringer, kann eine Regulierung des Risikos aus Vorsorgegesichtspunkten erfolgen. Bei sehr kleinen Wahrscheinlichkeiten spricht man von Restrisiken. Diese müssen – einen entsprechenden Nutzen der Aktivität vorausgesetzt – im Sinne des Allgemeinwohls hingenommen werden. Im EU und internationalen Recht ist das Vorsorgeprinzip im Wesentlichen auf das Problem der Ungewissheit bezogen. Obwohl es in der Literatur in vielfältiger Weise definiert und interpretiert worden ist, so ist die Formulierung aus der RioDeklaration weiterhin die am häufigsten gebrauchte und zitierte Fassung dieses Prinzips6: In order to protect the environment, the precautionary approach shall be widely applied by States according to their capabilities. Where there are threats of serious of irreversible damage, lack of full scientific certainty shall not be used as a reason for postponing costeffective measures to prevent environmental degradation. (Rio Declaration 1992, Principle 15)
Ungewissheit kann eine Reihe von Ursachen haben. Bei der Bewertung von Risiken lassen sich vier Typen von Ungewissheit unterscheiden7: – nicht erkannte oder nur geschätzte Variabilität bei den Endpunkten (targets) der Risikoanalysen, vor allem bei der inter-individuellen Sensibilität gegenüber gleich hohen Konzentrationen und gleichbleibender Exposition; – die Summe der systematischen und zufälligen Messfehler und der Extrapolationen bei der Interpretation von toxikologischen oder epidemiologischen Daten, bei der Dosis-Wirkungsbeziehung sowie der Berechnung der Expositionen; – genuin stochastische Prozesse, bei denen eine Indeterminanz vorliegt; – verbleibende Unwissenheit, Ahnungslosigkeit und Setzen von Systemgrenzen der Betrachtung.
Die ersten beiden Faktoren der Ungewissheit betreffen in erster Linie die Risikoabschätzung, die beiden letzten Faktoren das Risikomanagement. In den folgenden beiden Kapiteln soll zunächst der Vorsorgegedanke für die Risikoabschätzung, dann für das Risikomanagement näher erörtert werden. Um terminologische Klarheit zu gewinnen, spreche ich im ersten Falle von vorsorgeorientierter Risikoabschätzung, im zweiten Fall von der Anwendung des Vorsorgeprinzips (bei der Bewertung und beim Management von Risiken).
6 Zitiert nach: John Paterson, Sustainable Development, Sustainable Decisions and the Precautionary Principle, Nat Hazards 42(2007): 515 (516). 7 Ortwin Renn / Andreas Klinke, Environmental Risks – Perception. Evaluation and Management, in: Böhm, Gisela / Nerb, Josef / McDaniels, Timothy / Spada, Hans (eds.): Environmental Risks: Perception, Evaluation and Management, 2001: 275 (285).
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III. Vorsorge bei der Risikoabschätzung Wegen der Ungewissheit über die Variationsbreite in der Reaktion der vom Risiko betroffenen Endpunkte (Personen, Tiere, Pflanzen oder Biotope) sowie dem Auftreten von systematischen und zufälligen Messfehlern bedeutet vorsorgeorientierte Risikoabschätzung die Notwendigkeit zu einer konservativen, d. h. auf der sicheren Seite liegenden Beurteilung der Risiken. So werden zur Simulation der Variabilität Sicherheitsfaktoren von 2 bis zu 100.000 eingesetzt. Diese Faktoren setzen den Grenzwert um den entsprechenden Faktor niedriger als der vermutete bzw. gemessene Schwellenwert einer erwartbaren negativen Wirkung. Bei der Extrapolation werden häufig konservative Annahmen, also eher vorsichtige Werte bei den Parametern, zugrunde gelegt. So werden etwa bei der Extrapolation von hohen auf niedrige Dosen häufig lineare Zusammenhänge angenommen, obwohl eine quadro-lineare oder sogar logarithmische Dosis-Wirkungs-Kurve wahrscheinlicher wäre. Gleichzeitig ist aber auch klar, dass keine probabilistische Risikoabschätzung den ungünstigsten Fall und das am meisten sensible Individuum einbeziehen kann. Man kann man sich über die Breite des Spektrums (etwa 99% der Individuen) streiten, aber nicht über die Notwendigkeit einer gepoolten d. h. auf Gruppen bezogenen Betrachtung8. Was bedeutet das für die Vorsorge? Wenn man vom Vorsorgegedanke ausgeht, dann sollte man bei Risikoabschätzungen, so weit dies vertretbar ist, eher auf der Seite der Vorsicht irren als auf der Seite des „Wagemuts“. Dabei ist die Festlegung von sinnvollen Annahmen für vorsichtige Vorgehensweisen selbst nicht naturwissenschaftlich exakt vorgegeben und setzt stets ein „Werturteil“ im Sinne des Abwägens zwischen zu viel und zu wenig Vorsicht voraus. Denn maximale Vorsicht ist mit der Wahrscheinlichkeitstheorie unvereinbar; es muss stets ein vertretbares Maß an Vorsicht definiert werden, sonst müsste man im Prinzip alles, was Gefahren beinhalten kann, kategorisch verbieten. Dies kann aber niemand ernsthaft vertreten. Das vertretbare Maß an Vorsicht bei der Risikoabschätzung wird in der wissenschaftstheoretischen Literatur meist als Konvention bezeichnet9. Dazu gehört zunächst einmal die Definition dessen, was als Schaden bezeichnet wird und was in die Ermittlung des Risikos eingeht (adverse effect) oder die Wahl der Referenzgröße (etwa erwarteter Schaden pro Zeiteinheit oder pro gefahrenen Kilometer, oder pro Einheit Bruttosozialprodukt, usw.). Des Weiteren sind aber damit vor allem die Regeln gemeint, die Messstandorte, Messverfahren, Methoden zur Aggregation und Extrapolation von Messwerten usw. bestimmen. Aus normativer Sicht ist es anzuraten, dass diese Konventionen im Rahmen des Wissenschaftssystems selbst gefunden und begründet werden sollen. Innerhalb der 8 Ortwin Renn / Pia J. Schweizer / Marion Dreyer / Andreas Klinke, Risiko. Eine interdisziplinäre und integrative Sichtweise des gesellschaftlichen Umgangs mit Risiko, 2007. 9 Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Umweltstandards. Fakten und Bewertungsprobleme am Beispiel des Strahlenrisikos, 1992, S. 342 ff.
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jeweiligen scientific communities können solche auf Vorsorge bezogenen Konventionen im Diskurs der betroffenen Disziplinen (einschließlich der Kulturwissenschaften) am besten ausgehandelt werden, weil hierzu entsprechender Sachverstand und Erfahrung notwendig sind. Diese Aufgabe ist im strengen Sinne keine wissenschaftliche Tätigkeit, sondern eine auf Fachkompetenz und Folgenkenntnis beruhende Wertung. Solange deutlich ist, dass solche Wertungen auch immer Wertbezüge zu außerwissenschaftlichen Referenzsysteme umfassen und diese deshalb auch reflektiert werden müssen, ist eine Festlegung von vorsorge-orientierten Konventionen durch die Wissenschaft selbst legitim und pragmatisch empfehlenswert. In Bezug auf Risikokommunikation und öffentliche Legitimation ist es dann allerdings erforderlich, auch die Plausibilität der Konventionen vor Dritten zu rechtfertigen.
IV. Vorsorge bei der Risikobewertung und beim Risikomanagement Die zwei letzten Komponenten der Ungewissheit, „Indeterminanz“ und „Ahnungslosigkeit“, sind für die Risikoabschätzung wenig relevant. Was ich nicht weiß, kann ich auch nicht wissenschaftlich abschätzen. An dieser Stelle setzt die internationale Diskussion um das politische auf Risikomanagement bezogene Vorsorgeprinzip an. Nahezu alle Definitionen des Vorsorgeprinzips betonen die Notwendigkeit von regulativen Maßnahmen (Handlungen), bevor zweifelsfrei feststeht, ob ein intolerables Risiko besteht10. Solche Maßnahmen sind um so notwendiger, je größer die Eingriffstiefe der riskanten Aktivität ist und je irreversibler die Folgen sind. Risikobegrenzung ist in diesem Falle nicht auf eine Reduzierung des Risikos bezogen, sondern vielmehr auf eine Situationsveränderung, die so weit wie möglich Irreversibilitäten vermeidet. In der internationalen Literatur wird dieser Ansatz auch gerne als Resilienzstrategie bezeichnet11. Mit regulativen Maßnahmen soll das System der Risikokontrolle robust und weniger verwundbar gemacht werden. Das Gebot der Vorsorge gegen noch unbekannte Wirkungen von Umweltbelastungen wird in zwei unterschiedlichen Ausprägungen zur Geltung gebracht12: (1) Das Prinzip der geringstmöglichen Emission (im englischen Sprachraum als „ALARA-Prinzip“ bekannt; as low as reasonably achievable): nach diesem Grundsatz muss jede Emission so weit wie möglich reduziert werden, wobei 10 s. den Sammelband von Tim O’Riordan / James Cameron, Interpreting the Precautionary Principle Earthscan, 1994. 11 David Collingridge, Resilience, Flexibility and Diversity in Managing the Risks of Technologies, in: Hood, Christopher / Jones, David K. C. (eds.): Accident and Design: Contemporary Debates in Risk Management, 1996: 40 – 45. 12 Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Fn. 9), S. 370 ff.
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die Grenze der Möglichkeit bei dem gerade noch wirtschaftlich und sozial vertretbaren Aufwand zur Reduktion liegt. (2) Der Stand der Technik: Nach diesem Grundsatz muss jede Emission unterbleiben, die mit einer auf dem Markt vorhandenen und erprobten Rückhaltetechnik vermieden werden könnte. Die Anwendung beider Prinzipien führt bei nutzentheoretischer Sicht zu suboptimalen Lösungen, da Aufwand und Nutzen nicht systematisch miteinander verglichen werden. Theoretisch kann bei Anwendung dieses Grundsatzes ja nach verfügbaren Technikoptionen ein potentiell gefährlicher Schadstoff in großen Mengen emittiert werden oder auch umgekehrt ein an sich wenig schädlicher Stoff weit unterhalb des Schwellenwertes begrenzt werden. Bei der Diffusion neuer Technologien sind die Risiken im Anfangsstadium der Entwicklung häufig größer als die späteren Risiken im Reifestadium. Somit mögen neue Techniken langfristig eine Risikoreduzierung versprechen, können jedoch nach dem Stand der Technik nicht eingeführt werden, weil die alten bereits ausgereiften Technologien geringere Risiken aufweisen als die neuen Techniken im Anfangsstadium ihrer Entwicklung. Ähnliches gilt auch für das ALARA-Prinzip: An welchem Punkt eine Reduktion nicht mehr vernünftigerweise vertretbar ist (unbestimmtes Rechtsprinzip), ergibt sich entweder aus einer formalen Analyse der systematischen Abwägung von Nutzen und Risiken (die aber bei hoher Unsicherheit nicht vorgenommen werden kann) oder als Resultat einer Betrachtung des Aufwandes zur Risikoreduktion, gleichgültig ob damit ein wirklicher Nutzen für Gesundheit und Umwelt verbunden ist. In der neueren Diskussion sind neben den klassischen Elementen der Minimierung und des Standes der Technik innovative Formen der Risikoregulierung nach dem Vorsorgeprinzip entwickelt worden. Darunter sind vor allem die sog. Containment Methoden zu nennen, nach denen ein Produkt oder ein Verfahren mit einem noch ungewisses Risiko erst langsam in Zeit und Raum diffundieren dürfen, bis einigermaßen klar ist, ob ein zum Zeitpunkt der Einführung nicht unplausibles Risiko auch in Wirklichkeit besteht oder nicht13. Mit der Begrenzung in Raum und Zeit werden mögliche Irreversibilitäten vermieden oder zumindest deren Auswirkungen zeitlich und räumlich begrenzt. In der Diskussion sind auch neue Haftungsund Versicherungsmodelle, die Risikoverursacher dazu motivieren sollen, mögliche Risiken frühzeitig zu erkennen und diese kontinuierlich im Sinne eines Monitorsystems zu beobachten. Dabei können auch öffentlich Zuschüsse für die Versicherungsprämien geleistet werden, wenn die mit dem Risiko verbundene Innovation zusätzliche positive Effekte für Wirtschaft und Gesellschaft bringt. 13 Ortwin Renn, Integriertes Risikomanagement als Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung, in: Popp, Reinhold / Schüll, Elmar (Hrsg.): Zukunftsforschung und Zukunftsgestaltung. Beiträge aus Wissenschaft und Politik, 2009, S. 553 ff.
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Besonders interessant ist auch die Möglichkeit, bei hoher Ungewissheit über noch nicht bekannte Wirkungen die Eigenschaften des Risikos selbst als Kriterien für die Anwendung des Vorsorgeprinzips zu nutzen. Der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen hat in seinem Jahresgutachten von 1998 vorgeschlagen, die Kriterien Ubiquität, Persistenz und Irreversibilität als Ersatzvariable für die Beurteilung von Risiken heranzuziehen; und zwar in den Fällen, in denen über Wirkungen noch keine hinreichend genaue Kenntnis vorliegt14. In einem von der EU finanzierten Projekt entwickelte ein Team um den Chemiker Ulrich Müller-Herold ein quantitativ messbares Filtersystem, das auf der Basis bestimmter Stoffeigenschaften (hazards) eine Vorauswahl nach dem Vorsorgeprinzip ermöglicht15. Institutionell macht es Sinn, die Frage nach der richtigen Balance zwischen zu viel und zu wenig Vorsicht bei der Bewertung der noch unsicheren Folgen nicht allein den Wissenschaftlern oder auch den Behörden zu überlassen. Da bestimmte Gruppen – bei zu viel Vorsorge sind es die Nutznießer des Risikos, bei zu wenig Vorsorge die Geschädigten des Risikos – die Folgekosten für diesen Balanceakt tragen müssen, sollten diese Gruppen auch bei der Festlegung des Ausmaßes der Vorsorge eingebunden werden. Eine Expertengruppe der Berliner Akademie der Wissenschaften hatte zu diesem Zweck die Einrichtung eines Risiko- und Umweltrates (analog dem Modell des deutschen Wissenschaftsrates) vorgeschlagen16. Die erste Instanz (im wesentlichen Wissenschaftler) sollte die vorsorgeorientierte Risikoabschätzung sicherstellen, die zweite Instanz eine Umsetzung des Vorsorgeprinzips im Sinne eines rational begründbaren und von den die Kosten tragenden Parteien zustimmungsfähigen Kompromisses gewährleisten. Dieser Vorschlag wurde von der ad hoc Risikokommission des Bundes, die von 2001 bis 2003 die Bundesregierung beraten hat, aufgegriffen und dem Bund empfohlen, einen Risikorat einzurichten, der diese Aufgabe übernehmen soll.17
V. Die europäische Dimension Die Europäische Kommission hat in ihrem Kommunikationspapier aus dem Jahre 2000 festgelegt, dass die europäische Umweltpolitik auf dem Vorsorgeprinzip beruhen soll18. Im europäischen Kontext bedeutet Vorsorge, dass bei Stoffen, die potentiell umweltschädigend sind und daher unter Umständen schädigende WBGU (Fn. 3), S. 53 ff. Ulrich Mueller-Herold / Marco Morosini / Olivier Schucht, Choosing Chemicals for Precautionary Regulation: A Filter Series Approach, Environmental Science and Technology 2005, 39 (3): 683 – 691. 16 Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Fn. 9), S. 475 ff. 17 Ad hoc Kommission (Fn. 4), S. 3. 18 European Commission, Communication from the Commission on the Precautionary Principle, KOM(2000) 1 endg. 14 15
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Effekte auf den Menschen haben können, regulativ eingegriffen wird, auch wenn abschließende Nachweise zur schädigenden Wirkung der Stoffe noch nicht gefunden worden sind. Über die letzten Jahre hinweg entbrannte ein heftiger Streit zwischen den Vertretern des traditionellen, auf Risiko basierenden Ansatzes einerseits, und den Vertretern des neueren, auf Vorsorge basierenden Ansatzes andererseits über die Rechtmäßigkeit ihres jeweiligen Ansatzes19. Vertreter des Risiko-Ansatzes argumentieren, dass Vorsorgestrategien wissenschaftliche Resultate ignorieren und zu willkürlichen regulativen Entscheidungen führen. Die Vertreter des Vorsorge-Ansatzes hingegen haben argumentiert, dass Vorsorge nicht mit dem Bann von Substanzen oder Aktivitäten gleichzusetzen ist; vielmehr bedeute die Anwendung des Vorsorgeprinzips eine graduelle, schrittweise Diffusion risikoreicher Aktivitäten oder Technologien, bis mehr Wissen und Erfahrung gesammelt werden können20. Es überrascht nicht, dass Umweltschutzgruppen den Vorsorge-Ansatz unterstützen, während sich die meisten Industrie- und kommerziellen Gruppen für den Risiko-Ansatz einsetzen. Dieser Konflikt ist bis heute nicht gelöst, und die Debatte hat nach der Niederlage der Europäischen Kommission hinsichtlich einer Einigung mit der WTO bezüglich der Verwendung von Hormonen in Rindern an Schärfe gewonnen. Der Europäischen Kommission gelang es nicht, ausreichende Beweise vorzulegen, dass das Vorsorgeprinzip Restriktionen gegenüber importiertem Fleisch, das von hormonbehandelten Rindern stammt, rechtfertigen würde. Da die Anwendung des Vorsorgeprinzips bleibende Auswirkungen auf regulative Entscheidungen und den internationalen Handel haben kann, stehen mehr als nur theoretische oder akademische Überlegungen auf dem Spiel. In Abhängigkeit des gewählten Ansatzes verändern sich politische Vorgaben und Regeln. Die Anwendung des Vorsorgeprinzips hat damit direkte Auswirkungen auf die ökonomische Konkurrenzfähigkeit, das Niveau des öffentlichen Gesundheitswesens, sowie die Umweltqualität 21. Um zu konkreten Vorsorgemaßnahmen gelangen zu können, fordert die Europäische Kommission eine klare Definition wie dieser Ansatz angewendet werden soll. Dabei hat sie folgende Kriterien zugrunde gelegt: – Konsistenz und Kohärenz – Nicht-Diskriminierung – Spezifizität (nicht willkürlich) – Proportional zur „Bedrohung“ stehend – Einbindung von Nutzenbetrachtungen 19 Elizabeth Fisher, Precaution, Precaution Everywhere: Developing a ,Common Understanding‘ of the Precautionary Principle in the European Community, Maastricht Journal of European and Comparative Law 2002, 9 (1): 7 – 46. 20 Ortwin Renn, Precaution and Analysis: Two Sides of the Same Coin?, EMBO Reports 8: 303 – 304. 21 Patrick van Zwanenberg / Andrew Stirling, Risk and Precaution in the US and Europe, in: Somsen, Han et al. (eds.), Yearbook of European Environmental Law 3 (2004): 43 – 57.
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– Praktikabilität – Kompatibilität mit europäischen Gesetzen – Kompatibilität mit internationalen Normen.
Diese Kriterien müssen von den Vorsorge-Konzepten nach Ansicht der EU erfüllt sein, damit das Prinzip rechtswirksam umgesetzt werden kann. Wie aber lassen sich diese Ziele praktisch umsetzen? Und vor allem: Wie kann sichergestellt werden, dass die Anwendung des Vorsorgeprinzips nicht zu einer Behinderung von notwendigen Innovationen führt? Dazu im Folgenden einige grundsätzliche Überlegungen.
VI. Differenzierung zwischen Komplexität, Ungewissheit und Ambivalenz Ich betrachte in diesem Zusammenhang Vorsorge als einen umsichtigen und rational nachvollziehbaren Umgang mit Ungewissheit in Situationen, in denen das Ausmaß der potentiellen Schäden und / oder die Wahrscheinlichkeit ihres Eintreffens unbekannt oder umstritten sind, jedoch plausible Hypothesen über potentiell negative Auswirkungen vorliegen, obwohl der letztendliche empirische Nachweis einer Schädigung nicht gegeben ist22. Eine solche Sichtweise von Vorsorge bedingt eine Vorgehensweise, die vor allem auf Reversibilität von Entscheidungen abzielt. Dabei werden neben den klassischen Komponenten Ausmaß und Wahrscheinlichkeit, bei denen ja Ungewissheit herrscht, andere spezifischen Charakteristika von Risiken zur Beurteilung herangezogen. Darunter fallen vor allem: Ubiquität, Persistenz, Reversibilität, Mobilisierungspotenzial u. a. Auf Vorsorge hin orientierte Maßnahmen reichen von der Entwicklung von Substituten über die Anwendungseingrenzung bis hin zu institutionellen Prinzipien wie die oben besprochenen Strategien von ALARA („as low as reasonable achievable“) und Stand der Technik. In diesem Konzept ist Vorsorge ein integraler Bestandteil eines umfassenden Management–Konzeptes für Risiken, das ich bereits für den International Risk Governance Council in Genf ausgearbeitet habe. Dieses Konzept beruht auf einer Aufteilung der Risikoproblematik in drei Komponenten: Komplexität, Unsicherheit und Ambivalenz (bzw. Ambiguität)23.
22 Andreas Klinke / Ortwin Renn, Precautionary Principle and Discursive Strategies. Classifying and Managing Risks, Journal of Risk Research 2001, vol. 4 (2): 159 – 174. 23 Original in: International Risk Governance Council (IRGC), Risk Governance: Towards an Integrative Approach. White Paper No. 1, 2005, written by Ortwin Renn with an annex by Peter Graham. More detailed in: Ortwin Renn, Risk Governance. Coping with Uncertainty in a Complex World, 2008.
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Komplexität verweist auf die Schwierigkeit, kausale Beziehungen zwischen einer großen Anzahl von potentiellen Ursachen und spezifischen, nachteiligen Effekten über viele Zwischenschritte zu identifizieren und zu quantifizieren. Unsicherheit schmälert die Zuverlässigkeit von Aussagen hinsichtlich der geschätzten Ursache-Wirkungs-Kette. Ambivalenz deutet auf die Variabilität von (legitimen) Interpretationen hin, die auf identischen Beobachtungen oder Datenanalysen basieren. Die meisten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen im Gebiet der Risikoanalyse und des Risikomanagements weisen nicht auf Differenzen hinsichtlich der Methodologie, der Messverfahren oder Grenzwertfunktionen hin, sondern sind vielmehr auf die Frage zurückzuführen, was diese Expositionen für die menschliche Gesundheit, den Umweltschutz sowie die gesellschaftliche Akzeptabilität bedeuten.
In der internationalen Literatur ist die Unterscheidung zwischen Unsicherheit und Ambivalenz oft nicht gegeben. Es wird zu wenig zwischen Aussagen über Tatsachen und Aussagen zu deren Bewertung aus unterschiedlichen Wert-Perspektiven getrennt. Aus meiner Sicht ist es aber zwingend notwendig, zumindest analytisch zwischen Ungewissheit (bzw. Unsicherheit) und Ambivalenz (bzw. Ambiguität) zu differenzieren. Unsicherheit und Ungewissheit beziehen sich auf die Variabilität von kognitiven Aussagen über die möglichen Folgen von Aktivitäten oder Ereignissen (was kann passieren?). Ambivalenz oder Ambiguität beziehen sich auf die Variabilität evaluativer Aussagen über die Wünschbarkeit oder moralische Bewertung der möglichen Folgen von Aktivitäten oder Ereignissen (wie sind die abgeschätzten Folgen nach bestimmten Kategorien zu bewerten?). Zwar sind häufig unsichere oder ungewisse Aussagen auch in der Bewertung besonders kontrovers, dennoch gibt es genügend Beispiele, wo wenig umstrittene Folgenaussagen auf höchst unterschiedliche Weise interpretiert und bewertet worden sind. Welche Drogen zum Beispiel in einer Gesellschaft als sozial akzeptabel oder inakzeptabel eingestuft werden, hat wenig mit der Ungewissheit über ihre gesundheitlichen Folgen (und auch wenig über die Höhe der zu erwartenden Schäden) zu tun, sondern ist das Produkt historischer Entwicklungen und politischer Traditionen (etwa fürsorgeorientiertes versus individualrechtsbezogenes Staatsverständnis). Aus diesem Grund ist auch der Umgang mit Unsicherheit vom Umgang mit Ambivalenz zu differenzieren. Je höher die Ungewissheit, desto wichtiger sind Maßnahmen der Resilienz, d. h. der Vermeidung von Irreversibilitäten und der Risikostreuung. Je höher die Ambivalenz, desto wichtiger sind Maßnahmen der Risikokommunikation und der Einbindung von betroffenen Gruppen in die Entscheidungsfindung. Denn bei der Ambivalenz geht es weniger um die naturwissenschaftliche Charakterisierung und Messung von Risiken als vielmehr um deren symbolische, kulturelle oder soziale Bewertung in einer pluralistischen Gesellschaft. Für diese Bewertung sollten die Vertreter der gesellschaftlichen „Werte“ auch direkt einbezogen werden. Bei wenig kontroversen Risiken reicht es aus, wenn dafür geschaffene Institutionen stellvertretend für alle die Bewertung vornehmen.
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Um die Probleme von Unsicherheit und Ambivalenz besser einordnen zu können, ist eine Aufteilung in: – Routine-Risiken, – komplexe, aber wissenschaftlich zugängliche und abschätzbare Risiken – Risiken mit einem hohen Grand an verbleibenden Ungewissheiten sowie – Risiken mit einem hohen Grad an Ambivalenz und kontroverser Einschätzung
zu empfehlen24. Im ersten Fall der Routine Risiken gehen wir davon aus, dass sowohl die Eintrittswahrscheinlichkeit wie das Ausmaß bekannt sind und dass weder die Risikoquelle selbst noch die Managementmaßnahmen in der Gesellschaft strak umstritten sind. In diesem Fall brauchen weder bei der Abschätzung noch bei dem Management Vorsorgekriterien einbezogen werden. In den anderen drei Fällen sind jedoch Vorsorgemaßnahmen sinnvoll und angebracht. Welche dies aber sein sollen, richtet sich nach der Mischung von Komplexität, Ungewissheit und Ambivalenz. Komplexe Risiken bedürfen einer eingehenden wissenschaftlichen Prüfung (etwa durch spezialisierte Beiräte und / oder Bundesämter). Diese Gremien müssen natürlich organisatorisch an der richtigen Stelle eingebunden werden. Hier kommen vor allem die Instrumente und Konventionen zur Vorsorge bei der Risikoabschätzung zum Tragen. Sind diese aber eingehalten, muss beim Risikomanagement nicht weiter nach dem Vorsorgeprinzip vorgegangen werden. Sind komplexe Risiken auch noch in ihren Auswirkungen unsicher, dann sind zusätzliche Vorsorgemaßnahmen angebracht. Zunächst sind hier die vorsorgeorientierten Instrumente des Risikomanagements gefragt, die eine Reversibilität der Risikoentscheidung ermöglichen. Dazu gehören vor allem das Containment und ein begleitendes Monitoring. Darüber hinaus können auch zusätzlich der Stand der Technik oder das ALARA Prinzip zur Geltung kommen, wenn gleichzeitg geprüft wird, ob nicht alternative Möglichkeiten insgesamt weniger Risiken mit sich bringen würden. Dennoch können diese Maßnahmen nicht verhindern, dass es negative Überraschungen gibt oder dass die Vorsorgemaßnahmen sich als völlig übertrieben erweisen. Deshalb ist bei unsicheren Risiken zusätzlich ein Risikodialog mit dem Ziel einer nachvollziehbaren Abwägung zwischen übertriebenem Schutz mit innovationsfeindlicher Wirkung und allzu forschem Wagemut mit möglicherweise nicht tolerierbaren Risiken für Gesundheit und Umwelt erforderlich. Für diesen Dialog erschiene mir ein Gremium aus wichtigen gesellschaftlichen Gruppen (Arbeitgeber, Gewerkschaften, Konsumentenverbände, Umweltverbände, etc.) durchaus geeignet. Ein solcher Diskurs hätte die Aufgabe, zum einen die Betroffenen über die Unsicherheiten zu informieren und deren Zustimmung einzuholen (informed consent), zum anderen aber auch mögliche Kompensationsmaßnahmen auszuhan24
IRGC (Fn. 23), S. 29 ff.
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deln, wenn sich das Risiko als höher erweist als gedacht (etwa durch Versicherungsverträge). Auch könnte diese Funktion der mehrfach geforderte Risikorat übernehmen, wenn er pluralistisch zusammengesetzt würde. Bei hoher Ambivalenz des Risikos ist eine andere Art der Vorsorge notwendig. Hier bringt es wenig, etwa die Grenzwerte vorsorglich zu verschärfen oder das ALARA Prinzip einzuführen. Bei ambivalenten Risiken ist oft die gesamte Aktivität bzw. auch der Nutzen umstritten25. Beispiele dafür sind Mobilfunkanlagen, die grüne Gentechnik oder das Therapeutische Klonen. Kriterien der Risikoakzeptanz sind dann weniger die Tolerierbarkeit der gesundheitlichen oder umweltbezogenen Risiken als die Wünschbarkeit diese Aktivitäten oder des Einsatzes der Technologien unter sozialen, kulturellen religiösen und ethischen Maßstäben. Bei ambivalenten Risiken muss der Diskurs weiter in die Gesellschaft hineingetragen werden. Öffentliche Foren, Planungszellen, Bürgerforen, Konsensuskonferenzen u. a.m. sind hier interessante Instrumente, um gemeinsame Orientierung zu entwickeln und gesellschaftlich auszuloten, wie man in einer pluralen Wertegemeinschaft verbindliche Zielsetzungen und Zukunftsentwürfe entwickeln und umsetzen kann. Wie man im Einzelnen diese Diskurse führen kann, soll nicht Gegenstand dieses Aufsatzes sein. Darüber haben viele Autoren und auch ich selbst einiges zusammengetragen26. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist der Versuch des Wissenschaftszentrums Berlin gewesen, unter der Leitung des Soziologen Wolfgang van den Daele einen Diskurs über die Anwendung der Gentechnik bei herbizidresistenten Nutzpflanzen zu führen, in dem die Probleme der Risiken und ihrer Ambivalenzen ausgiebig behandelt wurden. Nur der diskursive Ansatz weist m. E. einen sachlich kompetenten und moralisch vertretbaren Weg für den angemessenen Umgang mit Risiken mit hoher Ambivalenz auf.
VII. Schlussbetrachtung Risikoabschätzung und Risikomanagement nach dem Vorsorgeprinzip sind Instrumente, um uns gegen ungewisse Folgen der Technik abzusichern. Gleichzeitig darf es aber nicht dazu kommen, dass wichtige Innovationen verhindert oder aufgehalten werden. Wir müssen bei aller Risikovorsorge von der Vorstellung Abstand nehmen, wir könnten alle gefährlichen Ereignisse und Entwicklungen vorhersagen und durch präventives Handeln ausschließen. Risikoanalysen sind bestenfalls in der Lage, unsere Chancen einer bewussten Zukunftsgestaltung aufzuwerten. Sie 25 Andrew Stirling, Risk Assessment in Science: Towards a More Constructive Policy Debate, EMBO Reports 8: 309 – 315. 26 Überblick in: US-National Research Council of the National Academies, Public Participation in Environmental Assessment and Decision Makin, 2008, sowie Ortwin Renn, The Challenge of Integrating Deliberation and Expertise: Participation and Discourse in Risk Management, in: McDaniels, Timothy / Small, Mitchell J. (eds.): Risk Analysis and Society. An Interdisciplinary Characterization of the Field, 2004: 289 – 366.
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können dazu beitragen, auf mögliche Folgepotentiale von Innovationen hinzuweisen und damit Fehler im Voraus zu vermeiden. Vor allem kann vorsorgeorientiertes Risikomanagement eine Hilfestellung bieten, um auch in Zukunft Handlungsfreiheit zu erhalten, um bei einer möglichen Fehlentwicklung, also der Erfahrung überwiegend negativer Auswirkungen, flexibel genug zu sein, um auf andere Optionen ausweichen zu können. Diese Überlegung führt zu der Forderung, nicht alles auf eine Karte zu setzten. Diversifizierung und Flexibilisierung sind zwei zentrale Mittel, um Systeme auch gegenüber immer wieder auftretenden Überraschungen anpassungsfähig zu gestalten. Daraus folgt, dass das Ziel des Vorsorgeprinzips die Reversibilität von Entscheidungen sein muss, allerdings nicht – wie oft missverstanden – die Reversibilität einzelner Folgen. Damit würden wir uns als Gesellschaft völlig überfordern. Über diese allgemeinen Aussagen zur Verringerung von Verwundbarkeiten hinaus können wir aber weder eindeutige Antworten über die erwartbaren Technikfolgen, noch allgemeingültige Kriterien zur ihrer Bewertung angeben. Wir werden mit einem gewissen Grad an Ungewissheit und Ambivalenz leben müssen. Jeder Einsatz der Technik erfordert von uns eine Abwägung der bei aller Möglichkeit der Modifikation zwangsweise gegebenen und miteinander verwobenen Vor- und Nachteile – und dies bei unaufhebbarer Ungewissheit über die tatsächlich eintretenden Folgen. Was ergibt sich aus dieser Problemsicht für die Umsetzung des Vorsorgeprinzips? Erstens, Risikomanagement muss sich nach dem Grad von Komplexität, Unsicherheit und Ambivalenz ausrichten Je komplexer eine Fragestellung, desto wichtiger sind die Instrumente der Vorsorge im Bereich der Risikoabschätzung. Je unsicherer die Folgen, desto wichtiger sind Maßnahmen eines vorsorgenden Risikomanagements. Und je ambivalenter und umstrittener die Folgen, desto eher muss ein Diskurs mit den maßgeblichen Gestaltungskräften der Gesellschaft über die Akzeptabilität der Technologie oder der Aktivität geführt werden. Da helfen weder strengere Grenzwerte noch mehr Monitoring der Nebenfolgen. Ob diese Ausbalancierung der Vorsorgemaßnahmen gelingen wird, hat nicht nur Einfluss auf die Zukunft der Risikoanalyse als Mittel der Zukunftsvorsorge, sondern wird auch maßgeblich unsere Möglichkeiten bestimmen, ob und inwieweit wir in Zeiten schnellen technischen Wandels in eigener Verantwortung und mit Blick auf die für uns als wesentlich erkannten Werte des Menschsein handlungsfähig bleiben können.
Das Innovationspotenzial des Vorsorgeprinzips unter besonderer Berücksichtigung des integrierten Umweltschutzes Von Christian Calliess* I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 II. Das Innovationspotenzial des Vorsorgeprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 1. Rechtliche Legitimationsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 2. Zum Inhalt des Vorsorgeprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 3. Vorsorgeprinzip, Beweislastumkehr und Begleitforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 4. Das Beispiel des Chemikalienrechts im Kontext von REACh . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 III. Das Innovationspotenzial des integrierten Umweltschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 1. Vorsorgeprinzip und integrierter Umweltschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2. Zum Ansatz des integrierten Umweltschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 3. Konkretisierung des integrierten Umweltschutzes im geltenden Recht . . . . . . . . . 135 4. Impulse zur Innovationsförderung in der integrierten Vorhabensgenehmigung . . 138 a) Der UGB-Referentenentwurf 2008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 b) Die integrierte Vorhabengenehmigung als innovative Koppelung von Umweltrecht und Umweltpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 IV. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
I. Einführung Ein wesentliches Ziel rechtswissenschaftlicher Innovationsforschung ist es, die Rechtsordnung so zu konzipieren und Recht so anzuwenden, dass technologische, ökologische, soziale und kulturelle Innovationen stattfinden können.1 Innovationen sollen aber möglichst nur zu solchen Folgen führen, die gesellschaftsverträglich * Ich danke meiner Wiss. Mitarbeiterin Frau Eun-Kyung Lee für ihre hilfreiche Unterstützung beim Verfassen der Ausführungen zum integrierten Umweltschutz. 1 Wolfgang Hoffmann-Riem, Innovationsoffenheit und Innovationsverantwortung durch Recht, AöR 131 (2006), S. 255 (257).
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sind oder im Interesse aller Bürger liegen. Ziel rechtswissenschaftlicher Innovationsforschung ist es daher auch, die Innovationsfolgen an den normativen Orientierungen der Gesellschaft zu messen, insbesondere an verfassungsrechtlichen Vorgaben, die aus den Grundrechten und verfassungsrechtlich verankerten Staatszielen fließen.2 Wenn also auch im Kontext rechtswissenschaftlicher Innovationsforschung die Sicherung des Gemeinwohls mithilfe des Rechts ein Kernelement ist, dann ist ohne Einmischung des Rechts in Innovationsprozesse ein Verlust an verfassungsgebotener Innovationsverantwortung zu befürchten. Infolge dessen geht es darum, den Instrumentenpool des Rechts daraufhin zu untersuchen, welches Recht am besten geeignet ist, eine unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten ausgewogene Balance zwischen Innovationsoffenheit und Innovationsverantwortung zu gewährleisten.3 Nun bringt die Entwicklung der Wirtschaft – kombiniert mit derjenigen von Wissenschaft und Technik – neben den vielfältigen Chancen als unbeabsichtigte Nebenfolge auch neue Risiken, die über die Gefahren der ersten Industrialisierungsphase weit hinausgehen, mit sich. Da aber weder in der Forschung effektive Ansätze zur Selbstbegrenzung und Folgenverantwortung existieren, noch in der Wirtschaft eine andere Grenze als die der Wirtschaftlichkeit gilt, wird an den Staat die Erwartung herangetragen, der im weitesten Sinne ökonomisch motivierten Risikoproduktion Grenzen zu setzen. Problematisch ist insoweit, dass der Staat mangels erfahrungsbasierter Kenntnis aller Schadensquellen und -folgen keine präzisen und wirkungssicheren Auflagen zur Schadensverhütung machen kann, gleichzeitig aber auch das Instrument des Schadensersatzes und Versicherungsschutzes als Kompensation für eingetretene Schäden versagt, da es angesichts des ubiquitären Charakters der meisten Schäden an einem eindeutig feststellbarem Verursacher fehlt. Damit wandelt sich die Aufgabe des Staates von der status quo-bezogenen, auf Bewahrung oder Wiederherstellung eines störungsfreien Zustands gerichteten Gefahrenabwehr zur zukunftsbezogenen, den Prozess der wissenschaftlich-technischen Veränderung der Gesellschaft steuernden Risikovorsorge.4 Maßgebliche Konsequenz der Erweiterung des klassischen Gefahrenabwehrmodells durch das Vorsorgemodell ist die Vorverlagerung des zulässigen Eingriffszeitpunkts für staatliche Maßnahmen.5 In diesem Kontext bleibt das klassische Ordnungsrecht unverzichtbar. Es steht jedoch in dem Ruf, nicht innovationsoffen bzw. sogar innovationshemmend zu sein, indem es mit dem Ziel der Risikovorsorge oder Gefahrenabwehr der gesellWolfgang Hoffmann-Riem (Fn. 1), S. 256 (267). Wolfgang Hoffmann-Riem (Fn. 1), S. 268 (271). 4 Dieter Grimm, Zukunft der Verfassung, 1. Aufl. 1991, S. 418; ähnlich Reiner Schmidt, Der Staat der Umweltvorsorge, DÖV 1994, S. 749 (751 ff.); Udo Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 27 ff. 5 Dazu ausführlich Christian Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 154 ff. 2 3
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schaftlichen Innovation Grenzen setzt. Nicht von ungefähr gerät das Vorsorgeprinzip, ebenso wie das dieses konkretisierende Umweltrecht, daher auch immer wieder in die Kritik: Umweltschützende Vorkehrungen verursachten bei den Betroffenen in der Regel erhöhte Kosten.6 Strenge Umweltanforderungen könnten dazu führen, dass ein Produkt nicht mehr zu einem kostendeckenden Preis abgesetzt oder eine Anlage nicht mehr rentabel betrieben werden könne. Infolgedessen könnten Arbeitsplätze bedroht sein, der gesamtwirtschaftliche Wohlstand werde gemindert. In diesem Zusammenhang birgt das Zusammenwachsen der Weltwirtschaft, die sogenannte Globalisierung, zusätzliche Brisanz, als die nationale Festlegung von relativ hohen Umweltstandards die internationale Wettbewerbsfähigkeit der betroffenen Unternehmen verschlechtern kann. Vor diesem Hintergrund ist die latente Standort-Debatte in Deutschland zu sehen, in der – unter den Stichworten „Deregulierung, Vereinfachung, Flexibilisierung, Beschleunigung, Privatisierung“ – immer wieder eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für Investitionen eingefordert wird.7 Dabei wird zwar das Ordnungsrecht an sich zumeist nicht in Frage gestellt: „Die eigentlich treibende Kraft für den Umweltschutz ist das Ordnungsrecht. Administrative Kontrolle . . . , gesetzliche Verbote und Gebote sowie Umweltpflichten für Betreiber und Bürger . . . steuern unmittelbar das Verhalten. Nach Untersuchungen werden 70 % der Umweltschutzinvestitionen durch Gesetze und Verordnungen veranlasst. Allerdings sagt diese Ursache-Wirkung-Beziehung nichts über die Effizienz aus“8. Daher wird die Frage aufgeworfen, ob die Höhe der Investitionen in einem „vernünftigen Verhältnis“ zum zusätzlichen Gewinn an Umweltschutz steht9. Insbesondere aber wird von den Unternehmen die innovationshemmende Wirkung der „wachsenden Normenflut“ bzw. „Überregulierung“ beklagt10: Normative Erschwernisse wirkten auf den Innovationswettbewerb, der durch die Faktoren Zeit, Kosten und Kreativität bestimmt wird, in erheblichem Umfang ein. Neben der Unausgewogenheit zwischen normierungsbedingtem Aufwand und dem damit erreichten Erfolg sei ein zunehmender Hang des Gesetzgebers zu Detailregelungen zu verzeichnen, dem eine übertriebene Kontrolldichte der Rechtsprechung11 ent6 Dazu mit Beispielen und weiteren Nachweisen Hellmut Wagner, Effizienz des Ordnungsrechts für den Umweltschutz?, NVwZ 1995, S. 1046 (1047 f.); Peter J. Tettinger, Rechtsänderungen zur „Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland“ – Umweltschutz im Gegenwind?, NuR 1997, S. 1 f. 7 Exemplarisch Wagner (Fn. 6), S. 1047 f.; Ulrich Mutschler, Rechtsstaatsdefizite im Bereich der Aufsicht über technische Großvorhaben, UTR 15 (1991), S. 73 ff.; Michael Ronellenfitsch, Selbstverantwortung im Umweltrecht und Deregulierung, in: Nicklisch, Fritz (Hrsg.), Umweltrisiken und Umweltprivatrecht im deutschen und europäischen Recht, 1995, S. 191 (insbesondere S. 199 ff.); Martin Bullinger, Investitionsförderung durch nachfragegerechte und kooperative Beschleunigung von Genehmigungsverfahren, JZ 1994, S. 1129 ff.; Tettinger (Fn. 6), S. 1 ff. 8 Wagner (Fn. 6), S. 1047 f.; ähnlich Ronellenfitsch (Fn. 7), S. 200. 9 Wagner (Fn. 6), S. 1047 f. 10 Mutschler (Fn. 7), S. 76; Wagner (Fn. 6), S. 1048.
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spreche. Neue und komplizierte Genehmigungsverfahren, mehrstufige Verwaltungsverfahren und Bürgerbeteiligung ließen Zeitaufwand und Unsicherheit bei der Umsetzung von Investitionsvorhaben anwachsen: „Das . . . auf Optimierung bürgerschaftlicher Partizipation und mehrfach abgesicherte Integration aller auch nur entfernt relevanten Individualinteressen und Gemeinwohlaspekte angelegte und dadurch überkomplizierte bundesdeutsche Verwaltungsrecht, insonderheit das opulente Verwaltungsverfahrensrecht, ist augenscheinlich in einer Hinsicht völlig untauglich: rasche Entscheidungen zu ermöglichen“12. Mit Blick auf den Normvollzug durch die Verwaltung werden die unzureichende personelle und sachliche Ausstattung der Behörden, die fehlende Entscheidungsfreude aus Angst vor Justiz und sensibilisierter Öffentlichkeit, die mangelhaften Abstimmungsverfahren unter den verfahrensbeteiligten Behörden, der bürokratische Aufwand und eine zu rigide Anwendung der rechtlichen Vorgaben zu Lasten der Unternehmen als Gründe für die lange Verfahrensdauer bemängelt.13 Dieser Kritik, die schon mit Blick auf verfassungsrechtliche Vorgaben (Art. 20a GG, grundrechtliche Schutzpflichten) in ihrer Absolutheit zu weit greift14, kann die rechtswissenschaftliche Innovationsforschung begegnen, indem sie aufzeigt, dass imperatives Recht auch Innovationen stimulieren kann.15 Gerade weil das Vorsorgeprinzip insoweit oftmals im Zentrum der Kritik steht, soll nachfolgend untersucht werden, ob und inwieweit sich im Vorsorgeprinzip Innovationspotenzial verbirgt. Um die relativ abstrakte Ebene des Vorsorgeprinzips zu verlassen, wird anschließend untersucht, ob und inwieweit der das Vorsorgeprinzip konkretisierende Begriff des integrierten Umweltschutzes im Rahmen der Anlagengenehmigung Innovationspotenzial bietet. II. Das Innovationspotenzial des Vorsorgeprinzips Das Vorsorgeprinzip ist inzwischen nicht etwa nur im Recht der oftmals als ängstlich, fortschrittsfeindlich und umweltbewegt beschriebenen16 Bundesrepublik, sondern auch im Recht der USA, der EU, der WTO, ja ganz allgemein im Völkerrecht17 etabliert. Mutschler (Fn. 7), S. 84. So Tettinger (Fn. 6), S. 5. 13 Vgl. ausführlich Hans Georg Crone-Erdmann, Deregulierung aus Sicht der Wirtschaftspraxis, in: Stober, Rolf (Hrsg.), Deregulierung im Wirtschafts- und Umweltrecht, 1990, S. 47 (48 ff.). 14 Dazu Calliess (Fn. 5), S. 373 ff. 15 Hoffmann-Riem (Fn. 1), S. 272; konkrete Beispiele für das Umweltrecht bei Calliess, in: Eifert, Martin / Hoffmann-Riem, Wolfgang (Hrsg.), Innovationsfördernde Regulierung, 2009, S. 221 (226 ff., 236 ff.). 16 Vgl. dazu etwa den Beitrag von Josef Isensee, DÖV 1983, S. 565 ff. mit dem Titel „Widerstand gegen den technischen Fortschritt“; ferner Tettinger (Fn. 6), S. 5, 8; ders., Verfassungsrecht und Wirtschaftordnung, DVBl 1999, S. 679 (686 f.). 11 12
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1. Rechtliche Legitimationsgrundlagen Durch die Staatszielbestimmung des Art. 20a GG wird der Umweltstaat als gleichwertig neben den anderen in Art. 20 I, III und 28 I S. 1 GG genannten Staatsstrukturprinzipien etabliert. Die indikativische Formulierung des Art. 20a GG in Form des Wortes „schützt“ weist dem Staat die Funktion eines Treuhänders, der im Interesse der Umwelt handeln muss, zu. Aufgrund dessen sind die staatlichen Organe verpflichtet, den Schutz der Umwelt materiell und prozedural durch die Entwicklung effektiver Schutzkonzepte zu gewährleisten.18 Materiell hat der Staat durch Gefahrenabwehr, aber auch durch Risikovorsorge unterhalb der Gefahrenschwelle19 zu gewährleisten, dass alle menschlichen Aktivitäten umweltverträglich gestaltet werden bzw. sogar unterlassen werden, wenn irreversible Schäden an Umweltgütern drohen. Die aus Art. 20a GG fließende staatliche Langzeitverantwortung für künftige Generationen unterstreicht dabei die Bedeutung des Vorsorgeprinzips für den Umweltstaat. Sie stellt gleichzeitig die Verbindung zum von der Rio-Deklaration völkerrechtlich vorgegebenen Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung her.20 Im „offenen Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes können Staatszielbestimmungen dementsprechend dort, wo sich Interpretationsspielräume eröffnen, im Wege einer völkerrechtskonformen Auslegung21, konkretisierende Impulse aus dem internationalen Recht empfangen.22 Im Völkerrecht findet das Vorsorgeprinzip unter anderem23 in der den Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung konkretisierenden – rechtlich freilich nur als sog. „soft law“ einzustufenden – RioDeklaration ausdrückliche Erwähnung. Deren Grundsatz 15 zufolge sind die Staaten aufgefordert, „im Rahmen ihrer Möglichkeiten weitgehend den Vorsorgegrundsatz“ anzuwenden, wobei „ein Mangel an vollständiger Gewissheit kein Grund dafür sein“ darf, „kostenwirksame Maßnahmen zur Vermeidung von Umweltverschlechterungen aufzuschieben“, sofern „schwerwiegende oder bleibende SchäDazu der Überblick bei Calliess (Fn. 5), S. 179 ff. m. w. N. Alexander Schink, Umweltschutz als Staatsziel, DÖV 1997, S. 221 (226); Tobias Brönneke, Umweltverfassungsrecht, 1999, S. 161. 19 Brönneke (Fn. 18), S. 161 f. 20 So auch die ganz überwiegende Meinung in der Literatur: Norbert Bernsdorff, Positivierung des Umweltschutzes im Grundgesetz (Art. 20a GG), NuR 1997, S. 328 (332); Michael Kloepfer, Umweltschutz als Verfassungsrecht: Zum neuen Art. 20a GG, DVBl 1996, S. 73 (78); Kay Waechter, Umweltschutz als Staatsziel, NuR 1996, S. 321 (326). 21 Vgl. etwa BVerfGE 74, 358 (370) zur EMRK; E 82, 106 (120); E 83, 119 (128), E 88, 103 (112); Albert Bleckmann, Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung, DÖV 1996, S. 137 (140 f.). 22 Einen Überblick über diese Internationalisierung der Staatsziele gibt Karl-Peter Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 252 ff. 23 Ausführlich begründen das Vorsorgeprinzip als allgemeines völkerrechtliches Prinzip: Astrid Epiney / Martin Scheyli, Strukturprinzipien des Umweltvölkerrechts, 1998, S. 76 ff., 98 ff. und 171 ff.; vgl. ferner Walter Frenz, Deutsche Umweltgesetzgebung und Sustainable Development, ZG 1999, S. 143 ff.; Rudolf Streinz, Vorgaben des Völkerrechts für das deutsche Umweltrecht, UTR 49 (1999), S. 319 ff. 17 18
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den“ drohen.24 In noch größerem Umfang gilt dies für die Vorgaben des Europarechts, die im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund über die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung25 auf Art. 20a GG einwirken. Im Bereich der EU sieht die „Staatszielbestimmung“ des Art. 174 Abs. 2 S. 2 EGV vor, dass die Umweltpolitik der Gemeinschaft unter anderem auf den „Grundsätzen der Vorsorge und Vorbeugung“ beruht.26 Darüber hinaus scheint der EuGH das Vorsorgeprinzip, das er im BSE-Fall27 – wenn auch vermittelt über den Umweltschutz – für den Bereich des Gesundheitsschutzes wirksam macht, als allgemeines Rechtsprinzip des Gemeinschaftsrechts zu betrachten. Diese Sichtweise liegt auch der Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips28 zugrunde.29 Hier wird das Vorsorgeprinzip vor allem auf Situationen der Ungewissheit bezogen30, so dass es insbesondere dann anwendbar ist, wenn die wissenschaftlichen Beweise nicht ausreichen, keine eindeutigen Schlüsse zulassen oder unklar sind, jedoch aufgrund einer vorläufigen und objektiven wissenschaftlichen Risikobewertung Anlass zur Besorgnis besteht. Materiell betrachtet ist der durch Art. 20a GG etablierte Umweltstaat somit zuvorderst Vorsorgestaat.31 2. Zum Inhalt des Vorsorgeprinzips Vorsorge bedeutet dem Wortsinn nach die Schaffung eines Vorrats für die Zukunft durch Verzicht in der Gegenwart: Mit den zunehmend knapp werdenden natürlichen Ressourcen ist gegenwärtig sparsam umzugehen, um sie künftigen Generationen im Interesse ihrer Lebensfähigkeit als Vorrat zu erhalten. Diese Ressourcenvorsorge erfüllt zugleich den Zweck, Umweltressourcen im Interesse ihrer zukünftigen Nutzung durch Nichtausschöpfung der ökologischen Belastungsgrenzen zu schonen. Hierdurch sollen „Freiräume“ in Gestalt „künftiger Lebensräume“ 24 Dazu Meinhard Schröder, Sustainable Development – Ausgleich zwischen Umwelt und Entwicklung als Gestaltungsaufgabe der Staaten, AVR 34 (1996), S. 251 (270); Gertrude Lübbe-Wolff, Präventiver Umweltschutz – Auftrag und Grenzen des Vorsorgeprinzips im deutschen und im europäischen Recht, in: Bizer, Johannes / Koch, Hans-Joachim (Hrsg.), Sicherheit, Vielfalt, Solidarität, 1997, S. 47 (58 ff.). 25 Vgl. Peter Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff. 26 Dazu Christian Calliess, in: Calliess, Christian / Ruffert, Matthias (Hrsg.), EUV / EGV Kommentar, 3. Aufl. 2007, Art. 174, Rn. 25 ff. m. w. N. 27 EuGH, Rs 157 / 96, Slg. 1998, I-2211 (2259); Rs C-180 / 96, Slg. 1998, I-2265 (2298). 28 KOM (2000) 1 endg. vom 02. 02. 2000. 29 Hans-Werner Rengeling, Bedeutung und Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips im europäischen Umweltrecht, DVBl 2000, S. 1473 (1477 f.). 30 Kritisch insoweit Ivo Appel, Europas Sorge um die Vorsorge, NVwZ 2001, S. 395 (397), der zu Recht die Nichtberücksichtigung der für den Umweltschutz bedeutsamen ressourcenökonomischen Variante bemängelt. 31 Ausführlich dazu Calliess (Fn. 5), S. 74 ff., inbes. 153 ff.
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für Mensch und Natur sowie in Form von Belastungs- bzw. Belastbarkeitsreserven erhalten werden. Vorsorge ist aber darüber hinaus auf die Bewältigung von durch Ungewissheit und Unsicherheit definierten Risikosituationen (Risikovorsorge) angelegt. In Anlehnung an den tradierten Gefahrenbegriff lässt sich das Risiko als Sachlage definieren, in der bei ungehindertem Ablauf eines Geschehens ein Zustand oder ein Verhalten möglicherweise zu einer Beeinträchtigung von Rechtsgütern führt. Entscheidend ist also die Ersetzung der konkreten, hinreichenden Wahrscheinlichkeit durch die reine Möglichkeit, die abstrakte Besorgnis, eines Schadenseintritts. Zum Objekt der Risikovorsorge wird solchermaßen statt des Schadens bereits die Gefahr, mit dem Ziel, die Fehleinschätzung einer Gefahr zu vermeiden. Maßgebliche Konsequenz der Erweiterung des klassischen Gefahrenabwehrmodells durch das Vorsorgemodell ist die Vorverlagerung des zulässigen Eingriffszeitpunkts für staatliche Maßnahmen. Gewissermaßen wird hier durch das Vorsorgeprinzip – unter Verzicht auf bestimmte, einem Risiko korrelierende Chancen – ein Vorrat an Sicherheit geschaffen.32 Mit Blick auf seinen vorstehend skizzierten Inhalt lässt sich das Vorsorgeprinzip in einen Tatbestand, der durch die Ermittlung und Bewertung eines Vorsorgeanlasses (Ob-Frage) gekennzeichnet ist, und in eine Rechtsfolge, die durch die jeweils zu ergreifende Vorsorgemaßnahme (Wie-Frage), ergänzt um die Bestimmung eines Vorsorgeadressaten, definiert ist, strukturieren.33 Ziel muss es sein, den Vorsorgeanlass so zu bestimmen, dass ein Abgleiten der Vorsorge „ins Blaue hinein“ vermieden wird. Vor diesem Hintergrund ist zunächst eine umfassende, möglichst erschöpfende Ermittlung aller für den Vorsorgeanlass (definiert als dem Risikobegriff immanentes abstraktes Besorgnispotential im Sinne eines auch nur theoretischen, jedoch auf wissenschaftliche Plausibilitätsgründe gestützten Anfangsverdachts) maßgeblichen Informationen geboten. Der Vorsorgeanlass kann freilich nicht abstrakt festgestellt werden. Vielmehr muss er in Relation zu einem umweltrelevanten Geschehen bestimmt werden. Dieses kann in allgemeinen Programmen, Gesetzentwürfen und Gesetzen sowie allgemeinen Plänen bestehen. Es kann sich aber auch um die Genehmigung konkreter Projekte handeln. Im ersteren Falle ist primär der Gesetzgeber – dies meint alle am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe – verpflichtet. Im letzteren Falle ist primär die Exekutive gefordert. Der Gesetzgeber hat dem im Vorsorgeprinzip enthaltenen Gebot der Frühzeitigkeit entsprechend schon bei der Gestaltung aller Politiken sowie den sie umsetzenden und konkretisierenden Maßnahmen zu prüfen, ob sie negative Auswirkungen auf die Umwelt haben. Hier ist die Externe Integration gefordert, wie sie, europarechtlich vorgegeben, in der umweltrechtlichen Querschnittsklausel des Art. 6 EGV zum Ausdruck kommt. Die Querschnittsklausel – und damit die Externe Integration – erfordert in Umsetzung des Vorsorgeprinzips eine Exekutive, die sowohl institutionell als auch in ihrer Ausstattung darauf vor32 33
Calliess (Fn. 5), S. 153 ff., insbes. 176 ff. Ausführlich dazu Calliess (Fn. 5), S. 207 ff.
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bereitet ist, die Erfordernisse des Umweltschutzes im Rahmen umweltrelevanter Politiken und sie konkretisierender Maßnahmen zu integrieren. 3. Vorsorgeprinzip, Beweislastumkehr und Begleitforschung Das Vorsorgeprinzip impliziert bereits von seinem Sinn und Zweck her eine Beweislastumkehr. Denn insoweit als es ihm um die Bewältigung von durch Ungewissheit geprägten Risikosituationen geht, ist ein Regulativ notwendig, das seinem präventiven Inhalt Geltung verschafft. Damit ist allerdings noch nichts über Art und Umfang der Beweislastumkehr gesagt. Diese kann in der Tat nicht pauschaler Natur sein. Denn eine völlige Umkehr der Beweislast, die – ebenso wie der Grundsatz des „in dubio pro securitate“ – vom Risikoverursacher im Ergebnis den Nachweis der Unschädlichkeit seiner Betätigung, seiner Anlage oder seines Produkts verlangt, ist schon aus erkenntnistheoretischen Gründen nicht möglich und im Interesse der vielfältigen positiven Effekte des wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritts auch gar nicht wünschenswert. Auf die rechtsstaatlichen, insbesondere grundrechtlichen Probleme einer solchen pauschalen Beweislastumkehr, deren Grundgedanke in seiner Absolutheit jenem zum Teil aus den grundrechtlichen Schutzpflichten abgeleiteten Erlaubnisvorbehalt34 ähnelt, kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden.35 Im Rahmen eines Vorsorgeanlasses, mithin eines abstrakten Besorgnispotentials, oder aber der vielzitierten Situation eines non liquet, in der die bestehende Ungewissheit mit den verfügbaren Untersuchungsmitteln nicht aufgeklärt werden kann, kann das Vorsorgeprinzip aber nach dem rechtlichen Muster einer widerlegbaren Gefährlichkeitsvermutung, die zu einer Umkehr der Beweislast führen kann, wirken. Um die erwähnte Gefährlichkeitsvermutung zu erschüttern, ist der Risikoverursacher gehalten, Tatsachen darzulegen und im Sinne einer begründeten Wahrscheinlichkeit zu beweisen. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sich Forschungsdefizite vergangener Jahrzehnte nicht kurzfristig ausgleichen lassen, mithin also empirisches Erkenntnismaterial oder wissenschaftlich fundiertes Erfahrungswissen fehlt, wird daher zu Recht die Auffassung vertreten, dass die fehlende Forschung nicht zu Lasten der Allgemeinheit, sondern zu Lasten des Risikoverursachers gehen sollte.36 Zur Begründung werden verschieden Erwägungen angeführt, die Gedanken der erwähnten Beweislasttheorien zur sachgerechten Behandlung von non-liquet-Situationen aufnehmen. Unter Hinweis auf die Sphärentheorie37 lässt sich zum einen der Aspekt VGH Kassel, NJW 1990, 336; VG Gelsenkirchen, ZUR 1993, 119 ff. Dazu Calliess (Fn. 5), S. 19 ff. und 431 ff. m. w. N. 36 So Ulrich Ramsauer, Aktuelle Rechtsentwicklungen zu Risiken elektromagnetischer Strahlungen, UTR 42 (1998), S. 71 (89 ff.). 37 Michael Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 430 ff. 34 35
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der Sachnähe heranziehen, demzufolge derjenige, der eine neue Technologie entwickelt hat und Anlagen im Zuge ihrer praktischen Umsetzung und Verwertung errichten möchte, den Nachweis der mangelnden Gefahrenneigung zu erbringen hat, wenn sich die Gefährlichkeit der Technologie mit dem vorhandenen Erfahrungswissen auch in einer Beweisaufnahme nicht hinreichend abschätzen lässt. Denn der Staat ist nicht in der Lage parallel zur technologischen Entwicklungsforschung des privaten späteren Anlagenbetreibers eine seiner Schutzpflicht entsprechende Wirkungsforschung selbst durchzuführen oder zu veranlassen.38 Wer dagegen eine neue Technologie entwickelt und einführen will, kann deren Gefährlichkeit aufgrund seines Wissensvorsprungs weitaus besser einschätzen. Hinzu kommt die haftungsrechtliche Pflichtenlage, die den (potentielle) Risikoverursacher ohnehin verpflichtet, die erforderliche Wirkungsforschung durchzuführen, um die drohenden Haftungsrisiken für später eintretende Schäden gering zu halten oder auszuschalten. Der Gesetzgeber ist demnach verpflichtet, die maßgeblichen Beweislastregeln so auszugestalten, dass im Gesetzesvollzug ein hinreichender Schutz von Leben und körperlicher Gesundheit gewährleistet sei.39 Diese Sichtweise liegt auch der Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips vom Februar 2000 zugrunde40: „Das Vorsorgeprinzip wird im Vertrag nicht definiert, der seine Anwendung lediglich an einer Stelle – nämlich zum Schutz der Umwelt – vorschreibt. In der Praxis ist sein Anwendungsbereich jedoch wesentlich weiter und zwar insbesondere in den Fällen, in denen aufgrund einer objektiven wissenschaftlichen Bewertung berechtigter Grund für die Besorgnis besteht, dass die (nur) möglichen Gefahren für die Umwelt und Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen nicht hinnehmbar oder mit dem hohen Schutzniveau der Gemeinschaft unvereinbar sein können“. Damit wird das Vorsorgeprinzip vor allem auf Situationen der Ungewissheit bezogen, so dass es insbesondere dann anwendbar ist, wenn die wissenschaftlichen Beweise nicht ausreichen, keine eindeutigen Schlüsse zulassen oder unklar sind, jedoch aufgrund einer vorläufigen und objektiven wissenschaftlichen Risikobewertung Anlass zur Besorgnis besteht.41 In der Folge soll der Gemeinschaftsgesetzgeber für potentiell gefährliche Stoffe die Beweislast umkehren und von ihrer Gefährlichkeit ausgehen dürfen, solange nicht das Gegenteil nachgewiesen wird. Ob diese Möglichkeit besteht, soll in jedem Einzelfall zu prüfen sein, in dem eine Maßnahme als Vorsorgemaßnahme getroffen wird. Denjenigen, die ein wirtschaftliches Interesse an der Herstellung und / oder Vermarktung des betreffenden Verfahrens oder Produkts haben, soll Gelegenheit gegeben werden, die erforderliche wissenschaftliche ForRamsauer (Fn. 36), S. 89 ff. Ramsauer (Fn. 36), S. 90 f.; ähnlich Thomas Berg, Beweismaß und Beweislast im öffentlichen Umweltrecht, 1995, S. 96 und 98 ff. 40 Europäische Kommission, Mitteilung über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, KOM (2000) 1 endg. vom 2. 2. 2000, S. 3. 41 Europäische Kommission, Mitteilung, KOM (2000) 1 endg. vom 2. 2. 2000, S. 3; dazu Rengeling (Fn. 29); Appel (Fn. 30). 38 39
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schung „auf freiwilliger Basis“ selbst zu leisten. In der Folge müssen also die interessierten Unternehmen die für die Risikobewertung erforderliche wissenschaftliche Arbeit erbringen. Auch wenn die Rede von der Freiwilligkeit hier als irreführend erscheinen muss, so ergibt sich aus dem Gesamtkontext der Mitteilung, dass die Kommission dem Gesetzgeber unter Berücksichtigung bestimmter Grenzen (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Diskriminierungsverbot, Kohärenzgebot, Grundsatz der Abwägung der mit einem Tätigwerden bzw. Nichttätigwerden verbundenen Vor- und Nachteile und Grundsatz der Verfolgung der wissenschaftlichen Entwicklung) die Möglichkeit einräumen will, im Zulassungsverfahren die Beweislast mit den beschriebenen Folgen umzukehren.42 Dabei soll betroffenen Personen eine Überprüfung, unter Umständen auch vor den Gerichten, beim Erlass bzw. Nicht-Erlass entsprechender Regulierungsmaßnahmen ermöglicht werden. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass derjenige, in dessen Einflusssphäre die Ungewissheit entstanden ist, aufgrund seiner Sachnähe einen Wissensvorsprung hat, der den Vorgaben des Vorsorgeprinzips entsprechend staatlicherseits genutzt werden darf.43 Freilich dürfen die Anforderungen an die Beweislast aus rechtsstaatlichen Gründen nicht den Grad eines positiven Beweises der Schädigungsunmöglichkeit erreichen.44 Ist also staatlicherseits ein Besorgnisanlass begründet worden, oder besteht eine Situation des non-liquet, so ist es Sache des Risikoverursachers, die angestellte Hypothese bzw. die Vermutung über bestimmte Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu widerlegen und den daraus hergeleiteten Besorgnisanlass zu erschüttern.45 In der Folge ist der Risikoverursacher zu einer Risikobegleitforschung verpflichtet bzw. kann dazu verpflichtet werden. Sein diesbezüglicher Anreiz resultiert daraus, dass er nunmehr die Schädigungsunmöglichkeit darlegen und beweisen muss. Gelingt ihm dies nicht, so kann er sein Produkt nicht herstellen bzw. auf den Markt bringen. Somit wird er im Rahmen seiner Risikobegleitforschung versuchen, das Produkt so zu verändern, dass die Schadensmöglichkeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, die erwähnte Gefährlichkeitsvermutung also solchermaßen erschüttert wird. Die damit verbundene Dynamisierung führt zur Fortentwicklung eines Produkts und damit zu Innovationen.
Vgl. Europäische Kommission, Mitteilung, KOM (2000) 1 endg. vom 2. 2. 2000, S. 24. Diesem Ansatz korrespondieren zumindest tendenziell auch die jüngst von der EGKommission angestellte Überlegungen zum Vorsorgeprinzip, vgl. KOM (2000) 1 endg. S. 24; kritisch insoweit Rengeling (Fn. 29), S. 1479 f.; a.A. wiederum Appel (Fn. 30), S. 396, 398. 44 Eckard Rehbinder, Grenzen und Chancen einer ökologischen Umorientierung des Rechts, 2. Aufl. 1989, S. 9 f.; Ernst-Hasso Ritter, Von den Schwierigkeiten des Rechts mit der Ökologie, DÖV 1992, 641 (648 f.); vgl. auch Udo Di Fabio, FS-Ritter, 1997, S. 807, 820 ff. 45 Ausführlich zu alledem Calliess (Fn. 5), S. 223 ff. 42 43
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4. Das Beispiel des Chemikalienrechts im Kontext von REACh Ein interessantes gesetzgeberisches Beispiel für eine vorsorgeorientierte Umkehr der Beweislast findet sich in der gemeinschaftsrechtlichen Verordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACh-VO)46. Zulassungsvoraussetzung für besonders besorgniserregende Stoffe (Risikostoffe) ist nach Art. 60 Abs. 2 REACh, dass das mit der Verwendung dieses Stoffes verbundene Risiko für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt, das sich aus seinen inhärenten Eigenschaften ergibt, angemessen beherrscht wird. Insoweit trifft den Hersteller bzw. den Verwender die Darlegungs- und Beweislast. Sollten diese Anforderungen nicht erfüllt oder nicht erfüllbar sein, ist eine Zulassung nach Art. 60 Abs. 4 S. 1 REACH nur möglich, „wenn nachgewiesen wird, dass der sozioökonomische Nutzen die Risiken überwiegt, die sich aus der Verwendung des Stoffes für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt ergeben, und wenn es keine geeigneten Alternativstoffe oder -technologien gibt.“
Als Zweck der Zulassungsvorschriften (Teil VII) bestimmt die REACh-VO in ihrem Art. 55 neben der Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes und der Beherrschung der stofflichen Risiken, „dass die [besonders besorgniserregenden] Stoffe schrittweise durch geeignete Alternativstoffe oder -technologien ersetzt werden, sofern diese wirtschaftlich und technisch tragfähig sind. Zu diesem Zweck prüfen alle Hersteller, Importeure und nachgeschalteten Anwender, die einen Antrag auf Zulassung stellen, die Verfügbarkeit von Alternativen und deren Risiken sowie die technische und wirtschaftliche Durchführbarkeit der Substitution.“
Das die REACh-VO vorbereitende Weißbuch der EU-Kommission ging insoweit noch über diese Regelung hinaus, als die Vermarktung eines bestimmten Stoffes nur insoweit erlaubt werden sollte, als der beabsichtigte Verwendungszweck ein bloß „zu vernachlässigendes Risiko“ birgt.47 Grundlage für die Entscheidung der Behörde sollte die vom Antragsteller zu erbringende Risikobeurteilung eines bestimmten Verwendungszwecks sein. Aufgelockert wurde diese Regelung freilich auch nach dem Weißbuch durch die gleichfalls vorgesehene Möglichkeit einer bedingten Zulassung, und zwar, wenn der „sozioökonomische Nutzen des Verwendungszwecks dies rechtfertigt“.48 Insoweit sollten die Hersteller bzw. Anwender des Stoffes Kosten-Nutzen-Analysen durchführen. Sie sollten also plausibel machen können (Stichwort Beweislastumkehr), dass „der Nutzen einer fortgesetzten Verwendung eines Stoffs die potentiell schädlichen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt überwiegt“49. 46 47 48
ABl. Nr. L 396 vom 30. 12. 2006, S. 1. Europäische Kommission, Weißbuch KOM (2001) 88 endg, S. 20. Europäische Kommission, Weißbuch KOM (2001) 88 endg, S. 20.
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Im Vergleich zum Weißbuch erleichtert die beschlossene REACh-Verordnung die Anforderungen durch die Festlegung, dass das Risiko der Verwendung lediglich „angemessen beherrscht“ werden muss. Die Intensität des Risikos ist nach der Verordnung mithin nicht ausschlaggebend. Auch wenn sich aus der Verwendung eines Stoffes ein gravierendes Risiko für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt ergeben sollte, könnte also seine Vermarktung zugelassen werden, wenn für eine „angemessene Beherrschung“ des Risikos gesorgt wird.50 Im Vergleich zu den Vorstellungen des Weißbuchs werden jedoch andererseits auch die Anforderungen an den Nachweis des „sozioökonomischen Nutzens“ erhöht: Das Weißbuch sah die Möglichkeit einer bedingten Zulassung vor, wenn der „sozioökonomische Nutzen des Verwendungszwecks dies rechtfertigt“51. Nach der REACh-Verordnung ist neben dem Nachweis des Überwiegens der sozioökonomischen Vorteile gegenüber den Risiken zudem erforderlich, dass es „keine geeigneten alternativen Stoffe oder Technologien gibt“, wobei „gegebenenfalls“ ein konkreter „Substitutionsplan“ angefordert werden kann52. Zulassungen auf der Grundlage des Nachweises sozioökonomischer Vorteile sollen darüber hinaus „in der Regel befristet“ erteilt werden.53 Das bedeutet: Für den Fall, dass die Risiken einer Verwendung nicht angemessen beherrscht werden können, wird eine befristete Zulassung unter der Voraussetzung erteilt, dass der Hersteller / Verwender nachweisen kann, dass die sozioökonomischen Vorteile überwiegen und die Suche nach geeigneten Alternativen negativ verlaufen ist. Damit verankert die Verordnung, anders als das Weißbuch, ausdrücklich eine Verpflichtung zur Suche nach geeigneten Alternativen, die allerdings eingeschränkt ist auf den Fall, dass der Antragsteller im Einzelfall den Nachweis der angemessenen Beherrschung des Risikos nicht führen kann.54 Auf diese Weise werden, vermittelt über jene aus dem Europäische Kommission, Weißbuch KOM (2001) 88 endg, S. 21. Vom Europäischen Umweltbüro wird dazu als Beispiel vorgebracht, dass im Extremfall etwa chemische Weichmacher in Plastikspielzeug für Kinder weiter enthalten sein dürften, wenn das Spielzeug nur mit einem entsprechenden Warnhinweis versehen wird, vgl. EEB, Position on Commission Proposal for a Regulation on Reach, 10. 12. 2003, S. 3. 51 Europäische Kommission, Weißbuch, S. 20; Köck, Zur Diskussion um die Reform des Chemikalienrechts in Europa – Das Weißbuch der EG-Kommission zur zukünftigen Chemikalienpolitik, ZUR 2001, S. 303 (305). 52 Von der Industrie wird das „Instrument des Substitutionsplans“ dabei strikt abgelehnt. Man ist der Ansicht, dass „die Alternativanalysen unter Berücksichtigung der sozioökonomischen Auswirkungen im Rahmen des Zulassungsverfahrens“ ausreichen würden, DIHK, Positionspapier zum Verordnungsvorschlag, S. 11. 53 Die Industrie lehnte die Befristung von Zulassungen jedoch „aus Gründen der Planungssicherheit der betroffenen Unternehmen strikt“ ab, vgl. DIHK, Positionspapier zum Verordnungsvorschlag, S. 19. 54 Vgl. die Kritik von Greenpeace dahingehend, dass die Existenz von sichereren Alternativen lediglich „in Betracht gezogen“ werden kann, „für sich selbst (aber) kein genügender Grund (ist) um einen Austausch zu rechtfertigen“, weshalb „in der Praxis ( . . . ) kaum ein Antrag auf Zulassung abgelehnt werden“ wird, Chemie außer Kontrolle, S. 2. 49 50
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Vorsorgeprinzip fließende Möglichkeit der „Beweislastumkehr“, dem Hersteller / Verwender in einem mehrstufigen Verfahren Anreize für eine eigenständige Risikobegleitforschung gegeben. Auf der 1. Stufe hat er darzulegen und zu beweisen, dass das Risiko des Stoffes bzw. des Produkts im Einzelfall angemessen beherrscht wird. Wenn der Antragsteller diesen Nachweis nicht führen kann, so muss er auf der 2. Stufe nachweisen, dass der soziökonomische Nutzen überwiegt und eine Substitution nicht möglich ist. Gelingt ihm dieser Nachweis erhält er eine befristete Zulassung. Eine unbefristete Zulassung erhält er somit erst, wenn er im Zuge von Innovationen den risikobehafteten Stoff substituieren kann (3. Stufe).
III. Das Innovationspotenzial des integrierten Umweltschutzes Ein Beispiel dafür, dass das Vorsorgeprinzip über die Bewirkung rein technischer Innovationen hinaus auch Innovationsanreize durch Innovationen im Recht selbst (sowie seiner Umsetzung und Anwendung) setzen kann, bietet das Konzept des integrierten Umweltschutzes. 1. Vorsorgeprinzip und integrierter Umweltschutz Dieses Konzept stellt eine Ausprägung des Vorsorgeprinzips dar, wie die präzisierende Unterscheidung des integrierten Umweltschutzes in Externe und Interne Integration deutlich macht55: Unter Externer Integration lässt sich – in Anlehnung an die insoweit maßgebliche Norm des Art. 6 EGV56 – das Erfordernis verstehen, die Belange des Umweltschutzes bei der normativen Ausgestaltung und Durchführung anderer Gemeinschaftspolitiken, wie z. B. Verkehr, Landwirtschaft oder Energie, zu berücksichtigen und zur Förderung einer dem Vorsorgeprinzip korrespondierenden nachhaltigen Entwicklung einzubeziehen. Externe Integration wirkt also politikenübergreifend. Im Rahmen der Internen Integration rückt demgegenüber das Ziel ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die Auswirkungen von umweltbelastenden Stoffen oder Tätigkeiten nicht nur im Hinblick auf ein einzelnes Medium, sondern im Hinblick auf die Umwelt als Ganzes zu regeln. Es geht hier mithin um einen medienübergreifenden ökologischen Ansatz, der im Unterschied zu sektoralen bzw. medialen Umweltschutzkonzepten von einer ganzheitlichen Betrachtung der Umwelt ausgeht 55 Meinhard Schröder, Europarecht und integriertes Umweltrecht, in: Erbguth, Wilfried (Hrsg.), Europäisierung des nationalen Umweltrechts: Stand und Perspektiven, 2001, S. 29 ff. 56 Dazu Christian Calliess, Die neue Querschnittsklausel des Art. 6 ex 3c EGV als Instrument zur Umsetzung des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung, DVBl 1998, S. 559 ff.
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und so dem Problem der Belastungsverlagerungen in besonderer Weise Rechnung tragen will. Im Kontext der Internen Integration darf sich integrierter Umweltschutz daher nicht auf die bloße Zusammenführung der einzelnen Umweltmedien bzw. -schutzgüter beschränken, sondern soll, den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der Ökologie korrespondierend, das Beziehungsgeflecht und die Wechselbeziehungen bei der Regelung und Bewertung umweltrelevanter Sachverhalte berücksichtigen.57 So gesehen wirkt Interne Integration innerhalb der Umweltpolitik, also umweltmedienübergreifend. Eine insoweit mit dem integrierten Umweltschutz eng verbundene, ihn weiter konkretisierende Ausprägung stellt der aus dem Vorsorgeprinzip fließende „Grundsatz der bestmöglichen Umweltoption“ dar. Jener zielt darauf ab, nicht nur sicherzustellen, dass der Anfall von Schadstoffen möglichst vermieden wird, sondern auch, dass die unvermeidbaren Schadstoffe möglichst auf dem Entsorgungspfad in die Umwelt entlassen werden, der am umweltverträglichsten ist58. Der Grundsatz will also ganz im Sinne des integrierten Umweltschutzes Problemverlagerungen von einem Umweltmedium auf ein anderes entgegenwirken. Bisher hat der Grundsatz der bestmöglichen Umweltoption im deutschen Umweltrecht keine besondere Rolle gespielt. Durch das UVPG ist er erstmals in das Planungs- und Anlagenzulassungsrecht eingeführt worden. Indem nach § 2 Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 12 UVPG die Wechselwirkungen, wenngleich nur nach Maßgabe der anwendbaren Gesetze, auch in der behördlichen Entscheidung zu berücksichtigen sind, muss Problemverlagerungen angemessen Rechnung getragen werden59. 2. Zum Ansatz des integrierten Umweltschutzes Das geltende deutsche Umweltrecht orientiert sich nach wie vor weitgehend an den traditionellen Strukturen des Polizeirechts und dessen gewerberechtlichen Abwandlungen60. Basis ist ein naturwissenschaftlich-technisches Weltbild, das in klaren Kausalketten denkt und von der prinzipiellen Erkennbarkeit und Vorhersagbarkeit aller Prozesse sowie der Aufteilbarkeit der Natur in einzeln beherrschbare Umweltmedien (Luft, Wasser) ausgeht. In den Naturwissenschaften hat sich jedoch zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, dass Naturvorgänge sich in hochkomplexen, dynamischen Systemen vollziehen, die nur in einer Gesamtbetrachtung überhaupt angemessen erfassbar sind61. In der Folge stößt das Recht auf eine Wirklich57 Schröder (Fn. 55), S. 30; Wilfried Erbguth, Integrierter Umweltschutz – Verfassungsrechtliche Fragen eines umfassenden Planungsmodells, DÖV 1984, S. 699 ff. 58 Vgl. Eckhard Rehbinder, Das Vorsorgeprinzip im internationalen Vergleich, 1991, S. 93 f., 258 f. 59 Vgl. Eckhard Rehbinder, Ziele, Grundsätze, Strategien und Instrumente in: Grundzüge, in: Hansmann, Klaus / Sellner, Dieter (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, 3. Aufl. 2007, Rn. 59 ff.; Klaus Hansmann, Inhalt und Reichweite der Reststoffvorschrift des § 5 I Nr. 3 BImSchG, NVwZ 1990, S. 409 (411 f.). 60 Zu dieser Entwicklung Di Fabio (Fn. 4), S. 11 ff.; Ronellenfitsch (Fn. 7), S. 193 ff.
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keit, die es bislang nur unzureichend verarbeiten kann. Insoweit versucht das Konzept des integrierten Umweltschutzes eine Antwort zu geben. Der Begriff des integrierten Umweltschutzes hat – zumindest in rechtlicher Hinsicht – seinen Ursprung im europäischen Umweltrecht.62 Erste Hinweise finden sich mit Blick auf das Problem der Schadstoffverlagerung im 3. Umweltaktionsprogramm der EG von 1983 unter den Stichworten „umfassende Strategie“ und „gesamthafte“ Kontrolle im Umweltschutz63, das 4. Umweltaktionsprogramm von 1987 verwendet erstmals den Begriff des „integrierten Konzepts“64, das 5. Umweltaktionsprogramm von 1993 schließlich bringt den integrierten Umweltschutz mit dem neuen umweltpolitischen Leitbild des „sustainable development“65 in Zusammenhang, zu dessen Konkretisierung es erforderlich werde, die bestehenden und neuen Instrumente des Umweltschutzes in einem integrierten System zusammenzufassen, damit umweltpolitisches Handeln integriert und koordiniert werden könne.66 Konkret haben erstmals die projektbezogene UVP-Richtlinie von 1985 mit ihrem übermedialen, umfassenden und die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Umweltmedien erfassenden Ansatz67 sowie dann die IVU-Richtlinie von 1996 mit ihrem „integrierten Konzept“ für die Genehmigung von Anlagen68 Elemente eines integrierten Umweltschutzes normiert. Auch die Richtlinie 2001 / 42 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme69 – auch Strategische Umweltprüfung (SUP) bzw. Plan-UVP genannt – die die projektbezogene UVP ergänzend auf vorgelagerte Pläne und Programme ausdehnt, versteht sich nicht nur von ihrer inhaltlichen Konzeption her, sondern auch nach ihrem Anhang I lit. f) als Teil des integrierten Umweltschutzes70. Welche konkreten Anforderungen der integrative Umweltschutz an das Anlagenzulassungsrecht stellt, lässt sich am besten an drei Beispielsfällen zeigen.
Ausführlich Ritter (Fn. 44), S. 643 m. w. N. Ausführlich dazu Marc Röckinghausen, Integrierter Umweltschutz im EG-Recht, 1998, S. 49 ff.; Johannes Zöttl, Integrierter Umweltschutz in der neuesten Rechtsentwicklung, 1998, S. 86 ff. 63 3. Umweltaktionsprogramm, ABl. C 46 vom 17. 2. 1983, S. 3. 64 4. Umweltaktionsprogramm, ABl. C 328 vom 7. 12. 1987, S. 5 (18 ff.). 65 Dazu Meinhard Schröder, AVR 34 1996, S. 251 ff. 66 5. Umweltaktionsprogramm, ABl. C 138 vom 17. 5. 1993, S. 5 (29). 67 Richtlinie 85 / 337 / EWG über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. L 175 vom 5. 7. 1985, S. 40. 68 Richtlinie 96 / 61 / EG des Rates vom 24. 09. 1996 über die integrierte Verminderung und Vermeidung der Umweltverschmutzung, ABl. L 257 vom 10. 10. 1996, S. 26. 69 Richtlinie 2001 / 42 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. 7. 2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme, ABl. L 197 vom 21. 7. 2001, S. 30. 70 Schröder (Fn. 55), S. 29. 61 62
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Zunächst geht es um die Vermeidung von Kumulations- bzw. Summationseffekten: Eine neue Anlage emittiert Stickstoffdioxid unterhalb der gesetzlich zulässigen Emissionsgrenzwerte. Das Stickstoffdioxid schlägt sich auf einem nahe gelegenen See nieder. Die über den Luftpfad eingetragenen Stickstoffdepositionen führen zusammen mit bereits regelmäßig anfallenden landwirtschaftlichen Nitrateinträgen infolge von Eutrophierung zu einem „Umkippen“ des Sees.
In diesem Fall greift die starre Anwendung untergesetzlicher Luftgrenzwerte zu kurz, da sie die im Einzelfall bestehende Vorbelastung durch anderweitige Schadstoffquellen (hier: landwirtschaftliche Nitrateinträge) nicht berücksichtigen kann. Um einen gesamthaften Umweltschutz zu bewirken, bedarf es bei der Festlegung der Stickstoffdioxid-Emissionsgrenzwerte für die Anlage der Einbeziehung der Kumulationswirkungen mit anderen Schadstoffquellen. Desweiteren geht es um die Vermeidung von Verlagerungseffekten:71 Bei einer Anlage führt eine Nasswäsche der entstehenden Rauchgase zu einer 99%igen Rückhaltung der Luftverunreinigungen, belastet dafür aber das Abwasser. Die alternative Trockenfilterung vermindert die Luftverunreinigungen um 98 %. Sie hinterlässt wiederum Filterrückstände, die im Boden deponiert oder verbrannt werden müssen.
Nunmehr wäre im Genehmigungsverfahren zu entscheiden, welche Variante die für die Umwelt insgesamt günstigere Alternative darstellt. Dies ist problematisch, wenn in beiden Varianten sämtliche medienbezogenen Grenzwerte eingehalten werden. Insoweit bedürfte es letztlich einer Öko-Gesamtbilanzierung, um die vorteilhaftere Variante zu ermitteln.72 Schließlich geht es um die Vermeidung von nachteiligen Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Umweltgütern: Eine Anlage entnimmt dem Meer Kühlwasser und leitet das nach Durchgang durch die Anlage erwärmte Kühlwasser wieder in das Meer ein. Die erhöhte Wassertemperatur führt zum Absterben bestimmter Kleinstlebewesen in den Flachwasserbereichen. Dies wiederum hat einen Rückgang der Avifauna zur Folge, da bestimmte Zugvogelarten sich von den Kleinstlebewesen ernähren.
In diesem Fall sind die Auswirkungen der Kühlwassereinleitung auf das Medium Wasser nach Maßgabe der bestehenden Umweltstandards für sich genommen zwar unschädlich. Da das Medium Wasser jedoch nicht losgelöst von anderen Schutzgütern, welche von diesem Medium abhängig sind (Flachwasserbiotope, Avifauna), betrachtet werden kann, sind auch die Wechselwirkungen zu diesen Schutzgütern 71 Vgl. Dieter Sellner, Die integrierte Genehmigung als neues Instrument für die Zulassung raumbedeutsamer Anlagen, in: Rengeling, Hans-Werner (Hrsg.), Integrierter und betrieblicher Umweltschutz, 1996, S. 79 (95); Rudolf Steinberg, Standards des integrierten Umweltschutzes, NuR 1999, S. 192 (194). 72 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hrsg.), UGBKomE, 1998, Begründung, S. 632, zu den Problemen einer solchen Öko-Bilanzierung.
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in die Betrachtung einzubeziehen. So können sich die erhöhten Wassertemperaturen auf empfindliche Biotope und Arten in den Flachwasserbereichen und infolgedessen auf die Avifauna negativ auswirken. Ein integrierter Umweltschutz hat diese Wechselwirkungen zwischen den Umweltgütern und die Auswirkungen auf das Ökosystem insgesamt in den Blick zu nehmen. In allen Fällen fordert integrierter Umweltschutz den Schutz vor Auswirkungen auf die Umwelt als System. Eine integrative Betrachtung darf sich gerade nicht auf die Auswirkungen eines Vorhabens auf die einzelnen Schutzgüter beschränken, sondern muss das gesamte betroffene Ökosystem berücksichtigen. 3. Konkretisierung des integrierten Umweltschutzes im geltenden Recht Wie versucht nun aber das Recht den Begriff des integrierten Umweltschutzes zu erfassen und operationalisierbar zu machen? Insoweit finden sich in der bereits erwähnten, auf die Planung von Großprojekten bezogenen Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung von 198573 weiterführende Hinweise. Mit ihr wurden erstmals Elemente eines integrierten Umweltschutzes normiert und ins deutsche Recht transformiert. Indem nach § 2 Abs. 1 S. 2 UVPG alle Auswirkungen eines Vorhabens auf Menschen, Tiere und Pflanzen, Boden, Wasser, Luft, Klima und Landschaft einschließlich der jeweiligen Wechselwirkungen ermittelt, beschrieben und bewertet werden sollen, wird ein medienübergreifender und damit integrativer Ansatz im Umweltschutz verfolgt. Über die herkömmliche, nach Umweltmedien weitgehend getrennte sektorale Prüfung hinaus, sollen Umweltauswirkungen eines Vorhabens also gesamthaft und in ihren Wechselwirkungen betrachtet und bewertet werden.74 Die IVU-Richtlinie der EG trägt den Gedanken des integrierten Umweltschutzes darüber hinaus in das gesamte Anlagenzulassungsrecht hinein, indem sie die Anlagengenehmigung im Bereich der Industrie (vgl. Anhang I der IVU-Richtlinie) umfassend am von ihr verfolgten „integrierten Konzept“ ausrichtet (vgl. Art. 3 und 8 – 10 der IVU-Richtlinie). Die mit der Richtlinie angestrebte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung ist übermedial anzugehen, wobei das integrierte Konzept – infolge des anlagenbezogenen Ansatzes – enger als im Kontext der UVP-Richtlinie ausgestaltet ist: Aus Art. 2 Nr. 2 und Nr. 5 der IVU-Richtlinie wird deutlich, dass Schutzziel nicht die Umwelt als Ganzes (u. a. sind Eingriffe in Flora und Fauna ausgeklammert), sondern „nur“ die gesamthafte Bewertung der 73 Richtlinie 85 / 337 / EWG über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. L 175 vom 5. 7. 1985, S. 40. 74 Ausführlich hierzu Röckinghausen (Fn. 62), S. 64 ff.; Zöttl (Fn. 62), S. 86 ff.; Matthias Durst, Die UVP in parallelen und konzentrierten Verfahren, 1998, S. 109 ff.
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Auswirkungen einer Anlage auf die Medien Luft, Wasser und Boden samt der dabei zu erwartenden Belastungsverlagerungen ist.75 Der materielle Integrationsgedanke der IVU-Richtlinie soll letztlich durch ein Bündel medienübergreifend ausgestalteter Begriffe, insbesondere der Immissionen, der Emissionen (vgl. Art. 2 Nr. 5 und Art. 9 III S. 1 IVU-Richtlinie) sowie – als Element prozessorientierter Integration – der sog. Besten Verfügbaren Techniken (BVT), zumeist als BATs (für „Best Available Techniques“) bezeichnet, erreicht werden.76 Mit den BATs wird der effizienteste und fortschrittlichste Entwicklungsstand der Tätigkeiten und entsprechenden Betriebsmethoden bezeichnet, der spezielle Techniken als geeignet erscheinen lässt, um Emissionen in und Auswirkungen auf die gesamte Umwelt allgemein zu vermeiden oder, wenn dies nicht möglich ist, zu vermindern. Mangels einer Festlegung von Emissionsgrenzwerten auf Gemeinschaftsebene (vgl. die Möglichkeit hierzu gem. Art. 18 II IVU-Richtlinie) macht die IVU-Richtlinie darüber hinaus keine konkreten Vorgaben für eine Genehmigungsentscheidung mit materieller Integrationswirkung. Vielmehr vertraut die IVU-Richtlinie, außerhalb ihres materiellen Kerngedankens, auf eine verfahrensrechtliche Umsetzung des integrierten Umweltschutzes. Der integrative Ansatz stößt in der Praxis naturgemäß dort an seine Grenzen, wo die innerhalb und zwischen den Umweltgütern bestehenden vielfältigen Verflechtungen und Abhängigkeiten (Stoff- und Energieflüsse, Regelkreise etc.) wissenschaftlich nicht vollständig aufgeklärt sind. Eine umfassende Analyse des komplexen Wirkungsgefüges aller Einzelfaktoren ist in diesen Fällen nicht möglich.77 Integrierter Umweltschutz kann insofern immer nur im Rahmen der tatsächlich erlangbaren Erkenntnisse über die Auswirkungen des Vorhabens auf die „Umwelt als Ganzes“ optimierend wirken.78 Die Grenzen menschlicher Erkenntnisse über ökosystemare Gesamtzusammenhänge bieten jedoch keinen Anlass zur Kapitulation vor den Anforderungen des integrierten Umweltschutzes. Angesichts der im Rahmen des integrierten Umweltschutzes zu bewältigenden Komplexität setzt das Recht insbesondere auch auf eine verfahrensrechtliche Umsetzung der Vorgaben (vgl. z. B. Art. 7 IVU-Richtlinie). Integrierter Umweltschutz erfordert insoweit die Bündelung und Vernetzung zwischen verschiedenen mit dem Umweltschutz befassten Umweltfachbehörden. Ziel ist es, fachintern eine medienübergreifende, die Wechselwirkungen zwischen den Umweltmedien berücksichtigende Gesamtbetrachtung zu ermöglichen, mit der Belastungsverlagerungen so weit wie möglich (Grundsatz der bestmöglichen Umweltoption) vermieden werden. Dieses Ziel kann am besten durch eine Einheitsbehörde in einem einheitlichen Schröder (Fn. 55), S. 36. Dazu Jörn Heimlich, Der Begriff „Stand der Technik“ im deutschen und europäischen Umweltrecht, NuR 1998, S. 582 ff. 77 Vgl. Steinberg (Fn. 71), S. 194. 78 Ähnlich auch Michael Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 4 Rn. 70; Udo di Fabio, Integratives Umweltrecht. Bestand, Ziele, Möglichkeiten, NVwZ 1998, S. 329 (330). 75 76
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Verfahren gewährleistet werden79, das ergänzend durch Öffentlichkeitsbeteiligung80 und verbesserte Behördenkoordination (vgl. etwa die Regelung des § 14 UVPG über die Koordinierung der UVP in parallelen Verfahren) abgesichert sein muss.81 Vor diesem Hintergrund besteht Einigkeit dahingehend, dass integrierter Umweltschutz (zumindest) immer auch prozedural organisiert werden muss. Gleichzeitig machen die vorstehend genannten Rechtsakte deutlich, dass es beim integrierten Umweltschutz auch um ein materielles Prüfprogramm geht. Nicht von ungefähr mehren sich diejenigen Stimmen, die den Ansatz des integrierten Umweltschutzes für – wenn auch nur begrenzt – materiell operationalisierbar halten.82 Nach alledem lassen sich also zwei Regelungsansätze für die Verwirklichung des integrativen Umweltschutzes innerhalb des Zulassungsrechts unterscheiden: Die formelle83 (oder auch prozedurale84) Integration zielt darauf ab, eine einheitliche und übergreifende Prüfung der Umweltauswirkungen durch verfahrensrechtliche Elemente sicherzustellen. Sie verlangt mindestens die Koordinierung verschiedener umweltbezogener Zulassungstatbestände durch eine federführende Behörde (sog. „Front-Office“85). Geboten ist jedoch grundsätzlich die Zusammenfassung verschiedener umweltbezogener Zulassungstatbestände in einer Vorhabengenehmigung. Durch die damit einhergehende Verfahrensintegration wird zugleich die Zusammenfassung sämtlicher für ein Vorhaben erforderlicher umweltrechtlicher Zulassungsverfahren in einem einzigen Verfahren in der Hand einer Behörde sowie der Abschluss des Verfahrens durch Erlass einer einheitlichen Genehmigung mit umfassender Gestattungswirkung (Konzentrationswirkung) ermöglicht. Die ursprünglich befugten Instanzen werden allenfalls noch durch Benehmens- oder Einvernehmensbefugnisse am Genehmigungsverfahren beteiligt. Die materielle Integration setzt die formelle Integration voraus, geht aber insofern über sie hinaus, als sie neben der Verfahrensintegration auch das materielle 79 Ausführlich hierzu und zum folgenden Christian Calliess, Verwaltungsorganisationsrechtliche Konsequenzen des integrierten Umweltschutzes, in: Ruffert, Matthias (Hrsg.), Recht und Organisation, 2003, S. 73 ff. 80 Ähnlich Schmidt (Fn. 4), S. 755; Zöttl (Fn. 62), S. 98 f. 81 Dazu Christoph Landel, Die Umweltverträglichkeitsprüfung in parallelen Zulassungsverfahren, 1995, S. 114 ff. 82 Röckinghausen (Fn. 62), S. 33 ff., 37 ff., 112 ff.; Uwe Volkmann, Umweltrechtliches Integrationsprinzip und Vorhabengenehmigung, VerwArch 89 (1998), S. 363 ff.; Zöttl (Fn. 62), S. 86 ff.; eher kritisch Johannes Masing, Kritik des integrierten Umweltschutzes, DVBl 1998, S. 549 ff.; Udo Di Fabio, Integratives Umweltrecht – Bestand, Ziele, Möglichkeiten, in: Gesellschaft für Umweltrecht, Dokumentation zur 21. Wissenschaftlichen Fachtagung, 1998, S. 27 ff. 83 So etwa die Begrifflichkeit bei Rainer Wahl, Die Normierung der materiell-integrativen (medienübergreifenden) Genehmigungsanforderungen, ZUR 2000, S. 360 (367). 84 Volkmann (Fn. 82), S. 366. 85 Vgl. Chris Backes, Die Erneuerung der Umweltgesetzgebung in den Niederlanden, EurUP 2006, S. 293 (295).
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Prüf- und Entscheidungsprogramm der integrierten umweltrechtlichen Zulassungstatbestände vereinheitlicht, z. B. durch eine einheitliche Vorhabenliste mit einheitlichen umweltrechtlichen Anforderungen. Durch diesen Verschmelzungsansatz sollen auch medienübergreifende Aspekte in die Genehmigungsentscheidung einbezogen und so den dargelegten Defiziten hinsichtlich der Kumulations- und Verlagerungseffekte sowie den Wechselwirkungen bei Vorhabenzulassungen entgegengewirkt werden. Beide Regelungsansätze gehören zusammen, sie sind miteinander verzahnt und verwirklichen gemeinsam die Vorgabe des integrierten Umweltschutzes. 4. Impulse zur Innovationsförderung in der integrierten Vorhabensgenehmigung a) Der UGB-Referentenentwurf 2008 Vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen verlangt eine effektive Umsetzung der Vorgaben des integrierten Umweltschutzes eine integrierte Vorhabengenehmigung, wie sie das – nach derzeitiger Sachlage nunmehr schon zum zweiten Mal (nach 1998) „auf Eis“ gelegte – Vorhaben eines Umweltgesetzbuchs in den §§ 55, 53 des Referentenentwurfs zum UGB I86 zumindest im Ansatz vorsieht. In § 55 finden sich die Regelungen zu den Genehmigungsvoraussetzungen, einschließlich des wasserrechtlichen Bewirtschaftungsermessens: (1) Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn sichergestellt ist, dass 1. die sich aus § 53 und einer auf Grund des § 54 erlassenen Rechtsverordnung ergebenden Pflichten erfüllt werden, 2. andere Anforderungen des Umweltgesetzbuchs sowie sonstiger umweltrechtlicher Vorschriften nicht entgegenstehen und 3. andere öffentlich-rechtliche Vorschriften und Belange des Arbeitsschutzes dem Vorhaben nicht entgegenstehen. (2) Ist das Vorhaben eine Gewässerbenutzung oder ist eine Gewässerbenutzung Teil des Vorhabens, steht die Erteilung der Genehmigung insoweit im pflichtgemäßen Ermessen (Bewirtschaftungsermessen) der Genehmigungsbehörde. (3) Bei der Entscheidung über die Zulässigkeit des Vorhabens sind die Ergebnisse einer durchgeführten Umweltverträglichkeitsprüfung [ . . . ] im Rahmen der Prüfung der Genehmigungsvoraussetzungen nach Absatz 1 und der Ausübung des Ermessens nach Absatz 2 im Hinblick auf eine wirksame Umweltvorsorge zu berücksichtigen
Die Formulierung des Genehmigungstatbestandes der Vorhabengenehmigung orientiert sich stark an § 6 BImSchG. Der Entwurf des UGB I wählt – ebenso wie 86 Stand: 04. 12. 2008, abrufbar unter: http: //www.bmu.de/files/pdfs/allgemein/application /pdf/ugb1_allgem_ vorschriften.pdf (zuletzt abgerufen am 20. 07. 2009).
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seine Vorgängerentwürfe – das aus dem Immissionsschutzrecht bekannte Grundpflichten-Modell und versucht die vom integrierten Umweltschutz gebotene medienübergreifende Prüfung im Wege der einheitlich geltenden Grundpflichten des § 53 UGB I zu bewirken. In der Folge verzichtet der Referenten-Entwurf zum UGB I im Rahmen der Vorschriften zur Vorhabengenehmigung auf die Formulierung einer eigenständigen bzw. expliziten Regelung über den integrierten Umweltschutz. Nach der Entwurfsbegründung soll über die Grundpflichten, insbesondere den Begriff der „schädlichen Umweltveränderungen“ der medienübergreifende Ansatz der integrierten Vorhabensgenehmigung aufgrund der Erfassung aller medialen Einträge umgesetzt werden.87 Dieser wird in § 4 Nr. 6 UGB I legal definiert. Die Aufgabe der Erbringung materieller Integrationsleistung wurde bereits bisher weitgehend dem untergesetzlichen Regelwerk – insb. den sog. normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften der TA Luft – übertragen.88 Diese Regelungstechnik behält auch der Referentenentwurf des BMU bei, indem er in § 54 Abs. 1 S. 2 UGB I das Ziel hervorhebt, bei der Festlegung der Anforderungen in den konkretisierenden untergesetzlichen Regelwerken „insbesondere mögliche Verlagerungen nachteiliger Umweltauswirkungen von einem Umweltgut auf ein anderes oder auf den Menschen zu berücksichtigen; ein hohes Schutzniveau für die Umwelt insgesamt ist zu gewährleisten.“ Ob dem integrierten Umweltschutz mit solch einem Verweis auf integrative untergesetzliche Regelungen gedient ist, wird zu Recht bezweifelt.89 Die Delegation dieses für das UGB zentralen Anliegens in Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften erscheint, nicht zuletzt mit Blick auf die insoweit bedeutsame EuGHRechtsprechung90 zur mangelhaften Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Richtlinien im Rahmen der TA Luft, als problematisch.91 Sie ist aber darüber hinaus nicht innovationsfördernd ausgestaltet, indem sie im Hinblick auf das vorstehend beschriebene Konzept des integrierten Umweltschutzes auf jede innovationsorientierte Koppelung zwischen Umweltrecht und Umweltschutz verzichtet.
UGB I, Entwurfsbegründung, S. 33 f. Wahl (Fn. 83), S. 363. Beispiel hierfür etwa Nr. 5.1.3 Abs. 2 S. 3 TA Luft: „Die Anforderungen dieser Verwaltungsvorschrift dürfen nicht durch Maßnahmen erfüllt werden, bei denen Umweltbelastungen in andere Medien wie Wasser oder Boden entgegen dem Stand der Technik verlagert werden.“ 89 Dieter Sellner, Auf dem Weg zum Umweltgesetzbuch, in: Dokumentation zur 31. wissenschaftlichen Fachtagung der Gesellschaft für Umweltrecht e.V. – Tagungen der GfU Bd. 39, 2008, S. 35 (62 f.). 90 Vgl. etwa EuGH, Slg. 1991, I- 2567 ff. zur unzureichenden Umsetzung der Schwefeldioxid-RL aufgrund der mangelnden Außenwirkung der TA Luft; ausführlich hierzu Bernhard W. Wegener, Rechte des Einzelnen, 1998, S. 46 ff. 91 Vgl. Wahl (Fn. 83), S. 365 f. 87 88
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b) Die integrierte Vorhabengenehmigung als innovative Koppelung von Umweltrecht und Umweltpolitik Eine demgegenüber gelungene Alternative zur integrativen Ausgestaltung der Vorhabengenehmigung schlug die Unabhängige Sachverständigenkommission (sog. Sendler-Kommission) in ihrem Entwurf für ein Umweltgesetzbuch (UGBKomE) vor. Sie formulierte neben einer materiell-integrativen Erweiterung der Grundpflichten durch die Definition des Begriffes „Umwelt“92 – in § 83 Abs. 2 S. 1 UGB-KomE eine sog. Integrationsklausel: „Die für das Vorhaben geltenden Grundpflichten und die Anforderungen an die Zulässigkeit von Eingriffen in Natur und Landschaft sind so zu erfüllen, dass unter Berücksichtigung aller Belastungspfade und der Wechselwirkungen zwischen den Umweltgütern die Maßnahmen getroffen werden, die die Umwelt in ihrer Gesamtheit möglichst wenig belasten.“
Dieses Gebot einer medienübergreifenden Gesamtbetrachtung ist dem englischen Konzept der „Best Practical Environmental Option“ nachgebildet und wurde als das eigentliche Kernstück des Konzepts der integrierten Vorhabensgenehmigung angesehen.93 Mit Hilfe dieses Optimierungsgebotes versuchte die Sachverständigenkommission dem Problem entgegenzuwirken, dass das sektorale Umweltrecht jeweils für sein zu schützendes Medium ein optimales Ergebnis fordert, wenn es z. B. Vorsorgeanforderungen aufstellt.94 Die neuartige Klausel zielte insoweit auf eine materiell-rechtliche Integration des bereichs- und medienübergreifenden Ansatzes der verfahrensrechtlich geprägten Umweltverträglichkeitsprüfung in die Genehmigungsentscheidung.95 Nach dem Verständnis der Sachverständigenkommission verlangt die Integrationsklausel vom Vorhabensträger, dass er, wenn er die Grundpflichten und die Genehmigungsvoraussetzungen für das Vorhaben auf verschiedene Weise erfüllen kann, diejenige Option unter mehreren Optionen realisiert, die die Umwelt in ihrer Gesamtheit möglichst wenig belastet.96 Die in den Grundpflichten enthaltenen Anforderungen sind bei der Anwendung der Integrationsklausel als Mindestvorausset92 § 2 Nr. 1 UGB-KomE: „Umwelt: der Naturhaushalt, die Landschaft, Kulturgüter und schutzwürdige Sachgüter (Umweltgüter) sowie das Wirkungsgefüge zwischen den Umweltgütern“. Der Naturhaushalt umfasst gem. § 2 Nr. 2 UGB-KomE wiederum: „Boden, Wasser, Luft, die Ozonschicht, das Klima einschließlich des Kleinklimas, Tiere, Pflanzen und andere lebende Organismen (Naturgüter) sowie das Wirkungsgefüge zwischen den Naturgütern.“ 93 Michael Kloepfer / Wolfgang Durner, Der Umweltgesetzbuch-Entwurf der Sachverständigenkommission, DVBl 1997, 1081 (1089). 94 Christian Schrader, Die Vorhabengenehmigung im Kommissionsentwurf für ein Umweltgesetzbuch, NuR 1998, S. 285 (287). 95 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, UGB-KomE, Entwurfsbegründung, 1999, S. 627. 96 Dieter Sellner, Konzeption, materiell-rechtliche Voraussetzungen und Verfahren der Vorhabengenehmigung, in: Bohne, Eberhard (Hrsg.), UGB als Motor oder Bremse der Innovationsfähigkeit in Wirtschaft und Verwaltung?, 1999, S. 91 (103).
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zungen für die Zulässigkeit eines Vorhabens zu beachten, was die Formulierung „sind so zu erfüllen, dass . . . die Umwelt in ihrer Gesamtheit möglichst wenig belastet wird“ verdeutlichen sollte.97 Eine solche Pflicht zur medienübergreifenden Belastungsminimierung eröffnet der Genehmigungsbehörde bei der Entscheidung über die Genehmigungserteilung eine Einschätzungsprärogative,98 die durch die Grundpflichten und die Eingriffsregelung einerseits und durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz („möglichst wenig belastet“) andererseits begrenzt würde.99 Obwohl die Sachverständigen-Kommission davon ausging, dass die praktische Handhabung der Klausel auch ohne eine konkretisierende Rechtsverordnung keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bereite, da die Genehmigungsbehörden auch ohne Verrechnungseinheiten Entscheidungen zu treffen haben, die auf einer nachvollziehbaren wertenden Abwägung beruhen, ohne dass bestimmte Kriterien vorgegeben wären,100 hielt sie es – wohl um Einwänden gegen diese neuartige Klausel zu entgegnen – für wünschenswert, der Verwaltung Kriterien für deren Anwendung in Form einer Rechtsverordnung bereitzustellen. 101 Ein weiteres Novum für die Struktur des deutschen Zulassungsrechts und eine wichtige Ergänzung der Integrationsklausel stellte die ebenso von der Kommission vorgeschlagene sog. Öffnungsklausel (bzw. Kompensationsklausel) des § 84 Abs. 3 UGB-KomE dar: „Auf Antrag des Vorhabenträgers kann in der Vorhabengenehmigung von der Einhaltung einzelner Grenzwerte zur Vorsorge gegen Risiken abgesehen werden, wenn daraus unter Berücksichtigung des Einsatzes von Ressourcen und Energie Vorteile für die Umwelt in ihrer Gesamtheit erwachsen, die die Nachteile nach Einschätzung der Behörde eindeutig und erheblich überwiegen.“
Diese Regelung ähnelt dem baurechtlichen Dispens (z. B. § 31 Abs. 2 BauGB). Sie sollte die für den integrierten Umweltschutz bedeutsame Möglichkeit schaffen, die mit der Festlegung von verbindlichen Umweltstandards im Vorsorgebereich verbundenen Hindernisse für eine Gesamtbetrachtung der Auswirkungen im Einzelfall zu überwinden.102 Diese im Interesse des integrierten Umweltschutzes aus97 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, UGB-KomE, Entwurfsbegründung, S. 627. 98 Horst Sendler, Zur Umsetzung der IVU- und der UVP-Änderungsrichtlinie durch ein Umweltgesetzbuch I, in: UTR 45 (1998), S. 7 (28); kritisch hierzu Martin Wickel, Die Zulassung von Industrieanlagen und die „gebundene“ Vorhabengenehmigung, UPR 2000, 92 (97) sowie Jürgen Fluck, Die Vorhabengenehmigung im Kommissionsentwurf eines Umweltgesetzbuches aus Unternehmenssicht – eine erste Kritik, NVwZ 1998, 1016 (1019). 99 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, UGB-KomE, Entwurfsbegründung, S. 627 f. 100 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, UGB-KomE, Entwurfsbegründung, S. 628. 101 Daher der Regelungsauftrag in § 83 Abs. 2 S. 2 UGB-KomE: „Das für den Umweltschutz zuständige Bundesministerium bestimmt durch Rechtsverordnung Kriterien für die Anwendung des Satz 1.“
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zuübende Flexibilität würde zum Beispiel dann relevant, wenn Luftreinhaltegrenzwerte in einem Einzelfall zwar überschritten werden, aber durch bestimmte Maßnahmen eine für die Umwelt insgesamt verträglichere Lösung möglich würde, bei der deutlich weniger Abfälle anfallen oder Abwassereinleitungen erheblich reduziert werden können. Wenn sich der Vorhabensträger Vorteile davon verspricht, dann wird die Öffnungsklausel für ihn zu einem Anreizinstrument, nach Innovationen zu suchen, die eine für die Umwelt insgesamt verträglicheren Lösung bewirken. Sein Anreiz besteht darin, dass er eine für ihn aufwendigere Lösung im Hinblick auf die Luftreinhaltegrenzwerte vermeiden könnte. Auf diese Weise würde eine im Interesse des integrierten Umweltschutzes vorzunehmende Flexibilisierung ordnungsrechtlicher Anforderungen eine effizientere Umsetzung von Vorsorgemaßnahmen bewirken können, indem die Umwelt, dem Grundsatz der bestmöglichen Umweltoption entsprechend, insgesamt profitiert. Eine Ausprägung dieses Kompensationsmodells ist überdies schon im geltenden § 17 Abs. 3a BImSchG enthalten, wonach ein Anlagenbetreiber nachträgliche Anordnungen abwehren kann, indem er eine insgesamt für die Umwelt vorteilhaftere Lösung freiwillig umsetzt. Dabei sind dieselben oder in der Wirkung vergleichbare Stoffe substituierbar. In diesem Kontext ist jedoch zweierlei zu bedenken: Für die Beibehaltung der abstrakten Grenzwertsetzung der TA Luft wird immer wieder angeführt, dass nur mithilfe eines strikten Ordnungsrechts und daran anknüpfender allgemein verbindlicher Grenzwerte ein gleichmäßiger Vollzug gewährleistet werden kann.103 Die Vollzugsbehörden sind dann im Regelfall nicht dazu verpflichtet, eigene Beurteilungen vorzunehmen.104 Sie werden so in ihrer Unabhängigkeit geschützt, indem sie sich unter Hinweis auf die Verbindlichkeit der Grenzwerte auch wirtschaftlichem und politischem Druck entziehen können. Überdies setzt die Durchführung des im Rahmen der Kompensationsreglung vorzunehmenden Vergleichs verschiedenartiger Auswirkungen eines Vorhabens eine anspruchsvolle und in den Einzelheiten noch nicht entwickelte Öko-Gesamtbilanzierung voraus. Bis heute gibt es aber keine anerkannte quantitative Methode zur Ermittlung und medienübergreifenden Bewertung aller Umweltauswirkungen.105 Ob es einen durch Zahlenwerte ausgedrückten Maßstab aller Umweltauswirkungen jemals geben wird, wird angezweifelt.106 Dabei spielt in der Tat der 102 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, UGB-KomE, Entwurfsbegründung, S. 631 f. 103 SRU, Umweltgutachten 2002, Tz. 311. 104 SRU, Sondergutachten 2007, Tz. 30. 105 Harald Kracht / Andreas Wasielewski, in: Rengeling, Hans-Werner (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht (EUDUR), 2. Aufl. 2003, Bd. I, § 35 Rn. 62; Thomas Pschera / Isabelle Koepfer, Die neue TA Luft – Gefährdet der integrative Ansatz die Bindungswirkung?, NuR 2003, S. 517 (513). 106 Klaus Hansmann, Integrierter Umweltschutz durch untergesetzliche Normsetzung, ZUR 2002, S. 19 (20).
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Umstand eine Rolle, dass die Wirkmechanismen von Umwelteinflüssen äußerst komplex sind und deren Ermittlung an die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit reicht. Problematisch ist insbesondere, dass Effektkategorien unterschiedlicher Auswirkungen von Umwelteinflüssen auf die jeweiligen Schutzgüter nicht direkt miteinander verglichen werden können.107 Erschwerend kommt hinzu, dass die Bewertung von Emissionen in einem mehrdimensionalen Geflecht der verschiedenen Medien erfolgen muss: Es genügt – vereinfacht dargestellt – nicht nur, festzustellen, dass eine Abluftfilteranlage eine Menge weniger CO2 ausstößt und dafür eine Menge y mehr schwermetallbelasteten Abfalls erzeugt. Vielmehr muss dieser Abfall wieder deponiert werden, wobei die Schadstoffe auf dem Schutzgut Boden landen, bei mangelnder Abdichtung im Grundwasser, bei mangelnder Abdeckung in der Luft und auf den benachbarten Grundstücken.108 Letztlich kann dadurch jeder Wirkstoff auch wieder über die Nahrungskette in menschliches und tierisches Gewebe kommen und weitere Auswirkungen haben.109 Es fehlt somit an entsprechenden Verrechnungseinheiten für die tatsächliche Umweltbelastung. In der Literatur findet man freilich Ansätze, in denen der Versuch unternommen wird, rechnerische Ansätze zu entwickeln.110 Dies ist möglich, wenn man die jeweilige Emission in Relation zu einer bestimmten anderen Größe setzt. Dieser Vergleichswert könnte – je nach Regelungsentwurf – beispielsweise die naturwissenschaftlich ermittelte kritischen Höchstbelastung sein, oder ein Grenzwert, der sich an der ökonomischen Knappheit orientiert, möglicherweise auch ein zentral vorgegebener Umweltkoeffizient, der Umweltauswirkungen wertet. Als Ergebnis könnte dann eine Umweltbelastung nach „Ökopunkten“ angegeben werden.111 Probleme entstehen bei diesem Modell jedoch dort, wo die naturwissenschaftliche Erkenntnis aufhört. Hier kommt dann das Vorsorgeprinzip und die ihm inhärente Risikobewertung ins Spiel. Wenn eine rein quantitative Verrechnung nicht in Betracht kommt, sind die jeweiligen Auswirkungen unter qualitativen Gesichtspunkten zueinander in Beziehung zu setzen.112 Letztlich unterliegt die Entscheidung über die beste Möglichkeit, die Umwelt insgesamt zu schützen, weniger einer wertneutralen naturwissenschaftlichen Aufarbeitung, als vielmehr einer technisch-politischen Dezision.113 Je mehr SRU, Umweltgutachten 2004, Tz. 569. Abgewandeltes Beispiel nach Heinrich von Lersner, Das dritte Medium – Der Schutz des Bodens als umweltpolitische Aufgabe, NuR 1982, S. 201. 109 Weitere Beispiele finden sich bei Mario Martini, Integrierte Regelungsansätze im Immissionsschutzrecht, 2000, S. 25 f. 110 Carsten Corino, Ökobilanzen: Entwurf und Beurteilung einer allgemeinen Regelung, 1995, S. 74 ff. 111 Corino (Fn. 110), S. 74 ff. 112 Karl-Heinz Ladeur, Integrierter Umweltschutz im Genehmigungsverfahren, ZUR 1998, S. 245 (246). 113 Dieter Sellner, Der integrative Ansatz im Bundes-Immissionsschutzgesetz – Was ändert sich durch das Artikelgesetz?, in: Dolde, Klaus-Peter (Hrsg.), Umweltrecht im Wandel, 2001, S. 411; Steinberg (Fn. 71), S. 198. 107 108
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Belastungspfade untersucht und abstrakt bewertet werden müssen, desto mehr unterliegen die getroffenen Regelungen der politischen Bewertung.114 Letztlich handelt es sich nicht mehr um lediglich naturwissenschaftlich abgeleitete, nachvollziehende Ausgestaltung, sondern um eine selbständige, gestaltende Festlegung.115 Es geht dann aber immer mehr um eine politische Präferenzentscheidung116, die auf den Normgeber zurück verweist. Insoweit geht es dann um die rechtsstaatlichen Grenzen eines vorsorgebasierten Umweltrechts, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.117 Das Kompensationsmodell führt im Ergebnis zu einer weniger strengen Generalisierung, in der Folge muss jedoch eine Steuerung und Kontrolle der administrativen Einzelfallentscheidungen gewährleistet bleiben. Mögliche Ansätze bestehen darin, schon in den abstrakten Normen den Behörden Richt- oder Rahmenwerte vorzugeben. Unerlässlich ist in diesem Zusammenhang daher auch die Begründung der einzelnen Werte, um der Behörde die Überlegungen des Gesetzgebers als Maßstab zur Verfügung zu stellen. Auf diese Weise ließe sich ein Mindestmaß an rechtstaatlich gebotener Rückkoppelung der Verwaltung bewirken. IV. Ausblick Die vorstehenden Ausführungen haben deutlich werden lassen, dass das Vorsorgeprinzip, obwohl es primär Innovationsverantwortung transportiert, auch Innovationen stimulieren kann. So betrachtet steht staatliches Ordnungsrecht ebenso wie das Vorsorgeprinzip oftmals zu Unrecht in der Kritik. Konkret haben das die herangezogenen Referenzbereiche des Umweltrechts belegen können. Indem die REACh-Verordnung eine Verpflichtung zur Suche nach geeigneten Alternativen statuiert, werden, vermittelt über jene aus dem Vorsorgeprinzip fließende Möglichkeit der „Beweislastumkehr“, dem Hersteller / Verwender in einem mehrstufigen Verfahren Anreize für eine eigenständige Risikobegleitforschung gegeben: Auf der 1. Stufe hat er darzulegen und zu beweisen, dass das Risiko des Stoffes bzw. des Produkts im Einzelfall angemessen beherrscht wird. Wenn der Antragsteller diesen Nachweis nicht führen kann, so muss er auf der 2. Stufe nachweisen, dass der sozioökonomische Nutzen überwiegt und eine Substitution nicht möglich ist. Gelingt ihm dieser Nachweis, so erhält er eine befristete Zulassung. Eine unbefristete Zulassung erhält er somit erst, wenn er im Zuge von Innovationen den risikobehafteten Stoff substituieren kann (3. Stufe). Ein Beispiel dafür, dass das Vorsorgeprinzip über die Bewirkung rein technischer Innovationen hinaus auch Innovationsanreize durch Innovationen im Recht Di Fabio (Fn. 78), S. 335. Zur Unterscheidung vgl. Georg Buchholz, Integrative Grenzwerte im Umweltrecht, 2001, S. 49. 116 Masing (Fn. 82), S. 551. 117 Dazu Calliess (Fn. 5), S. 250 ff. 114 115
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selbst (sowie seiner Umsetzung und Anwendung) setzen kann, bietet der integrierte Umweltschutz. Im Bereich des Anlagenzulassungsrechts, das vom Konzept des integrierten Umweltschutzes geprägt ist, könnte eine Kompensationsklausel nach dem Vorbild des § 84 Abs. 3 UGB-KomE eine für den integrierten Umweltschutz bedeutsame Öffnung bewirken, im Zuge derer die mit der Festlegung von verbindlichen Umweltstandards im Vorsorgebereich verbundenen Hindernisse für eine Gesamtbetrachtung der Auswirkungen im Einzelfall überwunden werden kann. Die damit einhergehende, im Interesse des integrierten Umweltschutzes vorzunehmende Flexibilisierung würde zum Beispiel dann relevant, wenn Luftreinhaltegrenzwerte in einem Einzelfall zwar überschritten werden, aber durch bestimmte Maßnahmen eine für die Umwelt insgesamt verträglichere Lösung möglich würde, bei der deutlich weniger Abfälle anfallen oder Abwassereinleitungen erheblich reduziert werden können. Wenn sich der Vorhabensträger Vorteile davon verspricht, dann wird die Öffnungsklausel für ihn zu einem Anreizinstrument, nach Innovationen zu suchen, die eine für die Umwelt insgesamt verträglicheren Lösung bewirken. Sein Anreiz besteht darin, dass er eine für ihn aufwändigere Lösung im Hinblick auf die Luftreinhaltegrenzwerte vermeiden könnte. Auf diese Weise würde eine im Interesse des integrierten Umweltschutzes vorzunehmende Flexibilisierung ordnungsrechtlicher Anforderungen eine effizientere Umsetzung von Vorsorgemaßnahmen bewirken können, indem die Umwelt, dem Grundsatz der bestmöglichen Umweltoption entsprechend, insgesamt profitiert.
Aufgaben und Verfahren der Innovationsfolgenabschätzung Von Ivo Appel I. Innovationsfolgenabschätzung: Alter Wein in neuen Schläuchen? . . . . . . . . . . . . . . . . 148 1. Folgenorientierungskonjunktur im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 2. Anschlussstellen an Vorläufermodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 II. Aufgaben und Funktionen der Innovationsfolgenabschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 1. Grundcharakteristika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 a) Beachtlichkeit des Folgenarguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 b) Prinzipielle Offenheit der Folgenperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 c) Spezialfall des vorsorgenden Umgangs mit (Prognose-)Unsicherheit . . . . . . . 155 d) Versuch einer Vorwegnahme von Lerneffekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 e) Vorausgreifende Verknüpfung von Input und Outcome / Impact . . . . . . . . . . . . 157 f) Unsicherheit der Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 g) Maßstabsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 2. Folgenabschätzung und Folgenorientierung als Steuerungselemente der Rechtserzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 a) Folgenorientierung als Element der Rechtserzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 aa) Relativität von Rechtsanwendung und Rechtserzeugung . . . . . . . . . . . . . . . 161 bb) Abhängigkeit vom Grad der Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 b) Folgenabschätzung als Faktor der Maßstabsbildung jenseits der Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 III. Verfahren der Innovationsfolgenabschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 1. Innovationsfolgenabschätzung in Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 2. Innovationsfolgenabschätzung in Verwaltungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 a) Risikoverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 b) Verträglichkeitsprüfungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 c) Vertretbarkeitsprüfungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 d) Nutzen-Kosten-Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 3. Innovationsfolgenabschätzung in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
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IV. Übergreifende Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 1. Umgang mit Innovationsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 a) Innovationsfolgen: Ermittlung – Bewertung – Berücksichtigung – Beachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 aa) Folgenabschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 bb) Folgenorientierung und Folgenrelevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 b) Stufung der Innovationsfolgenabschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 2. Folgewirkungen für das Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 a) Verlagerungstendenz zur Rechtserzeugung im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 b) Tendenz zu gesamthaften Ansätzen und Notwendigkeit der Begrenzung . . . 177 c) Interdisziplinäre Ausrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 d) Notwendigkeit methodischer Anleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 e) Dominanz externen Sachverstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 f) Einbeziehung Privater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 g) Bedeutung prozeduraler Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 h) Organisatorische Konzentration und Koordination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 i) Kontinuierliche (Innovationsfolgen-)Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 j) Zentrales Informationsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
I. Innovationsfolgenabschätzung: Alter Wein in neuen Schläuchen? 1. Folgenorientierungskonjunktur im Recht Verantwortungsvoller Umgang mit Innovationen ist wissensabhängig.1 Wissen ist nicht nur entscheidend dafür, dass Chancen und Risiken innovativer Technologien wahrgenommen werden. Es ist auch Grundlage aller Strategien des Umgangs mit diesen Chancen und Risiken. Nur wenn Chancen und Risiken von Innovationen erkannt werden, kann sich das Recht ihrer annehmen, eine angemessene Regelung 1 Bezogen auf den Umgang mit Risiken Rainer Wolf, Die Risiken des Risikorechts, in: Bora, Alfons (Hrsg.), Rechtliches Risikomanagement, 1999, S. 65 (77 f.); Ivo Appel, Methodik des Umgangs mit Ungewissheit, in: Schmidt-Aßmann, Eberhard / Hoffmann-Riem, Wolfgang (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 327 (328). Zum Verhältnis von Wissens- und Risikovorsorge auch Rainer Pitschas, Die Bewältigung der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen durch das Verwaltungsrecht, DÖV 1989, S. 785 (800); Karl-Heinz Ladeur, Risikobewältigung durch Flexibilisierung und Prozeduralisierung des Rechts – Rechtliche Bindung von Ungewissheit oder Selbstverunsicherung durch Recht, in: Bora, Alfons (Hrsg.), Rechtliches Risikomanagement, 1999, S. 41 (57 f.).
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innovativer Technologien vorsehen und das Vertrauen in die eigene Ordnung sicherstellen. Eine ausreichende Wissensbasis ist daher nicht nur kognitive Voraussetzung für Vorsorgemaßnahmen, sondern für den verantwortungsvollen Umgang des Rechts mit Innovationen schlechthin. Zählt es zu den Gewährleistungsdimensionen des modernen Rechts, einen angemessenen Rahmen für die technische Fortentwicklung zu schaffen, ist es aber umgekehrt so, dass Recht per se technische oder ökonomische Innovationen weder hemmt noch fördert, geht es letztlich darum, Recht so zu gestalten, dass es Innovationen in einer für die Gesellschaft sinnvollen und verantwortbaren Weise steuert. Wird dem Recht die Aufgabe zugeordnet, die Entwicklungschancen innovativer Technologien auch unter Ungewissheitsbedingungen zu ermöglichen und zugleich die Risiko- und Schadenspotentiale zu minimieren, die sich aus der Unkalkulierbarkeit technischer Innovationen ergeben, kommt es entscheidend darauf an, die mangelnde Gewissheit zu kompensieren und zumindest relative Sicherheit zu schaffen. Insofern stellt sich die Frage, ob sich das Recht so organisieren und seine normativen und methodischen Potentiale so optimieren kann, dass dadurch die kognitiven Defizite mit dem Ziel ausgeglichen werden, Innovationen in einer gesellschaftsverträglichen Weise zu steuern.2 Ein möglicher Baustein, um diesem Ziel näher zu kommen, ist die Abschätzung der Folgen von Innovationen. Geht es darum, Innovationen dort zu fördern, wo sie Chancen in sich bergen, dort aber zu hemmen, wo sie Anlass zu Besorgnis geben, liegt der Blick auf die Folgen in der Tat nahe. Dies gilt umso mehr in einer Gesellschaft, die sich auf der einen Seite nach einer langen Zeit der relativen Folgenblindheit der Ubiquität und Langfristigkeit von Handlungsfolgen, vor allem aber auch der Bedeutung von Nebenfolgen bewusst geworden ist, sich mittlerweile in nahezu allen Bereichen mit den Folgen ihrer Aktivitäten auseinander setzt und als negativ empfundene Folgewirkungen nach Möglichkeit zu verhindern bzw. zu begrenzen sucht,3 auf der anderen Seite aber auch die Notwendigkeit fortlaufender Innovationen für die gesellschaftliche Entwicklung grundlegend anerkennt und fördert. Dies gilt nicht zuletzt aber auch für eine Gesellschaft, die mit den Mitteln Wolf (Fn. 1), S. 80. Zur rechtlichen Bedeutung der Folgenorientierung, die schon seit geraumer Zeit nicht zuletzt die juristische Methodenlehre beschäftigt, Thomas Wäldle, Juristische Folgenorientierung, 1979; Martina Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, 1995; Gunther Teubner (Hrsg.), Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe, 1995; Georg Hermes, Folgenberücksichtigung in der Verwaltungspraxis und in einer wirkungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Schmidt-Aßmann, Eberhard / Hoffmann-Riem, Wolfgang (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 359 ff.; aus dem engeren Bereich der Methodenlehre vor allem Martin Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 167 ff.; HansJoachim Koch / Helmut Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 170 ff.; Hans-Martin Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Aufl. 1991, S. 303 f.; kritisch zur Lösbarkeit des Problems der Feststellung und der Bewertung der Realfolgen rechtlicher Regelungen durch Auffinden irgendwelcher Kriterien oder Verfahren Gertrude Lübbe-Wolff, Rechtsfolgen und Realfolgen, 1981, S. 137. 2 3
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des Rechts nicht mehr nur die Einhaltung eines vorgegebenen normativen Rahmens für verschiedene Verhaltensweisen, sondern auch die Sicherstellung bestimmter Zustände und Ergebnisse jedenfalls dort erreichen möchte, wo unumkehrbare Entwicklungen drohen. Der Größe und dem Ausmaß der Chancen, vor allem aber auch möglicher Schäden oder Gefährdungen entsprechend werden aufwendige Technikfolgenabschätzungen, 4 Risikoermittlungen und -bewertungen, Alternativen-, Verträglichkeits-, Vertretbarkeits- und Bedarfsprüfungen gefordert und vorgenommen, um die Folgen innovativer Technologien und Entwicklungen zu erkennen und im kritischen Fall zu verhindern.5 Folgenabschätzung und Folgenorientierung haben Konjunktur. 2. Anschlussstellen an Vorläufermodelle Die wachsende Tendenz zu Folgenabschätzung und Folgenorientierung hat nicht nur zu einem vermehrten Bedarf an Information, sondern in einem ersten Schritt vor allem auch zu einem wachsenden Interesse an der Vermeidung kritischer, unerwünschter Folgen geführt.6 Das technische Sicherheitsrecht bei Großanlagen, der Umgang mit neueren Informations- und Kommunikationstechniken, das Atomund Gentechnikrecht, die Umweltverträglichkeitsprüfung und nicht zuletzt auch das Bio- und Medizinrecht bieten anschauliche Beispiele für rechtlich anspruchsvolle Regelungsregime, die dem Bewusstsein für die Erheblichkeit möglicher Folgen durch Antizipation neuer technischer Möglichkeiten sowie Kalkulation und Bekämpfung von Risiken Rechnung tragen sollen. Folgen und Folgenfolgen sollen frühzeitig analysiert, eingeschätzt und – durch Vergleich mit den Folgen alternativer Entwicklungen – bewertet werden. Auf diese Weise sollen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass Entscheidungen auf einer möglichst breiten und gesicherten Grundlage getroffen werden. Neben der Erfassung, der Vernetzung und Bewertung von Daten und deren Auswirkungen geht es auch um die Berücksichtigung möglicher Entwicklungen und das Aufzeigen von Optionen, die in der Form eines Frühwarnsystems7 potentielle 4 Dazu nur Carl Böhret / Peter Franz, Technikfolgenabschätzung, 1982; Jürgen Lohmeyer, Technology Assessment: Anspruch, Möglichkeiten und Grenzen, 1984; Raban Graf v. Westphalen (Hrsg.), Technikfolgenabschätzung, 1988; Alexander Roßnagel, Rechtswissenschaftliche Technikfolgenforschung, 1993; Axel Zweck, Die Entwicklung der Technikfolgenabschätzung zum gesellschaftlichen Vermittlungsinstrument, 1993, je m. w. N. 5 Allgemein zu den damit verbundenen Problemen Deutscher Bundestag (Hrsg.), Bericht der Enquete-Kommission „Einschätzung und Bewertung von Technikfolgen. Gestaltung von Rahmenbedingungen der technischen Entwicklung“, BT-Drs. 10 / 5844, S. 1 ff.; Wolfgang van den Daele, Sozialverträglichkeit und Umweltverträglichkeit. Inhaltliche Mindeststandards und Verfahren bei der Beurteilung neuer Technik, PVS 34 (1993), S. 219 ff. 6 Carl Böhret, Neuartige Folgen – eine „andere“ Verwaltung, VerwArch 80 (1989), S. 13 ff.; ders., Nachweltschutz, 1991, S. 90 f.; Gotthard Bechmann / Juliane Jörissen, Technikfolgenabschätzung und Umweltverträglichkeitsprüfung, KritV 1992, S. 140 (142 ff.).
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Folgen ausmachen und deren frühzeitige Abschätzung ermöglichen sollen. Dabei liegt auf der Hand, dass eine effektive Folgenorientierung mit dem Bewusstsein für die Folgenproblematik und den verfügbaren Informationen steht und fällt. Es ist davon abhängig, dass ausreichende Kenntnisse über Stand und Methoden in den Wissenschaften, über den Entwicklungsstand einzelner Techniken sowie die Umsetzungs- bzw. Anwendungsreife eventueller alternativer Konzepte vorhanden sind. In ihnen wird die entscheidende Grundlage für ein Folgenmanagement gesehen, das über die Vorgabe von Kriterien für einzelne Projekte und Produkte hinausgeht und sich an einer Gesamtperspektive aller Wirkungen ausrichtet.8 Bezieht man die Folgenabschätzung und -orientierung auf technische und ökonomische Innovationen, lässt sich von Innovationsfolgenabschätzung sprechen. Wie auch bei den verwandten Vorläufermodellen der Umweltverträglichkeitsprüfung, der Technikfolgenabschätzung, der Gesetzesfolgenabschätzung und der Risiko(folgen)abschätzung wird mit der Innovationsfolgenabschätzung die Frage nach der Berücksichtigungsfähigkeit von Folgen bei rechtlichen Entscheidungen ausdrücklich thematisiert. Die Berücksichtigung von Folgen wird nicht der bloßen Zuordnung zur objektiv teleologischen Auslegung9 und damit der vergleichsweise zufälligen Intuition und Pragmatik der Rechtspraxis und des rechtswissenschaftlichen Schrifttums überlassen, sondern soll allgemein reflektiert und auf eine eigene methodische Anleitung hin ausgerichtet werden. Während bei den Vorläufermodellen der Schwerpunkt lange Zeit auf der Analyse der nicht intendierten, negativen Auswirkungen technischer Entwicklungen lag, steht der Begriff der Innovationsfolgenabschätzung jedoch für die spezifische gespaltene Perspektive beim Blick auf die Folgen innovativer Technologien. Die charakteristische Doppelrolle der Innovationsfolgenabschätzung liegt darin, dass sie auf der einen Seite die Innovationsbereitschaft und die damit verbundene Entwicklung neuer Technologien durch Ermittlung und Einschätzung der damit verbundenen Chancen fördern soll. Auf der anderen Seite zählt zur Innovationsfolgenabschätzung auch der vergleichsweise klassische Versuch, die negativen Folgen innovativer Prozesse zu vermeiden oder wenigstens zu vermindern. Dadurch soll nicht zuletzt der Erkenntnis Rechnung getragen werden, dass das Technikrecht – wie die Behandlung von Nutzen und Chancen moderner Kommunikationstechnologien im Telekommunikationsrecht beispielhaft zeigt – nicht mehr allein die Aufgabe der Bewältigung von Risiken, sondern auch und gerade die Funktion der vorgreiflichen Ermöglichung und Regulierung von Technikinnovationen haben soll. Diese doppelte Perspektive ist prägend für die rechtliche Begleitung moderner 7 Dieter Simon, Schwache Signale – Die Früherkennung von strategischen Diskontinuitäten durch Erfassung von „weak signals“, 1986; zum Begriff der „Frühwarnung“ als spezifischem Terminus der Technikfolgenabschätzung Bechmann / Jörissen (Fn. 6), S. 140, 145. 8 Pitschas (Fn. 1), S. 798 f.; vgl. auch Hermann Hill, Staatliches Handeln bei veränderlichen Bedingungen, in: Ellwein, Thomas / Hesse, Joachim Jens (Hrsg.), Staatswissenschaften: Vergessene Disziplin oder neue Herausforderung?, 1990, S. 55 (58 ff.). 9 So beispielsweise Koch / Rüßmann (Fn. 3), S. 227 ff.
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Technologien wie etwa der Informations- und Kommunikationstechniken, der Gentechnik, der Bio- und Medizintechnik oder der Nanotechnologie. Beide Aspekte – die Innovationsförderung und die Vermeidung bzw. Verminderung kritischer Folgen – setzen ein Mindestmaß an vorausschauender Planung voraus, die sich sowohl auf die Antizipation innovativer (technischer) Entwicklungen als auch auf die Abschätzung und Abwehr möglicher Risiken beziehen muss.10 Für beide Blickrichtungen kann die Ermittlung und Abschätzung der möglichen Folgen entscheidend sein. Insofern kann es auch nicht darum gehen, die Errungenschaften der Vorläufermodelle, die namentlich in der Folgenorientierung des Technikrechts durch Konzeptionen der rechtlichen Risikovorsorge und des Risikomanagements liegen, zu überwinden. Entscheidend muss sein, diese Ansätze durch spezifische Ansätze der Innovationssteuerung der Technik zu ergänzen.11
II. Aufgaben und Funktionen der Innovationsfolgenabschätzung 1. Grundcharakteristika Versucht man, die Institute der Folgenabschätzung und Folgenorientierung näher zu charakterisieren, liegt ein zentraler Aspekt darin, dass der erwartete oder auch nur vermutete Eintritt oder Nichteintritt bestimmter Entscheidungsfolgen zu einem maßgebenden Gesichtspunkt rechtlicher Entscheidungen gemacht wird. Die Orientierung an den Folgen erweist sich insofern als ein spezifischer Modus zur Verarbeitung der Ungewissheit künftiger Entwicklungen.12 Maßgebend für Entscheidungen sollen auf dieser Grundlage nicht allein bereits eingetretene Tatsachen sein, sondern auch die durch Abschätzung mehr oder weniger stark konkretisierten und konkretisierbaren künftigen Wirkungen dieser Entscheidungen. Insofern weist die Innovationsfolgenabschätzung eine starke präventive Orientierung auf. Die potentiellen Auswirkungen innovativer Entwicklungen sollen antizipiert werden, um die darin liegenden Chancen nutzen, zugleich aber auch im Wege der Frühwarnung oder Vorsorge kritische Folgen möglichst frühzeitig vermeiden oder wenigstens einschränken zu können. 10 Bechmann / Jörissen (Fn. 6), S. 141; allgemein zu der mit der Doppelperspektive verbundenen Problematik Raban Graf von Westphalen / S. Neubert, Zur Rolle von Recht und Rechtswissenschaft im Technikfolgenabschätzungs- und -bewertungsprozess: Ein Problemaufriss, in: von Westphalen, Raban (Hrsg.), Technikfolgenabschätzung als politische Aufgabe, 1988, S. 257 ff. 11 Rainer Pitschas, Technikentwicklung und -implementierung als rechtliches Steuerungsproblem: Von der administrativen Risikopotentialanalyse zur Innovationsfunktion des Technikrechts, in: Kloepfer, Michael (Hrsg.), Technikentwicklung und Technikrechtsentwicklung, 2000, S. 73 ff.; Claudio Franzius, Technikermöglichungsrecht. Wechselbeziehungen zwischen Technik und Recht am Beispiel der Kommunikationstechnik, Die Verwaltung 34 (2001), S. 487 (507). 12 Wäldle (Fn. 3), S. 5.
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a) Beachtlichkeit des Folgenarguments Eine der zentralen Funktionen der Innovationsfolgenabschätzung besteht darin, die für rechtliche Entscheidungen maßgebende Frage, ob und inwieweit das Folgenargument überhaupt zugelassen ist, grundsätzlich positiv zu beantworten. Die Relevanz von Folgengesichtspunkten wird ausdrücklich anerkannt. Die Bestimmung des „Prognose- oder Folgenbereichs“ durch die Innovationsfolgenabschätzung wird zu einem wesentlichen Faktor sowohl für die Herstellung und Findung als auch die Darstellung und Legitimation von Recht.13 Bezugspunkt der Folgenabschätzung ist die Entscheidung, deren Vorbereitung sie dient. Durch systematische, frühzeitige und umfassende Ermittlung, Beschreibung und Bewertung der Realisierungsbedingungen und potentiellen Auswirkungen innovativer technologischer Entwicklungen oder konkreter Projekte soll das Informationsniveau des Entscheidungsträgers erhöht werden. Dahinter steht die Erwartung, dass eine Verbesserung der Entscheidungsgrundlagen zu einer Rationalisierung des Entscheidungsprozesses und damit gleichsam automatisch auch zu „besseren“ Entscheidungen führt.14 Die Verbreiterung der Informationsbasis für Entscheidungen ist allerdings eine durchaus zwiespältige Sache. In einem ersten Zugriff werden die Entscheidungsvoraussetzungen dadurch vor allem komplexer. Der Entscheidungsprozess wird in sachlicher Hinsicht umfangreicher, weil mehr Möglichkeiten zu berücksichtigen sind, in zeitlicher Hinsicht langwieriger, weil mehr Daten zu verarbeiten sind, und in sozialer Hinsicht kontroverser, weil mehr Belange und Interessen zu einem Ausgleich zu bringen sind.15 Insofern kann die Verbesserung des Informationsniveaus zwar nicht per se bessere Entscheidungen garantieren, sie kann aber dazu beitragen, dass die Beteiligten die verschiedenen Dimensionen einer Entwicklung oder Entscheidung erkennen und sich der unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten mit all ihren Implikationen bewusst werden. Die Entscheidungsträger werden dadurch in die Lage versetzt, Entscheidungen zu treffen, die einer komplexen und unbekannten Zukunft gegenüber verantwortbarer sind – verantwortbarer vor allem insofern, als Irrtümer und Fehleinschätzungen innovativer Technologien in der Gegenwart das Spektrum der in der Zukunft zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen nicht beschränken sollen.16 13 Wolfgang Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Schmidt-Aßmann, Eberhard / Hoffmann-Riem, Wolfgang (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 9 (38 f.); Hermes (Fn. 3), S. 360. 14 Bechmann / Jörissen (Fn. 6), S. 143 m. w. N. 15 Bechmann / Jörissen (Fn. 6), S. 145. 16 Karl-Heinz Ladeur, Umweltrecht und technologische Innovation, UTR 5 (1988), S. 310. In der Sache geht es regelmäßig um eine zweistufige Vorgehensweise: Zum einen geht es um das rechtzeitige Erkennen von Auswirkungen durch die Ermittlung möglicher Folgen und Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge; zum anderen geht es darum, auf der Grundlage der erkannten Auswirkungen einen Handlungsbedarf zu identifizieren und anzuerkennen, bevor die
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b) Prinzipielle Offenheit der Folgenperspektive Zu den Ausgangsproblemen von Folgenabschätzung und Folgenorientierung zählt die prinzipielle Offenheit der Folgenperspektive. Das Spektrum der Auswirkungen, die es zu ermitteln und zu bewerten gilt, ist grundsätzlich unbegrenzt. Idealtypischer Weise ist die Innovationsfolgenabschätzung auf eine Gesamtbewertung potentieller Entwicklungen gerichtet, die sich sowohl als Risiko als auch als Chance erweisen können, im maßgebenden Zeitpunkt aber (noch) mit Unsicherheiten behaftet sind.17 Im Wege der Innovationsfolgenabschätzung sollen daher grundsätzlich alle positiven und negativen Folgen einer Entwicklung in den Blick genommen werden, um eine Gesamtabschätzung zu ermöglichen. Aus der Vielzahl möglicher Veränderungen der empirischen Realität sollen diejenigen herausgefiltert werden, denen für rechtliche Entscheidungen – bezogen auf die Innovation bzw. innovative Technologie – Bedeutung zukommen kann. Insofern geht es der Folgenabschätzung nicht um die zu setzenden Rechtsfolgen, die absehbar sind und durch die Entscheidung bewirkt werden sollen. Erfasst werden sollen grundsätzlich alle realen Folgen für die Verfahrensbeteiligten und deren unmittelbares Umfeld (Mikrofolgen, Outcome) sowie alle realen sozioökonomischen und ökologischen Auswirkungen (Makrofolgen, Impact)18 einschließlich aller intendierten und nicht intendierten Nebenfolgen.19 Ohne normative Begrenzung der Folgenperspektive geraten damit letztlich alle ökonomischen, ökologischen, technischen, institutionellen und sozialen Auswirkungen einschließlich der Rückwirkungen gesellschaftlicher Folgen auf die technischen Entwicklungen in den Blick.20 Gibt es aber, was die Erfassung und die mögliche Relevanz sowie den Zeithorizont möglicher Entscheidungsfolgen anbetrifft, keine prinzipiellen Grenzen, drängt sich die Frage auf, wie mit der Offenheit der Folgenperspektive umzugehen ist. Dabei werden sich kaum allgemein gültige Lösungen finden lassen. Während das Gesetzgebungsverfahren und planerische Entscheidungsprozesse strukturell auf die Bewältigung einer vergleichsweise weiten Folgenperspektive ausgerichtet sind, findet sich im Übrigen regelmäßig eine deutliche Eingrenzung des Untersuchungsrahmens für mögliche Folgen, wie sie die Umweltverträglichkeitsprüfung exemplarisch vorsieht. Der rationale Umgang mit Folgen setzt insofern eine Auswahl voraus, in jeweiligen Risiken sich in einer die vorhandenen Handlungsoptionen einschränkenden Weise realisieren; vgl. dazu bereits Bechmann / Jörissen (Fn. 6), S. 145 f. 17 So – ganz allgemein für das Risiko-Management im Öffentlichen Sektor – Hermann Hill, Risiko-Management im Öffentlichen Sektor, in: ders. (Hrsg.), Risiko-Management in der englischen Verwaltung, 2003, S. 1 ff. 18 Wäldle (Fn. 3), S. 6. 19 Zur Unterscheidung von Rechtsfolgen und Realfolgen Niklas Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, S. 40 f.; Lübbe-Wolff (Fn. 3), S. 25. 20 So für die Technikfolgenabschätzung Herbert Paschen u. a., Zur Umsetzungsproblematik bei Technikfolgen-Abschätzung (TA). Gutachten im Auftrag der Enquete-Kommission „Technikfolgenabschätzung“ des Deutschen Bundestages, Materialien zur Drucksache 10 / 6801, 1987, S. 209.
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welchen Bereichen und mit welcher Reichweite mögliche Auswirkungen überhaupt ermittelt und untersucht werden und welche Folgen rechtlich relevant sein sollen. c) Spezialfall des vorsorgenden Umgangs mit (Prognose-)Unsicherheit In der Sache steht fest, dass es bei der Innovationsfolgenabschätzung aus praktischen wie aus Erkenntnisgründen regelmäßig nicht um vollständige Erfassung, sondern nur um eine Eingrenzung der relevanten Folgen gehen kann.21 Es ist kennzeichnend für innovative Technologien, dass die Abschätzung der Folgen, die Beurteilung von Nutzen und Risiken mit erheblichen Prognoseunsicherheiten verbunden ist. Regelmäßig sind keine Prognosemethoden vorhanden, die die Komplexität innovativer Entwicklungen umfassend erfassen und bewältigen können. Hinzu kommen bestehende Theoriedefizite und mangelnde Kenntnisse über UrsacheWirkungsbeziehungen, die eine klare Einschätzung und Bewertung erschweren können. Die typische Entscheidungslage, die durch eine Folgenabschätzung vorbereitet werden soll, ist dadurch gekennzeichnet,22 dass der Einsatz innovativer Technologien wirtschaftlichen und / oder gesellschaftlichen Nutzen verspricht, die Möglichkeit von Risiken und Schäden jedoch nicht ausgeschlossen werden kann. Darüber hinaus sind die langfristigen positiven und negativen Auswirkungen der Einführung und Nutzung der innovativen Technologie in den meisten Fällen nur schwer vorhersehbar. In aller Regel kommt erschwerend hinzu, dass keine einheitlichen Maßstäbe für die Beurteilung der innovativen Technologie vorliegen. In diesen typischen Fällen erweist sich die Innovationsfolgenabschätzung als Spezialfall des vorsorgenden Umgangs mit Prognoseunsicherheit,23 dem durch möglichst weitgehende Antizipation neuer technischer Möglichkeiten und ihrer Risiken Rechnung getragen werden soll. d) Versuch einer Vorwegnahme von Lerneffekten Nicht zuletzt aus der Überlegung heraus, dass Gefährdungen relevanter Schutzgüter nach Möglichkeit vermieden werden sollen und größere Korrekturen in einem späteren Entwicklungsstadium nur noch mit erheblichem Aufwand durchzuführen sind, sollen die potentiellen Auswirkungen innovativer Technologien 21 Für die Folgenorientierung allgemein Arnim Grunwald, Technik für die Gesellschaft von morgen, 2000, S. 217 ff.; Karl-Heinz Ladeur, Risikooffenheit und Zurechnung – insbesondere im Umweltrecht, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 111 ff.; Hermes (Fn. 3), S. 360. 22 Dazu – bezogen auf Zukunftstechnologien – Eberhard Bohne, Staat und Konfliktbewältigung bei Zukunftstechnologien, NVwZ 1999, 1 (4). 23 Vgl. zur Prognoseunsicherheit auch unten II. 1 f.
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möglichst weitgehend vorweggenommen und durch angemessene rechtliche Reaktion neutralisiert werden.24 Vor diesem Hintergrund wären an sich mehr oder weniger umfangreiche Vorsorgemaßnahmen angezeigt, die den innovativen Entwicklungen und den dabei immer mitgedachten Freiheitsgarantien entsprechend dem erkennbaren Besorgnispotential Grenzen ziehen. Allerdings hat Vorsorge gegenüber der Gefahrenabwehr einen Nachteil, auf den vor allem die Systemtheorie hingewiesen hat:25 Beschränken sich die rechtlichen Vorgaben auf Gefahrenabwehr, nehmen sie Beeinträchtigungen auf Seiten der potentiellen Opfer in Kauf, die gegebenenfalls nachträglich ausgeglichen werden. Es treten damit aber regelmäßig Beeinträchtigungen oder Schäden auf, aus denen für die Zukunft gelernt werden kann. Werden umfangreiche Vorsorgemaßnahmen getroffen, entsteht dagegen kein oder jedenfalls nur sehr wenig Erfahrungswissen. Man erfährt nicht, ob die innovative Aktivität tatsächlich so schadensträchtig war und ob es nicht andere, schonendere Wege zur Beherrschung der Risiken bei gleichzeitiger Wahrung der Chancen gegeben hätte.26 Zugespitzt kann man sagen: Zu viel Vorsorge verhindert Lern-Erfahrungen. Sie ist im Vergleich zur „selektionsscharfen“ Gefahrenabwehr „selektionsarm“, weil nicht bestimmte Wege durch Erfahrungen ausgeschlossen werden können. Wegen der gebotenen Lernfähigkeit liegt es nahe, die im Ansatz unbegrenzte Vorsorge durch Risikovermeidung und Risikominimierung nicht auf die Spitze zu treiben, sondern bewusst zurückzunehmen, zu strukturieren und zu begrenzen.27 In dieser Weise verfahren – von absoluten Verbots- bzw. Moratoriumsentscheidungen abgesehen – grundsätzlich alle rechtlichen Risikoregulierungsstrategien: Das Vorsorgeanliegen wird zwar nach wie vor anerkannt und grundlegend rechtlich normiert. Zugleich werden aber allgemeine Verfahren und Regeln entworfen, die den im Ausgang offenen und potentiell unbegrenzten Umgang mit Ungewissheitsfolgen anleiten, konkretisieren und steuern sollen. In diesem Zusammenhang erweist sich die Folgenabschätzung als spezifisches Instrument zur Steuerung der Reichweite von Vorsorge und Vorsorgemaßnahmen. Dogmatisch ist die Folgenabschätzung insoweit dem Bereich des Vorsorgeanlasses bzw. der Bestimmung des Besorgnispotentials zuzuordnen.28 Die Folgenabschätzung soll dazu dienen, durch Ermittlung und Bewertung der Folgen die Ungewissheit im Vorfeld von Entscheidungen möglichst weitgehend zu vermindern und den Bechmann / Jörissen (Fn. 6), S. 145. Vgl. nur Klaus P. Japp, Struktureffekte öffentlicher Risikokommunikation auf Regulierungsregime, in: Engel, Christoph / Halfmann, Jost / Schulte, Martin (Hrsg.), Wissen – Nichtwissen – Unsicheres Wissen, 2002, S. 35, 51, 58 m. w. N.; zusammenfassend wie hier Appel (Fn. 1), S. 333 f. 26 Christoph Engel, Rechtliche Entscheidungen unter Unsicherheit, Preprints aus der MaxPlanck-Projektgruppe Recht der Gemeinschaftsgüter 2001 / 9, S. 40; Japp (Fn. 25), S. 51, 58. 27 Dazu bereits Rainer Wahl / Ivo Appel, Prävention und Vorsorge: Von der Staatsaufgabe zur rechtlichen Ausgestaltung, in: Wahl, Rainer (Hrsg.), Prävention und Vorsorge, 1995, S. 27 f. 28 Näher zu Vorsorgeanlass und Besorgnispotential Wahl / Appel (Fn. 27), S. 121 ff. 24 25
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Umgang mit der verbleibenden Ungewissheit durch Vermeidungs- oder Minimierungsstrategien zu rationalisieren. Durch die Ermittlung und Bewertung der möglichen Folgen sollen Lerneffekte, die bei zu umfangreichen Vorsorgemaßnahmen gar nicht erst eintreten würden, nach Möglichkeit vorweggenommen werden. Ziel ist die rechtliche Rationalisierung der unter Unsicherheitsbedingungen zu treffenden Entscheidungen und zugleich die Reduzierung der mit den Erkenntnisdefiziten verbundenen Kosten. Durch Folgenabschätzungen soll vor diesem Hintergrund vor allem erreicht werden, dass die gebotene und gewollte Lernfähigkeit und die damit zwangsläufig verbundene Möglichkeit von Beeinträchtigungen keinen zu hohen Preis fordert. Innovationsfolgenabschätzung erweist sich so gesehen als Versuch, den voraussichtlich zu zahlenden gesellschaftlichen Preis für innovative Technologien ungefähr abzuschätzen, um ihn zu dem erwartbaren und ebenfalls abzuschätzenden Nutzen ins Verhältnis setzen zu können. e) Vorausgreifende Verknüpfung von Input und Outcome / Impact Eine strukturelle Besonderheit von Folgenabschätzungen ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass der Weg vom Outcome und Impact29 zum Input abgekürzt werden soll. So weit die Folgenperspektive reicht, soll nicht erst abgewartet werden, welcher Outcome und Impact einer Entscheidung tatsächlich entsteht, um erst im Anschluss daran Rückschlüsse zu ziehen. Outcome und Impact sollen im Gegenteil möglichst weitgehend vorweggenommen werden und möglichst umgehend in den Input einfließen. Outcome und Impact im Sinne jener Wirkungen, die von der Entscheidung beeinflusst werden, sollen auf diese Weise als Teil des Inputs konzipiert werden und die Entscheidung bereits im Vorfeld mit prägen. Vor diesem Hintergrund liegt der Einsatz von Folgenabschätzungen vor allem dort nahe, wo – wie im Fall von Risikoentscheidungen unter Unsicherheit – der Eintritt bestimmter Wirkungen nicht abgewartet werden kann oder soll. Insofern überrascht es auch nicht, dass die Prototypen der Folgenabschätzung für den Bereich der Technikfolgenabschätzung entwickelt und eingesetzt wurden. Prinzipiell lässt sich das Konzept der Folgenabschätzung aber auf alle Entscheidungen übertragen. Mit dem Instrument der Folgenabschätzung wird somit der klassische Weg, dass eine Sachentscheidung getroffen wird, sodann ihre Wirkungen entfaltet und aus diesen dann für die Zukunft gelernt werden kann, partiell überformt. Das Grundkonzept der Folgenabschätzung lebt davon, dass die Wirkungen einer Entscheidung möglichst weitgehend vorausgreifend ermittelt und bewertet werden. Das Ergebnis dieser Ermittlung und Bewertung wird noch vor Erlass der Entscheidung in den 29 Zur Unterscheidung zwischen Output (Entscheidungsergebnis), Impact (Wirkungen einer Entscheidung für ihre Adressaten oder für Dritte) und Outcome (Auswirkungen in dem erfassten gesellschaftlichen Bereich einschließlich Präzedenzwirkungen für spätere Entscheidungsverfahren) nur Frank Nullmeier, Input, Output, Outcome, Effektivität und Effizienz, in: Blanke, Bernhard u. a. (Hrsg.), Handbuch zur Verwaltungsreform, 2. Aufl. 2001, S. 357 ff.; zusammenfassend Hoffmann-Riem (Fn. 13), S. 38 f.
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Entscheidungsfindungsprozess eingespeist. Folgenabschätzung ist so gesehen ein spezifisches Zusatzelement auf dem Weg zur (richtigen) Sachentscheidung. Sofern sie gesetzlich vorgesehen ist, erweist sie sich als Instrument der Entscheidungsvorbereitung im Verwaltungsverfahren. Erst daran schließt sich dann die unter dem Gesichtspunkt der Folgenorientierung oder Folgenrelevanz zu stellende Frage an, ob und inwieweit die Ergebnisse der Folgenabschätzung in die Sachentscheidung einfließen und diese prägen dürfen, sollen oder müssen.30 f) Unsicherheit der Prognose Ein wesentliches Problem von Folgenabschätzungen liegt darin, dass die Prognose der potentiellen Folgewirkungen erheblichen Unsicherheiten ausgesetzt ist.31 Der Grad der Unsicherheit kann allerdings stark variieren und hängt vor allem davon ab, wie weitgehend die grundsätzlich offene Folgenperspektive in sachlicher und zeitlicher Hinsicht eingegrenzt wird. Während bei allgemeinen Technikfolgenabschätzungen im Gesetzgebungsverfahren die Analyse der Folgewirkungen normativ in aller Regel nicht eingegrenzt wird und gerade auch die Wechselwirkungen zwischen technologischer und gesellschaftlicher Entwicklung einbezogen werden sollen, kann die Folgenabschätzung beispielsweise bei der Umweltverträglichkeitsprüfung auf bestimmte Arten von Folgen und einen engeren Zeithorizont beschränkt werden. Allgemein lässt sich sagen, dass eine räumlich und zeitlich eingegrenztere Entwicklung wie etwa eine neue, in sich geschlossene Produktionsanlage in ihren Folgen tendenziell leichter prognostiziert werden kann als offenere Prozesse wie etwa die mittel- und langfristigen Auswirkungen der Einführung einer innovativen Informationstechnologie.32 Gerade bei der Gesamtabschätzung der Folgen innovativer Technologien werden die Auswirkungen regelmäßig nicht allein und auch nicht in erster Linie durch Extrapolation vorhandener Gegebenheiten ermittelt und beurteilt werden können, sondern durch antizipative Beschreibungen denkbarer Zukünfte, wie sie die für den Bereich der Technikfolgenabschätzung entwickelte Szenario-Technik vorgeprägt hat. Dabei werden auf der Grundlage der absehbaren Rahmen- und Entwicklungsbedingungen, der bestehenden Handlungsspielräume und verschiedener Präferenzskalen mögliche alternative Entwicklungspfade entworfen und einander gegenübergestellt.33 Auf dieser Grundlage können dann verschiedene Entscheidungsvarianten simuliert und durch Vergleich der Alternativen zumindest relative Bewertungsmaßstäbe gewonnen werden. Dazu unten IV.1.a); näher Hermes (Fn. 3), insb. S. 369 ff., 377 ff. Günther Frederichs / Hartwig Blume, Umweltprognosen: Methoden und Anwendungsprobleme der modernen Umweltpolitik, 1990, S. 31 ff.; Bechmann / Jörissen (Fn. 6), S. 153. 32 Vgl. die Bespiele bei Bechmann / Jörissen (Fn. 6), S. 154. 33 Joachim Scharioth, Technikfolgenabschätzung: Konkrete Anwendungsfelder und Methoden, in: Ropohl, Günter / Schuchardt, Wilgart / Wolf, Rainer (Hrsg.), Schlüsseltexte zur Technikbewertung, 1990, S. 198; Bechmann / Jörissen (Fn. 6), S. 154. 30 31
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g) Maßstabsproblematik Neben den Schwierigkeiten der prinzipiell offenen Folgenperspektive34 und der Prognoseunsicherheit35 müssen sich Folgenabschätzung und Folgenorientierung auch dem Problem stellen, welche Folgen für eine Entscheidung letztlich Relevanz haben sollen, wie sie zu gewichten sind und welche Maßstäbe für die Beurteilung und Bewertung der Folgen ausschlaggebend sein sollen. Folgenermittlung und Folgenbewertung sind nur in dem Maße rational nachvollziehbar und dementsprechend begründet verwertbar, in dem das Gewicht einzelner Folgen und die Bewertungsaspekte klar sind und offen gelegt werden. Es reicht daher nicht aus, die Bedeutung von Folgengesichtspunkten zu erkennen und anzuerkennen. Ebenso wichtig ist die Erkenntnis, dass die Folgenbewertung notwendiger Weise auf eine Ziel- bzw. Zweckstruktur bezogen werden muss.36 Nur in dem Maße, in dem sich diese (klar) aus den Entscheidungsgrundlagen der auf die jeweilige technische Innovation anzuwendenden Normen ergibt, ist die Maßstabsproblematik mit rechtlichen Mitteln überhaupt zu bewältigen.37 So gesehen muss die Folgenperspektive, wenn sie rechtlich handhabbar sein soll, zwangsläufig mit einer Zweckprogrammierung und damit einem planerischen Element verknüpft werden. Selbst wenn man den Bezug der Folgenperspektive zu einer Ziel- und Zweckstruktur grundlegend anerkennt, fehlt es oft an präzisen und rational nachprüfbaren Kriterien dafür, anhand welcher von einer Vielzahl möglicher Gesetzeszwecke die ermittelten Folgen bewertet und welche Zwecke wie stark gewichtet werden sollen. Das Maßstabsproblem schlägt bei der Innovationsfolgenabschätzung aufgrund der typischerweise größeren Zielheterogenität stärker durch als bei den meisten Vorläufermodellen für Folgenabschätzungen. Während es bei der Technikfolgenabschätzung und der Umweltverträglichkeitsprüfung um die Vermeidung kritischer Folgen für Leben, Gesundheit und Umwelt ging und geht, so dass die zu verfolgenden Zwecke vergleichsweise klar und homogen(er) waren und sind, ist die Zielstruktur bei der Innovationsfolgenabschätzung ansatzbedingt offener: Auf der einen Seite wird das Ziel verfolgt, Innovationen zu fördern und einen innovationsDazu oben II.1.b). Dazu oben II.1.f). 36 Dabei geht es nicht unmittelbar um Zweckprogrammierung, die im Luhmannschen Sinne auf Entscheidungen zum Zweck der Verwirklichung eines Zwecks bzw. der Verwirklichung eines erwünschten sozialen Zustands gerichtet ist (zu der gängigen Unterscheidung von Konditionalprogramm und Zweckprogramm Niklas Luhmann, Rechtssoziologie Band II, 1972, S. 228 ff.; zu den strukturellen Parallelen zu Max Webers Unterscheidung von formaler und materialer Rationalität des Rechts [Wirtschaft und Gesellschaft, Band II, S. 468 ff.] bereits Wäldle (Fn. 3), S. 5). Folgenorientierung setzt insofern eine Zweckprogrammierung voraus, als sie zwangsläufig einen Bewertungsmaßstab erfordert, anhand dessen der Umgang mit den Folgen rationalisiert werden kann. 37 Vgl. zur Maßstabsproblematik auch Lohmeyer (Fn. 4), S. 489; G. Ropohl, Technikbewertung als gesellschaftlicher Lernprozess, in: Ropohl / Schuchardt / Wolf (Hrsg.), Schlüsseltexte zur Technikbewertung, 1990, S. 198; Bechmann / Jörissen (Fn. 6), S. 161 f. 34 35
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offenen Rahmen zu schaffen, auf der anderen Seite sollen die negativen und kritischen Folgen und Nebenfolgen dieser Innovationen vermieden oder jedenfalls vermindert werden. Welcher dieser Zwecke in welchem Umfang maßgebend ist und wie sie zueinander ins Verhältnis zu setzen sind, ist im Ansatz offen und auch durch Rückgriff auf den historischen Gesetzgeber nicht immer eindeutig zu klären. Sind die einzigen Ausgangs- und Anhaltspunkte für die Folgenbewertung vielschichtige Zielvorgaben,38 besteht die Aufgabe von Verwaltung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft nicht zuletzt darin, die gesetzgeberischen Zielvorgaben so zu konkretisieren und methodisch aufzuladen, dass sie eine rational nachvollziehbare Ausrichtung an den Folgen überhaupt erst ermöglichen. Dabei liegt auf der Hand, dass sich die Maßstabsproblematik in unterschiedlicher Schärfe stellt: Im Gesetzgebungsverfahren sind im Hinblick auf neuartige Technologien in aller Regel innovationspolitische Grundsatzentscheidungen zu treffen, für die – von wenigen vergleichsweise abstrakten Verfassungsdirektiven abgesehen – allgemeingültige Wertmaßstäbe fehlen,39 so dass auf eine denkbar offene, letztlich aber aufgrund von subjektiven Gewissheiten zu bewertende Folgenperspektive abzustellen ist. Wird die Folgenabschätzung demgegenüber der Verwaltung übertragen, geht es regelmäßig um die an bestimmten vorgegebenen Zielen und Zwecken auszurichtende Entscheidung über konkrete Vorhaben auf der Basis einer bereits grundsätzlich positiv getroffenen Grundsatzentscheidung für eine innovative Technologie. Auch hier ist die Maßstabsproblematik virulent, aufgrund der gesetzlich vorgegebenen Ziel- und Zweckstruktur aber von vornherein eingegrenzt. 2. Folgenabschätzung und Folgenorientierung als Steuerungselemente der Rechtserzeugung a) Folgenorientierung als Element der Rechtserzeugung Was die rechtliche Einordnung anbetrifft, gilt es sich klar zu machen, dass Folgenabschätzung und Folgenorientierung in erster Linie Elemente in Rechtserzeugungsverfahren sind. Folgenabschätzungen machen aus rechtlicher Sicht nur Sinn, wo auch Spielräume bestehen, die Folgenperspektive zu berücksichtigen. Die Bindung des Rechtsanwenders an die gesetzlichen Vorgaben muss insofern gelockert sein, als eine Orientierung an den Folgen überhaupt möglich wird. Insofern hat die Folgenorientierung stets auch kompetenzielle und organisatorische Implikationen. Wäldle (Fn. 3), S. 12. Versuche, allgemeinverbindliche generelle Kriterien für die Bewertung der Akzeptabilität oder der Sozialverträglichkeit bestimmter Technikentwicklungen zu finden (so z. B. von H. Meyer-Abich, Sozialverträglichkeit: Ein Kriterium zur Beurteilung alternativer Energiesysteme, Evangelische Theologie 39, 1979; Lohmeyer (Fn. 4), S. 539 ff. m. w. N.), werden überwiegend kritisch beurteilt. Auch der zurückgenommenere Ansatz, Negativkriterien für die Beurteilung alternativer Handlungsoptionen zu entwickeln, um auf dieser Grundlage Einigkeit darüber zu erzielen, was auf jeden Fall unerwünscht ist, führt in den meisten Fällen nicht weiter. Vgl. zusammenfassend Bechmann / Jörissen (Fn. 6), S. 162. 38 39
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Denn wenn es darum geht, Entscheidungen durch Förderung ihrer positiven Auswirkungen und Vermeidung von kritischen Folgen zu optimieren, muss der Entscheidungsinstanz ein relativ gesehen größerer Entscheidungsspielraum eingeräumt werden als beim Abarbeiten eines vergleichsweise eng gefassten bindenden Konditionalprogramms. aa) Relativität von Rechtsanwendung und Rechtserzeugung Dabei ist Rechtserzeugung nicht mit Norm- oder Gesetzgebung gleichzusetzen. Rechtsetzung und Rechtsanwendung sind keineswegs so klar voneinander getrennt, wie es das klassische dogmatische Verständnis nahe legt.40 In einer gestuften Rechtsordnung hat grundsätzlich jeder Akt der Rechtsverwirklichung sowohl rechtsanwendenden (rechtsauslegenden) als auch rechtsetzenden (rechtserzeugenden) Charakter.41 Rechtsverwirklichung setzt sich stets aus einem gebundenen Teil der Rechtsanwendung und einem prinzipiell ungebundenen Teil der Rechtsverwirklichung zusammen. Diese stellt sich danach als ein arbeitsteiliger Prozess dar, in dem neben dem Gesetzgeber auch die Verwaltung und die Gerichte ihren Platz haben. Die Rechtserzeugung auch durch Verwaltung und Gerichte ist insofern eine Selbstverständlichkeit. bb) Abhängigkeit vom Grad der Gesetzesbindung Sofern eine enge Gesetzesbindung besteht, ist das Folgenargument weitgehend irrelevant, da keine andere als die gesetzlich (ohnehin) bindend vorgegebene Entscheidung möglich ist. Folgenorientierung ist nur dort überhaupt sinnvoll möglich, wo der Gesetzgeber – entweder bewusst im Hinblick auf zu berücksichtigende Folgen oder unbewusst – Spielräume für die Erzeugung von Recht unter Einbeziehung der möglichen Folgen belässt. Die Rechtsordnung weist allerdings unzählige Abstufungen und Relativierungen der gesetzlichen Bindungsdichte auf. Soweit diese graduelle Abschichtung zu Unsicherheiten der Entscheidungsfindung führt,42 40 Näher dazu und zum Folgenden zusammenfassend Ivo Appel, Das Verwaltungsrecht zwischen klassischem dogmatischen Verständnis und steuerungswissenschaftlichem Anspruch, VVDStRL 67 (2008), S. 226 (256 ff.); Matthias Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein . . . , 2006, S. 20. 41 Grundlegend zum „doppelten Rechtsantlitz“ Adolf J. Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz. Eine Betrachtung aus der Erkenntnistheorie des Rechtes (1918), in: ders. Gesammelte Schriften, Bd. I / 1, 1993, 227 ff.; ders. Das Recht im Lichte seiner Anwendung (1916 / 1917 / 1919), ebd., 83 ff. 42 Art und Maß der Gesetzesbindung variieren damit nicht nur je nach Funktion, Struktur und Regelungsdichte des Gesetzes. In dem Maße, in dem die Dichte der Gesetze abnimmt und Unsicherheiten entstehen, wachsen auch die Eigenanteile der Rechtsanwender, allen voran der Verwaltung, im Hinblick auf die Rechtsentwicklung und Rechtserzeugung (Rainer Wahl, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, VBlBW 1988, S. 387 [390]).
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macht diese eine gesetzliche Bindung unmöglich und eröffnet Raum für Folgenerwägungen im Rahmen der Rechtserzeugung.43 Spielräume für die Rechtserzeugung können sich dabei aus höchst unterschiedlichen Quellen speisen:44 Sie können sich nicht nur aus den klassischen, rechtlich ausdrücklich zugewiesenen Gestaltungs- oder Entscheidungsspielräumen ergeben. Es können auch Spielräume sein, die durch eine umstrittene Rechtslage oder die faktische Handhabung des Kontrollmaßstabs und der Kontrolldichte durch die Gerichte entstehen. Sie können ihre Wurzeln darüber hinaus im Tatsächlichen haben, durch fehlende oder nicht ausreichende Information oder schlicht durch Erkenntnisgrenzen bedingt sein. Insbesondere bei der Regelung innovativer und / oder komplexer Technologien, die eine Rückkoppelung an Erfahrung nicht mehr oder nur in begrenztem Ausmaß zulassen, stößt der Gesetzgeber mit seinen Ermittlungen und Bewertungen an Grenzen des Normierbaren. Da er angesichts fortbestehender Unsicherheiten und einer dynamischen Entwicklung des Fachwissens nicht ein für allemal gültige, für jeden Einzelfall gleichermaßen brauchbare Vorgaben vorfindet und dementsprechend auch nicht treffen kann, ändert sich die Normierungstechnik und steigt die Zahl der offen und unbestimmt gefassten Rechtsbegriffe. Der Gesetzgeber zieht sich in materiell-rechtlicher Hinsicht auf Regelungen mit vergleichsweise hohem Abstraktionsniveau zurück und beschränkt sich auf die Festlegung von Zielen und Prioritäten, Konzepten, Leitbildern und Aufgabenumschreibungen.
b) Folgenabschätzung als Faktor der Maßstabsbildung jenseits der Gesetzesbindung Verbleiben Unsicherheiten und entsteht im Prozess der Rechtsverwirklichung Spielraum für Rechtserzeugung, stellt sich die Frage nach Strategien bei der Ausfüllung dieses Spielraumes.45 In der Sache geht es um die Entwicklung von Strategien für Gesetzgeber, Verwaltung und Gerichte, wie – angesichts einer Vielfalt von Entscheidungsfaktoren und möglichen Kriterien für die Richtigkeit von Entscheidungen – mit dem rechtserzeugenden Teil der Rechtsverwirklichung umzugehen ist. Es geht um „normative Orientierungen . . . in einem über die Rechtmäßigkeit hinausgehenden, auf Richtigkeit zielenden Sinne“,46 um alle zu berücksichtigen43 Eine gewisse Strategie zur Rettung der Gesetzesbindung und zur Verkleinerung des durch Unsicherheiten entstehenden Rechtserzeugungsraumes kann in dem Versuch liegen, den Umgang mit Unsicherheit durch prozedurale Vorgaben positivrechtlich einzufangen, wie dies besonders anschaulich bei Risikoentscheidungen etwa im Gentechnikrecht geschieht. 44 Für die Unsicherheiten bei der Entscheidungsfindung Christian Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 266. 45 Besteht die Funktion von Normen darin, bestimmte Formen von Zukunft auszuschließen (dazu Stephan Kirste, Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewusstseins, 1998, 363 f.), heißt dies nach klassischem dogmatischem Verständnis, dass die (durch normative Bindung) nicht ausgeschlossenen Zukunftsformen offen und der (freien) Gestaltung zugänglich sind.
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den Zwecke möglichst weitgehend zu verwirklichen. Folgenabschätzungen sind ein Mittel zur Erreichung dieses Ziels. Sie liefern den Entscheidungsträgern Argumente und bereiten mögliche Maßstäbe für die Richtigkeit von Entscheidungen vor. Jenseits der Gesetzesbindung können sie zu einem maßgebenden Faktor der Maßstabsbildung werden. Gerade in innovationsrelevanten Bereichen, in denen der Gesetzgeber neuartigen Regelungsnotwendigkeiten Rechnung tragen muss, ohne genaue und umfassende Kenntnis über die Wirkungszusammenhänge zu haben,47 kann die Ausrichtung an den möglichen Folgen maßgebende Bedeutung gewinnen. Die Delegation von Entscheidungsbefugnissen in Form unbestimmter Rechtsbegriffe, Prognosen, Generalklauseln und Abwägungsgebote wird durch Folgenabschätzungen und Folgenorientierungen aufgefangen,48 die mit ihrer systematischen, frühzeitigen und umfassenden Ermittlung, Beschreibung und Bewertung der Realisierungsbedingungen und potentiellen Auswirkungen innovativer technologischer Entwicklungen oder konkreter Projekte nicht nur das Informationsniveau des Entscheidungsträgers erhöhen,49 sondern auch den Entscheidungsprozess rationalisieren, die Entscheidungsgrundlagen verbessern und damit auch zu „besseren“ Entscheidungen führen sollen.50 Folgenabschätzungen können danach eine gestufte Rolle entlang und im Rahmen der Bindungswirkung des jeweils höherrangigen Rechts spielen. Soll Folgenorientierung allerdings keine rein formale Aufforderung bleiben und einen sinnvollen Beitrag zur Maßstabsbildung leisten, müssen normative Bezugspunkte gegeben sein.51 Erst wenn normative Ziele und Zwecke vorhanden sind, an denen die prognostizierten Folgen gemessen und als vor- oder nachteilig bewertet werden können, kann sich Folgenabschätzung auch als sinnvolles und handhabbares Instrument der Rechtserzeugung erweisen.52 III. Verfahren der Innovationsfolgenabschätzung Verfahren, die Ansätze für eine Innovationsfolgenabschätzung aufweisen, finden sich sowohl auf der Ebene der Gesetzgebung (unten 1.) als auch im Verwaltungs46 Eberhard Schmidt-Aßmann Verwaltungsrecht (Fn. 1), 6 / 57 ff. unter Verweis auf Wolfgang Hoffmann-Riem Verwaltungsrechtsreform (Fn. 61), 130 ff. 47 Wäldle (Fn. 3), S. 12. 48 Näher zu der damit gesetzlich vorgegebenen Folgenausrichtung Gunther Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln, 1971; ders., Generalklauseln als sozio-normative Modelle, in: Klaus Lüderssen u. a. (Hrsg.), Generalklauseln als Gegenstand der Sozialwissenschaften, 1978, S. 13 ff. 49 Bechmann / Jörissen (Fn. 6), S. 143. 50 Bechmann / Jörissen (Fn. 6), S. 143 m. w. N. 51 Allgemein zur Maßstabsproblematik bereits oben II.1.g). 52 Eine Ausnahme scheint auf den ersten Blick eine rein wirtschaftliche Betrachtungsweise zu sein. Auch sie muss aber, wenn eine auf ihrer Grundlage getroffene Folgenabschätzung rechtlich verwertbar sein soll, normativ vorgesehen sein.
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verfahren (unten 2.). Innovationsfolgenabschätzung ist aber nicht zuletzt auch Sache der Rechtsprechung (unten 3.). 1. Innovationsfolgenabschätzung in Gesetzgebungsverfahren In Gesetzgebungsverfahren ist die Folgenabschätzung im Hinblick auf innovative Technologien in erster Linie ein Beratungsinstrument, nicht aber eine zwingende (Verfahrens-)Voraussetzung auf dem Weg zur Entscheidung. Sie soll dem Normgeber die Einbeziehung wissenschaftlich gewonnener Informationen über die Chancen und Risiken bestimmter innovativer Technologien ermöglichen und auf dieser Grundlage zu treffende Entscheidungen vorbereiten. Folgenermittlung und Folgenbewertung erfordern den Einsatz wissenschaftlicher Forschung in strategischer Absicht.53 Einsatz und Umsetzung der Innovationsfolgenabschätzung im Gesetzgebungsprozess geraten daher typischer Weise in Konkurrenz und Konflikt zur Politik. Denn in dem Maße, in dem die Problemdefinition und die anzulegende Perspektive verwissenschaftlicht werden, verliert der politische Bereich einen Teil seiner Macht über die Sachentscheidung. Gerade wegen dieser Konkurrenz und dieses möglichen Konflikts werden Folgenabschätzungen im Gesetzgebungsverfahren typischer Weise so ausgestaltet, dass es dem Ermessen des Entscheidungsträgers überlassen bleibt, welchen Gebrauch er von den Ergebnissen der Folgenabschätzungen macht. Auf Gesetzesebene findet eine gerade auch auf innovative Entwicklungen bezogene Folgenabschätzung als Technik- und allgemeiner als Gesetzesfolgenabschätzung statt.54 Auf dieser Ebene werden – demokratisch legitimiert – die generellen Entscheidungen getroffen, die die Vertretbarkeit einer neuen Technik unter Ungewissheitsbedingungen betreffen. Die Folgenabschätzung auf dieser Ebene lässt sich als Versuch interpretieren, die Rationalität solcher politischer Entscheidungen durch ein Verfahren zu erhöhen, das die in den Blick zu nehmenden Folgen – trotz aller Ungewissheiten – transparent und damit demokratisch legitimierbar machen soll.55 In der Sache geht es nicht allein um bevorstehende oder als bereits dringlich erkannte Entscheidungen, sondern vor allem auch um die Klärung der Frage, ob hinsichtlich neuer (innovativer) Technologien mittel- oder langfristig ein Entscheidungsbedarf besteht. Die Leistungsfähigkeit der Technik- und GesetzesfolgenDazu und zum Folgenden Bechmann / Jörissen (Fn. 6), S. 142. Aus dem umfangreichen Schrifttum zur Technikfolgen- und Gesetzesfolgenabschätzung nur Carl Böhret / Rainer Kestermann / Mathias Reiser, Folgenanalysen im verwaltungspolitischen Prozess der Technikgestaltung, 1989; Alexander Roßnagel, Rechtswissenschaftliche Technikfolgenabschätzung, 1993; Carl Böhret, Gesetzesfolgenabschätzung, 1997; Carl Böhret / Götz Konzendorf, Handbuch Gesetzesfolgenabschätzung, 2001; Wolfgang Köck, Gesetzesfolgenabschätzung und Gesetzgebungsrechtslehre, VerwArch 93 (2002), S. 1 ff.; Ulrich Smeddinck, Gesetzesfolgenabschätzung und Umweltverträglichkeitsprüfung, DÖV 2004, 103 ff. 55 Hermes (Fn. 3), S. 382; zuvor bereits Roßnagel (Fn. 54), S. 36. 53 54
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abschätzung hängt dabei maßgebend davon ab, dass Alternativen entwickelt und die jeweiligen Vor- und Nachteile dargestellt werden. 2. Innovationsfolgenabschätzung in Verwaltungsverfahren Auf der Ebene der Verwaltungsverfahren finden sich bislang vor allem Risikoabschätzungs-, Verträglichkeits- und Vertretbarkeitsprüfungen sowie mehr oder weniger offene Nutzen-Kosten-Analysen, die zumindest partiell die Aufgaben einer Innovationsfolgenabschätzung übernehmen. Ziel ist die Verbesserung konkreter Sachentscheidungen, indem die Entscheidungskriterien der Verwaltung im Hinblick vor allem auf die Risiken, mitunter aber auch die Chancen bestimmter innovativer Technologien erweitert werden. Maßgebend für die Bedeutung der Innovationsfolgenabschätzung in Verwaltungsverfahren ist ihre Integration in bestehende Verfahren, die freilich sehr unterschiedlich ausgestaltet sein und ausfallen kann. a) Risikoverfahren Ein gewisser Modellcharakter für die Abschätzung von Folgen technischer Entwicklungen kommt den Risikoabschätzungsverfahren zu. Diese Verfahren zielen von ihrem Anspruch her auf eine möglichst weitgehende Verminderung von Ungewissheiten im Vorfeld von Entscheidungen, die Ermittlung und Bewertung der Ungewissheitsfolgen und schließlich den Umgang mit der verbleibenden Ungewissheit durch Vermeidungs- oder Minimierungsstrategien.56 Ziel ist die rechtliche Rationalisierung der ohne ausreichende Prognosegrundlage zu treffenden Entscheidungen und zugleich die Eingrenzung der mit den Erkenntnisdefiziten verbundenen Kosten.57 Ziel ist zugleich aber auch eine angemessene Verteilung des Risikos der Ungewissheit zwischen den Privaten und dem Staat. Maßgebend ist nicht das – von vornherein unrealistische – Ziel, Risiken vollständig auszuschließen, sondern diese besser zu erkennen und effektiver zu bewältigen. Die Instrumente, die dabei zum Einsatz kommen, verdanken sich einem mehr oder weniger stark reflektierten Theorieimport aus den Umwelt- und Naturwissenschaften, der für die Zwecke der einzelnen Sachbereiche normativ-dogmatisch eingebunden wird. Der Sache nach wird auf Erkenntnisse des Risikomanagements – der Risikoermittlung, der Risikobewertung und des Risikomanagements im engeren Näher dazu und zum Folgenden bereits Appel (Fn. 1), S. 334 ff. Wahl / Appel (Fn. 27), S. 107; Karl-Heinz Ladeur, in: Hijikata, Toru / Nassehi, Armin (Hrsg.), Riskante Strategien, 1997, S. 201, 205; Arnim Karthaus, Risikomanagement durch ordnungsrechtliche Steuerung, 2001, S. 72 ff.; Arno Scherzberg, Wissen, Nichtwissen und Ungewissheit im Recht, in: Engel, Christoph / Halfmann, Jost / Schulte, Martin (Hrsg.), Wissen – Nichtwissen – Unsicheres Wissen, 2002, S. 113 (134). 56 57
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Sinn – als Grundlage für die zu treffende Sachentscheidung zurückgegriffen.58 Im Einzelnen geht es um eine Anleitung zur möglichst weitgehenden Erfassung empirischen Wissens sowie der wahrscheinlichen Folgen und Folgenfolgen, aber auch um eine Anleitung zur Abbildung der vorhandenen Optionen und zur Ausfüllung der bestehenden Spielräume. Die gesetzlichen Regelungen sollen der Tatsache Rechnung tragen, dass Erkenntnisse sich fortlaufend verändern können und das für Entscheidungen erforderliche Wissen nicht ohne Weiteres verfügbar ist, sondern durch methodisch angeleitete Suche oft überhaupt erst geschaffen und strukturiert werden muss.59 Aus einer spezifisch innovationsbezogenen Perspektive liegt das Problem herkömmlicher Risikoabschätzungsverfahren vor allem darin, dass die Folgenorientierung durch die Konzepte der Risikovorsorge und des Risikomanagements in erster Linie auf Ermittlung, Bewertung und Bewältigung möglicher negativer Folgen innovativer Entwicklung ausgerichtet sind. Der Nutzen und die Chancen innovativer Technologien finden sich in aller Regel nicht auf der Ebene der Risikoabschätzung wieder, sondern lassen sich nur vergleichsweise allgemein und mittelbar der gesetzgeberischen Grundsatzentscheidung für die – gesetzlich begrenzte – Zulassung der Technik und den entsprechenden Förderzwecken in den Ausgangsnormen einschlägiger Gesetze entnehmen. Vor diesem Hintergrund wird in neuerer Zeit dafür plädiert, das Technikrecht über die Aufgabe der Risikobewältigung hinaus auch und gerade auf die Funktion der Ermöglichung und Regulierung von Technikinnovationen auszurichten. In seiner Innovationsfunktion soll das Technikrecht darauf abzielen, Technikentwicklungen nicht nur steuernd nachzuvollziehen, sondern zu ermöglichen und in einen „Gleichschritt mit gesellschaftlichen Innovationen“ zu bringen.60 Für die Folgenabschätzung bei innovativen Technologien bedeutete dies, dass neben den möglichen Risiken gezielt auch die Chancen und der Nutzen von Innovationen ermittelt und in die Bewertung einbezogen werden müssten. Dabei würde jedoch nicht ausreichend berücksichtigt, welche Prämissen den Risiko58 Karl-Heinz Ladeur, Risikobewertung und Risikomanagement im Anlagensicherheitsrecht, UPR 1993, S. 4 ff.; ders., Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft. Von der Gefahrenabwehr zum Risikomanagement, 1995; Hill (Fn. 17), S. 1 ff.; speziell zum Risikomanagement im Chemikalienrecht Wolfgang Köck, Risikobewertung und Risikomanagement im deutschen und europäischen Chemikalienrecht, in: Hansjürgens, Bernd (Hrsg.), Umweltrisikopolitik, ZfU Sonderheft 10 / 1999, S. 67 ff.; Gerd Winter, Chemikalienrecht – Probebühne und Bestandteil einer EG-Produktpolitik, in: Führ, Martin (Hrsg.), Stoffstromsteuerung durch Produktregulierung, 2001, S. 248 (249 ff.); ders. (Hrsg.), Risk Assessment and Risk Management of Toxic Chemicals in the European Community, 2000. 59 Karl-Heinz Ladeur, Privatisierung öffentlicher Aufgaben und die Notwendigkeit der Entwicklung eines neuen Informationsverwaltungsrechts, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard (Hrsg.), Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft, 2000, S. 225 (235); zusammenfassend Appel (Fn. 1), S. 335 ff. 60 Dazu nur Rainer Pitschas, Technikentwicklung und -implementierung als rechtliches Steuerungsproblem: Von der administrativen Risikopotentialanalyse zur Innovationsfunktion des Technikrechts, in: Kloepfer, Michael (Hrsg.), Technikentwicklung und Technikrechtsentwicklung, 2000, S. 73 ff. (80 f.); Franzius (Fn. 11), S. 507.
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abschätzungsverfahren und der mit ihnen intendierten Folgenorientierung regelmäßig zugrunde liegen. Dazu zählt zunächst die Prämisse, dass nicht die Ausübung von Freiheiten, wohl aber deren staatliche Beschränkung rechtfertigungsbedürftig ist. Allein vor diesem Hintergrund liegt es nahe, grundsätzlich nicht die (auf Seiten der Freiheit mit veranschlagten) positiven Effekte, sondern die möglichen negativen Folgen als Rechtfertigungsgrundlage für eventuelle einschränkende Maßnahmen des Staates zu ermitteln und zu bewerten. Hinzu kommt als zweite Prämisse, dass das Konzept der Risikoabschätzung unausgesprochen zwischen grundsätzlich kontrollierbaren und grundsätzlich nicht kontrollierbaren Folgen unterscheidet. Die rechtliche Anleitung, welche Risikoabwehrmaßnahmen zu treffen sind, hängt vor allem davon ab, ob und wie weitgehend eine in sich geschlossene Folgenkontrolle für möglich gehalten wird.61 Besonders anschaulich zeigt sich dies im Gentechnikrecht bei der Unterscheidung zwischen Arbeiten im geschlossenen System und Freisetzung und Inverkehrbringen. Wird wie bei Arbeiten in geschlossenen Systemen eine weitgehende Folgenkontrolle für möglich gehalten, führt die auf der Grundlage der Risikobewertung vorgenommene Einstufung des Risikopotentials zu einem typisierten Arsenal an (Vorsorge-)Maßnahmen, die genau auf das jeweilige Risikopotential und seine Abschirmung abgestimmt sind. Exemplarisch für dieses Modell steht das Konzept der Sicherheitsstufen im Gentechnikrecht, das bei Arbeiten in geschlossenen Systemen die jeweilige Einstufung typisierend mit einem mehr oder weniger weit reichenden Maßnahmenregime verknüpft. Letztlich steht dahinter die Idee eines Kontroll- oder Folgenmanagements, das die vorhandenen Risiken während der gesamten Lebensdauer der Risikoquelle effektiv abschirmt. In diesen Fällen macht es aber durchaus Sinn, über das Instrument der Risikoabschätzung als Folgen nur die ermittelbaren Risiken zu erfassen, denen durch geeignete Vorsorge- bzw. Abwehrmaßnahmen zu begegnen ist, indem sie ausgeschlossen oder auf ein hinnehmbares Maß beschränkt werden. Die Ermittlung der Chancen und positiven Auswirkungen des Einsatzes einer innovativen Technologie ist in diesen Fällen nicht erforderlich. Sie geht in der gesetzgeberischen Grundsatzentscheidung für die mögliche Nutzung der Technologie und den dahinter stehenden Freiheiten auf. Hält der Gesetzgeber hingegen eine typisierende Reaktion durch in sich weitgehend geschlossene Folgenkontrolle – wie etwa bei Freisetzungen im Gentechnikrecht – nicht für möglich, sind Entscheidungen nicht oder nur schwer reversibel oder sieht der Gesetzgeber aus übergeordneten Gründen ausnahmsweise die Möglichkeit des Eintritts kritischer Folgen im Einzelfall bewusst vor, liegt die Sache anders. In diesen Fällen kann den ermittelten und bewerteten Risiken nur schwer mit einem auf Gesetzesebene angesiedelten typisierten Arsenal an Vorsorge- bzw. Risikoabwehrmaßnahmen begegnet werden. Damit wächst aus der Sicht des Staates aber auch die Schwierigkeit, das genaue Ausmaß freiheitseinschränkender Vorsorge- und Risikoabwehrmaßnahmen bestimmen und als verhältnismäßig rechtfer61
Näher dazu bereits Appel (Fn. 1), S. 342 f.
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tigen zu können. In diesen Fällen tendiert der Gesetzgeber dazu, dem Problem der unerwünschten Folgen und unerkannten Risiken durch Anerkennung einer Vertretbarkeitsprüfung oder Nutzen-Kosten-Analyse im Einzelfall zu begegnen. Diese Prüfung wird an die Verwaltung delegiert und soll die Funktion einer auf den Einzelfall bezogenen Abwägung zwischen den gegenläufigen Zielen der Innovationsförderung und des Schutzes Dritter und der Allgemeinheit übernehmen.62 Sofern dies geschieht, müssen bei den in diesem Zusammenhang von der Verwaltung vorzunehmenden Folgenabschätzungen neben den Risiken ausdrücklich auch die Chancen und der Nutzen der im Einzelfall eingesetzten (innovativen) Technologie berücksichtigt werden, um auf dieser Grundlage Förder- und Schutzaspekte rational nachvollziehbar einander gegenüberstellen zu können. b) Verträglichkeitsprüfungsverfahren (Umwelt-)Verträglichkeitsprüfungen weisen zahlreiche strukturelle Ähnlichkeiten zu Technikfolgenabschätzungen auf. Dies gilt insbesondere für die Entscheidungsorientierung, das Anliegen einer Früherkennung von Folgen, den charakteristischen integrativen Ansatz und die Einbeziehung von Alternativen. Die Unterschiede bestehen vor allem darin, dass die Folgenanalyse in aller Regel von vorneherein auf bestimmte (Umwelt-)Aspekte begrenzt wird, die Folgenabschätzung eine zwingende Verfahrensvoraussetzung auf dem Weg zur Sachentscheidung darstellt und bei deren Erlass berücksichtigt werden muss. Aus einer übergreifenden Perspektive heraus haben Verträglichkeits- und Alternativenprüfungen das Ziel, das Eingehen bestimmter Risiken oder den Verbrauch von Ressourcen zu vermeiden, sofern wirtschaftlich und sozial gangbare Alternativen vorhanden sind.63 Denn werden einzelne Vorhaben isoliert unter normative Vorgaben und Zielpostulate der einschlägigen Spezialvorschriften subsumiert, werden mögliche Alternativen oft von vornherein ausgeblendet. Das Vorhaben wird dann zu einem guten Teil von der Breite des naturwissenschaftlichen und technischen Erkenntnis- und Entwicklungsprozesses abgekoppelt. Um dies zu verhindern, muss der Blick auf mögliche Varianten ausgedehnt werden. Gerade weil jede vorhandene Alternative eine Option erfordert, die ohne den Vergleich mit vorhandenen anderen Möglichkeiten notwendig defizitär bleibt, soll eine vergleichende Bewertung der Risiken gefordert sein.64 Insbesondere bei der Zulassung von Industrieanlagen, der Planfeststellung von Infrastrukturvorhaben und der Kontrolle der Zu Vertretbarkeitsprüfungen und Nutzen-Kosten-Analysen unten III.2.c) und d). Näher dazu und zum Folgenden Ivo Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge, 2005, S. 148 ff. 64 Dazu – mit Blick auf technische Großprojekte – nur Rüdiger Breuer, Anlagensicherheit und Störfälle – Vergleichende Risikobewertung im Atom- und Immissionsschutzrecht, NVwZ 1990, S. 211 m. w. N.; ders., Atom- und Immissionsschutzrecht auf unterschiedlichen Wegen – Vergleichende Betrachtungen zum deutschen, französischen und niederländischen Recht, UTR 17 (1992), S. 155 (164 ff.). 62 63
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Vermarktung gefährlicher Produkte soll der Staat durch entsprechende Rahmenbedingungen und Schaffung von Chancengleichheit auch geringere Belastungspfade, alternative Technologien und das damit gegebenenfalls verbundene Innovationspotential berücksichtigen.65 Letztlich verbirgt sich hinter dem Verträglichkeitskonzept die Suche nach Maßstäben für eine Risikooptimierung, die über die einzelne Anlage, das konkrete Projekt und die jeweils einschlägige Technologie hinausgreift und die Frage stellt, ob das Ziel eines Vorhabens auch auf weniger belastende bzw. risikoträchtige Weise erreicht werden oder auf die belastend bzw. risikoträchtig angestrebten Zwecke insgesamt verzichtet werden kann.66 Die Frage richtet sich allgemein auf die vergleichende Betrachtung technischer Systeme, deren Standort und Größe, die Vermarktung gefährlicher Produkte, die Entwicklung von Alternativstrategien und die (Gesamt-)Abwägung der damit verbundenen ökologischen, ökonomischen und ggf. auch sozialen Vor- und Nachteile.67 Neben der Erweiterung der Informationsund Entscheidungsgrundlage hat der Alternativenvergleich die methodische Funktion, angesichts fehlender präziser (absoluter) Maßstäbe, Standards und Kriterien wenigstens einen relativen Maßstab für die Bewertung eines Vorhabens zu liefern.68 c) Vertretbarkeitsprüfungsverfahren Hält der Gesetzgeber eine Kontrolle möglicher kritischer Folgen für problematisch, sind Entscheidungen nicht oder nur schwer reversibel oder will der Gesetzgeber den Eintritt kritischer Folgen im Einzelfall aus übergeordneten Gründen ausnahmsweise ermöglichen, findet sich der Versuch, dem Problem der unerwünschten Folgen oder unerkannten Risiken durch Anerkennung einer einzelfallbezoge65 Allgemein zur Alternativenprüfung und deren Ausgestaltung im Umweltrecht Gerd Winter, Alternativen in der administrativen Entscheidungsbildung, 1998. 66 Vgl. Christoph Gusy, Techniksteuerung durch Recht – Aufgaben und Grenzen, in: H. Donner / G. Magoulas / J. Simon (Hrsg.), Umweltschutz zwischen Staat und Markt, 1989, S. 241 ff.; Hill (Fn. 8), S. 58 ff.; Dietrich Murswiek, Die Bewältigung der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen durch das Verwaltungsrecht, VVDStRL Bd. 48 (1990), S. 207 (222 f.); Winter (Fn. 65). 67 Dabei wächst die Erkenntnis, dass die bedeutsameren Emissionen der (insbesondere chemischen) Industrie nicht die im Zuge der Produktion entstehenden, mengenmäßig geringen Emissionen, sondern die Produkte selbst sind. Immer stärker ins Visier einer rechtlich zu regelnden Bedarfs- und Alternativenprüfung gelangen Produktion und Gebrauch von Informations- und Kommunikationstechniken, die große und die Umwelt belastende Stoff- und Energieströme in Gang setzen. Vgl. Deutscher Bundestag (Hrsg.), Konzept Nachhaltigkeit. Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt – Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung“ des 13. Deutschen Bundestages, 1998, S. 147 ff. 68 Hans-D. Jarass, Auslegung und Umsetzung der EG-Richtlinie zur Umweltverträglichkeitsprüfung, 1989, S. 34.
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nen Vertretbarkeitsprüfung zu begegnen.69 Solche Vertretbarkeitsprüfungen finden sich – in unterschiedlicher Ausprägung – vom Arzneimittel- über das Pflanzenschutz- und Gentechnikrecht bis hin zum Stammzellgesetz. 70 Der Rückgriff auf Vertretbarkeitsprüfungen ist dabei in gewisser Weise folgerichtig. Denn richtet sich Risikovorsorge einerseits darauf, Risiken bei der Verfolgung bestimmter Zwecke zu vermeiden oder jedenfalls weitestgehend zu reduzieren, ist es andererseits aber so, dass die Realisierung vieler Zwecke das Eingehen bestimmter Risiken oder gar den Eintritt kritischer Folgen voraussetzt bzw. sie als unvermeidbare Nebenfolge hinnehmen muss, ist in der Tat ein Maßstab gefordert, der bewertbar macht, wann die erwarteten kritischen Folgen oder unbeabsichtigten schädlichen Nebenwirkungen gerechtfertigt sind. Dort, wo Erkenntnis- und Wertungsaspekte bei der Risikobewertung schwer voneinander getrennt werden können, liegt es nahe, als Maßstab auf die Abwägung des Risikos mit dem Nutzen einer Tätigkeit und die Bewertung des jeweils verfolgten Zwecks abzustellen. Als Grundlage für solche Vertretbarkeitsprüfungen müssen sowohl die möglichen negativen als auch die positiven Folgen einer Entscheidung – und namentlich des Einsatzes einer innovativen Technologie im konkreten Fall – ermittelt werden. Die entscheidende Frage ist allerdings, wie die Bewertung von Risiken und Nutzen vorzunehmen ist und wie offen die Nutzenanalyse angelegt sein darf. Die damit verbundene Maßstabsproblematik71 kann nur partiell dadurch entschärft werden, dass – in Parallele zu den gentechnikrechtlichen Regelungen – jedenfalls nur solche Nutzenerwägungen für zulässig zu erachten, die von den gesetzlichen Regelungszielen und –zwecken gedeckt sind. Die bisherige Praxis namentlich zu § 16 Abs. 1 Nr. 3 GenTG deutet allerdings darauf hin, dass die Verwaltung offene Nutzen-Kosten-Abwägungen scheut. Am ehesten scheinen sie noch dort hinnehmbar, wo sie durch die Einbeziehung externen Sachverstands vorgeprägt und mit eindeutigen Ergebnissen an die Verwaltung herangetragen werden. d) Nutzen-Kosten-Analysen Außerhalb des Haushaltsrechts, der angesprochenen Vertretbarkeitsprüfungen72 sowie des ohne strukturelle Verluste in eine Kosten-Nutzen-Abwägung zu übersetzenden Abwägungsgebots bei Infrastrukturplanungen und insbesondere Planfeststellungen sind ausdrückliche Nutzen-Kosten-Analysen im deutschen Recht bislang von vergleichsweise geringer Bedeutung gewesen.73 Unter dem Einfluss des Näher dazu und zum Folgenden Appel (Fn. 63), S. 150 ff. Vgl. nur § 25 Abs. 2 Nr. 5 AMG, § 16 Abs. 1 Nr. 3 GenTG, § 15 Abs. 1 Nr. 3 a) und e) PflSchG und § 6 Abs. 4 Nr. 2 StZG. 71 Dazu oben II.1.g). 72 Vgl. oben III.2.c). 73 Näher zu diesem Instrument Michael Fehling, Kosten-Nutzen-Analysen als Maßstab für Verwaltungsentscheidungen, VerwArch 2004, S. 454 ff. m. w. N. 69 70
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europäischen Rechts, vor allem der Chemikalienregulierung und der Richtlinie über die integrierte Vermeidung und Verminderung von Umweltverschmutzungen (IVU-Richtlinie), halten aber auch Nutzen-Kosten-Analysen vermehrt Einzug in das deutsche Umweltrecht. Insbesondere die Konkretisierung der sog. Besten verfügbaren Technik zur Bestimmung von Grenzwerten und Standards im Immissions- und Gewässerschutzrecht sieht eine ausdrückliche Abwägung von Nutzen und Kosten vor.74 Im vorliegenden Zusammenhang ist von Bedeutung, dass Nutzen-Kosten-Erwägungen eine vergleichsweise offene Folgenperspektive unter Einbeziehung der positiven und negativen Erwägungen voraussetzen. Denn das mit der Nutzen-Kosten-Analyse verbundene Gebot einer weitest möglichen Quantifizierung und Monetarisierung von Vor- und Nachteilen setzt eine besonders intensive, auf eine breite Perspektive ausgerichtete und gleichwohl strukturierte Folgenanalyse voraus, auf deren Grundlage die zu treffenden wertenden Entscheidungen eindeutiger hervortreten,75 rationaler nachvollzogen und klarer begründet werden können. Insofern könnten Nutzen-Kosten-Analysen auch dazu beitragen, das skizzierte Maßstabsproblem76 partiell zu entschärfen. Problematisch ist das Verhältnis der ermittelten Folgen zu deren Bewertung und Einbeziehung in die Nutzen-Kosten-Analyse allerdings dort, wo die Folgen nicht ohne weiteres quantifiziert und monetarisiert werden können und die Maßstabsproblematik damit in voller Schärfe bestehen bleibt. 3. Innovationsfolgenabschätzung in der Rechtsprechung Während Folgenanalysen und -ausrichtungen aus der Sicht des Zivilrechts und des Strafrechts seit langem als grundlegendes methodisches Problem gerade auch der Rechtsprechung begriffen werden,77 ist dies aus der Sicht des Verwaltungsrechts alles andere als selbstverständlich. Der maßgebende Grund dürfte darin liegen, dass es das Verwaltungsrecht insofern mit einem anderen Konkretisierungsprozess als das Zivil- und das Strafrecht zu tun hat, als der gesetzliche (Erst)Konkretisierungs- und (Erst)Gestaltungsauftrag für Einzelfallentscheidungen sich nicht an die Gerichte, sondern an die Verwaltung richtet,78 die somit auch als erste mit der Problematik von Folgenabschätzung und Folgenproblematik konfrontiert ist. Die Gerichte kommen erst auf der Kontrollebene ins Spiel, so dass originäre Fol74 Über das Merkmal der Verfügbarkeit fließen ökonomische Aspekte in die Bestimmung der Besten verfügbaren Technik ein. Als „verfügbar“ definiert Art. 2 Nr. 11 2. Spiegelstrich IVU-RiL „Techniken, die in einem Maßstab entwickelt sind, der unter Berücksichtigung des Kosten / Nutzen-Verhältnisses die Anwendung unter in dem betreffenden industriellen Sektor wirtschaftlich und technisch vertretbaren Verhältnissen ermöglicht“. 75 Fehling (Fn. 73), S. 470. 76 Vgl. oben II.1.g). 77 Zusammenfassend Deckert (Fn. 3), S. 16 ff., 19 ff. 78 Zu den Folgen dieser unterschiedlichen Perspektiven für die Folgenabschätzung und -berücksichtigung Hermes (Fn. 3), S. 363 f.
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genabschätzungen der Rechtsprechung – anders als aus der Perspektive des Zivilrechts und des Strafrechts – regelmäßig nicht in den Blick geraten. Da sich die Rolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit aber keineswegs in der Kontrolle der beiden anderen Gewalten erschöpft,79 sondern den Gerichten nicht zuletzt über die objektiv-teleologische Auslegung, die letztverbindliche Ausfüllung von Interpretationsspielräumen und die richterliche Rechtsfortbildung erhebliche Gestaltungsspielräume eingeräumt sind, darf die Folgenproblematik auch auf der Ebene der Rechtsprechung nicht vernachlässigt werden. Auslegung und Abwägung sind, auch wenn sie von den (Verwaltungs-)Gerichten vorgenommen werden, offen für Folgenbetrachtungen. Die Einbeziehung von Folgen kann darüber hinaus normativ gefordert und vorgeprägt sein. In den meisten Fällen geschieht sie allerdings ohne klare methodische Anleitung und ohne verfahrensmäßige Absicherung, sondern als mehr oder weniger zufälliger Teil der objektiv-teleologischen Auslegung. Insofern wird man aus der Sicht des Verhältnisses von Innovation(en) und Recht nicht umhin können, die Entscheidungsparameter, die Methoden und die Notwendigkeit einer verfahrensmäßigen Absicherung auch der gerichtlichen Innovationsfolgenabschätzung zu thematisieren.
IV. Übergreifende Elemente Hält man sich Aufgaben und Verfahren der Innovationsfolgenabschätzung vor Augen, lassen sich zusammenfassend einige übergreifende Elemente ausmachen, die sowohl den Umgang mit Innovationsfolgen als auch allgemeinere rechtliche Folgewirkungen betreffen. 1. Umgang mit Innovationsfolgen a) Innovationsfolgen: Ermittlung – Bewertung – Berücksichtigung – Beachtung Innovationsfolgenabschätzungen sollen die Grundlage für Sachentscheidungen verbessern, sie können diese Entscheidungen aber nicht ersetzen. Gleichwohl steht fest, dass sich Folgenabschätzungen und der mit ihnen verbundene Aufwand nur legitimieren lassen, wenn sie für die Entscheidungsfindung und / oder die Entscheidung in irgendeiner Form eine Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund scheint es angezeigt, klar zwischen der Ermittlung, der Bewertung, der Berücksichtigung und gegebenenfalls auch der Beachtung von Innovationsfolgen zu unterscheiden.80
79 Auch der Steuerungserfolg durch das Gesetz hängt maßgeblich davon ab, ob die Gerichte bereit sind, sich von den gesetzlichen Vorgaben binden zu lassen. 80 Wahl / Appel (Fn. 27), S. 106 ff., 120 ff.
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aa) Folgenabschätzung Die Phase der Innovationsfolgenermittlung ist durch das prognostische Element geprägt, das auf die erwarteten Auswirkungen gerichtet ist.81 Die maßgebende Leistung, die auf der Ebene der Innovationsfolgenermittlung zu erbringen ist, liegt in der „Selektion unendlicher Zukunftserwartungen zu einer operationalen Anzahl begrenzter, als relevant angesehener Folgenerwägungen“.82 Die strukturelle Offenheit der Folgenperspektive wird dabei regelmäßig durch normative oder faktische Festlegung eines Untersuchungsrahmens eingegrenzt. Die Innovationsfolgenermittlung legt im Übrigen eine interdisziplinäre Betrachtung nahe,83 die gerade bei innovativen Technologien überhaupt erst die Grundlage für das Aufspüren positiver und negativer Auswirkungen sein kann. Hinzu kommt, dass die Innovationsfolgenermittlung regelmäßig in Alternativen vorgenommen werden muss. Erst wenn alle jene unterschiedlichen Entscheidungskombinationen in den Blick genommen werden, die bestimmte Auswirkungen haben können, kann die Innovationsfolgenabschätzung die ihr zugedachte Aufgabe einer Entscheidungsrationalisierung erfüllen. Die an die Folgenermittlung anschließende Innovationsfolgenbewertung ist auf die Bewertung verschiedener als möglich ermittelter Auswirkungen anhand eines vorgegebenen Maßstabs gerichtet. Dabei hat die Innovationsfolgenbewertung in aller Regel zwei unterschiedliche Bezugspunkte: Zum einen die Bewertung der einzelnen Folgen je für sich genommen, zum anderen die Bewertung der Folgen in ihrem Verhältnis zueinander. Entscheidend ist, dass Bewertungsmaßstäbe in Form von Zielen oder Zwecken vorhanden sind. Fehlt es daran, ist die Bewertung offen und abhängig vom jeweiligen subjektiven Wertekanon und Vorverständnis. Es spricht viel dafür, dass in jenen Fällen, in denen ein ausdrücklicher Maßstab für die Bewertung fehlt, auf die Zweckbestimmungen des jeweiligen Regelungskomplexes zurückgegriffen werden muss, sofern diese vorhanden sind. Angesichts der Heterogenität moderner Gesetzeszwecke kann die Maßstabsproblematik jedoch allenfalls partiell entschärft werden. bb) Folgenorientierung und Folgenrelevanz Was die Innovationsfolgenorientierung anbetrifft, setzt die Ausrichtung an den ermittelten und bewerteten Innovationsfolgen voraus, dass die Sachentscheidung durch die Folgenabschätzung beeinflusst werden kann. Dafür ist ausschlaggebend, dass die Entscheidung in der Sache auch aufgrund ihrer möglichen Auswirkungen getroffen oder mit Blick auf ihre möglichen Auswirkungen begründet wird. Die Orientierung der Entscheidung an der Innovationsfolgenabschätzung kann aller81 82 83
Wäldle (Fn. 3), S. 6. Wäldle (Fn. 3), S. 6. Zur Interdisziplinarität, die durch Folgenabschätzungen nahe gelegt wird, unten IV.2.c).
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dings höchst unterschiedlich ausfallen, je nachdem wie die ermittelten und bewerteten Folgen die Entscheidung prägen und prägen sollen. Das mögliche Spektrum reicht von einem bloßen Beratungsinstrument bis hin zur Koppelung der Sachentscheidung an das Eintreten bzw. Nichteintreten bestimmter Folgen. Während auf der Ebene der Gesetzgebung typischer Weise die Frage im Vordergrund steht, ob hinsichtlich einer innovativen Technologie mittel- und langfristig Handlungs- bzw. Entscheidungsbedarf besteht, kann die Innovationsfolgenabschätzung im Verwaltungsverfahren – vergleichbar der Umweltverträglichkeitsprüfung – zwingende formelle Voraussetzung für das Treffen der Sachentscheidung sein oder diese – wie bei gesetzlich vorgesehenen Vertretbarkeitsprüfungen oder Nutzen-KostenAnalysen – sogar inhaltlich prägen. Das entscheidende Problem besteht jedoch darin, wie eine klare und nachvollziehbare Zielstruktur für die Bewertung von Folgen in die Entscheidungsfindung einbezogen werden kann, wie sie transparent, in sich stimmig und rational nachvollziehbar vorgegeben und wie insbesondere das Problem des Verhältnisses verschiedener Ziele gelöst werden kann. Was die Folgenrelevanz im Einzelnen anbetrifft, können Steuerungseffekte bereits bei der Aufbereitung des der Entscheidung als relevant zugrunde gelegten Sachverhalts auftreten. Die als möglich ermittelten und bewerteten Folgen (der „Folgenhorizont“84) haben Einfluss auf die Konturierung der für die Sachentscheidung als maßgeblich angesehenen Tatsachenbasis, da die Ermittlungsleistung stets mit einer Selektion einhergeht. Darüber hinaus kann die Folgenperspektive Bedeutung bei der Ausfüllung von (Auslegungs-)Spielräumen auf Tatbestandsebene, aber auch bei der Beurteilung der Frage gewinnen, wie weit diese Spielräume überhaupt reichen. Schließlich ist eine begründete Auseinandersetzung mit den ermittelten und bewerteten Innovationsfolgen auch bei der Auswahl zwischen mehreren rechtlich möglichen und zulässigen Handlungsalternativen möglich. Dies gilt für Handlungsspielräume sowohl des Gesetzgebers als auch der Verwaltung und der Rechtsprechung. Letztlich sind Verwaltung und Verwaltungsrechtswissenschaft bei der Frage nach allgemeinen Regeln der Folgenrelevanz zunächst auf das materielle Entscheidungsprogramm zurückgeworfen, das durch Auslegung und dogmatische Systematisierungsleistungen konkretisiert werden muss.85 Dabei reicht es jedoch nicht aus, die Folgenrelevanz der gängigen objektiv-teleologischen Auslegung zuzuordnen und auf die „Erreichung des konkreten Gesetzeszwecks“ auszurichten.86 Die spezialgesetzlich normierten Zwecke und Ziele sind – selbst wenn man von den völker-, europa- und verfassungsrechtlichen Ergänzungen und Modifikationen absieht – als Bestimmungsfaktoren für zu berücksichtigende Folgen schlichtweg zu heterogen, Begriff bereits bei Wäldle (Fn. 3), S. 7. Hermes (Fn. 3), S. 377; vgl. auch Hoffmann-Riem (Fn. 13), S. 34 ff., der vom „Rechtsstoffbereich“ im engeren Sinne spricht. 86 So Karl-Peter Sommermann, Folgenforschung im Recht, in: ders. (Hrsg.), Folgen von Folgenforschung, 2002, S. 39 ff. (51 f.). 84 85
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unklar und bisweilen auch rar, als dass sie alleine eine klare Antwort auf die Frage nach der Berücksichtigungsfähigkeit bestimmter Folgen geben könnten. Insofern ist es folgerichtig, die Frage nach der Folgenrelevanz als Teil des „Normprogrammbereichs“ zu begreifen, dessen Konkretisierung in methodischer Hinsicht sowohl den Rechtsstoff im engeren Sinn als auch den Realbereich und die jeweiligen Wechselbezüglichkeiten zu beachten hat.87 Auch wenn die notwendige Konkretisierung dieses Normprogramms hinsichtlich der Folgenrelevanz regelmäßig zu keinen eindeutigen Ergebnissen führen wird, ist es doch Aufgabe der Rechtswissenschaft, den damit verbundenen Konkretisierungsprozess nach Möglichkeit zu strukturieren und anzuleiten. In dem Maße, in dem das materielle Entscheidungsprogramm für die Frage der Folgenrelevanz nur bedingt aussagekräftig ist, gewinnen Verfahren und Organisation als Steuerungsfaktoren zwangsläufig an Bedeutung. Im Ergebnis wird man die Frage der Folgenrelevanz mit Georg Hermes auch für die Innovationsfolgen dahingehend zusammenfassen können, dass bei fehlenden klaren Grenzen der materiellen Programmierung für die Folgenrelevanz die Folgen berücksichtigt werden müssen, dürfen und sollen, „die das rechtlich strukturierte Verfahren hervorgebracht hat und die Organisation – auch unter Berücksichtigung ihrer demokratischen Legitimation – zu verarbeiten in der Lage ist. Je ausdifferenzierter, je später oder niedriger in einem gestuften Verwaltungsverfahren, je niedriger im politisch-administrativen Organisationsgefüge eine Verwaltungsentscheidung angesiedelt ist, desto eher ist sie auf die Berücksichtigung von Mikrofolgen beschränkt.“88 b) Stufung der Innovationsfolgenabschätzung Innovationsfolgenabschätzung ist – bezogen auf bestimmte technische Innovationen – nicht nur Sache einer Ebene und einer Entscheidung, sondern muss auf verschiedenen Ebenen abgearbeitet werden. Regelmäßig findet sich die grundlegende Entscheidung für oder gegen eine Technologie auf der Ebene der Gesetzgebung, die die Folgenabschätzung jedoch weiter delegieren kann und delegiert. Das Gesamtbild der erfassten Folgen ergibt sich erst aus dem Gesamtbild der gestuften Folgenabschätzungen. Diese Stufung ist in gewisser Weise auch die Antwort auf das Problem der richtigen Ebene und des richtigen Zeitpunkts der Innovationsfolgenabschätzung. 89 Im frühen Zeitpunkt innovativer Technologien ist die Folgenabschätzung angesichts der vergleichsweise großen Offenheit der weiteren Entwicklung mit erheblichen Prognoseunsicherheiten behaftet und mitunter dem Vorwurf rein spekulativer Annahmen ausgesetzt. Wird die Folgenabschätzung hingegen zu einem späteren Zeitpunkt vorgenommen, in dem die Folgen klarer erkennbar sind oder sogar mit hoher 87 88 89
Vgl. Hoffmann-Riem (Fn. 13), S. 34 ff.; zustimmend Hermes (Fn. 3), S. 378. Hermes (Fn. 3), S. 385 sowie zuvor auch S. 380. Bechmann / Jörissen (Fn. 6), S. 146.
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Wahrscheinlichkeit eintreten werden, kommt sie insofern möglicherweise zu spät, als das Spektrum der Alternativen begrenzter und Modifikationen unter Umständen nicht oder nur noch mit erheblichem Mehraufwand vorgenommen werden können.90 Vor diesem Hintergrund macht eine Abschichtung Sinn, die die Innovationsfolgenproblematik entlang der Zeitschiene auf verschiedene Ebenen verteilt. Können bei der Folgenabschätzung auf Gesetzgebungsebene Entwicklungen einer innovativen Technologie mit ihren Folgen noch nicht erschöpfend beurteilt werden, muss die Folgenbetrachtung auf die nachfolgenden Ebenen der Rechtsverwirklichung verlagert und dort sukzessive abgearbeitet werden. 2. Folgewirkungen für das Recht Wächst die Bedeutung von Folgenabschätzungen und Folgenorientierung als Rationalisierungs- und Steuerungsressource, sind Folgen für das Recht vorprogrammiert. Einige dieser Folgewirkungen sollen abschließend kurz angerissen werden. a) Verlagerungstendenz zur Rechtserzeugung im Einzelfall Das Verhältnis von Ungewissheit im Hinblick auf innovative Entwicklungen einerseits und den Entscheidungen, die es aus der Sicht des Rechts zu treffen gilt, andererseits führt zu einer Verlagerung des Entscheidungsschwerpunkts hin zur Einzelanwendung. Deren Blickfeld wird jedoch durch gesamthafte Ansätze, Alternativen-, Folgen- und Verträglichkeitsprüfungen sowie die Einräumung von Spielräumen erheblich ausgeweitet.91 Je offener eine Regelung sein muss, um den geregelten Verhältnissen gerecht zu werden, um so weniger kann die Bewertung auf normativer Ebene ausgeschöpft werden, um so mehr muss Spielraum für die Berücksichtigung der relevanten, sich verändernden Faktoren bei der Einzelanwendung bleiben. Gerade bei der Regelung innovativer Technologien zieht sich der Gesetzgeber in materiell-rechtlicher Hinsicht regelmäßig auf Regelungen mit vergleichsweise hohem Abstraktionsniveau zurück und beschränkt sich auf die Festlegung von Zielen und Prioritäten. Die konkrete Aufgabe der Folgenermittlung und der Verarbeitung von Ungewissheit wird in weitem Maße auf die Exekutive und den von dieser einzuschaltenden wissenschaftlichen Sachverstand verlagert.92 Ihr fällt die Aufgabe zu, den vorhandenen Sachverstand der Fachwissenschaften zu organisieren, sich möglichst intensiv zu informieren, auf einer mittleren Ebene 90 Zur Problematik Bechmann / Gloede / Paschen, Frühwarnung vor technikbedingten Gefahren?, in: Bungard / Lenk (Hrsg.), Technikbewertung, 1988, S. 285 f.; Bechmann / Jörissen (Fn. 6), S. 146. 91 Bezogen auf die Risikoabschätzung bereits Appel (Fn. 1), S. 356 f. 92 Rainer Wahl, Risikobewertung der Exekutive und richterliche Kontrolldichte, NVwZ 1991, S. 409 (410) m. w. N.
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Kriterien für den Umgang mit Ungewissheitsfolgen zu entwickeln und die erforderliche wertende Entscheidung zu treffen. b) Tendenz zu gesamthaften Ansätzen und Notwendigkeit der Begrenzung Innovationsfolgenabschätzungen wohnt die Tendenz zu einer gesamthaften Perspektive inne. Folgen sollen nicht isoliert für einen bestimmten Bereich, sondern möglichst bereichsübergreifend und umfassend ermittelt und zu einer Gesamtbilanz zusammengefasst werden.93 Der Sinn und die Daseinsberechtigung der Innovationsfolgenabschätzung liegen gerade darin, neben den nicht intendierten negativen Auswirkungen auch die positiven Effekte und Entwicklungschancen zu erfassen und beide in einer Weise einander gegenüberzustellen, die eine belastbare Grundlage für nachfolgende Sachentscheidungen bietet. Angesichts der zeitlichen, technischen, finanziellen und personellen Grenzen bei der Beurteilung innovativer Technologien ist es aber ausgeschlossen, sämtliche Folgen umfassend zu analysieren und zu bewerten. Insofern bedarf es der Entscheidung, „welche Auswirkungsbereiche im konkreten Fall als besonders relevant anzusehen sind und deshalb einer detaillierten Behandlung bedürfen und welche weniger bedeutsam sind und daher gar nicht oder mit geringerer Analysetiefe bearbeitet werden können. Eine entsprechende Klärung ist auch hinsichtlich der einzubeziehenden Alternativen und der zu verwendenden Methoden herbeizuführen“.94 Dieser notwendigen Abgrenzung des Untersuchungsrahmens kommt aus rechtlicher Sicht letztlich die Aufgabe zu, rechtlich relevante von rechtlich irrelevanten Folgen zu trennen und damit nicht zuletzt auch einer „Tendenz zur Selbstüberforderung“ (Rainer Wahl) der Folgenabschätzungen zu begegnen. c) Interdisziplinäre Ausrichtung Auch wenn Interdisziplinarität für sich genommen das Problem der Folgenabschätzung nicht lösen kann, ist ein permanenter Informationsaustausch zwischen juristischen Entscheidungsvorgängen und den Lernprozessen der Nachbardisziplinen für beide Bereiche hilfreich. Für die Ausrichtung an den möglichen Folgen sind jene Nachbardisziplinen am geeignetsten, die einen starken Bezug zu Prognosen, zu praktischer Entscheidungsfindung und sozialer Problemlösung aufweisen.95 Soll die interdisziplinär angereicherte Abschätzung der Innovationsfolgen rechtliche Relevanz gewinnen, bedarf jedoch der Klärung, welche sozial- und na93 So, bezogen auf die Technologiefolgenabschätzung, auch Bechmann / Jörissen (Fn. 6), S. 150. 94 Bechmann / Jörissen (Fn. 6), S. 151 mit Blick auf die Technikfolgenabschätzung. 95 Wäldle (Fn. 3), S. 34; Peter Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 84.
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turwissenschaftlichen Disziplinen zu den Bedingungen des Rechts und damit auch praktisch verwertbar die Leistungsfähigkeit des Rechts steigern können.96 Dabei kann es nicht um umfassende und ungefilterte Rezeption gehen. Entscheidend sind die selektive Verarbeitung relevanter Methoden und Erkenntnisse unter dem Aspekt ihrer Brauchbarkeit für juristische Entscheidungsprobleme97 und die damit verbundene Frage, ob andere Disziplinen eine bessere Fähigkeit zur Folgenabschätzung aufweisen. d) Notwendigkeit methodischer Anleitung Stellenwert, Gewicht und Relevanz der Folgenabschätzung und Folgenorientierung im Entscheidungsprozess sind, sofern sie nicht gesetzlich als ausdrückliche Verfahrensvoraussetzung normiert sind, in aller Regel wenig transparent98 und ohne methodische Anleitung nur schwer rational nachvollziehbar. Die methodische Bewältigung von Folgenabschätzung und Folgenorientierung ist jedoch bislang allenfalls in Ansätzen erkennbar. Sie setzt Öffnungen jenseits der klassischen, auf Systematik und Begriffssubsumtion ausgerichteten juristischen Methode voraus. Allgemeine Maßstäbe dafür, unter welchen Voraussetzungen und mit welchem Gewicht Folgenargumente Berücksichtigung finden sollen, wie das Verfahren ausgestaltet werden und wer am Folgendiskurs teilnehmen soll, sind noch weitgehend ein Desiderat verwaltungsrechtswissenschaftlicher Betätigung. In der Sache muss es darum gehen, auf einer mittleren Abstraktionsstufe und sachbereichsspezifisch ausdifferenziert Anleitungs- und Strukturierungshilfen für folgenbezogene juristische Argumentationen zu schaffen.99 e) Dominanz externen Sachverstands Das Element vorausschauender Planung, das mit der Antizipation der Chancen innovativer Technologien und der Kalkulation ihrer Risiken verbunden ist, setzt die Einbeziehung naturwissenschaftlich-technischen, gegebenenfalls aber auch ethischen Sachverstandes voraus. Diese für Folgenabschätzung- und Folgenorientierungsprozesse typische Einbindung externen Sachverstandes führt zu einer vergleichsweise engen Verzahnung von Wissenschaft und Sachentscheidung. Um den Bedarf sowohl an wissenschaftlichen Informationen als auch an Akzeptanz fördernden Strategien als Teil der Folgenbewältigung zu decken, finden sich verschiedenste Formen der Politikberatung durch Gutachten, Anhörungen, EnqueteSo schon Wäldle (Fn. 3), S. 17. Teubner (Fn. 48), S. 27 f. 98 Dazu bereits Wäldle (Fn. 3), S. 21. 99 Vgl. die Ansätze zu einer auf Folgenorientierung angelegten juristischen Argumentationslehre bei Wäldle (Fn. 3), S. 19, 165 ff. 96 97
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Kommissionen, Sachverständigenräte und ähnliche Instrumente im Rechtssetzungsverfahren sowie die rechtlich geforderte oder auch nur nahe gelegte Einbeziehung von Sachverstand in Verwaltungs- und Gerichtsverfahren. Die Suche nach möglichst rationalen und nachvollziehbaren Entscheidungsgrundlagen führt in beiden Fällen dazu, dass Sachentscheidungen der Entscheidungsträger in wesentlichen Zügen durch sachverständige Einschätzungen möglicher Entscheidungsfolgen geprägt werden, die den Umgang mit Unsicherheiten auf eine angemessene Legitimationsgrundlage stellen sollen. f) Einbeziehung Privater Innovationsfolgenabschätzungen, vor allem aber die Innovationsfolgenermittlungen haben ohne Beteiligung der für das innovationsspezifische Folgewissen relevanten gesellschaftlichen Kräfte keine Aussicht auf Erfolg. Insofern ist es von maßgebender Bedeutung, als Grundlage für zu treffende öffentliche Entscheidungen auch Private in den Prozess der innovationsbezogenen Wissenserzeugung einzubinden. Gerade in besonders innovationsträchtigen Bereichen ist die Folgenermittlung ohne Rückgriff auf das spezifische Folgenwissen der Betroffenen vielfach aussichtslos. Gesetzliche Forderungen nach Beibringung technischer und wissenschaftlicher Daten und empirischer Prüfergebnisse, die Vorlage von Prüfberichten, Vorgaben zu Risiko- und Risikobegleitforschungen und zur kontinuierlichen Selbstüberwachung können dabei eine ebenso wichtige Rolle spielen wie allgemeine Mitteilungs- und Berichtspflichten. Die Beispiele des Gentechnik- und des Chemikalienrechts zeigen darüber hinaus, dass die Einbeziehung Privater über die Phase der Folgenermittlung auch auf den Bereich der Folgenbewertung erstreckt wird, wenn der öffentliche Aufwand für die Wissensgenerierung in Grenzen gehalten und das spezifische Folgenwissen Privater möglichst weitgehend genutzt werden soll. g) Bedeutung prozeduraler Elemente Die Ausrichtung an den Folgen kann nur dann die Leistungsfähigkeit des Rechtssystems erhöhen, wenn der Folgenbezug bei der Organisation und im Verfahren, das zur Sachentscheidung führt, eine sachgerechte Stelle erhält.100 Lassen sich die relevanten und zu berücksichtigenden Folgen anhand des materiellen Normprogramms und der diesem zu entnehmenden Zweck- und Zielstruktur nicht oder nur bedingt begrenzen, gewinnt das Verfahrensrecht eine umso stärkere Bedeutung. In den Blick geraten vor allem jene Folgen und damit verbundenen Belange, die durch die Ausgestaltung des Verfahrens und namentlich einer etwaigen Öffentlichkeitsbeteiligung in den Entscheidungsprozess Eingang gefunden haben. 100
Ähnlich Wäldle (Fn. 3), S. 141.
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Auch die selektive Festlegung bereichsspezifischer Methoden, Kriterien und Parameter, die den Prozess der Folgenerkennung und Folgenbewertung leiten und rechtlich rationalisieren sollen, können erhebliche Bedeutung gewinnen, wenn etwa bestimmte Prüfungen detailliert in Form von Testbeschreibungen vorgegeben werden. In der Sache wird es für Innovationsfolgenabschätzungen auf Gesetzesebene tendenziell schwieriger sein, ein einheitliches und / oder zwingend vorgeschriebenes Verfahren vorzusehen, das über eine gewisse Strukturierung des Folgenermittlungsprozesses hinausgeht. Angesichts der Vielfalt möglicher Anwendungsfelder wäre eine verbindliche, routinemäßig anwendbare Folgenermittlung und -bewertung bei der Beurteilung innovativer Technologien auf der Ebene der Gesetzgebung in den meisten Fällen kontraproduktiv. Demgegenüber kann die Rationalität behördlicher Einzelentscheidungen durch verfahrensmäßige Absicherung der Innovationsfolgenermittlung, -bewertung und -berücksichtigung erheblich verbessert werden. Eine „verfahrensmäßige Zwangsjacke“, wie sie etwa die Umweltverträglichkeitsprüfung kennzeichnet, kann dazu beitragen, dass bestimmte Folgen überhaupt erst in den Blick geraten und im Entscheidungsprozess nicht vernachlässigt werden.101 h) Organisatorische Konzentration und Koordination Soll die praktische Relevanz von Innovationsfolgenabschätzungen erhöht und gesichert werden, muss daher durch organisatorische und / oder institutionelle Vorkehrungen gewährleistet sein, dass sich der Adressat mit den Ergebnissen der Folgenabschätzung befasst und auch in den Fällen auseinandersetzt, in denen sie den eigenen Präferenzen nicht entsprechen.102 Wird der Raum für die zu berücksichtigenden Folgen verfahrensrechtlich ausgeweitet, zieht dies in aller Regel auch eine organisatorische Konzentration oder zumindest Koordination der beteiligten Behörden nach sich. Umgekehrt liegt die Vermutung nahe, dass ein hohes Maß an Arbeitsteilung und organisatorischer Binnendifferenzierung zu einer Beschränkung der Folgenperspektive auf sektorale Mikrofolgen führt.103 i) Kontinuierliche (Innovationsfolgen-)Kommunikation Um die Funktionalität juristischer Folgenargumentation zu gewährleisten, müssen problemadäquate Informationen über die relevanten Folgen eingeholt, verarbeitet und sinnvoll angewendet werden.104 Die dafür erforderliche Informations101 Allgemein zur Verfahrensdimension bezogen auf Technikfolgenabschätzung und Umweltverträglichkeitsprüfung Bechmann / Jörissen (Fn. 6), S. 158 f. 102 Bechmann / Jörissen (Fn. 6), S. 160. 103 Zu diesen Zusammenhängen Hermes (Fn. 3), S. 383.
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verarbeitungskapazität muss gegeben sein bzw. vorgehalten werden. Aufgrund der Dynamik innovativer Entwicklungsprozesse und der Notwendigkeit, die Folgenerkenntnis kontinuierlich zu verbessern, sind Folgenermittlung und Folgenbewertung auf eine Rückkoppelung an den allgemeinen Stand des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses gebunden. Dies allein reicht jedoch nicht aus. Von ebenso großer Bedeutung sind die spezifischen Bedingungen der Rezeption und Verarbeitung des Wissensstandes über mögliche Entscheidungsfolgen bei der Entscheidungsvorbereitung durch die Verwaltung.105 Damit geraten jene Strukturen in das Blickfeld, die den Prozess der Information, der Kommunikation und der Interaktion der Verwaltung im Hinblick auf potentielle Folgen prägen.106 Verfahren und Organisation müssen darauf ausgerichtet werden, dass nicht allein punktuelle Folgenanalysen vorgenommen werden, sondern ein kontinuierlicher, auf die möglichen Folgen innovativer Technologien bezogener Kommunikationsprozess stattfindet. j) Zentrales Informationsmanagement Die Fähigkeit zur Informationsverarbeitung, die von einer effektiven Innovationsfolgenabschätzung und -folgenorientierung vorausgesetzt wird, legt nicht zuletzt auch ein zentrales Informationsmanagement nahe, das die Schaffung und Pflege dynamischer entscheidungsbezogener Wissensbestände gewährleistet.107 Für den Umgang mit Innovationsfolgen könnten sich daraus mehrfache positive Effekte ergeben: Zum einen könnten die fortlaufende Generierung neuen Folgenwissens durch dezentrale Beobachtungen praktischer Anwendungen, durch Beobachtungs- und Meldepflichten sowie gezielte Wissenserzeugung gebündelt und die Ermittlungsverantwortung sowie die Ermittlungsergebnisse vieler privater Einzelner partiell auf den Staat zurückverlagert werden. Zum anderen könnte dadurch auch die Innovationsfolgenbewertung zentralisiert und professionalisiert werden, um auf diese Weise der Maßstabsproblematik108 zumindest teilweise zu begegnen. V. Fazit Letzten Endes kann das Recht die zugrunde liegende Ausgangssituation der Ungewissheit oder partiellen Unsicherheit im Hinblick auf innovative Technologien Wäldle (Fn. 3), S. 106. Wolfgang Hoffmann-Riem, Ermöglichung von Flexibilität und Innovationsoffenheit, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 9 (22 f.); Hermes (Fn. 3), S. 361. 106 Hermes (Fn. 3), S. 361. 107 Vgl. dazu den Beitrag von Martin Eifert in diesem Band. 108 Dazu oben B.II.7. 104 105
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und Entwicklungen nicht vollends überwinden. Aufgabe des Rechts ist es allerdings zu bestimmen, wer in der Situation der unsicheren Einschätzung innovativer Technologien zu handeln befugt ist und wer die Verantwortung für fehleranfälliges Handeln trägt. Diese Verantwortung kann sich zwar nicht darauf beziehen, dass in jedem Fall die – nachträglich gesehen – richtige Entscheidung getroffen wird. Sie kann jedoch einfordern, dass das, was ex ante an Wissen und Einschätzungsmöglichkeiten gegeben ist, tatsächlich genutzt wird.109 Innovationsfolgenabschätzungen können ihren Teil dazu beitragen, indem sie die positiven und negativen Auswirkungen innovativer Technologien antizipieren, Lerneffekte vorwegnehmen und auf dieser Grundlage eine rationalere Entscheidungsfindung ermöglichen. Die damit angestrebte Rationalisierung kann angesichts der verbleibenden Rationalitätsdefizite aber nur eine relative sein. Letztlich geht es auch bei rechtlichen Entscheidungen, die auf Innovationsfolgenabschätzungen beruhen, um subjektive Gewissheiten, die erlangt werden müssen. Innovationsfolgenabschätzungen können immerhin einen Beitrag leisten, damit diese Entscheidungen auf einer vergleichsweise breiten und gesicherten Grundlage getroffen werden.
109
Dazu bereits Wahl / Appel (Fn. 27), S. 116.
Teil III Referenzfelder
Innovationsverantwortung in der Nanotechnologie1 Von Arno Scherzberg
I. Die Charakteristika der Nanotechnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 II. Bemerkungen zur Innovationsverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 III. Regulierungsbedarf und Regulierungsoptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 1. Zum Diskussionsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2. Zur Eignung der nano-unspezifischen Risikoregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 3. Handlungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 IV. Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
I. Die Charakteristika der Nanotechnologie Die Chancen und Risiken der Nanotechnologie werden beispielhaft in einer Meldung in n-tv vom 3. 6. 08 deutlich, in der über ein neues Verfahren zur Überwindung der Zellmembran berichtet wird, das in „Nature Materials“ jüngst von Forschern des Massachusetts Institute of Technology in Cambridge (USA) vorgestellt wurde.2 „Speziell beschichtete Nanopartikel können die Zellmembran durchdringen, ohne Löcher und damit tödliche Schäden zu verursachen. . . . Damit ist es nunmehr möglich, verschiedene biologisch aktive Moleküle und Chemikalien direkt durch die Membran zu leiten und im Zellkern und damit an der DNA der Zelle entfalten zu können. Natürlicherweise ist die Zelle durch eine aus fettartigen und damit wasserabweisenden Molekülen zusammengesetzte Membran vor dem Eindringen fremder Stoffe geschützt. Um Moleküle von außen aufzunehmen, kann sie nach innen feine Transportbläschen abschnüren, die durch die Zelle schwimmen. Der Inhalt der Bläschen bleibt dabei aber vom Rest der Zelle isoliert. Die MIT-Forscher hatten nun Goldkügelchen derart mit Chemikalien umhüllt, dass eine 1 Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf den Ergebnissen der 3. Erfurter Staatswissenschaftlichen Tagung, die sich im Oktober 2007 mit den Grundlagen, den Anwendungen und den Regulierungsproblemen der Nanotechnologie befasst hat; dazu Arno Scherzberg / Joachim H. Wendorff (Hrsg.), Nanotechnologie, 2009. 2 Ayush Verma et al., Surface-structure-regulated cell-membrane penetration by monolayer-protected nanoparticles, Nature Materials 7 (2008), S. 588 ff.
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geordnete, riefenartige Oberflächenstruktur entstand. Wegen dieser Struktur können sie die Zellmembran überwinden, ohne sie zu beschädigen. Ohne diese Struktur blieb das Gold außen vor.“3
Nanotechnologie wird also in Kürze eine direkte Einwirkung auf die Erbsubstanz menschlicher Zellen ermöglichen und dabei die natürlichen Barrieren der Zelle überwinden. Das birgt gewaltiges Potential für Medizin und Medizintechnik. Auf diesem und einer Vielzahl anderer Anwendungsfelder sind derzeit mehr als 600 Unternehmen mit bis zu 100.000 Beschäftigten allein in Deutschland schwerpunktmäßig in den hier unter dem Oberbegriff Nanotechnologie zusammengefassten Bereichen Nanoelektronik, Nanobiotechnologie und Nanomaterialien tätig. Sie produzieren oder liefern die Grundstoffe für so verschiedene Produkte wie nanoskalige Schaltkreise, kratzfeste Lacke, Klebstoffe, Zahnpasten, Sonnenschutzmittel, beschichtete Textilfasern, leicht zu reinigende, feuer- und abriebbeständige Beschichtungen für Glas und andere Oberflächen oder Membrane zur Abwasserbehandlung. Eine Übersicht vom Oktober 2007 umfasst bereits 580 für den Endverbraucher zugängliche nano-basierte Produkte oder Produktlinien.4 Ein Vielfaches dieser Anwendungen ist derzeit im Entwicklungsstadium.5 Die Umsatzerwartungen für das Jahr 2015 reichen von 500 – 3000 Milliarden US $.6 Die innovative Kraft der Nanotechnologie basiert auf den besonderen chemischphysikalischen Eigenschaften der Nanomaterialien: 7 – Sie unterscheiden sich von den Eigenschaften desselben Stoffes in größerer Partikelform.8 Dabei geht es etwa um ihre Löslichkeit, den Grad der Agglomeration und Aggregation sowie die Oberflächenreaktivität.9 Nanoskalige Partikel verändern ihr chemisches Verhalten und können etwa toxisch oder reaktiv werden. Aufgrund ihrer großen Oberflächen sind Nanopartikel aber etwa auch fähig, 3 n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH, Nanopartikel aus Gold. Ohne Loch durch Zellmembran, http: //www.ntv.de/973498.html, zuletzt abgerufen am: 22. 08. 2008. 4 Woodrow Wilson International Center for Scholars / Pew Charitable Trusts, The Project on Emerging Nanotechnologies. Analysis, http: //www.nanotechproject.org/inventories/con sumer/analysis_draft/, zuletzt abgerufen am: 22. 08. 2008. 5 Einen Einblick in aktuelle Forschungsprojekt gewährt BMBF / Europäische Kommission / VDI Technologiezentrum GmbH, Nanoproduction and process technology / new functionalities / analytical methods, http: //www.euronanoforum2007.eu/CD/postera.html, zuletzt abgerufen am: 22. 08. 2008. 6 Peter Hatto, Needs for and status of standardization for nanotechnologies, http: // www.euronanoforum2007.eu/CD/files/P2-Needs%20for%20and%20status%20of%20standar dization%20for%20nanotechnolo.pdf, zuletzt abgerufen am: 22. 08. 2008. 7 s. etwa BUND (Hrsg.), Für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Nanotechnologie, 2007, http: //www.bund.net/fileadmin/bundnet/publikationen/nanotechnologie/20070500 _nanotechnologie_position.pdf, S. 7. 8 Dazu BUND (Hrsg.) (Fn. 7), S. 11. 9 Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Nanotechnologie: Gesundheits- und Umweltrisiken von Nanomaterialien – Forschungsstrategie, 2007, http: //www.baua.de/nn _47716/de/Themen-von-AZ/Gefahrstoffe/Nanotechnologie/pdf/Forschungsstrategie.pdf, S. 21.
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Präparate wie Arzneimittel, Testsubstanzen und Proteine zu absorbieren und an einen gewünschten Ort im Körper zu bringen.10 – Die Nanotechnologie macht es aber auch möglich, synthetische Stoffe herzustellen, die sich in ihrem atomaren Aufbau von bekannten Stoffen gänzlich unterscheiden. Ein Beispiel hierfür sind die sog. Fullerene, Kohlenstoffverbindungen mit einer neuen atomaren Struktur.
Genau die Eigenschaften, die zu ihrer besonderen Nützlichkeit führen, geben aber auch zu Besorgnissen Anlass.11 Hat der neue Stoff toxische Eigenschaften, kann er mit Risiken für Hersteller, Verbraucher und die Umwelt verbunden sein. Risiken können sich sowohl aus einer unkontrollierten Freisetzung von Nanopartikeln als auch aus einer planmäßigen Anwendung von Nanoverfahren ergeben. Man denke an ein versehentliches Einatmen, Verschlucken, an Nebenwirkungen auf andere Zellen oder den Organismus als Ganzen oder an die Folgen von Immissionen von Nanopartikeln für Pflanzen und Tiere im Umfeld der Produktion – von Unfällen, Sabotageakten und anderem Missbrauch ganz zu schweigen. Angesichts ihrer Eindringtiefe in den menschlichen Körper und die Umwelt sind gesundheitlich und ökologisch bedenkliche Folgen nicht auszuschließen. Nanopartikel sind, wie in der n-tv-Meldung geschildert, unter bestimmten Umständen in der Lage, die im Körper bestehenden Schutzmechanismen wie die Zellmembran, die Lunge, die Darmwand, die Blut-Hirn-Schranke oder die Plazentaschranke zu überwinden. Potentiell betroffen sind insbesondere Gehirn, Leber, Herz, Nieren, Milz, Knochenmark und das Nervensystem.12 Die gesundheitlichen Folgen einer langfristigen Exposition sind nicht erforscht. Bekannt ist aber, „dass die Inhalation von feinen und ultrafeinen Partikeln das Lungenepithel schädigt, so dass die Fähigkeit zur Abwehr von Krankheitserregern beeinträchtigt wird und entzündliche Reaktionen ausgelöst werden.“13 Die zellschädigenden Wirkungen von Nanopartikeln werden nach dem derzeitigen Erkenntnisstand „vor allem mit ihren spezifischen Oberflächeneigenschaften und dem besonderen elektrokinetischen Potential von metallischen Partikeln in Verbindung gebracht. Inhalierte Nanopartikel gelangen über die Lungenbläschen (Alveolen) in den Blutkreislauf, da die Fresszellen (Makrophagen) die winzigen Partikel nur unzureichend entfernen.“14 Studien über die Folgen der Inhalation von Stäuben durch Ratten zeigen
BUND (Hrsg.) (Fn. 7), S. 11. BUND (Hrsg.) (Fn. 7), S. 11. 12 BBU / BUND, Kriterien zur Kontrolle von Nanotechnologien und Nanomaterialien, 2008, http: //www.bbuonline. de/Arbeitsbereiche/Nanotechnologie/20080220_nanotechnolo gie_kontrolle_kriterien.pdf, S. 4. 13 BBU / BUND (Fn. 12), S. 12. 14 BUND (Hrsg.) (Fn. 7), S. 12; Zu oraler und dermaler Exposition BUND (Hrsg.), ebenda, S. 14 f.; s. ferner Susan Dekkers et al., Nanomaterials in Consumer Products, Studie im Auftrag des Europäischen Parlaments, 2007, http: //www.europarl.europa.eu/comparl/envi/pdf/ 10 11
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eine viermal höhere Atemtrakttoxizität ultrafeiner Stäube gegenüber herkömmlichen Feinstäuben.15 Im Rahmen der Risikostudien wird stets betont, dass nur einige spezifische Arten von Nanopartikeln in einer beschränkten Zahl von Testsystemen untersucht wurden und eine Extrapolation der vorhandenen Daten auf andere Nanomaterialien nicht möglich sei. Zudem würden ständig neue synthetische Nanomaterialien erzeugt, deren Toxizität schlechterdings unbekannt sei.16 Einer aussagekräftigen toxikologischen Forschung steht u. a. entgegen, dass bisher ein Set von definierten Nanomaterialien nicht verfügbar ist, sich vielmehr von Lieferung zu Lieferung unterschiedliche und im Zeitablauf seit Produktion verändernde Eigenschaften ergeben.17 In Großbritannien ist man derzeit dabei, diejenigen Nanomaterialien zu definieren, für die am schnellsten Testmethoden und toxikologische Bestimmungen entwickelt werden müssen: dazu gehören: carbon black, Titandioxid, Zinkoxid, single-walled and multi-walled carbon Nanotubes, Polystyrene, Metall und Metalloxide sowie die aus Verbrennungsprozessen entstehenden (combustion-derived) Nanopartikel.18 Acht weitere Stoffe werden mit geringerer Priorität untersucht. Nach allgemeiner Auffassung ist die Gefahrenneigung von Nanomaterialien bei abstrakter Betrachtung abhängig von zwei Faktoren: dem Ausmaß der menschlichen und umweltbezogenen Exposition und von der Toxizität des Stoffes. Zu beidem liegen keine hinreichenden Daten vor.19 Vorhandene Einschätzungen des Expositionspotentials kommen bei 31 Produktkategorien 13 mal zum Ergebnis geringer, 7 mal zum Ergebnis hoher und 11 mal zum Ergebnis unzureichend bestimmbarer Expositionswahrscheinlichkeit für den Menschen, während das Expositionsrisiko für die Umwelt für 7 Produktkategorien als hoch und für 24 Produktkategorien als unbestimmbar definiert wird.20 Aus Sicht von Toxikologen müssen neue nanoskalige Stoffe in jedem Einzelfall auf ihre möglichen Gefährdungen hin getestet werden. Da die chemische und physikalische Wirkung und damit auch die biologischen Folgen im Wesentlichen auf der Zusammensetzung des Materials, der Größe der Partikel und den Oberflächenexternalexpertise/nanomaterials_in_consumer_products.pdf, S. 24 f.; Paul Borm et al., The potential risks of nanomaterials: a review carried out for ECETOC, http: / / www.particleandfibretoxicology.com / content / 3 / 1 / 11 / abstract, zuletzt abgerufen am: 26. 08. 2008; HM Government / Department for Environment, Food and Rural Affairs, Characterising the Potential Risks posed by Engineered Nanoparticles. A Second UK Government Research Report, 2007, S. 28. 15 Bruno Orthen, Gesundheitliche Auswirkungen der Nanotechnologie, 2006, http: // www.baua.de/nn_43190/de/Themen-von-A-Z/Gefahrstoffe/Nanotechnologie/pdf/Vortrag-02. pdf, S. 6. 16 Paul Borm et al., (Fn. 14), S. 1. 17 HM Government / Department for Environment, Food and Rural Affairs (Fn. 14), S. 26. 18 HM Government / Department for Environment, Food and Rural Affairs (Fn. 14), S. 15. 19 Susan Dekkers et al. (Fn. 14), S. 26 f. 20 Susan Dekkers et al. (Fn. 14), S. 27 f.
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eigenschaften beruhen, sei eine Testung für jedes neue Material notwendig und eine zwingende Voraussetzung für deren sicheren Einsatz in Produkten. Nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnis werde es „noch einige Jahre dauern, bis wir uns darüber klar werden können, mit welchen Gefährdungen tatsächlich in realistischer Weise zu rechnen sein wird.“21 Auswirkungen davon zeigen sich etwa beim Bemühen der Britischen Standardsetzungs-Agentur (BSI), sich bei der Bestimmung des angemessenen Maßes der Risikoreduktion an benchmark-Expositionswerten zu orientieren.22 Dabei werden vier Kategorien von Nanomaterialien, gestuft nach ihrer vermuteten Gefährlichkeit, gebildet und wird für jede Kategorie ein Benchmark-Wert vorgeschlagen, beispielsweise für die höchste Risikostufe der „fibrous nanomaterials“ anknüpfend an den Grenzwerte für die Arbeit mit Asbest. Die BSI konstatiert dabei allerdings, die vorgeschlagenen Grenzwerte seien lediglich eine pragmatische Richtschnur, „and should not be assumed to be safe workplace exposure limits.“23 Bei der Vorstellung möglicher Sicherheitsmaßnahmen, die zur Einhaltung der Benchmarks führen, heißt es relativierend: „At present there is almost no information with which to assess the effectiveness of these approaches.“24 Wir haben es also mit einer Technologie zu tun, die teilweise bereits erkennbare Gefahren erzeugt, teilweise immerhin konkret überprüfbare Risikohypothesen erlaubt und teilweise unspezifisches Nichtwissen über weitere Wirkungen und Nebenfolgen mit sich bringt. Sicher ist aber immerhin, dass im Zuge der Technologieentwicklung fortlaufend neue Stoffe mit möglicherweise riskanten Nebenwirkungen hervorgebracht werden. Die industrielle Herstellung von Nanomaterialien und Nanoprodukten erfolgt so rasch, dass jede Regulierung dieser Entwicklung notwendig hinterherhinkt.25 Etwa sind schon jetzt im Rahmen der molekularen Nanotechnologie Möglichkeiten der gezielten Zusammensetzung von Atomen und Molekülen zu hochkomplexen und differenzierten Strukturen erkennbar, für die es erst Risikoabschätzungen geben kann, wenn die betreffenden Strukturen in hinreichendem Umfang erzeugt sind und in verschiedenen Umwelten beobachtet werden konnten. Das Recht hat also ein quasi technologietypisches Auseinanderlaufen, eine „Schere“ zwischen Innovations- und Risikowissen zu bewältigen. Das führt zu der Frage nach der Innovationsverantwortung, derjenigen der privaten Wirtschaft und 21 Harald F. Krug et al., Sicherheit von Nanomaterialien – Umwelt und Gesundheit. in: Scherzberg, Arno / Wendorff, Joachim H. (Hrsg.), Nanotechnologie, 2009, S. 59 (72). 22 British Standards Institution, Nanotechnologies – Part 2: Guide to safe handling and disposal of manufactured nanomaterials, 2007, via http: //www.bsi-global.com/en/Standardsand-Publications/Industry-Sectors/Nanotechnologies/PD-6699 – 2/Download-PD6699 – 2-2007/, S. 13 ff. 23 British Standards Institution (Fn. 22), S. 14. 24 British Standards Institution (Fn. 22), S. 14. 25 BUND (Hrsg.) (Fn. 7), S. 10.
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ihrer Selbstregulationsmechanismen und – darum geht es im Folgenden – derjenigen des Staates und seines (öffentlichen) Rechts.
II. Bemerkungen zur Innovationsverantwortung Die Innovationsverantwortung von Staat und Recht ist Ausdruck grundrechtlicher Schutz- und Vorsorgepflichten. Bei deren Umsetzung suchen wir „nach Möglichkeiten, die Rechtsordnung so zu konzipieren und Recht so anzuwenden, dass technologische, ökologische, soziale und kulturelle Innovationen stattfinden können, aber möglichst zu gesellschaftsverträglichen Folgen führen.“26 Freilich kann das Recht nicht vor jedem Risiko schützen – schließlich ist auch „die Ermöglichung der für die gesellschaftliche Entwicklung erwünschten Innovationen“ eine zentrale Aufgabe des Rechts.27 Trägt das Recht überhaupt und ab welchem Zeitpunkt trägt es Innovationsverantwortung? Hat es in jedem Fall eine normative Rahmung von Innovationen bereitzustellen? Oder darf es zuwarten, bis über die gesellschaftliche Akzeptanz und über Nutzen und Kosten einer neuen Technologie, eines neuen Stoffes oder eines neuen Verfahrens Klarheit herrscht? Fraglos gehört es in einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung nicht zu den Aufgaben des Rechts, den sozialen und technologischen Wandel als solchen zu steuern und die Strukturen und Prozesse der Modernisierung politisch zu determinieren. Das mag man von einer tradierten Warte umfassender Verantwortungszuweisung an die Politik bedauern, ist aber verfassungs-, gemeinschafts- und teilweise auch völkerrechtlich vorgegeben. Forschung und Entwicklung sind Ausdruck der Freiheit der Wissenschaft und die wirtschaftliche Nutzung und Verbreitung ihrer Erkenntnisse ist Schutzgut der Berufsfreiheit, der europäischen Marktfreiheiten und der Regeln der WTO. Die moderne Rechtsordnung hat damit, wie der Soziologe Wolfgang v. d. Daele jüngst zur Biotechnologie festgestellt hat, einen strukturellen Bias zugunsten technologischer Innovationen.28 Sie fordert keine Rechtfertigung für die Einführung eines neuen technologischen Paradigmas, sondern eine Rechtfertigung für dessen Beschränkung.29 Entscheidet sich die Rechtsordnung für eine solche „freiheitliche“ Grundkonzeption, ist freilich auch über die Innovationsverantwortung des Rechts entschieden: es gibt keinen Sachverhalt, und sei er auch noch so neu und in den Anfängen 26 Wolfgang Hoffmann-Riem, Innovationsoffenheit und Innovationsverantwortung durch Recht, AöR Bd. 131 (2006), S. 255 (256). 27 Wolfgang Hoffmann-Riem (Fn. 26), S. 267. 28 Wolfgang von den Daele, Legal framework and political strategy in dealing with the risks of new technology: the two faces of the precautionary principle, in: Somsen, Han (Hrsg.), The Regulatory Challenge of Biotechnology, 2007, S. 118. 29 Wolfgang von den Daele (Fn. 28), S. 118.
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seiner Entwicklung, der nicht der Freiheitsgewährleistung auf der einen und der Verpflichtung zum Rechtsgüterschutz auf der anderen Seite unterliegen würde. Im Bereich der Innovationssteuerung wie auch in anderen Regelungsfeldern bringt die Rechtsordnung die Entfaltungs-, Fürsorge- und Vorsorgebedürfnisse der Grundrechtsträger fortlaufend neu zum Ausgleich und vermittelt zwischen individuellem Interesse und dem gemeinen Wohl. Innovationen wirken definitionsgemäß in der Zeit. Bei ihrer Ermöglichung wie bei der Vorbeugung möglicher Schäden geht es um Ungewissheitsbewältigung, zumeist um die Bewältigung der Ungewissheit einer technischen Entwicklung, ihrer unmittelbaren Wirkungen und mittel- sowie langfristigen Folgen. Soll das Recht seine Ermöglichungs- und Schutzfunktion gerade auch in die Zukunft hinein wahrnehmen – und Art. 20 a GG mit seinem Bezug auf die nachfolgenden Generationen ist hierfür ein eindeutiger Beleg – muss es Instrumente ausbilden, die es ihm erlauben, einerseits hinreichende Sicherheit über das Erlaubte herzustellen, ohne die in aller Regel hinreichende wirtschaftliche Anreize zu teurer Forschung und Entwicklung fehlen, und sich andererseits Flexibilität zu erhalten, um auf neue Erkenntnisse über Chancen und Risiken adäquat reagieren zu können. Das gelingt nur bei einer schrittweisen Entwicklung und Anpassung der normativen Strategie. Bei deren Entwicklung ist zu berücksichtigen, dass eingriffsintensive Maßnahmen der Vorsorge Lernerfahrung verhindern und damit, denkt man etwa an medizintechnische Anwendungen der Nanotechnologie, ggf. auch die Verwirklichung von Heilungschancen hemmen. Grundrechtlich geschützte Interessen können aber durch ein Verbot der Nutzung von Chancen ebenso beeinträchtigt werden wie durch die Duldung der Verwirklichung von Risiken. Soll die staatliche Risikosteuerung sowohl der Abwehrfunktion der Grundrechte als auch ihrer Schutz- und Förderdimension gerecht werden und beide in praktischer Konkordanz verwirklichen, setzt dies deshalb eine Einbeziehung der Irrtumskosten der Regulierung und eine Entscheidung über ihre Verantwortbarkeit vor dem Hintergrund von unvollkommenem Wissen voraus. Staatliche Risikosteuerung wird damit reflexiv.30 Einzustellen sind also nicht nur die möglicherweise nachteiligen Folgen einer ohne hinreichende Vorsorge verlaufenden technologischen Entwicklung, sondern auch die möglichen nachteiligen Folgen unnötiger oder übermäßiger vorsorgenden Normierung.31 Unter dem Aspekt der Irrtumskosten tritt damit die Regelungsreife der fraglichen Materie in den verfassungsrechtlichen Blick. Lassen sich Risiken und Chancen einer Technologie nicht hinreichend überblicken, können einer eingriffsintensiven Regulierung die Wahrscheinlichkeit oder die Höhe der Kosten einer Fehlsteuerung entgegenstehen. Bei der insoweit zu treffenden Abwägung gilt für das Recht nicht, was die psychologische Risikoforschung vom individuellen Risikoverhalten berichtet32: es ist 30 Arno Scherzberg, Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht: Ermöglichung oder Begrenzung von Innovationen, VVDStRL 63 (2004), S. 214 (219 ff., 225). 31 Arno Scherzberg (Fn. 30), S. 219 ff.
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nicht konservativ, d. h. das Risiko einer Beeinträchtigung bestehender Rechtsgüter und Interessen wiegt verfassungsrechtlich nicht grundsätzlich höher als die Eröffnung eines neuen Entfaltungs- oder Optionenraumes. Die jeweils objektiv-grundrechtlichen Schutz- und Fürsorgepflichten fordern im Konfliktfall vielmehr beides: Entwicklungschancen zu eröffnen und gleichzeitig Risiken zu minimieren. Bei der Frage, wie diese Gleichzeitigkeit am besten herzustellen ist, gewähren die Grundrechte Prognose- und Gestaltungsspielräume und ermöglichen dabei auch die Verwirklichung von sozio-kultureller und politischer Präferenz.
III. Regulierungsbedarf und Regulierungsoptionen 1. Zum Diskussionsstand Zur Regelungsreife der Nanotechnologie und den weiteren aus der Ungewissheit ihrer Folgen zu ziehenden Schlussfolgerungen sind die Ansichten durchaus geteilt. Die ETC-Group fordert seit langem ein Moratorium nanotechnologischer Anwendungen33 und auch die zuständigen Ausschüsse des Europaparlaments haben verlangt, dass die Schadenspotentiale der nicht löslichen oder biologisch abbaubaren Nanopartikel erforscht werden müssten „before such particles go into production and are put on the market“.34 Ähnlich nimmt der BUND zu den Umweltrisiken Stellung: „Eine nachhaltige Entwicklung einer neuen Technologie verlangt, dass das Gefährdungspotenzial für Mensch und Umwelt vor der Anwendung analysiert wird und erst dann ein Produkt in Verkehr gebracht wird, wenn die Bewertung eine Gefährdung von Mensch und Umwelt bei Herstellung, Gebrauch und Verwertung / Entsorgung als unwahrscheinlich erscheinen lässt.“35 Das Öko-Institut schlägt demgegenüber eine anhand des Besorgnispotentials der jeweiligen Anwendung abgestufte Regulierung vor. Soweit ein Besorgnispotential besteht, sollten Schutz- und Minimierungsmaßnahmen greifen und die Zulassung vom Überwiegen des sozioökonomischen Nutzens abhängig gemacht werden. Ferner sei ein Monitoring vorzusehen und der Hersteller bei Hinweisen auf schädigende Eigenschaften zu einem wirksamen Risikomanagement und zur Überprüfung des Einsatzes alternativer Technologien zu verpflichten.36 Am Ausmaß des Nichtwissens orientiert sich die britische Standardsetzungs-Agentur: „In general, the greater the 32 s. etwa Helmut Jungermann / Hans-Rüdiger Pfister / Katrin Fischer, Die Psychologie der Entscheidung: eine Einführung, 1998, S. 223 f. 33 ETC-Group, Nanotechnology, http: //www.etcgroup.org/en/issues/nanotechnology.html, zuletzt abgerufen am: 22. 08. 2008. 34 Europäisches Parlament, Report on Nanosciences and nanotechnologies: an action plan for Europe 2005 – 2009 (2006 / 2004 (INI)), A6 – 0216 / 2006 final, S. 14. 35 BUND (Hrsg.) (Fn. 7), S. 8. 36 Öko-Institut, Chancen der Nanotechnologien nutzen! Risiken rechtzeitig erkennen und vermeiden!, 2007, http: //www.oeko.de/oekodoc/472/2007 – 077-de.pdf, S. 4.
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gaps in knowledge, the more cautious the control strategy should be. . . . If little is known about the material, it will be necessary to treat it as highly hazardous and apply tighter exposure controls. . . . As uncertainty about the levels of exposure increases, the need for caution in the assessment increases. It is therefore necessary to err on the side of caution and determine where significant doubt exists.“37 Demgegenüber kommt eine jüngst veröffentlichte, vom US-National Cancer Institute und dem National Institute of Health geförderte Studie zu tendenziell anderen Ergebnissen: „Although nanoparticle safety studies have not raised any red flags, because of unknowns, it is impossible to say that nanotechnology is free of risk. However, the same could be said of any new material in the research pipeline . . . In the future when weighing the established risks against the established benefits of nanotechnology, it may be important to consider the risks that we already take for granted in our everyday lives, like the gasoline in our automobiles or the flea collar on our dogs.“38 In einer vom Vorsorgeprinzip gekennzeichneten Rechtsordnung ist das Bestehen bekannter, als sozialadäquat bewerteter Risiken freilich kein Freibrief zur Begründung neuer Gefahrenpotentiale. Einer wirksamen auf Vorsorge gerichteten Regulierung stehen derzeit aber möglicherweise die erheblichen Wissenslücken der Risikoforschung entgegen.39 Eine lückenlose Erfassung und sachgerechte Bewertung von Nanopartikeln scheitert derzeit nicht nur an den hohen Kosten und am Fehlen der dazu erforderlichen Ausstattung, sondern schon an dem Umstand, dass vielfach noch unklar ist, welche Parameter zur Feststellung ihrer Toxizität überhaupt herangezogen werden sollen. So kann ein nanoskaliger Stoff je nach Gestaltung von Größe, Struktur oder Oberfläche (coating) ganz unterschiedliche Eigenschaften aufweisen. Exposition und Toxizität können insbesondere davon abhängen, in welche Struktur das Partikel eingefügt ist, welche anderen Materialien mit ihm zusammen eingesetzt werden und wie es genutzt wird. Bislang fehlen hinreichende Quantitäten und hinreichende Erfahrungen mit einschlägigen Anwendungen, um deren Auswirkungen auf Mensch und Umwelt bestimmen zu können. Überdies gilt: aus den Eigenschaften des nanoskaligen Grundstoffes lässt sich nicht sicher auf die Risikoneigung des an den Verbraucher gelangenden Endprodukts schließen. Vielfach lässt sich bei der Herstellung ohnehin gar nicht vorhersehen, welche möglichen Endprodukte entstehen und welchen Nutzungen sie zugeführt werden. Wegen der Individualität der unterschiedlichen Nanomaterialien müssen die Risiken fallbezo37 British Standards Institution, Nanotechnologies – Part 2: Guide to safe handling and disposal of manufactured nanomaterials, 2007, via http: //www.bsi-global.com/en/Standardsand-Publications/Industry- Sectors/Nanotechnologies/PD-6699 – 2/Download-PD6699 – 2-2007/, S. 6, 8, 10. 38 Stephan T. Stern / Scott E. McNeil, Nanotechnology Safety Concerns Revisited, Toxicological Sciences 2008 101 (1), S. 4 (21). 39 Dazu etwa J. Clarence Davies, Managing the effects of Nanotechnology, 2006, http: // www.wilsoncenter.org/events/docs/Effectsnanotechfinal.pdf, S. 11 ff.
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gen, entwicklungsbegleitend sowie entlang des gesamten Lebensweges des Produkts abgeschätzt, bewertet und minimiert werden.40 Solange dies nicht einmal im Ansatz geleistet ist, fehlen die Wissensgrundlagen für eine nachhaltige und rechtssichere nanospezifische Regulierung. Ob man sich allerdings mit dieser Feststellung begnügen und die Risikobewältigung vorläufig den freiwilligen Anstrengungen der Industrie überlassen darf, ist fraglich, wenn man sich neuere Befunde der US-amerikanischen Risikoforschung vergegenwärtigt. Danach haben Forschung und Industrie in den USA bislang keine an den spezifischen Eigenschaften des Nanomaterials ausgerichteten Sicherheitsvorkehrungen entwickelt.41 Es werden lediglich die im Umgang mit konventionellen Stoffen bewährten Routinen befolgt. Ähnlich ist die Lage in Deutschland. Hier nehmen nach einer im Jahre 2007 veröffentlichten Fragebogenaktion der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) und des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI) immerhin fast 70% der mit Nanomaterialien arbeitenden Unternehmen keine nanospezifischen Messungen vor; dementsprechend ist mehr als 70% der Unternehmen das Ausmaß der Exposition und die Staubkonzentration am Arbeitsplatz nicht bekannt.42 Immerhin bemühen sich VCI und BAuA um die Erarbeitung einer „guten Unternehmenspraxis“43 und haben einen „Leitfaden für Tätigkeiten mit Nanomaterialien am Arbeitsplatz“ veröffentlicht. Ein solcher Leitfaden muss sich aber naturgemäß auf die Wiedergabe des geltenden Rechts und auf die Abgabe von Empfehlungen zu seiner Anwendung beschränken.44 2. Zur Eignung der nano-unspezifischen Risikoregulierung In Europa herrscht – anders als in den USA45 – die Meinung vor, die Entwicklung eines eigenen Nano-Regelwerkes sei wegen der Ausdifferenziertheit der auf Öko-Institut (Fn. 36), S. 4. Andrew D. Maynard, Nanotechnology: A Research Strategy for Addressing Risk, 2006, http: //www2.cst.gov.uk/cst/business/files/ww5.pdf, S. 8 f. 42 Sabine Plitzko et al., Fragebogenaktion der BAuA und des VCI, 2007, http: //www. baua.de/nn_43190/de/Themen-von-A-Z/Gefahrstoffe/Nanotechnologie/pdf/Vortrag-Plitzko-04. pdf. 43 Verband der Chemischen Industrie, Nanomaterialien am Arbeitsplatz. Stakeholder-Dialog zum Arbeitsschutz am 19. 04. 2007 in Frankfurt am Main, http: //www.vci.de/ default2~rub~809~tma~0~cmd~shd~docnr~121338ñd~õndñano~snd~~shmode~.htm, zuletzt abgerufen am: 22. 08. 2008. 44 Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin / Verband der Chemischen Industrie, Leitfaden für Tätigkeiten mit Nanomaterialien am Arbeitsplatz, 2007, http: //www. baua.de/nn_43190/de/Themen-von-AZ/Gefahrstoffe/Nanotechnologie/pdf/Leitfaden-Nanoma terialien.pdf. 45 J. Clarence Davies (Fn. 39), S. 18 sowie Glenn Harlan Reynolds, Forward to the Future: Nanotechnology and Regulatory Policy, 2002, http: //liberty.pacificresearch.org/docLib/ 2002_Forward_to_Nanotech.pdf, S. 14 ff. 40 41
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die Arbeit mit Nanomaterialien anwendbaren Normen des Umwelt-, Verbraucherund Arbeitsschutzes nicht empfehlenswert. Im Vordergrund steht stattdessen der Versuch, den Umgang mit nanoskaligen Stoffen und Produkten mit Hilfe der vorhandenen Regelwerke zu disziplinieren.46 Die Probleme sind indes für beide Regulierungstypen identisch. So kommt eine jüngst veröffentlichte dänische Studie zur Eignung des europäischen Umweltrechts für die Regulierung der mit drei spezifischen nanoskaligen Partikeln verbundenen Risiken zum Ergebnis: „The main problems seem to be that metrology tools are unavailable, thresholds are not tailored to the nanoscale and are based on bulk material, and (eco-)toxicological data and limits cannot be established with existing methodologies. . . . Our study shows the particles’ properties, (eco-) toxicological data and risk assessments are often necessary to determine the scope of many regulations. As long as there is uncertainty about how to determine these properties unequivocally, many environmental laws remain inapplicable to nanoparticles such as C 60 and carbon nanotubes. Moreover the specific properties of nanoparticles often render them unsuitable for regulation by existing laws. . . . Despite the many gaps we have identified in this paper . . . of European legislation in relation to nanoparticles . . . the largest gap we have identified is the lack of accesss to key information along the life cylce of the products likewise, public authorities will also have to face the lack of access to key information to monitor the effectiveness of the incremental approach.“47 Die mit dem Rückgriff auf nanounspezifische Normen verbundenen Probleme seien anhand der stoffrechtlichen und arbeitsschutzrechtlichen Lage in Deutschland veranschaulicht48: Zu welchem Zeitpunkt und in welchem Umfang Nanomaterialien nach der für die stoffrechtliche Behandlung nunmehr einschlägigen REACH-Verordnung (EG) Nr. 1907 / 2006 einer eigenständigen Risikobewertung unterzogen werden müssen49, hängt zum einen davon ab, ob es sich um einen „Phase-in“ (Alt)-Stoff 46 Siehe dazu Stefanie Merenyi / Martin Führ / Kathleen Ordnung, Regulierung von Nanomaterialien im geltenden und künftigen Chemikalienrecht – Analyse und Gestaltungsoptionen, StoffR 2 (2007), S. 50 (59 f.); Verband der Chemischen Industrie, Positions and recommendations of VCI on the legal coverage of nanoparticles and nanoscale substances, http: //www.vci.de/default2~rub~809~tma~0~cmd~shd~docnr~118640ñd~õndñano~snd~~ shmode~.htm, zuletzt abgerufen am: 26. 08. 2008. 47 Antonio Franco / Steffen Foss Hansen / Stig Irving Olsen / Luciano Butte, Limits and prospects of the „incremental approach“ and the European legislation on the management of risks related to nanomaterials, Regulatory Toxicology and Pharmacology 48 (2007), S. 171 (181). 48 Zum Folgenden schon Arno Scherzberg, Alte Instrumente für neue Wirkungen? Probleme der rechtlichen Regulierung der Nanotechnologie am Beispiel des Arbeitsschutzes, in: ders. / Joachim H. Wendorff (Hrsg.), Nanotechnologie, 2009, S. 219 (224 ff.). 49 Ausführlich dazu Martin Führ / Andreas Hermann / Stefanie Merenyi / Katja Moch / Martin Möller, Rechtsgutachten Nano-Technologien, 2006, http: / / www.oeko.de / oekodoc / 334 / 2006 – 022-de.pdf, S. 26; Martin Führ, Regulierung von Nano-Materialien im Umwelt-
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nach Art. 3 Nr. 20 Abs. a) REACH handelt, und zum anderen davon, in welchen Mengen der Stoff in der Gemeinschaft hergestellt oder in sie eingeführt wird. Bei gleicher chemischer Struktur wird die Qualifikation der nanoskaligen Erscheinungsform eines im Altstoffregister EINECS verzeichneten Stoffs als „neuer Stoff“ nicht zu begründen sein.50 Nach den damit geltenden Übergangsregeln der Art. 23 Abs. 2 und 3 REACH-VO ist eine Registrierung von Nanomaterialien bei Herstellungsmengen von über 100 t pro Hersteller für 5 Jahre, bei Mengen ab 1 t für 10 Jahre ausgesetzt. In diesen Zeiträumen begnügt sich Art. 28 Abs. 2 VO 1906 / 2006 mit einer Vorregistrierung, bei der keine risikobezogenen Daten zu übermitteln sind. Soweit einzelne Nanomaterialien als neue Stoffe einer sofortigen Registrierung unterliegen – und für die Phase-In-Stoffe nach Ablauf der genannten Fristen – knüpft REACH bei der Definition der den Hersteller treffenden Pflichten an das Vermarktungsvolumen an. Ein Registrierungsdossier mit bestimmten Grunddaten gem. Art. 7 Abs. 4 VO 1907 / 2006 ist gem. Art. 6 Abs. 1VO 1907 / 2006 erst ab einer Herstellungs- oder Einfuhrmenge von 1 t pro Jahr, ein detaillierter Stoffsicherheitsbericht ist gem. Art. 14 Abs. 1 VO 1907 / 2006 erst ab einer Herstellungs- / Einfuhrmenge von 10 t pro Jahr (jeweils pro Hersteller bzw. Importeur) erforderlich. Dieser Bericht kann gem. Art. 14 Abs. 2 VO überdies entfallen, wenn das Nanomaterial Bestandteil einer Zubereitung ist und seine Konzentration in dieser Zubereitung bestimmte Werte unterschreitet,51 und muss im Übrigen gem. Art. 14 Abs. 4 VO nur dann eine Expositionsbeurteilung und Risikobeschreibung enthalten, wenn der Registrant aus seiner Stoffsicherheitsbeurteilung folgert, dass die Kriterien für eine Einstufung als gefährlich gemäß der Richtlinie 67 / 548 / EWG vorliegen oder es sich um einen (mindestens) persistenten, bioakkumulierbaren oder toxischen Stoff handelt. Angesichts der erheblichen Wissenslücken über die Eigenschaften und Toxizitäten von Nanomaterialien und des Umstandes, dass es insoweit an aussagekräftigen Test- und Bewertungsmethoden fehlt, dürften derartige Schlussfolgerungen in vielen Fällen nicht oder nicht mit hinreichender Sicherheit zu treffen sein.52 Eine Verpflichtung, spezifische Tests im Hinblick auf die Wirkungen von Nanomaterialen durchzuführen, ist REACH nach dem derzeitigen Erkenntnisstand nicht zu entnehmen.53 Zudem mag der von REACH zugrundegelegte Parameter der Herstellungsmenge zwar ein generell geeigneter Indikator sein, um den Bedarf an toxikologischen Studien und sonstigen, dem Vorsorgegrundsatz entsprechenden Aktivitäten recht – Analyse und Gestaltungsoptionen, in: Scherzberg, Arno / Wendorff, Joachim H. (Hrsg.), Nanotechnologie, 2009, S. 139 (150 ff.); Wolfgang Köck, Nanopartikel und REACH. Zur Leistungsfähigkeit von REACH für die Bewältigung von Nano-Risiken, ebenda S. 183 (189 ff.). 50 Antonio Franco / Steffen Foss Hansen / Stig Irving Olsen / Luciano Butte (Fn. 47), S. 181; Martin Führ (Fn. 49); Wolfgang Köck (Fn. 49). 51 Krit. dazu Wolfgang Köck (Fn. 49), S. 192. 52 Susan Dekkers et al. (Fn. 14), S. 34. 53 Martin Führ (Fn. 49), S. 155 f.
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zu steuern. Für typischerweise in kleineren Mengen hergestellte und gerade wegen ihrer Winzigkeit (und damit Leichtigkeit) risikobehaftete Stoffe ist dieser Ansatz aber unbrauchbar.54 Neben den Hersteller und Importeur treffenden Pflichten zur Stoffprüfung und ggf. zu einer Stoffsicherheitsbeurteilung sieht REACH unter bestimmten Umständen auch eine amtliche Stoffbewertung vor. Art. 44 REACH-VO verlangt insoweit eine Priorisierung nach einem „risikoorientierten Konzept“. Über die Wahrnehmung des insoweit bestehenden Entscheidungsspielraums für Stoffe, bei denen hohe Ungewissheit über Exposition und Risikoneigung bestehen, lassen sich derzeit noch keine Aussagen treffen. Die Vermutung liegt nahe, dass die Dynamik der Entwicklung der Nanotechnologie eine behördliche Stoffprüfung nur in wenigen Fällen bekannter und hoher Risikoneigung zulässt. Ähnlich wird sich die in Art. 56 Abs. 1 REACH-VO vorgesehene Zulassungspflicht nur in wenigen Fällen auswirken. Ihr unterliegen Stoffe, die die in Art. 57 REACH.VO vorgesehenen spezifischen Gefahreneigenschaften aufweisen und in den Anhang XIV der Verordnung aufgenommen worden sind. Nanomaterialien werden danach nur einer Zulassungspflicht unterzogen, wenn ihre spezifische Gefährlichkeit feststeht.55 Im Arbeitsschutzrecht liegt die Verantwortung für den Arbeitsschutz beim Arbeitgeber, der die in seinem Betrieb auftretenden Gefährdungen der Beschäftigten beim Umgang mit Gefahrstoffen zu analysieren und entsprechend geeignete Schutzmaßnahmen zu ergreifen hat.56 Gem. § 4 Nr. 1 ArbSchG hat er die Arbeit so zu gestalten, dass eine Gefährdung für Leben und Gesundheit möglichst vermieden und eine verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird. Zur Wahrnehmung dieses Minimierungsgebots hat er gem. § 5 Abs. 1 ArbSchG die mit der Arbeit verbundene Gefährdung zu beurteilen und danach die zum Arbeitsschutz erforderlichen Maßnahmen zu ermitteln. Art und Umfang der Gefährdungsbeurteilung und die gebotenen Maßnahmen des Risikomanagements werden in § 7 ff. GefStoffV und für besonders kritische Tätigkeiten im Anhang der Verordnung in Detailbestimmungen konkretisiert. Gem. § 7 Abs. 2 GefStoffV hat sich der Arbeitgeber die für die Gefährdungsbeurteilung notwendigen Informationen beim Inverkehrbringer oder bei anderen ohne weiteres zugänglichen Quellen zu beschaffen. Gem. § 7 Abs. 2 S. 3 GefStoffV sind dabei die ihm gemäß Titel IV Verordnung (EG) Nr. 1907 / 2006 zur Verfügung gestellten Informationen zu beachten; dazu gehören Sicherheitsdatenblätter und die Informationen zu Stoffen oder Zubereitungen, für die kein Sicherheitsdatenblatt zu erstellen ist. Sofern die EG-Vorschriften keine Informationspflicht etwa in einem Sicherheitsdatenblatt vorsehen, hat der Inverkehrbringer dem 54 Antonio Franco / Steffen Foss Hansen / Stig Irving Olsen / Luciano Butte (Fn. 47), S. 181. 55 Wolfgang Köck (Fn. 49), S. 197. 56 Wolfram Weinmann / Hans-Peter Thomas / Helmut A. Klein, Gefahrstoffrecht. CD-RomAusgabe. Stand 2005, A 3.3.2.1.
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Arbeitgeber auf Anfrage alle Informationen über die Gefahrstoffe zur Verfügung zu stellen, die zur Anwendung von Satz 1 und 2 erforderlich sind. Das Arbeitsschutzrecht knüpft damit primär an die stoffrechtlich zu erhebenden und zu übermittelnden Eigenschaften an.57 Für den Arbeitsschutz ist der bei REACH zugrunde liegende Parameter der Herstellungsmenge nun aber mit Sicherheit keine brauchbare Referenz. Der Grad der Gesundheitsgefährdung eines konkret betroffenen Arbeitnehmers ist vom Ausmaß seiner individuellen Exposition am Arbeitsplatz, nicht aber von der jährlichen Produktionsmenge des betreffenden Betriebes abhängig. Die Anknüpfung des Arbeitsschutzrechts an die stoffrechtlich bereitgestellten Informationen ist daher unbefriedigend. Allerdings ist der Arbeitgeber neben der Auswertung der im Rahmen von REACH übermittelten Daten gem. § 7 Abs. 1, 2 S. 5 GefStoffV auch verpflichtet, die von den Nanomaterialien ausgehenden Gefährdungen für die Beschäftigten selbst zu ermitteln. Dabei ist nicht erheblich, ob es sich bei Nanomaterialien um gegenüber Stoffen in herkömmlicher Größenordnung eigenständige Stoffe handelt. Zweifelhaft ist allerdings, wie weit die Ermittlungspflichten des Arbeitgebers reichen, insbesondere, welche Informationsquellen von ihm heranzuziehen sind. Für die Unternehmenspraxis maßgeblich sind insoweit die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gem. § 21 Abs. 4 GefStoffV bekannt gemachten Technischen Regeln für Gefahrstoffe. Bei deren Einhaltung ist gem. § 8 Abs. 1 S. 3 GefStoffV „in der Regel davon auszugehen, dass die in der Verordnung gestellten entsprechenden Anforderungen erfüllt sind.“ Einschlägig sind insoweit TRGS 400 und TRGS 526.58 Nach Nr. 4.1 TRGS 400 muss der Arbeitgeber bei der Nutzung nicht selbst hergestellter Stoffe bei der Gefahrenermittlung neben dem Sicherheitsdatenblatt zusätzlich alle „ohne weiteres zugängliche(n) Informationen“ verwerten und ggf. Zweifeln an den Angaben auf dem Sicherheitsdatenblatt nachgehen. Eine Auswertung einschlägiger wissenschaftlicher Veröffentlichungen ist dabei allerdings nicht geboten, auch eigene Tests muss er nicht anstellen. Ist ihm keine substantiierte Gefährdungsbeurteilung möglich, sind die betreffenden Materialien wie gesundheitsgefährliche, hautreizende, hautsensibilisierende und einen „Verdacht auf Erbgutveränderung“ begründende Stoffe zu behandeln und sind die in Nr. 4.2 Abs. 8 ff. TRSG 400 für Stoffe im Allgemeinen sowie für die bei Tätigkeiten freigesetzten Stäube im Besonderen festgelegten Mindestschutzmaßnahmen zu ergreifen. Handelt es sich um einen neuen Stoff, der in wissenschaftlichen Laboratorien oder für wissenschaftliche sowie produkt- und verfahrensorientierte Forschung und 57 Martin Führ / Andreas Hermann / Stefanie Merenyi / Katja Moch / Martin Möller (Fn. 49), S. 29. 58 Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Technische Regeln für Gefahrstoffe. TRGS 400, Ausgabe Januar 2008, http: //www.baua.de/nn_16704/de/Themen-von-A-Z/Gefahrstoffe/ TRGS/pdf/TRGS-400.pdf; Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Technische Regeln für Gefahrstoffe. TRGS 526, Ausgabe Februar 2008, http: //www.baua.de/nn_16744/de/The men-von-A-Z/Gefahrstoffe/TRGS/pdf/TRGS-526.pdf.
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Entwicklung verwendet wird, sind gem. Nr. 4. 2 Abs. 9 TRSG 400 überdies die Regeln für den Umgang mit giftigen Gefahrstoffen zu beachten. Damit wird dem Vorsorgeprinzip zwar im Ansatz zutreffend Rechnung getragen. Auch die arbeitsschutzrechtliche Situation weist aber Lücken auf. Regelmäßig wird das vom Hersteller verfasste Sicherheitsdatenblatt die für den Arbeitgeber maßgebliche informationelle Grundlage darstellen. Ist es unrichtig oder unvollständig, fehlen etwa aufgrund der oben geschilderten Rechtslage zu REACH ausdrückliche Hinweise auf die Eigenschaft des Stoffes als Nanomaterial, und liegen auch keine ohne weiteres zur Verfügung stehenden Informationen i. S. d. Nr. 4.1 Abs. 6 TRGS 400 vor, die auf ein besonderes Gefährdungspotential verweisen, laufen die arbeitsschutzrechtlichen Pflichten leer. Auf Schutzmaßnahmen nach dem Stand von Wissenschaft und Technik ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet. Die in der TRGS 400 vorgesehenen vorsorglichen Schutzmaßnahmen für gesundheitsgefährliche bzw. giftige Gefahrstoffe bleiben u.U. hinter diesem Standard zurück. Deshalb ist eine Intensivierung der Pflichten der Arbeitgeber zur Gefährdungsermittlung und -beurteilung anzustreben und vom Ausmaß und der Reduzierbarkeit der Exposition am Arbeitsplatz abhängig zu machen. Insbesondere ist ihnen abzuverlangen, im Rahmen der Auswertung „ohne weiteres zugänglicher Informationen“ auf aktuelle, in allgemein zugänglichen Publikationsmedien verfügbare wissenschaftliche Studien zurückzugreifen. Als Abhilfe ausschließlich auf freiwillige, etwa vom VCI und der BAuA koordinierte Maßnahmen zu setzen, erschiene fragwürdig: freiwillige Maßnahmen würden nur die daran beteiligten Unternehmen erfassen und bei diesen zu erhöhten Kosten und jedenfalls vordergründig zu einem Wettbewerbsnachteil führen.59 Sie würden deshalb eher an der unteren Grenze des Erforderlichen ansetzen, könnten öffentlichen Zweifeln an der Beherrschung der neuen Technologie kaum entgegenwirken60 und die Einhaltung der für den Verbraucher verlässlichen Standards nicht gewährleisten. 3. Handlungsbedarf Es besteht also Handlungsbedarf und zwar in zweierlei Hinsicht: bei der Risikoforschung und bei der Risikominimierung. a) Zum Forschungsbedarf kommentiert eine Forschergruppe am Woodrow Wilson International Center, einer hochrangig besetzten, als public-private-partnership geführten amerikanischen Forschungseinrichtung: „Without strategic and targeted risk research, people producing and using nanomaterials could develop unantici59 Antonio Franco / Steffen Foss Hansen / Stig Irving Olsen / Luciano Butte (Fn. 47), S. 172. 60 Antonio Franco / Steffen Foss Hansen / Stig Irving Olsen / Luciano Butte (Fn. 47), S. 172.
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pated illness arising from their exposure, public confidence in nanotechnologies could be reduced through real or perceived dangers and fears of litigation may make nanotechnologies less attractive to investors and the insurance industry.“61 Dabei rechnet die Forschergruppe mit 10 – 15 Jahren, allein um Instrumente zu entwickeln, die das Ausmaß und die Qualität der Einwirkungen von synthetischen Nanomaterialien auf Luft und Wasser, die Toxizität von solchen Nanomaterialien und ihre Auswirkungen auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit erkennbar machen.62 Notwendig sind stoff- und produktspezifische, den jeweiligen Stand des Wissens reflektierende Lebenszyklenanalysen.63 Diese zeitlichen und sachlichen Dimensionen machen die Dringlichkeit einer anwendungsbegleitenden Risikoforschung erkennbar. Sie ist Voraussetzung jeder wirksamen Vorsorge. Der Staat ist zum Schutz von Verbrauchern und Arbeitnehmern zur eigenen Wissensgenerierung durch Vergabe entsprechender Forschungsaufträge aufgerufen und hat überdies dafür zu sorgen, dass die mit Nanomaterial arbeitenden Unternehmen in zumutbarem Umfang zur Risikoerhebung beitragen. Derzeit sind die öffentlichen Investitionen in die Risikoforschung ihrem Umfang nach marginal: Im 6. Rahmenprogramm der Gemeinschaft für Forschung und technologische Entwicklung waren zwar bereits 1, 3 Mrd. A für Projekte zur Nanotechnologie vorgesehen, im 7. Rahmenprogramm sind es sogar 3, 5 Mrd. A. Der in diesen Summen enthaltene Anteil für Risikoforschung ist aber verschwindend gering: im Jahre 2005 wurden nur etwas mehr als 1 % der EU-Forschungsförderung der Nanotechnologie für die Risikoforschung aufgebracht: von 450 Mill. A gingen 5 Mill. an die Risikoanalyse.64 Bei mittlerweile etwa 600 Mill. A jährlicher Förderung der Nanotechnologie werden zur Zeit lediglich 14 Projekte zur Risikoforschung von meist mehrjähriger Laufzeit mit insgesamt 32 Mill. A gefördert.65 b) Im Hinblick auf die Risikominimierung besteht Reformbedarf derzeit vor allem bei der Bestimmung der im Rahmen von REACH beizubringenden Herstellerinformationen. Die stoffrechtlichen Pflichten sind für Nanomaterialien statt anhand der Herstellungsmenge anhand der vermuteten Risikoneigung des Stoffes und der zu erwartenden Exposition von Arbeitnehmer, Verbraucher und Umwelt abzustufen. Damit ist auch sicherzustellen, dass die Gefährdungsbeurteilung der ArbeitAndrew W. Maynard, Safe handling of nanotechnology, nature Vol. 444 (2006), S. 267. Andrew W. Maynard (Fn. 61), S. 267 ff. 63 National Science and Technology Council, The National Nanotechnology Initiative. Environmental, Health and Safety Research Needs for Engineered Nanoscale Materials, 2006, http: //www.nano.gov/NNI_EHS_research_needs.pdf, S. 52 f.; National Science and Technology Council, The National Nanotechnology Initiative: Strategy for Nanotechnologyrelated Environmental, Health and Safety Research, 2008, http: //www.nano.gov/NNI_EHS_ Research_Strategy.pdf, S. 40. 64 Nachweise im Vorwort von Arno Scherzberg / Joachim H. Wendorff (Hrsg.) (Fn. 1), S. VI f. 65 Pilar Aguar / José Juan Murcia Nicolás, EU nanotechnology R&D in the field of health and environmental impact of nanoparticles. Publikation der Europäischen Kommission, 2008, ftp: //ftp.cordis.europa.eu/pub/nanotechnology/docs/final-version.pdf, S. 3. 61 62
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geber auf einer nanospezifischen Risikobewertung der Hersteller beruht. Der Arbeitgeber selbst muss überdies zur Aktualisierung seines Risikowissens und zu einer darauf basierenden nanospezifischen Gefährdungsbeurteilung verpflichtet werden. Insbesondere ist ihm abzuverlangen, im Rahmen der Auswertung „ohne weiteres zugänglicher Informationen“ auf aktuelle, allgemein zugängliche wissenschaftliche Studien zurückzugreifen. Der derzeit vorsorglich zu beachtende Schutzstandard für gesundheitsgefährliche bzw. giftige Gefahrstoffe kann nur solange maßgeblich sein, wie derartige Risikostudien kein höheres Gefährdungspotential indizieren. Die arbeitsschutzspezifische Vorsorge ist im Übrigen am Umfang der Exposition des Arbeitnehmers zu orientieren. Rechtssicherheit wäre insoweit durch die Formulierung einer eigenständigen TRGS Nano erreichbar. Einzubauen sind entsprechende Regelungen in einen flexiblen, schrittweise auszubauenden Regulierungsrahmen, dessen Komponenten hier im Anschluss an Decker66 nur kurz skizziert werden sollen: – Anmelde- oder Zulassungsverfahren mit der Möglichkeit zu vorläufigen Maßnahmen, – Normative Vorprägung der Entscheidung, auf welchem Wege die Vertretbarkeit des Risikos ermittelt werden soll, etwa durch Risiko / Chancen-Abwägung, durch Risikovergleich oder durch die allgemeine Pflicht zur Risikominimierung, – Normative Entscheidung, in welchen Fällen der Nachweis der Erforderlichkeit des Einsatzes von Nanomaterial für den verfolgte Zweck erbracht werden muss, – Definition von Pflichten zur Etablierung eines Risikomanagementsystems mit dem Ziel einer Verwertung neuen Risikowissens und einer Verpflichtung zur Minimierung der Exposition in einer TRGS Nano, – Förderung der Entwicklung gemeinsamer Managementstandards durch Förderung privater Zertifizierung, – Beweislastumkehr, die die Widerlegung konkreter Risikohypothesen bzw. den Nachweis hinreichender Schutzvorkehrungen erfordert, – Kennzeichnungspflichten bei Produkten, die sich an Endverbraucher wenden, wobei die Kennzeichnung darauf hinweist, dass keine abschließende Risikobewertung möglich ist und – Haftung für Entwicklungs- und Konstruktionsfehler nach dem Stand von Wissenschaft und Technik.
66 Michael Decker, Nanopartikel und Risiko – ein Fall für das Vorsorgeprinzip? Betrachtungen aus der Perspektive der Technikfolgenabschätzung, in: Scherzberg, Arno / Wendorff, Joachim H. (Hrsg.), Nanotechnologie, 2009, S. 113 (120 ff.).
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IV. Schlussbemerkung Das Weltwirtschaftsforum stellte in seinen Berichten in den Jahren 2007 und 2008 fest, „the increasing human exposure to nanotechnology“ stelle eines der globalen Risiken der Gegenwart dar und müsse abgewogen werden „against the multiple opportunities created by nanotechnology.“67 Hält man dies im Einklang mit den obigen Überlegungen für plausibel, richtet sich die staatliche Innovationsverantwortung darauf, die Entfaltung der Anwendungsmöglichkeiten der Nanotechnologie zu fördern und dabei die fortlaufende Erforschung der Toxizität und die weitmöglichste Minimierung der Exposition von Mensch und Umwelt zu gewährleisten. Das Recht kann hierzu durch ein effektives Anreiz- und Sanktionssystem beitragen. Hierfür geeignete Gestaltungsoptionen zu entwickeln, ist derzeit noch rechtswissenschaftliches Desiderat.
67 World Economic Forum, Global Risiks 2008. A Global Risk Network Report, 2008, http: //www.weforum.org/pdf/globalrisk / report2008.pdf, S. 22, 44, 48.
Transgene und andere Nutzpflanzen für energietechnische Nutzungen: Innovationen zwischen klimaschutzpolitischen Imperativen, öffentlichen Subventionen und widersprechendem Implikationswissen Von Stephan Albrecht
I. Transgene für energetische Nutzungen: ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 II. Klimaschutzpolitik mit Hilfe von Pflanzentreibstoffen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 1. Nachhaltigkeitspostulate und Förderung von Pflanzentreibstoffen . . . . . . . . . . . . . 206 2. Quantitative Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 3. Implikationen. Governance durch Wissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 III. Innovations-Governance: Wer trägt Verantwortung wofür? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
I. Transgene für energetische Nutzungen: ein Überblick Das Bacon-Projekt der Moderne1, das man auch als fossile Industrialisierung bezeichnen kann, stößt zunehmend sichtbar an seine Grenzen. Dafür gibt es zwei Anzeichen: den etwas unscheinbar so genannten Klimawandel und den peak oil2. Beide Anzeichen hängen systematisch zusammen: Die energetische, zumeist pyrotechnische Umsetzung unvorstellbar großer Volumina fossiler Energieträger, vor allem Kohle (seit Beginn des 19. Jahrhunderts), Erdöl (seit Beginn des 20. Jahrhunderts) und Erdgas (seit Mitte des 20. Jahrhunderts) führt zu einer physikalischen Erschöpfung3 in wenigen Jahrzehnten (Erdöl und -gas) und zugleich zu gravierenden Veränderungen in der Zusammensetzung der erdnahen Luftschichten. Vor allem das Verbrennungsnebenprodukt Kohlendioxyd (CO2) trägt zu weitreiSchäfer 1993. Deffeyes 2001. 3 Man kann trefflich darüber streiten, wann exakt diese Erschöpfung eintreten wird, weil die Prospektionsdaten doch recht erhebliche Ungenauigkeiten enthalten. Ganz sicher aber ist, dass recht lange vor dem physischen Aus das ökonomische erfolgen wird, nämlich durch Unbezahlbarkeit. 1 2
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chenden Klimaveränderungen bei. Das ist wissenschaftlich seit dem I. Assessment Report (AR) des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) 1990 grundsätzlich bekannt. Ein großer Verbraucher von fossilen Brennstoffen ist der Verkehrssektor, der in der EU für etwa ein Drittel des Gesamtverbrauchs steht. So ist es eigentlich erstaunlich, dass erst ab 1997 im Europäischen Parlament und danach in der Kommission konzentriertere Bemühungen erkennbar wurden, um auch im Transportwesen über Alternativen zu fossilen Treibstoffen nachzudenken. Dabei wurde als Randbedingung der Stand der Antriebstechnik akzeptiert, also die Ottound Dieselmotoren, die europäisch und weltweit seit gut einhundert Jahren genutzt werden4. Pflanzen als Ausgangsstoff für flüssige Treibstoffe wurden mithin unter zwei Kautelen betrachtet: ob sie entweder ölhaltig (für Dieseltreibstoffe) oder zuckerhaltig (für Alkohole) sind. In Brasilien waren schon in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts umfangreiche Anlagen für die Herstellung von Ethanol aus Zuckerrohr entwickelt und gebaut worden; zu dieser Zeit fuhr ein Großteil der benzingetriebenen Automobile in Brasilien mit Ethanol. Der Preisverfall des Rohöls in den 90er Jahren und die Motorenentwicklung der internationalen Automobilproduzenten drängte diese Technologie jedoch in den Hintergrund. Erst mit dem erneuten rapiden Anstieg des Rohölpreises um die Mitte des gegenwärtigen Jahrzehnts re-aktualisierte sich die Frage nach Pflanzentreibstoffen als Substitut für erdölbasierte. Weit ab von den Klima- und Öldebatten lief seit Beginn der 1980er Jahre eine andere, ähnlich strittige, nämlich die um das Für und Wider von transgenen Nutzpflanzen. Die labortechnische Möglichkeit, in Pflanzengenomen gezielte Veränderungen wie das Hinzufügen oder Entfernen von genetischen Abschnitten zu bewirken, beflügelte zunächst die Phantasie vieler Biotechnologen, die mit der Gentechnik5 einen Schlüssel für weitreichende Züchtungsfortschritte in der Hand zu haben annahmen. Eigenschaften wie Salz- oder Trockenheitstoleranz, Stickstofffixierung6 u. a. wurden als technisch übertragbar vermutet – was sich indessen, jedenfalls zunächst, als Illusion erweisen sollte. Was technisch machbar war und wofür es starke wirtschaftliche Interessen gab, war die Übertragung einer Toleranz7 gegen bestimmte Herbizide, die sog. Breitband- oder Totalherbizide 8. Etwas 4 Sicherlich gibt es zahlreiche Detailfortschritte und Innovationen an den Antriebsmaschinen. Diese betreffen aber zumeist Merkmale wie Leistung, Lärm, Laufruhe, Abgasbehandlung u. ä., nicht die energetische Grundlage. 5 Der Begriff Gentechnik hat sich in der öffentlichen Debatte im deutschsprachigen Raum weitgehend durchgesetzt, weil es für das angelsächsische genetic engineering keine gute Übertragung ins Deutsche gibt. 6 Pflanzen der Familie der Leguminosae haben die Fähigkeit, Stickstoff aus der Luft zu binden und für das eigene Wachstum zu nutzen. Bei den meisten heute genutzten Nutzpflanzenarten wird im konventionellen Regime mineralischer Dünger eingesetzt. 7 Eine Resistenz, wie zunächst angenommen wurde, liegt nicht vor. Dann könnte es keine Dosisabhängigkeiten geben. Diese gibt es aber sehr wohl.
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später gelang es, eine Abwehr gegen einen Fraßschädling im Mais zu applizieren. Der im Jahr 2008 existierende Anbau von transgenen Nutzpflanzen lässt sich recht präzise mit der Formel 6 – 4 – 2 bezeichnen. In 6 Staaten werden 4 Nutzpflanzenarten mit 2 transgenen Eigenschaften verwendet, das macht zusammen 90 – 95 % der weltweiten Nutzung aus (ISAAA 2008). Die Verteuerung von Rohöl – und vor allem die absehbare Konstanz dieser Entwicklung9 – haben seit 2003 in der EU und in den USA zu konkreten Normierungen und korrespondierenden Fördermaßnahmen für Pflanzentreibstoffe geführt. Die Normierungen betreffen obligatorische Quotierungen, also Beimischungsvorgaben, und die Fördermaßnahmen beinhalten Steuererleichterungen wie auch verlorene Zuschüsse. Die Folge dieser politischen Kopplungen war eine rapide Entwicklung von Anlagen und eine Umlenkung von Nutzpflanzenerträgen, vor allem von Mais, Weizen und Zuckerrohr in die Pflanzentreibstoffindustrie. In diesem Umfeld entwickelte sich auch eine Diskussion um die Potentiale von biotechnischen Methoden zur Züchtung von Nutzpflanzen für energietechnische Zwecke. Da insbesondere in Europa die Verwendung von transgenen Nutzpflanzen für Ernährungszwecke von den Bevölkerungen anhaltend größtenteils abgelehnt wird, tat sich hier ein Fenster der Gelegenheit auf, um den Einsatz von Transgenen als etwas Sinnvolles, sogar in ökologischer Hinsicht, erscheinen zu lassen. Eilfertig wurde angekündigt, dass transgene Nutzpflanzen eine wichtige Rolle bei der Zurverfügungstellung von effizientem Zuchtmaterial spielen könnten. Eine sorgfältige Untersuchung der tatsächlichen Anstrengungen und Aktivitäten ergibt indessen ein eher ernüchterndes Bild. Schorling et al. haben in einer Studie (2008) ermittelt dass es zwar eine ganze Palette von Forschungen, aber keineswegs ein Arsenal von real verfügbaren transgenen Pflanzen für energietechnische Zwecke gibt. Die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten (FuE) richten sich vor allem auf Raps und Mais, ersterer für Diesel, letzterer für Biogasanlagen. Es geht um die Erhöhung des Ölanteils im Rapssamen, bei Mais um die Erhöhung der Gesamtmasse. Eine zweite FuE-Linie richtet sich auf Kosteneinsparungen im Anbauregime, z. B. die Stabilisierung von Ertrag bei geringeren Düngergaben (Schorling et al. 2008, S. 31 ff.)10.
8 Der anfänglich gebräuchliche Begriff Totalherbizid ist aus zwei Gründen heute nicht mehr genutzt. Zum einen weckt er unvorteilhafte Assoziationen, zum anderen gibt es durchaus Wirkungslücken. 9 Daran ändert der im Herbst 2008 im Verlauf der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise zunächst eingetretene Rückgang der Rohölpreise wenig. 10 Die sog. 2. Generation von Pflanzentreibstoffen, die sich auf die Nutzung von holzhaltigen Materialien richtet, u. a. mithilfe der sogenannten Btl-Technologien (Biomass to liquid), die etwa 2015 bis 2020 großvolumig verfügbar sein sollen, betrachte ich hier nicht weiter, weil dies den Rahmen des Beitrages sprengen würde.
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II. Klimaschutzpolitik mit Hilfe von Pflanzentreibstoffen? Treibstoffe aus pflanzlichem Material wurden und werden als Innovationen verstanden, die sowohl ökologischen wie auch ökonomischen Zielen dienen könnten. Prima facie spricht für eine solche Vermutung auch Etliches: – Bei der Verbrennung von Pflanzen wird kein zusätzlicher Kohlenstoff freigesetzt11; – für Bauern in Ländern mit landwirtschaftlichen Überschüssen werden neue Absatzmöglichkeiten eröffnet; – entsprechende Mengen vorausgesetzt kann die Abhängigkeit von erdölexportierenden Staaten vermindert werden.
Bei einer solchen Betrachtung sind allerdings einige wesentliche Umstände und Fakten außer Acht gelassen worden. Zunächst ist die Energiebilanz12 von Nutzpflanzen entscheidend von dem Umfang des Energieeinsatzes in Form von Dünger, Pestiziden und Maschinen, also dem Anbauregime abhängig. Dann stellt sich angesichts einer wachsenden Weltbevölkerung und zunehmender Kaufkraft in großen südlichen Ländern wie Brasilien, Indien oder auch China die Tatsache steigender Lebensmittelpreise und zugleich der Konkurrenz um die insgesamt abnehmenden Ackerflächen („Brot oder Benzin?“). Schließlich gibt es die biophysikalische Grundlage zu beachten, dass nämlich Pflanzen nur etwa 1 % der einstrahlenden Sonnenenergie in Biomasse umsetzen, also technisch gesehen sehr schlechte Energiekonverter darstellen. Und dies wiederum bedingt, dass bei den heutigen Öl- und Benzinverbräuchen in der EU ein Großteil der landwirtschaftlich überhaupt nutzbaren Flächen für Treibstoffpflanzen genutzt werden müssten, um auch nur etwa 5 bis 8% des fossilen Verbrauchs substituieren zu können13. 1. Nachhaltigkeitspostulate und Förderung von Pflanzentreibstoffen Ein zentrales Moment aller Nachhaltigkeitspolitik 14 ist die Abkehr von der Nutzung fossiler Energieträger. Da nahezu der gesamte industrielle Metabolismus aber 11 Natürlich wird auch bei der Verbrennung fossiler Energietäger kein zusätzlicher Kohlenstoff freigesetzt. Denn der in diesen Materialien gebundene Kohlenstoff ist ja (vor Millionen von Jahren) auch aus der Athmosphäre entnommen worden. Aber es wird nun eben durch die Industrialisierung in wenigen hundert Jahren Kohlenstoff freigesetzt, der in millionen von Jahren von Pflanzen resorbiert worden war. Der entscheidende Punkt ist also der Zeitraffer des Verbrauchs. 12 Dies wird verstanden als Verhältnis zwischen Energieeinsatz und Energieergebnis bei den Pflanzen (Input- / Output-Relation). 13 Vgl. z. B. EEA 2006. 14 Nachhaltigkeit und Nachhaltigkeitspolitik sind nach der UN-Konferenz von Rio de Janeiro 1992 mit ihren grundlegenden Beschlüssen im Zuge ihrer weltweiten Karriere
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auf die Umwandlung von Kohle, Erdöl und -gas sowie Uran ausgerichtet ist, ist ein Umsteuern mit weitreichenden Innovationsanforderungen in Bezug auf technologisches Wissen und technische Produkte verbunden. In dem hier behandelten Feld von flüssigen Treibstoffen für Fahrzeuge bedeutete dieses Postulat, dass ein regenerativer Energieträger, der wiederum mittels regenerativer Energien bereitgestellt wird, für Antriebszwecke zur Verfügung stünde samt einem passenden Antriebsaggregat. Eine solche Vorgabe zu formulieren lässt sogleich erahnen, welche grundlegend neuen technischen und mentalen Voraussetzungen und Herangehensweisen erarbeitet werden müssen, um diese Vorgaben zu erfüllen. Dazuhin müssen die passenden Investitionen getätigt werden, und zwar in einem Zeithorizont von etwa 20 bis 40 Jahren. Soweit ich sehen kann, gibt es weltweit keinen größeren Automobilkonzern, der sich bis heute einem solchen Ziel ernsthaft verschrieben hätte. So war die Nutzungsperspektive von pflanzenbasierten Treibstoffen aus der Sicht dieser global lange Jahrzehnte sehr mächtigen Akteursgruppe ungemein verlockend, weil an dem technologischen, technischen und logistischen Grundgerüst der heutigen Kraftfahrzeugproduktion und -nutzungen lediglich geringfügige Modifikationen erforderlich erschienen. Und diese Modifikationen waren rasch umsetzbar, finanziell unerheblich und noch dazu mit staatlicher Förderung untermauert. Eben dieser Verlockung sind seit 1997 auch die europäische Politik sowie die Politik wichtiger EU-Länder und der USA erlegen. 2. Quantitative Vorgaben Die im normativen Bereich aufgezeigte Inkongruenz von Nachhaltigkeitspostulaten und technologischer, technischer und betriebswirtschaftlicher status-quoOrientierung findet sich auch in dem wohl wichtigsten Politikinstrument15 zu Pflanzentreibstoffen, nämlich den obligatorischen Beimischungsquoten. Dieses Instrument, das sich seit 1997 in Beschlüssen von Europaparlament, Kommission, diversen Ministerräten und in nationalen Dokumenten findet, war intendiert, um den nur als anfänglich angenommenen Preisnachteil von pflanzen- gegenüber erdölbasierten Treibstoffen rasch überwinden zu können. Dieser Gedankengang folgt dem dogmatischen industriell-betriebswirtschaftlichen Muster der economies zugleich inhaltlich weitgehend erodiert. Vieles, was ein bisschen weniger zerstörerisch oder verschwenderisch ausfällt als bisherige Praktiken, wird zügig als nachhaltig etikettiert. Wir orientieren uns an der inhaltlichen Ausfüllung des Nachhaltigkeitsbegriffs, wie sie der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen in Deutschland seit 1994 immer wieder beschrieben und weitergedacht hat, nämlich als dauerhaft umweltgerechte Entwicklung, vgl. SRU 1994; SRU 2002. 15 Die Bedeutung von Fördermaßnahmen wie Steuernachlässen, Zuschüssen etc. sollen keineswegs unterschätzt werden. Diese sind in ihrer Wirkung allerdings nicht direktiv wie die faktische Garantie eines großvolumigen Absatzmarktes durch die obligaten Beimischungsquoten.
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of scale, nach dem große Produktionsvolumina geringe Stückkosten mit sich bringen. Nun ist im Falle der Pflanzentreibstoffe die technische Konversion zwar auch eine Optimierungsherausforderung. Das eigentliche Problem, sozusagen der limitierende Faktor, ist allerdings die Bereitstellung großer Volumina von Substrat, also Pflanzenmaterial. Denn die Flächen, die für den Anbau der Nutzpflanzen benötigt werden, m.a.W. der Produktionsfaktor Boden, lassen sich nicht beliebig ausweiten oder gar neu herstellen16. Und beim Anbau von Nutzpflanzen wie Mais oder Weizen sind Effizienz- und Kostengewinne schon durch die aktuellen industrialisierten Anbauregime für Nahrungs- oder Futtermittel weitestgehend ausgenutzt. Eine zweite Intention lag den obligatorischen Beimischungsquoten zugrunde: die Verbesserung von nationalen und europäischen CO2-Emissionsbilanzen im Wege der Substitution von fossilen Treibstoffen. Die weltweite Debatte um eine Begrenzung und Verringerung von sog. Treibhausgasemissionen (THG) angesichts drastischer Anzeichen von Klimaveränderungen hat sowohl in den EU-Institutionen wie in vielen nationalen Regierungen dazu geführt, Pflanzentreibstoffe als Rechengröße in den globalen Verhandlungsarenen einzusetzen. Schließlich spielt ein drittes Element eine nicht unwichtige Rolle. Die Pflanzentreibstoffe rangierten und rangieren immer als ein Kompartiment in dem großen Ensemble der erneuerbaren Energien. Geothermie, Wind-, Solar-, Wasser- und andere regenerative Energieformen implizieren jedoch sehr unterschiedliche technologische, wirtschaftliche und ökologische Trajektorien17. Das durchaus verständliche Bemühen der EU und nationaler Regierungen, den Gesamtanteil von erneuerbaren Energien zu vergrößern, beförderte aber nun auch eine Anhebung der Quoten für Pflanzentreibstoffe. So kam es zu einer buchhalterischen Inflation der Beimischungsquoten. Im Jahr 2003 wurde festgelegt, dass in der EU bis 2005 der Anteil der Pflanzentreibstoffe an der Gesamtmenge 2 % und bis 2010 dann 5,75% betragen sollte; um dieses Ziel zu erreichen sollten auch nationale Quoten etabliert werden18. Die europäische Lobby für den Sektor regenerative Energien (European Renewable Energy Council [EREC]) schlägt eine Ziellinie von 20% für den Anteil der erneuerbaren Energien 16 Diese Feststellung trifft nicht auf Regionen zu, in denen ursprüngliche Wälder, vor allem tropische Regenwälder zerstört werden, um Anbauflächen für Zuckerrohr oder Ölpalmen zu gewinnen. Dass diese Praxis das gerade Gegenteil eines nachhaltigen Wirtschaftens darstellt liegt weitgehend auf der Hand. 17 Unter Trajectorien werden in der Wissenschaftsforschung wissenschaftlich-technologisch-technisch-wirtschaftlich-soziale Konstellationen verstanden, die durch technische Entscheidungen einerseits (Schließungen), durch wirtschaftliche und soziale Verwendungszusammenhänge andererseits gekennzeichnet werden können und die manchmal eine erstaunliche Dauerhaftigkeit aufweisen können. Beispiele dafür sind der schon erwähnte Automobilantrieb (Otto- und Dieselmotoren) oder auch die Tastatur von Schreibmaschinen inkl. PCs. Eine Trajectorie ist aber auch die Nutzung der Kernspaltung zur Stromerzeugung. 18 Directive 2003 / 30 / EC.
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bis 2020 vor. Im Jahr 2006 wird in der EU strategy for biofuels ein Anteil von 10% für die Pflanzentreibstoffe bis 2020 festgelegt19. Der im Jahr 2004 von der Kommission etablierte Biofuels Research Advisory Council (BIOFRAC)20 schlägt, ebenfalls im Jahr 2006, in seinem Bericht einen Anteil von 25% für Pflanzentreibstoffe bis zum Jahr 2030 vor; wovon 50 % als Importe kalkuliert werden. In der Renewable Energy Roadmap21 und ebenso beim Europäischen Rat in Brüssel im Jahr 200722 werden die früheren Ziele bekräftigt, obwohl bereits deutlich ist, dass das 2 %-Ziel für 2005 nicht erreicht worden ist und die 5,75% bis 2010 ebenfalls nicht erreicht werden dürften. In der zweiten Jahreshälfte 2007 kamen die normierten und propagierten quantitativen Vorgaben allerdings von drei Seiten unter Druck. Zum einen entwickelte sich öffentlich und vernehmlich ein eher kritischer Diskurs zu Nutzungskonkurrenzen („Tank oder Teller?“) angesichts rapide gestiegener Preise für Grundnahrungsmittel in vielen Ländern, was von Demonstrationen und Unruhen begleitet war. Zum zweiten blieben die tatsächlich eingesetzten Mengen, wie schon erwähnt, anhaltend hinter den normierten zurück und darüber hinaus meldeten – zum dritten – die großen Automobilproduzenten Zweifel an der technischen Verträglichkeit höherer Pflanzentreibstoffanteile mit den modernen Motoren an. Alle Momente zusammen führten im Sommer 2008 zu einem Teilrückzug und zeitlicher Streckung der obligaten Quoten23. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Begründung die problematischen Energie- und THG-Bilanzen der Pflanzentreibstoffe erst in zweiter Linie reflektiert; hier sollen bis 2011 Überprüfungen stattfinden. In erster Linie spielen die Einwände der Hersteller der Automobile die ausschlaggebende Rolle. 3. Implikationen. Governance durch Wissen? Ich habe zu zeigen versucht, dass sowohl auf der Ebene von Zielvorgaben wie auf der von Politikinstrumenten zu Pflanzentreibstoffen ernsthafte Inkohärenzen zu beobachten waren und sind. Diese möchte ich vor allem auf zwei Elemente gegründet sehen. Das eine ist die Nichtbeobachtung von Implikationen politischer SEC(2006)142. Der Bericht des BIOFRAC bildet die Grundlage für die Einsetzung der European Biofuels Technology Platform (EBTP) im Jahr 2006. Die EBTP ist ebenso wie die etwa 35 anderen European Technology Platforms (ETP) ab dem 7. Forschungsrahmenprogramm der EU das zentrale Koordinierungs- und Gestaltungsinstrument für die Kanalisierung der insgesamt 50 Mrd. A Forschungsförderungsmittel des 7. FRP. Die ETPs sollen von den jeweiligen Industrien federführend inspiriert werden und einen wichtigen Beitrag zu dem zentralen Ziel der sog. Lissabon-Strategie der EU leisten, nämlich die EU global zum innovativsten und wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum zu entwickeln. 21 COM(2006) 848 22 7224 / 1 / 07. 23 So hat die deutsche Bundesregierung im Oktober 2008 beschlossen, dass bis 2010 nur 5,25% und dann bis 2014 6,25% beigemischt werden müssen, vgl. Kuhr 2008. Die offizielle Beschlusslage der EU ist bislang unverändert. 19 20
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Entscheidungen. Dieses Phänomen einer politischen Nicht-Wahrnehmung von Innovationsverantwortung finden wir zwar mitnichten allein in sozio-technischen Kontexten, aber dort doch auch prominent. Das zweite liegt in der Akteurskonstellation, die auf die politischen und ökonomischen Entscheidungen zu Pflanzentreibstoffen Einfluss ausübt. Schon seit Beginn der 1980er Jahre hat es Studien zur Nutzung von Pflanzen für mobile Antriebszwecke24 gegeben (nachwachsende Rohstoffe). Dabei ging es vor allem um Fragen der Energiebilanz, verstanden als Relation von Input und Output. Die Daten zur Minderung von CO2-Emissionen wurden durchaus miterfasst, wohingegen Fragen der Nutzungskonkurrenzen, des Außenhandels oder auch der Kulturlandschaftserhaltung nicht einbezogen wurden. Wörgetter et al. (1999) haben in ihrer Studie zu „Bio“diesel25 insgesamt eine positive Bilanz gezogen. Je nachdem wie bestimmte Elemente bewertet resp. einbezogen werden oder nicht, ergeben sich jedoch erhebliche Bandbreiten, methodisch gesprochen Unsicherheiten26. In der Studie von Quirin et al. (2004), die auch noch zu einer in toto positiven Energie- und THG-Bilanz kommen, werden allerdings bereits wichtige restringierende Randbedingungen beschrieben: – Nicht in allen geographischen Räumen ergeben sich die Vorzüge der Nutzung von Pflanzentreibstoffen; – Folgewirkungen des Anbaus von Nutzpflanzen für Treibstoffzwecke wie Eutrophierung, Bodenversauerung oder Ozonabbau müssen mitbedacht werden; – Nutzungskonkurrenzen und die Erfordernisse der Welternährungsproduktion limitieren den Substitutionsbeitrag der Pflanzentreibstoffe stark.
Ein Jahr später kommen Pimentel & Patzek (2005) an Hand von Erhebungen und Berechnungen zu Mais, Switchgrass (Panicum virgatum L.) und Holz für Ethanol, Soja und Sonnenblume für Diesel zu durchgängig negativen Energiebilanzen mit einer Bandbreite von -29 % bis -118%. Die deutlich negativere Bewertung bei Pimentel & Patzek resultiert hauptsächlich aus der Einbeziehung aller energetischen Faktoren der gesamten Produktionskette vom Feld bis zur Tankstelle27; wobei Umweltschäden und Implikationen des Schadstoffabbaus 24 Im Folgenden werden einige wichtige Studien angeführt, die das Spektrum der vorgetragenen Argumente verdeutlichen sollen; eine systematische, auch methodische Fragen behandelnde Darstellung ist hier aus Umfangsgründen nicht möglich. 25 Das Präfix bio signalisiert im deutschen Sprachgebrauch eine Nähe zum biologischen oder ökologischen Landbau. Eine solche ist aber beim Anbau von Nutzpflanzen für Treibstoffe gar nicht gegeben. Im angelsächsischen Sprachgebrauch, aus dem die Benutzung des Präfixes kommt, ist eine solche irreführende Konnotation nicht naheliegend, weil hier der Landbau nach den IFOAM-Regeln als organic agriculture bezeichnet wird. 26 Eine solche ist die Frage, ob bei der Gewinnung von Diesel aus Rapssamen die Verwendung des nach der Pressung übrigbleibenden sog. Ölkuchens als Tierfutter als positiv oder als neutral in die Bilanz eingestellt werden darf resp. muss. 27 Das betrifft Dünger, Pestizide, Maschinerie, Bewässerung, Verarbeitung und Transport.
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nicht einberechnet worden sind. Das Umweltbundesamt (UBA) kommt in seiner Untersuchung zu Pflanzendiesel (2006) zwar nicht zu negativen Energiebilanzen, aber ebenfalls zu einer erheblichen Bandbreite28. Vor allem weist die UBA-Studie auf die Problematik der Lachgasemissionen (N2O) beim Rapsanbau für Diesel hin, die, weil Lachgas ein sehr wirksames THG ist, die Bilanz erheblich negativ beeinflusst. Der Wissenschaftliche Beirat Agrarpolitik (WBA) beim Bundeslandwirtschaftsministerium (BMELV) argumentiert in seiner Expertise (2007) von den CO2-Vermeidungskosten respektive den -leistungen her. Im Ergebnis konstatiert er hohe Kosten bei sehr geringen Leistungen29. Darüberhinaus weist er auf das Flächenkonkurrenzproblem hin, insbesondere in globaler Sicht, und auf die negativen Implikationen einer Intensivierung des Anbauregimes bei Nutzpflanzen für energetische Zwecke sowie der Nutzung bislang ackerbaulich nicht genutzter Flächen durch Grünlandumbruch oder Waldrodung. In beiden Dimensionen ergeben sich erhebliche zusätzliche Emissionen von CO2 und N2O. Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (SRU) nimmt in seinem Gutachten zur Biomassenutzung (2007) eine sehr differenzierte und umfassende Analyse diverser Anbau- und Nutzungspfade vor. Er stellt bei Einbeziehung von vielen Produktionswegen und –prozessen samt der dazu vorliegenden Untersuchungen fest, dass oftmals der Einsatz von Düngemitteln und Änderungen der Landnutzung in den Bilanzen nicht hinreichend berücksichtigt werden. Das Fazit des SRU, wie schon zuvor das von Pimentel & Patzek (2005) und des WBA beim BMELV (2007), geht dahin, dass unter Energieeffizienz- und Klimaschutzgesichtspunkten einer stationären Nutzung von Biomasse zur Strom- und Wärmeerzeugung deutlich der Vorzug zu geben ist gegenüber einer Nutzung als Ausgangsstoff für Treibstoffe. Zu dem nämlichen Schluss gelangt auch eine Studie des Joint Research Centre (JRC) der EU (2007), das als interne wissenschaftliche Beratungsinstanz der Kommission zu nahezu so weitgehenden Ergebnissen wie Pimentel & Patzek (2005) kommt, wobei der Aspekt einer weitgehend ausbleibenden Beschäftigungswirkung zusätzlich eingebracht wird. Vergleicht man nun die politischen Entscheidungsabläufe mit der Qualifizierung des Implikationswissens im Zeitverlauf, so ist leicht zu erkennen, dass sich eine sich verstärkende Gegenläufigkeit entwickelt hat. Während Regierungen und Parlamente die in den Regulierungen normierten Vorgaben ausweiteten, kamen die Implikationserkenntnisse zu immer vorsichtigeren resp. ablehnenderen Resultaten und Schlussfolgerungen. Diese Feststellung wirft die Frage nach den Ursachen für derartig kontradiktorische Abläufe auf. In dieser Hinsicht erscheint uns eine Konstellationsanalyse aufschlussreich, die die Intentionen und Interessenlagen der Beteiligten 30 in einen Zusammenhang setzt. Etwas holzschnittartig können zehn Beteiligte bzw. Gruppen von Beteiligten identifiziert werden. Es sind dies die 28 Zwischen 30 und 80% CO -Minderung, allerdings immer mit Einbezug der Koppelpro2 dukte. 29 Die Vermeidungskosten werden mit 150,– bis 300,– A pro Tonne CO 2äq errechnet, die Leistungen mit weniger als 3 t CO2äq pro Hektar.
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– Nationalstaaten, – EU-Institutionen (Kommission, Parlament, Räte), – Landwirtschaft, – Forstwirtschaft, – Forschungseinrichtungen, – Universitäten, – Automobilproduzenten (PKW und LKW), – Biomasse-Verbände, – Erdöl verarbeitende Industrie, – Pflanzentreibstoffproduzenten.
Wir können ersehen, dass die Arena der politischen Entscheidungsfindung und der Regulierung von vielen Akteuren mit teils klaren, teils nicht a priori festgelegten, oftmals auch nicht übereinstimmenden Interessen besetzt ist. Dabei können wir sechs Bereiche von Interessen resp. Interessenkombinationen unterscheiden31. Zunächst gibt es die gesellschaftspolitisch motivierten Interessenbereiche der Energiesicherheits- und der Umweltschutzpolitik. Vor allem die Nationalstaaten und die EU-Institutionen haben diesbezüglich sowohl jeweils spezifische32 wie gemeinsame33 Interessen. Ein weiteres Interessenensemble richtet sich auf die Förderung technologischer Innovationen in Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Automobilindustrie und damit zugleich auf eine generelle Förderung dieser gewerblichen resp. industriellen Bereiche. Als innovativ möchte auch die erdölverarbeitende und -vermarktende Industrie sich darstellen, die zugleich darauf achtet, dass sich mit Pflanzentreibstoffen keine Produktions- und Logistikstrukturen entwickeln, die den eigenen ökonomischen Zielen entgegenlaufen könnten34. Die oftmals mittelständischen Pflanzentreibstoffproduzenten und die assoziierten Verbände wiederum wollen genau dies, nämlich eigene Märkte und Versorgungsstrukturen etablieren und ausweiten. Und die Forschungseinrichtungen, auch soweit sie öffentlich finanziert sind, sind je nach Arbeitsgebiet mit divergierenden Interessenlagen und Forschungszielen verknüpft. 30 Diese werden heute zumeist als stakeholder kategorisiert. Hierbei verschwimmen allerdings oft die im Deutschen vorfindlichen sinnvollen Unterscheidungen zwischen Interessenten (proponents) und Betroffenen. 31 Dies kann hier nur recht gerafft erfolgen; ausführlicher dazu Albrecht / Schorling 2009. 32 Diese kann man an den verschieden ausgerichteten nationalen Förderprogrammen und Beimischungsquoten ablesen. 33 Diese wiederum richten sich vor allem auf die Einhaltung internationaler Verträge und Vereinbarungen bzw. auf die Erreichung der eigenen klima- und umweltpolitischen Ziele. 34 So haben z. B. die nicht konformen Interessen zwischen Erdgasvermarktern und Erdölvermarktern in Deutschland dazu geführt, dass die Nutzung von erdgasgetriebenen Fahrzeugen bis heute rudimentär geblieben ist.
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Die sechs Interessenbereiche überlappen sich teils, teils befinden sie sich in Konkurrenz, teils laufen sie in gegensätzliche Richtungen. In Bezug auf die politischen Entscheidungsabläufe bilden und scheiden sich anlassbezogen wie strategisch Koalitionen. Die jeweilige Konstellation der Interessen hat, wie wir dargestellt haben, jedenfalls dazu geführt, dass die normativen Regelungen in der EU und wichtigen Mitgliedsstaaten bis heute die vorliegenden Implikationserkenntnisse nur soweit aufgenommen haben, als sie den aktuellen Interessenlagen der Automobilproduzenten entsprechen. III. Innovations-Governance: Wer trägt Verantwortung wofür? In dem im vorliegenden Beitrag untersuchten Feld politischer Regulierung technologischer Innovation ist deutlich zu sehen, dass politische Entscheidungen auch mit erheblicher Tragweite weit mehr von Interessens- als von Wissensallokationen beeinflusst werden und auch bei erheblichen Evidenzen aus dem vorliegenden Wissen, die auf eine Fehlsteuerung hinweisen, eine Umsteuerung entweder gar nicht oder nur sehr langsam und bruchstückhaft erfolgt.
Nach dem Stand der Forschung ist die Begrifflichkeit governance35 eine (mögliche) Überwindung der (angenommenen) Engführung des Steuerungsparadigmas (Mayntz 2003; Mayntz 2004; Schuppert 2006; De La Rosa et al. 2008). Demzufolge geht es nicht um die dem Steuerungsbegriff implizite hierarchische Subjekt – Objekt – Relation, sondern vielmehr um jedenfalls guten Teils nicht hierarchische Regelungskontexte36. Fragt man nun allerdings im Gedankenzusammenhang des vorliegenden Buches nach Innovationsverantwortung, so kann eine bloße Beschreibung von Regelungsabläufen und -mechanismen keine wissenschaftlich ausreichende Behandlung der Problematik darstellen37. Denn jegliche der Intention nach gehaltvolle Verantwortungsprüfung muss jedenfalls den Dreischritt: Wer – 35 Ursprünglich begann die Karriere des Begriffs mit der Arbeit der Commission on Global Governance etwa 1991, die auf eine Anregung von Willy Brandt hin mit Unterstützung der UN und etlicher Regierungen ihre Arbeit begann und 1995 veröffentlicht hat (Our Global Neighborhood 1995); zur weiteren Debatte vgl. Nye / Donahue (2000). 36 Schuppert formuliert diese Hypothese folgendermaßen: „Wir schlagen daher vor, in Fortsetzung des Steuerungswissens von Governancewissen zu sprechen und darunter dasjenige Wissen zu verstehen, das benötigt wird, um mit Regelungstrukturen erfolgreich arbeiten zu können, also ein Wissen über das Design, die Formulierung, die Beobachtung und die Nachbesserung von Regelungsstrukturen: Dieses Wissen nennen wir Regelungswissen, über dessen Beschaffenheit und Generierbarkeit eine zu entwickelnde Regelungswissenschaft Auskunft zu geben hätte“ (Schuppert 2006, S. 266). 37 Ob die Prätention, gleich eine neue Wissenschaft zu schaffen, wie dies in dem Zitat von Schuppert aufscheint, hinreichend Substanz hat, mag hier dahingestellt bleiben. Vgl. zu der Steuerungsdiskussion in der Politikwissenschaft auch Albrecht 2006.
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Was – vor Wem? beinhalten. Governance ist allerdings auch ein politik-praktischer Begriff. So werden bspw. in einem Weißbuch der EU-Kommission38 fünf zentrale Prinzipien einer good governance definiert: Offenheit, Partizipation, Verantwortlichkeit, Effektivität und Kohärenz. Diese Prinzipien, gemeint als Merkmale einer aufgeklärten Regierungsführung und -praxis, sind allerdings nicht ohne weiteres empirisch festzumachen. Das gilt insbesondere für unseren Fall der Pflanzentreibstoffe. Doch zunächst noch einmal zur technologischen Seite. Diesel und Ethanol auf pflanzlicher Basis sind und waren auch zu Beginn der Förderung in Nordamerika und der EU (etwa ab 2003) keine technologischen Innovationen. Die Raffinierungstechniken waren lange bekannt, ernsthafte antriebs(motor)technische Anstrengungen hat es gar nicht gegeben. Technologische Innovationsanstrengungen richten sich auf die schon erwähnten Btl-Techniken, was jedoch eine weitgehende Veränderung bei dem Substrat bedeutet. Aus Sicht der Politik waren und sind pflanzenbasierte Treibstoffe vor allem klimapolitische Rechengrößen. Aus Sicht der interessierten Wirtschaft allerdings ist es opportun, diesen Aspekt mit technologischen Innovationsansprüchen zu verbinden, um der allgemeinen Förderung auch noch die Förderung für Forschung und Entwicklung (FuE) beigesellen zu können. Wenn innovatorische Rechtssetzung bedeutet, Innovationen zu ermöglichen und zugleich deren Implikationen verantwortlich zu berücksichtigen, so können wir feststellen, dass im vorliegenden Fall der erste Teil der Maxime über-, der zweite hingegen nicht erfüllt worden ist39. Dieser Befund führt mich zu einer aus dem Blick auf Pflanzentreibstoffe resultierenden, möglicherweise aber auch darüber hinaus generalisierbaren Überlegung zur Innovationsverantwortung. Die ermöglichende Eröffnung von Innovationsräumen impliziert unabweisbar auch die Eröffnung von Unwissens- und Unsicherheitsräumen. In den letzten gut zwanzig Jahren sind in Feldern wie risk assessment oder technology assessment erhebliche Wissens- und Methodikkorpora erarbeitet worden, die es erlauben, in seriöser Weise Grundlagen für politische und juristische Entscheidungen bereitzustellen (Blackburn 2007). Allerdings, so zeigen vielfältige empirische Befunde, gilt bei technologischen Innovationen und deren Normierungen sehr häufig die in Bezug auf die Pflanzentreibstoffe dargestellte Ungewichtigkeit zwischen starker Förderung und schwacher bis fehlender Implikationsbeachtung. Oftmals verhält es sich so, dass Implikationsanalysen nur äußerst defizitär (methodisch unentwickelt, kurzzeitig, nicht unabhängig) durchgeführt und darüberhinaus mit dem Generalkurzschluss, dass eine Nichtbeobachtung von Implikationsereignissen ein Beleg für deren Nichtexistenz wäre, interpretiert werden40. European Governance. A White Paper, COM(2001) 428 final. Das gilt jedenfalls bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt. 40 Für diese Schieflage sind die transgenen Nutzpflanzen ein Beispiel, vgl. dazu Albrecht 2006 m. w. N. 38 39
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Nun ist logisch wie historisch offenkundig, dass Innovationen ohne Un- und unsicheres Wissen nicht zu haben sind. Innovationsverantwortung auch in rechtlich normierenden Gestalten wahrzunehmen könnte resp. müsste dann u. a. darin bestehen, dass in einer den Implikationspotentialen angemessenen Weise eine verpflichtende Ermittlung, Erforschung und Abschätzung erfolgt, von deren Ergebnissen dann Rückschlüsse auf fortschreitende Regulierungen gezogen werden könnten. Dies würde zweierlei rechtstechnische Voraussetzungen einfordern: Die ermöglichenden Regulierungen müssten zeitlich determiniert sein im Blick auf neue Erkenntnisse und darauf fußende Revisionen; die Ermittlung von Implikationen müsste obligatorisch und autoritativ ausgestaltet sein, sodass eine rechtlich und tatsächlich relevante Hürde gegen die heute allfällige Nichtbeachtung von Implikationserkenntnissen errichtet wäre41.
Wenn wir diese Überlegungen auf transgene und andere Nutzpflanzen für energietechnische Zwecke anwenden, so erhellt rasch, wie weit die heutige reale governance von einer ernsthaften, i.e. entscheidungsrelevanten Einbeziehung von Implikationswissen entfernt ist, erst recht von einer governance durch Wissen (Schuppert & Voßkuhle 2008). Spätestens seit etwa 2005 hat, wie wir gezeigt haben, das Implikationswissen einen Stand erreicht, aus dem klar hervorgeht, dass die entscheidenden Kriterien für die Förderung von Pflanzentreibstoffen, nämlich die Verringerung der Abhängigkeit von Erdöl im Konnex mit der Verbesserung der nationalen und regionalen CO2-Bilanzen, nur eng begrenzt und nur unter bestimmten Bedingungen (jedenfalls in der EU) überhaupt positiv erfüllt werden kann. Dieser state of knowledge (vgl. Fehrenbach et al. 2008) hat allerdings in die nationalen und regionalen europäischen Entscheidungserwägungen so gut wie keinen Eingang gefunden42. Literatur Albrecht, Stephan (2006): Freiheit, Kontrolle und Verantwortlichkeit in der Gesellschaft. Moderne Biotechnologie als Lehrstück, Hamburg: Hamburg University Press. Albrecht, Stephan / Schorling, Markus (2009): Arbiträre Politik & Technology Governance. Das Problem der Pflanzentreibstoffe in, Latzer, Michael (Hrg.): Technology Governance, Wien: Böhlau (i. E.). Blackburn, William R. (2007): The Sustainability Handbook, London: Earthscan. De La Rosa, Sybille et al. (Hrsg.) (2008): Transdisziplinäre Governanceforschung, BadenBaden: Nomos. 41 Zu den erforderlichen und möglichen Ausgestaltungen solcher Verfahren vgl. Albrecht 2006. 42 Da ist es eine passende Randgeschichte, dass die EU-Kommission die o. zitierte JRCStudie 2007 nicht veröffentlichen wollte, weil ihr die Ergebnisse nicht in die verfolgte Politik passten.
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Deffeyes, Kenneth S. (2001): Hubbert’s Peak. The Impending World Oil Shortage, Princeton: Princeton University Press. European Environment Agency (EEA) (2006): How much bioenergy can Europe produce without harming the environment?, EEA Report No. 7 / 2006, Kopenhagen: EEA. Fehrenbach, Horst et al. (2008): Criteria for a Sustainable Use of Bioenergy on a Global Scale, Berlin: UBA-Texte 30 / 08. ISAAA (2008): ISAAA Report on Global Status of Biotech / GM Crops, International Service fort he Acquisition of Agri-biotech Applications, www.isaaa.org. Joint Research Centre (JRC) der EU (2007): Biofuels in the european Context. Facts, Uncertainties and Recommendations, Brussels: hekt. MS. Kuhr, Daniela (2008): Weniger Bio im Sprit, Süddeutsche Zeitung, 23. Oktober 2008, S. 8. Mayntz, Renate (2003): From government to governance: Political steering in modern societies, Vortrag auf der Summer Academy on IPP, Würzburg, 7.-11 – 9.2003, hekt. MS. – (2004): Governance Theory als fortentwickelte Steuerungstheorie? Working Paper 04 / 1 des Max Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Köln: MPIfG. Nye, Joseph S. / Donahue, John D. (Hrsg.) (2000): Governance in a Globalizing World, Washington, D.C.: Brookings Institution Press. Our Global Neighborhood (1995): The Report of The Commission on Global Governance, Oxford: Oxford University Press. Pimentel, David / Patzek, T.W. (2005): Ethanol Production Using Corn, Switchgrass and Wood; Biodiesel Production Using Soybean and Sunflower, Nat. Resources Research 14(1), 65 – 76. Quirin, M. et al. (2004): CO2-neutrale Wege zukünftiger Mobilität durch Biokraftstoffe – Bestandsaufnahme des Instituts für Energie- und Umweltforschung (IFEU), Heidelberg: IFEU. Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (SRU) (1994): Umweltgutachten 1994. Für eine dauerhaft-umweltgerechte Entwicklung, Stuttgart: Metzler-Poeschel. – (2002): Umweltgutachten 2002. Für eine neue Vorreiterrolle, Stuttgart: Metzler-Poeschel. – (2007): Klimaschutz durch Biomasse, Sondergutachten, Berlin: SRU. Schäfer, Lothar (1993): Das Bacon-Projekt, Frankfurt / M: Suhrkamp. Schorling, Markus et al. (2008): Potenziale der Gentechnik bei Energiepflanzen, Gutachten für das Bundesamt für Naturschutz, Hamburg: Universität Hamburg / Forschungsschwerpunkt Biotechnik, Gesellschaft & Umwelt (BIOGUM), hekt. MS. Schuppert, Gunnar Folke (Hrsg.) (2006): Governance-Forschung. Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, 2. Aufl. Baden-Baden: Nomos. Schuppert, Gunnar / Voßkuhle, Andreas (2008): Governance von und durch Wissen, BadenBaden: Nomos. Umweltbundesamt (UBA) (2006): Verkehr Biodiesel, aufzurufen unter www.umweltbundesamt.de/verkehr/alternative-kraftstoffe/biodiesel/biodiesel.htm.
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Wissenschaftlicher Beirat Agrarpolitik (WBA) beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft & Verbraucherschutz (BMELV) (2007): Nutzung von Biomasse zur Energiegewinnung. Empfehlungen an die Politik, Bonn: BMELV, hekt. MS. Wörgetter, M. et al. (1999): Ökobilanz Biodiesel, Wieselburg: Biomass Logistics Technology.
Innovationsverantwortung für neuronale Implantate – Einige ethische und rechtspolitische Vorüberlegungen Von Michael Decker und Katja Stoppenbrink I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 II. Neuronale Implantate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 1. Eine Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 2. Relevante Unterscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 3. Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 III. Ethische Fragen der Anwendung neuronaler Implantate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 1. Therapeutischer Einsatz neuronaler Implantate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 2. „Neuroenhancement“: Verbesserung und Erweiterung menschlicher Fähigkeiten durch neuronale Implantate? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 3. Anthropologische Argumente und Ethik: Verändern Neurowissenschaft und -technik „unser Menschenbild“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 IV. Innovationsverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 1. Verantwortung für das Zustandekommen von Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 2. Verantwortung für die Folgen von Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 3. Innovationsverantwortung als Problem der Humanforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 V. Zusammenfassung und rechtspolitischer Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
I. Einleitung Das öffentliche Interesse an neuronalen Implantaten ist in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Das liegt zum einen sicherlich an den technischen Fortschritten, die in diesem Gebiet gemacht werden konnten. Zum anderen liegt es an einer gestiegenen – wenn auch teilweise zu optimistischen und wenig differenzierenden – Berichterstattung in den Medien. Bei letzterer könnte man manchmal den Eindruck gewinnen, dass sich die technischen Möglichkeiten neuronaler Implantate deutlich verbessert hätten. Bei einer genaueren Betrachtung des technischen Fortschritts findet man allerdings, dass dieser allein kaum der Grund für die erhöhte Aufmerk-
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samkeit in den Medien sein kann. Nach wie vor befinden sich viele neuronale Implantate – einige davon schon seit Jahren – in der Prototyp-Phase oder sogar noch vor dieser. Andere, wie der Herzschrittmacher oder das Cochlea-Implantat zum Vermitteln von Höreindrücken, haben längst Marktreife erlangt und wurden bereits in großer Zahl implantiert. Es scheint, dass die gestiegene öffentliche Wahrnehmung von neuronalen Implantaten eng mit anderen Erkenntnissen der Neurowissenschaften verbunden ist. Mitteilungen über beispielsweise die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) erwecken teilweise den Eindruck, als wären kognitive Funktionen nun gut im Gehirn zu lokalisieren, „einfach“ zugänglich und für technische Zwecke einsetzbar. Hier klafft eine gewisse Wahrnehmungslücke: Die Tatsache, dass die Interpretation von Ergebnissen der fMRT von vielen (Neben-) Bedingungen abhängt und alles andere als trivial ist, wird in der (auch populär-)wissenschaftlichen Diskussion durchaus berücksichtigt (z. B. in Hüsing et al. 2006; Tebartz van Elst 2007; Schleim 2007) – sie findet sich allerdings vergleichsweise selten in den Medien. Das gilt ähnlich für Erkenntnisse auf dem Gebiet der Elektro- und Magnetoenzephalografie, welche die wissenschaftlich kontrovers geführte Diskussion um den freien Willen neu entfacht und ein breites Medienecho hervorgerufen haben. Dabei ist trotz aller Kontroversen unbestritten, dass diese Methoden der Hirnforschung das Wissen über die Arbeitsweise des Gehirns deutlich vorangebracht haben. Eine weitere technische Entwicklung an der Schnittstelle zwischen Biotechnologie und Mikroelektronik fand ebenfalls eine große Medienresonanz: der direkte Kontakt zwischen Nervenzelle und mikroelektronischem Chip. Mit der Möglichkeit, elektrische Impulse der Nervenzelle durch einen Mikrochip zu detektieren, und umgekehrt durch einen elektrischen Impuls des Mikrochips die Nervenzelle anregen zu können, wurde eine grundlegende Eigenschaft zur Ermöglichung eines neuronalen Implantats verwirklicht (Fromherz 2001). Basis dieser technischen Errungenschaft sind Fortschritte in den Bereichen biokompatible Oberflächen, Kultivierung lebender Nervenzellen in künstlichen Umgebungen und Modifizierbarkeit von Neuronen mittels Gentechnik. Das Zusammenspiel verschiedener Disziplinen bis hin zu deren Konvergenz, nämlich der Nanotechnologie, Biologie / Biotechnologie, Informationstechnologie und der Kognitionswissenschaften (NBIC), fand insbesondere dadurch den Weg in die Medien, dass auch explizit über eine Verbesserung der menschlichen Fähigkeiten gesprochen wurde (Roco / Bainbridge 2002; Kurzweil 1999). So könnten z. B. die Sinnesorgane des Menschen wie Auge oder Ohr nicht nur geheilt, sondern auch „verbessert“ werden, und durch direkte Verbindungen zwischen dem Gehirn und informationsverarbeitenden technischen Systemen neue Mensch-MaschineSchnittstellen geschaffen oder die Lebenserwartung des Menschen beträchtlich gesteigert werden. Solche ,technischen Verbesserungen‘ des Menschen gehen weit über ein traditionelles Medizinverständnis hinaus. Neuronale Implantate sind eine Facette der technischen Umsetzung dieser Visionen.
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Bereits anhand dieser kurzen Darstellung der Medienresonanz neuronaler Implantate und deren wissenschaftlicher Nachbargebiete lässt sich ein Bedarf nach ethischer Reflektion aufzeigen. Neuronale Implantate eröffnen technische Handlungsmöglichkeiten, die eine direkte Beeinflussung des menschlichen Nervensystems, sowohl peripher als auch zentral im Gehirn, erlauben. Damit ist eine „Grenze“ des bisher technisch Realisierbaren überschritten, was den Bedarf einer ethischen Reflexion anzeigt (Grunwald 1999), deren Ergebnisse in gebührendem Maße bei der Gestaltung der technischen Innovation berücksichtigt werden sollten. In diesem Beitrag möchten wir einige ethische Aspekte der Anwendung neuronaler Implantate insbesondere im Hinblick auf die Erweiterung menschlicher Fähigkeiten darlegen, um schließlich zu fragen, inwieweit sich daraus Folgerungen für die Innovationsverantwortung in diesem Themenbereich ableiten lassen. Dafür werden wir im Folgenden zunächst eine Definition neuronaler Implantate vorstellen und einige für die ethische und rechtliche Reflektion relevante Unterscheidungen einführen. Anschließend werden einige Beispiele neuronaler Implantate beschrieben. Im Weiteren wird diskutiert, inwieweit ethische Vorüberlegungen für das Wahrnehmen einer Innovationsverantwortung relevant sind. Dann wird zunächst analysiert, ob eine Diskussion über eine mögliche Veränderung des Menschenbilds zielführend ist, und schließlich werden konkrete ethische Aspekte – bezogen auf medizinische Anwendung und Forschung – diskutiert. Diese münden in einen vorläufigen rechtspolitischen Ausblick.
II. Neuronale Implantate 1. Eine Definition Nähert man sich dem Begriff der neuronalen Implantate zunächst im wörtlichen Sinn, dann gelangt man zu Hinweisen der Art, dass „neuronal“ so etwas wie „aus Nervenzellen bestehend bzw. zu ihnen gehörend“ bedeutet und „Implantat“ als „eingepflanzt“ aus dem Lateinischen übersetzt wird. Eng damit verbunden sind neuronale Prothesen, die beispielhaft in folgendem Zusammenhang beschrieben werden: „Neural interfaces are systems operating at the intersection of the nervous system and an internal or external device. Neural interfaces include neural prosthetics, which are artificial extensions to the body that restore or supplement function of the nervous system lost during disease or injury, and implantable neural stimulators that provide therapy“ (NINDS Website http: //www.ninds.nih.gov/funding/research/npp/, zuletzt aufgerufen am 16.09.2008).
Oder: „Neuroprothetik beschäftigt sich mit der Modulation, der Überbrückung oder dem Ersatz gestörter oder verloren gegangener neuronaler Strukturen. [ . . . ] Neuroprothesen werden mit dem Ziel eingesetzt, eine vorhandene neuronale Funktionsstörung mit einem motorischen oder sensorischen Hintergrund möglichst zu kompensieren“ (Gehring 2005).1
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Anhand folgender Definition einer Gehirn-Computer-Schnittstelle (Brain Computer Interface, BCI) wird offensichtlich, dass eine neuronale Prothese nicht notwendigerweise implantiert sein muss, weil sich neuronale Aktivitäten auch außerhalb des Körpers detektieren lassen. „BCIs translate neural activity into a continuous movement command, which guides a computer cursor to a desired visual target. If the cursor is used to select targets representing discrete actions, the BCI serves as a communication prosthesis. Examples include typing keys on a keyboard, turning on room lights, and moving a wheelchair in specific directions“ (Santhanam et al. 2006).
Im Gegensatz dazu wird in der folgenden Definition eines Brain-Machine-Interface bzw. einer Neuroprothese die direkte Ankopplung an den Kortex im Gehirn als wesentliche Maßnahme angesehen: „A neuroprosthetic is more accurately called a brain-machine interface. Hundreds of electrodes, fixed into tiny arrays, are placed in or on the surface of the cortex, the thin, folded outer surface of the brain that controls complex functions including the organization of movement. The electrodes record the electrical signals from the cortex’s neurons and these are translated by a computer algorithm and used to drive specific actions – the movement of a cursor on a computer screen, for example, or of an artificial limb“ (Abbott 2006).
An dieser Stelle sei hervorgehoben, dass der Begriff der Gehirn-ComputerSchnittstelle (Brain Computer Interface, BCI) oder allgemeiner der Gehirn-Maschine-Schnittstelle (Brain Machine Interface, BMI) weiter gefasst ist, als die oben aufgeführten Definitionen suggerieren. Häufig wird der Begriff des BCI allgemein als Mensch-Computer-Schnittstelle (Human Computer Interface, HCI) interpretiert, was dann den entsprechend großen Bereich der Bedienungselemente von Computern, vom Bildschirm über Maus und Tastatur bis hin zu intelligenten Systemen wie Spracherkennung oder interaktive Benutzeroberflächen, umfasst. Allgemeiner als in den letzten beiden Definitionen wird auch in der folgenden Definition das Implantieren als zentral für die Neuroprothetik angesehen: „Neuroprothetik – Entwicklung und Anwendung elektronischer Implantate zur Wiederherstellung geschädigter Nervenfunktionen“ (Rosahl et al. 2004).
In der letztgenannten Definition wird der Begriff der neuronalen Prothese auf ein elektronisches Implantat beschränkt. Mit dieser Verengung werden Implantate ausgeschlossen, die darauf abzielen, Ausfälle neuronaler Funktionen durch die Implantation von biologischem Gewebe zu beheben. Auf den ersten Blick mag diese Unterscheidung akademisch wirken, da bisher alle neuronalen Implantate elektronische Geräte sind. Aber spätestens nach den Versuchen, mittels Stammzelltherapie Rückenmarksverletzungen bzw. Demenzerkrankungen wie Morbus Alzheimer 1 Hier wurde „einsetzen“ im Sinne von Einsatz einer Technik gelesen und nicht als Synonym für „implantieren“. Sollte letzteres intendiert gewesen sein, dann wäre diese Definition ein Beispiel der im Folgenden beschrieben unsauberen Trennung von Implantat und Prothese.
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zu behandeln, gibt es eine begründete Vermutung, dass die Implantation von biologischem Gewebe eine therapeutische Option darstellen kann. Darüber hinaus gilt es noch zu betrachten, wie der Kontakt zu den Nervenzellen hergestellt wird: „Cochlea- und Retinaimplantate sind die am weitesten fortgeschrittenen Neuroprothesen, aber um richtige Neurochips handelt es sich nicht: Die Elektroden werden zwar in die Nähe der Nervenzellen gebracht, bilden jedoch keine festen Kontakte“ (Lenarz 2004).
Schließlich sei noch eine Definition zitiert, die darauf abzielt, den Untersuchungsgegenstand zum Zwecke einer reflektierenden Analyse festzulegen: „Neuroimplantate sind technische Geräte, die in das Gehirn des Menschen oder in andere Körperbereiche eingesetzt werden. Sie modulieren die elektrische Aktivität von Nervenzellen und unterstützen oder ersetzen beschädigte oder verloren gegangene Nervenfunktionen“ (Nationaler Ethikrat 2006).
Die verschiedenen Definitionen oder Erklärungen zeigen eine gewisse Sprachverwirrung auf, die vor allem aus der unsauberen Trennung der Begriffe „Prothese“ und „Implantat“ entsteht. Oft wird diese Verwirrung auch erst deutlich, wenn ein weiterer Begriff, wie zum Beispiel „Brain Computer Interface“, „Brain Machine Interface“ oder „Neurochip“ erklärt werden soll. Es sei an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die im vorigen Abschnitt zitierten Definitionen Texten entnommen wurden, die nicht das Ziel verfolgen, eine saubere, trennscharfe Definition zu verfassen. Darüber hinaus wird in den meisten dieser Texte aus dem Zusammenhang klar, welche Technik gemeint ist. Es geht hier also nicht um eine Kritik der aufgefundenen Definitionen, sondern um das Herausarbeiten von in diesen Definitionen formulierten Unterscheidungen. Vor dem Hintergrund der oben geführten Diskussion wird nun eine Arbeitsdefinition zu Grunde gelegt, die den Objektbereich der ethischen Reflektion kennzeichnen soll: „Neuronale Implantate sind technische Geräte, bei denen wenigstens ein Teil in den Körper eingesetzt wird und die eine funktionale Verbindung mit dem Nervensystem haben“.
In dieser Definition wird mit der Wahl des Begriffes „Implantat“ hervorgehoben, dass nur technische Geräte betrachtet werden, deren Anwendung ein „invasives“ Verfahren voraussetzen. Demgegenüber kann eine Prothese auch „nichtinvasiv“ appliziert werden. Andererseits legt man sich mit dem Begriff „Implantat“ im Gegensatz zu dem der „Prothese“ nicht darauf fest, ob das implantierte Gerät nur der Wiederherstellung von „normalen“ menschlichen Fähigkeiten dient, oder ob es zum Zwecke der Erweiterung menschlicher Fähigkeiten implantiert wird. Diese Offenheit ist von Bedeutung, da in der Diskussion über konvergierende Techniken nicht nur therapeutische Optionen, sondern auch die Erweiterung menschlicher Fähigkeiten in den Blick genommen werden (Roco / Bainbridge et al. 2002).
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Mit der Bezugnahme auf technische Geräte grenzt die Definition die Implantation von biologischem Gewebe, auch wenn dieses eine funktionale Verbindung mit dem Nervengewebe eingeht, aus. Dementsprechend werden auch neuere biomedizinische Therapiemethoden wie die Gentherapie oder die Stammzelltherapie nach dieser Definition nicht zu den neuronalen Implantaten gezählt. Implantate, die zum Zwecke der Diagnostik, z. B. zur Überwachung des Blutzuckerspiegels, eingesetzt werden können, fallen ebenfalls nach dieser Definition nicht unter die neuronalen Implantate, da ihnen der funktionale Bezug zum Nervensystem fehlt. 2. Relevante Unterscheidungen Neben dieser Arbeitsdefinition sollen nun noch einige Unterscheidungen eingeführt werden, die in Zusammenhang mit der ethischen Reflektion über neuronale Implantate relevant werden können. So kann es relevant sein, ob ein Implantat Signale in das Nervensystem „hinein“ überträgt, oder ob es seinerseits Signale des Nervensystems empfängt: Es wird zwischen „einschreibend“ und „auslesend“ unterschieden. Ein auslesendes Implantat, das lediglich Nervenimpulse detektiert, ohne dabei selbst elektrische oder elektromagnetische Impulse an das Nervensystem abzugeben wie etwa beim EEG (Elektroenzephalogramm)2 oder beim EKG (Elektrokardiogramm), wirkt nicht direkt auf den Körper des Trägers ein. Anders ist es bei einem einschreibenden Implantat, welches Impulse an das Nervensystem abgibt. Das Implantat steuert dann direkt bestimmte Körperfunktionen des Trägers. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob und welchen Einfluss die Nervenreizung (Innervierung) durch das Implantat auf das Bewusstsein, den Charakter und die personale Identität des Trägers haben kann (vgl. hierzu auch Bentele 2006). Auch der „Ort“ der Innervierung könnte eine ethisch relevante Unterscheidung darstellen. Ohl und Scheich unterscheiden, ob die Innervierung „peripher“ oder „zentral“ erfolgt, ob also Nerven des peripheren Nervensystems innerviert werden oder solche des zentralen Nervensystems, d. h. des Gehirns: „In unserer naiven Vorstellung wird die Sache umso vertrackter, je tiefer wir in diesen neuronalen Hort des Bewusstseins eindringen. Wann überschreiten wir dabei die magische Grenze, jenseits derer ein künstlicher Ersatz meiner Hardware mein Ich verändert?“ (Ohl / Scheich 2006). Wie schwierig die Beurteilung der Folgen eines Eingriffs in das Gehirn ist, zeigen insbesondere die Erfahrungen der Neurochirurgie und die der Tiefen Hirnstimulation (s. u.). So lässt sich z. B. bei der Tiefen Hirnstimulation derzeit nicht klären, ob eine depressive Stimmung direkt durch den Eingriff aufgehellt wurde, oder ob der Effekt durch die Beseitigung der belastenden Symptome der Parkinson-Krankheit erfolgte (Fiedeler 2008). Ein Beispiel, das 2 Auf den ersten Blick könnte man annehmen, dass es sich bei den hier angeführten Methoden um nicht-invasive Eingriffe und damit gar nicht um Implantate handelte. Die Methoden beziehen sich nur auf dasjenige, was sie auslesen, geben aber nicht an, ob das Signal transkutan (also nicht-invasiv) oder mittels implantierter Elektroden abgeleitet wird.
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gegen die Relevanz der Unterscheidung von „peripher versus zentral“ spricht, ist der Vagusnervstimulator. Obwohl der Vagusnerv zum peripheren Nervensystem zählt, kann seine Stimulation Stimmungen und Gefühlszustände beeinflussen bzw. hervorrufen (Merkel et al. 2007, S. 139 – 141). Eine weitere Unterscheidung stellt auf die Nähe des Implantats zum Nervengewebe ab. Hier kann entweder ein direkter Kontakt (z. B. wird eine Elektrode in das Nervengewebe eingeführt) oder ein indirekter Kontakt (die Elektrode wird in unmittelbarer Nähe der Nervenzellen verortet) realisiert werden. Dies könnte insofern relevant sein, als angenommen wird, dass Nervengewebe weniger regenerationsfähig ist als anderes Gewebe. Insbesondere gilt dies für Verletzungen des Rückenmarks (Caspers 2004). Kommt es also im Zuge der Kontaktierung zu einer Schädigung der betroffenen Nervenzellen, können sich diese nur bedingt regenerieren. Damit wird diese Unterscheidung relevant, wenn etwas über die Risiken der Schädigung und der Reversibilität des Eingriffes ausgesagt werden soll. Es sei aber auch darauf hingewiesen, dass eine Schädigung des Nervengewebes nicht automatisch bedeutet, dass dies auch gravierende Konsequenzen nach sich zieht. Die beiden letzten Unterscheidungen beziehen sich auf die technische Ausgestaltung des neuronalen Implantats. Diese kann entweder „vom Träger gesteuert“ oder „autonom gesteuert“ sein. Beispiele für vom Träger gesteuerte Implantate sind der Blasenschrittmacher und Greif-Implantate, Beispiele für autonome neuronale Implantate sind der Herzschrittmacher oder der implantierte Defibrillator. Letztere entscheiden autonom, auf der Basis von aus dem Körper ausgelesenen Signalen, wann das Herz stimuliert werden soll. Damit verbunden ist eine weitere technische Unterscheidung, nämlich ob das Implantat auf der Basis eines Mikroprozessors betrieben wird, dessen Funktionen über ein Softwareprogramm gesteuert werden, oder ob es sich bei der Informationsverarbeitung um ein analoges Verfahren handelt3. Dies kann vor dem Hintergrund der Fehleranfälligkeit und der Gefahr der Manipulation ein relevanter Aspekt sein. So wäre es denkbar, dass ein Programmierer in den Programmcode ein Schadprogramm versteckt, welches unter bestimmten Bedingungen ausgelöst wird. Berücksichtigt man, dass die Betriebsmodi vieler Implantate über eine Fernbedienung verändert werden können, rückt hier die Sicherheit der Implantate in den Vordergrund. Bevor wir nun, ausgerüstet mit Definition und – beschreibenden4 – Unterscheidungen, einige Beispiele neuronaler Implantate anführen, soll noch kurz auf eine sprachliche Ungenauigkeit eingegangen werden. Mit „Information auslesen“ in 3 Bei der analogen Informationsverarbeitung wird das einkommende Signal direkt mittels einer elektronischen Schaltung und deren Bauteilen verarbeitet. Bei einem digital arbeitenden Gerät wird das Signal erst codiert, das heißt in einzelne Informationsbestandteile zerlegt. Die anschließende Verarbeitung setzt eine komplizierte elektronische Schaltung voraus. 4 Wir sind uns bewusst, dass diese Unterscheidungen auch normative Konnotationen haben. Hier sind sie jedoch erwähnt, weil sie Aspekte von neuronalen Implantaten beschreiben und gemeinhin in der Literatur genannt werden.
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Zusammenhang mit neuronalen Implantaten ist nach heutigem Stand der Technik kein semantisches Auslesen im Sinne der inhaltlichen Bedeutung dieser „Gedanken“ gemeint. Es geht lediglich um ein Aufzeichnen von Nervenimpulsen („Aktionspotential weiterleiten“). Selbst im Gehirn, wo teilweise komplexe Impulsmuster detektiert werden können, ist ein „Gedankenlesen“5 heute nicht möglich. 3. Beispiele Es gibt eine große Anzahl von neuronalen Implantaten, die sich in sehr unterschiedlichen Entwicklungsstadien befinden. Einen aktuellen Überblick über den Stand der Technik bietet (Fiedeler 2008). Im Folgenden werden wir Beispiele aus den Bereichen motorische und sensorische Implantate vorstellen und als dritte Gruppe Implantate, die im und am Gehirn eingesetzt werden. Der Herzschrittmacher ist das am weitesten verbreitete neuronale Implantat. Er zählt zu den motorischen Implantaten, weil er durch einen elektrischen Impuls die Herzmuskelkontraktion stimuliert. Entsprechend unserer Unterscheidungen handelt es sich um ein Implantat, das sowohl Nervensignale – der so genannten Purkinje-Fasern – ausliest, und daraus autonom ableitet, ob ein Stimulationsimpuls – an die mit Nervenfasern ausgekleidete Herzwand – erzeugt werden soll oder nicht. Der Herzschrittmacher wird im peripheren Bereich des Nervensystems eingesetzt und berührt die Herzwand (indirekter Kontakt). Er verfügt über eine Software, und moderne Herzschrittmachersysteme können die Daten über detektierte und stimulierte Herzaktionen speichern. Die Daten können über Funk ausgelesen werden. Damit liefern sie wichtige Informationen über Auffälligkeiten des Herzrhythmus (Renz-Polster et al. 2004). Ein weiteres motorisches neuronales Implantat ist eine künstliche Armprothese. Hier gibt es Pilotarbeiten, sowohl auslesende Nervensignale (für die Steuerung der Handbewegung) als auch einschreibende, um Sinneswahrnehmungen des Tastsinns zu vermitteln, zu realisieren6. Für Aufsehen sorgte auch der Bericht über eine Armprothese, die durch das Auslesen von Gehirnaktivitäten eines Affen über eine Gehirn-Computer-Schnittstelle (BCI, s. u.) gesteuert wurde (Chapin / Nicolelis 2002). Ein Beispiel für ein sensorisches Implantat stellt das so genannte Retina-Implantat dar, welches Seheindrücke vermitteln soll. Die Signale werden mit einem lichtempfindlichen Sensor („Kamera“) aufgenommen und dann über eine entsprechende Datenverarbeitung (Software) in elektrische Impulse umgewandelt, die in den Sehnerv „eingeschrieben“ werden. Dafür wird eine Elektrode – entweder sub5 Dies entgegen immer wieder anderslautenden, irreführenden Medienberichten; vgl. etwa die Überschrift von Allison Barrie in einem Bericht über neue nicht-invasive Sensortechniken zur Überprüfung von Flughafenpassagieren durch das Department of Homeland Security (DHS) der Vereinigten Staaten: „Homeland Security Detects Terrorist Threats by Reading Your Mind“, http: //www.foxnews.com/printer_friendly_story/0,3566,426485,00.html; abgerufen am 23.09.2008. 6 www.cyberhand.org; zuletzt besucht am 16.09.2008.
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oder epiretinal – in das Auge implantiert und der Sehnerv in diesem Bereich stimuliert. Insofern ist die Anwendung dieses Implantats auf Patienten beschränkt, deren Sehnerv noch funktioniert. Retinaimplantate sind bereits in der klinischen Erprobung. Die Patienten können Licht, größere Objekte und Bewegungen wahrnehmen. Eine andere Variante von Implantaten zur Wiederherstellung des Sehsinns zielt auf eine Stimulation des visuellen Kortex im Gehirn ab. Dabei kann die Elektrode auf der harten Hirnhaut (Sehrinde) oder im Kortex selbst (intrakortikal, direkter Kontakt) implantiert werden. Im ersten Fall berichtete William Dobelle Erfolge der Art, dass Patienten große Buchstaben und grobe Figuren erkennen konnten. Zudem konnte er nachweisen, dass die Elektroden auch nach einer Verweildauer von über 14 Jahren im Körper eines Probanden noch funktionsfähig waren (Dobelle 2000; Kotler 2002). Prinzipiell könnte man sich im Bereich der Sehimplantate vorstellen, dass neben dem sichtbaren auch infrarotes Licht detektiert und in Signale für das Nervensystem umgewandelt wird. Damit könnten auch warm- / kalt-Wahrnehmungen realisierbar sein. Bei der Tiefen Hirnstimulation (Deep Brain Stimulation) wird eine lange haarfeine Elektrode in das Gehirn eingeführt und millimetergenau platziert. Mittels elektrischer Impulse wird das kontaktierte Hirngewebe stimuliert. So werden beispielsweise bei der Parkinsonschen Krankheit die durch die verminderte Dopaminausschüttung verursachten Symptome, wie z. B. der Tremor, unterbunden. Neben der implantierten Elektrode besteht der so genannte „Hirnschrittmacher“ aus einer ebenfalls implantierten Einheit, welche die Stimulation kontrolliert und mit einer Batterie ausgestattet ist. Über ein externes Gerät kann das Implantat an- und abgeschaltet sowie die Stimulationsparameter wie Frequenz und Stromstärke eingestellt werden. Während die Anwendung der DBS bei Parkinson und bei Schmerzbehandlungen bereits verbreitet ist (mehrere Tausend Anwendungen bis 2001, Prochazka et al.) finden zur Behandlung schwerer Depressionen und anderer psychiatrischer Störungen erste Studien an Patienten statt. Verlaufen diese erfolgreich, so wäre zumindest vorstellbar, dass es eines Tages auch für weniger depressive oder sogar gesunde Menschen erstrebenswert erscheinen könnte, eine stimmungsaufhellende „Gute-Laune“-Elektrode eingesetzt zu bekommen. Unter so genannten Brain-Computer Interfaces versteht man technische Apparate, mit denen Gehirnaktivitäten aufgezeichnet werden können. Das kann prinzipiell ohne ein Implantat durch die intakte Kopfhaut geschehen. Es werden aber sowohl kortikale als auch intra-kortikale BCI entwickelt. BCI wurden bisher vor allem und erfolgreich an Affen (Hoag 2003; Nicolelis 2002) und in ersten Versuchen auch an Menschen getestet (Cyberkinetics www.cyberkinetics.com, zuletzt abgerufen am 26. 09. 2007, Emily Singer 2006). Bei Letzteren ging es vor allem darum, zu untersuchen, ob und wie die Probanden in der Lage sind, durch das Auslesen der Gehirnaktivität bewusst einen Cursor auf einem Computerbildschirm zu steuern.
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III. Ethische Fragen der Anwendung neuronaler Implantate 1. Therapeutischer Einsatz neuronaler Implantate Im Zentrum der medizinethischen Beurteilung neuronaler Implantate stehen die zahlreichen bereits erreichten oder für die Zukunft erwarteten therapeutisch-kurativen Anwendungen dieser Implantate. Ein Gesamtüberblick kann an dieser Stelle nicht gegeben werden, doch die kursorische Aufzählung (v. supra unter 2 c) macht deutlich, dass es primär7 um die Wiederherstellung oder Kompensation verloren gegangener motorischer, sensorischer und / oder kognitiver Funktionen des Menschen geht. Die verfolgten Strategien zur Entwicklung von Retina-Implantaten etwa zielen auf die Herstellung zumindest partieller Sehfähigkeit nach Verlust der Photorezeptoren der Netzhaut, mithin also auf die Therapie degenerativer Netzhauterkrankungen wie die sogenannte Retinitis pigmentosa (RP) und die altersbedingte Makuladegeneration (AMD), von denen allein in Deutschland etwa 13 0008 (RP) bzw. altersbedingt (AMD) die meisten Menschen betroffen sind. Brain-Computer-Interfaces könnten künftig gelähmten Patienten über spezielle Decoder, die individuelle Anpassung und Übung erfordern, ermöglichen, prothetische Hände oder andere, robotische Gliedmaße zu steuern und so motorische Fähigkeiten „wiederzuerlangen“ oder über die Steuerung moderner Kommunikationsmittel (wie Computercursor) sich wieder artikulieren und soziale Kontakte aufrechterhalten zu können. Die medizinischen Indikationen, für die der Einsatz von BCI von Interesse ist, reichen von Querschnittslähmungen, Gehirnschädigungen wie z. B. nach einem Schlaganfall, bis hin zu neurodegenerativen Erkrankungen wie Multipler Sklerose (MS), Amyotropher Lateralsklerose (ALS) und dem sog. Locked-in-Syndrom. Die möglichen therapeutischen Anwendungsbereiche erscheinen sehr vielversprechend, könnten aber im Einzelnen noch sehr lange auf sich warten lassen oder ganz unerreicht bleiben (z. B. erfolgreiche Stimulierung des visuellen Kortex zur Herstellung adäquater visueller Wahrnehmung). Zentrale Herausforderungen für die Entwicklung neuronaler Implantate sind dabei Fragen wie Miniaturisierung, Langlebigkeit, Funktionssicherheit, Energieversorgung und Biokompatibilität. So hat ein neuronales Implantat einerseits gewebeverträglich zu sein, andererseits darf es seinerseits durch das angrenzende Gewebe auch nicht zerstört oder in seiner Funktion beeinträchtigt werden.
7 Neuronale Implantate „helfen“ tatsächlich und nicht nur – wie es wörtlich in der Stellungnahme der Europäischen Gruppe für Ethik in Naturwissenschaften und neuen Technologien bei der Europäischen Kommission (EGE) zu den ethischen Aspekten der Verwendung von Informations- und Kommunikationstechnologischen (IKT-)Implantaten im menschlichen Körper mit Bezug (ausgerechnet) auf den Herzschrittmacher heißt – „dem Anschein nach hauptsächlich der menschlichen Gesundheit“, EGE Stellungnahme Nr. 20 vom 16. 03. 2005, S. 104, Hervorhebung durch die Verfasser. 8 Die Prävalenz beläuft sich weltweit auf zwischen 1:3000 und 1:7000; vgl. Daiger / Bowne / Sullivan 2007, S. 151 (152).
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Im Rahmen des üblichen medizinethischen Prüfrasters – dies kann als moderner medizinethischer „aquis commun“9 gelten – werden gemeinhin vier ethische Prinzipien unterschieden, denen ein jeder medizinische Eingriff zu genügen hat. Neben dem Respekt der Autonomie des Patienten (übersetzt in die arztrechtlichen Anforderungen der freiwilligen Einwilligung nach Aufklärung, free informed consent), sind die Prinzipen des Nichtschadens (non-malevolence10), des ,Wohltuns‘ (beneficence) und der Gerechtigkeit (justice) anerkannt. Letztere wird in erster Linie als distributives Prinzip gedeutet, das auf die gerechte Allokation von Ressourcen für und durch das Gesundheitswesen sowie den gerechten Zugang von einzelnen und Gruppen zu diesen Ressourcen abstellt. Hier entsteht ein bekanntes Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit (der Verteilung respektive des Zugangs) und Gerechtigkeit, das formelhaft in der Frage zum Ausdruck kommt, ob und inwieweit Gerechtigkeit Gleichheit bedeutet bzw. wie viel Gleichheit (noch) als gerecht anzusehen ist. Für therapeutische Anwendungen neuronaler Implantate ergibt sich aus diesem medizinethischen Prinzipienkatalog in den meisten Hinsichten keine ethisch grundsätzlich von anderen medizinischen Anwendungsbereichen zu unterscheidende Beurteilung. Ausnahmen und mithin ethische Fragen, die besonderer Beachtung bedürfen, könnten mit Blick auf das Prinzip der Autonomie sowie das Problem der (Wahrung oder Veränderung der) sog. personalen Identität11 bestehen. Fragen der Verteilungs- und Zugangsgerechtigkeit stellen sich in Zeiten des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12 SGB V) und der allmählich anerkannten Rationierungsnotwendigkeiten im (öffentlich finanzierten) Gesundheitswesen mit Blick auf jede medizinische Leistung. Beschränkungen und Ausgliederungen von Leistungen aus dem Katalog der Krankenkassen knüpfen gegenwärtig am Begriff des Selbstverschuldens (§ 52 Abs. 1 SGB V) und – neuerdings12 – an fehlender medizinischer Indikation (wie zum Beispiel13) bei ästhetischer Chirurgie, einer Tätowierung oder einem Piercing an (§ 52 Abs. 2 SGB V). Als Ausfluss der Prinzipien des Nichtschadens und des Wohltuns sind die Vor- und Nachteile der Intervention im Rahmen einer individuellen, auf den konkreten Patienten bezogenen Risiko-NutzenPrüfung, einer Einzelfallbeurteilung, die durch die behandelnden Mediziner vor einem jeden medizinischen Eingriff durchzuführen ist, miteinander abzuwägen. Beauchamp / Childress 2001, 5. Aufl. 2001 (6. Aufl. angekündigt für November 2008). Das antike – oft mit dem Hippokratischen Eid in Verbindung gebrachte, in diesem aber nicht wörtlich enthaltene – Prinzip des primum non nocere findet sich hier tradiert. 11 Im medizinethischen Schrifttum wird z. T. die Position vertreten, personale Identität als weiteres, fünftes Prinzip dem Katalog der genannten vier – v. a. durch weitgehenden Usus und Anerkennung innerhalb der scientific community ,legitimierten‘ – Prinzipien hinzuzufügen; vgl. Quante 2002. 12 Eingeführt mit Artikel 1 Nr. 31 b des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, GKV-WSG) vom 26. 03. 2007, BGBl I (2007), S. 378, 386. 13 Der Beispielcharakter der Enumeration wurde getilgt durch Artikel 6 Nr. 7 des Gesetzes zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz) vom 28. 05. 2008, BGBl I (2008), S. 874, 899. Vgl. zu diesem Gesetz Igl 2008. 9
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Mögliche (unerwünschte) Nebenwirkungen und gegenwärtiges Nichtwissen über potentielle Langzeitfolgen sind dabei ebenso zu berücksichtigen und dem zu erwartenden Nutzen gegenüberzustellen. Insofern unterscheiden sich neuronale Implantate nicht von anderen pharmakologischen oder medizintechnischen Eingriffen. Eine Besonderheit mag darin bestehen, dass in den meisten Fällen (vielleicht nur mit Ausnahme der bereits weltweit verbreiteten und seit Jahrzehnten in der klinischen Anwendung erprobten Herzschrittmacher und Cochlea-Implantate) kaum oder wenig Erkenntnisse über mögliche Langzeitwirkungen neuronaler Implantate vorliegen. Dies liegt insofern in der Natur der Sache, als sich die meisten der unter die oben (unter 2 a) eingeführte Arbeitsdefinition fallenden neuronalen Implantate entweder noch in der Prototyp- und Tierversuchsphase befinden oder in ersten experimentellen Studien an Probanden erprobt werden und weitere Daten erst im Laufe der nächsten Jahre (wenn nicht – wie z. B. bei der herausforderungsvollen unmittelbaren Stimulation des visuellen Kortex – wohl gar Jahrzehnte) gewonnen werden können. Hier zeigt sich also auch und gerade mit Bezug auf die medizintechnische Entwicklung neuronaler Implantate die Problematik einer jeden vorausschauenden Technikfolgenbeurteilung, Maßstäbe für ein Handeln unter Unsicherheit oder Ungewissheit zu gewinnen (Risikohandeln). So sind etwa bei der Tiefen Hirnstimulation die neurobiologischen Vorgänge, welche die Wirkung der Stimulation herbeiführen oder verhindern, noch weitgehend unbekannt. Neuronale Implantate setzen nach der hier zugrunde gelegten Arbeitsdefinition einen chirurgischen Eingriff voraus; es handelt sich notwendigerweise um invasive Eingriffe, die gerade aus diesem Grund – je nach medizinischer Indikation – nicht als therapeutische Maßnahme erster Wahl angesehen werden können. Beispielhaft sei die Tiefe Hirnstimulation angeführt, die bisher an Morbus Parkinson Erkrankten erst nach mehrjähriger pharmakologischer Therapie (in der Regel mit Levodopa / L-Dopa) in Erwägung gezogen wird, etwa wenn sich die Wirkung der pharmazeutischen Mittel nach einer Anfangsphase (sog. honey moon) allmählich erschöpft (wearing off).14 Neuronale Implantate dürften daher in der Regel wegen der neurochirurgischen Risiken als subsidiär zu anderen, gleichermaßen effektiven therapeutischen Maßnahmen angesehen werden. Dies kann aber nicht als generelle, etwa an der Eingriffstiefe orientierte ethische Richtschnur angesehen werden, sondern ist im Rahmen einer Einzelfallprüfung der konkreten jeweils zu erwartenden (Neben-) Wirkungen und Sicherheitsbedenken in Bezug auf einen jeden Patienten zu ermitteln (ethische Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs). 14 Derzeit wird in klinischen Studien der Einsatz von Tiefer Hirnstimulation in früheren Stadien von Morbus Parkinson erforscht. Vgl. die laufende, u. a. vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte deutsch-französische „EARLYSTIM“-Studie, welche unter der Leitung von Professor Deuschl (Neurologie, Universität Kiel) die Wirkungen Tiefer Hirnstimulation des Subthalamic Nucleus (STN-DBS) im Vergleich zu bestmöglicher Medikamentation untersucht; s. Clinical Trials Database http: //clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT 00354133?cond=Parkinson+Disease&rank=49 (abgerufen am 29.09.2008).
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Als zentrale Fragen bestimmt die EGE15, inwieweit Gehirnimplantate die Autonomie des Menschen bedrohen, irreversible Folgen für Körper und / oder Psyche des Menschen haben, insbesondere dessen Erinnerungsvermögen beeinflussen können, und welche Folgen Implantate für die personale Identität des Menschen haben. Der Fokus der EGE liegt, bedingt durch die Ausrichtung der ethischen Prüfung auf informations- und kommunikationstechnologische Implantate, die mit der Arbeitsdefinition der hier untersuchten neuronalen Implantaten nur zum Teil deckungsgleich sind16, auf den Gesichtspunkten der Achtung der Autonomie, der körperlichen Unversehrtheit sowie des Schutzes der Privatsphäre von Teilnehmern an klinischen Studien und von Patienten. Dabei geht es vor allem um die Entscheidungsfreiheit über den Gebrauch des eigenen Körpers und die Freiheit von äußerer Kontrolle und Beeinflussung.17 Die Befürchtung ist, dass neuronale Implantate – insbesondere solche, die einschreibend, autonom und digital gesteuert sind – dritten Personen Kontroll- und Missbrauchsmöglichkeiten eröffnen könnten, die mit den genannten geschützten Rechtsgütern der Implantatträger nicht vereinbar sind. So könnte beispielsweise die Software einer Steuerungseinheit den Aufenthaltsort des betroffenen Implantatträgers angeben, die gespeicherten Informationen könnten ohne Wissen und Zustimmung der Betroffenen weitergegeben oder ferngesteuert geändert (remote control) werden. Die EGE kommt zu dem Schluss, „dass unter den gegebenen Umständen ( . . . ) die Implantierung von – tatsächlich verfügbaren oder nur möglichen – IKT-Geräten in den menschlichen Körper in vielen Fällen rechtlich nicht zulässig“18 sein könnte. Dies spricht keineswegs gegen die weitere Entwicklung neuronaler Implantate, sondern für eine genaue Beobachtung ihres Missbrauchspotentials und der Zugriffsmöglichkeiten Dritter auf persönliche Daten des Implantatträgers. Zu denken ist in rechtspolitischer Hinsicht etwa an die (analoge) Anwendung datenschutzrechtlicher Grundsätze wie der strikten Zweckbindung, Datenminimierung und Verhältnismäßigkeit der Datenerfassung und -speicherung.19 Zur EGE siehe supra Fn. 7. Die der EGE-Stellungnahme zugrunde liegende Definition der IKT-Implantate weicht von der hier verwendeten Arbeitsdefinition neuronaler Implantate in manchen Hinsichten erheblich ab. Basis sowohl für die EGE als auch maßgeblich für die rechtliche Beurteilung neuronaler Implantate als Medizinprodukte ist aber die Legaldefinition der Richtlinie 90 / 385 / EWG des Rates vom 20. 6. 1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über aktive implantierbare medizinische Geräte, ABl. L 189 vom 20. 7. 1990, S. 17. Danach gilt jedes medizinische Gerät, dessen Betrieb auf eine elektrische Energiequelle oder eine andere Energiequelle als die unmittelbar durch den menschlichen Körper oder die Schwerkraft erzeugte Energie angewiesen ist, als aktiv. Ein aktives medizinisches implantierbares Gerät ist sodann „jedes aktive medizinische Gerät, das dafür ausgelegt ist, ganz oder teilweise durch einen chirurgischen oder medizinischen Eingriff in den menschlichen Körper oder durch einen medizinischen Eingriff in eine natürliche Körperöffnung eingeführt zu werden und dazu bestimmt ist, nach dem Eingriff dort zu verbleiben“ (Art. 1 Abs. 2 c). 17 Vgl. EGE 2005, S. 94. 18 EGE 2005, S. 96. 15 16
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Was die Befürchtungen um eine mögliche Veränderung oder den ,Verlust‘ personaler Identität durch den Einsatz neuronaler Implantate angeht, so ist es erforderlich, auf den ausgesprochen äquivoken und philosophiehistorisch wie psychologisch vielschichtigen Begriff der personalen Identität einzugehen. Möglicherweise lassen sich die Bedenken, die in dieser Hinsicht geäußert werden, durch den Rekurs auf eine möglichst genaue konzeptuelle Rekonstruktion20 dieses Wortpaares bereits entkräften. Gemeinhin steht hinter den Bedenken die Annahme, eine Person könne nach einem oder durch einen Eingriff nicht mehr dieselbe sein.21 Gefragt wird also nach den Bedingungen transtemporaler Identität von Personen. Dabei ist zunächst zu klären, was unter dem historisch ebenso ,kontaminierten‘ Begriff der „Person“ eigentlich verstanden werden kann. Handelt es sich um ein biologisch bestimmbares, deskriptives Bündel von Eigenschaften, über die ein Mensch qua Menschsein verfügt? Kann dies dann zu jedem Zeitpunkt seines Lebens oder nur zu bestimmten Lebenszeiten von einem Menschen ausgesagt werden (etwa: ausgenommen Kindheit, frühe Jugend und hohes Alter)? Alternativ könnte der Begriff der Person von vornherein als ein normativer verstanden werden, der ein Ideal beschreibt, wie ein – etwa: rational denkender und verantwortlich handelnder – Mensch beschaffen sein sollte. Weiterhin ist fraglich, welches genau das ,Kontinuitätskriterium‘ einer bestimmten Person über die Zeit hinweg sein sollte. Philosophiehistorisch ist dabei – stark vereinfachend zusammengefasst – entweder auf die Psyche abgestellt worden oder auf die Körperlichkeit des Menschen. Legte man das Körperkriterium zugrunde, so dürfte sich die transtemporale personale Identität eines Menschen durch ein neuronales Implantat kaum verändern. Eher ermöglicht es das Implantat als sog. enabling technology seinem Träger, frühere Bewegungsmöglichkeiten und damit Handlungsoptionen wiederherzustellen. So kann der essenzielle Tremor oder der Tremor eines Parkinson-Kranken mittels Tiefer Hirnstimulation unterdrückt werden. Das Implantat hilft dem Patienten, verloren gegangene motorische Funktionen wiederzuerlangen; es stärkt damit seine Autonomie und Selbstbestimmungsfähigkeit, verändert aber nicht seine personale Identität. Zu einem anderen Ergebnis könnte man gelangen, knüpfte man für die personale Identität über die Zeit hinweg an die Psyche an. Wenngleich die genauen neurophysiologischen Wirkmechanismen noch weitgehend ungeklärt sind, so ist doch bekannt, dass Tiefe Hirnstimulation auch bei Parkinson-Kranken psychische Veränderungen hervorrufen kann. Vor diesem Hintergrund ließe sich möglicherweise von einer Veränderung der personalen Identität eines Implantatträgers sprechen. Damit ist aber noch kein Urteil darüber gefällt, ob es sich um eine 19 Vgl. EGE 2005, S. 93 – 95. Ähnlich Simitis, S. 698 f. sowie 702 (Stichwort „Informationsverzicht“). 20 Vorbildlich in dieser Hinsicht ist Merkel et al. 2007, S. 189 – 287. Einen Überblick über die philosophische Debattenlage gibt außerdem Stier 2006, S. 20 – 90. 21 Vgl. etwa EGE 2005, S. 100. Wörtlich wird hier die Frage gestellt: „Hört ein Mensch auf, er selbst zu sein, wenn Teile seines Körpers – insbesondere das Gehirn – durch IKT-Implantate ersetzt oder ergänzt werden?“
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unerwünschte und / oder als negativ zu bewertende (Neben-) Folge der TremorBehandlung handelt. Bei der neuerdings in Pilotstudien erforschten Anwendung Tiefer Hirnstimulation zur Behandlung psychiatrischer Erkrankungen sind psychische Änderungen gerade das beabsichtigte Ziel des Eingriffs. Die pauschale Vermutung, neuronale Implantate könnten zur Gefährdung personaler Identität führen und seien damit ethisch bedenklich, kann also nicht erhärtet werden. Einerseits kann konzeptuell argumentiert werden, personale Identität sei ein sinnloser oder nur unter ganz bestimmten Bedingungen anwendbarer Begriff22; andererseits – vorausgesetzt man akzeptiert eine bestimmte Verwendungsweise dieses Begriffs – muss eine Veränderung personaler Identität keineswegs bedenklich, sondern kann gerade erwünscht23 sein. 2. „Neuroenhancement“: Verbesserung und Erweiterung menschlicher Fähigkeiten durch neuronale Implantate? Neben die traditionellen Ziele der Medizin treten neuerdings Möglichkeiten, eingeschränkte, beschädigte oder verloren gegangene Fähigkeiten des Menschen nicht nur wiederherzustellen, sondern auch zu erweitern. Gerade im Zusammenhang mit neuronalen Implantaten ist neben den beschriebenen therapeutischen Anwendungen schon früh (v. supra sowie Roco / Bainbridge 2002) ein solcher Einsatz angeregt worden. Dieser auf „Verbesserung des Menschen“ zielende Mitteleinsatz wird in der biomedizinischen Ethik daher gegenwärtig unter dem Stichwort „human enhancement“ kontrovers diskutiert. Bezieht sich die angestrebte Verbesserung auf neuronale Funktionen des Menschen, so ist – mittlerweile als terminus technicus auch in der deutschen Sprache – oft von „Neuroenhancement“ die Rede. Dabei können pharmazeutische, vor allem psychopharmakologische Mittel, aber grundsätzlich auch neuronale Implantate als Mittel zum Einsatz kommen. Das Hauptaugenmerk der Debatte liegt aus gutem Grund derzeit auf psychopharmakologischem Neuroenhancement; als verschreibungspflichtige Medikamente erhältliche Substanzen wie z. B. Modafinil oder Methyphenidat ermöglichen es nicht nur Narkoleptikern bzw. an Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) Leidenden, wach respektive konzentriert zu sein und zu bleiben, sondern können auch bei Gesunden entsprechende Wirkungen zeigen.24 In Bezug auf neuronale Implantate werden zum Teil sehr visionäre Szenarien entworfen: Denkbar wäre zum Beispiel die Stimulation des nucleus accumbens, eines Gehirnareals, das funktional zum Belohnungszentrum zu rechnen ist, zur Stimmungsaufhellung und Schaffung von ,Zufriedenheitsgefühlen‘ auf Knopfdruck.25 Vor dem Hintergrund Vgl. Quante 2002. Vgl. die Argumentation von Brand 2008. 24 Für einen Überblick über die in Frage kommenden Substanzen und deren klinisch erhärtete oder gerade nicht erwiesene Wirksamkeit bei Gesunden vgl. Berger / Norman 2008. 25 Entsprechende Versuche sind bereits in den 1950er Jahren an Ratten durchgeführt worden. Diese vielzitierten Experimente zeigten eine selbstinduzierte ,Dauerstimulation‘ der 22 23
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dieses Beispiels und ähnlich utopischer (bzw. dystopischer) Szenarien wie der Schaffung „posthumaner Menschen“, neuer „Mensch-Maschine-Wesen“ oder einer „Cyborgisierung des Menschen“26 mittels neuronaler Implantate erscheint es nicht nur geboten, sondern dringend erforderlich, kategoriale Differenzierungen des Enhancement-Begriffs einzuführen. Nicht alles, was „jenseits der Therapie“27 von Krankheiten möglich erscheint, ist nur aufgrund dieses Umstands zugleich als unverantwortlich abzulehnen. Die extrem futuristisch anmutenden Szenarien werden daher in der ernsthaften ethischen Debatte auch als irreführend kritisiert und der Versuch einer Trennung von realistischen Entwicklungspfaden einerseits sowie bloßer Science Fiction andererseits angemahnt.28 An dieser Stelle können die ethischen Aspekte des Neuroenhancement nicht in der gebotenen Differenzierung diskutiert werden.29 Die EGE30 kommt zu dem kategorischen Urteil („vertritt generell die Auffassung“), „dass nichtmedizinische Anwendungen von IKT-Implantaten eine potenzielle Bedrohung der Menschenwürde und der demokratischen Gesellschaft darstellen“. Diese Aussage ist irreführend, da sie einer bloßen Möglichkeit (Bedrohungspotenzial) den Anschein der Notwendigkeit gibt. Stoßrichtung für die Besorgnis der EGE sind die Möglichkeiten, mittels autonom gesteuerter, Softwarebasierter neuronaler Implantate Kontrolle über die Implantat-Träger auszuüben, sie zu überwachen oder zu steuern. Im Zentrum der ethischen Bedenken stehen also auch hier Erwägungen der Achtung der Autonomie und (insbesondere) der Privatsphäre und des Schutzes persönlicher Daten vor unfreiwilliger Weitergabe. Es ist fraglich, ob diese Probleme, die ebenso und gerade in Bezug auf therapeutische Anwendungen neuronaler Implantate relevant sind, auch die Debatte um ein mögliches Neuroenhancement beherrschen sollten. Es erscheint sinnvoller, im Zusammenhang mit der Möglichkeit des Neuroenhancement grundsätzlicher nach der Begründbarkeit und Legitimität der verfolgten Ziele und der Verhältnismäßigkeit der Mittelanwendung zur Erreichung dieser Zwecke zu fragen. So wäre zu diskutieren, ob es Individuen möglich sein soll, mittels neuronaler Implantate kognitive, sensorische oder ,mentale‘ Verbesserungen (besseres Erinnerungsvermögen, Konzentrationsfähigkeit, emotionale Stabilität usw.) herbeizuführen. Sollen MenRatten, die ihren übrigen physiologischen Bedürfnissen nicht mehr nachkamen und nach kurzer Zeit verdursteten, s. Olds. Vgl. Merkel et al. 2007, S. 126 sowie ibid., S. 167, und van Kuyck et al. 2003 für heutige Experimente zur Stimulation des nucleus accumbens. Der Kölner Neurochirurg Volker Sturm spricht sich daher vehement gegen die Ausweitung Tiefer Hirnstimulation auf derartige Neuroenhancement-Anwendungen aus und plädiert für eine verantwortungsvolle Erforschung psychiatrischer Anwendungsgebiete dieser neuen Medizintechnik; s. Bittner 2008. 26 Vgl. EGE 2005, S. 106, sowie etwa Irrgang 2005. 27 Vgl. die gleichnamige Stellungnahme des amerikanischen President’s Council on Bioethics 2003. 28 Vgl. Jones 2006. 29 Vgl. für einen Überblick über virulente ethische Fragen und Probleme Ach / Stier 2007. 30 EGE 2005, S. 109.
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schen auch gänzlich ,neue‘ Fähigkeiten erlangen können? Mit etwas Fantasie vorstellbar wäre etwa eine Erweiterung des Sehvermögens auf infrarote Wellenlängenbereiche mittels Retina- oder anderer Sehimplantate. Die Anerkennung dieser Ziele einmal vorausgesetzt, so stellt sich die Frage, ob invasive Eingriffe überhaupt das Mittel der Wahl zur Erreichung dieser Zwecke sein können. Auf der Basis des geltenden Medizin- und Arzthaftungsrechts erscheint überaus fraglich, ob es hier eine freiwillige informierte Einwilligung überhaupt geben kann, die allen inhaltlichen Anforderungen entspricht – insbesondere hinsichtlich der Risikoaufklärung und der Beurteilung der Vertretbarkeit der Zweck-Mittel-Relation bei nicht vorhandenem medizinischen Nutzen. Andererseits hätte man sich vor einigen Jahrzehnten möglicherweise auch nicht vorstellen mögen, dass es eines Tages eine verbreitete Praxis ästhetisch-kosmetischer Chirurgie geben könnte. Solche „Schönheitsoperationen“ machen einen nicht unwesentlichen Anteil an arzthaftungsrechtlich relevanten Fällen in der Chirurgie aus. Möglicherweise stellen freiwillige, kontrollierte Eingriffe in Gehirn und Psyche mittels neuronaler Implantate die nächste Etappe der gegenwärtigen „Leistungssteigerungsgesellschaft“ dar. Unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit wirft dies neue Fragen auf. Die Marschroute wird dabei von der gestärkten Eigenverantwortlichkeit im deutschen Sozialversicherungsrecht vorgegeben: Psychopharmaka und neuronale Implantate zu Zwecken des Neuroenhancement sind nicht erstattungsfähig. Der Katalog des § 52 Abs. 2 SGB V31 könnte explizit um Enhancement-Folgen zu erweitern sein. 3. Anthropologische Argumente und Ethik: Verändern Neurowissenschaft und -technik „unser Menschenbild“? Überlegungen zur Technisierung des Gehirns oder zur Ethik des (Neuro-)Enhancement beinhalten oft die Frage nach der Vereinbarkeit dieser Möglichkeiten mit „unserem Menschenbild“. Unabhängig davon, ob diese Frage bejaht oder verneint wird, folgt oft die Anschlussfrage, ob die neueren neurowissenschaftlichen Erkenntnisse, die pharmazeutischen und medizintechnischen Möglichkeiten, in das menschliche Gehirn einzugreifen, zur Veränderung des Menschenbildes führen (vgl. Wolf Singer; Pauen). Dabei wird zumeist – mit Ausnahme z. B. theologischer Texte, die sich auf ein christliches Menschenbild32 berufen – offen gelassen, worauf sich die Rede vom Menschenbild überhaupt bezieht. Es stellt sich daher die Frage nach der Bedeutung und der Sachdienlichkeit einer Verwendung des Ausdrucks „Menschenbild“ in der Auseinandersetzung um die Grenzen des ethisch Zulässigen bei der Entwicklung und dem Einsatz neuronaler Implantate. Welche Auswirkungen haben die Möglichkeit technischen Mitteleinsatzes zur Modulation der Aktivität von Neuronen oder des Neuroenhancement auf unser Menschenbild? Zunächst ist zu fragen, ob sich überhaupt mit dem Menschenbild als argumentati31 32
V. supra unter 3 a sowie Fn. 12 und 13. Vgl. zum Beispiel Evers 2003.
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vem topos umgehen lässt und – so dies affirmativ entschieden werden sollte – wie dies vernünftigerweise erfolgen könnte. Oft wird angesichts fortschreitender (neuro-)wissenschaftlicher Erkenntnisse und neuer medizinisch-technischer Handlungsoptionen die Veränderung des Menschenbildes konstatiert oder – je nachdem – beklagt. Mittels der Argumentation aus der Veränderung des Menschenbildes werden so mitunter wissenschaftlich-technische Erkenntnisse und Neuerungen in Frage gestellt und diskreditiert. Dabei erscheint die Redeweise „die Veränderung des Menschenbildes“ aus mehreren Gründen wenig sinnvoll. Ohne dass an dieser Stelle auf an sich erforderliche bildtheoretische oder präzise sprachanalytische Erörterungen eingegangen werden könnte, spricht doch vieles dafür, die Rede vom „Menschenbild“ und „Menschenbildern“ als eine metaphorische, uneigentliche Redeweise zu verstehen.33 Dabei ist zu fragen, welche Eigenschaften oder Merkmale des Menschen durch Rekurs auf ein Menschenbild als Metapher jeweils hervorgehoben werden sollen. Fragt man nach möglichen Kandidaten, welche geeignet wären, die metaphorische Redeweise vom „Menschenbild“ auch materiell anzureichern und inhaltlich auszufüllen, so hält die philosophisch-anthropologische Disziplingeschichte eine ganze Reihe möglicher Selbstkonzeptualisierungen des Menschen vor. Mal wird der Mensch als sprachbegabtes Wesen (zoon logon echon) bestimmt, mal als soziales und / oder politisches (zoon politikon). Mal wird die Vernunftbegabung hervorgehoben (animal rationale), mal der Mensch als (zweck-)rationales, handwerklich-technisch agierendes (homo faber) und / oder instrumentell-planendes Wesen (normativ) beschrieben. Der Mensch ist als verantwortliches Wesen, das fähig (und verpflichtet) ist, Gründe für das eigene Tun zu geben, verstanden worden34 und als neugierig und wissbegierig aufgefasst worden, als kultürlich35 oder von „exzentrischer Positionalität“ dem „Gesetz natürlicher Künstlichkeit“ (Plessner 1975) unterworfen. Nach Plessner (1928) kann der Mensch als einziges Lebewesen in ein reflexives Verhältnis zu sich selbst treten und als ,von Natur aus‘ kulturschaffend angesehen werden. Weitere Kandidaten sind denkbar. Im Zeitalter der französischen Aufklärung ist bevorzugt die Metapher vom Menschen als Maschine (l’homme machine) verwendet worden (insbes. La Mettrie36, vgl. auch bereits Descartes). Manche Stimmen kommentieren die gegenwärtigen medizintechnischen Entwicklungen unter Rekurs auf gerade diese Metapher; die Neologismen der wissenschaftlich-technischen Sprache, in der von Mensch-Maschine-, und Gehirn-Maschine-Schnittstellen 37 die Rede ist, mögen diese Assoziation nahelegen. Wird der Mensch durch diese technischen EntwickDazu ausführlich Janich 1996. Vgl. diese zweite mögliche Deutungsebene des aristotelischen zoon logon echon, das einerseits als sprachbegabtes, andererseits als (auch) in Rechtsfertigungsbezüge eingebundenes Lebewesen (zoon) verstanden werden kann. 35 Vgl. Hartmann / Janich 1996, S. 31. 36 „L’Homme est une Machine si composée, qu’il est impossible de s’en faire d’abord une idée claire, et conséquemment de la définir“, La Mettrie, S. 26. 37 V. supra unter 2 a. 33 34
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lungen womöglich doch zum „Maschinen-Menschen“ oder gar „Cyborg“, wie dies in so vielen Kommentaren befürchtet wird? Das menschliche Selbstverständnis als Menschen ist, dies zeigt der Blick auf die anthropologischen Selbstentwürfe, historisch keineswegs konstant und unwandelbar.38 Es erweist sich daher als wenig hilfreich in der Bestimmung der Grenzen des wissenschaftlich-technisch Vertretbaren und Zulässigen. Die Argumentation aus der „Veränderung des Menschenbildes“ nimmt implizit eine zentrale Unterscheidung vor, die, wird sie in der ethischen Argumentation nicht explizit gemacht, die Gefahr naturalistischer Fehlschlüsse beinhaltet. Während sich deskriptive Aussagen z. B. auf eine naturwissenschaftlich angemessene Beschreibung des Menschen und seiner Funktionsweise beziehen und etwa nach seiner Spezieszugehörigkeit als homo sapiens, nach den konstitutiven, den Menschen vom Tier unterscheidenden Merkmalen fragen, kommt in der metaphorischen Rede eine normative Wendung hinzu: Der Mensch „soll“ nicht anders konzeptualisiert werden, der Mensch „soll“ nicht anders „sein“. Während wissenschaftliche Erkenntnisse dazu beitragen, die Spezifika des Menschen als homo herauszuarbeiten, so impliziert das Argument aus der Veränderung „des“ Menschenbildes eine fortschrittsabgeneigte, forschungsrestringierende normative Haltung. Jedoch erweist sich ein den rational-planenden Menschen in den Mittelpunkt stellendes (metaphorisches) Menschenbild als inkompatibel mit einem Argument aus der Veränderung „des“ Menschenbildes: Nach einem menschlichen Selbstverständnis, das den Menschen als instrumentell vernünftig und zweckrational handelnd erachtet, sind wissenschaftliche Forschung und technische Entwicklungen39 gerade Ausdruck dieses Verständnisses und führen nicht zu einem ,veränderten Menschenbild‘. Zusammenfassend ergibt sich aus der Argumentation mit dem menschlichen Selbstverständnis oder Menschenbild / ern die Gefahr naturalistischer Fehlschlüsse. Selbst die rekonstruktive Erhebung des faktisch vorhandenen (etwa im Rahmen einer quantitativen sozialwissenschaftlichen Umfrage erfragten), metaphorisch verstandenen Bild „der Menschen“ von sich als Menschen kann nur Hinweise auf mögliche Vorbehalte gegen und Aufklärungsbedarfe über wissenschaftlich-technische Entwicklungen geben. Fragen der Zulässigkeit und Grenzen medizinischwissenschaftlicher Forschung(seingriffe) lassen sich unter Rekurs auf demoskopisch-quantitativ oder auch qualitativ-explorativ erhobene Daten nicht hinlänglich beantworten. Angesichts der Vielzahl von Ansätzen, das Menschenbild zu bestimmen, scheitert eine Argumentation auf dieser Basis bereits an einem anfänglichen Auswahlproblem. 38 Daraus können sich Vorbehalte gegen den Versuch einer philosophischen Anthropologie insgesamt ergeben. Anders Plessner 1931, der zwar in ähnlicher, den Raum des Politischen eröffnender Absicht das Gesetz anthropologischer „Unergründlichkeit des Menschen“ (1931) formulierte, dies aber mit dem Aufweis der Möglichkeit philosophischer Anthropologie zu verbinden suchte. Vgl. Mittelstraß, für den der Mensch das „nicht festgestellte Wesen“ bleibt. 39 Vgl. dazu Henckel / Engel 2008.
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Sinnvoll erscheint es daher, nicht am Begriff des Menschenbildes anzusetzen, sondern im Einzelnen die Bedingungen zu bestimmen, unter denen Forschung und (medizin-) technischer Fortschritt wünschenswert erscheinen. Der instrumentellen Zweckrationalität von Technik gemäß ist auch mit Blick auf die neueren medizintechnischen Möglichkeiten ein gesellschaftlicher Selbstverständigungsdiskurs erforderlich, in welchem ein Austausch über folgende Fragestellungen erfolgt: Welche Zwecke wollen wir mit welchen Mitteln, d. h. in welcher Zweck-Mittel-Relation erreichen? Der Rekurs auf Menschenbild(er) erscheint für die Beantwortung einer so zugeschnittenen Frage nicht zuträglich. Es lassen sich nicht mittels Subsumtion unter feststehende abstrakte Menschenbild-Begriffe nach einem formalen Schlussverfahren die zulässigen von den unzulässigen Mitteln und Zwecken scheiden. Vielmehr sind im Einzelnen Gründe anzugeben für die Beschränkung von Zwecken, Mitteln und Zweck-Mittel-Relationen. Die Forderung nach Innovationsverantwortung für medizintechnische Forschung lässt sich so übersetzen als partizipative, die Öffentlichkeit einbeziehende Explorations- sowie ethisch-justifikatorische Detailarbeit. An die Stelle der Frage nach (in)kompatiblen „Menschenbildern“ tritt einerseits die Frage nach der (faktischen) Kenntnis, Akzeptanz oder Ablehnung einzelner medizintechnischer Handlungsoptionen wie neuronaler Implantate in der Bevölkerung, die – zumindest explorativ – mithilfe von Methoden qualitativer Sozialforschung erkundet werden können40 – sowie andererseits die Frage nach der (normativ-rationalen) Akzeptabilität und Rechtfertigung der Entwicklung und des Einsatzes technischer Möglichkeiten, die Eingriffe für geschützte Rechtsgüter bedeuten (können). Dies können prima facie Eingriffe in das Leben, die körperliche Unversehrtheit, das Selbstbestimmungsrecht (einschließlich der Freiheit informationeller Selbstbestimmung bzw. des Schutzes personenbezogener Daten) und die Menschenwürde einer Person sein. Bei der Frage nach der Zulässigkeit sind auch die Wirtschaftsfreiheit (Berufsausübung und unternehmerische Freiheit) sowie die Forschungsfreiheit in die Waagschale zu werfen.
IV. Innovationsverantwortung Was kann nun mit Blick auf neuronale Implantate unter Innovationsverantwortung verstanden werden? Zunächst zum Begriff der Innovationsverantwortung selbst: Das im Begriff der Innovation enthaltene ,Neue‘ kann nicht als intrinsischer Wert gerechtfertigt werden. Auch wenn dies in der medialen Auseinandersetzung um Innovationen, die symbolischen Zielvorgaben der Lissabon-Strategie der Euro40 So sind beispielsweise im Rahmen des Projekts NanoHealth („Nanotechnologie und Gesundheit – Technische Optionen, Risikobewertung und Vorsorgestrategien“) der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren e. V., an welchem die Verfasser beteiligt waren, in Bonn und Karlsruhe explorative Fokusgruppendiskussionen mit unterschiedlichen Altersgruppen zu neuronalen Implantaten veranstaltet worden. Zum Projekt vgl. http: //www. itas.fzk.de / deu / projekt / 2006 / flei0633.htm (zuletzt abgerufen am 30.09.2008).
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päischen Union41 oder der Umbenennung eines Forschungs- in Innovationsministerium42 leicht übersehen werden mag, ist das Neue dem Alten und Bekannten nicht aufgrund seiner Neuheit überlegen; es gibt keine Pflicht, das Neue zu tun. Erfindungen, neue Techniken, neue Verfahren können nur dadurch gerechtfertigt werden, dass sie gerechtfertigte Zwecke auf bessere, d. h. effizientere, ressourcenschonendere, wirksamere Weise erreichen. Typisierend erscheinen uns vor diesem Hintergrund zwei grundsätzliche Verständnisweisen des Begriffs der Innovationsverantwortung möglich. 1. Verantwortung für das Zustandekommen von Innovation Verantwortung für Innovation kann zunächst Verantwortung für das Zustandekommen von Innovation, das Hervorbringen von technischen Neuerungen und erweiterten menschlichen Handlungsoptionen bedeuten. Hier geht es weniger um eine Frage des Mittels („Wie“) und des (faktischen) Ergebnisses („Was“), sondern um die Frage des „Ob“ respektive „Dass“ von Innovation. Dies ist eng mit der Zwecksetzung von Innovation verbunden und mithin einer Frage politischer Zielfindung und Orientierung darüber, in was für einer Gesellschaft wir alle als Träger unseres politischen Gemeinwesens künftig leben möchten. In concreto betrifft diese Frage die Forschungspolitik und deren Richtungsgebung und Ressourcenallokation: Welche öffentlichen Mittel sollten in welchem Umfang für welche Zwecke bereitgestellt werden? Mittelbar – nämlich über die Frage, wer von der Verwirklichung des angestrebten Forschungszwecks in welchem Ausmaß profitieren, wer davon finanziell und in welchem Umfang belastet werden wird – handelt es sich hier um Fragen distributiver sozialer Gerechtigkeit. Im Sinne der Schaffung von Gerechtigkeit durch Verfahren (Luhmann) sollte auch aus ethischen Gründen ein geeigneter prozeduraler Ansatz gewählt werden, die Positionen von Stakeholdern als potentiell Betroffenen in den forschungspolitischen Entscheidungsfindungsprozess43 einzubeziehen.
41 Die Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung, beschlossen auf dem Europäischen Rat vom 23. und 24.03.2000, setzt entsprechend der auf Joseph Schumpeter zurückgehenden „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ (1911) auf Innovationen als Motor für wirtschaftliches Wachstum. 42 So seit Juni 2005 in Nordrhein-Westfalen, vgl. http: //www.innovation.nrw.de/index. html. 43 Dieser Gedanke und insbesondere seine konkrete verfahrensmäßige Ausgestaltung können allerdings an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden. Die Einbeziehung von (z. B.) Fokusgruppen in einem frühen Stadium der Technikentwicklung kann aber als ein mögliches Element eines solchen Beteiligungsprozesses angesehen werden.
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2. Verantwortung für die Folgen von Innovation Verantwortung für Innovation kann weiterhin im Sinne von Verantwortung für die Folgen von Innovation verstanden werden. Hier erscheint eine Unterscheidung von bezweckten, im Sinne zweckrationaler Handlungsorientierung beabsichtigten Folgen und unbeabsichtigten und / oder unerwünschten Nebenfolgen sinnvoll. Bei dieser folgenorientierten Betrachtungsweise wird Verantwortung zumeist (nur) als Zuweisung von Verantwortung für die von eingetretenen Folgen verursachten Schäden verstanden, mithin Verteilung und Zuweisung von Verantwortung ex post. Die Frage der Verantwortung für Innovation im Sinne von Folgenverantwortung kann zunächst als Verantwortungsethik in einem engeren, auf Max Weber zurückgehenden Sinne als paradigmatisch folgenorientierter Ethikansatz verstanden werden. Die Dichotomie von Gesinnungsethik einerseits und Verantwortungsethik andererseits ist aber eine verkürzende Sichtweise, beide sind keine Kontrastbegriffe zueinander. Verantwortungsethik kann auch in einem weiteren Sinn verstanden werden: Die Zwecke, um deretwillen bestimmte Mittel eingesetzt werden können, sind gemeinhin bekannt, ebenso wie manche Nebenfolgen (respektive -wirkungen), die man in Kauf zu nehmen bereit ist. Unbekannt und unabsehbar sind per definitionem die bei der (auch der verfehlten) Zweckverwirklichung auftretenden nicht intendierten Folgen. Medizintechnische Geräte wie neuronale Implantate weisen insofern keine Besonderheit im Vergleich zu anderen technischen Entwicklungen auf, als sich im Zuge von Entwicklung und Einsatz der neuen Technik auch neue Zwecke ergeben können. Gerade das Beispiel neuronaler Implantate zeigt auf, dass die Zweckdimension neuer technischer Möglichkeiten nicht auf ursprünglich beabsichtigte Ziele beschränkt bleibt. Die Möglichkeit des Einsatzes Tiefer Hirnstimulation nicht nur zur Behandlung neuromotorischer Störungen von Parkinson-Kranken, sondern darüber hinaus – derzeit noch in der experimentellen Frühphase – zur Therapie psychiatrischer Erkrankungen wie schwerer Depression oder von Zwangsstörungen (obsessive compulsive disorder, OCD), mag als ein Beispiel dienen. Dabei ist zu bedenken, dass die Entwicklung sicherer, d. h. nebenwirkungsarmer und zugleich wirksamer44 Antidepressiva noch immer eine der großen pharmakologischen Herausforderungen darstellt. Alternative und effektive Behandlungsmöglichkeiten für diese so verbreitete Krankheit sind daher ein dringendes Desiderat. Eine weitere Zweckverschiebung oder -erweiterung stellt die (in Bezug auf neuronale Implantate noch rein potentielle) Möglichkeit des Neuroenhancement dar. So ergeben sich während der Entwicklung und Anwendung einer bestimmten Technik neue Perspektiven, die – bezogen auf die Tiefe Hirnstimulation – sowohl neue therapeu44 Vgl. z. B. (statt auf Tiefe Hirnstimulation bezugnehmend auf Studien zur VagusnervStimulation) Nemeroff et al. 2006: Bei bis zu 50 % der depressiven Patienten, die an klinischen Kurzzeit-Studien mit herkömmlichen pharmazeutischen Mitteln zur Behandlung von Depression teilgenommen haben, konnte über einen Zeitraum von 6 bis 8 Wochen keine Verbesserung festgestellt werden.
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tische Anwendungsfelder (psychiatrische Erkrankungen) in den Blick nehmen als auch die (zumindest theoretisch denkbare) Anwendung zur „Verbesserung“ (Stimmungsaufhellung) gesunder Menschen. Bezogen auf medizintechnische Neuentwicklungen lassen sich die Folgen nicht klar in beabsichtigt / unbeabsichtigt, erwünscht / unerwünscht trennen; erst recht gilt dies für die Unterscheidung von therapeutischen Anwendungen einerseits und „Enhancement“-Maßnahmen andererseits. Dennoch – und hier ergibt sich ein regulatorisch relevantes Spannungsfeld – ist in Bezug auf die Relation von Mitteln zu Zwecken danach zu fragen, unter welchen Umständen neue und innovative Mittel überhaupt für die Erreichung bestimmter Zwecke eingesetzt werden dürfen. Die rechtliche Dimension der Folgenverantwortung ex post einmal ausgeklammert, betrifft dies zunächst die Frage der Forschungsethik. Unter welchen Bedingungen dürfen neue technische Mittel am Menschen erprobt werden? 3. Innovationsverantwortung als Problem der Humanforschung Die Weiterentwicklung neuronaler Implantate bedarf zwingend der Forschung am Menschen: So können etwa bei der Entwicklung eines sub- oder epiretinalen Sehimplantats die Transduktionsprozesse am nervus opticus, die Zusammenhänge von elektrischer Sehnervreizung und der Entstehung visueller Wahrnehmung45 nur am menschlichen Probanden erforscht werden. Die genannten medizinethischen Prinzipien stecken grosso modo auch den Rahmen für die Forschung am Menschen ab46 und haben (in unterschiedlichem Ausmaß) Eingang in den rechtlichen Rahmen der Humanforschung gefunden.47 Angesichts der sich heute abzeichnenden Möglichkeiten der Verbesserung und Erweiterung menschlicher Fähigkeiten (nicht nur) durch neuronale Implantate stellt sich die Frage, inwieweit dieser Rahmen geeignet ist, auch die (künftigen) Entwicklungen von Enhancement-Anwendungen angemessen zu flankieren. Dies kann und sollte ebenso als eine rechtspolitische Aufgabe verstanden werden. Aus der Stellungnahme der EGE geht e contrario48 hervor, dass Forschung am Menschen zu Zwecken des Enhancement ganz abge45 Diese sind gegenwärtig noch weitgehend ungeklärt. Die elektrische Reizung lässt sogenannte Phosphene entstehen, die unter bestimmten Voraussetzungen visuelle Wahrnehmung bewirken. 46 Ein besonderes, vor allem unter das Prinzip der Autonomie zu subsumierendes Problem stellt stets die Forschung mit Kindern, Jugendlichen und anderen selbst nicht einwilligungsfähigen Testpersonen dar. 47 EGE 2005, S. 103: Die Richtlinie 2001 / 20 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 04. 04. 2001 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung der guten klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln ist – definitionsgemäß – nicht auf neuronale Implantate, die als Medizinprodukte gelten, anwendbar. 48 EGE 2005, S. 108: Einwilligung nach vorheriger Aufklärung der gesunden Freiwilligen oder Patienten, „die ihre Bereitschaft zur Teilnahme an neuen Versuchen zur Wiederherstellung der Gesundheit bekundet haben“ – damit ist Enhancement exkludiert.
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lehnt wird. Dies wird von ihr nicht weiter begründet, muss aber kein zwingendes Ergebnis ethischer Beurteilung sein. Wie können adäquate normative Grenzziehungen erfolgen, die einerseits dem Selbstbestimmungsrecht des einzelnen, seinem Interesse am Schutz seiner Privatsphäre, am Schutz seiner Daten, gerecht werden und andererseits der Forschungs- und Wirtschaftsfreiheit (etwa der Medizintechnikhersteller) ausreichend Raum lassen, um Innovation zuallererst einmal zu ermöglichen? Wie muss ein rechtlicher Rahmen aussehen, der es ermöglicht, gezielt Forschung zu Zwecken des Enhancement menschlicher Fähigkeiten zu betreiben? Nicht nur die rechtlichen Bestimmungen zur Humanforschung, auch der medizin- / arztrechtliche Rahmen sind derzeit nicht auf die Möglichkeiten einer nichttherapeutischen Anwendung von pharmakologischen und medizintechnischen Maßnahmen bei Gesunden zugeschnitten. Unter dem Stichwort „Wunschmedizin“49 werden aber gegenwärtig vermehrt die fließenden Grenzen diskutiert, die eine klare Trennung von medizinisch notwendiger und nur erwünschter Behandlung verhindern. Zielt die Forschung nur auf Zwecke einer künftigen Verbesserung des Menschen ab, so dürfte sich die Risiko-Nutzen-Abwägung dergestalt darstellen, dass die Risiken, um als zumutbar erachtet zu werden, deutlich kleiner ausfallen müssen als dies bei Forschung zu ,traditionellen‘ therapeutisch-kurativen Zwecken der Fall sein dürfte. Dies spricht dafür, dass keine irreversiblen Mittel erforscht werden dürfen. Auch die Erforschung invasiver Mittel zu ausschließlich nicht-therapeutischen Zwecken erscheint fraglich. Selbst wenn die übrigen Anforderungen an Humanforschung (Forschung am Menschen) wie freiwillige, inhaltlich anspruchsvolle aufgeklärte Einwilligung (free, informed consent) vorliegen sollten, so wäre etwa die Erforschung der Anwendung von Tiefer Hirnstimulation zur (bloßen) Stimmungsaufhellung bei gesunden Menschen („Zufriedenheitsgefühle auf Knopfdruck“) aus Risikoerwägungen abzulehnen. Der gegenwärtige Rahmen für Forschung am Menschen bezieht sich auf Forschung zu medizinischen Zwecken.50 Wenn etwa gefragt wird, ob ein bestimmtes Vgl. nur Eberbach 2008. Die einschlägigen Rechtsgrundlagen beinhalten keine auf reine Enhancement-Anwendung bezogenen Vorschriften; die Annahme liegt nahe, Enhancement-Forschung nicht als verboten, sondern als ungeregelt zu betrachten. In der Praxis müssen aber projektierte klinische Studien zu Medizinprodukten institutionelle Ethik-Kommissionen „passieren“, in denen zunächst einmal geprüft wird, ob es sich möglicherweise um Forschung zu nicht-therapeutischen Zwecken handeln könnte. Vgl. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Medizinproduktegesetz (MPG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 07.08.2002 (BGBl. I, S. 3146): „Die klinische Prüfung eines Medizinproduktes darf bei Menschen nur durchgeführt werden, wenn und solange die Risiken, die mit ihr für die Person verbunden sind, bei der sie durchgeführt werden soll, gemessen an der voraussichtlichen Bedeutung des Medizinproduktes für die Heilkunde ärztlich vertretbar sind“ (Hervorhebung durch die Verfasser). Dieses Gesetz dient der Umsetzung u. a. der Richtlinie 90 / 385 / EWG des Rates vom 20.06.1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über aktive implantierbare medizinische Geräte (ABl. L 189 S. 17) sowie der Richtlinie 93 / 42 / EWG des Rates vom 14.06.1993 über Medizinprodukte (ABl. L 169 S. 1). Die Voraussetzungen klinischer Prüfungen sind für Arzneimittel in den §§ 40 ff. Arzneimittelgesetz (AMG) wesentlich detaillierter als in den §§ 20 ff. MPG, das sich jedoch grundsätzlich am AMG orientiert. 49 50
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Arzneimittel eigen-, gruppen- oder fremdnützig für den als Proband in Frage kommenden Patienten ist, so wird der Nutzen in Bezug auf die medizinische Situation des Patienten beurteilt. Forschung mit Gesunden findet im Rahmen klinischer Arzneimittelforschung grundsätzlich (nur) in der sogenannten „Phase I“ statt; zuvor haben Versuche mit Tiermodellen stattgefunden („Phase 0“), in der ersten Phase geht es dann um allgemeine Verträglichkeits- und Toxizitätstests. Das spezifische Wirkungspotential der Prüfsubstanz wird hier nicht getestet. Deshalb liegen gegenwärtig kaum Erkenntnisse zur Anwendung von potentiellen pharmazeutischen ,Enhancement-Präparaten‘ bei Gesunden vor. Unter der Annahme, dass sich gesellschaftlicher Konsens darüber abzeichnete, dass künftig auch und vermehrt der Einsatz von Enhancement-Mitteln erwünscht ist, sollte daher darüber nachgedacht werden, einen eigenen forschungsrechtlichen Rahmen dafür zu schaffen. Zur Zeit dürften Forschungsvorhaben, die sich auf Enhancement beziehen, vielfach am Veto der institutionellen Ethik-Kommissionen scheitern, die auch im Rahmen des Medizinprodukterechts vorgesehen51 sind. Die Ethik-Kommissionen beziehen sich dabei vor allem auf die ungünstige Risiko-Nutzen-Prüfung: Liegt kein unmittelbarer medizinischer Zweck der Forschung vor und können die Risiken kaum ermittelt werden, sind die Hürden der medizinischen Vertretbarkeit einer klinischen Studie höher. Gerade dies kann sich aber in der Perspektive der Innovationsverantwortung als problematisch erweisen: Sollte der Wunsch nach Enhancement eines Tages weiter verbreitet sein, so bedarf es der Ergebnisse der Forschung an Gesunden, um einen sicheren Gebrauch der Mittel zu ermöglichen. Inwieweit sich rechtspolitisch ein solch liberaler Entwurf durchsetzen könnte, erscheint fraglich. Es ergibt sich ein Anfangsproblem, denn zunächst müsste eine offene gesellschaftliche Diskussion über die Wünschbarkeit und die Möglichkeiten des Einsatzes von Enhancement-Mitteln geführt werden. Dabei müsste darauf hingewiesen werden, dass zur besseren Einschätzung von Risiken und möglichen unerwünschten Wirkungen größerer Forschungsaufwand erforderlich wäre. Dazu müssten aber die forschungsrechtlichen Rahmengebungen geändert werden. Auf die Kurzformel gebracht: „Ohne Forschung kein Risikowissen; ohne Risikowissen keine gesellschaftliche Akzeptanz; ohne gesellschaftliche Akzeptanz keine Forschung.“ Gegenwärtig wird z. B. in der Schweiz ein neuer Verfassungsartikel zur Forschung am Menschen diskutiert. Das Gesetz dazu ist in Vorbereitung. Bisher beschränkt sich der Gesetzentwurf auf die Forschung zu medizinischen Zwecken. Einzelne Experten plädieren aber dafür, auch das Enhancement darin aufnehmen. Neben der Frage der Ermöglichung innovativer Forschung und der Schaffung geeigneter rechtlicher Rahmenbedingungen für die Erforschung und Anwendung 51 Vgl. § 20 Abs. 7 und 8 Medizinproduktegesetz (MPG). Das Erfordernis der Einholung des Votums einer Ethik-Kommission ergibt sich für forschende Mediziner ebenfalls aus der Deklaration von Helsinki (World Medical Association Declaration of Helsinki: Ethical Principles for Medical Research Involving Human Subjects, zuletzt geändert durch die 52. WMA General Assembly in Edinburgh 2000; s. http:: / / wma.net / e / policy / 17c.pdf; zuletzt angesehen am 29.09.2008) und § 15 Abs. 5 der Musterberufsordnung (MBO) der Bundesärztekammer.
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neuronaler Implantate und anderer medizintechnischer (und pharmazeutischer) Neuerungen stellt sich eine Frage nach möglichen prinzipiellen Grenzen menschlicher Selbstbestimmung und Selbstmanipulation. Sollte es Bereiche des menschlichen Körpers oder der Psyche geben, die von Selbstverfügbarkeit und Autonomiegebrauch des einzelnen ausgenommen werden? Denkbar wären etwa die Unterbindung einer gezielten und auf Dauer angelegten Elimination der Selbstbestimmungsfähigkeit eines Individuums oder die dauerhafte Auslöschung des Erinnerungsvermögens (nicht: einzelner Erinnerungen52). Ex cathedra erscheint eine solche Grenzziehung nicht möglich. In der Stellungnahme der EGE nimmt die Argumentation für ein Verbot der „Verwendung von IKT-Implantaten zur Änderung der Identität, des Gedächtnisses sowie der Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung Anderer“53 auf Grundlage der Menschenwürde breiten Raum ein. Die Frage stellt sich, inwieweit der Schutzgedanke, der im Verfassungsgrundsatz der Menschenwürde enthalten ist, zu einer Grenzziehung tauglich ist, mittels der sich zulässige von unzulässigen Versuchen der Verwirklichung individueller Selbstentwürfe scheiden lassen. Kann der verfassungsrechtlich verankerte Grundsatz der Menschenwürde die Grundlage für einen „weichen Paternalismus“ des Gesetzgebers abgeben und Grenzen dessen ziehen, welche Veränderungen – die rein subjektiv oder sogar objektiv als Verbesserungen zu betrachten sein mögen – der einzelne an sich vornehmen (lassen) darf? Sollte es kategorische Verbote der Veränderung bestimmter kognitiver Fähigkeiten geben? Dagegen spricht die semantische und praktische Unmöglichkeit der trennscharfen Unterscheidung von therapeutischen und „verbessernden“ Anwendungen und Zielsetzungen. Die bereits zitierte Forschung zur Unterdrückung des Erinnerungsvermögens könnte sich mit Blick auf bestimmte medizinische Indikationen als vielversprechend erweisen, als Neuroenhancement aber durchaus bedenklich sein. Die pauschale Verbotsforderung der EGE erscheint angesichts dieser Abgrenzungsprobleme verfehlt. Nicht nur bei der Unterscheidung von Forschungszwecken (Therapie vs. Enhancement), auch innerhalb der Bandbreite von Therapieforschung, hier verstanden als Forschung zu Therapiezwecken, d. h. zur Erlangung therapeutisch anwendbarer Erkenntnisse ist der Mitteleinsatz nach Maßgabe des angestrebten Ziels und des erwarteten Nutzens zu rechtfertigen: So wird gegenwärtig in einzelnen Pionierstudien bzw. Heilversuchen die Möglichkeit des Einsatzes Tiefer Hirnstimulation zur Behandlung psychischer Erkrankungen erforscht. Während dabei therapie-refraktäre Patienten, die z. B. an schweren depressiven Störungen leiden, als Testpersonen in den Blick genommen werden, so steht außer Frage, minder schwere Formen von Depression auch weiterhin pharmakotherapeutisch und / oder mittels anderer, nichtpharmazeutischer Therapieformen zu behandeln. Eine der wichtigsten ethischen Fragen, die gegenwärtig die Entwicklung und Erforschung der thera52 Kontrovers diskutiert wird im biomedizinethischen Schrifttum derzeit die Gabe von Propanolol oder anderen sog. memory-altering drugs zur Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen (post-traumatic stress disorder, PTSD); vgl. grundlegend Henry et al. 2007. 53 EGE 2005, S. 111. Zur Menschenwürde s. auch ibid., S. 88 – 90, 97 – 100, 106 f., 110 f.
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peutischen Möglichkeiten der Tiefen Hirnstimulation begleiten, betrifft daher die Kriterien der Patientenselektion zur Einbeziehung in klinische Versuche. Diese hochriskanten neurochirurgischen Eingriffe, die nicht nur im Zusammenhang mit der Operation Infektions- und andere Risiken beinhalten, sondern auch potentielle weitere Nebenwirkungen wie Gesichtslähmungen, Angstphänomene und Stimmungsschwankungen sowie langfristige (noch unbekannte) Folgen aufweisen können,54 werden – entgegen anderslautender, z. T. irreführender bahnbrechender – Erfolgsmeldungen derzeit nur in kleinem Umfang vorgenommen, bevor in der Zukunft größere klinische Studien erfolgen können.
V. Zusammenfassung und rechtspolitischer Ausblick Neuronale Implantate bieten vielfältige und vielversprechende medizinisch-therapeutische Perspektiven. Welche der grundsätzlich vorstellbaren Möglichkeiten in der nahen und fernen Zukunft tatsächlich realisiert werden können, muss an dieser Stelle Spekulation bleiben. Umso wichtiger erscheint es, die Entwicklungsprozesse – gerade mit Blick auf die Möglichkeit des Neuroenhancement – schon frühzeitig und vorausschauend mit ethischer Reflexion zu begleiten sowie die Öffentlichkeit in die Diskussion darüber einzubeziehen, was als möglich, wünschbar und / oder akzeptabel anzusehen ist, was hingegen einzuschränken oder zu verbieten sein könnte. Innovationsverantwortung für neuronale Implantate sollte daher dahingehend übersetzt werden, über die Chancen, Risiken, Perspektiven und Bedenken hinsichtlich der gegenwärtigen und künftigen neuen Möglichkeiten, in das menschliche Gehirn einzugreifen, eine breite gesellschaftliche Debatte zu führen. Innovationsverantwortung kann nur transdisziplinär55, d. h. unter Einbeziehung der Perspektiven verschiedener relevanter Wissenschaftsdisziplinen (auch: Ethik und Rechtswissenschaft) und der Öffentlichkeit stattfinden. Sowohl das Humanforschungs- als auch das Medizinprodukterecht gehören hinsichtlich ihrer Tauglichkeit zur Regelung von Neuroenhancement-Implantaten auf den Prüfstand. Insgesamt ist ein gesellschaftlicher Verständigungsprozess darüber erforderlich, ob und in welchem Umfang wir von künftig sicherlich vermehrt zur Verfügung stehenden Möglichkeiten des Neuroenhancement Gebrauch machen möchten. Dabei sollte der Eigenverantwortlichkeit des einzelnen entscheidendes Gewicht zukommen. Dies ist nur möglich, wenn vorurteilsfrei, d. h. ohne von vornherein den Gebrauch zu verteufeln, ohne aber zugleich Enhancement als unbedingt erstrebenswert für unser künftiges individuelles und gesellschaftliches Leben darzustellen, in der Öffentlichkeit über Enhancement berichtet und – zum Beispiel in partizipativen Verfahren wie Fokusgruppen – über die neuen medizinisch-technischen Möglichkeiten diskutiert wird. Die Debatte ist eröffnet.
54 55
Vgl. etwa Appleby et al. 2007. Vgl. dazu Hoffmann-Riem 2006.
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Innovationsverantwortung im Chemikalienrecht Von Eckhard Pache
I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 II. Das System der REACH-Verordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 III. Innovationsrelevante Instrumente und Regelungen der REACH-Verordnung . . . . . 255 1. Registrierungspflicht für Alt- und Neustoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 2. Regulierte Eigenverantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 a) Risikoabschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 b) Risikomanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 3. Informationsfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 4. Substitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 5. Gemeinsame Datenermittlung und -nutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
I. Einführung Das europäische Chemikalienrecht galt lange Zeit als ausgesprochen unsystematisch, schwerfällig und ineffektiv zum Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt vor den Risiken der Herstellung, des Importes und der Nutzung chemischer Stoffe.1 Die unglückliche Kombination der präventiven Kontrolle nur weniger Neustoffe in einem obligatorischen Anmeldeverfahren mit einer lediglich nachsorgenden Überwachung der etwa 30.000 Altstoffe2 – parallel zu deren Weitervermarktung – 1 SRU, Umweltgutachten 2004, Tz. 972 ff.; Eckhard Pache, Gefahrstoffrecht, in: Koch, Hans-Joachim (Hrsg.), Umweltrecht, 2. Aufl. 2007, § 12 Rn. 105; Hans-Werner Rengeling, Europäisches Chemikalien- und Stoffrecht, DVBl. 2005, S. 393 (394); Eckard Rehbinder, Chemikalienrecht, in: Rengeling, Hans-Werner (Hrsg.), Handbuch zum deutschen und europäischen Umweltrecht (EUDUR), Band II, 2. Aufl. 2003, § 61 Rn. 206; Ralf Nordbeck / Michael Faust, Innovationswirkungen der europäischen Chemikalienregulierung: eine Bewertung des EU-Weißbuchs für eine zukünftige Chemikalienpolitik, ZfU 2002, S. 535 (541). 2 Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe, zur
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auf der Grundlage von Stoffinformationen, die die Hersteller oder Importeure der Stoffe beibringen sollten, ohne dass Anreize für diese Informationsbeibringung bestanden, führte dazu, dass sich insbesondere das europäische Altstoffregime als grundsätzlich ungeeignet zur wirksamen Identifizierung und Beschränkung der Gesundheits- und Umweltrisiken des größten Teils der in der EU verwendeten chemischen Stoffe erwies.3 Zugleich wirkte dieses Regulierungssystem durch die verfahrensrechtliche und faktisch auch materielle Privilegierung der Altstoffe tendenziell innovationsfeindlich.4 In der chemischen Industrie der EU wurden signifikant weniger neue chemische Substanzen entwickelt und hergestellt als in der chemischen Industrie Japans oder der USA, die chemische Industrie Europas konzentrierte sich statt der Entwicklung anmeldepflichtiger neuer Stoffe eher auf nicht anmeldepflichtige neue Anwendungen alter Stoffe.5 Die erkannten Defizite und Mängel dieses Systems haben zu einer grundsätzlichen und umfassenden Reform des europäischen Chemikalienrechts geführt.6 Zentrales Element dieser Reform war der Erlass der REACH-Verordnung7 im Dezember 2006, die zum 01. Juni 2007 in Kraft getreten ist8 und nunmehr den einheitlichen rechtlichen Rahmen für das Stoffrecht in der EU bildet.9 Erklärtes Schaffung einer Europäischen Agentur für chemische Stoffe sowie zur Änderung der Richtlinie 1999 / 45 / EG und der EG-Verordnung über persistente organische Schadstoffe, KOM (2003) 644 endg., S. 6. 3 Nordbeck / Faust (Fn. 1), S. 536 ff. 4 Rehbinder (Fn. 1), § 61 Rn. 211; Nordbeck / Faust (Fn. 1), S. 535. 5 Nordbeck / Faust (Fn. 1), S. 554 ff. 6 Siehe hierzu Andrea Kuhn, REACH – Das neue europäische Regulierungssystem für Chemikalien – Zugleich ein Vergleich der unterschiedlichen Regulierungsstrategien in der Europäischen Union, den USA und Japan, Dissertation, Würzburg 2009, im Erscheinen. 7 Verordnung (EG) Nr. 1907 / 2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH), zur Schaffung einer europäischen Agentur für chemische Stoffe, zur Änderung der Richtlinie 1999 / 45 / EG und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 793 / 93 des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 1488 / 94 der Kommission, der Richtlinie 76 / 769 / EWG des Rates sowie der Richtlinien 91 / 155 / EWG, 93 / 67 / EWG, 93 / 105 / EG und 2000 / 21 / EG der Kommission, ABl. L 396 vom 30. 12. 2006, S. 1; Berichtigung in ABl. L 136 vom 29. 05. 2007, S. 3 und in ABl. L 141 vom 31. 05. 2008, S. 22. 8 Siehe zu Inkrafttreten und Anwendung der Verordnung Art. 141 VO (EG) 1907 / 2006. 9 Kristian Fischer, REACH – Das neue europäische Chemikalienrecht, DVBl. 2007, S. 853 (853 ff.); Michael Lulei / Dieter Fink / Angelika Hanschmidt, Bewertung der REACH-Verordnung, StoffR 2007, S. 21 (21 ff.); Uwe Lahl, REACH – Bewertung der politischen Einigung, StoffR 2006, S. 238 (240); Martin Führ, Registrierung und Bewertung von Stoffen: RisikoManagement entlang der Wertschöpfungskette, in: Hendler, Reinhard / Marburger, Peter / Reiff, Peter / Schröder, Meinhard (Hrsg.), Neues Europäisches Chemikalienrecht (REACH), UTR (96) 2008, S. 87 (87 ff.); Katharina Kern, Chemikalienrecht im Aufbruch – zum REACH-Verordnungsentwurf der EG-Kommission vom 29. 10. 2003, ZUR 2005, S. 68 (68 ff.); Rengeling (Fn. 1), S. 393 f.
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Ziel der Reform war nicht nur, ein hohes Schutzniveau für die menschliche Gesundheit und die Umwelt und den freien Verkehr von Stoffen im Binnenmarkt sicherzustellen, sondern ebenso die Wettbewerbsfähigkeit und die Innovation zu verbessern, wie Art. 1 Abs. 1 der REACH-Verordnung ausdrücklich festlegt.10 Welche Regulierungsansätze und -instrumente hat also der Gemeinschaftsgesetzgeber in einer aktuellen, systematisch angelegten und auf Verbesserung der Innovation und Innovationsfähigkeit der chemischen Industrie in Europa angelegten Kodifikation eines weitgehend als Risikoverwaltungsrecht einzuordnenden Teilgebiets des europäischen Umweltrechts gewählt? Dieser Frage soll der folgende Beitrag nachgehen, indem er 1. zunächst einen knappen Überblick über das System der REACH-Verordnung gibt, 2. besonders innovationsrelevante Regelungen herausgreift und näher erläutert und 3. in einem Fazit eine kurze Bewertung der Innovationsverantwortung nach REACH vornimmt.
II. Das System der REACH-Verordnung Kernelement der REACH-Verordnung ist die obligatorische Registrierung aller Stoffe, die in der EG als solche, in Zubereitungen oder in Erzeugnissen hergestellt oder in Verkehr gebracht werden.11 Unter grundsätzlicher Aufgabe der bisherigen Differenzierung zwischen Alt- und Neustoffen12 wurde generell seit dem 01. Juni 2008 eine Registrierungspflicht für alle Stoffe eingeführt13, allerdings mit mengenabhängigen Übergangsfristen für vorregistrierte, nunmehr als Phase-In-Stoffe bezeichnete Altstoffe bis ins Jahr 2018.14 10 So schon die Kommission in ihrem Weißbuch „Strategie für eine zukünftige Chemikalienpolitik“, KOM (2001) 88 endg., S. 7 f.; siehe auch Erwägungsgründe Nr. 1 und Nr. 2 VO (EG) 1907 / 2006. 11 Lulei / Fink / Hanschmidt (Fn. 9), S. 21. 12 Diese Differenzierung beruhte vor allem auf der Richtlinie 67 / 548 / EWG des Rates vom 27. 06. 1967 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung gefährlicher Stoffe (Gefahrstoffrichtlinie), die für den nur kleinen Anteil der auf dem europäischen Binnenmarkt vorhandenen chemischen Neustoffe ein Regelungsregime der Anmeldepflicht vor deren Inverkehrbringen bzw. deren Einfuhr vorsah, während für den großen Teil der chemischen Altstoffe nach der Verordnung (EWG) 793 / 93 des Rates vom 23. 03. 1993 zur Bewertung und Kontrolle der Umweltrisiken chemischer Altstoffe (Altstoff-Verordnung) eine Anmeldung mitsamt Informationsbeibringung vor ihrer Vermarktung nicht vorgesehen war, diese Stoffe also zunächst frei in Verkehr gebracht werden konnten und Stoffinformationen lediglich parallel zur Vermarktung der jeweiligen Stoffe bzw. im Nachhinein erhoben werden mussten. 13 Titel II, „Registrierung von Stoffen“, Art. 5 ff. VO (EG) 1907 / 2006.
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Alle Stoffe dürfen nach Ablauf der Registrierungsfrist grundsätzlich erst nach Registrierung, die unter Vorlage der hierfür erforderlichen Angaben und Daten bei der neu eingerichteten Europäischen Chemikalienagentur 15 zu erfolgen hat, in der EG vermarktet werden.16 Registrierungspflichtig ist der Hersteller oder Importeur eines Stoffes mengenabhängig ab Herstellung oder Import einer Tonne des Stoffes jährlich.17 Zur Registrierung muss der Registrant der Europäischen Chemikalienagentur ein Stoffdossier mit Informationen zum Stoff, insbesondere seinen physikalisch-chemischen Daten sowie toxikologischen und ökotoxikologischen Informationen, vorlegen.18 Die für die Registrierung erforderlichen Informationen sind vom Registranten zu ermitteln.19 Der Umfang der beizubringenden Informationen im Einzelnen richtet sich nach der vom Registranten produzierten oder importierten Menge des Stoffes.20 Die Prüfprogramme und die erforderlichen beizubringenden Angaben sind im Einzelnen in den Anhängen VII bis X der REACH-Verordnung festgelegt. An die Registrierung kann sich eine Bewertung21 der eingereichten Stoffdossiers22 durch die Europäische Chemikalienagentur anschließen, die bei unvollständigen oder mangelhaften Dossiers fehlende Informationen nachfordern kann. Eine solche Dossierbewertung soll bei mindestens 5 % der eingegangenen Dossiers erfolgen. Eindeutig geregelte Konsequenzen für erfolglos bleibende Nachforderungen und damit dauerhaft mangelhafte Dossiers sieht die REACH-Verordnung nicht vor, für diesen Fall erscheint die Rücknahme der Registrierung mit der Folge eines Herstellungs- und Vermarktungsverbots als angemessene Konsequenz.23 14 Siehe zu den Übergangsfristen im Rahmen der Registrierung Art. 23 VO (EG) 1907 / 2006. 15 Siehe hierzu Clemens Weidemann, REACH: Grundfragen des Vollzugs, insbesondere durch die ECHA, sowie des Rechtsschutzes, StoffR 2007, S. 232 (232 ff.). 16 Es gilt der Grundsatz „Ohne Daten kein Markt“, Art. 5 VO (EG) 1907 / 2006. Für die schon nach RL 67 / 548 / EWG (Gefahrstoffrichtlinie) angemeldeten Stoffe siehe Art. 24 VO (EG) 1907 / 2006. Diese Stoffe gelten als registriert nach Titel II der REACH-VO, es müssen aber Informationen gemäß den Anforderungen der REACH-VO beigebracht werden, sofern sich an den jeweiligen Mengenschwellen etwas ändert. 17 Art. 6 f. VO (EG) 1907 / 2006. 18 Siehe inhaltlich zu den Informationspflichten die Art. 10, Art. 12 und Art. 14 VO (EG) 1907 / 2006. 19 Normiert ist diese Eigenverantwortlichkeit in Art. 1 Abs. 3 VO (EG) 1907 / 2006; siehe hierzu vor allem Führ (Fn. 9), S. 92. 20 So sieht Art. 10 Abs. 1 lit. b die Erstellung eines Stoffsicherheitsberichts auf Grundlage einer Stoffsicherheitsbeurteilung vor, die nach Art. 14 durchzuführen ist, wenn ein Stoff in Mengen von 10 Tonnen oder mehr pro Jahr und Registrant registriert wird. 21 Titel VI, „Bewertung“, Art. 40 ff. VO (EG) 1907 / 2006. 22 Art. 41 – 43 VO (EG) 1907 / 2006. 23 Führ (Fn. 9), S. 111 f.
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Vorgesehen ist weiter eine vom individuellen Registrierungsdossier unabhängige Stoffbewertung24, die auf die Evaluierung prioritärer Stoffe nach Maßgabe eines von der Europäischen Chemikalienagentur zu erstellenden Aktionsplanes zielt, in den Stoffe aufzunehmen sind, für die aufgrund der Dossierbewertung oder aufgrund sonstiger geeigneter Quellen Gründe die Annahme rechtfertigen, dass diese Stoffe ein Risiko für die menschliche Gesundheit oder für die Umwelt darstellen. Diese Stoffe werden auf der Grundlage der in den Registrierungsdossiers vorgelegten Informationen von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bewertet. Falls weitere Informationen erforderlich sind, können diese vom Registranten nachgefordert werden. Als Ergebnis der Stoffbewertung prüft die zuständige mitgliedstaatliche Behörde, ob eine der weiteren nach der REACH-Verordnung möglichen Maßnahmen erforderlich ist. Die REACH-Verordnung ermöglicht als weitere Maßnahmen – erstmals im allgemeinen Recht der Industriechemikalien 25 – die Einführung eines Zulassungsverfahrens für Verwendungen von Stoffen mit bestimmten besonders besorgniserregenden Eigenschaften.26 Die Zulassungsbedürftigkeit wird durch die Aufnahme eines solchen Stoffes in Anhang XIV der REACH-Verordnung begründet. Über einen Zulassungsantrag entscheidet die Europäische Kommission, eine Zulassungsentscheidung besitzt gemeinschaftsweite Wirkung. Schließlich ermöglicht die REACH-Verordnung in Anlehnung an die Regelungen der bisherigen Beschränkungsrichtlinie27 die Festlegung aller erforderlichen Arten von Beschränkungen28, die durch Aufnahme dieser Beschränkungen in Anhang XVII der Verordnung erfolgen.
III. Innovationsrelevante Instrumente und Regelungen der REACH-Verordnung Welches sind nun die innovations- oder innovationsverantwortungsrelevanten Bestimmungen im REACH-System des europäischen Chemikalienrechts? Zunächst ist hervorzuheben, dass REACH keine grundsätzlich neuen Regulierungsansätze oder Instrumente ins europäische Chemikalienrecht einführt. Neu im allgemeinen europäischen Chemikalienrecht ist allein die Schaffung eines ZulasArt. 44 – 48 VO (EG) 1907 / 2006. Rehbinder (Fn. 1), § 61 Rn. 15, 211 f.; Nordbeck / Faust (Fn. 1), S. 551 Uwe Hansmann, Organisation und Zuständigkeiten beim Verwaltungsvollzug im europäischen Stoffrecht, 2007, S. 48; Rengeling (Fn. 1), S. 397. 26 Titel VII, „Zulassung“, Art. 55 ff. VO (EG) 1907 / 2006. 27 RL 76 / 769 / EWG, „Beschränkungsrichtlinie“, ABl. L 262 vom 27. 09. 1976, S. 201. 28 Titel VIII, „Beschränkungen für die Herstellung, das Inverkehrbringen und die Verwendung bestimmter gefährlicher Stoffe, Zubereitungen und Erzeugnisse“, Art. 67 ff. VO (EG) 1907 / 2006. 24 25
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sungsverfahrens für Verwendungen bestimmter besonders gefährlicher Stoffe29, bisher vorgesehen nur für besondere Bereiche wie etwa das Arzneimittel- oder das Pflanzenschutzmittelrecht 30, und neu ist darüber hinaus die nunmehr gewählte konkrete Ausgestaltung und Kombination verschiedener Regulierungsansätze, also der aktuelle Instrumentenmix des neuen europäischen Chemikalienrechts. Dennoch ist es durchaus berechtigt, im Zusammenhang mit REACH von einem Paradigmenwechsel des europäischen Chemikalienrechts zu sprechen.31 Warum? 1. Registrierungspflicht für Alt- und Neustoffe Ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel besteht vor allem in der grundsätzlichen Aufgabe der Unterscheidung zwischen Alt- und Neustoffen, der das bisherige europäische Chemikalienrecht prägte und der den fast vollständigen Mangel an Informationen über den Großteil der in der EU auf dem Markt befindlichen Altstoffe bewirkt hat.32 REACH wird zur zeitlich gestaffelten Bereitstellung von im einzelnen normativ festgelegten Basisinformationen über etwa 30.000 in der EG auf dem Markt befindliche Altstoffe durch die Hersteller und Importeure führen, für die bislang kein Anreiz zur Lieferung dieser Informationen bestand.33 Die Neu- und die Altstoffbewertung werden miteinander harmonisiert, hinsichtlich beider Stoffgruppen wird durch REACH künftig grundsätzlich eine normativ strukturierte Risikoabschätzung gewährleistet.34 Durch diese Regelung werden – über die Informationsgenerierung hinsichtlich der Altstoffe hinaus – einerseits Innovationshemmnisse aufgrund der bisherigen verfahrensrechtlichen Privilegierung von Altstoffen, die die Attraktivität der Entwicklung von neuen Stoffen minderte, beseitigt.35 Die den Stoffverantwortlichen obliegende Prüfpflicht für Altstoffe dürfte außerdem dazu führen, dass die StoffNordbeck / Faust (Fn. 1), S. 551; Rengeling (Fn. 1), S. 397. Siehe zum Pflanzenschutzmittelrecht Eckhard Pache, Einführung zum Pflanzenschutzmittelrecht, in: Fluck, Jürgen / Fischer, Kristian / von Hahn, Anja (Hrsg.), REACH + Stoffrecht, Kommentar, 2008, S. 1 (1 ff.); ders., Gefahrstoffrecht, in: Koch, Hans-Joachim (Hrsg.), Umweltrecht, 2. Aufl. 2007, § 12 Rn. 124 ff. 31 So Führ (Fn. 9), S. 89. 32 Harald Ginzky, Rechtsfragen zur Reform der Altstoffregulierung, NVwZ 2003, S. 792 (793); ders., Vermarktungsbeschränkungen von gefährlichen Chemikalien, NVwZ 2001, S. 536 (536); Wolfgang Köck, Zur Diskussion um die Reform des Chemikalienrechts in Europa – Das Weißbuch der EG-Kommission zur zukünftigen Chemikalienpolitik, ZUR 2001, S. 303 (304); Erwägungsgrund Nr. 9 VO (EG) 1907 / 2006. 33 KOM (2001), 88 endg., S. 20; Nordbeck / Faust (Fn. 1), S. 541. 34 Fischer (Fn. 9), S. 853 ff.; Führ (Fn. 9), S. 118 ff. 35 Eckard Rehbinder, in: Fluck, Jürgen / Fischer, Kristian / von Hahn, Anja (Hrsg.), REACH + Stoffrecht, Kommentar, 2008, Art. 1 VO (EG) 1907 / 2006 Rn. 26; Nordbeck / Faust (Fn. 1), S. 555. 29 30
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verantwortlichen – auch angesichts der Verfahrenskosten einer Registrierung36 – von der Registrierung besonders bedenklicher Altstoffe absehen und sich um deren Substitution durch unbedenklichere alte oder innovative neue Stoffe bemühen.37 2. Regulierte Eigenverantwortlichkeit Zweiter wichtiger innovationsrelevanter Aspekt von REACH ist die regulierte Eigenverantwortlichkeit der Hersteller und Importeure für ihre Stoffe38, in die als sekundäre Stoffverantwortliche teilweise auch die nachgeschalteten Anwender der Stoffe einbezogen werden.39 Diese regulierte und teilweise auch kontrollierte Eigenverantwortung betrifft vor allem zwei Aspekte: die Generierung der für die Registrierung erforderlichen Informationen über Alt- und Neustoffe, also die Risikoabschätzung, aber ebenso das auf der Grundlage dieser Risikoabschätzung erforderliche Risikomanagement, insbesondere durch einen Stoffsicherheitsbericht und das Sicherheitsdatenblatt.40 a) Risikoabschätzung Durch die vorrangige Befassung der Hersteller und Importeure mit den registrierungsrelevanten Informationen werden eigenverantwortete Innovationsentscheidungen schon vor staatlichen Regulierungsmaßnahmen angeregt. Die Innovationsverantwortung der privaten Hersteller und Importeure kann ohne bzw. vor staatlicher unmittelbarer Beeinflussung wahrgenommen werden.41 Auch ohne direkte entsprechende Regulierung kann die Registrierungspflicht so Anreize für die Einstellung oder Substitution der Produktion, des Imports oder der Entwicklung besonders risikoträchtiger Stoffe in eigener Entscheidung der Produktverantwortlichen bewirken.42 b) Risikomanagement Wesentlich grundsätzlicher ist aber die Neugestaltung des stoffbezogenen Risikomanagements durch REACH: Die Bewertung der stoffbedingten Risiken und die Lulei / Fink / Hanschmidt (Fn. 9), S. 24. Georg Herb / Jens Hamer, Die Substitution gefährlicher Stoffe im europäischen Recht – Teil 1, StoffR 2005, S. 198 (203); Kristian Fischer, in: Fluck, Jürgen / Fischer, Kristian / von Hahn, Anja (Hrsg.), REACH + Stoffrecht, Kommentar, 2008, Einführung zu REACH Rn. 11. 38 Art. 1 Abs. 3 VO (EG) 1907 / 2006. 39 Titel V, „Nachgeschaltete Anwender“, Art. 37 ff. VO (EG) 1907 / 2006. 40 Rehbinder (Fn. 35), Rn. 20 ff.; Führ (Fn. 9), S. 96 ff. 41 Führ (Fn. 9), S. 89 f. 42 Fischer (Fn. 9), S. 860; Herb / Hamer (Fn. 37), S. 203; Lahl (Fn. 9), S. 240 f. 36 37
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Entwicklung und Umsetzung von Risikominderungskonzepten obliegt nach REACH in Zukunft nicht mehr in erster Linie den nationalen oder europäischen Behörden, sondern den Stoffverantwortlichen in der Industrie.43 Hersteller und Importeure von Stoffen als primäre Stoffverantwortliche und unter bestimmten Voraussetzungen auch nachgeschaltete Anwender als sekundäre Stoffverantwortliche werden verpflichtet, die geeigneten Maßnahmen zur angemessenen Beherrschung der bei der Stoffsicherheitsbeurteilung eines Stoffes festgestellten Risiken zu ermitteln, diese Maßnahmen anzuwenden und sie in den Sicherheitsdatenblättern nachgeschalteten Anwendern zu empfehlen.44 Diese Verpflichtung kann durchaus als Einführung einer Grundpflicht zur Risikoermittlung und Risikobegrenzung ins europäische Chemikalienrecht verstanden werden.45 Konkret ist für die Registrierung von den Stoffverantwortlichen nach Art. 14 der REACH-Verordnung ab einer jährlichen Stoffmenge von 10 Tonnen eine Stoffsicherheitsbeurteilung durchzuführen, die bei gefährlichen Stoffen zusätzlich eine Expositionsbeurteilung und eine Risikobeschreibung umfassen muss. Weiter ist ein Stoffsicherheitsbericht zu erstellen, der vom Stoffverantwortlichen kontinuierlich zu aktualisieren ist. Auf dieser Grundlage sind die geeigneten Risikomanagementmaßnahmen zu ermitteln, anzuwenden und mittels der Sicherheitsdatenblätter46 weiterzuempfehlen. Auf umfassende Gewährleistung angemessenen Risikomanagements gerichtet ist die Begründung einer Grundpflicht zur angemessenen Risikobeherrschung auch für nachgeschaltete Anwender in Art. 37 Abs. 5 der REACH-Verordnung. Wenn ein nachgeschalteter Anwender einen Stoff in einer Weise verwenden will, die von den für die Registrierung gefertigten Expositionsszenarien abweicht, hat er selbst einen Stoffsicherheitsbericht zu erstellen und die geeigneten Risikomanagementmaßnahmen für seine Verwendung zu ermitteln und anzuwenden.47 3. Informationsfluss Ein eigenständiger Regelungsansatz der REACH-Verordnung ist weiter die Organisation eines umfassenden Informationsflusses sicherheitsrelevanter Informationen entlang der Lieferkette in beiden Richtungen, also sowohl vom Hersteller oder Importeur zum nachgeschalteten Anwender als auch in gegenläufiger Richtung.48 Art. 1 Abs. 3 und Erwägungsgründe Nr. 16, 18, 25, 29, 56, 58, 86 VO (EG) 1907 / 2006. Art. 14 Abs. 6 VO (EG) 1907 / 2006. 45 KOM (2003) 644 endg., S. 24; Führ (Fn. 9), S. 99 f. 46 Siehe zu den inhaltlichen Anforderungen an Sicherheitsdatenblätter Art. 31 und Anhang II VO (EG) 1907 / 2006. 47 Führ (Fn. 9), S. 99 f. 43 44
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Instrumente der Organisation dieses Informationsflusses sind einerseits das bereits bisher aufgrund der Sicherheitsdatenblatt-Richtlinie 49 bekannte Sicherheitsdatenblatt, das bei den erfassten Stoffen jeder Lieferant eines Stoffes seinem Abnehmer zur Verfügung stellt und das diesen über die erforderlichen Risikomanagementmaßnahmen informiert.50 Diese Informationspflicht vorgeschalteter Anwender wird in REACH ergänzt um die gegenläufige Verpflichtung nachgeschalteter Anwender, den vorgeschalteten Akteuren in der Lieferkette alle bei ihnen gewonnenen neuen Informationen über gefährliche Eigenschaften eines Stoffes oder über Zweifel an der Eignung im Sicherheitsdatenblatt vorgeschlagener Risikomanagementmaßnahmen für bestimmte Verwendungen zu übermitteln.51 Unzureichend geregelt sind demgegenüber die Kooperation und der Informationsaustausch in der Lieferkette im Vorfeld einer Registrierung. Hier sieht REACH lediglich die Möglichkeit einer Informationsübermittlung durch die nachgeschalteten Anwender vor, obwohl deren Kenntnisse und Informationen für eine umfassende Stoffsicherheitsbeurteilung dringend erforderlich sein dürften.52 4. Substitution Entgegen ursprünglich weiterreichenden Ansätzen gibt das REACH-System nur geringe explizite Anreize für die Substitution von Stoffen mit Risikopotential für Mensch und Umwelt durch weniger riskante Alternativen.53 Vorgesehen ist eine Prüfung der Substituierbarkeit gefährlicher Stoffe lediglich im Rahmen des nur ausnahmsweise erforderlichen Zulassungsverfahrens.54 Auch im Zulassungsverfahren wird die Substituierbarkeit eines Stoffes nur dann geprüft, wenn das durch die Verwendung des Stoffes verursachte Risiko für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt nicht angemessen beherrscht werden kann. Nur in diesem Fall hat die Prüfung zu erfolgen, ob geeignete Alternativstoffe oder Alternativtechnologien für die Verwendung des Stoffes bestehen, und nur in diesem Fall führt die Existenz von Substitutionsmöglichkeiten zur Versagung einer Zulassung.55 48 Titel IV, „Informationen in der Lieferkette“, Art. 31 ff. VO (EG) 1907 / 2006. Dieser Titel ist gemäß Art. 141 VO (EG) 1907 / 2006 bereits am 01. 06. 2007 in Kraft getreten. 49 RL 91 / 155 / EWG, ABl. L 76 vom 22. 03. 1991, S. 35. 50 Art. 31 VO (EG) 1907 / 2006. 51 Art. 34 VO (EG) 1907 / 2006. 52 Führ (Fn. 9), S. 108 f. 53 Lahl (Fn. 9), S. 240 f.; Fischer (Fn. 9), S. 860; Herb / Hamer (Fn. 37), S. 203. 54 Aufgenommen wurde der Ansatz der Substitution in den Art. 55, Art. 62 Abs. 4 lit. e) und f), Art. 64 Abs. 4, Art. 60 Abs. 4, Abs. 5, Art. 61 Abs. 1 – 3 VO (EG) 1907 / 2006. 55 Im Rahmen der Zulassungserteilung ist gemäß Art. 60 Abs. 4 das Bestehen geeigneter Alternativstoffe oder -technologien für die Kommissionsentscheidung von maßgeblicher Bedeutung. Ebenso erstreckt sich die Überprüfung der Zulassung auch auf die Überprüfung
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Damit ist die REACH-Verordnung ausgesprochen zurückhaltend in der ausdrücklichen Regulierung von Vorgaben für die Substitution risikobehafteter Stoffe. Auch insoweit vertraut sie eher auf die indirekt substitutionsfördernde Wirkung der Informationsermittlung und Informationsverbreitung. Dennoch wäre eine ausdrückliche Verpflichtung zur Alternativenprüfung etwa auch im Rahmen der Registrierungsunterlagen jedenfalls bei Stoffen mit erkennbarem Risikopotential durchaus naheliegend gewesen.56 5. Gemeinsame Datenermittlung und -nutzung Als letztes innovationsrelevantes Element von REACH sollen die Regeln zur gemeinsamen Nutzung von Daten angesprochen werden, die bei der Registrierung einzureichen sind.57 Im Grundsatz hat jeder Hersteller oder Importeur eines Stoffes die Registrierungspflichten einschließlich der Verpflichtung zur Beibringung der für die Registrierung erforderlichen Daten eigenständig zu erfüllen.58 Zugleich sollen aber auch mehrfache Tierversuche vermieden werden, und die Hersteller oder Importeure von Stoffen sollen nicht unnötig Kosten für Doppelprüfungen tragen müssen.59 Deshalb stellt REACH einen normativen Rahmen für eine grundsätzlich selbstorganisierte gemeinsame Einreichung von Daten oder eine gemeinsame Nutzung bereits eingereichter Daten durch mehrere Registranten bei Teilung der Kosten zur Verfügung.60 Insbesondere für Phase-In-Stoffe ist die obligatorische Einrichtung von Foren zum Austausch von Stoffinformationen vorgesehen, in denen alle potenziellen Registranten, nachgeschalteten Anwender, die Hersteller und Importeure des Stoffes unterhalb der Mengenschwelle von einer Tonne pro Jahr und auch Dritte, die über relevante Stoffinformationen verfügen, zusammengeführt werden können.61 des Bestehens neuer Ersatzstoffe (Art. 61 Abs. 2 VO (EG) 1907 / 2006), da die Zulassungsinhaber aktualisierte Angaben zur Substitution vorzulegen haben (Art. 61 Abs. 1 VO (EG) 1907 / 2006) und auch die Änderungs- / Widerrufsentscheidung von der Verfügbarkeit geeigneter Alternativen abhängt (Art. 61 Abs. 3 VO (EG) 1907 / 2006). 56 Herb / Hamer (Fn. 37), S. 202; Lahl (Fn. 9), S. 241. 57 Normativ niedergelegt ist dieses Element in Titel III, „Gemeinsame Nutzung von Daten und Vermeidung unnötiger Tierversuche“, Art. 25 ff. VO (EG) 1907 / 2006, der im Zusammenhang mit den Registrierungsvorschriften zur gemeinsamen Einreichung von Daten gemäß Art. 11 und Art. 19 VO (EG) 1907 / 2006 steht. 58 Fischer (Fn. 9), S. 856. 59 Erwägungsgründe Nr. 33, 49, 50 VO (EG) 1907 / 2006. 60 Siehe hierzu Jürgen Fluck, REACH: Die Foren zum Austausch von Stoffinformationen (SIEF) und die Zusammenarbeit mehrerer Verpflichteter bei Vorregistrierung und Bewertung, StoffR 2007, S. 104 (104 ff.). 61 Art. 28 f. VO (EG) 1907 / 2006.
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In diesen Stoffinformationsforen soll dann ein Austausch der vorhandenen Daten sowie die Organisation der Beschaffung und Vorlage weiterer erforderlicher Daten bei grundsätzlicher Kostenteilung erfolgen.62 Diese Zusammenführung der bei privaten Akteuren vorhandenen Daten und Erkenntnisse über Stoffe und des Bedarfs an zusätzlichen Erkenntnissen kann durchaus als weiteres Instrument zur organisiert selbstregulierten Risikoabschätzung eingeordnet werden, das einerseits die Möglichkeiten der privaten Akteure zu kosteneffizienter Informationsbeschaffung verbessert und andererseits prozedural eine umfassende Erfassung und Nutzung vorhandener Kenntnisse und Erfahrungswerte über bestimmten Stoffe erleichtert.63
IV. Fazit Welches Fazit lässt sich aufgrund der wenigen angesprochenen Strukturelemente zur Risikoverantwortung im europäischen Chemikalienrecht ziehen? Zunächst zielt das europäische Chemikalienrecht auf eine grundsätzlich umfassende Risikoermittlung und Risikobewertung für alle chemischen Stoffe, die den privaten Herstellern und Importeuren im Rahmen des Registrierungsverfahrens mit mengenabhängigen Anforderungen an den Umfang und die Intensität der vorzunehmenden Tests und Prüfungen übertragen wird. Es zielt weiter auch auf ein effektives Risikomanagement, das ebenfalls die privaten Hersteller und Importeure vermittels der Stoffsicherheitsbeurteilungen, Stoffsicherheitsberichte und Sicherheitsdatenblätter bewirken sollen. Hier ist bemerkenswert zum einen die Einbeziehung auch nachgeschalteter Anwender in die Pflicht zur Entwicklung geeigneter Risikomanagementmaßnahmen für eigene, von der Registrierung abweichende Verwendungen, zum anderen die Begründung von Informationspflichten entlang der Lieferkette in beide Richtungen im Hinblick auf neue Risiken und Probleme. Ergänzt wird diese Risikoverantwortung durch regulierte Eigenverantwortlichkeit der Hersteller, Importeure und nachgeschalteten Anwender durch administrative Überwachungs- und Eingriffsbefugnisse, die im Rahmen der Bewertung von Stoffdossiers und Stoffen, durch die Möglichkeit der Einführung von Zulassungsverfahren für die Verwendungen bestimmter Stoffe sowie durch erweiterte repressive Beschränkungsmöglichkeiten bestehen. Damit beinhaltet das neue europäische Chemikalienrecht im Grundsatz ein ausgewogenes System normierter Innovationsverantwortung, die überwiegend den privaten Herstellern und Importeuren von Stoffen zugewiesen ist und risikoabhängig durch ergänzende administrative Maßnahmen ergänzt werden kann. Möglicherwei62 63
Fluck (Fn. 60), S. 107 ff. Fluck (Fn. 60), S. 117 ff.
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se wird in diesem System die Substitution von risikobehafteten Stoffen weniger als möglich und sinnvoll gefördert, und möglicherweise ist ein allein mengenabhängiger Ansatz für die Erforderlichkeit einer Registrierung und die stufenweise Steigerung der Registrierungsanforderungen nicht das einzig sinnvolle Kriterium, aber in seinen grundsätzlichen Strukturen kann das europäische Chemikalienrecht wohl als Normierung angesehen werden, die in durchaus angemessener Weise Innovationsverantwortung bei der Herstellung und dem Import chemischer Stoffe in der EU durch Inpflichtnahme der privaten Stoffverantwortlichen und ergänzend durch Handlungsmöglichkeiten der europäischen und nationalen Verwaltungen sichert.
Innovationsverantwortung im Elektrogesetz Von Alexander Roßnagel I. Probleme der Stoffstromregulierung bei Personalcomputern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 II. Die Regelungen des Elektrogesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 1. Zielsetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 2. Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 III. Innovationsverantwortung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 1. Potenzielle Anreize zu einer verantwortungsvollen Innovationsgestaltung . . . . . 271 2. Probleme einer verantwortungsvollen Innovationsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 a) Probleme der Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 b) Probleme des Markts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 c) Probleme der Modularisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 3. Behinderungen einer verantwortungsvollen Innovationsgestaltung . . . . . . . . . . . . 274 a) Verfehlte Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 b) Fehlende Rückwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 c) Kollektive Branchenverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 d) Übertragung der Pflichterfülling auf Dritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 e) Fehlende Kostenentlastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 f) Notwendigkeit der Eigeninitiative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
Der Beitrag untersucht die sektorspezifische Frage, wie Innovationsverantwortung im Rahmen des am 24. 03. 2006 in Kraft getretenen Gesetzes über das Inverkehrbringen, die Rücknahme und die umweltverträgliche Entsorgung von Elektro- und Elektronikgeräten (Elektro- und Elektronikgerätegesetz – ElektroG)1 wahrgenommen wird. Zu diesem Zweck werden die Sachprobleme der Stoffstromsteuerung im Bereich der Elektro- und Elektronikprodukte dargestellt (I.), die wichtigsten Regelungen des Elektrogesetzes beschrieben (II.) und der Beitrag des Gesetzes zu verantwortungsvollen Innovationen untersucht (III.). 1 Gesetz vom 16. 03. 2005, BGBl. I, S. 762, zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes vom 19. 07. 2007, BGBl. I, S. 1462.
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Der Beitrag stützt sich dabei auf Zwischenergebnisse des Forschungsprojekts „Ecological Perspectives of Modularisation – Exemplary Studies of an Innovation Pattern“2 im Rahmen der Förderinitiative „Innovation in Wirtschaft und Gesellschaft“ der Volkswagenstiftung.3 Es wird als empirisch-analytisches Forschungsprojekt von den Fachgebieten Umwelt- und Verhaltensökonomik (Frank Beckenbach), Nachhaltige Unternehmensführung (Jürgen Freimann) und Öffentliches Recht mit dem Schwerpunkt Recht der Technik und des Umweltschutzes (Alexander Roßnagel) der Universität Kassel durchgeführt.4 Es untersucht folgende Fragestellungen: Welche Handlungsanreize zur Gestaltung nachhaltiger Stoffströme bewirken die Altfahrzeugverordung und das Elektrogesetz? Welche unternehmenspolitischen Wahrnehmungs- und Reaktionsmuster werden durch sie in den Produktionsfeldern Personalcomputer und Automobil ausgelöst und warum? Welche stoffstromrelevanten Innovationspotenziale für die Wahrnehmung der Produktverantwortung bestehen durch die Nutzung der Modularisierung?
Als empirische Grundlage für die Beantwortung dieser Fragen sollen überwiegend Beispiele aus dem Bereich der Produktion von Kraftfahrzeugen und Personalcomputern gewählt werden. I. Probleme der Stoffstromregulierung bei Personalcomputern Der Markt für Personalcomputer ist seit vielen Jahren von einer hohen Wachstumsdynamik gekennzeichnet. Seit Jahren wächst der Umsatz in Deutschland jährlich um mehr als 10 Prozent. Das Wachstum im Jahr 2008 wird auf 12,5 Prozent geschätzt. Dabei entfällt mehr als die Hälfte des gesamten Umsatzes an Personalcomputern auf den Verkauf von mobilen Computern. Weltweit wird im Marktsegment für Personalcomputer im Jahr 2008 ein Wachstum von 30,1 Prozent erwartet.5 Auch in den nächsten Jahren ist mit einem stetigen Wachstum der Verkaufzahlen zu rechnen, so dass auch die Menge des von diesen Geräten verursachten Elektroschrotts entsprechend steigt. Bei Geräten für den IT- und Telekommunikationsbereich und bei Produkten der Unterhaltungselektronik kommt hinzu, dass viele Geräte ausgesondert werden, obwohl sie noch funktionsfähig sind. Immer wieder kommen neue, leistungsfähigere Geräte auf den Markt und die alten Geräte entsprechen dann nicht mehr den wechselnden Moden der Hersteller und den Erwars. www.epermod.de (zuletzt abgerufen am 02. 01. 2009). Wertvolle Vorarbeiten stammen von Jana Gattermann, LL.M., Universität Kassel; für wertvolle Hinweise danke ich den Kollegen Frank Beckenbach und Jürgen Freimann. 4 Von Oktober 2007 bis Dezember 2009. 5 Marktforschungsinstitut Gartner, http: //nesticker.sueddeutsche.de/list/id/54492; http: // www.zdnet.de/news/business/0,39023142,39186539,00.htm (Stand: 02. 01. 2009). 2 3
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tungen der Nutzer. Vielfach entsteht durch neue Software ein Zwang zum Übergang auf neue Computergenerationen. Dadurch nimmt die Menge des Elektro- und Elektronikmülls dreimal schneller zu als der übrige Siedlungsmüll.6 Hinzu kommt, dass die ausgemusterten Elektround Elektronikgeräte erhebliche Mengen an Schadstoffen wie etwa die Schwermetalle Blei, Cadmium und Quecksilber sowie Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) enthalten. Sie sind daher ein bedeutender Faktor für die Belastung der Abfälle mit Schadstoffen. Darüber hinaus enthalten sie wertvolle Rohstoffe wie Edelmetalle oder sortenreine Kunststoffe.7 Die Steuerung der Stoffströme im Bereich der Elektro- und Elektronikgeräte muss daher in besonderem Maß versuchen, die Menge an Abfall zu reduzieren, die Schadstoffe im Abfall zu begrenzen und wichtige Rohstoffe aus dem Abfall wiederzugewinnen. Diesen Zielsetzungen soll das Elektrogesetz dienen. Nach der Berichterstattung der Bundesregierung an die Europäische Kommission über die Erfassung, die Wiederverwendung und die Behandlung von Elektround Elektronikgeräten entsprechend der WEEE-Richtlinie 8 vom Juli 2008 für das Jahr 2006 wurden 1.836.913 t Elektro- und Elektronikgeräte auf den Markt gebracht, davon 314.898 t IT- und Telekommunikationsgeräte. Als Altgeräte eingesammelt wurden 753.900 t insgesamt und 102.336 t IT- und Telekommunikationsaltgeräte. Von diesen entfielen auf Altgeräte aus privaten Haushaltungen (B2C) 86.573 t und auf Altgeräte aus dem Bereich gewerblicher Nutzung (B2B) 15.762 t.9 Die Unterschiede zwischen den auf den Markt gebrachten Mengen und den eingesammelten Mengen erklärt sich zum einen durch das Marktwachstum, zum anderen durch die wenig erfolgreichen Einsammelmaßnahmen und zum dritten aber auch durch hohe Mengen an illegalen Exporten von Elektroschrott, insbesondere Geräten aus dem IT- und Telekommunikationsbereich. 10 Von den eingesammelten Altgeräten werden nach dem Bericht der Bundesregierung insgesamt 683.083 t verwertet (Verwertungsquote: 92,1 Prozent). Von diesen werden 600.062 t wiederverwendet oder stofflich verwertet (Recyclingquote: 80,9 Prozent) und zudem 11.978 t als komplette Geräte einer Wiederverwendung zu6 Nach Angaben des Bundesumweltministeriums wächst die jährliche Abfallmenge an Elektroschrott zwischen drei und fünf Prozent, s. z. B. Henriette Berg / Anette van Dillen, Hersteller und Nutzer in der Bringschuld, S. 1, http: //www.bmu.de/files/pdfs/allgemein/ap plication/pdf/artikel_berg_dillen.pdf (Stand: 02. 01. 2009). 7 Bundesumweltministerium, Elektroschrott – vermeiden und verwerten. Das neue Elektround Elektronikgerätegesetz, 3. Aufl. 2008, S. 6. 8 Richtlinie 2002 / 96 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Elektro- und Elektronik-Altgeräte (Waste Electrical and Electronic Equipment – WEEE) vom 27. 01. 2003 (EG ABl. L 37 vom 13. 02. 2003, S. 24.) geändert durch Richtlinie 2003 / 108 / EG vom 08. 12. 2003 (EG ABl. L 345 vom 31. 12. 2003, S. 106). 9 Bundesumweltministerium, WA II 3, Bekanntmachung vom 05. 08. 2008. 10 http: //marktcheck.greenpeace.at/2267.html (Stand: 02.01. 2009).
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geführt. Für die Altgeräte aus dem IT- und Telekommunikationsbereich lauten die Zahlen: Verwertet werden 92.602 t (Verwertungsquote: 95,3 Prozent). Von diesen werden 75.562 t wiederverwendet oder stofflich verwertet (Recyclingquote: 77,8 Prozent) und außerdem 5.179 t als komplette Geräte wiederverwendet.11 Aus diesen Daten zum Stoffstrom können als Ergebnisse der Regulierung und als Anforderungen an die weitere Regulierung festgehalten werden: Vom Regime des Elektrogesetzes werden nur etwa zwei Fünftel der Elektro- und Elektronikgeräte tatsächlich erfasst. Insbesondere wird nur etwa ein Drittel der ausgemusterten Personalcomputer eingesammelt und wiederverwendet oder behandelt. Der überwiegende Anteil wird illegal exportiert oder in den normalen Siedlungsmüll gegeben. Hinsichtlich der eingesammelten Altgeräte erreicht die Verwertung eine relativ hohe Quote. Von den IT- und Telekommunikationsaltgeräten wurden zwar 5.179 t als komplette Geräte einer Wiederverwendung zugeführt (und damit über 40 Prozent aller 11.978 t wiederverwendeten Elektro- und Elektronikaltgeräte). Obwohl gerade in diesem Bereich viele funktionsfähige Geräte ausgemustert werden, entspricht dies nur fünf Prozent aller eingesammelten Geräte und nur 1,6 Prozent der im gleichen Jahr in Verkehr gebrachten Geräte. Die Stoffstromregulierung muss die Anzahl der wiederverwendeten Geräte erheblich erhöhen. Die Vermeidung von Abfällen wird von dieser Statistik nicht erfasst – Hinweise könnten allenfalls das Anwachsen des Mülls im Verhältnis zum Anwachsen der verkauften Mengen oder die Lebensdauer der Geräte im Zeitvergleich bieten. Notwendig sind innovative Produktkonzeptionen und Produktionsverfahren, bei denen Geräte von vornherein so gestaltet werden, dass sie lange genutzt und nach ihrer Nutzung leicht demontiert und ihre Bauteile und Werkstoffe wiederverwendet werden können II. Die Regelungen des Elektrogesetzes Das Elektrogesetz versucht, diese Stoffstrommengen in Sinn einer verantwortlichen und nachhaltigen Recycling-Wirtschaft zu steuern, indem es der Stoffstromwirtschaft Ziele setzt und unterschiedliche rechtliche Instrumente nutzt, um diese Ziele zu erreichen. 1. Zielsetzungen Das Elektrogesetz will bereichsspezifisch die Produktverantwortung der Hersteller12 nach § 22 KrW- / AbfG konkretisieren.13 Es verfolgt hierzu nach § 1 Abs. 1 Satz 214 die Zielsetzungen, Bundesumweltministerium (Fn. 9). „Hersteller“ sind nach § 3 Abs. 11 die Hersteller, die Inverkehrbringer, die Importeure und die Weiterverkäufer (unter eigenem Markennamen). 13 Dadurch wird die WEEE-Richtlinie 2002 / 96 / EG umgesetzt. 14 Soweit nichts anderes angegeben ist, entstammen die zitierten Vorschriften dem Elektrogesetz. 11 12
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vorrangig Abfälle aus Elektro- und Elektronikgeräten zu vermeiden, darüber hinaus die zu beseitigende Abfallmenge zu reduzieren, indem Abfälle aus Elektro- und Elektronikgeräten wieder verwendet, stofflich verwertet oder anderen Formen der Verwertung zugeführt werden, sowie den Eintrag von Schadstoffen aus Elektro- und Elektronikgeräten in Abfälle zu verringern.
Diese Ziele wurden im Elektrogesetz dadurch konkretisiert, dass nach § 1 Abs. 1 Satz 3 bis zum 31. 12. 2006 durchschnittlich mindestens vier Kilogramm Altgeräte aus privaten Haushalten pro Einwohner und Jahr getrennt gesammelt werden sollen, nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 bei Altgeräten der Kategorie 3, hierzu gehören auch Computer, ein Mindestanteil der Verwertung von 75 Prozent des durchschnittlichen Gewichts und ein Mindestanteil der Wiederverwendung und der stofflichen Verwertung von 65 Prozent des durchschnittlichen Gewichts erreicht werden soll, nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Elektrogeräte nicht mehr als 0,1 Gewichtsprozent Blei, Quecksilber, sechswertiges Chrom, polybromiertes Biphenyl (PBB) oder polybromierten Diphenylether oder mehr als 0,01 Gewichtsprozent Cadmium je homogenem Werkstoff enthalten dürfen.15
2. Instrumente Zur Umsetzung dieser Ziele verwendet das Elektrogesetz eine Reihe differenzierter rechtlicher Instrumente: Um die Vermeidung, Wiederverwendung oder Verwertung der Abfälle zu erreichen, legt § 4 ElektroG den Herstellern Pflichten zur Konzeption ihrer Produkte auf. Sie sollen diese so gestalten, dass das Erreichen der Ziele erleichtert und nicht behindert wird. Der Eintrag von Schadstoffen in die Umwelt soll neben der Reduzierung der Abfallmengen durch ein spezifisches Stoffverbot für die in § 5 genannten Schwermetalle und andere Schadstoffe erreicht werden.16 Um die in § 12 Abs. 1 Nr. 2 b) geforderte Quote der Wiederverwendung von Elektro- und Elektronikgeräten zu erreichen, stellt § 11 Abs. 1 eine Pflicht zur Wiederverwendung auf.17 Danach ist vor der Behandlung eines Geräts zu prüfen, Ludger Giesberts / Juliane Hilf, Kommentar zum ElektroG, 2006, § 5 Rn. 1. Dadurch wird die Richtlinie 2002 / 95 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Beschränkung der Verwendung bestimmter gefährlicher Stoffe in Elektro- und Elektronikgeräten (Restriction of Certain Hazardous Substances – RoHS) in der Fassung vom 27. 01. 2003 (EG ABl. L 37 vom 13. 02. 2003, S. 19) umgesetzt. 17 Manuela Hurst, Das neue Elektro- und Elektronikgerätegesetz – Handlungsspielräume trotz Regulierung, DVBl. 2006, S. 284. 15 16
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ob dieses der Wiederverwendung zugeführt werden kann. Damit ist nach § 3 Abs. 6 gemeint, dass Altgeräte oder Bauteile zum gleichen Zweck, für den sie hergestellt oder in Verkehr gebracht worden sind, wiederverwendet werden. Um die in § 12 Abs. 1 Nr. 2 a) und b) geforderten Quoten der Verwertung zu erreichen, haben die Hersteller die Pflicht, die Altgeräte oder Bauteile stofflich18 oder energetisch zu verwerten. Ist weder eine Wiederverwendung noch eine Verwertung der Abfälle möglich, sind diese nach § 10 Abs. 4 KrW- / AbfG umweltgerecht zu beseitigen. Diese Pflicht verweist nach § 3 Abs. 9 auf die im Anhang II A KrW- / AbfG genannten Verfahren.19 Damit Elektro- und Elektronikgeräte aus privaten Haushalten in den Rücknahmekreislauf gelangen und nicht in den Restmüll gegeben werden, sind die Hersteller nach § 7 verpflichtet, ihre Geräte mit einer Kennzeichnung zu versehen, die das Symbol nach Anhang II („durchgestrichene Mülltonne“) enthält und eine eindeutige Identifizierung des Herstellers ermöglicht. § 13 Abs. 6 verpflichtet den Hersteller außerdem, den Entsorgungsbetrieben Informationen über die Wiederverwendung und Behandlung für „jeden in Verkehr gebrachten Typ neuer Elektro- und Elektronikgeräte“ in Form von Handbüchern oder in elektronischer Form zur Verfügung zu stellen. Aus diesen Informationen muss sich ergeben, welche verschiedenen Bauteile und Werkstoffe die Geräte enthalten und an welchen Stellen sich in den Geräten gefährliche Stoffe befinden. Um die Altgeräte wiederverwenden, verwerten oder beseitigen zu können, sind die Hersteller nach § 9 und 10 verpflichtet, sie vom letzten Besitzer kostenlos zurückzunehmen. Für das Rücknahmesystem ist zwischen Altgeräten aus privaten Haushaltungen (B2C) und sonstigen Altgeräten (B2B) zu unterscheiden: Für B2C-Geräte tragen nach § 9 auch die Kommunen einen Teil der Produktverantwortung.20 Die öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger müssen nämlich die Altgeräte aus den privaten Haushalten auf eigene Kosten sammeln, während die Hersteller auf eigene Kosten für die Bereitstellung der Abfallbehälter, die Abholung bei den kommunalen Sammelstellen und die Entsorgung der Altgeräte sorgen. § 9 Abs. 6 ermöglicht den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern die Option einer eigenständigen Wiederverwendung und Verwertung und damit einer Vermarktung der Altgeräte, deren Erlöse zu einer Refinanzierung der Sammlungskosten für den Elektroschrott beitragen können. Die Hersteller sind für die Abholung der Abfallbehälter entsprechend ihrem Marktanteil verantwortlich. Sowohl der Vertreiber als auch der Hersteller können aber nach § 9 Abs. 7 und 8 für sich oder mit anderen zusammen eigene Rücknahmesysteme allein für ihre Altgeräte aufs. hierzu die Definition in § 3 Abs. 8. s. Giesberts / Hilf (Fn. 15), § 3 Rn. 42. 20 Zur geteilten Produktverantwortung s. Hans-Jochen Lückefett, in: Bullinger, Martin / Lückefett, Hans-Jochen (Hrsg.), Das neue Elektrogesetz, 2005, Kap. C Rn. 13. 18 19
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bauen.21 Für das Einsammeln der gewerblich genutzten Altgeräte (B2B) sind die Hersteller nach § 10 Abs. 2 unmittelbar zuständig. § 10 Abs. 2 Satz 3 erlaubt jedoch auch abweichende Vereinbarungen zwischen Hersteller und Nutzer. Hersteller können mit einem belieferten Unternehmen vereinbaren, dass dieses für das Altgerät die Entsorgung nach Maßgabe des Elektrogesetzes übernimmt. Für eine funktionierende geteilte Produktverantwortung zwischen Kommunen und Herstellern ist eine zentrale Abholkoordination erforderlich. § 6 verpflichtet die Hersteller zur Einrichtung einer gemeinsamen Stelle nach § 14. Um diesem Gebot nachzukommen, haben die Industrie und der Zentralverband Elektrotechnik und Elektroindustrie (ZVEI) im August 2004 die Stiftung „Elektro-AltgeräteRegister“ (EAR) mit Sitz in Fürth gegründet. Das Umweltbundesamt als die zuständige Behörde für die Registrierung der Hersteller und für die Erteilung der Anordnungen zur Abholung der Altgeräte hat diese hoheitlichen Aufgaben durch Beleihung an die Gemeinsame Stelle (EAR) übertragen. Das Umweltbundesamt behält nach § 18 die Rechts- und Fachaufsicht über die Beliehene. Neben diesen beiden Aufgaben übernimmt die EAR weitere Aufgaben wie die Prüfung der Entsorgungsgarantie, die Sammlung aller notwendigen Daten, die Ausstattung der Kommunen mit den Abholbehältern und die Berechnung der Abholmengen der einzelnen Hersteller. Damit die Gemeinsame Stelle ihre Aufgaben erledigen kann, muss sich nach § 6 Abs. 2 jeder Hersteller bei ihr registrieren lassen, bevor er Elektro- oder Elektronikgeräte auf den Markt bringen darf. Außerdem hat er ihr nach § 13 regelmäßig die dort genannten Meldungen zu erstatten. Um die Erfüllung ihrer Pflichten finanziell sicherzustellen, haben die Hersteller schließlich nach § 6 Abs. 3 der Gemeinsamen Stelle eine jährliche insolvenzsichere finanzielle Garantie vorzulegen. III. Innovationsverantwortung? Auf die Frage nach der Innovationsverantwortung bietet das Elektrogesetz allenfalls eine merkwürdige Antwort. Mit ihm stellt der Gesetzgeber Innovationsverantwortung nicht dadurch sicher, dass er die Innovation regelt. Vielmehr lässt er die Entwicklung und Vermarktung von Personalcomputern ohne jede Anforderung und Prüfung zu.22 Durch das Elektrogesetz versucht er jedoch von der letzten Station im Produktlebenszyklus aus auf die ersten Stationen einzuwirken und die Konstruktion und Materialwahl des Produkts zu beeinflussen. Statt der Innovation regelt es die letzten Innovationsfolgen, um von diesen aus rückwirkend an der Quelle Produktverantwortung durchzusetzen. Das Gesetz begründet in § 4 Abs. 1 eine Pflicht zur verantwortungsvollen Produktgestaltung mit dem Ziel, dass 21 22
s. Giesberts / Hilf (Fn. 15), § 9 Rn. 82 ff. Eine Ausnahme sind die Stoffverbote des § 5, die auf das Inverkehrbringen bezogen sind.
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das Produkt langfristig nutzbar ist, Demontage, Wiederverwendung oder stoffliche Verwertung möglich sind und Wiederverwendung und Verwertung nicht erschwert werden.23
Das übergeordnete Ziel des Elektrogesetzes ist die Vermeidung von Abfällen. Darunter ist gemäß § 3 Abs. 5 die Verringerung der Menge und der Umweltschädlichkeit von Altgeräten zu verstehen.24 Elektro- und Elektronikgeräte sollen gar nicht erst zu Altgeräten werden und die von ihnen möglicherweise ausgehenden Gefahren vermieden werden.25 Daher sollen die Produkte so gestaltet werden, dass sie mehrfach verwendbar und technisch langlebig sind, sofern dieses technisch möglich und wirtschaftlich zumutbar ist. Bereits bei der Produktkonzeption und der Materialauswahl soll der gesamte Lebenszyklus berücksichtigt werden. Die Konstruktionsmerkmale und der Herstellungsprozess sollen so gewählt werden, dass die Wiederverwendung oder stoffliche Verwertung nicht behindert werden.26 Die in § 4 genannte Produktkonzeption soll durch Anreize für die Hersteller in Form von festgesetzten und nachzuweisenden Recycling- und Verwertungsquoten verwirklicht werden. Die Pflicht zur abfallvermeidenden und recyclinggerechten Produktkonzeption beinhaltet indirekt auch eine Pflicht zur Gestaltung des Entwicklungs- und Produktionsprozesses: Um sie zu erfüllen, ist eine Kooperation zwischen der Abteilung für Forschung und Entwicklung mit der Poduktionsabteilung und der Umweltabteilung notwendig, in der der gesamte Lebenszyklus des Produkts berücksichtigt wird und in der keine Herstellungsprozesse verfolgt werden, die eine Widerverwendung oder Verwertung des späteren Altgeräts verhindern. In diesem Kontext könnte die Modularisierung sowohl der Produkte als auch der Entwicklung und Herstellung für die Erfüllung der Gestaltungspflicht gezielt genutzt werden. Im Rahmen der Entwicklung und Herstellung des Produkts sind die Stoffverbote des § 5 zu beachten. Durch sie werden die Hersteller angehalten, die Produkte so herzustellen, dass von ihnen keine Gefahr durch die Verwendung umweltschädlicher Schadstoffe ausgeht. Die übergeordnete Zielsetzung, wie sie durch das Elektrogesetz der Produktverantwortung in Form von Konzeptionsvorgaben und Stoffverboten gegeben worden ist, entspricht nach alledem einer den Folgen für die Umwelt bewussten Innovationsverantwortung. Im Folgenden ist zu untersuchen, ob auch die nähere Ausgestaltung der Produktverantwortung diesem Anspruch gerecht wird.
23 24 25
Giesberts / Hilf (Fn. 14), § 4 Rn. 6. Hurst (Fn. 17), DVBl. 2006, S. 284. Giesberts / Hilf (Fn. 15), § 3 Rn. 36.
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1. Potenzielle Anreize zu einer verantwortungsvollen Innovationsgestaltung Die Pflicht zur abfallvermeidenden und recyclinggerechten Produktkonzeption wird in § 4 nur postuliert. Sie ist in ihrem Inhalt schwer zu konkretisieren und ihre Einhaltung im Einzelfall kaum zu kontrollieren. Ihre Erfüllung setzt das engagierte Tätigwerden des Regelungsadressaten voraus. Sie wird daher nur dann realisiert, wenn es für den Hersteller ausreichend Anreize gibt, sie zu erfüllen. Solche Anreize können sich aus den Umständen, insbesondere der Marktsituation, ergeben. Wenn jedoch das Recht die Erfüllung der Norm auch dann anstrebt, wenn der Regelungsadressat sie nicht von selbst verfolgt, muss es selbst geeignete Anreize setzen. Daher ist zu prüfen, welche Anreize zur Pflichterfüllung rechtlich gesetzt werden könnten und im Gesetz bereits angelegt sind.27 Zum einen könnten Kontrollanreize die Hersteller zur Normerfüllung bewegen. Auch wenn die Gestaltungspflicht nicht durch Beschaffenheitsanforderungen des Gesetzgebers oder der Verwaltung konkretisiert werden kann, so könnten doch output-orientierte Zielvorgaben in Form von Quoten die Produktgestaltung beeinflussen. Hierfür müssen aber die Quoten herstellerbezogen formuliert und ihre Einhaltung durch den einzelnen Hersteller kontrolliert und ihre Verfehlung sanktioniert werden. Möglicherweise könnten hohe Zielquoten die Hersteller auch zu recyclinggerechten Innovationen anreizen, wenn die Quoten nur durch Innovationen zu erreichen sind.28 Quoten würden die Produktverantwortung konkretisieren, dem Hersteller aber ausreichend Spielraum lassen, sie kostengünstig zu erreichen. Stärker noch dürften Kostenvorteile wirken, wenn die Kosten richtig angelastet und ihre Vermeidung dem jeweiligen Hersteller zu Gute kommen: Kostenvorteile in der Produktion durch Wiederverwendung gebrauchter Teile würden zur Normerfüllung beitragen, wenn der Hersteller durch die Gestaltung seiner Produkte diese Vorteile realisieren könnte. Kosteneinsparungen in der Entsorgung durch erleichterte Demontage, Wiederverwendung und Verwertung der Produkte sowie eine getrennte spezifische Abfallbehandlung würden die Produktgestaltung beeinflussen, wenn die dadurch entstehenden Einsparungen beim jeweiligen Hersteller entstehen. Auch Marktvorteile wären möglich und könnten die Normerfüllung unterstützen: Das Angebot gebrauchter Ersatzteile könnte als Alleinstellungsmerkmal einen Wettbewerbsvorteil im Markt der Neuprodukte bieten und als Grundlage für einen vom Hersteller organisierten oder unterstützten Ersatzteilemarkt dienen. Er26 Martin Bullinger, in: Bullinger, Martin / Fehling, Michael (Hrsg.), Kommentar zum Elektrogesetz, 2005, § 4 Rn. 11. 27 Zu möglichen Anreizen s. z. B. Alexander Roßnagel / Joachim Sanden / Steffen Benz / Verena Stein, Grundlagen der Weiterentwicklung von rechtlichen Instrumenten der Ressourcenschonung, 2007, S. 86 ff. 28 s. ebenso für die Verpackungsverordnung, bei der die Quotenvorgaben die Entwicklung und Einführung innovativer Verfahren zur Verwertung von Verpackungsmaterialien fördern sollen, Andreas Finckh, Regulierte Selbstregulierung im Dualen System, 1998, S. 84 ff.
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forderlich wäre hierfür zum einen eine Pflicht der Hersteller, die Informationen zur Verfügung zu stellen, dass Anbieter gebrauchter Ersatzteile wissen können, in welchen neuen Produkten diese eingesetzt werden können. Zum anderen müsste die Verwendung gebrauchter Ersatzteile durch Subventionen, Steuervorteile oder Nachlässe bei den Abfallgebühren attraktiv gemacht werden. Schließlich könnten die Hersteller Ansehensvorteile gewinnen, wenn sie durch umweltgerechte Produkte und Produktionsverfahren ihr öffentliches Ansehen verbessern könnten. Dies könnte durch öffentliche Auszeichnungen vorbildlicher Umsetzungen der Produktgestaltungspflicht unterstützt werden. Diese beispielhaft dargestellten Anreize zeigen, dass es über die Postulierung der Produktgestaltungspflicht hinaus rechtliche Anreize geben kann, die ihre Erfüllung unterstützen. Im Folgenden ist jedoch zu fragen, ob die stofflichen und strukturellen Eigenschaften der Produktinnovationen im Bereich der Elektrogeräte und insbesondere der Personalcomputer die Erfüllung dieser Pflicht möglich machen oder erschweren. 2. Probleme einer verantwortungsvollen Innovationsgestaltung Die Nutzung dieser Anreize stößt unter den realen Bedingungen dieses Marktsektors auf spezifische Probleme, die für eine rechtliche Beeinflussung verantwortungsvoller Innovationen berücksichtigt werden müssen.29 a) Probleme der Innovation Die permanente Funktions- und Leistungssteigerung von Personalcomputern und ihre mobile Nutzung führen zu einer zunehmenden Komplexität, Integration und Miniaturisierung der Produkte, die eine Demontage der Geräte und Wiederverwendung einzelner Bauteile erschwert.30 Innovationszyklen in akzellerierender Geschwindigkeit ihrer Abfolge, für die die Zeit zwischen zwei Produktgenerationen bald nur noch ein halbes Jahr beträgt, erschweren ebenfalls eine Wiederverwendung der Bauteile: Die Bauteile aus Altgeräten sollen mehrere Produktgenerationen später eingesetzt werden, wenn das neue Produkt inzwischen oft so stark weiterentwickelt worden ist, dass das alte Bauteil nicht mehr passt. Für die Produktgestaltung, die eine künftige Wiederverwendung berücksichtigen soll, wäre es aber notwendig zu wissen, wie die Produkte in mehreren Generationen aussehen und welche Bauteile sie verwenden könnten, was meist nicht möglich ist. 29 Die folgenden Ausführen beziehen sich auf Ergebnisse des Workshops „Das Elektrogesetz, Stoffströme und Modularisierung im Bereich PC“ des EPerMod-Projekts am 11. 03. 2008 in der Universität Kassel. 30 s. auch Norbert Vogl, Die Kreislaufwirtschaft bei Elektro- und Elektronikgeräten, 2007, S. 7.
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Insgesamt ist festzustellen, dass die Struktur und die Zeitabläufe der Innovationsentwicklung bei Personalcomputern eher einer Spirale als einem Kreis entsprechen. Konzepte einer Kreislaufwirtschaft passen hier nicht richtig.
b) Probleme des Markts Für Personalcomputer besteht am Markt vor allem eine Preiskonkurrenz. Über den Verkauf entscheidet bei vergleichbaren Leistungskennzahlen vor allem der Preis. Die Qualität der Geräte ist als Verkaufsargument weniger relevant, noch weniger zählt die Qualität hinsichtlich weicher Faktoren wie Entsorgungsvorteilen. Die schnellen Innovationszyklen führen zu einer künstlichen Produktalterung, die durch Design und Marketing noch unterstützt werden. Dies führt dazu, dass vielfach neue Geräte gekauft werden, obwohl die alten noch funktionsfähig sind. Die Geräte werden erheblich kürzer genutzt, als ihrer technischen Lebensdauer entspricht. Damit wird die Menge an Altgeräten künstlich erhöht. Dies erhöht zwar auch die Chancen, das komplette Gerät wiederzuverwenden. Dem steht jedoch der Wunsch der Nutzer entgegen, möglichst die neueste Produktgeneration zu nutzen. Hinsichtlich demontierter Bauteile in einem neuen Produkt bestehen Akzeptanzprobleme, auch wenn die gebrauchten Bauteile noch technisch einwandfrei sind. Auch gebrauchte Bauteile für Wartung und Reparatur stoßen auf Vorbehalte am Markt. Akzeptanzprobleme bestehen aber auch bei den Anbietern. Sie müssen als Verkäufer die Gewährleistung für die wiederverwendeten Geräte oder Bauteile übernehmen, ohne die Qualität dieser Verkaufsgegenstände beeinflussen zu können. Zumindest soweit die Geräte oder Bauteile nicht von ihnen selbst stammen, wollen sie dieses Risiko nicht eingehen. Solange das Kreislaufwirtschaftsrecht und das Kaufrecht in der Frage der Gewährleistungspflicht nicht aufeinander abgestimmt sind, konterkariert das Kaufrecht die kreislaufrechtliche Pflicht zur Wiederverwendung von Geräten und Bauteilen. Der Aufbau eines Markts für die Wiederverwendung von Altgeräten oder Altbauteilen wird vielfach durch unfachgemäße Sammel- und Transportsysteme behindert, durch die die Geräte zerstört oder beschädigt bei den Anbietern im Sekundärmarkt ankommen. Ähnliches gilt für den Markt der Rohstoffe. Zwar ist der Wertstoffgehalt von Personalcomputern relativ hoch. Vielfach sind aber die besonders wertstoffhaltigen Teile entfernt worden, bevor die Altgeräte bei den Entsorgungsbetrieben ankommen. Gefordert wird daher, dass Personalcomputer und Bildschirme getrennt gesammelt und transportiert werden. Die Anforderungen des Elektrogesetzes sind meist nur durch eine manuelle Demontage der Geräte zu erfüllen, diese ist jedoch oft unwirtschaftlich. DesktopGeräte und Bildschirme zeichnen sich durch relativ große Einzelmodule aus, die einer manuellen Demontage eher zugänglich sind als Laptops. Für eine automati-
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sierte Demontage sind die Geräte aber meist zu unterschiedlich und im Fall von Laptops zu komplex und zu integriert und miniaturisiert. Für eine leichtere Demontage werden außerdem bessere Informations- und Kennzeichnungssysteme gefordert. Illegale Exporte von Altgeräten und Elektroschrott gefährden die ökonomische Basis der Wiederverwendung und Verwertungssysteme des Elektrogesetzes, weil diese dem Sekundärmarkt die stoffliche Grundlage entziehen. c) Probleme der Modularisierung Ein Produkt, dessen Elemente modularisiert sind, könnte bei Wartung und Reparatur den leichten Austausch von Bauteilen ermöglichen und dadurch die Lebensdauer des Produkts verlängern. Außerdem könnte es leichter in seine Module demontiert werden und so die Wiederverwendung der Module unterstützen. Gerade für Personalcomputer ist die Modularisierung zu einem prägenden Entwicklungsmuster geworden. Dies schließt nicht nur eine Zerlegung der Produktionsprozesse ein, sondern auch eine Ausdifferenzierung und flexible Verknüpfung von Märkten für die einzelnen Komponenten. Für eine Modularisierung, die eine Wiederverwendung unterstützen soll, ist aber ein zusätzlicher Informations- und Abstimmungsbedarf zwischen den Prozessmodulen in Entwicklung, Produktion und Entsorgung notwendig. Diese Abstimmung müsste über mehrere Produktgenerationen hinweg erfolgen und würde die Möglichkeiten der Neuentwicklung einengen. Schließlich ist gerade bei mobilen Personalcomputern eher ein Trend zu integrierten Produktarchitekturen und nicht zu modularisiert gestalteten Produkten zu erkennen. Während bei Desktop-Computern die langlebigen Peripheriegeräte wie Tastatur, Maus und Bildschirm regelmäßig wiederverwendet werden können, ist dies bei einem Laptop meist nicht oder nur eingeschränkt möglich. Gerade für die Produktion der Personalcomputer mit ihrer hohen Modularisierung sind die Marktstrukturen sehr flexibel und die Anbieterstrukturen nicht fest gefügt. Dies führt zu geringen Verantwortungswahrnehmungskompetenzen. Viele mittelständische Anbieter übernehmen nur Teile von anderen Anbietern und fügen sie zu Endprodukten zusammen. Sie selbst haben damit nur einen geringen Einfluss auf die Produktgestaltung. Auch sind viele Anbieter (Start-up-Unternehmen) nur kurzfristig auf dem Markt, gehen in Insolvenz, lösen sich auf oder gehen in Zusammenschlüssen unter. Eine langfristige Produktpolitik mit Lerneffekten auf Grund rechtlich strukturierter Anreize ist daher nur bei wenigen großen Herstellern zu erwarten. 3. Behinderungen einer verantwortungsvollen Innovationsgestaltung Mindestens ebenso wichtig für das erreichte und zu erreichende Ergebnis wie die dargestellten stofflichen und strukturellen Bedingungen dürften jedoch die Anreize und Fehlanreize des Elektrogesetzes sein. Gemessen an den notwendigen
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Anreizen für eine verantwortungsvolle Produktgestaltung31 stellen einige Regelungen des Elektrogesetzes sogar Behinderungen einer verantwortungsvollen Innovationsgestaltung dar. Sie bewirken entweder gegenteilige Handlungsanreize bei den Verantwortlichen oder führen dazu, dass diejenigen, die Innovationsverantwortung wahrnehmen, wirtschaftliche Nachteile im Wettbewerb mit denen hinnehmen müssen, die es nicht tun. a) Verfehlte Ziele Anspruchsvolle Output-Ziele, deren Erfüllung überprüft wird, können die Hersteller zu einer diesen Zielen angepassten Produktgestaltung anhalten und sogar Anreize für innovative Produkte bieten. Die Ziele, die das Elektrogesetz aufstellt, wurden jedoch bereits im Jahr 2006, im ersten Jahr seiner Geltung,32 bei weitem überschritten. Statt der Sammelquote nach § 1 Abs. 1 Satz 3 von vier Kilogramm Altgeräte aus privaten Haushalten pro Einwohner und Jahr wurden über acht Kilogramm erreicht.33 Statt der Quoten des § 12 Abs. 1 Nr. 2 bei Altgeräten der Kategorie 3 für die Verwertung von 75 Prozent des durchschnittlichen Gewichts und für die Wiederverwendung und stoffliche Verwertung von 65 Prozent des durchschnittlichen Gewichts wurden 2006 für die Verwertung 95,3 Prozent und für das Recycling 77,8 Prozent erreicht. Die viel zu niedrigen gesetzlichen Quoten boten somit keinen Anreiz für zusätzliche Anstrengungen, sondern hatten eher den gegenteiligen Effekt, Anstrengungen zu reduzieren, weil man ohnehin über dem geforderten Soll lag.34 Wenn die im Elektrogesetz festgesetzten Quoten bereits vor seinem Inkrafttreten erreicht wurden, stellt sich die Frage nach der umweltpolitischen Zielsetzung der Quoten und dem angestrebten Nutzen des Gesetzes.35 Wie weit entfernt die Zielsetzungen von den tatsächlichen Möglichkeiten sind, wird deutlich, wenn das Sammelziel von vier Kilogramm pro Einwohner und Jahr mit dem geschätzten Gesamtaufkommen an Elektroaltgeräten von circa 19 Kilogramm pro Jahr und Einwohner36 verglichen wird. Im Elektrogesetz wurden einfach die Zielvorgaben der WEEE-Richtlinie übernommen. Die niedrig gewählten europäischen Zielvorgaben verfolgten jedoch s. Kapitel III. 1. a). Das Elektrogesetz galt sogar erst ab dem 24. 03. 2006. 33 Bundesumweltministerium (Fn. 7), S. 13. 34 s. z. B. Perrine Chancerel / Wolf-Peter Schill / Vera Susanne Rotter, Praktische Aspekte der individuellen Herstellerverantwortung für Elektro- und Elektronikaltgeräte, in: ThoméKozmiensky, Karl J. / Versteyl, Andrea / Beckmann; Michael (Hrsg.), Produktverantwortung, 2007, S. 278. 35 Giesberts / Hilf (Fn. 15), § 1 Rn. 35. 36 s. Vera Susanne Rotter / Alexander Janz / Bernd Bilitewski, Charakterisierung elektrischer und elektronischer Altgeräte (EAG) – 1. Teil: Mengenprognosen und Zusammensetzung von Kleingeräten, Müll und Abfall 2006, S. 368. 31 32
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nicht das Ziel, eine möglichst hohe Sammel-, Verwertungs- und Recycling-Quote zu erreichen, sondern eine wirtschaftliche Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen dadurch zu erreichen, dass sie – mit Blick auf Mitgliedstaaten mit einem geringeren Gesamtaufkommen und unterentwickelter Entsorgungswirtschaft – allgemeine Mindestzielsetzungen formulierten.37 Nach Art. 5 Abs. 5 Satz 2 WEEE-Richtlinie soll bis Ende 2008 unter Berücksichtigung der technischen und wirtschaftlichen Erfahrungen der einzelnen Mitgliedstaaten eine neue Zielvorgabe festgelegt werden.37a Hierbei sollte Deutschland darauf dringen, dass orientiert am jeweiligen Leistungspotenzial anspruchsvolle Ziele gesetzt werden, oder zumindest in der Umsetzung der neuen europäischen Zielsetzungen für Deutschland umweltpolitisch verantwortungsvolle Ziele wählen. Angesichts der zu niedrigen Zielsetzungen war es fast konsequent, dass das Elektrogesetz für die Nichteinhaltung der vorgegebenen Quoten keine Sanktion vorgesehen hat.38 Zielsetzungen ohne Kontrolle und Sanktion üben jedoch nur geringe Anreizwirkungen aus. b) Fehlende Rückwirkung Eine recyclinggerechte Produktgestaltung muss für den Hersteller eine positive Rückwirkung haben, wenn ein dauerhafter Anreiz zur Herstellung langlebiger, wiederverwendbarer und stofflich verwertbarer Produkte gesetzt werden soll. Eine positive oder negative Rückwirkung der Produktgestaltung auf die Hersteller wird jedoch durch die Verpflichtung der Kommunen, die Altgeräte aus den privaten Haushalten – 85 Prozent aller Altgeräte – auf eigene Kosten zu sammeln, verhindert. Die Hersteller haben nur für die Bereitstellung der Abfallbehälter und die Abholung bei den kommunalen Sammelstellen und die Entsorgung der Altgeräte zu sorgen. Dies hat zur Folge, dass ein Hersteller nicht die verbrauchten Produkte erhält, die er selbst hergestellt hat, sondern die Produkte aus einer der fünf Produktklassen, in die auch seine eigenen Produkte fallen. Es kann also sein, dass er einen Behälter entsorgen muss, der kein einziges Altgerät aus seiner eigenen Produktion enthält.39 Darüber hinaus ermöglicht § 9 Abs. 6 den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern, von ihnen ausgewählte Kategorien von Altgeräten eigenständig wiederzuver37 Mario Tobias / Hans-Jochen Lückefett, Das Elektrogesetz – Herstellerverantwortung, Altgerätemanagement und Verpflichtete, ZUR 2005, S. 232. 37a Nach dem Vorschlag der Europäischen Kommission, KOM (2008) 810 endg., soll eine Mindestsammelquote von 65 Prozent eingeführt und die Quote für die Wiederverwendung ganzer Geräte um 5 Prozent erhöht werden – s. dagegen BR-Drucks. 999 / 08. 38 Lückefett (Fn. 20), Kap. C Rn. 43. 39 s. hierzu näher unter c).
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wenden und zu verwerten und damit zur Refinanzierung der Sammlungskosten zu vermarkten. In diesem Fall können Sozialbetriebe und Behindertenwerkstätten mit der Demontage und Verwertung von Altgeräten beschäftigt werden.40 Das Eigenvermarktungsrecht der Kommunen und damit die Möglichkeit, selbst Einnahmen aus der Verwertung von Altgeräten zu erwirtschaften, insbesondere im Falle hoher Rohstoffpreise, ist eine Folge des Kompromisses der geteilten Entsorgungsverantwortung. Um „Rosinenpickerei“ zu vermeiden, müssen die Kommunen die eigene Vermarktung zwar für mindestens ein Jahr festlegen und diese drei Monate zuvor der EAR melden.41 Dennoch werden dadurch gerade die wirtschaftlich interessanten Altgeräte aus der gesammelten Menge herausgenommen und den Herstellern nur die für die Wiederverwendung und stoffliche Verwertung weniger wertvollen Geräte weitergegeben. Durch diese Form der geteilten Entsorgungsverantwortung entsteht eine zwiespältige Anreizwirkung. Zum einen wird durch die Möglichkeit der Eigenvermarktung für die öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger ein Anreiz zur Wiederverwendung und stofflichen Verwertung geschaffen. Bei den Herstellern entsteht jedoch der gegenteilige Anreiz. Sie verlieren jedes Interesse an einer nachhaltigen Produktgestaltung im Sinn der Wiederverwendung und Verwertung einzelner Bestandteile, wenn sie nicht die Möglichkeit haben, ihre eigenen Produkte wiederzuverwenden oder die in ihnen enthaltenen Rohstoffe zurück zu gewinnen. Daraus folgt, dass für die Hersteller im Rahmen ihrer Produktverantwortung Anreizeffekte für eine nachhaltige und innovative Produktgestaltung verloren gehen. Viele Besitzer horten ihre Altgeräte, geben sie in den normalen Restmüll oder überlassen sie Exporteuren, die sie illegal ins Ausland schaffen. Für die Besitzer besteht nach § 9 Abs. 1 lediglich eine Verpflichtung, nicht aber ein Anreiz, Altgeräte einer getrennten Sammlung zuzuführen. Dies führt in der Praxis dazu, dass Altgeräte in sehr großen Mengen dem Markt für die Wiederverwendung oder die stoffliche Verwertung entzogen werden und dadurch dessen wirtschaftliche Basis gefährdet wird. Hersteller, die ihre Geräte wiederverwenden oder verwerten wollen, verlieren dadurch den Anreiz, ihre Geräte für diesen Zweck besonders zu gestalten. Eine Mitwirkung der Besitzer ist eine notwendige Voraussetzung für eine funktionierende Recyclingwirtschaft, die durch rechtliche Rahmensetzung sichergestellt werden muss. c) Kollektive Branchenverantwortung Eine recyclinggerechte Produktgestaltung ist die individuelle Aufgabe jedes Herstellers. Anreize für die individuelle Wahrnehmung der Produzentenverantwor40 Renate Prelle, Rechtsrahmen und Auswirkungen des Elektro- und Elektronikgerätegesetzes in der Praxis, in: Thomé-Kozmiensky, Karl J. / Versteyl, Andrea / Beckmann, Michael (Hrsg.), Produktverantwortung, 2007, S. 261. 41 Tobias / Lückefett (Fn. 37), ZUR 2005, S. 237 f.
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tung entstehen aber nur, wenn der jeweilige Produzent auch Vorteile durch seine spezifische Produktgestaltung hat. Gehen jedoch seine Verantwortung und sein Vorteil in einer kollektiven Verantwortung der Branche unter, gibt es für ihn keinen Handlungsanreiz. Hinsichtlich der Altgeräte aus privaten Haushalten sind die Hersteller für die Abholung der Abfallbehälter bei den Kommunen, die Wiederverwendung und Verwertung der Altgeräte oder ihre Beseitigung entsprechend ihrem Marktanteil verantwortlich. Ein Hersteller erhält nicht die verbrauchten Produkte, die er selbst hergestellt hat, sondern allgemein Produkte aus denselben der fünf Produktklassen, in die auch seine eigenen Produkte fallen. Dies erschwert eine Wiederverwendung und Verwertung der eigenen Produkte.42 Die Pflicht zur Wiederverwendung und Verwertung trifft somit die Branche als Ganzes. Diese soll durch die Pflicht zu einer recyclinggerechten Produktgestaltung ermöglicht oder unterstützt werden. Beide Pflichten laufen jedoch dadurch, dass die eine individuell und die andere kollektiv ausgestaltet ist, ins Leere. Ein Anreiz zur recyclinggerechten Produktgestaltung besteht dann, wenn die leichtere Gewinnung von Sekundärrohstoffen oder eine Wiederverwendung zum Ausgleich der Entsorgungskosten des Herstellers beiträgt. Wenn er aber die Kosten für die Entsorgung der Produkte anderer tragen muss, auf deren Produktgestaltung er keinen Einfluss hat, macht die Gestaltung der eigenen Produkte für ihn wenig Sinn. Umgekehrt ziehen durch die Kollektivierung der Pflicht zur Wiederverwendung und Verwertung alle anderen Marktteilnehmer einen Vorteil aus seiner umweltgerechten Produktkonzeption.43 Bei einer kollektiven Branchenverantwortung besteht daher kein Anreiz zu einer umweltgerechten und innovativen Produktgestaltung. Die Kosten einer solchen Produktgestaltung haben sogar eine individuell abschreckende Wirkung.44 Die Regelung im Elektrogesetz begünstigt Trittbrettfahrer. Kommen Hersteller ihren Gestaltungspflichten nicht nach, trägt die gesamte Branche die erhöhten Entsorgungskosten. Ein Hersteller hat kaum die Möglichkeit, seine Entsorgungskosten durch die Herstellung umweltgerechter Produkte zu beeinflussen.45 Somit verhalten sich die Hersteller ökonomisch rational, die durch eine nichtumweltgerechte Gestaltung ihrer Produkte Kosten sparen. Denkbar wäre, dass die jeweilige Branche durch Vorgaben von Branchenverbänden das Ziel recyclinggerechter Produktgestaltung verfolgt. Der indirekte Zwang Chancerel / Schill / Rotter (Fn. 34), S. 282. Prelle (Fn. 40), S. 249. 44 Dies geht über das Informationsdefizit bei den Herstellern, die nur unvollkommene Informationen über die Entsorgung ihrer besonders gestalteten Geräte erhalten, hinaus – s. zum Informationsdefizit Martin Bullinger, in: Bullinger, Martin / Lückefett, Hans-Jochen (Hrsg.), Das neue Elektrogesetz, 2005, Kap. B Rn. 24. 45 Martin Führ u.a., Herstellerverantwortung nach WEEE-Richtlinie und Produktinnovationen, Müll und Abfall 2008, S. 11. 42 43
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zu branchenweiten Absprachen zu Produktgestaltungen könnte aber den Nebeneffekt bewirken, dass innovationsfördernder Wettbewerb um umweltgerechte Technologien ausgeschaltet oder minimiert wird. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass ein Anreiz zur Produktgestaltung nur dann bestünde, wenn die Vorteile dieser Gestaltung dem Hersteller zufließen würden.46 Dies verhindern jedoch die Regelungen des Elektrogesetzes. d) Übertragung der Pflichterfüllung auf Dritte Für eine recyclinggerechte Produktgestaltung würde nur dann ein Anreiz bestehen, wenn der Hersteller durch sie bei der Erfüllung seiner Entsorgungspflichten Vorteile hätte. § 20 ermöglicht ihm aber, mit der Erfüllung seiner Pflichten zur Rücknahme, Wiederverwendung, Behandlung, Verwertung und Beseitigung von Altgeräten Dritte zu beauftragen.47 In der Praxis nehmen überwiegend privatwirtschaftliche Entsorgungsbetriebe die Pflichten der Hersteller wahr. Die Hersteller haben dadurch nichts mit der Wiederverwendung oder Verwertung ihrer eigenen und fremden Altprodukte zu tun. Sie „spüren“ vom Entsorgungsproblem nur noch die Kostenlast. Die aber hängt nicht von ihrer Produktgestaltung ab, sondern von den Entsorgungskosten, die von der Branche als Ganze verursacht werden. Werden die Abhol- und Entsorgungspflichten auf ein branchenfremdes Unternehmen übertragen, hat dieses kein Interesse an einer Wiederverwendung der jeweiligen Produkte. Da die Entsorgungsbetriebe für viele Hersteller gleichzeitig tätig werden, haben sie auch kein Interesse an einer Differenzierung der Altprodukte, sondern nur an einer gleichmäßigen und kostengünstigen Behandlung. In ihrem Interesse liegt daher hauptsächlich eine einheitliche stoffliche und energetische Verwertung. e) Fehlende Kostenentlastung Eine innovative und recyclinggerechte Produktgestaltung wäre für die Hersteller allenfalls dann interessant, wenn sie ihnen eine Kostenentlastung bringen würde. Eine solche könnte entstehen, wenn die Produktgestaltung in irgendeiner Weise bei der Verteilung der Entsorgungskosten auf die Hersteller berücksichtigt würde. Die Entsorgungskosten eines Herstellers sind davon abhängig, wie viele Behälter mit Altgeräten seiner Produktkategorie er bei den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern abzuholen hat. Doch auch die Berechnungsmethode für die zurückzunehmende Menge an Altgeräten fördert nicht die recyclinggerechte Produktgestaltung. Soweit sich die 46 Zu beachten ist allerdings, dass kein Mitgliedsstaat der Europäischen Union in der Umsetzung der WEEE-Richtlinie ein rein individuelles Rücknahmesystem realisiert hat. 47 Giesberts / Hilf (Fn. 15), § 20 Rn. 13.
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Berechnung nach § 14 Abs. 5 Satz 2 am aktuellen Marktanteil orientiert, hat ein Hersteller, der langlebige Produkte auf den Markt bringt und dadurch das Abfallaufkommen reduziert, keinen Vorteil hinsichtlich seiner Entsorgungskosten. Nach § 14 Abs. 5 Satz 3 kann der Hersteller allerdings dafür optieren, dass sich die zurückzunehmende Menge an Altgeräten nach dem tatsächlichen Anteil seiner Altgeräte am Gesamtaufkommen im Jahr richtet. Dies hat allerdings zur Voraussetzung, dass er auf eigene Kosten diesen Anteil durch Sortierung oder nach wissenschaftlich anerkannten statistischen Methoden nachweist.48 Diese Berechnungsmethode würde zwar die Langlebigkeit von Produkten berücksichtigen, aber nicht die durch Produktgestaltung geschaffene Möglichkeit, sie leichter wiederzuverwenden oder zu verwerten. Allerdings richtet sich die Höhe der nach § 6 Abs. 3 Satz 1 zu leistenden Garantie an dem Rücklauf, an den Entsorgungskosten sowie an der Nutzungsdauer der Elektrogeräte aus, die er in den Verkehr bringt. Kann er nachweisen, dass seine Produkte geringere Entsorgungskosten verursachen, reduziert dies die Höhe seiner Garantie und dadurch auch die Kosten, die er für die Garantie aufzubringen hat. Insofern bietet diese Vorschrift einen gewissen Anreiz für eine Produktgestaltung, die Entsorgungskosten spart.49 f) Notwendigkeit der Eigeninitiative Hersteller können auch eigene Rücknahmesysteme aufbauen. Dies würde zu unmittelbaren Rückwirkungen der Produktgestaltung auf Entsorgungsaufwand und Entsorgungskosten führen. Anreizeffekte für eine entsorgungsgünstige Produktverbesserung könnten auch dadurch entstehen, dass die Hersteller über den gesamten Produktlebenszyklus sowie über die Entsorgungskosten ihrer Produkte vollständig informiert sind.50 Da die Hersteller an einer Ersparnis bei den Entsorgungskosten interessiert sind, die mit einem geringen Produktionsaufwand zu erreichen ist, wird sich die Produktgestaltung an dem Ziel der Vermeidung und einer erleichterten Entsorgung orientieren.51 48 Hier könnte die Technik der RFID-Ettiketten auf Elektrogeräten weiterhelfen. Im Sinne eines „Internet der Dinge“ können die RFID-Label Informationen zu dem jeweiligen Gerät, wie z. B. Hersteller, Importeur, Verkaufsdatum, Inhaltsstoffe, Schadstoffe, Wartungen, Reparaturen, Demontageanweisungen, Entsorgungshinweise und ähnliche Informationen, im Internet vermitteln. Durch das automatisierte Auslesen und Auswerten dieser Informationen, können neue Möglichkeiten der Behandlung und Abrechnung zu entsorgender Gegenstände eröffnet werden – s. hierzu das DFG-Projekt „Einsatz der RFID-Technologie als Innovation für eine ressourcenoptimierte und datenschutzgerechte Kreislauf- und Entsorgungswirtschaft (IDEnt)“, http: / / provet.uni-kassel.de / projekte / ident (zuletzt abgerufen am 02. 01. 2009); s. auch Alexander Roßnagel / Gerrit Hornung, Umweltschutz versus Datenschutz? – Zu den Möglichkeiten eines datenschutzkonformen Einsatzes von RFID-Systemen zur Abfallerkennung, UPR 2007, S. 255. 49 Prelle (Fn. 40), S. 249; s. auch Chancerel / Schill / Rotter (Fn. 32), S. 269 f. 50 Bullinger (Fn. 44), Kap. B Rn. 18.
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Hinsichtlich der Altgeräte aus Haushalten können Hersteller nach § 9 Abs. 7 und 8 für sich oder mit anderen zusammen eigene Rücknahmesysteme allein für ihre Altgeräte aufbauen. Sie können sich dadurch von den Zwängen der Kollektivsysteme befreien und das allgemeine System der Abholung vermeiden. Auch für den Aufbau solcher freiwilliger individueller oder kollektiver Rücknahmesysteme können sie sich Dritter – etwa Dienstleistern wie DSD – bedienen. Der Aufbau solcher Systeme ist jedoch aufwändig. Anreize hierfür ergeben sich nur dann, wenn dieses System für den Hersteller kostengünstiger wäre als die Teilnahme am allgemeinen System oder wenn die Kunden dies fordern. Rechtliche Regelungen, die dies fördern oder erleichtern, gibt es nicht. Für das Einsammeln der gewerblich genutzten Altgeräte sind die Hersteller nach § 10 Abs. 2 unmittelbar zuständig. § 10 Abs. 2 Satz 3 erlaubt jedoch auch abweichende Vereinbarungen zwischen Hersteller und Nutzer. Hersteller können mit einem belieferten Unternehmen vereinbaren, dass dieses für die von ihm genutzten Altgeräte die Entsorgung nach Maßgabe des Elektrogesetzes übernimmt.52
IV. Zusammenfassung Das Zusammenführen von Entsorgungsaufgaben und -kosten mit der Produktgestaltung ist grundsätzlich ein sinnvoller Ansatz, um Innovationsverantwortung zu aktivieren. Er ermöglicht eine rechtliche Innovationsgestaltung am Maßstab der Produktverantwortung. Die Modularisierung von Produktion und Produkten bietet grundsätzlich Ansatzpunkte, dieser Produktverantwortung leichter gerecht zu werden. Theoretisch sind geeignete Anreizstrukturen möglich, die durch einen passenden rechtlichen Rahmen gesetzt oder ausgestaltet werden können. Das geltende Elektrogesetz behindert jedoch die Wahrnehmung von Verantwortung in der Innovation. Es enthält keine ausreichenden Anreize für eine verantwortliche Produktgestaltung und bietet keine Vorteile für die Konstruktion und Herstellung langlebiger, wiederverwendbarer und leicht verwertbarer Produkte. Außerdem verhindert es Rückimpulse aus der Entsorgungsphase für die Produktgestaltung. Letztlich führt es daher zu Wettbewerbsnachteilen bei solchen Herstellern, die sich ihrer Verantwortung stellen. Vorteile hat vielmehr, wer bei der Produktgestaltung Aufwand und Kosten spart. Die Ausgestaltung des kollektiven Verantwortungssystems lädt zum Trittbrettfahren ein. Trotz der spezifischen Vorgaben zur Regulierung bietet das Elektrogesetz für die Hersteller auch Handlungsspielräume. Dies gilt zum Beispiel für die Ausgestaltung der insolvenzsicheren Garantien, die Berechnung der Abholpflichten, die Ein51 52
Bullinger (Fn. 26), § 1 Rn. 27 ff. Giesberts / Hilf (Fn. 15), § 10 Rn. 30.
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führung eines eigenen Rücknahmesystems oder die eigenständige Sammlung gewerblich genutzter Altgeräte.53 Über die Ausfüllung dieser Spielräume durch die konkrete Organisation und Ausgestaltung der Wiederverwendung, Verwertung und Entsorgung entscheidet weitgehend der Wettbewerb. Rahmensetzungen, die dabei Innovationsverantwortung sicherstellen, gibt es nicht. Eine umweltgerechte und innovationsfördernde Produktgestaltung ist allerdings durch einfache Patentrezepte nicht zu erreichen. Die gegenwärtige Lösung leidet an zwei grundlegenden Mängeln. Zum einen kann der Versuch, von der letzten Station des Produktlebenszyklus aus auf die ersten Stationen der Produktentwicklung und -gestaltung einzuwirken, nur beschränkt wirksam sein, weil der Steuerungsimpuls nur indirekt und schwach wirken kann. Zum anderen kann die Verbindung individueller Herstellerpflichten mit einem individuelle Verantwortung nivellierenden System kollektiver Umsetzung nicht funktionieren. Allein die Optimierung des Systems individueller Produktgestaltung, die dem Hersteller eigenständig die Verantwortung für die Rücknahme seiner Altgeräte überträgt,54 greift aber ebenfalls zu kurz. Wenn sie davon ausgeht, die Hersteller würden dann ihre Produktkonzeptionen den Zielsetzungen des Elektrogesetzes anpassen, wenn sie dadurch ihre Entsorgungskosten senken können,55 verkennt zum einen die hohen, für viele mittelständischen Unternehmen56 zu hohen Transaktionskosten und zum anderen die sachlichen Probleme der Stoffströme und Produktzyklen (Innovationsspirale).57 Allein die Optimierung des kollektiven Systems durch präzisere Kostenanlastung für die einzelnen Hersteller entsprechend der eingesammelten Abfälle, der enthaltenen Schadstoffe und der Entsorgungskosten vermag aber auch nicht in ausreichendem Maß zu einer umweltgerechten und innovationsfördernden Produktgestaltung beizutragen, weil dadurch nur beschränkte Eigenschaften der Produktgestaltung erfasst und „belohnt“ werden können. Die erforderliche grundlegende Umorientierung der Stoffströme setzt eine aktive Innovationspolitik voraus, die den Ansatz individueller Verantwortung und kostengerechter kollektiver Wahrnehmung mit einem Ansatz fordernder und fördernder Produktgestaltung verbindet. Individuelle Herstellerverantwortung ist durch die Profilbildung für angestrebte Produkteigenschaften, durch Subventionen für angepasste Produkte, durch Diffusionshilfen und durch Netzwerkbildung zu unterstützen und vielfach erst zu ermöglichen.58 Insofern setzt Innovationsverantwortung Strukturen voraus, in denen ihre Erfüllung finanziell und organisatorisch Hurst (Fn. 17), DVBl. 2006, S. 291. Eva Leonhardt, Geregelte Verantwortungslosigkeit?, in: Thomé-Kozmiensky, Karl J. / Versteyl, Andrea / Beckmann, Michael (Hrsg.), Produktverantwortung, 2007, S. 315. 55 Prelle (Fn. 40), S. 250. 56 s. hierzu näher unter III. 2. c). 57 s. hierzu näher unter III. 2. a). 58 In mancher Hinsicht könnte hier das Erneuerbare Energien-Gesetz als Vorbild dienen. 53 54
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möglich ist und in der eine Verweigerung dieser Verantwortung für den Verantwortungsträger Folgen hat. Hierzu kann eine rechtliche Rahmensetzung einen wichtigen Beitrag leisten.
Teil IV Verfahren und Instrumente
Innovationsverantwortung in Verwaltungsverfahren Von Jens-Peter Schneider
I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 II. Reduktion von Unsicherheit bei der Entscheidungsvorbereitung durch wissensgenerierende Verfahrenselemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 1. Ermittlungspflichten der verfahrensleitenden Behörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 2. Mobilisierung privater Wissensbestände durch die Installation von Kommunikationsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 3. Mobilisierung behördlicher Wissensbestände im nationalen und europäischen Verwaltungsverbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 4. Grenzen der Wissensgenerierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 III. Organisatorische und materielle Entscheidungsregeln bei verbleibender Unsicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 1. Unsicherheitsregeln als materielle Entscheidungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 2. Bausteine innerer Entscheidungsverfahren in Ungewissheitslagen . . . . . . . . . . . . . 297 a) Stufung innerer Entscheidungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 b) Perspektivenvielfalt durch Kollegialentscheidungen oder Kontrastgremien . . 298 3. Steigerung der Verwaltungslegitimation durch aufgabenadäquate Kompetenzverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 IV. Risikomanagement durch Entscheidungsflexibilisierung und Verfahrensentgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 V. Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
I. Vorbemerkung Innovation schafft Unsicherheit. Dies ist jedenfalls aus der Perspektive der Innovationsverantwortung der zentrale Problemfaktor. Innovationsverantwortung als Gegenbegriff zu Innovationsoffenheit richtet den rechtswissenschaftlichen Fokus nicht auf die Unsicherheiten hinsichtlich der Realisierungschancen einer Innovation, sondern auf die unsicheren Nebenfolgen des Neuen. Innovationsverantwortung
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soll mit anderen Worten die Gesellschaftsverträglichkeit von Innovationen durch Nebenfolgenbegrenzung bzw. Kompensation von Nebenfolgen sichern1. Ein Instrument zur Gewährleistung von Innovationsverantwortung sind Verwaltungsverfahren, in denen Innovationen auf ihre Nebenfolgen untersucht werden und über ihre behördliche Zulassung entschieden wird. Daneben gibt es Innovationen, die der Gesetzgeber mangels Kenntnis oder aus anderen Erwägungen heraus keinem behördlichen Zulassungsverfahren unterwirft. Stattdessen vertraut bzw. muss der Gesetzgeber auf andere Formen rechtlicher Steuerung etwa mittels Haftungsrecht2 vertrauen. Denkbar sind ferner Innovationsverantwortung realisierende repressive Verwaltungsverfahren auf der Basis von Fachgesetzen oder der polizeirechtlichen Generalklausel, sofern negative Innovationsnebenfolgen erkennbar werden. Die nachfolgende Untersuchung beschränkt sich auf die gezielte Sicherung von Innovationsverantwortung durch die gesetzliche Gestaltung von Zulassungsverfahren, wobei die erzielten Ergebnisse auch für repressive Verfahren zur nachträglichen Beschränkung von aufgetretenen Innovationsnebenfolgen bedeutsam sein können. Verschiedene besonders innovationsgeprägte Gegenstandsbereiche werden in diesem Band detailliert erörtert. Hier geht es um eine abstraktere Querschnittsanalyse, die allerdings zur besseren Veranschaulichung insbesondere auf das Arzneimittelzulassungsrecht und ergänzend auf das Chemikalienrecht nach dem REACh-System zurückgreift. Hintergrund ist neben dem Umstand, dass jedenfalls das Arzneimittelrecht im vorliegenden Band kein Gegenstand einer gesonderten Untersuchung ist, der besondere Innovationsbezug des Arzneimittelrechts mit offenkundigen Wissensproblemen hinsichtlich etwaiger Innovationsnebenfolgen3. Zudem enthält das Arzneimittelzulassungsrecht drei Verfahrensvarianten, die sich durch die unterschiedlich verdichtete Einbindung in einen europäischen Verfahrensverbund voneinander abgrenzen und somit für eine gestufte Europäisierung von Innovationsverantwortung ein instruktives Beispiel liefern4. Konkret handelt es sich um – eine rein nationale Zulassungsvariante gemäß den §§ 21, 25 AMG; – die Variante einer Zulassung nach dem sogenannten Referenzentscheidungsmodell5, d. h. einer Erstzulassung durch einen Mitgliedstaat, deren Risikobewertungen in nachfolgenden nationalen Anerkennungsverfahren gemäß §§ 22 VI, 1 Wolfgang Hoffmann-Riem, Innovationsoffenheit und Innovationsverantwortung durch Recht, AöR 131 (2006), S. 255 (267 f.). 2 Hierzu Anne Röthel, Zuweisung von Innovationsverantwortung durch Haftungsregeln, in diesem Bande, S. 335 ff. 3 s. auch Udo Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, der für seine Untersuchung ebenfalls das Arzneimittelrecht als Referenzgebiet wählte. 4 s. unten II.3.
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25b AMG i. V. m. den Richtlinien 2001 / 83 / EG bzw. 2001 / 83 / EG grundsätzlich bindend sind; – eine europaweite Zulassung unmittelbar durch Gemeinschaftsorgane (§§ 21 I, 37 AMG; Verordnung 726 / 2004).
Im Verwaltungsverfahren finden sich drei Ansatzpunkte, um Innovationsverantwortung gegenüber unsicheren Innovationsnebenfolgen zu gewährleisten: Reduktion von Unsicherheit bei der Entscheidungsvorbereitung durch wissensgenerierende Verfahrenselemente (II.); Organisatorische und materielle Entscheidungsregeln bei verbleibender Unsicherheit (III.); Entscheidungsflexibilisierung und Verfahrensentgrenzung zur Generierung und Verarbeitung weiteren Wissens, wodurch die Entscheidung zum Ausgangspunkt von Risikomanagementprozessen wird (IV.). Diese drei abstrakten Ansatzpunkte sollen im Weiteren näher beleuchtet werden. Allenfalls beiläufig eingeflochten werden Hinweise zu Varianten der inneradministrativen, parlamentarischen oder gerichtlichen Verwaltungskontrolle, mit denen die Beachtung der nachfolgend erörterten Verfahrensregeln sichergestellt werden sollen.
II. Reduktion von Unsicherheit bei der Entscheidungsvorbereitung durch wissensgenerierende Verfahrenselemente Verwaltungsverfahren sind strukturierte Entscheidungs-, Informations- und Kommunikationsprozesse zur Rechtskonkretisierung6. Erstes Ziel zur Verwirklichung von Innovationsverantwortung muss es aus dieser Perspektive sein, die bei Innovationen unvermeidliche Unsicherheit hinsichtlich negativer Innovationsnebenfolgen vor einer Zulassungsentscheidung durch eine Optimierung der Informationsgrundlagen zu reduzieren, was regelmäßig nur mittels komplexer Kommunikationsprozesse gelingen wird. Insoweit ist zunächst die zur Amtsermittlung verpflichtete Zulassungsbehörde gefordert (1.). Aufgrund asymmetrischer Informationsverteilung müssen die antragstellenden Innovateure ebenso wie Wissensbestände anderer privater Akteure mit oft gegenläufigen Perspektiven bzw. Interessen für die Sachverhaltsermittlung mobilisiert werden (2.). Ferner verlangt die potentielle Multidimensionalität von Innovationsnebenfolgen die Einbeziehung der Kenntnisse anderer Behörden mit zusätzlichen und spezifischen Fachkompetenzen (3.). Angesichts der letztlich unvermeidbaren Wissensdefizite hinsichtlich Innova5 Zu diesem Modell grundlegend: Gernot Sydow, Verwaltungskooperation in der Europäischen Union, 2004, S. 181 ff.; s. ferner: Matthias Laas, Instrumente der europäischen Migrationsverwaltung, DV-Beiheft 8 / 2009, S. 125 (135); Jens-Peter Schneider, Vollzug des Europäischen Wirtschaftsrechts zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung – Bilanz und Ausblick –, EuR-Beiheft 2 / 2005, S. 141 (141 f.). 6 Hierzu näher: Jens-Peter Schneider, Strukturen und Typen von Verwaltungsverfahren, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2008, § 28 Rn. 1 ff.
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tionsnebenfolgen müssen entscheidungsorientierte Verwaltungsverfahren schließlich Grenzen der Wissensgenerierung ziehen und beachten (4.). 1. Ermittlungspflichten der verfahrensleitenden Behörde Die §§ 24, 26 VwVfG gehen für die entscheidungsvorbereitende Informationsgewinnung und -verarbeitung wie auch die wichtigsten innovationsrelevanten Fachgesetze7 vom Grundsatz der Amtsermittlung aus. Die Behörde ermittelt den Sachverhalt von Amts wegen, bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen und ist an das Vorbringen der Beteiligten nicht gebunden. Dabei unterliegt sie den Geboten der vollständigen, gründlichen und – von § 24 II VwVfG aus der Perspektive des bipolaren Eingriffsverfahrens betonten – unparteiischen Sachverhaltsaufklärung.8 Man darf aber daraus – auch unter Beachtung des Gesetzmäßigkeitsprinzips – nicht eine unbedingte Pflicht zur Ermittlung der materiellen Wahrheit konstruieren.9 Unabhängig von der erkenntnistheoretischen Fragwürdigkeit einer solchen Forderung – gerade hinsichtlich der hier interessierenden, erst in der Zukunft auftretenden Innovationsnebenfolgen – missachtete dies gegenläufige Aspekte der Wirtschaftlichkeit und Verhältnismäßigkeit, die in der Rechtsordnung ebenfalls verankert sind und mit der Ermittlungspflicht zum Ausgleich zu bringen sind. Das dafür passende dogmatische Konzept ist das Ermittlungsermessen, wie es § 26 I 1 VwVfG für die Art der Ermittlungen unbestreitbar gewährt, aber wie es auch für deren Intensität anzunehmen ist.10 Für die Problematik der Innovationsverantwortung sind die funktionalen Grenzen einer behördlichen Sachverhaltsermittlung von besonderem Interesse. Grundlegend ist zunächst das generelle Wissensproblem hinsichtlich zukünftiger Folgen bisher nicht verwirklichter Innovationen. Je komplexer die denkbaren Wirkungsbeziehungen und Wirkungspfade einer Innovation sind, desto weniger lassen sich 7 Für das Arzneimittelzulassungsverfahren wird die Amtsermittlungspflicht nicht gesondert betont, aber in § 25 I, II, V 1 AMG implizit vorausgesetzt. 8 Jens-Peter Schneider, Nachvollziehende Amtsermittlung bei der Umweltverträglichkeitsprüfung, 1991, S. 93; s. a. Hans-Heinrich Trute, Die demokratische Legitimation der Verwaltung, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 6 Rn. 100. 9 So aber Klaus-Dieter Schromek, Die Mitwirkungspflichten der am Verwaltungsverfahren Beteiligten: Eine Grenze des Untersuchungsgrundsatzes?, 1989, S. 91 ff., 262. 10 Ausführlich hierzu Schneider, Nachvollziehende Amtsermittlung (Fn. 8), S. 94 ff.; Rainer Wahl, Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, VVDStRL, Bd. 41 (1983), S. 151 (172 f.); Hermann Hill, Verfahrensermessen der Verwaltung, NVwZ 1985, S. 449 (453 f.); s. auch BVerwGE 9, 9 (13 f.); juristisch unbefriedigend ist es, die Konfliktauflösung auf die psychologische Ebene zu verschieben (so aber Schromek, Mitwirkungspflichten [Fn. 9], S. 218 ff.; Christian v. Pestalozza, Der Untersuchungsgrundsatz, in: FS Boorberg-Verlag, 1977, S. 185 [194]) oder dogmatisch gänzlich im Ungewissen zu lassen (so Wilfried Berg, Zur Untersuchungsmaxime im Verwaltungsverfahren, DV, Bd. 9 [1976], S. 161 [167 f.]).
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potentielle Nebenfolgen ermitteln. Vertieft wird das Problem durch die Informationsasymmetrie zwischen der Zulassungsbehörde und den Innovateuren, die zumindest in der Regel einen unmittelbareren Zugang zu den vorhandenen Erkenntnissen über die Wirkungen und Folgen ihrer Innovation und deren Nutzer besitzen. 2. Mobilisierung privater Wissensbestände durch die Installation von Kommunikationsprozessen Deshalb sieht das Fachrecht ganz regelmäßig über die bloßen Mitwirkungsobliegenheiten des § 26 VwVfG hinausgehende Mitwirkungspflichten an der Nebenfolgenermittlung für Innovateure vor. Sie beziehen sich dabei keineswegs allein auf für den Antragsteller günstige Belange aus seiner Sphäre, sondern auch auf die seinem innovativen Produkt oder Vorhaben ggf. entgegenstehenden Wirkungen. Die notwendige Kooperationsbereitschaft ist allerdings aufgrund der unvermeidbaren Anreize der Mitwirkungsverpflichteten zu einer für sie günstigen, eventuell sogar unvollständigen Sachverhaltsdarstellung gleichermaßen prekär. Diesen Gefahren ist unter anderem durch Verfahrensstrukturierung und hinreichende Kontrollermittlungen im Rahmen einer nachvollziehenden Amtsermittlung11 oder systematischer Aufsichtsverfahren12 zu begegnen. Große Bedeutung kommt daneben Beteiligungschancen für Drittbetroffene in späteren Verfahrensphasen zu. Problematisch ist aber nicht allein, dass die Ermittlung von potentiellen negativen Innovationsnebenfolgen den wirtschaftlichen Interessen der Innovateure entgegenstehen kann. Es fehlt aufgrund der Neuigkeit der Innovationen oft noch grundlegender überhaupt an Wissensbeständen über allgemeine Wirkungen etwa bestimmter Umweltbelastungen. Deshalb enthält das Besondere Verwaltungsrecht vielfältige Ansätze zur kooperativen Generierung auch allgemeinen Risiko- oder Risikominimierungswissens13. Sie können hier nur exemplarisch unter Rückgriff auf das Arzneimittelrecht dargestellt und partiell in den nachfolgenden Abschnitten vertieft werden. Zuvor muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass allgemeinem Risikowissen die Eigenschaften eines öffentlichen Gutes zukommen kann. Daraus entstehen problematische Anreizstrukturen, die die hinreichende Produktion von Risikowissen zu verhindern drohen. Eine steuerungsorientierte 11 Näher Schneider, Nachvollziehende Amtsermittlung (Fn. 8), S. 117 f., 122 f., 126 ff.; hierzu als Element einer differenzierten Unparteilichkeitssicherung durch flexible Kompensation Michael Fehling, Verwaltung zwischen Unparteilichkeit und Gestaltungsaufgabe, 2001, S. 395 f. und öfter. 12 Vgl. hierzu Schneider, Verwaltungsverfahren (Fn. 6), § 28 Rn. 164 ff. 13 Hans Christian Röhl, Ausgewählte Verwaltungsverfahren, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2008, § 30 Rn. 24 ff., 30; ähnliche Fragen treten im Regulierungsverwaltungsrecht auf: OLG Düsseldorf, Beschluss v. 20. 03. 2006 – VI-3 Kart 150 / 06 (V), RdE 2006, S. 162 ff. zur dynamischen Kooperationspflicht regulierter Netzbetreiber zur Vorbereitung der energierechtlichen Anreizregulierung.
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Rechtsgestaltung muss diesen Anreizschwächen durch eine aufeinander abgestimmte Kombination materiell- und verfahrensrechtlicher Instrumente entgegenwirken.14 Ferner begründen diese grundlegenden Wissensdefizite die Notwendigkeit der unter D. erörterten kompensierenden Monitoringpflichten sowie Formen der Flexibilisierung von Zulassungsentscheidungen.15 Gemäß § 22 AMG beziehen sich die Kooperationspflichten der Innovateure nicht nur auf analytische Prüfungen der neuen Inhaltsstoffe, sondern auch auf die Ermittlung pharmakologischer, toxikologischer, klinischer und umweltbezogener Risiken sowie auf Vorschläge für das Risikomanagement. Als Nachweise können dabei eigene Prüfungen, Zusammenstellungen allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnismaterials sowie nach den Regeln der §§ 24a ff. AMG nutzbare Unterlagen von Vorantragstellern dienen. Abgesehen von den nachfolgend zu erörternden Instrumentarien der nachvollziehenden Amtsermittlung soll die Qualität der Kooperationsbeiträge der Innovateure durch den Unterlagen beizufügende „unabhängige“ Sachverständigengutachten über die Prüfungsverfahren und -ergebnisse gemäß § 24 AMG sowie nach § 26 AMG durch eine behördliche Vorstrukturierung mittels als Rechtsverordnung erlassener Arzneimittelprüfrichtlinien 16 gesichert werden. Große Bedeutung kommt der Installation von sich an die Unterlagenvorlage anschließenden oder diese vorbereitenden Kommunikationsprozessen zu17. Dabei ist zwischen einer Einbeziehung des Risikowissens anderer „Innovateure“ und „Innovationsverwender“ bzw. der von Innovationsnebenfolgen Betroffener sowie dem Austausch zwischen Behörde und Antragsteller zu unterscheiden. Aufgrund des zumeist inkrementellen Charakters von Innovationen, die zudem vielfach in rekursiven Prozessen mit den Verwendern einer Innovation gestaltet werden, ist zusätzliches Risikowissen keineswegs beim Antragsteller monopolisiert. Vielmehr ist anzustreben, dass dieser seinerseits von andernorts existierendem Wissen profitiert. Im Arzneimittelrecht existieren dazu etwa in den §§ 24a ff. AMG differenzierte Zweitverwertungsrechte an Prüfergebnissen Dritter mit Ausgleichspflichten. Besonders anspruchsvoll ist insoweit das neue Chemikalienrecht nach der REACh-VO, die einen entsprechenden Informationsfluss entlang der Lieferkette organisieren will und auch auf Wissensbündelung in sogenannten REAChForen setzt18. 14 Hierzu die vergleichende Analyse von Chemikalien-, Gentechnik- und Immissionsschutzrecht durch Indra Spiecker gen. Döhmann, Informationsgewinnung im Umweltrecht durch materielles Recht, DVBl 2006, S. 278 ff.; s. auch Karl-Heinz Ladeur, Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft, 1995, S. 260 ff. 15 Hierzu Ladeur, Umweltrecht (Fn. 14), S. 89 ff., 215 f.; ders., Risikooffenheit und Zurechnung – insbesondere im Umweltrecht, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 111 (137). 16 Zur funktional äquivalenten Test-Verordnung im REACh-System: Eckhard Pache, Innovationsverantwortung im Chemikalienrecht, in diesem Bande, S. 251 ff. 17 Hierzu allg.: Röhl, Verwaltungsverfahren (Fn. 13), § 30 Rn. 35.
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Im arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahren sind Partizipationsmöglichkeiten Betroffener und der Öffentlichkeit nur schwach in Gestalt einer mediatisierten Beteiligung in den Zulassungskommissionen19 ausgeprägt, während die REAChVO für das zentrale Zulassungsverfahren sogar Internetkonsultationen verlangt, deren tatsächliche Steuerungsleistung allerdings noch der Evaluation bedarf20. Hintergrund dürften die unterschiedlichen Erwartungen über den Nutzen bzw. die Möglichkeiten einer gehaltvollen Betroffenenpartizipation aufgrund unterschiedlich komplexer Innovationswirkungsbeziehungen sein. Eine unmittelbare Information der Öffentlichkeit erfolgt gemäß § 34 AMG erst nach der Zulassung eines Arzneimittels und steht bezüglich nachträglich bekanntwerdender Risikoinformationen im Ermessen der Behörde (§ 62 S. 3 AMG). Ausgeprägt sind angesichts der erheblichen Kosten für die Unterlagenerstellung die Kommunikationsbeziehungen zwischen Behörde und Antragsteller. Hierzu gehören zunächst die erwähnten Arzneimittelprüfrichtlinien. Zudem sieht § 25a AMG eine Unterlagenvorprüfung durch Behördensachverständige vor. Die nachvollziehende Amtsermittlung in Form der behördlichen Prüfung der Antragsunterlagen wird in § 25 IV-VI AMG detailliert geregelt, wobei der noch zu erörternden Zulassungskommission21 besonderes Gewicht zukommt. Bemerkenswert sind hier die differenzierten Pflichten zur Anhörung des Antragstellers hinsichtlich der Begutachtung seiner Unterlagen (§ 25 V 7, 8 AMG) sowie einer drohenden Zulassungsverweigerung (§ 25 IV AMG). Beides strukturiert und betont die kommunikativen Beziehungen zwischen Antragsteller und Zulassungsbehörde. 3. Mobilisierung behördlicher Wissensbestände im nationalen und europäischen Verwaltungsverbund Über Wissen bezüglich etwaiger Innovationsnebenfolgen verfügen neben der Zulassungsbehörde nicht nur private Akteure, sondern auch andere Behörden. Doch auch im Verhältnis zu diesen ist die Wissensbündelung keinesfalls selbstverständlich, sondern eine anspruchsvolle Aufgabe des Wissensmanagements. Bausteine hierzu sind Datenbanken zur Schaffung verfahrensübergreifender Wissensbestände22, die Beteiligung nationaler Kontrastorgane oder Kontrastbehörden zur 18 Jürgen Fluck, REACH: Die Foren zum Austausch von Stoffinformationen (SIEF) und die Zusammenarbeit mehrerer Verpflichteter bei (Vor-)Registrierung und Bewertung, StoffR 2007, S. 104 ff.; Martin Führ, Registrierung und Bewertung von Stoffen: Risiko-Management entlang der Wertschöpfungskette, in: Neues europäisches Chemikalienrecht (REACH), 2008, S. 87 (96 ff.); Pache, Innovationsverantwortung (Fn. 16), S. 251 ff. 19 Zu diesen unten III.2.b). 20 Allgemein zu Defiziten der Steuerungsleistung und Legitimationswirkung europäischer Konsultationsverfahren: Beate Kohler-Koch, Does Participatory Governance Hold its Promises?, in: dies. / Larat, Fabrice (Hrsg.), Efficient and Democratic Governance in the European Union, CONNEX Report Series Nr. 09, 2008, S. 265 (279 ff.). 21 s. unten III.2.b).
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Perspektivenerweiterung in Zulassungsverfahren23 sowie die Beteiligung wissenschaftlicher oder anderer Kommissionen, soweit diese nicht Teil des nachfolgend erörterten innerbehördlichen Entscheidungsverfahrens sind24. Besonders komplexe Formen der Behördenbeteiligung bieten europäische Verbundverfahren25. Dabei ist zwischen der horizontalen Konsolidierung insbesondere über Stellungnahmebefugnisse anderer nationaler Behörden und der vertikalen Verflechtung von mitgliedstaatlichen und gemeinschaftlichen Verwaltungsorganen zu differenzieren, was aber Kombinationen beider Verbundbeziehungen nicht ausschließt. Im Arzneimittelrecht finden sich verschiedene Ausgestaltungen derartiger Verbundformen einerseits in Zulassungsverfahren nach dem Referenzentscheidungsmodell gemäß §§ 22 VI, 25b AMG i. V. m. den Richtlinien 2001 / 83 / EG bzw. 2001 / 83 / EG sowie andererseits bei der europaweiten Zulassung unmittelbar durch Gemeinschaftsorgane (§§ 21 I, 37 AMG; Verordnung 726 / 2004). Diese komplexen Verfahren können hier nicht im Detail erläutert werden26. Beachtung verdient allerdings die Problematik hinreichend transparenter Verantwortungsstrukturen in derart vernetzten Entscheidungskonstellationen27. Instruktiv ist insoweit die aktuelle Diskussion über eine Reform der europäischen Zulassungsverfahren für gentechnisch veränderte Organismen, die unter anderem auf eine verbesserte Berücksichtigung auf mitgliedstaatlicher Ebene vorhandenen Fachwissens durch die Gemeinschaftsinstitutionen bei gleichzeitiger Erhöhung der Verfahrenstransparenz abzielt28. 22 Vgl. etwa § 67a AMG; allg. hierzu Karl-Heinz Ladeur, Die Kommunikationsinfrastruktur der Verwaltung, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2008, § 21 Rn. 77 ff.; vgl. zu funktional äquivalenten anlassunabhängigen Umweltkartierungen und ihrer Nutzung in Zulassungsverfahren: Schneider, Verwaltungsverfahren (Fn. 6), § 28 Rn. 21. 23 Zu verschiedenen Formen der Behördenbeteiligung: Schneider, Verwaltungsverfahren (Fn. 6), § 28 Rn. 91 ff. 24 Als Beispiel im Arzneimittelrecht s. die Ethikkommission nach Landesrecht, die an der Entscheidung der zuständigen Bundesoberbehörde über die Genehmigung klinischer Prüfungen mitwirken: §§ 40 I, 42 AMG. 25 Röhl, Verwaltungsverfahren (Fn. 13), § 30 Rn. 48 ff.; Jens-Peter Schneider, Strukturen eines Europäischen Verwaltungsverbunds, DV-Beiheft 8 / 2009, S. 9 (18 f.). 26 s. stattdessen zum zentralisierten Verfahren: Sydow, Verwaltungskooperation (Fn. 5), S. 223 ff. (allerdings mit dem unzutreffenden Hinweis, dass die Kommission im Regelungsausschussverfahren entscheide; sie entscheidet stattdessen im Verwaltungsausschussverfahren, s. Art. 10 II, 87 III VO 726 / 2004 i. V. m. Art. 4 des Komitologie-Beschlusses 1999 / 468 / EG); ausführlich zum internen Agenturverfahren: Harald Enzmann / Christian Schneider, Die Rolle des Ausschusses für Humanarzneimittel (CHMP) bei der europäischen zentralen Zulassung, Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 2008, S. 731 ff.; zum arzneimittelrechtlichen Referenzentscheidungsverfahren: Sydow, ebd., S. 191 ff., Enzmann / Schneider, ebd., S. 737 f. 27 Hierzu allgemein: Schneider, Vollzug (Fn. 5), S. 153; ders., Verwaltungsverbund (Fn. 25), S. 21 m. w. N. 28 Vgl. Ratsdokument 16882 / 08 vom 05. 12. 2008 zu den Schlussfolgerungen des Rates bezüglich genetisch veränderter Organismen; Bundesumweltminister Gabriel kritisierte die
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4. Grenzen der Wissensgenerierung Für unser Thema sind ferner die Grenzen der Wissensgenerierung bezüglich etwaiger Innovationsnebenfolgen und damit Beschränkungen der Innovationsverantwortung in Verwaltungsverfahren bedeutsam. Es handelt sich um Stopp-Regeln der Informationserzeugung29. Dies ist besonders dann relevant, wenn noch weitere Informationsquellen oder Ermittlungsmöglichkeiten bestehen. Ein Beispiel für materiellrechtlich bedingte Grenzen sind Grenzwerte. Ist ein Grenzwert eingehalten, braucht die Behörde typischerweise keine weiteren Informationen über die Gefährlichkeit des Vorhabens mehr zu erheben. Des Weiteren ist an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Grenze für belastende Ermittlungsmaßnahmen zu erinnern. Schließlich wirken fixe Verfahrensfristen als Variante einer verfahrensrechtlichen Stopp-Regel.30
III. Organisatorische und materielle Entscheidungsregeln bei verbleibender Unsicherheit Die soeben aufgezeigte Möglichkeit rechtlicher und – in noch größerem Maße – tatsächlicher Grenzen der Wissensgenerierung über künftige Innovationsnebenfolgen verdeutlicht die spezifische Unsicherheitslage, in der über die Zulassung von Innovationen entschieden werden muss. Bedeutsam werden in dieser Konstellation einerseits Unsicherheitsregeln als materielle Entscheidungsregeln (1.) und andererseits die Gestaltung innerer Entscheidungsverfahren (2.). 1. Unsicherheitsregeln als materielle Entscheidungsregeln Die Unsicherheit staatlicher Entscheidungsgrundlagen hat die Rechtswissenschaft bereits seit längerem wahrgenommen. Die durchaus richtige Reaktion bestand primär darin, die Entscheidungswirkungen – wie nachstehend unter D. näher ausgeführt – zu flexibilisieren und die Entscheidung somit zum Ausgangspunkt eines Risikomanagements zu machen31. Dank der Habilitationsschrift von Indra Spiecker gen. Döhmann sind inzwischen aber auch die rechtlichen Strukturierungsgegenwärtigen Verfahren als „organisierte Unverantwortlichkeit“: „EU diskutiert Zulassungsverfahren für Gentechnik“, FAZ v. 07. 07. 2008, S. 13. 29 Hierzu ausführlich Indra Spiecker gen. Döhmann, Staatliche Entscheidungen unter Unsicherheit, Habilitationsschrift Osnabrück 2007, unter 2. Teil 1. Kap. F. 30 Eine solche Regelung befand sich in dem bis zum 31. 05. 2008 gültigen Anmeldeverfahren für neue Stoffe im Sinne des Chemikaliengesetzes. Nach § 8 III ChemG a.F. musste die Behörde weitere Ermittlungen grundsätzlich unterlassen, wenn sie innerhalb von 90 Tagen nicht reagiert hat. Für eine vergleichbare Regelung s. etwa auch § 12 V 2 GenTG. 31 Grundlegend: Ladeur, Umweltrecht (Fn. 14); Di Fabio, Risikoentscheidungen (Fn. 3); s. ferner: Peter Tobias Stoll, Sicherheit als Aufgabe von Staat und Gesellschaft, 2003.
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notwendigkeiten und -möglichkeiten für die eigentliche (dem Risikomanagement vorgelagerte) Unsicherheitsentscheidung selbst stärker in den Fokus genommen worden32. Dies ist vor allem deshalb verdienstvoll, weil Risikomanagement i.d.R. nur greift, wenn risikobehaftete Aktivitäten im Ergebnis zugelassen werden. Wie aber Spiecker im Anschluss an Ladeur zutreffend ausführt, kann auch die Zulassungsversagung Risiken begründen33. So können alte Risiken fortbestehen oder Chancen ungenutzt bleiben. Die Nichtzulassung von Arzneimitteln gegen bisher unheilbare oder nur mit stark belastenden Medikamenten behandelbare Krankheiten liefert hierfür anschauliche Beispiele. Grundlegend ist in diesem Zusammenhang die von Spiecker eingeführte Unterscheidung zwischen Entscheidungsregeln für den Normalfall sicherer Entscheidungsgrundlagen und den von ihr ebenso schlicht wie treffend als Unsicherheitsregeln bezeichneten Entscheidungsvorgaben für den hier interessierenden Fall der Unsicherheit. Letztere sind zumeist nur implizit in den materiellen Entscheidungsvorgaben für den Normalfall enthalten, von diesen selbst zwar beeinflusst, aber gleichwohl analytisch zu trennen34. Ein konkretes Beispiel bietet das Vorsorgeprinzip. Wo das Vorsorgeprinzip gilt, steht – allerdings abhängig von seiner konkreten Ausgestaltung in unterschiedlichem Maße35 – die Vermeidung von Risiken im Zentrum. Dass Chancen ungenutzt bleiben, nimmt die Rechtsordnung in Kauf. Werden dagegen die Grundrechte des Innovators in ihrer abwehrrechtlichen Dimension stärker gewichtet, stehen die Chancen im Vordergrund, nicht die einschlägigen Risiken. Schließlich kann das normative Ziel in einem mehr oder minder ausgewogenen Verhältnis von Chancen und Risiken bestehen. Es ist offenkundig, dass die Wahl zwischen diesen unterschiedlichen Unsicherheitsregeln für den Gesetzgeber oder im Fall unklarer gesetzgeberischer Vorgaben für die Rechtsanwender keine triviale Entscheidung darstellt. Bedenklich und ggf. rechtswidrig wäre jedenfalls eine Verdrängung des beschriebenen Entscheidungsdilemmas durch Auslagerung der Verantwortung auf unhinterfragte Sachverständigenstellungnahmen.36 Auch der im innovationsrelevanten Recht oft einschlägige Maßstab des (gesicherten) Standes der WissenSpiecker gen. Döhmann, Staatliche Entscheidungen (Fn. 29). Ladeur, Umweltrecht (Fn. 14), S. 110; Spiecker gen. Döhmann, Staatliche Entscheidungen (Fn. 29), unter Einleitung B. 34 Spiecker gen. Döhmann, Staatliche Entscheidungen (Fn. 29), unter 3. Teil 1. Kap. 35 Zu den in der Rechtsordnung festzustellenden Differenzierungen: Spiecker gen. Döhmann, Staatliche Entscheidungen (Fn. 29), unter 3. Teil 1. Kap. C. III. 3. a. 36 Udo Di Fabio, Verwaltungsentscheidung durch externen Sachverstand, VerwArch, Bd. 81 (1990), S. 193 (213 ff.); Achim Seidel, Privater Sachverstand und staatliche Garantenstellung im Verwaltungsrecht, 2000, S. 4 f.; Rüdiger Breuer, Die Angst vor Gefahren und Risiken und die sachverständige Beratung nach dem Maßstab praktischer Vernunft, in: Bartlsperger, Richard (Hrsg.), Der Experte bei der Beurteilung von Gefahren und Risiken, 2001, S. 31 (43 ff.); Juliane Scholl, Der private Sachverständige im Verwaltungsverfahren, 2004, S. 14 ff.; s. ferner Patrick Scholl, Der private Sachverständige im Verwaltungsrecht, 2005; Ladeur, Kommunikationsinfrastruktur (Fn. 22), § 21 Rn. 45 ff. 32 33
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schaft muss erst entscheidungs- und risikospezifisch im Verfahren rekonstruiert und generiert werden37, wobei die Notwendigkeit politischer Wertungen hinsichtlich der Vertretbarkeit von Risiken nicht ausgeblendet werden darf38. Deshalb ist die nachfolgende Analyse behördeninterner Entscheidungsverfahren von hoher Bedeutung. 2. Bausteine innerer Entscheidungsverfahren in Ungewissheitslagen a) Stufung innerer Entscheidungsverfahren Die Unsicherheitsentscheidung der zuständigen Behörde setzt einen internen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses voraus. Zu differenzieren ist dieses innere Entscheidungsverfahren in der zuständigen Behörde von den bereits erörterten Verfahren zur Beteiligung anderer Behörden,39 wenngleich zwischen beidem enge funktionelle Zusammenhänge bestehen. Insbesondere kann die Verselbständigung von Behördenteilen bei geeigneter Verfahrensgestaltung zur Stärkung der von ihnen wahrgenommenen öffentlichen Belange im behördlichen Entscheidungskalkül führen.40 Bemerkenswerte Strukturierungsansätze für das innere Entscheidungsverfahren finden sich teilweise im Besonderen Verwaltungsverfahrensrecht.41 Hierzu gehören insbesondere unselbständige Vor- und Zwischenverfahren innerhalb eines Verwaltungsverfahrens zur formalisierten Zwischenbewertung von besonders relevanten Belangen. Besonders ausgeprägt ist die Strukturierung des internen Entscheidungsverfahrens bei der Arzneimittelzulassung. Dieses umfasst in der nationalen Verfahrensvariante42: Behördengutachten zu den Unterlagen des Antragstellers ggf. durch sachverständige Dritte (§ 25 V 2, 5, 7,8 AMG), einen gesonderten Beurteilungsbericht über die eingereichten Unterlagen (§ 25 Va AMG), einen EntscheidungsRöhl, Verwaltungsverfahren (Fn. 13), § 30 Rn. 28. Röhl, Verwaltungsverfahren (Fn. 13), § 30 Rn. 30: Kein durch Sachverständige reproduzierbarer Wissensbestand. 39 Zur Gestaltung innerer Entscheidungsverfahren nach allgemeinem Verwaltungsverfahrensrecht: Schneider, Verwaltungsverfahren (Fn. 6), § 28 Rn. 104 ff.; zur angesprochenen externen Behördenbeteiligung: ebd. Rn. 91 ff. sowie oben II.3. 40 s. Klaus Lange, Innenrecht und Außenrecht, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / SchmidtAßmann, Eberhard / Schuppert, Gunnar Folke (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts – Grundfragen, 1993, S. 307 (321), der aber zugleich auf die Notwendigkeit hinreichender Durchsetzungsmechanismen für eine gehaltvolle Behördenbeteiligung hinweist. 41 s. auch Hans-Heinrich Trute, Methodik der Herstellung und Darstellung verwaltungsrechtlicher Entscheidungen, in: Schmidt-Aßmann, Eberhard / Hoffmann-Riem, Wolfgang (Hrsg.), Methoden der Verwaltungswissenschaft, S. 293 (313 ff.). 42 Zum auch zeitlich exakt vorstrukturierten zentralen Arzneimittelzulassungsverfahren durch die Europäische Kommission und die Europäische Arzneimittelagentur: Enzmann / Schneider, Rolle des Ausschusses (Fn. 26), S. 731 ff. 37 38
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entwurf der Behörde (§ 25 V 5 AMG), die Anhörung einer arzneimittelspezif isch aus Vertretern unterschiedlicher Fach- und Interessengruppen zusammengesetzten Zulassungskommission (§ 25 VI, VIIa AMG), die besondere Begründungspflicht der Behörde, sofern diese vom Votum der Zulassungskommission abweicht (§ 25 VI 3 AMG). b) Perspektivenvielfalt durch Kollegialentscheidungen oder Kontrastgremien Gerade wegen der unumgänglichen Wertungsfragen bei der Abschätzung von Kosten bzw. Risiken einerseits sowie Nutzen und Chancen andererseits, gehört die organisatorische Gewährleistung von Perspektivenvielfalt auch innerhalb von Zulassungsbehörden zu den wichtigen Bausteinen für die Realisierung von Innovationsverantwortung in Verwaltungsverfahren. Ein Instrument hierzu sind Entscheidungszuständigkeiten von Kollegialgremien. Ein anderes ggf. damit kombiniertes Instrument sind behördeninterne Kontrastgremien, die gemeinsam an der Behördenentscheidung mitwirken. Perspektivenvielfalt wird im nationalen Arzneimittelzulassungsverfahren durch die fach- und interessenplurale Zusammensetzung der bereits erwähnten Zulassungskommissionen angestrebt43. Deren Mitglieder werden nämlich vom zuständigen Bundesminister auf Vorschlag unterschiedlicher Akteure wie den Kammern der Heilberufe, den Fachgesellschaften der Ärzte, Apotheker und Pharmakologen, den Verbänden der Pharmaindustrie sowie den Verbänden von Patienten und Verbrauchern ernannt. Kontrastgremien kennt etwa die REACh-VO, die innerhalb der Europäischen Chemikalienagentur sowohl einen Ausschuss für Risikobeurteilung als auch einen gesonderte Stellungnahmen abgebenden Ausschuss für sozioökonomische Analysen installiert44. 3. Steigerung der Verwaltungslegitimation durch aufgabenadäquate Kompetenzverteilung Auf einer vorgelagerten Ebene ist die Grundsatzfrage nach den für eine Entscheidung zuständigen Stellen zu beantworten, deren Auswahl für die Verfahrensergebnisse hohe Relevanz entfalten kann. Innerhalb des europäischen Verwaltungsverbunds bieten sich dabei Möglichkeiten, die Zuständigkeiten jeweils aufgabenspezifisch differenziert zuzuweisen. Dadurch kann fachliche Expertise, aber auch demokratische Verwaltungslegitimation optimiert werden. Die REACh-VO bietet dafür ein instruktives Beispiel, indem nach ihr die primär sachverständige Dossierbewertung unmittelbar durch die Europäische Chemikalienagentur erfolgt, die 43 44
s. § 25 VI, VIIa AMG. Art. 76, 77 III VO 1907 / 2006.
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Stoffbewertung im Normalfall den Mitgliedstaaten mit Unterstützung der Agentur zugewiesen wird, während die besonders binnenmarktrelevanten Zulassungs- und Beschränkungsentscheidungen der Kommission mit Unterstützung durch die Agentur obliegen. Ferner folgen inzwischen viele Rechtsakte dem Grundsatz, dass die primär fachliche Risikoermittlung und -bewertung Expertengremien zugewiesen wird oder jedenfalls unter maßgeblicher Beteiligung von Experten erfolgt, während das auf Kosten / Nutzen-Erwägungen basierende Risikomanagement politischen Organen vorbehalten bleibt45.
IV. Risikomanagement durch Entscheidungsflexibilisierung und Verfahrensentgrenzung Verwaltungsverfahren sind nach dem in § 9 VwVfG deutlich werdenden Leitbild auf den Erlass eines Verwaltungsakts oder den Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrags gerichtet. Aus der Perspektive einer steuerungs- und wirkungsorientierten Verfahrensrechtslehre sind Verfahren hingegen weiter zu fassen46. Dies stimmt mit den eingangs erwähnten Vorstellungen zur Temporalität von Innovationsverantwortung überein. Verfahren setzen sich danach in der Implementation der Verfahrensergebnisse, ihrer Kontrolle und gegebenenfalls Revision sowie in den hierdurch beeinflussten Lernprozessen fort. In den Blick geraten dann rekursive „Verfahrensketten“ etwa in Gestalt aufeinander aufbauender oder einander modifizierender Entscheidungen innerhalb eines sukzessiven Innovations- und Diffusionsprozesses. Diese Anschlussphasen in die Betrachtung einzubeziehen, ermöglicht es, belastende oder entlastende Wechselwirkungen zwischen ihnen und dem Ursprungsverfahren zu erkennen und zu bewerten. Aus dieser Perspektive lassen sich vielfältige Formen einer funktionalen Entgrenzung von Verwaltungsverfahren erkennen47. Bislang nur in Sondermaterien gesetzlich strukturiert sind Formen eines systematischen Entscheidungsmonitorings, obwohl dieses ein bedeutsamer Baustein eines revisionsoffenen und lernorientierten Verwaltungsverfahrensrechts ist48. Im Gegensatz zu Überwachungsverfahren zur Durchsetzung von Bedingungen einer Zulassungsentscheidung49 geht es beim Entscheidungsmonitoring nicht um die Hierzu näher: Eifert, in diesem Bande, S. 369 ff. Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, Kap. 6 Rn. 155; Wolfgang Hoffmann-Riem, Ermöglichung von Flexibilität und Innovationsoffenheit im Verwaltungsrecht, in: ders. / Schmidt-Aßmann, Eberhard (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 9 (60 ff.). 47 Zu den hier nur als Hintergrund interessierenden materiellrechtlichen Fragen: Wolfgang Durner, Die behördliche Befugnis zur Nachbesserung fehlerhafter Verwaltungsakte, VerwArch, Bd. 97 (2006), S. 345 ff. 48 Vgl. Hoffmann-Riem, Flexibilität und Innovationsoffenheit (Fn. 46), S. 63, 64; Ladeur, Risikooffenheit (Fn. 15), S. 137. 45 46
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Durchsetzung, sondern die Evaluation einer getroffenen Entscheidung, insbesondere hinsichtlich ihrer Steuerungswirkungen und Nebenfolgen50. Zwar können die erwähnten Überwachungsverfahren durch Hinweise auf Funktionsdefizite einen Anlass für ein Entscheidungsmonitoring bieten, sie sind aber nicht systematisch auf diesen Zweck ausgerichtet. Impulse für ein systematisches Entscheidungsmonitoring folgen oft aus dem Europäischen Gemeinschaftsrecht. Im Bereich der Anlagenzulassung begnügt sich das EG-Recht allerdings im Wesentlichen mit anlassbedingten Monitoringverfahren. Zwar begründet es z. B. in Art. 13 Richtlinie 96 / 61 / EG über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung eigentlich eine Pflicht zur regelmäßigen Überprüfung der Genehmigung, strukturiert diese aber jenseits anlassbezogener Mindeststandards nicht weiter. Konsequenterweise hat die Pflicht zum regelmäßigen Monitoring im deutschen Anlagenzulassungsrecht ausweislich des § 17 BImSchG auch keinen Niederschlag gefunden. Eine klare systematische Monitoringpflicht kennt hingegen das Arzneimittelrecht51 in den §§ 62 ff. AMG, die ihrerseits auf den Art. 101 ff. der RL 2001 / 83 / EG beruhen. Wesentlich sind dabei die folgenden Bausteine: Ausgangspunkt ist die zentrale Erfassung von Risiken, die bei der Anwendung eines zugelassenen Medikaments auftreten, durch die zuständige Bundesoberbehörde. Diese richtet dazu eine zentrale Datenbank ein. Zur Koordination der verschiedenen staatlichen und privaten Stellen, die am Risikomonitoring teilnehmen, wird ein – nach verschiedenen Gefahrenstufen differenzierter – Stufenplan als allgemeine Verwaltungsvorschrift von der Bundesregierung erstellt. Pharmaunternehmen müssen einen Stufenplanbeauftragten zur innerbetrieblichen Koordination und als Kontaktstelle für die Behörden benennen. Zentrale Instrumente sind ferner Dokumentations- und Meldepflichten für die Pharmaunternehmen. Diese Pflichten sind einerseits anlassabhängig, wenn Risikoverdachtsfälle bekannt werden, und andererseits systematisch, indem der Unternehmer zunächst nach kurzen, später nach vergleichsweise gestreckten Perioden aktualisierte Unbedenklichkeitsberichte erstatten muss. Zur Reaktion auf etwaige Risikohinweise steht den Behörden ein differenziertes Befugnisarsenal zur Verfügung. Besondere Bedeutung besitzt dabei die in § 30 AMG vorgesehene Relativierung des aus der arzneimittelrechtlichen Genehmigung resultierenden Vertrauensschutzes52. Während das soeben beschriebene Entscheidungsmonitoring auf neue Erkenntnisse über Innovationsnebenfolgen abzielt oder Reaktionen auf solche Erkenntniszuwächse ermöglichen soll, wird Monitoring auch dazu eingesetzt, die Kohärenz der Wahrnehmung von Innovationsverantwortung zu verbessern. So weist Art. 30 Schneider (Fn. 6), § 28 Rn. 145 f. Zu unterschiedlichen Typen des Monitoring vgl. Anke Sailer, Bauplanungsrecht und Monitoring, 2006, S. 133 f. 51 Zum Gentechnikrecht s. § 16c GenTG. 52 s. ähnlich § 16a PflSchG. 49 50
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der VO 178 / 2002 der Europäischen Lebensmittelbehörde (EFSA) eine Beobachtungsaufgabe zu, um potenzielle Divergenzen zwischen wissenschaftlichen Gutachten aus verschiedenen Mitgliedstaaten über die Beurteilung gentechnisch veränderter Organismen bereits frühzeitig festzustellen und einen europäischen Verständigungsprozess anzuregen. Diese Kohärenzsicherungsaufgabe des Verfahrensund Entscheidungsmonitoring ist jüngst durch den Rat in ihrer Bedeutung unterstrichen worden53.
V. Bilanz Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass Innovationsverantwortung in Verwaltungsverfahren an sehr unterschiedlichen Aspekten verwirklicht werden kann. Wichtig sind in systematischer Perspektive die Wechselwirkungen zwischen diesen Einzelaspekten, wofür die Rückwirkung der materiellrechtlichen Unsicherheitsregeln auf die Amtsermittlungspflichten der zuständigen Behörden ein signifikanter Beleg ist. Gleiches gilt für die zuletzt angesprochene funktionale Entgrenzung von innovationsbezogenen Verwaltungsverfahren, mit der das Verfahrensrecht die bei Innovationen notwendigen Lernprozesse ermöglichen und strukturieren kann und dadurch das Ausgangsverfahren entlastet.
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Zuordnung der Innovations-Verantwortlichkeiten im Risikoverwaltungsrecht – Das Beispiel der REACh-Verordnung Von Martin Führ und Kilian Bizer
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 II. Regulierungsansatz: Einführung von „Stoffverantwortlichen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 1. Risikobewältigungsmechanismen der REACh-Verordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 a) Generelle Stoffbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 b) Zulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 c) Registrierungspflichtige Stoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 2. Adressaten und Akteure der REACh-Verordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 a) Hersteller und Importeure als primäre Stoffverantwortliche . . . . . . . . . . . . . . . . 310 b) Nachgeschaltete Anwender (Formulierer und gewerbliche End-Anwender)
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c) Händler und Verbraucher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 d) Abfallbehandlung und -entsorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 e) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 3. Risikoermittlung, Risikokommunikation und Risikokooperation: Geteilte Verantwortung der REACh-Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 III. Operationalisierung: Verantwortungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 1. Ermittlung immissionsseitiger Schwellenwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 2. Ermittlung der Exposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 3. Risikobeschreibung: Nachweis „angemessener Beherrschung“ . . . . . . . . . . . . . . . . 317 4. Stoffe mit Eigenschaften „ohne Wirkungsschwelle“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 5. Überblick: Elemente in der umweltbezogenen Risiko-Abschätzung nach REACh
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6. Schlussfolgerungen und Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 IV. Folgenanlastung, Anreiz- und Hemmniskonstellation der Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . 321 1. Anreizstruktur aus dem Aufbau von REACh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 2. Die gestufte Drohung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 3. Verbleibende Defizite in der Anreizstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
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V. Schlussfolgerungen für die Regulierung und Bewältigung von Risiken . . . . . . . . . . . 328 VI. Fazit: Gelungene Zuordnung der Innovationsverantwortung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
I. Einleitung Die EG-Chemikalien-Verordnung REACh1 verfolgt das Ziel, „ein hohes Schutzniveau für die menschliche Gesundheit und für die Umwelt sicherzustellen“; sie soll zudem „den freien Verkehr von Stoffen im Binnenmarkt gewährleisten“ und „gleichzeitig Wettbewerbsfähigkeit und Innovation verbessern“ (Art. 1 Abs. 1). Das Schutzziel umfasst zudem die „Förderung alternativer Beurteilungsmethoden für von Stoffen ausgehende Gefahren“. Für den Bereich der „besonders besorgniserregenden Stoffe“ verlangt die Verordnung von der Wirtschaft, die „allmähliche Substitution dieser Stoffe durch geeignete, weniger bedenkliche Alternativstoffe anzustreben“.2 Die REACh-Verordnung versteht sich damit explizit als innovationsförderndes Recht. Dazu formuliert sie mit ihren Grundpflichten für die REACh-Akteure3 – also Hersteller, Importeure und nachgeschaltete Anwender von Stoffen – einen „Verantwortungsmaßstab“: Gefordert ist danach eine „angemessene Beherrschung“4 stoffbedingter Risiken. Vor diesem Hintergrund ist der Frage nachzugehen, in welcher Weise das Recht für die einzelnen Akteure Verhaltenspflichten und Verhaltenserwartungen formuliert, die darauf gerichtet sind, durch Innovationen5 in stofflicher, technischer oder organisatorischer Hinsicht zu einer Bewältigung6 der Risiken beizutragen. Unter der Perspektive der „Innovationsverantwortung“ 1 Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals, Abl. Nr. L 136 / 3 280 vom 29. 5. 2007 (berichtigte Fassung). Artikel, Anhänge, Titel und Erwägungsgründe ohne Bezeichnung sind im Folgenden solche der REACh-Verordnung (für eine – nutzerfreundlich mit Lesezeichen versehene – PDF-Fassung des Verordnungstextes siehe www. reach-helpdesk.info, unter „Service“). 2 So Erwägungsgrund 70. Operationalisiert ist dies im Zulassungsverfahren; siehe dazu auch Erwägungsgründe 72 ff. in Verbindung mit den Regelungen in Art. 55 ff. sowie Abschnitt II.1.b). 3 Fachbegriffe aus REACh (im Folgenden kursiv gesetzt) erläutert das von den Autoren erarbeitete Glossar, zu finden unter http: //www.reach-helpdesk.info/fileadmin/reach/ dokumente/REACHGlossar.pdf. Siehe auch das Glossar des BDI unter http: //reach.bdi.info/ 277.htm. 4 So die Formulierung in den Grundpflichten aus Art. 14 Abs. 6 und 37 Abs. 5 REACh; siehe dazu Abschnitt III. 5 Zum Innovationsbegriff siehe Führ / Bizer 2008 m. w. N. 6 Der Begriff „Risikobewältigung“ bezeichnet – im Unterschied zur „Risikoregulierung“, welche hoheitliche Rahmensetzungen oder Einzelentscheidungen umfasst – die betrieblichen und überbetrieblichen Maßnahmen, die auf die Einhaltung der stoffbezogenen Grundpflicht bezogen sind.
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kommt es entscheidend darauf an, wie das Recht eine „Folgenanlastung“ bewerkstelligt; mit anderen Worten: Welche Anreize hat der jeweilige Akteur, den von der Rechtsordnung formulierten Verhaltenserwartungen Folge zu leisten und damit zu den intendierten Innovationen beizutragen? Um diese Frage zu beantworten, sind zunächst die für die Nichterfüllung explizit formulierter Pflichten enthaltenen Sanktionen zu betrachten. Dies allein ist aber aus mehreren Gründen nicht ausreichend: – Jede einzelgesetzliche Verantwortungszuordnung erreicht den Adressaten nicht isoliert; vielmehr sieht sich der Akteur einer Vielzahl rechtlicher Anforderungen ausgesetzt, die sein Verhalten beeinflussen sollen und gemeinsam die Mechanismen der Folgenanlastung in einer spezifischen Entscheidungssituation bestimmen. Risikobezogene Verantwortungsmechanismen sind also zu betrachten im Kontext des Regulierungszusammenhangs (also etwa unter Berücksichtigung von Regelungen aus der Umwelt- und Produkthaftung, gesellschaftsrechtlicher Verantwortungszuweisungen etc.). – Eine Besonderheit der Risiko-Regulierung besteht darin, dass die Frage, ob im Verantwortungsbereich des jeweiligen Adressaten tatsächlich ein Risiko vorliegt und worin es gegebenenfalls besteht und wie man ihm begegnen könnte, von vornherein oftmals nicht oder nicht eindeutig zu beantworten ist. Das Recht kombiniert daher prozedurale und materielle Vorgaben, um – oftmals über mehrere Stufen hinweg – zu analysieren, aus welchen Eigenschaften bzw. Wirkungen des Stoffes sich ein Risiko ergeben könnte und wie man ihm gegebenenfalls zu begegnen hat:7 – In der Analyse ist zu unterscheiden zwischen dem „risk assessment“ (RisikoAbschätzung) und dem „risk management“8 (Risiko-Management). Im ersten Schritt geht es zunächst einmal darum, die Risikolage abzuklären (etwa, indem Tests zu den Eigenschaften und den toxikologischen Wirkungen eines Stoffes durchgeführt werden). Sodann ist dann für die unterschiedlichen Anwendungsbereiche des Stoffes die Höhe des Risikos zu bestimmen und zu bewerten, um auf dieser Grundlage nach geeigneten Managementmaßnahmen Ausschau zu halten. Sowohl bei der Risiko-Abschätzung als auch beim Risiko-Management ist es in der Regel notwendig, dass mehrere Akteure kooperieren. Das Recht steht damit vor der Aufgabe, deren Zusammenwirken zu organisieren. – Bei alledem ist schließlich der Faktor „Zeit“ zu berücksichtigen. Die Beiträge der einzelnen Akteure bauen oftmals aufeinander auf. Innovationsorientiertes
7 Für eine Analyse der verschiedenen „Stufen der Risiko-Bewältigung“ und der dabei einzunehmenden „Rollen“ der REACh-Akteure siehe Führ 2008; für eine Analyse aus institutionenökonomischer Perspektive Führ / Bizer 2008. 8 Diesem Beitrag liegt ein – in Anlehnung an den Bericht der Risikokommission (2003; siehe dazu Abschnitt V) – enger Begriff des Risiko-Managements zugrunde, der die vorgelagerte Stufe der Risiko-Abschätzung nicht einschließt.
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Risikoverwaltungsrecht muss daher deren Kommunikation und Kooperation anstoßen und in seinen Vorgaben eine Antwort auf die Frage geben: Wer soll wann – auf welche Weise – mit wem kooperieren? Das Recht zeichnet damit – inhaltlich noch nicht abschließend bestimmte – Stationen auf dem Weg zu einer angemessenen Bewältigung des Risikos vor. Es kann die Akteure aber nicht an die Hand nehmen und Schritt für Schritt in Richtung zum innovationssichernden Verhalten hinführen; dies müssen die Akteure dann aus eigenem Antrieb tun, denn Kreativität, wie sie für Innovationen unerlässlich ist, lässt sich nicht erzwingen, sondern nur ermöglichen. – Neben den „expliziten“ (strikten) Pflichten, enthalten die Regelwerke der Risikoregulierung üblicherweise eine Reihe an „impliziten“ Verhaltenserwartungen. Diese sind zum Teil ausgestaltet als Obliegenheit,9 in manchen Fällen aber auch ohne jede direkte rechtliche Folgenanlastung. Dies muss aber nicht bedeuten, dass sie deshalb für die Innovationswirkung des Risikoregulierungsrahmens ohne Bedeutung sind. Im Gegenteil: In arbeitsteiligen Gesellschaften sind Innovationen meist nur dann zu bewerkstelligen, wenn mehrere Akteure in spezifischer Weise zusammen wirken (Führ / Bizer 2008).
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass es nicht ausreicht, Grundpflichten im Recht zu statuieren; vielmehr bedarf es einer ergänzenden institutionelle Einbettung – mithin eines regulativen Ansatzes, der sich als „Eigen-Verantwortung“ (Führ 2003) bezeichnen lässt. Aus ökonomischer Sicht nutzt diese Form der „Eigen-Verantwortung“ die Motivationslage der Akteure, indem sie die Rahmenbedingungen so gestaltet, dass das Eigen-Interesse der Akteure zu einer erhöhten Zielerreichung im Sinne der REACh-Verordnung führt. Durch diese Verzahnung von Verordnungszielen und den eigenen Motivlagen entfaltet die Verordnung Innovationsoffenheit, weil die Akteure selbst nach Wegen suchen, um gemäß ihrer Interessenlage zu Lösungen zu kommen, die den Zielen der Verordnung entsprechen. Dafür muss die Verordnung aber auf geeignete Weise den Rahmen setzen. Dieser Beitrag untersucht die Rahmensetzung, indem sie den grundsätzlichen Regulierungsansatz mit der Einführung von „Stoffverantwortlichen“ schildert (Kapitel II). REACh enthält einen Verantwortungsmaßstab, der operationalisiert, welche Pflichten die Stoffverantwortlichen in welchen Kontexten zu erfüllen haben (Kapitel III). Die Verordnung definiert damit einen regulatorischen Rahmen, aus dem sich die Möglichkeiten für die Akteure ergeben und der ihnen verdeutlicht, mit welchen Konsequenzen sie zu rechnen haben, wenn sie bestimmte Aufgaben nicht erfüllen (Kapitel IV). Auf dieser Basis lässt sich analytisch abschätzen, ob die Folgenanlastung ausreicht, um die Akteure zu dem erwünschten risikobezogenen Verhalten anzureizen. Daraus lassen sich allgemeine Schlussfolgerungen für die Regulierung und Bewältigung von Risiken ziehen (Kapitel V). Insgesamt zeigt 9 Zum Begriff der Obliegenheit siehe Führ 2003, 109 m. w. N.; zur Funktion von Obliegenheiten bei der Ausfüllung von „Grundpflichten“ bzw. – in grundrechtlicher Perspektive – „Rücksichtnahmepflichtigkeiten“, a. a. O., 209 ff.
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sich, dass die REACh-Verordnung auf gelungene Art und Weise die Innovationsverantwortung ausgestaltet und Akteuren zuweist (Kapitel VI).
II. Regulierungsansatz: Einführung von „Stoffverantwortlichen“ Unter der Überschrift „Ziel und Geltungsbereich“ formuliert Art. 1 Abs. 3 den tragenden „Regulierungsgrundsatz“ der Verordnung. Dieser besteht darin, „dass Hersteller, Importeure und nachgeschaltete Anwender sicherstellen müssen, dass sie Stoffe herstellen, in Verkehr bringen und verwenden, die die menschliche Gesundheit oder die Umwelt nicht nachteilig beeinflussen. Betont wird zudem, der Verordnung liege der Grundsatz der Vorsorge zugrunde (Art. 1 Abs. 3). Der Regulierungsgrundsatz benennt explizit die zentralen REACh-Akteure. Für diese gilt der „Verantwortungsmaßstab“, der verlangt, stoffbedingte Risiken „angemessen zu beherrschen“ (siehe Abschnitt III). Die dazu vorgesehenen Verhaltensbeiträge zur Informationsgewinnung (Risikoermittlung) sowie zur risikobezogenen Kommunikation und Kooperation („IKuK-Pflichten“; siehe Abschnitt II.3) sind zu einem erheblichen Teil eigenverantwortlich zu erbringen (siehe Abschnitt II.2). Bevor dies im Einzelnen zu beleuchten ist, sind aber zunächst die zentralen rechtlichen Mechanismen zu erläutern, derer sich die Verordnung bedient (Abschnitt II.1). 1. Risikobewältigungsmechanismen der REACh-Verordnung Das REACh-Instrumentarium ruht auf drei Säulen, die sich gegenseitig ergänzen. Wie auch nach bisherigem Recht besteht weiterhin die Möglichkeit, generelle Stoffbeschränkungen zu erlassen. Neu hinzugekommen sind das Zulassungs- sowie das Registrierungsverfahren. a) Generelle Stoffbeschränkungen Die stärksten Eingriffsbefugnisse stellt Titel VIII bereit. Auf der Grundlage der Art. 67 ff. kann die Gemeinschaft im Ausschussverfahren nach Art. 133 generelle risikomindernde Maßnahmen vorschreiben. Diese Möglichkeit gab es bereits nach dem bisher geltenden Recht. Die auf dieser Grundlage erlassenen Beschränkungen gelten unter REACh weiter. Dass das bisherige Stoffrecht hier bereits in erheblichem Umfang regulatorische Aktivitäten entfaltet hat, verdeutlich der Anhang XVII, der auf 450 Seiten Stoffverbote und -beschränkungen auflistet.10 Genannt sind 52 Stoffe bzw. Stoffgruppen, von Asbest und Blei über Toluol und Trichlor-
10 Siehe Amtsblatt Nr. L 396 / 396 – 851 vom 30. 12. 2006 (in der – auch drucktechnisch optimierten – berichtigten Fassung vom 29. 5. 2007 sind es immer noch 150 Seiten, L 136 / 129 – 180).
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benzol bis hin zu Phtalaten, die als Weichmacher unter anderem Kinderspielzeug aus Kunststoff11 zugesetzt werden. REACh erweitert jetzt den Anwendungsbereich. Nun kann nicht nur die Verwendung oder das Inverkehrbringen eines Stoffes beschränkt werden, sondern bereits die Herstellung. Voraussetzung ist, dass daraus jeweils ein unannehmbares Risiko für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt resultiert, das auf Gemeinschaftsebene behandelt werden muss (Art. 68). Nach Art. 67 REACh sind die Stoffverantwortlichen verpflichtet, diese Beschränkungen zu beachten und ihr Verhalten an den Beschränkungen auszurichten. Bei diesem Instrument handelt es sich um klassische hoheitliche „Risikoregulierung“; die Darlegungslast für das Bestehen der Risiken sowie für die Angemessenheit der Beschränkungen liegt bei den Behörden.12 b) Zulassungsverfahren Für Stoffe, die als besonders besorgniserregend eingeschätzt werden, greift das – mehrstufige – Verfahren nach Titel VII ein, an dessen Ende die Etablierung einer Zulassungspflicht steht.13 In zeitlicher Hinsicht schließt sich die Zulassungspflicht nicht an das Registrierungsverfahren an, welches sich in mehreren Stufen bis zum 1.6.2018 erstreckt (Art. 23 Abs. 3). Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass durch den Kandidatenstatus das Verfahren nach Titel VII deutlich komplexer ausfällt als andere Zulassungsverfahren. Der bereits mit dem Kandidatenstatus verknüpfte Verbraucher-Informationsanspruch nach Art. 33 Abs. 2 löst starke Impulse in Richtung Substitution und damit zugleich in Richtung auf Innovationen aus (Führ / Bizer 2008). Hervorzuheben ist zudem, dass mit der Erteilung einer Zulassung, die Verantwortung für die RisikoBeherrschung nicht etwa an die staatlichen Stellen gewandert ist. Vielmehr bleiben für die Einhaltung der Zulassungsanforderungen die Akteure in den Wertschöpfungsketten verantwortlich. Sie haben etwa ein Konzept zum „Monitoring“ schon als Bestandteil der Zulassungsunterlagen vorzulegen, welches während der Laufzeit (oftmals in Zusammenarbeit mit anderen Herstellern sowie mit den Behörden) umzusetzen und zu dokumentieren ist.14 11 Etwa den knallgelben „Quietsche-Entchen“ für die Badewanne oder den „Beißringen“, die das Zahnen bei Säuglingen erleichtern sollen 12 Zum Verfahren, welches auch die Beteiligung von zwei Fach-Ausschüssen vorsieht, siehe Art. 68 bis 73. Eine juristische Würdigung – etwa zur Frage einer Einschätzungs- und Beurteilungsprärogative der Gemeinschaftsorgane – soll an dieser Stelle nicht vorgenommen werden. 13 Siehe dazu Köck 2007. Die Anforderungen an den Zulassungsantrag und die Zulassungsentscheidung anhand von zwei Beispielstoffen genauer zu definieren, ist Gegenstand eines Forschungsvorhabens im Auftrag des Umweltbundesamtes („Wirksame Kontrolle“ von SVHC ohne Wirkschwelle im Rahmen der Zulassung, im Rahmen des Umweltforschungsplanes – FKZ 206 67 460 / 02).
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Die erste Empfehlung hinsichtlich der in Anhang XIV aufzunehmenden prioritären Stoffe gibt die Agentur bereits am 1.6.2009 ab; zuvor ist die Liste der „Zulassungs-Kandidaten“ aufzustellen (Art. 59). Die erste von der Europäischen Chemikalien Agentur (ECHA) veröffentliche Liste von Stoffen mit Kandidaten-Status umfasst 15 Stoffe15 und damit bislang deutlich weniger als von Umwelt- und Verbraucherverbänden erwartet.16 Die ECHA will die Zahl der Kandidaten offenbar nach den Kapazitäten bemessen, die für die Durchführung des Zulassungsverfahrens zur Verfügung stehen. Setzt sich diese Vorgehensweise durch, dann verringert sich die Bedeutung des Zulassungsverfahrens erheblich. Dementsprechend kommt auch die im Zulassungsverfahren verankerte Pflicht, Substitutionsmöglichkeiten zu erkunden, kaum zum Tragen, was zugleich die Breite der damit intendierten Innovationsimpulse erheblich einschränkt. c) Registrierungspflichtige Stoffe Vor diesem Hintergrund ist umso mehr damit zu rechnen, dass sich die Zuweisung der Stoffverantwortung mit den darin eingeschlossenen Innovationsanteilen vor allem im Bereich der registrierungspflichtigen Stoffe entfalten wird. Die folgende Darstellung konzentriert sich daher auf die Verantwortungselemente im Kontext des Registrierungsverfahrens. Weil das Zulassungsverfahren in seinen Verhaltensanforderungen auf die Vorgaben zur Risiko-Abschätzung und zum Risiko-Management aus dem Registrierungsverfahren aufbaut, sind damit zugleich die tragenden Elemente des Verantwortungsmaßstabes auch für zulassungspflichtigen Stoffe beschrieben. 2. Adressaten und Akteure der REACh-Verordnung An wen sich die Verordnung primär richtet, formuliert Erwägungsgrund 16: „In dieser Verordnung werden die jeweiligen Pflichten und Auflagen für Hersteller, Importeure und nachgeschaltete Anwender von Stoffen als solchen, in Zubereitungen und in Erzeugnissen festgelegt.“ Dort findet sich auch eine Umschreibung des Regulierungsgrundsatzes mit einer allgemeinen Umschreibung des Verantwor14 Nach Art. 60 Abs. 9 lit. f enthält die Zulassungsentscheidung auch „etwaige Überwachungsregelungen“. Diese zu entwickeln ist nach dem Verursacher-Prinzip Aufgabe des Antragstellers. Für eine Operationalisierung dieser und anderer Anforderungen im Rahmen des Zulassungsverfahrens und deren Umsetzung in zwei „fiktive“ Zulassungsbescheide siehe Führ / Bunke / Hermann / Merenyi / Reihlen 2008, (zu finden unter www.reach-helpdesk.info). 15 Siehe unter http: //echa.europa.eu/chem_data/candidate_list_table_en.asp (so am 24. 11. 2008). 16 Siehe dazu die von Nichtregierungsorganisationen aus den Bereichen, Umwelt-, Verbraucher- und Gesundheitsschutz formulierte Liste von zu substituierenden Stoffen unter http: //www.chemsec.org /.
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tungsmaßstabs: „Diese Verordnung beruht auf dem Grundsatz, dass die Industrie Stoffe mit einer solchen Verantwortung und Sorgfalt herstellen, einführen, verwenden oder in den Verkehr bringen sollte, wie erforderlich ist, um sicherzustellen, dass die menschliche Gesundheit und die Umwelt unter vernünftigerweise vorhersehbaren Verwendungsbedingungen nicht geschädigt werden.“ a) Hersteller und Importeure als primäre Stoffverantwortliche Das Registrierungsverfahren in REACh verlagert die Verantwortung für die Bewertung und Bewältigung stoffbedingter Risiken auf die Hersteller und Importeure (Registranten) sowie die weiteren „Akteure der Lieferkette“.17 Diese haben – angeleitet durch die Vorgaben in den Anhängen zur REACh-Verordnung und in den untergesetzlichen Arbeitshilfen18 eine interne Risiko-Abschätzung vorzunehmen und diese im Rahmen der Registrierungsunterlagen zu dokumentieren. Damit verknüpft ist die stoffbezogene Grundpflicht der Registranten19 aus Art. 14 Abs. 6: – Danach sind Maßnahmen zum Risiko-Management zu identifizieren („Jeder Registrant ermittelt die geeigneten Maßnahmen zur angemessenen Beherrschung der bei der Stoffsicherheitsbeurteilung festgestellten Risiken“) – und im eigenen Verantwortungsbereich umzusetzen ([Jeder Registrant] „wendet diese Maßnahmen an“) sowie – an die anderen Akteure der Lieferkette zu kommunizieren („empfiehlt sie gegebenenfalls in den nach Art. 31 übermittelten Sicherheitsdatenblättern“).
b) Nachgeschaltete Anwender (Formulierer und gewerbliche End-Anwender) Die nachgeschalteten Anwender, also Formulierer (die selbst nicht zugleich Hersteller oder Importeur sind) und gewerbliche Betriebe, in denen die Stoffe zum Einsatz kommen, lassen sich mit dem Begriff sekundäre Stoffverantwortliche charakterisieren. Sie müssen zunächst einmal anhand der vom Registranten bzw. Lieferanten zur Verfügung gestellten Informationen prüfen, ob sie den Stoff auf sichere Art und Weise verwenden20 und gegebenenfalls geeignete Risikomanagementmaßnahmen treffen. 17 So die Definition in Art. 3 Nr. 17 REACh; zu den Pflichten der verschiedenen Akteure im Hinblick auf registrierungspflichtige Stoffe im Einzelnen siehe Führ 2008 m. w. N. 18 RIP’s / REACh Guidance Documents; zu finden unter http: //ecb.jrc.ec.europa.eu/reach/ rip/sowie in der finalen Version unter http: //guidance.echa.europa.eu/guidance_en.htm. 19 Die komplementäre Grundpflicht der nachgeschalteten Anwender findet sich in Art. 37 Abs. 5. 20 Art. 3 Nr. 24 REACh definiert „Verwendung“ als „Verarbeiten, Formulieren, Verbrauchen, Lagern, Bereithalten, Behandeln, Abfüllen in Behältnisse, Umfüllen von einem Behältnis in ein anderes, Mischen, Herstellen eines Artikels oder jeder andere Gebrauch“.
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Grundlage dafür ist das Sicherheitsdatenblatt,21 welches nach Art. 31 Abs. 1 REACh der Lieferant (Art. 3 Nr. 32) dem Abnehmer des Stoffes oder der Zubereitung zu übermitteln hat, sofern der Stoff oder die Zubereitung die Kriterien für die Einstufung als gefährlich gemäß den Richtlinien 67 / 548 / EWG oder 1999 / 45 / EG oder die Kriterien in Anhang XIII (PBT-Eigenschaften) erfüllt oder in die Liste der Belassungskandidaten aufgenommen wurde. Will der nachgeschaltete Anwender eine Verwendungsform zum Einsatz bringen, die von einer im Expositionsszenario beschriebenen Anwendungsbedingung abweicht, hat er gemäß Art. 34 Abs. 4 REACh einen eigenen Stoffsicherheitsbericht in Übereinstimmung mit Anhang XII zu erstellen. Und schließlich hat der nachgeschaltete Anwender die auf diese Weise erzeugten Informationen auch umzusetzen: Nach Art. 34 Abs. 5 REACh hat er „geeignete Maßnahmen zur angemessenen Beherrschung des Risikos zu ermitteln, anzuwenden und ggf. zu empfehlen, die in Folgendem enthalten sind: a) in dem / den ihm übermittelten Sicherheitsdatenblatt / Sicherheitsdatenblättern; b) in seiner eigenen Stoffsicherheitsbewertung.“ Damit unterliegt auch der nachgeschaltete Anwender einer stoffrechtlichen Grundpflicht zur „angemessenen Risikobeherrschung“ aus Art. 37 Abs. 5. Er muss insbesondere – bei angegebenen Verwendungen die in den Sicherheitsdatenblättern enthaltenen Informationen sichten und daraufhin bewerten, inwieweit sie „geeignet“ sind, das in seinem Betrieb bestehende stoffbedingte Risiko „angemessen zu beherrschen“; – bei vom primären Stoffverantwortlichen bzw. Lieferanten nicht angegebenen Verwendungen eine eigene Stoffsicherheitsbewertung anstellen und auf dieser Grundlage in gleicher Weise Maßnahmen ergreifen, mit denen sich das Risiko angemessen beherrschen lässt.
Darüber hinaus haben auch die nachgeschalteten Anwender ihre Stoffsicherheitsberichte zur Verfügung zu stellen und auf dem neuesten Stand zu halten (Art. 37 Abs. 7 REACh).22 Art. 38 Abs. 1 verpflichtet den nachgeschalteten Anwender der Agentur einen Kurzbericht zu übermitteln, wenn er den Stoff abweichend von den im Expositionsszenario beschriebenen Merkmalen verwendet. Während das Sicherheitsdatenblatt einen Informationsfluss in der Wertschöpfungskette „downstream“ gewährleisten soll, unterliegt der nachgeschaltete Anwender nach Art. 34 seinerseits der Pflicht, ihm vorliegende Erkenntnisse auch 21 Siehe Spoo 2007. Das Beispiel eines „REACh-konformen“ Sicherheitsdatenblattes aus der Textil-Kette mit Expositionsszenario findet sich unter http: / / www.reach-helpdesk.info / 196.0.html. 22 Nach Art. 37 Abs. 8 REACh gelten hier ebenfalls die Ausnahmen nach Art. 14 Abs. 5 REACh gelten. Weitere Ausnahmeregelungen finden sich – in Anlehnung an Art. 14 Abs. 2 – in Art. 37 Abs. 4 UA. 2.
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„upstream“ zu kommunizieren. Damit macht der Verordnungstext23 auch an dieser Stelle deutlich, dass REACh ein „lernendes System“ (Ahrens / Führ 2005) etablieren soll. c) Händler und Verbraucher Händler und Verbraucher sind nur in eingeschränktem Umfang als REACh-Akteure anzusehen. Aus der Definition der „nachgeschalteten Anwender“ in Art. 3 Nr. 13 sind sie explizit ausgenommen. Die Händler24 sind allerdings, soweit sie bei Stoffen, Zubereitungen und Erzeugnissen als „Lieferant“ oder „Abnehmer“ in Erscheinung treten,25 Teil der Informationskette; und zwar in beiden Richtungen (upstream: Art. 34). Dementsprechend führt Erwägungsgrund 56 in Satz 1 aus: „Ein Teil der Verantwortung der Hersteller oder Importeure für das Risikomanagement für Stoffe besteht in der Übermittlung von Informationen über diese Stoffe an andere Branchenteilnehmer wie nachgeschaltete Anwender oder Händler.“
Satz 2 bringt dann in Bezug auf die Erzeugnisse auch die Konsumenten ins Spiel, denen Informationen allerdings nur „auf Nachfrage“ zu übermitteln sind: „Hersteller und Importeure von Erzeugnissen sollten ferner industriellen und professionellen Verwendern sowie Konsumenten auf Anfrage Informationen über die sichere Verwendung der Erzeugnisse liefern. Diese wichtige Verantwortung sollte über die gesamte Lieferkette gelten, damit alle Akteure ihrer Verantwortung für das Management der mit der Verwendung der Stoffe verbundenen Risiken gerecht werden können.“
Für den Bereich der „Zulassungskandidaten“ wird die Informationsverpflichtung aus Art. 33 Abs. 2 jedoch voraussichtlich eine durchschlagende Bedeutung entfalten, weil allein die Möglichkeit, dass Verbraucherorganisationen oder Verbraucher-Zeitschriften solche Informationen nachfragen können, dazu führen wird, dass der Handel Stoffe, die auf der Kandidatenliste verzeichnet sind, weitgehend auslisten wird (Führ / Bizer 2008).
In früheren Entwürfen war diese upstream-Verpflichtung noch nicht enthalten. Eine Begriffsbestimmung findet sich in Art. 3 Nr. 14: „natürliche oder juristische Person mit Sitz in der Gemeinschaft, die einen Stoff als solchen oder in einer Zubereitung lediglich lagert und an Dritte in Verkehr bringt; darunter fallen auch Einzelhändler“. 25 Sie füllen dann die „REACh-Rolle“ eines „Lieferanten eines Stoffes oder einer Zubereitung“. Darunter fasst Art. 3 Nr. 32 „Hersteller, Importeur, nachgeschalteter Anwender oder Händler, der einen Stoff als solchen oder in einer Zubereitung oder eine Zubereitung in Verkehr bringt“. Daneben gibt es nach Nr. 33 noch den „Lieferant eines Erzeugnisses: Produzent oder Importeur eines Erzeugnisses, Händler oder anderer Akteur der Lieferkette, der das Erzeugnis in Verkehr bringt“ sowie als Gegenstück die jeweiligen „Abnehmer“ (Nr. 34 und 35), wozu jeweils auch Händler, nicht aber Verbraucher gehören können. 23 24
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d) Abfallbehandlung und -entsorgung REACh formuliert keine Pflichten für diejenigen, die Abfälle behandeln oder entsorgen. Dennoch bleibt auch hier der Lebensweg-Ansatz erhalten, denn der primäre Stoffverantwortliche muss die Entsorgungsphase bei der Risiko-Abschätzung mit berücksichtigen und im Sicherheitsdatenblatt26 dokumentieren: Die im Rahmen der Expositionsszenarien27 zu berücksichtigenden „Risikomanagementmaßnahmen“ umfassen nach Anhang I Nr. 5.1.1. auch „Maßnahmen zur Abfallbehandlung zur Verringerung oder Vermeidung der Exposition von Menschen und Umwelt gegenüber dem Stoff während der Abfallentsorgung und / oder -verwertung.“
Bei der Expositionsabschätzung sind die „Emissionen während aller relevanten Abschnitte des Lebenszyklus des Stoffes“ zu berücksichtigen; dazu gehört „gegebenenfalls“ die Abfallphase (Anhang I Nr. 5.2.2.). Allerdings stellt sich das Problem, wie die Risikokommunikation von den primären und sekundären Stoffverantwortlichen mit den Akteuren der Abfallwirtschaft praktisch zu bewerkstelligen ist. Oftmals gibt es zwischen beiden keinen direkten Kontakt und folglich auch keine direkte Risikokommunikation. Und Sicherheitsdatenblätter sind wohl auch nur ausnahmsweise ein geeignetes Instrument des Informationstransfers. Notwendig sind daher „intelligente“ Wege der Informationsbereitstellung für die Entsorgungsphase kombiniert mit Zurechnungsmechanismen, die u. a. dafür sorgen, dass Kostensignale aus der Abfallbehandlung und -entsorgung auch die Akteure erreichen, die maßgeblich sind, um zu Beginn der Lieferkette stoffliche Innovationen auf den Weg zu bringen.28 Nicht explizit geregelt ist bislang auch, wie Informationen aus der Abfallphase – etwa im Hinblick auf besondere stoffliche Probleme, die sich in der Praxis beim Lagern, Behandeln und Entsorgen ergeben – upstream zu kommunizieren sind. Diese Angaben sind notwendig, um aussagekräftige Angaben im Registrierungsdossier und im Sicherheitsdatenblatt machen zu können. Wenn die primären Stoffverantwortlichen eine aussagekräftige Emissionsabschätzung vornehmen wollen – und dies verlangt REACh29 – sind sie gefordert, entsprechende Rückkopplungswege zu eröffnen.30
26 Anhang II gibt vor, im Sicherheitsdatenblatt unter Nr. 13 näher definierte „Hinweise zur Entsorgung“ aufzunehmen, wozu auch Angaben zu den zu beachtenden Bestimmungen des Abfallrechts gehören. 27 Siehe dazu Abschnitt III.2. 28 Welche Rolle „smart-labels“ hierbei spielen können, untersucht für den Bereich der Elektro- und Elektronikprodukte das vom BMBF geförderte Forschungsvorhaben ELIVES; siehe dazu Führ / Roller / Schmidt 2008 sowie Führ / Cichorowski / Hottenroth / Nuphaus / Barginda et al. 2008 sowie die Projektdokumentation unter www.elvies.de. 29 Hier findet sich damit ein weiteres Beispiel für eine „implizite Verhaltenserwartung“.
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e) Fazit Für das Innovationsziel kommt es vor allem darauf an, die Herstellungsprozesse und das „Design“ der Produkte zu verändern. Von daher ist es folgerichtig, dass REACh sich auf die Stufen der Wertschöpfungskette konzentriert, die es unmittelbar in der Hand haben, die Zusammensetzung der Produkte zu beeinflussen. Diesen weist die Verordnung Handlungspflichten zu und verknüpft sie mit einem abgestuften System von Folgenanlastungen. Es handelt sich also um „Verantwortung“ im Rechtssinne. Im Hinblick auf das bislang vorherrschende Problem des fehlenden Wissens über die Wirkungen der industriell verwendeten Stoffe auf Umwelt und Gesundheit („toxic ignorance“) bringt die amtliche Überschrift zu Art. 5 die Folgen programmatisch auf den Punkt „Ohne Daten kein Markt“. Die Verantwortung der REACh-Akteure betont auch Erwägungsgrund 18: „Die Verantwortung für das Risikomanagement im Zusammenhang mit Stoffen sollte bei den natürlichen oder juristischen Personen liegen, die diese Stoffe herstellen, einführen, in Verkehr bringen oder verwenden.“ Handel und Verbraucher können die durch REACh gestärkte Transparenz nutzen. Schon die Möglichkeit, dass diese ihre Nachfragemacht tatsächlich einsetzen, dürfte „upstream“ das Innovationsverhalten der vorgelagerten Akteure beeinflussen (Führ / Bizer 2008). 3. Risikoermittlung, Risikokommunikation und Risikokooperation: Geteilte Verantwortung der REACh-Akteure Für registrierungspflichtige Stoffe sieht REACh einen mehrfach abgestuften Kreis von Anforderungen vor. Er enthält jeweils Elemente aus den folgenden drei Kategorien: 1. Voraussetzung jeder Registrierung ist, dass zuvor die Risiken abgeschätzt und charakterisiert wurden (Risikoermittlung als Informationsgewinnung). 2. Vor der Registrierung, aber auch danach will REACh einen Informationsaustausch entlang der Wertschöpfungskette initiieren (Kommunikation über stoffbedingte Risiken). 3. Und schließlich sollen die Akteure nicht nur Informationen austauschen, sondern auch gemeinsam Strategien zur Risikobewältigung entwickeln und umsetzen (Kooperation bei Risikomanagement). Erst die verschiedenen Elemente aus den drei Kategorien („IKuK-Pflichten“) bilden zusammen den innovationsorientierten Kern des auf Selbst-Organisation der 30 Ein begleitendes Monitoring (unter Beteiligung der Abfallbehörden) sollte diesen Aspekt im Auge behalten und gegebenenfalls entsprechende Mechanismen sowohl in REACh als auch in das Abfallrecht aufnehmen.
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Akteure abzielenden Regulierungsansatzes. Damit ist der Regelungsgegenstand von REACh deutlich weiter gefasst als der des bisherigen Chemikalienrechts: Der Fokus beschränkt sich nicht mehr darauf, Stoffe einzustufen und mit einer Kennzeichnung zu versehen. Vielmehr ist der gesamte „Lebensweg“ eines Stoffes in den Blick zu nehmen und der Nachweis zu führen, dass von der Herstellung bis zur Entsorgung die Risiken „beherrscht“ werden: Nunmehr haben Hersteller und Importeure im Rahmen des Registrierungsverfahrens auch für Altstoffe31 generell bestimmte Informationen zur Verfügung zu stellen. Der Datenumfang ist zum einen abhängig von der hergestellten bzw. importierten Menge und zum anderen von den Stoffeigenschaften (siehe Tabelle 1). Tabelle 1 Informationsanforderungen im Rahmen der Registrierungspflicht Registrierungsdossier nach REACh: Informationsanforderungen Stoff ab 1 t / a
Stoff ab 10 t / a
Technisches Dossier Technisches Dossier (Art. 10) (Art. 10)
Stoff ab 100 t / a
Stoff ab 1000 t / a
Technisches Dossier (Art. 10)
Technisches Dossier (Art. 10)
Stoffsicherheitsbericht Stoffsicherheitsbericht Stoffsicherheitsbericht (Art. 14);* (Art. 14)* (Art. 14)* zusätzliche Informationen Anhang VI, VII
Anhang VI, VII, VIII
zusätzliche Informationen
Anhang VI, VII, VIII, Anhang VI, VII, VIII, IX IX, X
* Handelt es sich um einen „problematischen“ Stoff (i. S. v. Art. 14 Abs. 4; siehe Fn. 37), ist außerdem nach den Vorgaben von Anhang I eine „Expositionsbeurteilung“ mit entsprechenden Expositionsszenarien zu erstellen, auf deren Grundlage dann eine Risikobeschreibung (risk characterisation) erfolgt (siehe Tabelle 2, Seite 319).
Schon für die Risikoermittlung ist dabei eine Kommunikation unter den Akteuren der Wertschöpfungskette erforderlich. Der gesamte Ansatz zielt darauf ab, einen Prozess der eigenverantwortlichen Interaktion der wirtschaftlichen Akteure in Gang zu setzen. Statt von einer (hoheitlichen) Risikoregulierung sollte man bei registrierungspflichtigen Stoffen von einer – auf betrieblicher Ebene angesiedelten – Risikobewältigung sprechen.32
31 Diese unterlagen bislang einem behördlichen Prüfprogramm nach der Altstoff-Verordnung (EWG / 793 / 93 vom 23. März 1993 zur Bewertung und Kontrolle der Umweltrisiken chemischer Altstoffe, ABl. L 84 vom 05. 04. 1993 S. 1 – 75), welches sich allerdings auf 140 Stoffe beschränkte, von denen 2005 lediglich 30 abgearbeitet waren. Siehe dazu Führ / Merenyi 2005. Mittlerweile [Ende 2008] hat der Großteil der 140 Stoffe das Altstoff-Verfahren durchlaufen.
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III. Operationalisierung: Verantwortungsmaßstab REACh fordert von den primären und sekundären Stoffverantwortlichen (Registranten und nachgeschaltete Anwender) eine „angemessene Beherrschung“ (adequate[ly] control) stofflicher Risiken (Art. 1 Abs. 1, 14 Abs. 6, 37 Abs. 5). Der Operationalisierung dieser Grundpflichten dienen nach einem standardisierten Verfahren ermittelte Wirkschwellen (immissionsseitige Schwellenwerte, siehe unten Abschnitt 1). Auf der anderen Seite sind emissionsbegrenzende Maßnahmen vorzusehen;33 die danach verbleibende Exposition (Abschnitt 2) der Schutzgüter ist in der abschließenden Risikobeschreibung (Abschnitt 3) den Schwellenwerten gegenüberzustellen. Für Stoffe „ohne Wirkungsschwelle“ gelten abweichende Bestimmungen (Abschnitt 4). 1. Ermittlung immissionsseitiger Schwellenwerte Anhang I der REACh-Verordnung beschreibt unter anderem, wie die Ermittlung schädlicher Wirkungen auf die Umwelt erfolgen soll. Das Vorgehen lässt sich wie folgt zusammenfassen (siehe auch Tabelle 2, Seite 319): Ausgehend von den verfügbaren Informationen34 wird für jedes Umwelt-Kompartiment35 der PNECWert (Predicted No-Effect Concentration) bestimmt. Der Wert – der sich auch als „Immissions-Schwellenwert“ bezeichnen lässt – steht für die „Konzentration des Stoffes, unterhalb [dessen] für den betroffenen Umweltbereich keine schädlichen Wirkungen zu erwarten sind“ (Anhang I, Nr. 3.0.1.). 32 In Anlehnung an die Terminologie in REACh kommen auch die Begriffe „Risikobeherrschung“ oder „Risikokontrolle“ in Betracht; beide implizieren aber in der Tendenz, es bestünde nunmehr kein Risiko mehr. Ob sich – angesichts fortbestehender Wissensdefizite – ein solcher Zustand erreichen lässt, erscheint mehr als fraglich. Treffender erscheint daher die Vorstellung, dass es darum geht die stoffbedingten Risiken angemessen zu bewältigen (das englische Verb „to control“ weist eine Bandbreite an Bedeutungen auf, die deutlich über das hinausgehen, was im Deutschen mit „kontrollieren“ assoziiert wird, und kann etwa auch „aussteuern“, „beaufsichtigen“ oder „lenken“ meinen). 33 Beide Betrachtungsweisen sind aber zugleich Gegenstand anderer Regelwerke des Umweltrechts, namentlich des Immissionsschutz- und des Wasserrechts sowie des produktbezogenen Umweltrechts. Zu den daraus resultierenden Schnittstellen-Problemen siehe Führ / Merenyi 2006 und Führ 2007. 34 In welchem Umfang (zusätzliche) Test-Ergebnisse vorzulegen sind, ist u. a. abhängig von der Menge des Stoffes, der der Registrant vermarktet (siehe Tabelle 1) und ergibt sich dann aus den Anhängen VI bis XI, wo sich auch Abweichungen von der reinen Mengenorientierung und von den „Standarddatenanforderungen“ finden. 35 Nach Anhang I Nr. 3.0.2 sind für fünf „Endpunkte“ (siehe dazu Nr. 3.2.2) „potenziellen Wirkungen auf die Umwelt“ zu betrachten; und zwar Wirkungen „(1) auf das Kompartiment Wasser (mit Sedimenten), (2) das Kompartiment Boden und (3) das Kompartiment Luft einschließlich der potenziellen Wirkungen, zu denen es (4) über die Anreicherung in der Nahrungskette kommen kann. Zusätzlich werden die potenziellen Wirkungen (5) auf die mikrobiologische Aktivität in Kläranlagen berücksichtigt.“
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Zur Berechnung des PNEC-Werts kann auf die in Versuchen ermittelten Wirkungswerte (z. B. LC50 oder NOEC36) ein geeigneter Extrapolationsfaktor angewandt werden (Nr. 3.3.1). Der Extrapolationsfaktor gibt die Differenz wieder zwischen den für eine begrenzte Zahl von Spezies aus Laborversuchen abgeleiteten Wirkungswerten und dem PNEC-Wert für den Umweltbereich, wie er für die „Risikobeschreibung“ und damit für den umweltbezogenen Verantwortungsmaßstab bei REACh maßgeblich ist. Eine amtliche Fußnote zum Text des Anhangs erläutert hierzu: „Je umfassender die Daten und je länger die Versuchsdauer, desto geringer der Unsicherheitsgrad und desto kleiner der Extrapolationsfaktor. In der Regel wird ein Extrapolationsfaktor von 1.000 auf den niedrigsten der drei KurzzeitL(E)C50-Werte angewandt, die von verschiedene trophische Niveaus repräsentierenden Spezies abgeleitet wurden, und ein Faktor von 10 auf den niedrigsten der drei Langzeit-NOEC-Werte; die Werte stammen jeweils aus Versuchen an Spezies, die repräsentativ für verschiedene Trophiestufen sind.“ 2. Ermittlung der Exposition Erfüllt der Stoff nach Einschätzung des Registranten die Kriterien von Art. 14 Abs. 437 und liegt die hergestellte bzw. importierte Menge oberhalb von 10 t / a, ist eine Expositionsabschätzung als Teil der Stoffsicherheitsbeurteilung durchzuführen. Diese umfasst drei Teile: Eine Emissionsabschätzung; eine Beurteilung des Verhaltens in der Umwelt und die Abschätzung der Expositionshöhe (Immission).38 3. Risikobeschreibung: Nachweis „angemessener Beherrschung“ Bei Stoffen mit definierbarer Wirkungsschwelle besteht die Risikobeschreibung (im englischen Text: risk characterisation) aus einem Vergleich der vorhergesagten Konzentrationen in jedem Umweltkompartiment mit den PNEC-Werten.39 Eine 36 LC 50: Letalkonzentration in Wasser, Boden oder Luft, bei der 50% der Versuchsorganismen innerhalb eines bestimmten Beobachtungszeitraumes sterben; NOEL / NOEC: No Observed Effect Level oder Concentration; siehe dazu; siehe OECD 2006. Weitere Ausführungen dazu, wie die Dosis- (Konzentrations-) Wirkungs-Beziehungen zu ermitteln sind, und wie die Einstufung und Kennzeichnung zu erfolgen hat finden sich in den „Guidance Documents“ http: //guidance.echa.europa.eu / guidance_en.htm). 37 Dies setzt voraus, dass„der Stoff die Kriterien für die Einstufung als gefährlich gemäß der Richtlinie 67 / 548 / EWG erfüllt oder dass es sich um einen PBT-Stoff oder vPvB-Stoff handelt“ [P: Persistent, B: Bioakkumulierbar, T: Toxisch, v: very]; zu den PBT-Kriterien siehe den Anhang XIII, der sich momentan [Ende 2008] in Überarbeitung befindet. 38 Hinweise zur Erstellung eines Stoffsicherheitsberichts inklusive Erstellung von Expositionsszenarien enthält Anhang I der REACh Verordnung sowie die „guidance documents“ aus dem RIP 3.2-Prozeß (RIP = REACh Implementation Projects); zu finden unter http: //guidance. echa.europa.eu/guidance_en.htm.
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„angemessene Beherrschung“ des Risikos für die Umwelt kann nach Nr. 6.4 des Anhangs I für jedes Expositionsszenarium dann angenommen werden, wenn die abgeschätzten Expositionshöhen den entsprechenden PNEC-Wert nicht übersteigen (PEC / PNEC nicht größer als 1). 4. Stoffe mit Eigenschaften „ohne Wirkungsschwelle“ Anhang I enthält auch Vorgaben, für Fälle, in denen Stoffwirkungen sich nicht mit der PEC / PNEC-Relation einordnen lassen: – Ist es nicht möglich, die Dosis-(Konzentration-)Wirkungs-Beziehung zu bestimmen, so ist dies zu begründen und eine semiquantitative oder qualitative Analyse beizufügen (Nr. 3.1.2). – Ist es nicht möglich, den PNEC-Wert abzuleiten, so ist dies klar anzugeben und umfassend zu begründen (Nr. 3.3.2). – Für diejenigen Wirkungen auf Umweltkompartimente, für die kein PNEC-Wert bestimmt werden konnte, ist in der Risikobeschreibung eine qualitative Beurteilung der Wahrscheinlichkeit vorzunehmen, dass bei Anwendung des Expositionsszenariums Auswirkungen vermieden werden (Nr. 6.5).
Weitere Vorgaben enthält der Verordnungstext nicht. Damit bleibt weitgehend offen, wie für derartige Stoffwirkungen eine Risikobeurteilung erfolgen soll (siehe dazu sogleich in Abschnitt 5). 5. Überblick: Elemente in der umweltbezogenen Risiko-Abschätzung nach REACh Die in der REACh-Verordnung und in Anhang I für den Umweltbereich40 verwendeten Elemente und Begriffe fasst Tabelle 2 zusammen.
39 Sowie auf der – hier nicht näher betrachteten – „Beurteilung der Wahrscheinlichkeit und Schwere eines auf die physikalisch-chemischen Eigenschaften des Stoffes zurückzuführenden Vorkommnisses“. 40 Das Vorgehen im Bereich der Gesundheitswirkungen weist die gleiche Grundstruktur auf (siehe Anhang I Nr. 1).
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Tabelle 2 Elemente der umweltbezogenen Risikoabscha¨tzung nach der REACh-Verordnung Kernelemente der Risikoabschätzung Klärung: Informationslage + Informationsbedarf und Strategie der Informationsgewinnung
Charakterisierung
Festgelegt in: (siehe auch: guidance documents)
Qualitative Risikoeinordnung anhand der verfügbaren Informationen (auch „alternative Quellen“: (Q)SAR41 u. a.) und Abgleich mit den Informationsanforderungen: Wo besteht Bedarf an weiteren Informationen?
Anhang I Nr. 3.1.1 Leitlinien in Anhang VI und in den Vorbemerkungen de „Vorprüfungen“ nach Anhang VII (Abs. 5), Anhang VIII (Abs. 3) und Anhang IX (Abs. 4)
Quantitative Abschätzung schädlicher Wirkungen auf die Umwelt (environmental hazard assessment)
Anhang I Nr. 3
1. Bewertung der Informationen Wirkungswerte LC50 / NOEC
Anhang I Nr. 3.0 und 3.1
2. Einstufung und Kennzeichnung
Richtlinie 67 / 548 / EWG Anhang I Nr. 3.2
Abgleich mit „Gefährlichkeitsmerkmalen“
3. Ermittlung des PNEC-Wertes Effektbewertung (PNEC); mit Anwendung eines Extrapolationsfaktors
Anhang I Nr. 3.3. Anhang I Nr. 3.3.1 mit Fn. 1
Ermittlung der Exposition (exposure assessment)
Anhang I Nr. 5
1. Entwicklung von Expositionsszenarien
Verwendungsbedingungen und Risikomanagementmaßnahmen
Anhang I Nr. 5.1.1.
2. Expositionsabschätzung (exposure estimation)
a) Emissionsabschätzung und b) Beurteilung von Verbleib und Verhalten in der Umwelt c) Abschätzung der zu erwartenden Höhe der Exposition / Immission (PEC)
Anhang I Nr. 5.2
Risikobeschreibung (risk characterisation) 1. Risikobeschreibung für jedes Entweder Verhältnis PEC zu Expositionsszenarium PNEC oder qualitative Beurteilung
Anhang I Nr. 6 Anhang I Nr. 6.4 Anstrich 1 Anhang I Nr. 6.5
6. Schlussfolgerungen und Einordnung Als Fazit lässt sich festhalten: REACh stellt für die Stoffverantwortlichen in der gewerblichen Wertschöpfungskette eine Handlungsanleitung bereit, anhand derer 41 Quantitative Structure Activity Relationship; zu den „alternativen Quellen“ siehe „Schritt 1“ der Leitlinien in Anhang VI. Siehe dazu auch OECD 2007.
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sich beurteilen lässt, ob sie ihrer Grundpflicht zur Risiko-Bewältigung und damit der ihnen übertragen Risiko-Verantwortung entsprechen. – Bei Stoffen, für die sich eine Wirkschwelle angeben lässt, erfolgt die Operationalisierung mittels standardisierter Testmethoden (international auf OECD-Ebene abgestimmt) sowie der Anwendung von Extrapolationsfaktoren. Den auf diese Weise eigenverantwortlich ermittelten PNEC-Werten ist sodann die voraussichtliche Konzentration des Stoffes in den Umweltmedien gegenüberzustellen. – Bei Stoffen, für die sich eine Wirkschwelle nicht angeben lässt, ist die Operationalisierung naturgemäß schwieriger. Diese Stoffe erfasst REACh zwar auch; ein quantitativer Verantwortungsmaßstab wird sich hier kaum finden lassen. Es bleibt bei qualitativen Vorgaben, die darauf abzuzielen haben, so weit als irgend möglich zu vermeiden, dass die Schutzgüter mit diesen Stoffen in Kontakt kommen, was meist auf eine strikte Begrenzung der Freisetzung hinauslaufen dürfte.
Aus den Verfahrenselementen von REACh ergibt sich damit ein materieller Verantwortungsmaßstab. Dieser ist für Stoffe mit Wirkschwelle sogar in quantitativer Form anzugeben. Damit für einen Stoff nicht mehrere eigenverantwortlich ermittelte Schwellenwerte existieren, hält REACh Mechanismen bereit, die für eine Abstimmung unter den Registranten sorgen sollen.42 Bei Stoffeigenschaften, für die sich keine Wirkschwelle angeben lässt, hat der Stoffverantwortlichen den Versuch zu unternehmen, den Verantwortungsmaßstab qualitativ zu umschreiben. Abzuwarten bleibt, wie groß die daraus resultierende „Unschärfe“ bleibt. Hinzuweisen ist auf weitere Einschränkungen, die sich schon aus dem Regelungsansatz von REACh ergeben: – Zu betrachten ist jeweils das Risiko, welches sich aus der Verwendung des einzelnen Stoffes ergibt. Kombinationswirkungen mit anderen Stoffen sind weitgehend ausgeklammert. Der Extrapolationsfaktor bei der Bestimmung des PNEC soll Unsicherheiten in den toxikologischen Daten des jeweils betrachteten Stoffes abbilden; nicht aber mögliche Kombinationswirkungen. – Unklar ist auch, inwieweit die Prozesse der Stoffumwandlung mit in den Blick zu nehmen sind. Was ist mit Abbauprodukten des Stoffes (Metaboliten)? Und wie ist es zu beurteilen, wenn der vom Stoffverantwortlichen in der Risiko-Abschätzung zu betrachtende „eigene“ Stoff zugleich Metabolit eines „anderen“ Stoffes ist? – Und schließlich beschränkt sich die Expositionsabschätzung jeweils auf einen Stoff-Verwender. Befinden sich in räumlicher Nähe mehrere Emissionsquellen, so ist es aus der REACh-Perspektive ausreichend, wenn jeder für sich nachweist, 42 Alle „potentiellen Registranten“ führt Art. 29 zu einem „Substance Information Exchange Forum“ (SIEF) zusammen, was auch die gemeinsame Nutzung von Daten aus Versuchen (Art. 30) einschließt.
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dass die von ihm ausgehenden Emissionen nicht zu einer Überschreitung des PNEC führen. Diese Einschränkungen machen deutlich, dass REACh zwar die Informationsgrundlage für den Einzelstoff deutlich verbessert und für die einzelstoffliche Perspektive auch einen Verantwortungsmaßstab definiert; damit aber nicht die ganze Bandbreite stoffbedingter Risiken abgedeckt sind. Es besteht also weiterhin Bedarf, die Wirkungen von Stoffen auf Umwelt und Gesundheit auch zum Gegenstand anderer Regelwerke zu machen.43 Je nach Regelungsansatz sind hier jeweils „maßgeschneiderte“ Lösungen zu wählen und vollzugstauglich auszuformulieren: Punktquellenbezogen im Industrieanlagenrecht; wirkungsbezogen im Medienrecht oder vermarktungs- bzw. gebrauchsbezogen wie das Produktrecht, welches damit zugleich diffuse, also nicht von Punktquellen herrührende Freisetzungen adressiert. Hinzu kommen die Vorgaben des Abfallrechts, welches sowohl Rückstände aus der Produktion als auch aus dem Gebrauch der Produkte erfasst.44
IV. Folgenanlastung, Anreiz- und Hemmniskonstellation der Akteure Die vorstehend beschriebene Pflichtenlage macht deutlich, welche Erwartungen der Gesetzgeber an die Akteure hat und in welcher (rechtlich ausgeformten) Verantwortung sie stehen. Um daraus eine Prognose des Verhaltens der Akteure zu entwickeln, bedarf es zusätzlich einer Anreiz- und Hemmnisanalyse. Zu fragen ist, welche Motivlage die Akteure haben, welche Möglichkeiten ihnen zur Verfügung stehen und schließlich auch welche Fähigkeiten sie haben, um auf der Basis ihrer Motive und des Möglichkeitsraumes ihre besten Alternativen zu erkennen und zu erreichen. Diese Form der Analyse erlaubt schließlich auch ein Urteil darüber, ob die grundsätzliche Struktur von REACh geeignet ist, das Regulierungsziel zu erreichen. Dass die Akteure dabei in Bezug auf die Bereitstellung ein Informationsspiel entlang der Wertschöpfungskette spielen (Führ / Bizer 2008), demonstriert, dass die Wahl der eigenen Informationsstrategie durchaus abhängig ist von der Handlungswahl der anderen Akteure entlang der Wertschöpfungskette. Insofern kann es nicht verwundern, wenn auch für Entscheidungen unter REACh generell gilt, dass die Akteure bei der eigenen Entscheidung auch die Handlungsmöglichkeiten der übrigen Akteure abwägen müssen. Dabei handelt es sich zum Teil um relativ komplexe Abstimmungsprozesse entlang der Wertschöpfungskette, also zwischen den Unternehmen, bei denen in Abhängigkeit von der Ausgangssituation (z. B. Exis43 Zu den daraus resultierenden Rechtsfragen an den „Schnittstellen“ der unterschiedlichen Regelwerke siehe Führ / Merenyi 2006 sowie Führ 2007. 44 Siehe dazu Bimboes 2007 sowie den Entwurf für ein „guidance document“ zu „waste and recovered substances“ der Europäischen Kommission (CA / 24 / 2008 rev.2 vom 29. Oktober 2008); siehe unter http: //ec.europa.eu/enterprise/reach/docs/reach/waste_paper_ca_ 081026_en.pdf.
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tenz von Betriebsgeheimnissen45) durchaus unterschiedliche Ergebnisse vorstellbar sind. Damit ist jedoch lediglich ein, wenn auch vielleicht der zentrale Aspekt, nämlich das Informationsspiel zwischen den privaten Akteuren, angesprochen. Um dieses Informationsspiel herum, strukturiert REACh ein Verfahren, in dem es die Hersteller und Importeure zur Preisgabe von für das Risikomanagement relevanten Informationen bewegen will. Dieser Prozess des „Teilens“ von vorher nur individuell verfügbarem Wissen der mit dem Begriff des „data sharing“ nur unvollständig umschrieben ist, lässt sich verstehen als Spiel zwischen den (nationalen) Behörden auf der einen Seite und den Herstellern und Importeuren auf der anderen Seite. Aus Gründen der Vereinfachung blenden wir in diesem Beitrag weitgehend aus, dass jeder Hersteller oder Importeur nicht nur abwägen muss, wie er das REAChRegulierungsspiel mit der Behörde gestaltet, sondern dabei zugleich abhängig ist von den Entscheidungen der übrigen Akteure in der Wertschöpfungskette.46 1. Anreizstruktur aus dem Aufbau von REACh In seinem äußeren Rahmen strukturiert REACH über die Registrierung (einschließlich Evaluation), Autorisierung und Beschränkung den Zulassungsprozess mit erheblicher Eigen-Verantwortung der Akteure. Im Folgenden zeichnen wir die aus REACh resultierende Anreizstruktur für die drei zentralen Stufen nach. Die ersten beiden Stufen sind zunächst die Registrierung, mit der darin eingeschlossenen Evaluation und die Autorisierung bzw. Zulassung, mit der darin eingeschlossenen Vorstufe des „Zulassungskandidaten“. Da beide Stufen miteinander zusammenhängen, muss ein Akteur schon bei der Registrierung abwägen, welche zusätzlichen Pflichten er gegenwärtigen muss, wenn er unter Umständen auch einer Zulassungspflicht unterliegt. Tatsächlich reicht REACh über diese beiden Stufen noch hinaus, weil am Ende nicht nur die Zulassung verweigert werden kann, sondern auch generelle Beschränkungen („Restriction“) ergehen können. Insofern ist es berechtigt, von drei Stufen sprechen, wobei das Zulassungsverfahren noch einmal in zwei Elemente (Kandidatenstatus sowie die eigentliche Zulassungspflicht) zu unterteilen ist. Allerdings sind die Akteure unter der REACh-Verordnung danach zu unterscheiden, welche Beiträge sie überhaupt leisten können (siehe Kapitel II). Dies gestaltet sich je nach Rolle in der Wertschöpfungskette durchaus unterschiedlich. Die zentrale Rolle nehmen dabei die Hersteller und Importeure („Registranten“) ein, für die Abbildung 1 die stark vereinfachte Entscheidungsstruktur demonstriert. Abbildung 1 kann man von oben nach unten lesen. Letztlich trifft ein Hersteller oder Importeur seine Entscheidung auf der Basis von Erwartungen zur Vermarktungsfähigkeit seines Stoffes. Dabei bedenkt der rationale Hersteller, dass er für 45 46
Siehe dazu Jäger 2009. Siehe dazu Führ 2008 und Führ / Bizer 2008 m. w. N.
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Abbildung 1: Die Entscheidungsstruktur unter REACh (Registrierung und Zulassung)
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alle Stufen eine Entscheidungsvorbereitung treffen muss. Er muss entscheiden, (1) ob er den Stoff (vor-)registrieren lässt oder nicht, ob er (2) aufgrund der bereitgestellten Informationen und der von ihm initiierten Maßnahmen für eine „wirksame Kontrolle“ der Risiken (3) damit rechnen muss, den Kandidatenstatus für die Zulassung zu erhalten (oder genau dies vermeiden kann) bzw. mit einer Zulassungspflicht rechnen muss, und in welchem Umfang, wenn dies bejaht wird, (4) in der Zulassung Auflagen erteilt werden. Da in REACh der Grundsatz gilt, dass ohne Registrierung die Vermarktung untersagt ist, besteht zumindest für die Akteure, die den Stoff legal vermarkten wollen, ein erheblicher Anreiz zu registrieren, zumal die Vorregistrierung, aber auch Registrierung selbst vergleichsweise unproblematisch zu erlangen ist. Daraus kann man bereits folgern, dass die Registrierung wahrscheinlich ist, weil die meisten Hersteller auf die legale Vermarktung abzielen. Allerdings übt die Registrierung eine erhebliche Sogwirkung aus: Denn entscheidet man sich für die Registrierung, muss man eine Reihe von Informationen bereit stellen, die zwischen den beiden Extremstrategien „keine sinnvolle Information („asdf“47) und „umfassend und sinnvoll informieren“ viele graduelle Unterschiede aufweisen kann. Parallel dazu verläuft die Prüfung bei ECHA und in den Behörden der Mitgliedstaaten, welche Stoffe auf die „Kandidatenliste“ für die Zulassungspflicht gesetzt werden. Schon die „Kandidatenliste“ entfaltet Marktwirkungen, weil Händler jedenfalls im Bereich der verbrauchernahen Produkte (etwa im Bereich der Textiloder Möbelindustrie) versuchen werden, ihr Sortiment frei zu halten von problematischen Substanzen – und der Kandidatenstatus könnte ausreichen, um die Produkte dann bereits auszulisten. Insofern sollte ein Hersteller oder Importeur, wenn die umfassenden Informationen seiner Auffassung dazu führen können, dass er mit dem Stoff auf die Kandidatenliste gerät, auch bereits über geeignete Maßnahmen nachdenken, mit denen sich die Risiken reduzieren lassen. So wäre an technische oder organisatorische Vorkehrungen zu denken, um den Nachweis führen zu können, das Risiko sei „wirksam kontrolliert“. Andernfalls muss der Hersteller befürchten, dass sein Stoff nicht nur den Kandidatenstatus erlangt, sondern im nächsten Schritt tatsächlich der Zulassungspflicht unterliegt. Dann ist er zum einen verpflichtet, einen ausführlichen Zulassungsantrag zu erstellen und muss zum anderen damit rechnen, dass die Zulassungsentscheidung zu einer teilweisen Versagung führt oder aber Auflagen und Monitoringpflichten beinhaltet. Und schließlich besteht noch die Möglichkeit, dass nach dem Verfahren der Art. 67 ff. generelle Beschränkungen erlassen werden, die nicht nur die Vermarktung und Verwendung, sondern auch bereits die Herstellung des Stoffes betreffen können. 47 Das Kürzel „asdf“ steht für die aufwandsminimierte Eingabe von vier auf der Tastatur nebeneinander liegenden Buchstaben, wie sie in der Stoffdatenbank der EG tatsächlich aufzufinden ist. Wer immer nur „asdf“ eingibt, hat rein formal einen vollständigen Registrierungsantrag eingereicht, der inhaltlich aber unzureichend ist. Zwischen diesem Extremfall und einem „qualitativ hochwertigen“ Registrierungsdossier sind eine ganz Bandbreite unterschiedlicher Strategien der Informationsbereitstellung denkbar.
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2. Die gestufte Drohung Abbildung 1 kann man aber auch vom jeweiligen Ende her interpretieren („respice finem“): Die zentrale und am weitesten gehende „Drohung“ ist, dass der Stoff in der EG weder hergestellt noch vermarktet werden darf. Wie bei allen Drohungen, ist allerdings die Glaubwürdigkeit der Sanktionierung entscheidend. Da es sich bei Herstellungsverbot und Marktversagung um sehr weitgehende Drohungen handelt, ist es sinnvoll, den Herstellern Optionen zu geben, mit denen sie diese Rechtsfolge abwenden können. Wenn also das vollständige Verbot die härteste Sanktion darstellt, so ist die (partielle) Marktzulassung mit Auflagen oder generellen Beschränkungen die zweithärteste Sanktion. Dies liegt in erster Linie daran, dass REACh allen Akteuren entlang der Wertschöpfungskette ermöglicht zu erfahren, welchen Status eine entsprechende Substanz hat. Da diese Informationen im Prinzip auch dem Endverbraucher zur Verfügung stehen, muss der Hersteller befürchten, dass eine Substanz mit Auflagen im Wettbewerb einer Substanz ohne Auflagen, aber mit ähnlichen Produkteigenschaften unterlegen ist. Diesen Wettbewerb um die weniger gesundheits- und umweltgefährdende Substanz setzt REACh in Gang und deswegen muss sich der Hersteller oder Importeur einer Substanz im Spiel unter den REACh-Mechanismen auch nicht nur über die Reaktionen seiner Partner in der Wertschöpfungskette Klarheit verschaffen, sondern auch die der Wettbewerber für alternative Substanzen im Blick behalten. REACh nutzt diese komplexe Situation, um einen Prozess zu forcieren, der darauf zielt, Informationen zu gewinnen und ein (über-)betriebliches Risikomanagement zu initiieren. Versetzt man sich also in die Rolle des Herstellers oder Importeurs, so ist für ihn vordringlich, die Marktversagung zu umgehen und dabei nimmt er in Kauf, dass er möglicherweise für seine Substanz (selbst ergriffene oder hoheitlich veranlasste) Einschränkungen dulden muss. Um zu verhindern, dass es soweit kommt, kann er schon von sich aus geeignete Maßnahmen ergreifen, die Risiken zu reduzieren (Maßnahmen zur „wirksamen Kontrolle“). Er kann sogar über ein entsprechend ausgereiftes Risikomanagement verhindern, dass die entsprechende Substanz auf der Kandidatenliste landet. Er entscheidet, immer noch vom Ende her denkend, schon bei der Registrierung, wie viel Informationen er als Hersteller bereit stellen sollte, um im weiteren Ablauf des Verfahrens nicht mit einer Marktversagung oder erheblichen Einschränkungen rechnen zu müssen. Dafür lassen sich vier Fälle unterscheiden: – Im ersten Fall weiß der Hersteller, dass er es mit einer Substanz zu tun hat, für die er mit einer Zulassungspflicht rechnet. Sobald der Stoff auf der Liste der Zulassungskandidaten verzeichnet ist, greifen bereits erste Rechtsfolgen ein: Verbraucher haben einen Informationsanspruch zu erfahren, in welchen Erzeugnissen der Stoff in mehr als 0,1% enthalten ist. Daraus ergibt sich ein starker Anreiz für den Handel, auf Alternativ-Produkte auszuweichen soweit diese verfügbar sind. Wird der Stoff dann tatsächlich zulassungspflichtig, hat der Hersteller mit Auflagen in der Verwendung zu rechnen, die für den Hersteller zu
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erheblichen Einschränkungen bei der Vermarktung führen. In diesem Fall kann es interessant für ihn sein, nur ein Minimum an Informationen weiter zu geben, weil die Preisgabe von allen verfügbaren Informationen zu einer eingeschränkten Vermarktung führen kann. Diese Strategie – pointiert gekennzeichnet durch „asdf“ – ist zumindest so lange opportun, wie die Akteure nicht mit einer zivilrechtlichen Sanktion oder einem Vermarktungsverbot rechnen müssen. Allerdings muss er in diesem Fall mit einem Reputationsverlust rechnen und sollte deswegen abwägen, ob er nicht durch ein geeignetes Risikomanagement den Kandidatenstatus abwenden kann. – Im zweiten Fall gilt, dass der Hersteller zwar mit einer Zulassungspflicht rechnet, aber nicht mit wesentlichen Auflagen und – aufgrund von Alleinstellungsmerkmalen – auch nicht mit wesentlichen Absatzeinbußen. In diesem Fall kann er alle relevanten Informationen preisgeben, weil dies seinen Ertrag nicht beeinflusst, möglicherweise aber das Risiko reduziert, dass zivilrechtliche Ansprüche an ihn gestellt werden. Allerdings muss der Hersteller auch hier mit einem Reputationsverlust und zumindest mittelfristig auch damit rechnen, dass Substitutionsmöglichkeiten entwickelt werden. – Im dritten Fall geht er davon aus, dass keine Zulassungspflicht bestehen wird. In diesem Fall wird er alle relevanten Informationen bereit stellen. – Im vierten Fall geht der Hersteller zudem davon aus, dass der von ihm angebotene Stoff unter Risikoaspekten Vorteile gegenüber konkurrierenden Lösungen (zu bestimmten Verwendungen) hat.48 Auch in diesem Fall wird er alle relevanten Informationen bereit stellen.
In drei von vier Fällen steht einer umfassenden Informationsbereitstellung in dieser vereinfachten Konstellation nichts im Weg. Im ersten Fall muss der Hersteller abwägen zwischen Reputationsverlust und restriktiver Information auf der einen Seite und den Kosten für ein Risikomanagement, um den Kandidatenstatus abzuwenden auf der anderen Seite. Unabhängig davon, wie sich einzelne Hersteller entscheiden, dürfte für alle langfristig an der Vermarktung interessierten Hersteller und Importeure die günstigere Strategie die der Informationsbereitstellung sein. Insofern ist REACh tatsächlich geeignet, durch den vierstufigen Aufbau Anreize zu setzen, die Hersteller und Importeure im Regulierungsspiel mit der Behörde zu einer umfassenden Informationsstrategie und, falls erforderlich, zu einem Risikomanagement zu bewegen. Durch die Informationspreisgabe schafft REACh die Voraussetzung für eine Nachfrage nach inhärent sicheren Substanzen, die umso schneller greifen kann, je kürzer die Wertschöpfungskette bis zum Endverbraucher ausfällt. 48 Siehe etwa Merck 2007, 18, wo es unter der Überschrift „Using the competetive advantages of REACh“ u. a. heißt „we still significantly benefit from having started early to precisely record substance quantities and relevant substance data for all chemicals manufactured or imported by Merck in Europe. This gives us a clear advantage over competitors who have not maintaned their product information to the same extent as we have done so far“.
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3. Verbleibende Defizite in der Anreizstruktur Dennoch weist die REACh-Verordnung aus anreizanalytischer Perspektive auch einige Schwächen auf: So können die Unternehmen eine mittelfristige Verschleppungsstrategie verfolgen, weil beispielsweise auf unsinnige Angaben im Registrierungsdossier keine unmittelbare Sanktionierung folgt. Ein Unternehmen kann also das Risiko kalkulieren, mit dem das Registrierungsdossier geprüft wird (5 Prozent der Fälle) und hoffen, dass vor der Marktversagung, die zumindest theoretisch denkbar wäre, auch wenn sie nicht unmittelbar als Sanktion vorgesehen ist, die Möglichkeit zur Nachbesserung steht. Auf diese Weise entsteht zwar ein Reputationsverlust für das Unternehmen, der aber möglicherweise nicht ausreicht, um die Vorteile der Verzögerung aufzuwiegen. Eher mittelfristig angelegt könnte auch die Informationspolitik durch REACh sein, weil sich am Markt eine Nachfrage nach „inhärent sicheren Stoffen“ nur in den Bereichen zügig durchsetzen wird, die relativ nah am Endverbraucher agieren. REACh setzt hier zwar vollkommen berechtigt auf Marktmechanismen, um einen Innovationsprozess in Gang zu setzen, aber der Nachfragedruck ist bislang nur in einzelnen Bereichen wie Kinderspielzeug, Nahrungsmittel, Textilien und in einigen Fällen auch Baustoffe oder Möbel merklich. In diesem Bereich kommt dem Handel eine Schlüsselrolle zu. Weitere Impulse könnten aus dem Bereich des Arbeitsschutzes oder bei PBT- / vPvB-Stoffen aus dem des Umweltschutzes kommen. Allerdings zeigt die Anreizanalyse auch, dass, wenn die fundamentalen Drohungen, eine Substanz vom Markt zu nehmen bzw. den Kandidatenstatus zu erhalten, nicht aufrecht erhalten werden, die Anreize zum Risiko-Management vorhandener Stoffe ebenso wie die Innovationskraft für die Substitution von Umwelt und Gesundheit gefährdenden Stoffen nur gering ausfallen. Insofern hat die REAChVerordnung zwar die Anreizsituation der privaten Akteure richtig antizipiert. Der Verordnungsgeber hat aber nur unzureichend die Anreizsituation reflektiert, in der sich die REACh-Vollzugsorgane (Ausschuss der Mitgliedstaaten, ECHA und Kommission) wieder finden. Im Hinblick auf die Frage, welchen Stoffen der „Kandidatenstatus“ zuzuerkennen ist, hat man sich dafür entschieden, eine kapazitätsorientierte Position einzunehmen. Für dieses Verhalten gibt es mindestens zwei mögliche Erklärungen: – Man hat kein Interesse daran, ein sichtbares Vollzugsdefizit aufzubauen, das den Vollzugsorganen angelastet werden könnte, sondern beschränkt sich darauf, gemäß bestehender Kapazität den Kandidatenstatus nur restriktiv auszusprechen. Damit nutzt man einen Ermessensspielraum, den der Gesetzgeber eingeräumt hat. Das Vollzugsdefizit verschwindet dadurch freilich nicht, aber es ist weniger sichtbar. – Die Vollzugsorgane unterliegen einem „regulatory capture“ (Laffont / Tirole 1991), d. h. statt auftragsgemäß den öffentlichen Interessen zu dienen, verschreiben sie sich – zumindest partiell – den Interessen der zu regulierenden Parteien.
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Eine verzögerte Aufnahme von Stoffen in den Kandidatenstatus ist auf jeden Fall im Interesse der betroffenen Unternehmen. Für den Verordnungsgeber stellt sich damit die Frage, ob und auf welche Weise er den Ermessensspielraum seiner Behörde einschränkt, um das Erreichen des Regulierungsziels zu sichern. Diese Korrektur betrifft aber lediglich die Aufgabenteilung zwischen Verordnungsgeber und Behörde.
V. Schlussfolgerungen für die Regulierung und Bewältigung von Risiken REACh vollzieht damit einen Paradigmenwechsel in der Regulierung von chemischen Stoffen: Nicht mehr hoheitliche Prüfprogramme stehen im Mittelpunkt des Regulierungsansatzes; die Verordnung setzt vielmehr darauf, die Eigen-Verantwortung49 der wirtschaftlichen Akteure zu aktivieren. Darin zeigen sich zwei Perspektiven des Risikoverwaltungsrechts, die bei REACh in mehrfacher Hinsicht miteinander verschränkt sind: – Einerseits die hoheitliche Veränderung der institutionellen Rahmenbedingungen (Risikoregulierung); in dem dadurch geschaffenen Kontext erfolgt – andererseits auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene die Risikoabschätzung und es sind Risikomanagementmaßnahmen zur „angemessenen Beherrschung“ zu entwickeln und anzuwenden (Risikobewältigung)
Die bisherige Debatte konzentriert sich weitgehend auf die Risikoregulierung: Die Diskussionslinie zieht sich hier von den Vorarbeiten des National Research Council in den USA (NRC 1983) über die dort von US-Präsident und Kongress eingesetzte Commission on Risk Assessment and Risk Management50 bis hin zur bundesdeutschen Risikokommission.51 Dabei tritt der Umstand in den Hintergrund, 49 Zu diesem Begriff siehe Führ (2003), Eigen-Verantwortung im Rechtsstaat, Berlin, S. 43 ff. Die dort entwickelte Kategorie rechtlich ausgeformter Eigen-Verantwortung beinhaltet zwingend, dass auch Mechanismen rechtlich vermittelter Folgenanlastung zum Tragen kommen. Diese Mechanismen können aus dem Bereich des Zivilrechts, aber auch aus dem des Öffentlichen Rechts stammen. Man kann daher REACh auch als System „regulierter Eigen-Verantwortung“ bezeichnen (siehe Rehbinder 2008). 50 The Presidential / Congressional Commission on Risk Assessment and Risk Management, deren Mandat auf die Novelle des Clean Air Acts im Jahr 1990 zurückgeht (http: // www.riskworld.com/riskcommission/Default.html), legte 1997 einen zweibändigen Abschlussbericht vor: Band 1 befasst sich allgemein mit gesellschaftlichem Management von Risiken für Umwelt und Gesundheit (Framework for Environmental Health Risk Management) unter Einschluss der „stakeholder“ jenseits der Administration, während Band 2 sich mit der regulativen Entscheidungsfindung befasst (Risk Assessment and Risk Management in Regulatory Decision-Making). 51 Die nach der BSE-Problematik eingesetzte ad hoc-Kommission „Neuordnung der Verfahren und Strukturen zur Risikobewertung und Standardsetzung im gesundheitlichen Umweltschutz der Bundesrepublik Deutschland“ legte 2003 ihren Abschlussbericht vor: Neu-
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dass die notwendigen Veränderungen in stofflicher, technischer und organisatorischer Hinsicht erst durch das Zusammenwirken unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteure gelingen können. Nur gemeinsam wird es in den meisten Fällen gelingen, das notwenige kreative Potential zu erschließen, welches es erlaubt, erfolgreich bei der Bewältigung der stofflichen Risiken und den Herausforderungen des Marktes zu sein. Die Besonderheit des Regulierungskonzeptes bei registrierungspflichtigen Stoffen weist aber über die Notwendigkeit hinaus, IKuK-Elemente sowohl inner- als auch überbetrieblich zu etablieren. Denn Bestandteil dieses Konzeptes ist es auch, dass der Verantwortungsmaßstab im Ergebnis von den wirtschaftlichen Akteuren in hohem Maße selbst definiert wird. Dies kann in mehrfacher Hinsicht Probleme aufwerfen. Vorab aber ist darauf hinzuweisen, dass – verglichen mit dem status quo ante – damit gleichwohl durchweg eine Verbesserung erreicht wird. Denn die bisherige Situation ist im Bereich der Altstoffe gekennzeichnet durch das weitgehende Fehlen jeglicher Risikoinformation. Der Versuch, diese Lücke gestützt auf die EG-Altstoff-Verordnung 793 / 9352 auf administrativem Wege zu schließen, war nicht von Erfolg gekrönt. Immerhin aber konnten die wesentlichen Elemente der Risikoabschätzung erprobt und der Nachweis erbracht werden, dass sich auf der Basis wissenschaftlich ermittelter Daten risikobezogene Entscheidungen begründen lassen.53 Die zugrundeliegende wissenschaftliche Methodik selbst, vor allem aber auch die Art und Weise, wie die Stoffverantwortlichen diese experimentell und in der Bewertung der Ergebnisse ausfüllen, definiert damit zugleich den Verantwortungsmaßstab. Auf beiden Ebenen gilt es, in den nächsten Jahren die praktischen Erfahrungen auszuwerten. Schon heute lassen sich jedoch beispielhaft einige Fragen formulieren, denen sich die Methodik voraussichtlich zu stellen hat. – Wie belastbar sind die in Tests ermittelten toxikologischen Kenngrößen? Gibt es nennenswerte Unterschiede zwischen den einzelnen Tests bzw. Test-Labors? – Wie entwickelt sich in der Praxis die Anwendung des „Extrapolationsfaktors“? – Erweist sich die Annahme als zutreffend, mit der Unterschreitung des PNEC komme es zu keinen schädlichen Umweltwirkungen? – Muss der Mono-Spezies-Ansatzes ergänzt werden um weitere Tests? ordnung der Verfahren und Strukturen zur Risikobewertung und Standardsetzung im gesundheitlichen Umweltschutz der Bundesrepublik Deutschland, Salzgitter. 52 Siehe dazu Führ / Merenyi 2005. 53 Björn Hansen, einer der „Väter“ der Altstoff-Verordnung (Existing Substances Regulation) erläutert hierzu (Hansen 2008, 5), „It was the political failure of this regulation that paved the way to REACh“; und er fügt hinzu: „the regulation nevertheless proved that it is possible to make science-based regulatory decisions on EU level and to agree on the risks of industrial chemicals, on hat to assess the risks and reduce them“.
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– Bewährt sich die Stufenfolge der Risikoermittlungsanforderungen? Ist man damit in der Lage, die relevanten Wirkungen auch wirklich zu erfassen? – Welche Entwicklungstendenzen zeichnen sich ab bei der Risikobewältigung von Stoffeigenschaften „ohne Wirkschwelle“? – In welchem Umfang wird von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, durch „waiving“ auf Tests zu verzichten? Erweisen sich die dabei gegebenen Begründungen als tragfähig? – Wie entwickelt sich das Verhältnis von Risiko-Abschätzung und RisikoManagement in der praktischen Anwendung? – An welcher Stelle sind im Hinblick auf die Methodik der Risiko-Abschätzung Klarstellungen im Verordnungstext, den Anhängen bzw. den untergesetzlichen „guidance documents“ geboten?
Weil über die Methodik der Risikoabschätzung zugleich der Verantwortungsmaßstab definiert wird, beeinflussen die Antworten auf die vorgenannten Fragen zugleich das Ausmaß, in dem es der REACh-Verordnung gelingt, die selbstgesetzten Ziele zu erreichen.
VI. Fazit: Gelungene Zuordnung der Innovationsverantwortung? Betrachtet man die Ausgangslage vor der REACh-Verordnung und vergleicht diese mit der jetzigen Situation, so ist zu konstatieren, dass REACh tatsächlich einen deutlichen Fortschritt bedeutet, weil der Verordnungsgeber davon Abstand genommen hat, den Rahmen für unzählige Zweikämpfe um Informationen zwischen Behörde und Unternehmen zu regeln, die selbst da, wo sie von den Behörden gewonnen wurden, nicht zu einem effektiven, dynamischen Risikomanagement geführt haben. Stattdessen setzt REACh den Rahmen so, dass es im Interesse der Hersteller und Importeure ist, Informationen bereit zu stellen und im Austausch entlang der Wertschöpfungskette ein Risikomanagement zu entwickeln, das auf veränderte Anforderungen dynamisch reagiert, ohne dass eine Behörde tätig werden muss. Diese Form der Regulierung stellt hohe Anforderungen an die privaten Akteure sowie an den begleitenden Rahmen, der die entsprechenden Anreize vermitteln muss. Grundsätzlich ist der vierstufige Aufbau von REACh gut geeignet, diese Anreize auszulösen, weil mit der Marktversagung nicht nur eine relativ heftige Drohung besteht, sondern durch den stufenweisen Aufbau nicht sofort auf diese Drohung zurückgegriffen werden muss. Vielmehr erlaubt REACh durch die Stufen von der Registrierung über die Evaluation und die Autorisierung mit bestimmten Restriktionen, auf das Gefährdungspotential abgestimmt zu reagieren. Erst dadurch wird die Drohung glaubwürdig. Die bereitgestellten Informationen lösen, so ist zumindest die Struktur von REACh angelegt, eine Nachfrage nach inhärent sicheren Produkten aus, denn Informationen zur Umwelt- und Gesundheitsgefährdung stehen zur Verfügung, und Handelshäuser müssen sich fragen las-
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sen, warum sie Produkte mit gefährlichen Stoffen in ihrem Sortiment führen. Zwar sind weder die Endverbraucher noch die Händler der Endprodukte Adressaten der REACh-Verordnung, aber sie lösen die Wertschöpfungskette aufwärts wichtige Impulse aus, um ein effektives Risikomanagement zu entwickeln und um zu demonstrieren, unter welchen Umständen die verwendeten Stoffe zu keiner besonderen Gefährdung führen. Allerdings zeigen sich auch einige Lücken in der Anreizstruktur von REACh, die durchaus ernst zu nehmen sind, weil sie das Gesamtgefüge in Frage stellen können: So gibt es keine direkte und abgestufte Sanktion für inhaltlich unzureichende Informationen im Registrierungsdossier („asdf“), so dass zu befürchten ist, dass manche Dossiers eher Platzhaltercharakter haben als wesentliche Informationen bereit zu stellen. Ebenso bedenklich ist der langsame Aufbau der Kandidatenliste für Restriktionen, weil dies die notwendige regulatorische Drohung abschwächt. Insgesamt läutet die REACh-Verordnung aber eine neue Phase der Regulierung von Risiken ein, dessen neue Qualität darin liegt, dass die Akteure den Maßstab dafür, wann stoffbedingte Risiken als „angemessen beherrscht“ gelten, weitgehend eigenverantwortlich definieren. Sie tun dies allerdings – mit Ausnahme der „Stoffe mit Eigenschaften ohne Wirkschwelle“ – unter weitgehend standardisierten Rahmenbedingungen. Die Ergebnisse werden zudem über die Internet-Datenbank der ECHA öffentlich zugänglich sein. Damit stärkt die Verordnung den Anreiz, valide Daten zu generieren und zu offenbaren; vor allem aber trägt sie dazu bei, nach und nach einen Bestand an Risikoinformationen aufzubauen, der den Zustand der „toxic ignorance“ zurückdrängt. Das für die (nur) registrierungspflichtigen Stoffe charakteristische Zusammenspiel von eigenverantwortlicher Ermittlung und Bewertung der Risiken (unter Einschluss von IKuK-Mechanismen entlang der Wertschöpfungskette) mit der systematischen Informationsbereitstellung durch die ECHA lässt jedenfalls in mittelfristiger Perspektive erwarten, dass sich qualitativ hochwertige Risikoinformationen durchsetzen werden, womit dann auch der „Verantwortungsmaßstab“ zielkonform definiert wird. Noch deutlich stärker sind die Anreize in den Stufen der Zulassung und der Beschränkung. Schon angesichts der Vielfalt der Stoffe und Verwendungen werden die damit einher gehenden hoheitlichen Interventionen letztlich eher punktuellen Charakter haben. Allein die Möglichkeit zu tiefer greifenden hoheitlichen Maßnahmen hat aber Rückwirkungen auf die Wahl unter den Verhaltensoptionen für registrierungspflichtige Stoffe. Nicht zuletzt aufgrund der Datenzugangsrechte der Verbraucher ist zu erwarten, dass das Gesamtsystem der REACh-Mechanismen die Marktkräfte zur Entfaltung bringen wird, die bei den Akteuren zu einer dynamischen Fortentwicklung der Vorsorgemaßnahmen führen. Das Recht schafft damit einen Rahmen, in dem die Markt-Akteure den „Verantwortungsmaßstab“ kontinuierlich fortschreiben und damit zugleich einen Orientierungsrahmen schaffen, an dem sich risikoadäquate Innovationen auszurichten haben.
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Zuweisung von Innovationsverantwortung durch Haftungsregeln Von Anne Röthel I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 II. Zuweisung von Innovationsverantwortung im geltenden Haftungsrecht . . . . . . . . . . . 336 1. Ausgangspunkt der Eigenverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 2. Deliktische Verschuldenshaftung (§ 823 Abs. 1 BGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 a) Verantwortungszuweisung durch Verkehrspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 b) Technisch-kognitive Einschränkung der Verkehrspflichten: Entwicklungsrisiken und Entwicklungslücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 c) Normative Einschränkung der Verkehrspflichten: Zumutbarkeitserwägungen 341 d) Systematische Einschränkung der Verkehrspflichten durch anderweitige Verhaltensstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 3. Spezialgesetzliche Gefährdungshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 a) Haftung bei erkannter und benannter Gefährlichkeit: Rechtsschöpfungsmonopol und „legal lag“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 b) Innovationsrelevante Grenzen der Gefährdungshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 4. Bewertung der Innovationsangemessenheit der geltenden Haftungsregeln . . . . . 348 a) Wissensgenerierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 b) Risikosteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 c) Entwicklungsrisiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 III. Wege zu einem innovationsangemessenerem Haftungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 1. Kleine Generalklausel: Gefährdungshaftung für Innovationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 2. Objektivierung der Verschuldenshaftung durch Innovationserforschungspflicht 354 IV. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
I. Einführung Haftungsregeln bewirken eine inzidente Zuweisung negativer Innovationsfolgen, indem sie darüber entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Rechtsgutseinbuße zu Ausgleichspflichten Dritter führt. Damit enthalten Haftungs-
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regeln zugleich Aussagen über die Zuweisung von Innovationsverantwortung, hier verstanden als die durch Recht definierte Gesellschaftsverträglichkeit von Innovationen.1 Typischerweise bewirken Haftungsregeln eine nachgelagerte und inzidente Steuerung von Innovationen. Haftungsregeln treffen keine eigene Entscheidung über die Zulässigkeit von Innovationen: Sie „erlauben“ oder „verbieten“ nicht, sondern bestimmen allein die Ausgleichspflichtigkeit von Einbußen an Rechtsgütern. Dabei spielen freilich öffentlich-rechtliche Bewertungen über die Zulässigkeit von Innovationen und innovativem Verhalten eine große Rolle: Wurden einschlägige Grenzwerte überschritten, fehlte eine Betriebserlaubnis für eine emittierende Anlage oder wurde das Inverkehrbringen des Arzneimittels untersagt, so ist damit auch die haftungsrechtliche Einstandspflicht im Regelfall vorgezeichnet. Eigenständigkeit gewinnen Haftungsregeln aber dort, wo es an solchen öffentlich-rechtlichen Vorentscheidungen über die Zulässigkeit und Gemeinwohlverträglichkeit (noch) fehlt. Gerade am Umgang mit Innovationen lässt sich die Auffangfunktion des Zivilrechts2 und hier insbesondere die des Haftungsrechts gegenüber dem öffentlichen Recht ablesen: Die Anwendung neuartiger Technologien, die aufgrund ihrer Neuartigkeit keinem Zulassungsverfahren unterliegen oder für die noch keine Grenzwerte bestehen, wie beispielsweise die sog. Nanotechnologie,3 kann gleichwohl zu einer zivilrechtlichen Haftung führen, und diese Haftungsdrohung kann ihrerseits Anreize zur Gefahrvermeidung setzen (sog. präventive Funktion des Haftungsrechts).4 Die Entscheidung über die Zuweisung der Innovationsverantwortung bedeutet eine zentrale Weichenstellung für ein Gemeinwesen. Beide Zuweisungen unterliegen offensichtlichen Einwänden: Eine strikte Zuweisung von Innovationsrisiken an den Innovateur kann innovationsbelastend und innovationshemmend wirken; eine zu weitgehende Überwälzung von Innovationsrisiken auf die Geschädigten kann eine Unterverantwortung5 der Innovateure bedeuten und den Anreiz zur Risikoerforschung und Schadensvermeidung senken. Vor diesem Hintergrund sollen zunächst die Zuweisungen des geltenden Haftungsrechts dargestellt und auf ihre Innovationsangemessenheit untersucht werden 1 Begriff nach Wolfgang Hoffmann-Riem, Risiko- und Innovationsrecht im Verbund, DV 2005, 145 m. w. N. 2 Näher Wolfgang Hoffmann-Riem, Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen – Systematisierung und Entwicklungsperspektiven, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard (Hrsg.), Öffentliches Recht und Zivilrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996, S. 263 (286 f.). 3 Dazu den Beitrag von Scherzberg in diesem Bande. 4 Zur Präventionsfunktion des Haftungsrechts statt vieler nur Hein Kötz / Gerhard Wagner, Deliktsrecht, 10. Aufl. 2006, Rn. 59 ff.; MünchKommBGB / Gerhard Wagner, 5. Aufl. 2009, vor § 823 Rn. 40 ff., 45 ff.; Hans-Bernd Schäfer / Claus Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 4. Aufl. 2005, S. 129 ff.; kritisch Peter Marburger, Grundsatzfragen des Haftungsrechts, AcP 192 (1992), 1 (30 f.). 5 Begriff nach Gawel in diesem Bande; siehe auch Verantwortungszirkulation nach Bora in diesem Bande.
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(unten II.), bevor in einem zweiten Schritt mögliche Wege zu einem innovationsangemesseneren Haftungsrecht aufgezeigt werden (unten III.). II. Zuweisung von Innovationsverantwortung im geltenden Haftungsrecht 1. Ausgangspunkt der Eigenverantwortung Historischer und dogmatischer Ausgangspunkt des geltenden Haftungsrechts ist der Grundsatz der Eigenverantwortung. Darin folgte das BGB genauso wie etwa das französische oder das österreichische Recht den Anschauungen des Liberalismus und ordnete Schäden primär dem Rechtsgutsinhaber zu: Jeder ist für Einbußen an eigenen Rechtsgütern grundsätzlich selbst verantwortlich. Nur bei Vorliegen besonderer Gründe kann der Geschädigte von einem Dritten Ausgleich verlangen.6 Diese besonderen Schadenszurechnungsgründe sind de lege lata in den Voraussetzungen der deliktischen Verschuldenshaftung (§ 823 BGB, sogleich 2.) sowie in den spezialgesetzlichen Gefährdungshaftungstatbeständen (unten 3.) verkörpert. Der zentrale Unterschied zwischen beiden Formen der Haftungsbegründung liegt in der Voraussetzung einer Pflichtwidrigkeit: Während deliktische Haftung ein vorwerfbares Fehlverhalten voraussetzt, genügt der Gefährdungshaftung die Vornahme eines vom Gesetzgeber erkannten und benannten gefährlichen Tuns. Der historische Gesetzgeber hielt die Gefährdungshaftung freilich für die Ausnahme und folgte darin dem pathetischen und viel zitierten Satz von Rudolf von Jhering „Nicht der Schaden verpflichtet zum Schadensersatz, sondern die Schuld.“7 Dieser Satz hat in der Tat – wie von Jhering prophezeit – Wissenschaftsgeschichte geschrieben.8 2. Deliktische Verschuldenshaftung (§ 823 Abs. 1 BGB) In der Praxis des Deliktsrechts dominiert die Haftung für Fahrlässigkeit.9 Zentrales Zuweisungskriterium der deliktischen Haftung ist das Vorliegen eines Verstoßes gegen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt (vgl. § 276 Abs. 2 BGB), was tatbestandlich der Verletzung einer Verkehrspflicht entspricht.10 Damit kommt der Bestimmung der Verkehrspflichten entscheidende Bedeutung zu. 6 Näher Hein Kötz, Haftung für besondere Gefahr, AcP 170 (1970), 1 (2 ff.); Kötz / Wagner (Fn. 4), Rn. 5 ff., 21 ff. 7 Rudolf von Jhering, Das Schuldmoment im römischen Privatrecht, in: ders., Vermischte Schriften juristischen Inhalts, 1879 (Neudruck 1968), S. 199; eingehend Nils Jansen, Die Struktur des Haftungsrechts, 2002, S. 181 ff. 8 Siehe von Jhering (Fn. 7), S. 199: „Ein einfacher Satz, ebenso einfach wie der des Chemikers, dass nicht das Licht brennt, sondern der Sauerstoff der Luft. Aber beide gehören zu den Sätzen, in denen für den Kundigen eine ganze Geschichte der Wissenschaft steckt.“ 9 MünchKommBGB / Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 50. 10 Wie hier MünchKommBGB / Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 232.
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a) Verantwortungszuweisung durch Verkehrspflichten Über Inhalt und Ausmaß von Verkehrspflichten entscheidet sich, wie weit der Verantwortungsbereich des Innovateurs im Hinblick auf Rechtsgüter Dritter geht. Nach einer viel gebrauchten Formel der Rechtsprechung muss derjenige, „der in seinem Verantwortungsbereich eine Gefahrenlage schafft, alle ihm zumutbaren Maßnahmen und Vorkehrungen treffen, um Schädigungen anderer zu verhindern.“11 Gerade mit Blick auf die Haftung für negative Innovationsfolgen kommt es entscheidend auf die mit dieser Formel bewirkte technisch-kognitive und normative Einschränkung von Verkehrspflichten an: Verkehrspflichten setzen erstens die faktische und rechtliche Möglichkeit der Gefahrsteuerung, also Erkennbarkeit und Vermeidbarkeit, voraus, und zweitens enden die Sorgfaltsanforderungen an der Grenze der Zumutbarkeit der Vermeidungsvorkehrungen.12 Beide Beschränkungen der Verkehrspflicht werden regelmäßig eine Zuweisung negativer Innovationsfolgen zulasten des Geschädigten bewirken, weil sie einen bereits vorhandenen Bestand an Gefahren- und Gefahrvermeidungswissen voraussetzen. Bezugspunkt dieser für die Verkehrspflicht konstitutiven Wissensanforderungen ist dabei ein „verständiger und umsichtiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger“ Teilnehmer des jeweiligen Verkehrskreises.13 b) Technisch-kognitive Einschränkung der Verkehrspflichten: Entwicklungsrisiken und Entwicklungslücken aa) Keine Gefahrvermeidungspflicht Eine im Handlungszeitpunkt nicht bekannte und auch von umsichtigen Teilnehmern des Verkehrskreises nicht erkennbare Gefahr begründet keine Gefahrvermeidungspflichten. Wesentliche Folgerung hieraus ist, dass keine deliktische Verschuldenshaftung für sog. Entwicklungsrisiken besteht: Konnte ein umsichtiger Hersteller im Zeitpunkt des Inverkehrbringens eines Produktes nicht erkennen, dass das Produkt bei zweckgemäßer Verwendung Schäden verursacht, fehlt es an einer Verkehrspflichtverletzung.14 Darin erweist sich die deliktische Haftung ungeachtet 11 Vgl. nur aus jüngerer Zeit BGH, Urteil v. 04. 12. 2001, Az. VI ZR 447 / 00 – NJW-RR 2002, 525 (526); BGHZ 136, 69, 77 = NJW 1997, 2517 (2519). 12 Zum Folgenden MünchKommBGB / Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 258. 13 Vgl. BGH, Urteil v. 19. 12. 1989, Az. VI ZR 182 / 89 – NJW 1990, 1236 (1237); Urteil v. 04. 12. 2001, Az. VI ZR 447 / 00 – NJW-RR 2002, 525 (526); zur Typisierung nach Verkehrskreisen siehe nur BGH, Urteil v. 20. 09. 1994, Az. VI ZR 162 / 93 – NJW 1994, 3348 (3349); Urteil v. 17. 10. 1989, Az. VI ZR 258 / 88 – NJW 1990, 906 (907); BGHZ 8, 138 (140) = NJW 1953, 257; RGZ 95, 16 (17 f.); MünchKommBGB / Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 36 m. w. N. 14 So der einhellige Befund de lege lata; siehe etwa Gert Brüggemeier, Deliktsrecht, 1986, Rn. 561 f.; Staudinger / Johannes Hager, 1999, § 823 Rn. F 19; Rüdiger Krause, Entwicklungsrisiken und Produkthaftung, in: Vieweg, Klaus (Hrsg.), Risiko – Recht – Verant-
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aller Objektivierungen nach wie vor als eine Form der Verschuldenshaftung: Sei das entsprechende Risikowissen nicht verfügbar, lasse sich kein Verhaltensgebot an den Hersteller zur Schadensvermeidung adressieren.15 Weltweit bekannte Beispiele für die Auswirkungen dieser Entscheidung gegen eine Haftung für Entwicklungsrisiken sind die Contergan- und Asbestfälle.16 Auch für die Beurteilung der möglichen und zumutbaren Gefahrvermeidungsanstrengungen ist der Zeitpunkt der schädigenden Handlung maßgebend; eventuelle Entwicklungslücken17 gehen gleichermaßen zulasten des Geschädigten. Schon aufgrund dieser Verknüpfung von Gefahrenwissen und Beurteilungszeitpunkt wird in der ersten Phase des Marktzutritts mit innovativen Produkten oder innovativen Produktionsweisen eine deliktische Haftung für negative Innovationsfolgen regelmäßig ausscheiden. An dieser Bewertung hat der deutsche Gesetzgeber auch bei der Umsetzung der Produkthaftungsrichtlinie18 festgehalten. Gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHG ist die Ersatzpflicht des Herstellers ausgeschlossen, wenn ein schadensursächlicher Produktfehler nach dem Stand von Wissenschaft und Technik zum Zeitpunkt der Inverkehrgabe des Produkts nicht erkannt werden konnte. Der Ausschluss der Herstellerverantwortlichkeit bei Entwicklungsrisiken entspricht zwar nicht dem ursprünglichen Regelungsziel der Europäischen Kommission, die zunächst für die Einbeziehung der Entwicklungsrisiken eingetreten war.19 Dieser Vorschlag scheiterte allerdings an der Skepsis der überwiegenden Zahl der Mitgliedstaaten. Die letztlich verabschiedete Richtlinienfassung knüpft vielmehr sowohl die Sicherheitserwartungen (Art. 6 Abs. 1 lit. c ProdHaftRL) als auch die Verantwortung des Herstellers an die Erkennbarkeit nach dem Stand der Wissenschaft und Technik im Zeitpunkt des Inverkehrbringens (Art. 7 lit. e ProdHaftRL). Zwar wurde den Mitgliedstaaten in Art. 15 ProdHaftRL die Option eingeräumt, diesen Entlastungsbeweis auszuschließen und damit eine Einstandspflicht auch für Entwicklungsrisiwortung, 2006, S. 451 (456 f.); Soergel / Rüdiger Krause, 13. Aufl. 2005, § 823 Anh. III Rn. 18; Klaus Vieweg, Produkthaftungsrecht, in: Schulte, Martin (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2003, S. 329 (367 f.); Thomas Wieckhorst, Vom Produzentenfehler zum Produktfehler des § 3 ProdHaftG, VersR 1995, 1005 (1006); MünchKommBGB / Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 626. 15 So etwa Krause (Fn. 14), S. 451 (456 f.). 16 Zur Contergan-Problematik noch unten bei Fn. 46; Für eine Haftung trotz Nichterkennbarkeit im Zeitpunkt der Verarbeitung Beshada v. Johns-Manville Products Corp., 90 N.J. 191, 447 A.2d 539, 544 (1982); weitere Nachweise Kötz / Wagner (Fn. 4), Rn. 624. 17 Zur Unterscheidung von Entwicklungsrisiken und Entwicklungslücken etwa Krause (Fn. 14), S. 451 (452) m. w. N. 18 Richtlinie 85 / 374 / EWG vom 25. 07. 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkt, ABl. L 210 vom 07. 08. 1985, S. 29 ff., geändert durch Richtlinie 1999 / 34 / EG vom 10. 05. 1999, ABl. L 141 vom 04. 06. 1999, S. 20 f. 19 Siehe die weitergehenden Richtlinienvorschläge aus dem Jahr 1976 (ABl. C 241 vom 14. 10. 1976, S. 9) und aus dem Jahr 1979 (ABl. C 271 vom 26. 10. 1979, S. 3 ff.), jeweils in Art. 1 Abs. 2 RL-Vorschlag.
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ken zu begründen. Von dieser Option haben in vollem Umfang allerdings nur Luxemburg und Finnland Gebrauch gemacht.20 An dieser grundsätzlichen Entscheidung gegen eine gemeinschaftsrechtliche Produkthaftung für Entwicklungsrisiken ist auch im Draft Common Frame of Reference festgehalten worden.21 bb) Gefahrerforschungspflicht Damit kommt der Frage, wann eine Gefahr in diesem Sinne „erkennbar“ ist bzw. welche Anstrengungen zur Aufklärung des Risikopotentials erwartet werden können, zentrale Bedeutung zu. Diese Obliegenheit ist nach wie vor nur schwer fassbar und weitgehend konturenlos. In persönlicher Hinsicht dürfte die Obliegenheit weit zu verstehen sein: Entscheidend ist nicht, was der konkrete Hersteller oder Innovateur erkennen konnte, sondern welchen Risikoerforschungsaufwand sorgfältige und umsichtige Angehörige des Verkehrskreises betrieben hätten.22 In sachlicher Hinsicht wird man umso höhere Anforderungen an die Risikoerforschung stellen müssen, je neuartiger Produkt oder Produktion sind. Wer ein weltweit innovatives Produkt auf den Weltmarkt bringen will, kann sich nicht mit der Auswertung nationaler Fachpresse begnügen. Vielmehr besteht die Obliegenheit zu aktiver Gefahrerforschung unter Einbeziehung auch internationaler Erkenntnisse, und zwar grundsätzlich unabhängig davon, ob diese Erkenntnisse dem betroffenen Innovateur bekannt oder leicht zugänglich waren23 oder ob sich die Mehrheit der Experten den Forschungsresultaten angeschlossen hat.24 Hier lassen sich die Rechtsprechungsgrundsätze zur nachfolgenden Risikoerforschung im Rahmen der sog. Produktbeobachtung weiterführen. Danach umfasst die Schadensvermeidungspflicht eines Herstellers nach Inverkehrgabe eines Produktes auch die angemessene Reaktion auf nachträglich erlangtes Gefahrenwissen. In diesem Zusammenhang sind Hersteller nach st. Rspr. zur aktiven Produktbeobachtung verpflichtet25 und müssen hierzu einschlägige, auch internationale, Fachliteratur auswerten sowie die Ergebnisse wissenschaftlicher Tagungen und die Erfahrungen von Kunden und Konkurrenten beachten.26 20 Siehe Bericht der Kommission vom 31. 01. 2001 über die Anwendung der Richtlinie 85 / 374 über die Haftung für fehlerhafte Produkte, KOM (2000) 893 endg., S. 5 ff. 21 Siehe Art. VI.-3:204 (4) lit. e DCFR, Interim outline edition, prepared by the Study Group on a European Civil Code and the Research Group on EC Private Law (Acquis Group), 2008. 22 Ähnlich zum Einwand des § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHG Krause (Fn. 14), S. 451 (473 f.). 23 Anders Vieweg, Produkthaftungsrecht, Hdb. des Technikrechts (Fn. 14), S. 329 (367). 24 Genauso Krause (Fn. 14), S. 451 (473) für den Einwand des § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHG. 25 Grundlegend BGHZ 80, 199 (202 f.) – Benomyl; siehe näher MünchKommBGB / Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 648; Staudinger / Hager (Fn. 14), § 823 Rn. 21 ff. 26 Aktuelles Beispiel OLG Schleswig, Urteil v. 07. 04. 2005, Az. 11 U 132 / 98 – ZfS 2006, 442: Der Hersteller eines Kühlschleifmittels ist verpflichtet, eigene Untersuchungen
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Dieselben Anstrengungen dürften a maiore ad minus den Sorgfaltsaufwand bestimmen, den ein umsichtiger Innovateur zur Ermittlung des Gefahrenpotentials bei Inverkehrgabe eines Produktes betreiben muss. Auch bezüglich der Auslöseschwelle der Gefahrerforschungsobliegenheiten empfiehlt sich eine Anlehnung an die weiter ausjudizierte nachträgliche Produktbeobachtungspflicht. Hierbei geht es um die Art des Nichtwissens, das den Ausgangspunkt für die Entscheidung über die Erkennbarkeit von Risiken bedeutet. Es erscheint sinnvoll, zwischen spezifischem und unspezifischem Nichtwissen zu unterscheiden: Spezifisches Nichtwissen ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Wissen darüber besteht, dass und was man nicht weiß; spezifisches Nichtwissen beinhaltet also ein Metawissen.27 Gemessen hieran zielt die nachträgliche Produktbeobachtungspflicht nicht nur auf spezifisches Nichtwissen, sondern erstreckt sich auf die generelle Risikobegleitforschung ohne spezifischen Nichtwissensverdacht. Das folgt aus der Ungerichtetheit der nachträglichen Risikoerforschungspflichten: Der Hersteller ist ohne weiteren Anlass oder Gefahren-, d. h. Unwissensverdacht, verpflichtet, den gesamten Forschungs- und Erfahrungsbestand zu rezipieren. Ziel der Produktbeobachtung ist daher auch die Überwindung unspezifischen Nichtwissens. An diesem Maßstab sind auch die Gefahrerforschungspflichten vor Inverkehrbringen zu messen: Um ein vom Geschädigten zu tragendes Entwicklungsrisiko handelt es sich daher nur dann, wenn die schadensursächliche Gefahr auch bei sorgfaltsgerechter Risikoforschung zur Aufklärung sowohl spezifischen als auch unspezifischen Nichtwissens im Zeitpunkt des Inverkehrbringens nicht erkennbar war. c) Normative Einschränkung der Verkehrspflichten: Zumutbarkeitserwägungen Eine weitere Einschränkung des Verkehrspflichtenprogramms resultiert aus Zumutbarkeitserwägungen. Es entspricht der st. Rspr. des BGH, dass die deliktischen Verkehrspflichten keine absolute Sicherheit verlangen, sondern lediglich die Vornahme zumutbarer Gefahrvermeidungsanstrengungen.28 Bei der Konkretisierung der Zumutbarkeit stellt die Rspr. auf das Ausmaß der drohenden Schäden und den anzustellen, wenn die US-amerikanischen Wetterbewerber schon vor Jahren eine Stoffsubstitution wegen Krebsverdachts vorgenommen haben. 27 Näher zu den Arten von Metawissen Frank Kühn-Gerhard, Eine ökonomische Betrachtung des zivilrechtlichen Haftungsproblems „Entwicklungsrisiko“, 2000, S. 118 ff. m. w. N.; vgl. weiterführend die Beiträge in Engel, Christoph / Halfmann, Jost / Schulte, Martin (Hrsg.), Wissen – Nichtwissen – unsicheres Wissen, 2002. 28 BGHZ 58, 149 (156) = NJW 1972, 724 (726); BGHZ 108, 273 (274 f.) = NJW 1989, 2808 (2808 f.); BGHZ 112, 74 (75 f.) = VersR 1990, 1148 (1149); BGH, Urteil v. 20. 09. 1994, Az. VI ZR 162 / 93 – NJW 1994, 3348; Staudinger / Hager (Fn. 14), § 823 Rn. E 35; Erman / Gottfried Schiemann, 14. Aufl. 2008, § 823 Rn. 80; MünchKommBGB / Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 258 ff.
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Grad ihrer Realisierungsgefahr ab: Je größer die Gefahr, der begegnet werden soll, und umso höherrangiger die gefährdeten Rechtsgüter, umso größere Vorsichtsmaßnahmen sind zumutbar.29 Im Gegenzug enden die zumutbaren Vermeidungsanstrengungen bei nichtbeherrschbaren Gefahren und damit bei typischen Innovationsrisiken: Als zumutbar werden nur solche Gefahrvermeidungsanstrengungen angesehen, die auf die Vermeidung beherrschbarer Gefahren gerichtet sind.30 Eine weitere Verlagerung der Innovationsverantwortung auf den Geschädigten bewirkt die im Schrifttum vielfach vertretene Einbeziehung ökonomischer Erwägungen in die Beurteilung der Zumutbarkeit, nämlich die Kosten der Gefahrenabwehr und den Nutzen der Gefahrenquelle.31 Beide Aspekte eröffnen im Zusammenhang mit Innovationsrisiken die Möglichkeit, das Verkehrspflichtniveau zulasten der Geschädigten weiter abzusenken. Insbesondere ließen sich auf diesem Wege auch gesamtgesellschaftliche Interessen an der Innovation (Innovationsförderung) berücksichtigen. Allerdings besteht in der Rechtsprechung nach wie vor eine deutliche Zurückhaltung, den über die „Zumutbarkeit“ eröffneten Wertungsauftrag allein durch ein ökonomisches Kalkül aufzulösen.32 d) Systematische Einschränkung der Verkehrspflichten durch anderweitige Verhaltensstandards Die mit dem Deliktsrecht formulierten Erwartungen an die Gefahrvermeidungsanstrengungen des Innovateurs knüpfen schließlich an öffentlich-rechtliche Risikozuweisungen, Gefahrenerlaubnisse und untergesetzliche Verhaltensstandards an. Typischerweise werden im Bereich von Innovationen keine untergesetzlichen Verhaltensstandards wie ISO-, CEN- oder DIN-Normen oder normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften existieren. Wo dies aber der Fall ist, können sie – je nach Inhalt, Aktualität und Anwendungsbereich – kodifiziertes Gefahrenwissen des Verkehrskreises darstellen, das jedenfalls den Mindestbestandteil der zivilrechtlichen Verkehrspflichten ausmachen wird.33 Theoretisch mag man an dieser Stelle beto-
29 Siehe bereits RGZ 147, 353 (356); BGH, Urteil v. 22. 03. 1960, Az. VI ZR 54 / 59 – VersR 1960, 609 (611); Erman / Schiemann (Fn. 28), § 823 Rn. 80; MünchKommBGB / Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 259. 30 Näher Christian von Bar, Verkehrspflichten, 1980, S. 122 f. 31 Insbesondere MünchKommBGB / Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 260; Soergel / Krause (Fn. 14), § 823 Anh II Rn. 33 ff. 32 Deutliche Ablehnung bei BGH, Urteil v. 29. 11. 1983, Az. VI ZR 137 / 82 – NJW 1984, 801 (802). Untergerichtliche Entscheidungen praktizieren aber durchaus solche ökonomischen Erwägungen; siehe etwa OLG Hamm, Urteil v. 12. 04. 2002, Az. 12 U 170 / 01 – NJW-RR 2002, 1459 (1460); näher Jochen Taupitz, Ökonomische Analyse und Haftungsrecht – Eine Zwischenbilanz, AcP 196 (1996), 114 (155 ff.). 33 Weitergehend Peter Marburger, Die haftungs- und versicherungsrechtliche Bedeutung technischer Regeln, VersR 1983, 597 (600); ders., Die Regeln der Technik im Recht, 1979, S. 439 f.; differenzierend MünchKommBGB / Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 281 f. Grundsätzlich
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nen, dass es sich jeweils um ungebundene Rezeptionsentscheidungen der Rechtsprechung handelt;34 in der Praxis dürfte die Rezeption solcher externer Standards den Regelfall darstellen und mit nicht zu unterschätzenden Wissens- und Rationalitätsgewinnen einhergehen. Ähnlich ist die Bedeutung öffentlich-rechtlicher Genehmigungen und Zulassungsentscheidungen einzuschätzen. Sie verkörpern einen ersten Bestand an Erfahrungs- und Gefahrenwissen, das sich als Mindestanforderungen auch im Ausmaß der Verkehrspflichten niederschlägt. Im Zusammenhang mit Innovationen wird es aber eher auf die umgekehrte Situation ankommen, also dass öffentlich-rechtliche Produkt- oder Produktionsanforderungen – wenn solche überhaupt bestehen – eingehalten werden und es gleichwohl zu Schäden kommt. Auch hier wird vielfach die Eigenständigkeit der zivilrechtlichen Beurteilung betont.35 Letztlich kommt es auf den Beurteilungshorizont der öffentlich-rechtlichen Zulassungsentscheidung an: Ist eine Betriebsgenehmigung mit dynamischen Betreiberpflichten an das Gefahrenwissen nach dem „Stand von Wissenschaft und Technik“ geknüpft, werden sich auch die Verkehrspflichten des Betreibers darin erschöpfen, solange im Verkehrskreis kein weitergehendes Gefahrenwissen generiert worden ist. Zumeist wird also die zivilrechtliche Zuweisung der Innovationsverantwortung an das in öffentlich-rechtlichen Genehmigungsverfahren offenbarte und verarbeitete Gefahren- und Gefahrvermeidungswissen anknüpfen. Über die öffentlich-rechtlichen Vorgaben hinausweisende zivilrechtliche Verkehrspflichten setzen daher nicht verarbeitetes oder neuartiges Gefahrenwissen voraus. Die Verantwortung für Innovationen wird auf diesem Wege – mangels Gefahrenwissens – aber zumeist dem Geschädigten zugewiesen. 3. Spezialgesetzliche Gefährdungshaftung Das Gegenmodell zur verschuldensunabhängigen Haftung stellt die größtenteils spezialgesetzlich 36 geregelte sog. Gefährdungshaftung dar. Typische Beispiele sind die Haftung für den Betrieb von Bahn- und Energieanlagen (§§ 1, 2 HaftpflichtG), die Haftung für den Betrieb eines Kraftfahrzeugs (§ 7 StVG), die Haftung für den Betrieb einer Kernanlage (§ 25 AtG), die Haftung für wasserschädigende Anlagen zur Normkonkretisierung durch Rezeption technischer Normen Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 269 ff. 34 In diese Richtung MünchKommBGB / Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 281 ff.; zu den Voraussetzungen rechtmäßiger Rezeption Röthel (Fn. 33), S. 271 ff. 35 Insbesondere MünchKommBGB / Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 284 f.; ders., Öffentlichrechtliche Genehmigung und zivilrechtliche Rechtswidrigkeit, 1989, S. 123 ff. – Aus der Rspr. BGH, Urteil v. 12. 11. 1996, Az. VI ZR 270 / 95 – NJW 1997, 582 (583); Urteil v. 31. 05. 1994, Az. VI ZR 233 / 93 – NJW 1994, 2232 (2233); BGHZ 103, 298 (305) = NJW 1988, 1380 (1382); BGHZ 99, 167 (176) = NJW 1987, 1009 (1011). 36 Im BGB ist lediglich die Haftung des Tierhalters für Luxustiere (§ 833 S. 1 BGB) geregelt.
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oder Handlungen (§ 22 WHG), die Haftung für Arzneimittel (§ 84 AMG) sowie die Haftung für gentechnische Anlagen und gentechnisch veränderte Produkte (§ 32 Abs. 1 GentG).37 Vielfach wird auch die Produzentenhaftung nach § 1 Abs. 1 ProdHG als Gefährdungshaftung eingeordnet,38 obgleich wegen der Anknüpfung an einen Produktfehler (§ 3 ProdHG) eine deutliche Nähe zur verkehrspflichtbezogenen Produzentenhaftung besteht. a) Haftung bei erkannter und benannter Gefährlichkeit: Rechtsschöpfungsmonopol und „legal lag“ Die Frage nach dem inneren Grund der Gefährdungshaftung rührt an nach wie vor offenen Fragen. Rein deskriptiv lässt sich aus dem unübersichtlichen Flickenteppich39 zumeist sondergesetzlicher Tatbestände als Grund der Schadenszurechnung die Ausübung einer zwar erlaubten, aber vom Gesetzgeber als „gefährlich“ eingestuften Tätigkeit ausmachen.40 Aus dem Blickwinkel von Innovationsverantwortung bedeutet jede Gefährdungshaftung prima facie tendenziell eine stärkere Haftung als eine Verschuldenshaftung und damit eine Verantwortungszuweisung zulasten des Innovateurs. Gleichwohl geht auch die Gefährdungshaftung bei Innovationen vielfach ins Leere. Denn bei Innovationen handelt es sich gerade um Produkte oder Prozesse, deren Gefährdungspotential im Zeitpunkt der Innovation allenfalls den Handelnden selbst, regelmäßig aber nicht dem Gesetzgeber bekannt ist. Die Einführung einer neuartigen Gefährdungshaftung setzt aber immer Gefahrenwissen voraus. Dies zeigt auch der Blick auf die Entstehung der Gefährdungshaftungstatbestände: Die Entscheidung des Gesetzgebers für die Einführung einer Gefährdungshaftung war zumeist Reaktionsgesetzgebung, und zwar nicht schon Reaktion auf wachsendes Gefahrenwissen, sondern vielfach erst Reaktion auf Schadensereignisse. Bei dem aktuellen Konzept der Regelbildung im Recht der Gefährdungshaftung ist ein „legal lag“41 zwischen Risikowissen, Schadensereignis und gesetzlicher Reaktion fast unausweichlich. So trat die Gefährdungshaftung des 37 Bestandsaufnahme der geltenden Gefährdungshaftungstatbestände etwa bei Florian Dietz, Technische Risiken und Gefährdungshaftung, 2006, S. 42 – 147. 38 Zur Rechtsnatur der Haftung nach dem ProdHG Peter Marburger, AcP 192 (1992), 1 (10 ff.) m. w. N.; wie hier für Verschuldenshaftung Kötz / Wagner (Fn. 4), Rn. 615. 39 Kötz / Wagner (Fn. 4), Rn. 509. 40 Ähnlich die Umschreibung bei Josef Esser, Grundlagen und Entwicklung der Gefährdungshaftung, 2. Aufl. 1969, S. 1; vgl. rechtsvergleichend Gerhard Wagner, Grundstrukturen des Europäischen Deliktsrechts, in: Zimmermann, Reinhard (Hrsg.), Grundstrukturen des Europäischen Deliktsrechts, 2003, S. 270 ff.; rechtshistorisch Jansen (Fn. 7), S. 369 ff.; Regina Ogorek, Untersuchungen zur Entwicklung der Gefährdungshaftung im 19. Jh., 1975, S. 98 ff. 41 Begriff nach Klaus Vieweg, Technik und Recht, in: FS für Rudolf Lukes, 2000, S. 199 (209); siehe bereits ders., Reaktionen des Rechts auf Entwicklungen der Technik, in: Schulte, Martin (Hrsg.), Technische Innovation und Recht – Antrieb oder Hemmnis?, 1997, S. 35 (36, 47 f.). Plastisch auch Kötz, AcP 170 (1970), 1 (15): „ungute Phasenverschiebung“.
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Kraftfahrzeughalters im Jahr 1909 und damit mit einiger Verspätung nach Erfindung des Automobils in Kraft,42 und die Gefährdungshaftung nach dem LuftVG43 war erst nach einem Unfall von einem Luftschiff im Jahr 1922 entscheidungsreif.44 Jüngere Beispiele für solche Reaktionsgesetzgebung sind die Haftungsverschärfungen für militärische Gleiskettenfahrzeuge (§ 34b StVZO) und militärische Luftfahrzeuge (§ 53 LuftVG), die sich ausweislich der Gesetzesbegründung als Reaktion auf die „Flugzeugunglücke in Ramstein und Remscheid“ verstehen.45 Schließlich stellt das wohl prominenteste und traurigste Beispiel solcher Reaktionsgesetzgebung die Haftung für Arzneimittel dar: Im Jahr 1961 wurde das Beruhigungsund Schlafmittel „Contergan“ vom Markt genommen, und erst im Jahr 1976 entschied sich der Gesetzgeber für eine Gefährdungshaftung bei Arzneimitteln unter Einschluss des sog. Entwicklungsrisikos.46 In der Rückschau stellt sich die Anordnung einer Gefährdungshaftung also vielfach als späte Reaktion des Gesetzgebers auf Gefahrenwissen und Schadenserfahrungen dar. Hintergrund ist ein Regelungskonzept, das eine Gefährdungshaftung – anders als die generelle deliktische Verschuldenshaftung – an eine spezialgesetzliche und spezifische gesetzliche Anordnung knüpft. Rechtsprechung und Gesetzgebung gehen im Bereich der Gefährdungshaftung von einem Enumerationsprinzip aus, das seine historischen Wurzeln in den Weichenstellungen Kübels47 und dem liberalistischen Zeitgeist bei Entstehung des BGB findet. In diesem Sinne stellte sich das RG schon früh auf den Standpunkt, dass Gefährdungshaftungstatbestände nicht analogiefähig seien,48 und der BGH entscheidet bis heute genauso.49 Zusammen mit dem ausdrücklichen Bekenntnis des Gesetzgebers zum Enumerationsprinzip50 besteht de facto ein legislatives Rechtsschöpfungsmonopol im Bereich der Gefährdungshaftung,51 das letztlich auch Zeichen fortwirkender Zweifel an der inneren Legitimation der Gefährdungshaftung ist.52 Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen vom 3. Mai 1909, RGBl. I (1909), S. 437. Luftverkehrsgesetz (LuftVG) vom 1. August 1922, RGBl. I (1922), S. 681. 44 Näher Dietz (Fn. 37), S. 62. Weiteres Beispiel ist die Einführung der Gefährdungshaftung für Schäden infolge Wasserleitungsbruchs gemäß § 2 HPflG (eingeführt durch das Erste SchadensRÄndG 1977, BGBl. I (1977), S. 1577), nachdem der BGH im Jahr 1971 in BGHZ 55, 229 (233 ff.) eine analoge Anwendung von § 1a RHPflG abgelehnt hatte; vgl. Kötz / Wagner (Fn. 4), Rn. 510. 45 BT-Drs. 14 / 7752, S. 34 f. 46 Siehe etwa Christian Funke, Die Arzneimittelhaftung des pharmazeutischen Unternehmers – Entwicklung und Reformen, 2001, S. 64 ff. m. w. N. 47 Vgl. Motive II, S. 811 f.; Ogorek (Fn. 40), S. 22 ff., 46 f.; Dietz (Fn. 37), S. 154 ff. 48 RGZ 78, 171 f. – Unfall bei Zeppelinlandung; RGZ 99, 96 (98) – bleihaltiges Leitungswasser; RGZ 147, 353 (354 f.) – herabgefallene Starkstromleitung. Für Analogiebildung etwa Staudinger / Hager (Fn. 14), Vorbem zu §§ 823 ff. Rn. 29 m. w. N. 49 BGH, Urteil v. 29. 04. 1960, Az. VI ZR 113 / 59 – NJW 1960, 1345 f. – Schlepplift; BGHZ 54, 332 (336) – Versagen einer Ampelanlage; BGHZ 122, 363 (367) – Kopfschmerz wegen militärischer Tiefflüge; weitere Nachweise bei Dietz (Fn. 37), S. 156 Fn. 659. 50 BT-Drs. 8 / 108, S. 6. 42 43
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b) Innovationsrelevante Grenzen der Gefährdungshaftung Abgesehen von dem legislativen Rechtsschöpfungsmonopol enthalten aber auch die vorhandenen Gefährdungshaftungstatbestände vielfach tatbestandliche Grenzen, die regelmäßig zu einer Überwälzung typischer Innovationsrisiken auf die Geschädigten führen. aa) Haftungsausschluss für Entwicklungsrisiken Aus dem Blickwinkel von Innovationsfolgen und Innovationsverantwortung kommt der Entscheidung über die Einstandspflicht für sog. Entwicklungsrisiken auch im Bereich der Gefährdungshaftung herausgehobene Bedeutung zu. Während der Haftungsausschluss bei der Verschuldenshaftung ohne besondere Erwähnung schon aus dem Erfordernis einer Verkehrspflichtverletzung folgt,53 resultiert er bei der Gefährdungshaftung aus entsprechenden Entscheidungen des Gesetzgebers. Qualifiziert man die Produkthaftung nach dem ProdHG als Gefährdungshaftung, so ist an dieser Stelle auch auf den Haftungsausschluss für Entwicklungsrisiken in § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHG hinzuweisen. Auch in der Frage der Entwicklungsrisiken besteht daher Gleichlauf zwischen der deliktischen Produkthaftung und der Produkthaftung nach dem ProdHG.54 Ausdrücklich anders hat der Gesetzgeber nur in § 84 AMG55 als Reaktion auf die Contergan-Erfahrungen und später in § 32 GenTG56 und in § 1 UmweltHG57 entschieden. Abgesehen von diesen ausdrücklich angeordneten Haftungstatbeständen resultiert im Übrigen aus dem Enumerationsgrundsatz aber eine ganz überwiegende Zuweisung des Entwicklungsrisikos zulasten des Geschädigten.58
51 Kötz / Wagner (Fn. 4), Rn. 514; MünchKommBGB / Wagner (Fn. 4), vor § 823 Rn. 23 ff.; Dietz (Fn. 37), S. 157 ff. 52 Deutlich etwa bei Karl Larenz / Claus-Wilhelm Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II, Halbbd. 2, 13. Aufl. 1994, § 84 I 2 e (S. 607 f.) unter Hinweis auf die unterschiedliche „Dignitität“ von Verschuldens- und Gefährdungshaftung und die „rechtsethische Überlegenheit“ der Verschuldenshaftung. 53 Siehe oben, II. 2. b) 54 Näher Krause (Fn. 14), S. 451 (456 ff.). 55 Die Haftungserstreckung auf Entwicklungsrisiken ergibt sich jedenfalls aus der Entstehungsgeschichte; siehe BT-Drs. 7 / 5025 S. 65 und BT-Drs. 7 / 5091 S. 9 f., 20 f.; siehe im Übrigen Dietz (Fn. 37), S. 96 ff.; Krause (Fn. 14), S. 451 (460 f.); Kötz / Wagner (Fn. 4), Rn. 626; Larenz / Canaris (Fn. 52), § 84 VI 2 b (S. 649 f.). 56 Dazu näher Dietz (Fn. 37), S. 130; Krause (Fn. 14), S. 451 (461 ff.). 57 Zustimmend Schäfer / Ott (Fn. 4), S. 356. 58 Siehe nur Dietz (Fn. 37), S. 96.
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bb) Haftungshöchstbeträge Gleichermaßen typisch für die zivilrechtliche Gefährdungshaftung wie der Haftungsausschluss für Entwicklungsrisiken ist die Haftungsbeschränkung auf Höchstbeträge. Überwiegend ist die Haftung der Höhe nach begrenzt,59 wobei die Höchstbeträge erheblich divergieren: Sie reichen bei Personenschäden von 300.000 A für Personen (§§ 1, 2 HaftpflG) bis zu 120 Mio. A (§ 88 Abs. 1 Nr. 2 AMG) und bei Sachschäden von 300.000 A (§ 12 Abs. 1 Nr. 3 StVG) bis zu 85 Mio. A (§ 15 UmweltHG).60 Entstehungsgeschichtlich wurden die Höchstbeträge als Kompensation für den Verzicht auf das Verschuldenserfordernis angesehen.61 Der verschuldensunabhängig haftende Schädiger sollte wirtschaftlich entlastet werden, indem er vor hohen Rückstellungen oder Versicherungsprämien geschützt wird. Dabei sollten die Höchstbeträge gerade „jungen Industrien“ zugute kommen,62 und bis heute sind sie wohl in erster Linie innovationspolitisch motiviert. Rechtsvergleichend steht Deutschland mit dieser Entscheidung allerdings weitgehend allein; die meisten Rechtsordnungen verzichten auch bei der Gefährdungshaftung auf Höchstbeträge.63 Damit dürfte das zentrale Argument für die Beibehaltung der Höchstbeträge, die Versicherbarkeit der Risiken, entkräftet sein: Auch unbegrenzte Risiken sind versicherbar. Vielmehr dürfte umgekehrt gelten: Die Gründe, die die Anordnung einer strikten Haftung tragen, also das vom Gesetzgeber sondergesetzlich identifizierte „besondere“ Risiko, rechtfertigen zugleich eine unbeschränkte Einstandspflicht. Einer weitergehenden Kompensation bedarf es nicht. Im Gegenteil erscheint doch schwer einsichtig, warum die Haftung gerade dort begrenzt ist, wo aufgrund der besonderen Gefährlichkeit von vornherein erhöhte Schadenspotentiale bestehen. Schäfer / Ott bezeichnen die Haftungshöchstbeträge mit Recht als „kaum begründbare Subvention gefährlicher Tätigkeiten“.64 59 Höhenmäßig völlig unbegrenzt aber die Tierhalterhaltung (§ 833 S. 1 BGB), die Haftung für militärische Luftfahrzeuge (§ 53 LuftVG), die Haftung bei Beeinträchtigung des Wassers (§ 22 WHG), die Atomhaftung (§§ 25, 31 Abs. 1 AtG) sowie die Haftung für gepanzerte Gleiskettenfahrzeuge (§§ 7, 12b StVG). Auch bestehen gemäß § 117 BBergG keine gesonderten Haftungshöchstbeträge für Sachschäden und Personenschäden, und die Haftung nach dem ProdHG sowie nach dem UmweltHG kennt keinen Haftungshöchstbetrag je Schadensfall; siehe näher die Darstellung bei Dietz (Fn. 37), S. 207 f. 60 Kritisch Dietz (Fn. 37), S. 205 f.: „massive Wertungswidersprüche“. 61 Näher zu den historischen Motiven Kötz, AcP 170 (1970), 1 (36 f.); Esser (Fn 40), S. 1 ff.; Dietz (Fn. 37), S. 203 f. Siehe auch BT-Drs 14 / 7752 S. 17: „Korrelat der Verschuldensunabhängigkeit“. 62 Siehe Norbert Pelzer, Begrenzte und unbegrenzte Haftung im deutschen Atomrecht, 1982, S. 12 ff. und 35. 63 Vgl. bereits Kötz, AcP 170 (1970), 1 (36 ff.) sowie aus jüngerer Zeit Christian von Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. II, 1999, § 3 Rn. 367 Fn. 447 – 449; Dietz (Fn. 37), S. 210 f. 64 Schäfer / Ott (Fn. 4), S. 213; kritisch auch von Bar (Fn. 63), § 3 Rn. 367; Florian Dietz, Technische Risiken, Gefährdungshaftung und Haftungsbegrenzung, in: Vieweg, Klaus (Hrsg.), Spektrum des Technikrechts, 2002, S. 41 (49 ff.).
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4. Bewertung der Innovationsangemessenheit der geltenden Haftungsregeln Der kursorische Überblick hat gezeigt, dass die geltenden Haftungsregeln eine differenzierte Entscheidung über die Zuweisung negativer Innovationsfolgen treffen. Über die generalklauselartige deliktische Verschuldenshaftung gemäß § 823 Abs. 1 BGB werden negative Innovationsfolgen nur dann dem Innovateur als Betreiber, Hersteller, Produzent o.ä. als ausgleichspflichtig zugewiesen, wenn ein Verstoß gegen Verkehrspflichten, also gegen im Verkehrskreis verfügbare und zumutbare Risikobeherrschungs- oder Risikoerforschungsanforderungen, nachweisbar ist. Auf dieses Erfordernis verzichtet die Gefährdungshaftung. Doch führt auch die Gefährdungshaftung nur dann zu einer Überwälzung negativer Innovationsfolgen, wenn sie unter einen ausdrücklichen Gefährdungshaftungstatbestand fällt. Es bedarf also einer vorausgehenden einschlägigen Haftungsentscheidung durch den Gesetzgeber, die überdies durch den Ausschluss der Haftung für Entwicklungsrisiken sowie durch Höchstbeträge weiter relativiert wird. Beide Haftungsregimes verweisen auf das zentrale Problem im Umgang mit Innovationen: die mit Innovationen zwangsläufig einhergehende Unwissenheit über die positiven und negativen Innovationsfolgen, also über die Risiken und Nutzen. Allerdings greift es zu kurz, die Ausgestaltung des Haftungsrechts allein unter dem Blickwinkel der – ohnehin nur schwer prognostizierbaren und bewertbaren – möglichen innovationsfördernden oder innovationshemmenden Wirkung zu bewerten.65 In diese Richtung driftet insbesondere die Diskussion um die Haftung für Entwicklungsrisiken.66 Es ist aber kein sinnvolles Ziel der Rechtsordnung, Innovationen per se zu fördern, sondern es geht darum, diejenigen Innovationen zu identifizieren und zu fördern, die bei geringstem Risiko größtmöglichen Neuertrag an Nutzen und Erkenntnis versprechen und daher gemeinwohlverträglich sind.67 Vorzugswürdig sind daher Rechtsregeln, die erstens Anreize zur Generierung des hierzu nötigen Risikowissens68 und zweitens Anreize zur optimalen Risikosteuerung set65 Prognosen zum Innovationsverhalten etwa bei Kühn-Gerhard (Fn. 27), S. 301 ff., 322 ff.; Krause (Fn. 14), S. 451 (482 f.); speziell zur Produkthaftung einerseits Jürgen Schmidt-Räntsch, Die Umsetzung der Produkthaftrichtlinie des Rats der EG, ZRP 1987, 437 (441); andererseits Hermann H. Hollmann, Die EG-Produkthaftungsrichtlinie (I), DB 1985, 2389 (2395). 66 Siehe etwa die viel zitierte Studie der im Auftrag der Europäischen Kommission erstellten Studie der Fondazione Rosselli, Analysis of the Economic Impact of the Development Risk Clause as provided by Directive 85 / 374 / EEC on Liabilty for Defective Products, Final Report (June 2004), abrufbar unter http: / / ec.europa.eu / enterprise / regulation / goods / liability / index_de.htm (zuletzt abgerufen am: 17. 07. 2009). Auf dieser Basis argumentiert etwa Krause (Fn. 14), S. 451 (482 ff.). 67 Eingehend Wolfgang Hoffmann-Riem, Innovationsoffenheit und Innovationsverantwortung, AöR 131 (2006), 255 (271 f.); ders., Innovationen durch Recht und im Recht, in: Schulte, Martin (Hrsg.), Technische Innovation und Recht. Antrieb oder Hemmnis?, 1997, S. 3 (6 f.). 68 Siehe bereits Hoffmann-Riem, DV 2005, 145 (146 f.). Dies ist abzugrenzen vom sog. lernenden Recht. Es geht nicht um flexible Anpassung des Rechts an wachsendes Wissen, sondern es geht um wissensgenerierendes Recht.
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zen. Mit Blick auf Innovationen ließe sich auch von innovationsangemessenen Rechtsregeln sprechen.69 a) Wissensgenerierung Gemessen an diesen Zielen erscheinen sowohl die deliktische Verschuldenshaftung als auch die geltende Ausgestaltung der Gefährdungshaftung defizitär. Beiden Haftungsregimes gelingt es nur unzureichend, mit dem Wissensproblem bei Innovationen umzugehen, da sie nur begrenzt Anreize zur Generierung von Risikowissen erzeugen. Für die deliktische Verschuldenshaftung reduziert sich der Anreiz auf die Produktbeobachtungs- und Risikoerforschungspflicht, während sich ansonsten Nichtwissen eher zugunsten des Innovateurs auswirkt. Überspitzt ausgedrückt: Ein eigenrational handelnder Innovateur wird zur Haftungsvermeidung eventuelles Risikowissen eher verbergen als offenlegen. Im Grundsatz anders liegen die Dinge bei der Gefährdungshaftung. Hier besteht ein wirksamer Anreiz zu fortlaufender und dezentraler Wissensgenerierung über Gefährdungspotentiale und Vermeidungsvorkehrungen, da jeder Innovateur wegen der drohenden Gefährdungshaftung und der damit verbundenen Schadenszurechnung darum bemüht sein wird, im Rahmen seines individuellen Kosten-NutzenKalküls kostenträchtige Schadensfälle durch Sorgfaltsmaßnahmen zu vermeiden.70 Allerdings setzt jede Gefährdungshaftung aufgrund des legislativen Rechtsschöpfungsmonopols eine entsprechende Einschätzung des Gesetzgebers und damit zumindest unspezifisches Risikowissen71 voraus. Anreize zur Generierung und Spezifizierung weitergehenden Risikowissens werden auch durch eine Gefährdungshaftung gerade nicht gesetzt. Vielmehr besteht umgekehrt das Problem des mitunter erheblichen legal lag. b) Risikosteuerung Soweit aber eine gesetzliche Gefährdungshaftung angeordnet ist, wird sie auch im Hinblick auf die Risikosteuerung als vorzugswürdig angesehen, da sich über eine Gefährdungshaftung nicht nur das Sorgfaltsniveau72, sondern auch das Aktivitätsniveau steuern lässt. Denn die Verschuldenshaftung führt dazu, dass Schäden, 69 Ähnlich Hoffmann-Riem, AöR 131 (2006), 255 (271 ff.): „innovationstaugliches Recht“. 70 Eingehend MünchKommBGB / Wagner (Fn. 4), Vor § 823 Rn. 49. 71 Zu der Unterscheidung von spezifischem und unspezifischen Nichtwissen bereits oben bei Fn. 27. 72 Siehe einerseits Kötz / Wagner (Fn. 4), Rn. 500 ff.; andererseits Mathias Rohe, Gründe und Grenzen deliktischer Haftung – die Ordnungsaufgaben des Deliktsrechts (einschließlich der Haftung ohne Verschulden) in rechtsvergleichender Betrachtung, AcP 201 (2001), 117 (150 f.) jeweils m. w. N.
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die trotz sorgfaltsgerechten Verhaltens entstehen, nicht dem Schädiger zugerechnet und daher bei der individuellen Kosten-Nutzen-Analyse der Aktivität nicht in die Abwägung eingestellt werden.73 Solange sich der Innovateur mangels verfügbaren Vermeidungswissens sorgfaltsgerecht verhält, braucht er negative Innovationsfolgen nicht einzukalkulieren und hat folglich keinen Anreiz zu einer rechtsgüterschonenderen Innovationstätigkeit. c) Entwicklungsrisiken Den aktuellen Zweifelspunkt in der Einschätzung der Innovationsangemessenheit macht die Einstandspflicht für Entwicklungsrisiken aus.74 Vielfach wird eine (weitergehende) Haftung für Entwicklungsrisiken auch de lege ferenda abgelehnt: Eine Haftungserstreckung auf Risiken, die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik weder vorhersehbar noch vermeidbar sind, könne keine wohlfahrtsökonomisch sinnvolle verhaltenssteuernde Wirkung entfalten75 und belaste die Innovateure zulasten der Nachahmer.76 Demgegenüber steht die Einschätzung, dass eine Haftung für Entwicklungsrisiken wirksame Anreize zur Risikoforschung setzt.77 Dies erscheint jedenfalls für die Erweiterung spezifischen Nichtwissens plausibel, also in Gefahrbereichen, die nicht völlig außerhalb des Erwartungshorizonts des Innovateurs angesiedelt sind und wo der „denkbare Risikopfad“ offenliegt.78 Allerdings wird die Unterscheidung zwischen spezifischem und unspezifischem Wissen nur vom Innovateur selbst getroffen werden können, was wiederum für eine dezentrale Zuweisung des Entwicklungsrisikos durch eine Gefährdungshaftung spricht. 73 Näher MünchKommBGB / Wagner (Fn. 4), Vor § 823 Rn. 51 f.; Kötz / Wagner (Fn. 4), Rn. 503 ff.; Schäfer / Ott (Fn. 4), S. 177 ff.; Jansen (Fn. 7), S. 155. 74 Hierzu insbesondere Kühn-Gerhard (Fn. 27); Krause (Fn. 14); Karl-Heinz Ladeur, Die rechtliche Steuerung von Entwicklungsrisiken zwischen zivilrechtlicher Produkthaftung und administrativer Sicherheitskontrolle, BB 1993, 1303 ff.; Jan Böhmeke-Tillmann, Konstruktions- oder Instruktionsfehler – Haftung für Entwicklungsrisiken?, 1992; rechtsvergleichend Reiner Schrupkowski, die Haftung für Entwicklungsrisiken in Wissenschaft und Technik. Eine Analyse der Haftungsordnungen der Schweiz, Deutschlands, Frankreichs und der USA, Basel 1995; Ulrich Becker / Konrad Rusch, Das Problem des Entwicklungsrisikos und der state of the art defense im deutschen, französischen und US-amerikanischen Recht, ZEuP 2000, 91 ff. 75 Schäfer / Ott (Fn. 4), S. 356 f.; Gerhard Wagner, Haftung und Versicherung als Instrumente der Techniksteuerung, in: Vieweg, Klaus (Hrsg.), Techniksteuerung und Recht (2000), S. 87 (111); Kötz / Wagner (Fn. 4), Rn. 625; Krause (Fn. 14), S. 451 (478 f.); kritisch auch Becker / Rusch, ZEuP 2000, 90 (103 ff.). 76 So das Argument von Ladeur, BB 1993, 1303 (1310). 77 Günter Hager, Umwelthaftung und Produkthaftung, JZ 1990, 397 (399); Kühn-Gerhard (Fn. 27), S. 337 f.; für die Haftung des Arzneimittelherstellers auch Dietz (Fn. 37), S. 97 f. 78 Vgl. Erik Gawel, Reguliertes Wissen um Unwissen. Zur Generierung und Distribution von Risikoinformation aus ökonomischer Sicht, in: Hart, Dieter (Hrsg.), Privatrecht im Risikostaat (1997), S. 265 (298 ff.).
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III. Wege zu einem innovationsangemessenerem Haftungsrecht Auf der Basis der vorstehenden Überlegungen präsentiert sich das geltende Haftungsrecht in doppelter Weise als nicht innovationsangemessen: Die spezialgesetzliche Gefährdungshaftung bewirkt zwar eine innovationsangemessene Anreizwirkung, bedeutet aber in seiner derzeitigen Konzeption aufgrund des legislativen Rechtsschöpfungsmonopols und des damit verbundenen legal lag eine innovationsinadäquate Regelungstechnik. Genau gegenläufig verhält es sich mit der Verschuldenshaftung: Sie ist tatbestandlich offener und daher eine innovationsadäquatere Regelungstechnik, erzeugt über das Verschuldenserfordernis aber eine nur begrenzt innovationsangemessene Anreizwirkung. Alternativen bestehen in zwei Richtungen: entweder über eine Ausdehnung und Öffnung der Gefährdungshaftung (sogleich 1.) oder über eine weitere Verobjektivierung der deliktischen Haftung (unten 2.). 1. Kleine Generalklausel: Gefährdungshaftung für Innovationen Die weitgehendste Anpassung wäre eine allgemeine, „große“ Generalklausel für die Gefährdungshaftung,79 etwa nach dem Vorbild des französischen, belgischen, niederländischen oder italienischen Rechts.80 Dies hätte zugleich den Vorteil, die vielen historischen Zufälligkeiten und sachgesetzlich kaum erklärbaren tatbestandlichen Differenzierungen im derzeitigen sondergesetzlichen Flickenteppich zu überwinden.81 Allerdings setzt eine Generalklausel neben einem entsprechenden parlamentarischen Votum eine Verständigung über den inneren Grund der Gefährdungshaftung voraus. Der nun über ein Jahrhundert währende reaktive Umgang mit den disparaten sondergesetzlichen Einzeltatbeständen hat den dogmatischen Blick für die Legitimation der Gefährdungshaftung allerdings etwas verstellt. Insbesondere wird es für eine anwendungsfähige Tatbestandsbildung wohl nicht genügen, eine „besondere“ oder „gesteigerte“ Gefahr vorauszusetzen, ohne sich zugleich darüber zu vergewissern, worin das Besondere der Gefahr liegt, die den Übergang von der Verschuldenshaftung zur Gefährdungshaftung trägt.82 Diese zen79 Hierfür plädieren insbesondere Kötz, AcP 170 (1970), 1 (19 ff., 41); Erwin Deutsch, Methode und Konzept der Gefährdungshaftung, VersR 1971, 1 (2 ff.); Ernst von Caemmerer, Reform der Gefährdungshaftung, 1971, S. 19 ff.; für ein „offenes Listenmodell“ Kötz / Wagner (Fn. 4), Rn. 514 f.; Wagner, in: Zimmermann (Fn. 40), S. 189 (286 f.); kritisch Rohe, AcP 201 (2001), 117 (158): Die Gründe verschuldensunabhängiger Haftung seien zu disparat. 80 Siehe im Einzelnen von Bar (Fn. 63), § 3 Rn. 342 ff.; Wagner, in: Zimmermann (Fn. 40), S. 189 (274 ff.); Kötz, AcP 170 (1970), 1 (21 ff.). 81 Siehe etwa die Kritik von Kötz / Wagner (Fn. 4), Rn. 514; Wagner, in: Zimmermann (Fn. 40), S. 189 (286); Kötz, AcP 170 (1970), 1 (18); Jansen (Fn. 7), S. 545; Dietz (Fn. 37), S. 161 ff.; Ladeur, BB 1993, 1303 (1308); aus schweizerischer Perspektive Hanspeter Strickler, Gefährdungshaftung: Auf dem Weg zur Generalklausel?, 1982, S. 44 ff. 82 Siehe etwa den Vorschlag zu § 2 einer „integrativen Konzeption des Haftungsrechts“ von Jansen (Fn. 7), S. 637: „Die Schaffung besonderer Gefahren verpflichtet zur strikten
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trale Frage des Haftungsrechts kann an dieser Stelle nicht umfassend aufgearbeitet werden. Für den hier interessierenden Fragenkreis liegt es allerdings nahe, eine Gefährdungshaftung gerade an die Innovativität von Produkten, Anlagen und Prozessen zu knüpfen.83 Je „neuartiger“ ein Produkt, eine Anlage oder ein Produktionsprozess und je größer die Ungewissheit über die damit verbundenen Risiken, umso naheliegender erscheint in der Tat eine Gefährdungshaftung, um die mit der Neuartigkeit verbundene Risikounkenntnis zu kompensieren.84 Typisches Anwendungsbeispiel wäre derzeit etwa die Vermarktung der Nanotechnologie. Überwindet man die mit einer solchen Innovations-Gefährdungshaftung verbundene Last der Definition von Innovation,85 so hätte eine solche Gefährdungshaftung für neuartige Technologien mit großer Risikounkenntnis die oben bereits grundsätzlich aufgezeigten Anreizvorteile.86 Allerdings liegen auch eine Fülle von Einwänden auf der Hand: Es wäre die negative Symbolwirkung einer gewissermaßen auf Innovationen abzielenden Gefährdungshaftung zu bedenken. Auch dürften mit einer generellen InnovationsGefährdungshaftung „Potentialschwellen“ wahrscheinlich sein.87 Und schließlich bleibt der grundsätzliche Einwand, der einzelne sei durch seine Teilnahme am zivilisatorischen Fortschritt bereits genug entschädigt und müsse akzeptieren, dass deren Risiken auch seinem ganz persönlichen Lebensbereich zugerechnet würden.88 Diese Einwände lassen sich nicht völlig ausräumen. Aber es bleibt auch zu bedenken, dass ohne eine Gefährdungshaftung das Wissen über die InnovationsrisiHaftung“; ähnlich bereits Kötz, AcP 170 (1970), 1 (24 ff.) sowie Kötz / Wagner (Fn. 4), Rn. 515: „besonders gefährliche Anlagen und Stoffe“; genauso von Bar (Fn. 30), S. 144; weitere Aufarbeitung des Diskussionsstandes bei Rohe, AcP 201 (2001), 117 (137 ff.) und Dietz (Fn. 37), S. 167 ff. 83 In diese Richtung schon Max Rümelin, Die Gründe der Schadenszurechnung und die Stellung des deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs zur objektiven Schadensersatzpflicht, 1896, S. 49: Tendenz zur Gefährdungshaftung je „ungewöhnlicher“ das Verhalten; ähnlich von Bar (Fn. 63), § 3 Rn. 315: herausragendes Risiko aufgrund einer „neuen Technik“; wie hier Dietz (Fn. 37), S. 168 f. 84 Umgekehrt könnte die Nutzung bekannt gefährlicher Produkte, Anlagen und Prozesse eigentlich nach den Grundsätzen der Verschuldenshaftung bewältigt werden; in diese Richtung am Beispiel des Straßenverkehrs etwa Rohe, AcP 201 (2001), 117 (139) m. w. N. 85 Erforderlich wäre jedenfalls eine juristische Definition von Innovation, die nicht zwangsläufig mit bestehenden technikorientierten oder sozialen Definitionen kongruent sein muss; vgl. zum Innovationsbegriff Jürgen Hauschildt, Facetten des Innovationsbegriffs, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schneider, Jens-Peter (Hrsg.), Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung, 1998, S. 29 ff. In zivilrechtlicher Perspektive dürfte entscheidend sein, dass es sich um Produkte oder Prozesse mit nur geringer oder fehlender Anwendungs- und Folgenerfahrung handelt. 86 Siehe bereits oben, II. 4. a. 87 Vgl. Andreas Blaschczok, Gefährdungshaftung und Risikozuweisung, 1993, S. 58 ff., 82 f., der eine Zementierung des technisch-sozialen status quo befürchtet. 88 Marburger, AcP 192 (1992), 1 (28 ff.).
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ken einer neuartigen Technologie letztlich tastend von Schadensereignis zu Schadensereignis erfolgt. Die Erst-Geschädigten übernehmen unfreiwillig das Störfallrisiko zugunsten der weiteren Technikentwicklung und erleiden gewissermaßen einen Aufopferungsschaden.89 Da das mit jedem Schadensereignis erzeugte Wissen aber letztlich dem Innovateur bei der weiteren Technikentwicklung zufließt und indirekt allen Marktteilnehmern als Gemeingut zugute kommt, erscheint es unbillig, den Sicherheits- und Wissensgewinn auf Kosten Einzelner zu erzielen.90 Der Blick auf Kosten und Nutzen91 legt daher gerade nicht die Zuweisung zum Erstgeschädigten, sondern vielmehr umgekehrt die Zuweisung zum Innovateur nahe, der die Haftungs- bzw. Versicherungskosten über den Preis indirekt allen Marktteilnehmern als potentiellen Nutznießern des Sicherheitsgewinns weitergeben kann.92 Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht abwegig, eine Gefährdungshaftung sogar als Mittel zur Förderung der Risikoakzeptanz neuartiger Technologien zu verstehen.93 Auch rechtstechnisch dürfte einer „kleinen“ GefährdungshaftungsGeneralklausel für „neuartige“ Technologien nichts im Wege stehen. Mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot wäre sie wohl aufgrund der sachgesetzlichen Besonderheiten94 vereinbar, um den aufgezeigten legal lag zu überwinden. Die entscheidende Hürde dürfte daher der nötige politische und parlamentarische Wille darstellen.
89 Die hier vorgeschlagene Gefährdungshaftung ist jedenfalls solange einer Aufopferungshaftung vergleichbar, als die innovative Tätigkeit, auch mangels Risikowissens, keinen öffentlich-rechtlichen Verbots- oder Genehmigungsstandards unterliegt, sie also rechtmäßig erfolgt. Im Übrigen unterscheiden sich Gefährdungshaftung und Aufopferungshaftung dadurch, dass eine Gefährdungshaftung a maiore ad minus auch bei rechtswidrigem Verhalten besteht; vgl. nur Dietz (Fn. 37), S. 234 ff. 90 Ladeur, BB 1993, 1303 (1308). 91 Die Korrespondenz von Nutzen und Lasten gehört zu den „klassischen“ Argumenten zur Legitimation der Gefährdungshaftung; siehe bereits Victor Mataja, Das Recht des Schadensersatzes vom Standpunkte der Nationalökonomie, 1888, S. 24 f. sowie von Caemmerer (Fn 79), S. 15; Kötz, AcP 170 (1970), 1 (19 ff.); Fritz Nicklisch, Die Haftung für Risiken des Ungewissen in der jüngsten Gesetzgebung zur Produkt-, Gentechnik- und Umwelthaftung, in: FS für Hubert Niederländer, 1991, S. 341 (343 ff.); kritisch etwa Blaschczok (Fn. 87), S. 60 f. 92 Zur Versicherbarkeit neuartiger Risiken am Beispiel der Nanotechnologie Christian Armbrüster, Tagungsband des 24. Trierer Kolloquiums zum Umwelt- und Technikrecht (erscheint 2009 als UTR Bd. 99). Generell zur Versicherbarkeit von Risiken bei verschuldensunabhängiger Haftung Dietz (Fn. 37), S. 247 ff. m. w. N. 93 Dietz (Fn. 37), S. 242; für die Umwelthaftung Staudinger / Jürgen Kohler, 2002, Einl. UmweltHR Rn. 95. 94 Siehe nur aus jüngerer Zeit Hinnerk Wißmann, Generalklauseln, 2008, S. 175 ff. m. w. N.
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2. Objektivierung der Verschuldenshaftung durch Innovationserforschungspflicht Neben der Öffnung der Gefährdungshaftung durch den Gesetzgeber könnte eine zweite Strategie auf dem Weg zu einem innovationsangemessenerem Haftungsrecht darin bestehen, die Verschuldenshaftung weiter zu objektivieren. Gemeint ist eine Verschärfung des Fahrlässigkeitsbegriffs durch Abschleifung der technischkognitiven und normativen Einschränkung der Verkehrspflichten95 im Umgang mit Innovationen. Es ginge darum, innovationsbezogene Verkehrspflichten zu akzentuieren.96 Tatsächlich liefert die Rechtsprechungspraxis bereits einiges Material für eine solche „heimliche“ Gefährdungshaftung aus Richterhand,97 allen voran die Ausreißerhaftung wegen Verletzung einer Befundsicherungspflicht98 sowie die sich abzeichnende Entwicklungshaftung wegen Verletzung einer Produktbeobachtungspflicht99. In dieser Richtung könnten die Verkehrspflichten im Umgang mit Innovationen um eine generelle Innovationserforschungspflicht ergänzt werden. Dies würde zu einer Einstandspflicht des Innovateurs führen, der mögliche und zumutbare Maßnahmen der Risikoforschung unterlässt.100 Als entscheidend wird sich dann die Handhabung des Kriteriums der Zumutbarkeit erweisen. Auch hier wäre eine weitere Objektivierung denkbar, so dass Unzumutbarkeit der Risikoforschung im Umgang mit Innovationen nur ausnahmsweise gegeben wäre.101 JedenHierzu bereits oben, II. 2. In diese Richtung geht insbesondere das Petitum von von Bar (Fn. 63), § 3 Rn. 313, die Haftung wegen Verkehrspflichtverletzung und die Haftung ohne Fehlverhalten in „eine Art kybernetischer Kreislaufreaktion einzubinden“. Weitergehend für eine integrative Konzeption des Haftungsrechts Jansen (Fn. 7), S. 634 ff.; siehe auch schon Art. 1:101 Abs. 1 der Grundregeln des europäischen Vertragsrechts der Kommission für Europäisches Vertragsrecht, veröffentlicht als Lando, Ole / Beale, Hugh (Hrsg.), Principles of European Contract Law: Parts I and II, 1999; hierzu Christian von Bar, Konturen des Deliktsrechtskonzepts der Study Group on a European Civil Code: Ein Werkstattbericht, ZEuP 2001, 515 (520); kritisch Claus-Wilhelm Canaris, Grundstrukturen des deutschen Deliktsrechts, VersR 2005, 577 (578, 580 ff.); Larenz / Canaris (Fn. 52), § 84 I 3 b (S. 601 f.). 97 Kritischer Überblick bei Michael R. Will, Quellen erhöhter Gefahr, 1980, S. 41 ff. m. w. N. unter der Überschrift „Der Wildwuchs der heimlichen Gefährdungshaftungs-Tatbestände“; siehe auch Josef Esser, Die Zweispurigkeit unseres Haftungsrechts, JZ 1953, 129 (130 ff.); Blaschczok (Fn. 87), S. 93 ff.; Kötz, AcP 170 (1970), 1 (9 ff.); Larenz / Canaris (Fn. 52), § 76 III 7 b (S. 427 ff.); dagegen von Bar (Fn. 30), S. 129 ff.: „Leerformel“. 98 BGHZ 104, 323 (326 ff.) – Limonadenflaschen; dazu statt Vieler MünchKommBGB / Wagner (Fn. 4), vor § 823 Rn. 25. 99 BGH, Urteil v. 06. 12. 1994, Az. VI ZR 229 / 93 – NJW-RR 1995, 342 (343) – Gewindeschneidemittel-II; Urteil v. 07. 12. 1993, Az. VI ZR 74 / 93 – NJW 1994, 517 (519) – Gewindeschneidemittel-I; BGHZ 99, 167 (170 f.) = NJW 1987, 1009 (1010) – Lenkerverkleidung; BGHZ 80, 199 (202 ff.) – Benomyl; 80, 186 (191) – Apfelschorf; näher MünchKommBGB / Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 645 ff.; Soergel / Krause (Fn. 14), § 823 Anh III Rn. 50 ff. 100 In diese Richtung bereits Ladeur, BB 1993, 1303 (1311): „Verfahrenspflicht . . . zu einer je nach Risiko mehr oder weniger ausführlich dokumentierten Risikobewertung“ unter Hinweis auf Aaron D. Twerski / Alvin S. Weinstein / William A. Donaher / Henry R. Piehler, 55 N.Y.U. L. Rev., 347 (371) (1980). 95 96
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falls wird man die Zumutbarkeit umso eher zu bejahen haben, je größer die Ungewissheit über die Risiken und je spezifischer das Risiko-Nichtwissen ist. Wer die Aufklärung spezifischen Nichtwissens unterlässt, handelt damit regelmäßig pflichtwidrig. Zusammen mit Beweiserleichterungen102 zugunsten des Geschädigten könnten auch über den Umweg der Verschuldenshaftung wirksame Anreize zur Schadensvermeidung und Wissensgenerierung gesetzt werden. Allerdings bleibt nicht zu übersehen, dass diese innovationsbezogene Objektivierung der deliktischen Haftung letztlich nur ein unehrlicher Notweg aus der Sackgasse ist, in der sich die deutsche Rechtsordnung mit ihren Dogmen Enumerationsprinzip und Zweispurigkeit festgefahren hat.103 Natürlich wäre eine innovationsangemessene Haftungsregelung durch den Gesetzgeber einer fast im Verborgenen wirkenden Korrektur durch die Rechtsprechung vorzuziehen. Zumal die richterliche Lösung auch aus weniger grundsätzlichen Erwägungen angreifbar ist: Zum einen stellt sich die Frage, ob die Gerichte für die Entscheidung über Innovationserforschungspflichten institutionell überhaupt ausreichend gerüstet sind, und zum anderen verliert die Einstandspflicht für die Adressaten an Vorhersehbarkeit.104
IV. Zusammenfassung und Ausblick Haftungsregeln enthalten eine zwar nicht immer ausdrückliche, aber wirkmächtige Zuweisung von Innovationsverantwortung. Eine vollständige Zuweisung zulasten des Innovateurs erfolgt nur dort, wo eine Gefährdungshaftung auch die Haftung für Entwicklungsrisiken einschließt, also im Bereich der Arzneimittel-, Gentechnik- und Umwelthaftung. Im Übrigen lässt sich die Haftung abstufen zwischen verschiedenen Graden der Gefährdungshaftung und schließlich der deliktischen Verschuldenshaftung, die für Innovationen regelmäßig zu einer Letztverantwortung des Geschädigten führt. Im näheren Wirkungsvergleich konnte gezeigt werden, dass die Gefährdungshaftung zwar eine innovationsangemessene Anreizwirkung erzielt, aber aufgrund des legal lag-Problems eine innovationsinadäquate Regelungstechnik verkörpert. Hingegen erweist sich die deliktische Verschuldenshaftung über die offene Tatbestands101 Und zwar auch in subjektiver Hinsicht. Ähnlich der Figur des „Idealfahrers“ könnte der „ideal umsichtige Innovateur“ subjektiver Bezugspunkt der Begründung von Verkehrspflichten sein. 102 Hierfür insbesondere Ladeur, BB 1993, 1303 (1311); siehe etwa zu der in den Niederlanden praktizierten Beweiserleichterung bei der Arzneimittelhaftung von Bar (Fn. 63), § 4 Rn. 416. 103 Siehe etwa MünchKommBGB / Wagner (Fn. 4), vor § 823 Rn. 25: „Preis für die Veränderungssperre“; kritisch Dietz (Fn. 37), S. 158 ff. m. w. N. sowie Canaris, VersR 2005, 577 (579 ff.). 104 So auch das Argument von Dietz (Fn. 37), S. 159.
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formulierung und die flexible richterliche Feinsteuerung als innovationsadäquatere Regelungstechnik, allerdings verbunden mit dem Nachteil einer nur begrenzt innovationsangemessenen Anreizwirkung, zumal eine Haftung für Entwicklungsrisiken weitgehend ausscheidet. Dieses Dilemma ließe sich theoretisch de lege ferenda durch eine Gefährdungshaftungs-Generalklausel für Innovationen beheben. Derzeit realistischer erscheint allerdings eine weitere, schleichende Erosion der Zweispurigkeit des Haftungsrechts durch richterliche Ergänzung der Verkehrspflichten um eine Innovationserforschungspflicht. Dies mag nur die zweitbeste Lösung sein. Unserer Rechtsordnung noch fremder mag es erscheinen, sich zur Haftungsbegründung ohne näheres dogmatisches Gerüst fallweise auf policy considerations oder faute morale zu berufen.105 Die Alternative zu diesen vielleicht gewagt erscheinenden Konstruktionen ist, dass alles bleibt, wie es ist: Dann werden Innovationsrisiken wie bisher weitgehend den Erstgeschädigten aufgebürdet, wenn nicht ausnahmsweise bei publikumswirksamen Masseschäden der politische Wille Entschädigungsfonds einrichtet wie im Fall der Contergan-106 und Blutplasma-Schäden107. Die Zuweisung von Innovationsrisiken auf die Erstgeschädigten vergibt die Chance, wirksame Anreize zur Risikoforschung zu setzen. Und langfristig könnte es auch der Innovationskultur einer Wirtschaftsordnung eher schaden, Erst- und Frühschäden aufgrund mangelnden Risikowissens zu allgemeinem Lebensrisiko und zwangsläufiger Aufopferung zu deklarieren, anstatt sich für eine im Verborgenen wirkende Haftungsordnung zu entscheiden.
105 Zum offenen Argumentieren mit „policy considerations“ oder „faute morale“ Christian von Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. I, 1996, § 3 Rn. 291 – 293 sowie Bd. II (Fn. 63), § 4 Rn. 481. 106 Eingerichtet durch Gesetz über die Errichtung der Stiftung „Hilfswerk für das behinderte Kind“ vom 17. 12. 1971, BGBl. I (1971), S. 2018; dazu BGHZ 64, 30 = NJW 1975, 1457 und BVerfGE 42, 263 = NJW 1976, 1783. 107 Eingerichtet durch Gesetz über die humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIV-infizierte Personen vom 24. 7. 1995, BGBl. I (1995), S. 972; (weitere) kollektive Haftungsfonds de lege ferenda ablehnend Gerhard Wagner, Die Reform der Arzneimittelhaftung im Entwurf eines Zweiten SchadensRÄndG, VersR 2001, 1334 (1345 ff.).
Innovationsverantwortung als Ausgestaltungsdirektive beim Mix unterschiedlicher Instrumente Von Lothar Michael I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 II. Instrumentenmix als Kategorie der Verwaltungsrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . 358 1. Definition des Instrumentenmix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 2. Typisierung des Instrumentenmix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 3. Rechtliche Grenzen des Instrumentenmix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 III. Erwartungen an den Mix im Innovationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 1. Chancen des Mix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 2. Probleme des Mix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 IV. Prämissen eines Mix im Innovationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 1. Dualismus zwischen positiver Innovationsverantwortung und innovationsbegrenzender Risikoverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 a) Positive Innovationsverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 b) Innovationsbegrenzende Risikoverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 2. Verteilungsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 3. Orientierung eines konsekutiven Mix an den Phasen der Innovationsverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 V. Typisiertes Modell eines dreistufigen Mix im Innovationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 1. Erste Phase: Ermöglichung von Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 2. Zweite Phase: Gemeinwohl- und verbrauchergerechte Markteinführung . . . . . . . 364 3. Dritte Phase: Ausgestaltung des Wettbewerbs der Innovationen . . . . . . . . . . . . . . . 365 VI. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
I. Einleitung Eine instrumentelle Bestandsaufnahme zum Innovationsrecht würde rasch zeigen, dass verschiedene Instrumente in unterschiedlichen Bereichen zur Anwen-
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dung kommen: Zu denken ist dabei insbesondere auch an „neuere“ Anreizinstrumente, Selbstverpflichtungen, Zertifizierungen, Warnungen, Transparenzpflichten, Beobachtungs- und Auswertungsvorgaben sowie „neueste“ Informationsaustauschsysteme (REACH1). Im Folgenden geht es aber nicht darum, die Vielfalt des Instrumentariums im Innovationsrecht aufzufächern. Vielmehr sei die Frage nach dem spezifischen Zusammenwirken von Instrumenten aufgeworfen. Wenn in der Literatur Konzepte und Strategien eines flexiblen Innovationsmanagements2 gefordert werden, dann ist es konsequent, die Frage nach der Innovationsverantwortung als Ausgestaltungsdirektive beim Mix unterschiedlicher Instrumente zu stellen.
II. Instrumentenmix als Kategorie der Verwaltungsrechtswissenschaft Dazu ist zunächst der Begriff des „Instrumentenmix“ als Kategorie der Verwaltungsrechtswissenschaft zu umreißen.3 Die verwaltungsrechtswissenschaftliche Betrachtung des Instrumentenmix ist von der Perspektive der Institutionenökonomie zu unterscheiden, ist aber gegebenenfalls mit jener in einem interdisziplinären Diskurs zusammenzuführen. Von der rechtswissenschaftlichen Seite wird es zunächst um die Definition des Mix, um eine Typisierung sowie schließlich um rechtliche Phänomene der Verknüpfung verschiedener Instrumente gehen. 1. Definition des Instrumentenmix Im Folgenden wird unter Mix eine Instrumentenkombination verstanden, die aus einer Mehrzahl verschiedenartiger Rechts- oder Realakte besteht, an denen die Verwaltung mindestens indirekt beteiligt ist und die zumindest einen Zweck gemeinsam haben.4 Atypische Phänomene des Mix bleiben hier außer Betracht.5
1 Dazu Martin Führ, Registrierung und Bewertung von Stoffen: Risiko-Management entlang der Wertschöpfungskette, in: Marburger, Peter / Reiff, Peter / Schröder, Reinhard (Hrsg.), Neues europäisches Chemikalienrecht (REACH), UTR 96 (2008), S. 87 ff. 2 Wolfgang Hoffmann-Riem, Eigenständigkeit der Verwaltung, in: ders. / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2008, § 10 Rn. 130. 3 Ausführlich zum Formen- und Instrumentenmix: Lothar Michael, Formen- und Instrumentenmix, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band II, 2008, § 41. 4 Michael (Fn. 3), Rn. 26. 5 Zu typischen und atypischen Erscheinungsformen Michael (Fn. 3), Rn. 27 ff.
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2. Typisierung des Instrumentenmix Es werden verschiedene Typen des Instrumentenmix unterschieden. So sind zwingende von möglichen Kombinationen ebenso wie parallele von gegenläufigen (kompensatorischen) Kombinationen abzugrenzen. Im Innovationsrecht sind vor allem der Typus des personellen Mix aus einer Vielzahl von Beteiligten sowie der Typus des konsekutiven Mix mit verschiedenen Phasen von Bedeutung. In jeder Phase ist dabei ein Mix aus verschiedenartigen Instrumenten denkbar, z. B. aus verfahrensrechtlichen und materiellrechtlichen Instrumenten. Hinzukommt, dass Innovationsprozesse bis hin zur Produktion und zum Verbrauch neuer Produkte grenzüberschreitend stattfinden. Das ist nicht nur tatsächlich und wirtschaftlich, sondern auch rechtlich von Bedeutung. Es ist deshalb auch nach einem grenzüberschreitenden Mix aus Instrumenten verschiedener Ebenen und verschiedener Staaten zu fragen. 3. Rechtliche Grenzen des Instrumentenmix Die elementarste rechtliche Anforderung an jede Kombination von Instrumenten stellt das Gebot der Widerspruchsfreiheit6 dar. Widerspruchsfreiheit folgt aus dem verfassungsrechtlichen Rechtsstaatprinzip und wird grundrechtlich durch das Willkürverbot vermittelt. Gegebenenfalls wird das Willkürverbot auch durch Maßstäbe der Folgerichtigkeit verschärft.7 Darüber hinaus stellen sich beim Instrumentenmix Fragen der Zuständigkeit. In Betracht kommen insbesondere auch Annexkompetenzen, um die konzeptionelle Gestaltung von Verbundlösungen möglich zu machen. Das setzt aber voraus, dass Gesetzgebungskompetenzen darauf angelegt sind, auch zu derartigen Verbundlösungen zu ermächtigen. Von zentraler Bedeutung ist die Frage des Grundrechtsschutzes. Der Instrumentenmix legt die Frage nach der Gesamtverhältnismäßigkeit mehrerer kombinierter Instrumente nahe. Das setzt eine holistische Betrachtung der Grundrechte voraus.8 Dies wird unter den Stichworten „kumulativer“ oder „additiver Grundrechtseingriff“ diskutiert.9 Auch ist es denkbar, erleichternde, begünstigende Maßnahmen 6 Michael Rodi, Instrumentenvielfalt und Instrumentenverbund im Umweltrecht, ZG 15 (2000), S. 231 (237 f., 240); Strenge Maßstäbe mit Blick auf die Kompetenzausübung stellt insoweit BVerfGE 98, 106 sowie E 98, 265 auf; dazu Christoph Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 ff. 7 Dazu Lothar Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 ff. 8 Dazu Lothar Michael / Martin Morlok, Grundrechte, 2008, Rn. 59 f.; vgl. auch Christoph Spielmann, Konkurrenz von Grundrechtsnormen, 2008. 9 BVerfGE 112, 304 (320) – Global Positioning System; Jörg Lücke, Der additive Grundrechtseingriff sowie das Verbot der übermäßigen Gesamtbelastung des Bürgers, DVBl. 2001, S. 1469 ff.; Gregor Kirchhof, Kumulative Belastung durch unterschiedliche staatliche Maßnahmen, NJW 2006, S. 732 ff.; Friedhelm Hufen, Staatsrecht II, 2007, § 8 Rn. 16.
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im Rahmen einer Saldierung10 zu berücksichtigen, wenn es um die Verhältnismäßigkeit i. e. S., also die Zumutbarkeit geht. Schließlich stellen sich beim Instrumentenmix Fragen des Vertrauensschutzes, der vor allem auch von einer Phase auf spätere Zeitpunkte eines konsekutiven Mix ausstrahlen kann.
III. Erwartungen an den Mix im Innovationsrecht 1. Chancen des Mix Wenn Mix eine eigenständige Kategorie sein soll, knüpfen sich an ihn die Erwartungen von Synergieeffekten einer intelligenten Kombination von Instrumenten. In den Mix wird die Hoffnung gesetzt, den Ausgleich zwischen der Ermöglichung und Förderung von Innovationspotenzial einerseits und dem hinreichenden Niveau des Rechtsgüterschutzes andererseits zu optimieren. Das setzt allerdings eine konzeptionelle Verzahnung der verschiedenen Instrumente voraus. Die Verwaltungsrechtswissenschaft fordert vom Gesetzgeber nicht weniger ein als die „Verankerung von Konzepten gegenstandsbezogener komplexer Innovationspolitik“11. In einem „Medien-Mix“ seien öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Steuerungsmaßgaben zu verzahnen. Im Rahmen eines Innovationsmanagements als Steuerungsform sei es möglich, die staatlichen Maßstäbe auf den Innovationsprozess umzusetzen.12 Chancen des Mix liegen somit in einer geschickten Kombination selbstregulativer, stimulierender, informationeller und regulativer Instrumente.13 Inwieweit sich diese Hoffnungen verwirklichen werden, bleibt abzuwarten. Der Frage wäre zunächst bereichsspezifisch, d. h. in einzelnen Bereichen des Innovationsrechts, nachzugehen. Soll sich das Recht als „lernfähig“ erweisen, drängt sich der wechselseitige Austausch bereichsspezifischer Erfahrungen geradezu auf. Die rechtliche Innovationsforschung sollte hier ansetzen und könnte einen verdienstvollen Beitrag leisten. 2. Probleme des Mix Eine Gefahr des Instrumentenmix liegt in der regulativen Quantität der Kombination mehrerer Instrumente, die zu einer Überregulierung führen bzw. beitragen 10 Johanna Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen, AöR 128 (2003), S. 226 ff.; Michael / Morlok (Fn. 8), Rn. 744. 11 Rainer Pitschas, Maßstäbe des Verwaltungshandelns, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band II, 2008, § 42 Rn. 237. 12 Pitschas (Fn. 11), Rn. 240. 13 Wolfgang Hoffmann-Riem, Ermöglichung von Flexibilität und Innovationsoffenheit im Verwaltungsrecht, in: ders. / Schmidt-Aßmann, Eberhard (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 9 (57).
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kann. Aber auch qualitativ besteht die Gefahr, statt der erwünschten Synergieeffekte durch Kombination verschiedener Instrumente deren gegenseitige Nivellierung beziehungsweise eine Kumulierung negativer Effekte zu erreichen. Gelöst werden können diese Probleme nur, wenn es gelingt, derartige multikausale Phänomene zu erfassen und zu bewerten. Insoweit müsste die Verwaltungsrechtswissenschaft an Erkenntnisse der Institutionenökonomie anknüpfen. Einstweilen bewegen sich Thesen über die Vor- und Nachteile des Instrumentenmix im Bereich des Experimentellen, z. T. auch des Spekulativen. Verfassungsrechtlich betrachtet handelt es sich um einen Bereich weit reichender Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers. Die Demokratie ist darauf angelegt, Fehlsteuerungen gegebenenfalls auf politischem Wege korrigieren zu können. Aus der rechtswissenschaftlichen Perspektive ist davor zu warnen, rechtspolitische Forderungen als (verfassungs-) rechtliche Erfordernisse zu proklamieren.
IV. Prämissen eines Mix im Innovationsrecht 1. Dualismus zwischen positiver Innovationsverantwortung und innovationsbegrenzender Risikoverantwortung Die Prämissen eines Mix im Innovationsrecht werden von einem Dualismus geprägt, nämlich vom Dualismus zwischen positiver Innovationsverantwortung einerseits und innovationsbegrenzender Risikoverantwortung andererseits. a) Positive Innovationsverantwortung Positive Innovationsverantwortung ist darauf gerichtet, Innovationen zu ermöglichen und zu fördern. Dies lässt sich auch verfassungsrechtlich verankern. Soweit es sich um wissenschaftliche Innovation handelt, greift die Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG. Die Aspekte der wirtschaftlichen Nutzung werden ergänzend hierzu von den Wirtschaftsgrundrechten erfasst. Grundrechte strahlen insofern objektivrechtlich auf die Innovationsverantwortung aus. Jedenfalls bereichsspezifisch ließen sich auch Staatsziele heranziehen – etwa das Umweltstaatsprinzip oder das Sozialstaatsprinzip bei umweltnützlichen beziehungsweise sozialnützlichen Innovationen. Mittelbar können auch weitere Grundrechte bereichsspezifisch betroffen sein – etwa Art. 2 Abs. 2 GG bei Innovationen im Gesundheitsbereich. Auf die sozialrechtlichen Implikationen medizinischer Forschung wird noch zurückzukommen sein.14 Schließlich ist auch der volkswirtschaftliche Nutzen eines innovationsfreundlichen Rechts insgesamt als Gemeinwohlbelang in Betracht zu ziehen. Dabei sind auch bloße Chancen für den Rechtsgüterschutz bei der Verhältnismäßigkeit staatlicher Maßnahmen verfassungsrechtlich zu berücksichtigen. Dabei ist der 14
s. unter IV. 2.
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Politik eine Einschätzungsprärogative bei der Bewertung sowohl von Chancen als auch von Risiken zuzugestehen. b) Innovationsbegrenzende Risikoverantwortung Die Innovationsverantwortung hat neben der positiven Dimension der Innovationsförderung auch eine negative, begrenzende Komponente. Innovationen bergen Risiken. Deshalb stellt sich die Frage der Risikoverantwortung. Diese kann den Staat auch i. S. einer verfassungsrechtlichen Verantwortung treffen, soweit Schutzpflichten bestehen. Zu denken ist hier vor allem an die grundrechtlichen Schutzpflichten. Ein Schutzbedürfnis besteht gerade auch in Bereichen, in denen Innovation auf dringende Nachfrage stößt (etwa im Arzneimittelrecht). Auch das Vorsorgeprinzip kann im Bereich der Risikoverantwortung neue Bedeutung erlangen. Im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist zwischen der positiven Innovationsverantwortung und der innovationsbegrenzenden Risikoverantwortung eine Abwägung zu treffen. Mag diese Abwägung auch verfassungsrechtlich geprägt sein, ist jedoch zu beachten, dass zwischen dem Übermaßverbot und dem Untermaßverbot regelmäßig Spielräume bleiben, die nicht verfassungsrechtlich determiniert sind. Gerade im Innovationsrecht soll der Staat nicht zwischen dem Übermaßverbot und dem Untermaßverbot „eingeklemmt“ 15 werden. Dabei ist die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte gegenüber dem Gesetzgeber und gegenüber der Fachgerichtsbarkeit eine (funktionell-)rechtliche Frage.16 2. Verteilungsgerechtigkeit Innovationsverantwortung ist nicht nur zwischen positiver Freiheit und den diese begrenzenden Schutzpflichten zu balancieren. Neben den freiheitsrechtlichen Fragen sind vielmehr auch gleichheitsrechtliche Aspekte zu beachten. Innovationen im Gesundheitsbereich führen etwa zu sozialstaatlichen Problemen der Verteilungsgerechtigkeit. So genannte Quersubventionierungen sind nur eines von vielen Phänomenen, die im Rahmen rechtlicher Steuerung von Innovation auftreten können. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu sozialrechtlichen Ansprüchen auf Therapien jenseits des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung ist ein Beispiel für die verfassungsrechtliche Vorverlegung einer sozial gerechten Verteilung von Innovationschancen. Danach ist es „mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar, einen gesetzlich Krankenversicherten, 15 Sondervotum Brun-Otto Bryde, BVerfG, 1 BvR 3262 / 07 v. 30. 7. 2008, Abs.-Nr. 175; dazu Lothar Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (882). 16 Michael / Morlok (Fn. 8), Rn. 968.
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für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.“17 Die Entscheidung bestätigt, dass es verfassungsrechtlich auf den konkreten Nutzen von Innovationen ankommen kann – hier darauf, ob eine neue Therapie zum Schutze nicht nur der Gesundheit, sondern des Lebens geeignet erscheint. Dabei lässt das Gericht eine bloße „nicht ganz entfernt liegende“ Heilungschance ausreichen und berücksichtigt damit die positive Innovationsverantwortung. Der negativen Innovationsverantwortung trägt das Gericht durch Verweis auf die Prognoseentscheidung des behandelnden Arztes Rechnung. Neben der leistungsrechtlichen Verteilungsgerechtigkeit stellt sich bei jeder Regulierung auch die Frage der Wettbewerbsgleichheit18 der Innovateure. Dabei ist sowohl an die Belastungs- als auch an die Begünstigungsgleichheit zu denken. Gegebenenfalls sind auch die binnenmarktrechtlichen Vorgaben des Europäischen Gemeinschaftsrechts zu beachten. 3. Orientierung eines konsekutiven Mix an den Phasen der Innovationsverantwortung Nun ist der konsekutive Charakter des Mix im Innovationsrecht in den Blick zu nehmen. Mit Wolfgang Hoffmann-Riem sind drei Phasen der Innovationsverantwortung zu unterscheiden: Die erste Phase der Invention, d. h. des Entwurfs und der Entwicklung eines neuen Produktes, die zweite Phase der Innovation, d. h. der Markteinführung und die dritte Phase der Diffusion, d. h. der Anwendung und Verwertung. Dabei kommt es zu einer Phasenverschiebung des reagierenden Rechts. Häufig wird ein Regelungsbedürfnis erst in der zweiten Phase der Markteinführung erkannt und rechtliche Regelungen entstehen oft erst in der dritten Phase.19 Dann sind aber häufig bereits erste Schäden entstanden. Das Schadensrecht ist gefragt und der Ruf nach präventiver Gefahrenabwehr und nach Vorsorge für die Zukunft wird laut. Positiv gewendet stellen sich dann folgende Fragen der Lernfähigkeit des Rechts: Welche Regulierung ab der ersten Stufe der Innovation hätte negative Entwicklungen verhindern können? Wie können solche Instrumente BVerfGE 115, 25 (Leitsatz) – Gesetzliche Krankenversicherung. Exemplarisch zum verfassungsrechtlichen Gebot der Wettbewerbsfreiheit die ältere Rechtsprechung: BVerfGE 27, 375 (385); s. noch E 43, 58 (70); nicht aufgegriffen trotz entsprechender Stellungnahmen der Beteiligten: BVerfGE 94, 372 (387) – Apothekenwerbung; zuletzt: E 116, 164 (177); aus der Literatur: Hans Peter Ipsen, VVDStRL 25 (1967), S. 257 (303); Friedrich E. Schnapp, Konkurrenzschutz für niedergelassene Ärzte gegen medizinische Versorgungszentren?, NZS 2004, S. 449 (450); Rupert Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, zu Art. 12 GG, 47. Lieferung (2006), Rn. 16; Michael (Fn. 7). 19 Hoffmann-Riem (Fn. 2), § 10 Rn. 130. 17 18
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ausgestaltet sein, ohne dass sie gegebenenfalls auch nützliche Innovationen übermäßig verhindern? Die Frage des Instrumentenmix würde sich daran anschließen: Wie lassen sich Instrumente auf den drei Stufen der Innovation kombinieren?
V. Typisiertes Modell eines dreistufigen Mix im Innovationsrecht Legt man diese Unterscheidung dreier Phasen zu Grunde, drängt sich ein typisiertes Modell eines dreistufigen Mix im Innovationsrecht auf. 1. Erste Phase: Ermöglichung von Innovation Instrumentell ist die erste Phase der Innovation durch weiche Instrumente des Anreizes, der Kooperation sowie der Abgabe von Selbstverpflichtungserklärungen20 geprägt. In der ersten Phase der Ermöglichung von Innovation steht die positive Innovationsverantwortung im Vordergrund. Instrumente z. B. der Forschungsförderung richten sich je nach Förderungswürdigkeit und -bedürftigkeit der Innovation. Eine erhöhte Förderungsbedürftigkeit besteht z. B. für die Grundlagenforschung. Hier ist vor allen Dingen an Anreiz-Instrumente21 aller Art zu denken. Verfassungsrechtlich stellen sich insoweit vor allem kompetenzrechtliche und gleichheitsrechtliche sowie haushaltsrechtliche Probleme. Aber auch in dieser Phase ist bereits die innovationsbegrenzende Risikoverantwortung zu beachten. Dabei geht es vor allem um die Einhaltung ethischer, wissenschaftlicher und sicherheitsorientierter Standards. Als Instrumente werden hier primär Selbstverpflichtungen und nur ausnahmsweise ein Verbot bestimmter Forschung in Betracht kommen, zumal es in diesen Fällen Eingriffe in die vorbehaltlos gewährleistete Forschungsfreiheit zu rechtfertigen gälte. 2. Zweite Phase: Gemeinwohl- und verbrauchergerechte Markteinführung In der zweiten Phase der Innovation geht es um deren gemeinwohlverträgliche und verbrauchergerechte Markteinführung. Hier ist neben weichen Instrumenten 20 Dazu Lothar Michael, Rechtsetzende Gewalt im kooperierenden Verfassungsstaat – Normersetzende und normprägende Absprachen zwischen Staat und Wirtschaft, 2002, S. 21 ff. Beachte: Gesetzliche Erwähnung findet das Instrument der Selbstverpflichtung – freilich in ganz anderem Bereich – nunmehr in § 10 Abs. 2 S. 3 FMStG. 21 Dazu Ute Sacksofsky, Anreize, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band II, 2008, § 40.
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auch an Verbote zu denken. Grundrechtlicher Ausgangspunkt der Betrachtung sollte dabei die Vertragsfreiheit sein. Auch in dieser zweiten Phase darf die positive Innovationsverantwortung nicht aus dem Blick geraten. Insbesondere sind Anreizinstrumente der Zertifizierung und Zuerkennung von Symbolen denkbar. Hier wird deutlich, dass der Staat die Phasen der Innovation nicht abwarten sollte, wenn die Risiken bereits frühzeitig offenbar werden. Effekte des Anreizes werden sich vielmehr erst dann einstellen, wenn der Gesetzgeber mit ihnen eine transparente Konzeption verfolgt. Ein Instrumentenmix sollte also gerade darin bestehen, dass Anreize, die erst in der Phase der Markteinführung realisiert werden, bereits während oder vor der Phase der Entwicklung gesetzt werden. Bei der Markteinführung kommt die innovationsbegrenzende Risikoverantwortung voll zum Tragen. Zu denken ist dabei zunächst an weiche Instrumente der Risikoinformation als Verbraucherschutz22, aber auch an Transparenzpflichten, Beobachtungs- und Auswertungsvorgaben (§ 29 GenTG). Hierher gehören auch moderne Systeme des Informationsaustausches und der Bereitstellung von Informationen (REACH). Auch das klassische Instrumentarium des Verwaltungsrechts kann genutzt werden: Dazu gehören bestandskraftbegrenzende Nebenbestimmungen (Widerrufsvorbehalte, Befristungen) ebenso wie – je nach Risiko / Gefahr – auch Verbote, gegebenenfalls auch in Form des allgemeinen Verbots mit Erlaubnisvorbehalt (Arzneimittelzulassung!). Verbote können sich auf die Herstellung sowie auf das Inverkehrbringen von Produkten beziehen (§ 6 AMG einerseits und § 21 AMG andererseits). Im Rahmen eines Mix ist zu fragen, inwieweit sich z. B. Informationsaustauschsysteme mit dem (sektoralen) Umweltrecht und dem Haftungsrecht ergänzen und ob im Sinne eines lernfähigen Rechts auch von den Erkenntnissen aus einem Instrument auf die Veränderung bzw. die Entbehrlichkeit eines anderen Instruments geschlossen werden kann. 3. Dritte Phase: Ausgestaltung des Wettbewerbs der Innovationen In der dritten Phase geht es um die Verwertung und damit rückt der wirtschaftliche Wettbewerb in den Mittelpunkt. Grundrechtlich richtet sich der Fokus auf die Vertrags-, Berufs-, Unternehmens- und Eigentumsfreiheit. Die positive Innovationsverantwortung verwirklicht sich durch den Schutz geistigen Eigentums (Patentrechtsschutz). Auch innovationsorientierte Leistungsbeschreibungen im Vergaberecht können insoweit Anreize setzen. Derartige Steuerung ist freilich am Maßstab der Wettbewerbsgleichheit zu messen und dabei auf seine Konsistenz zu hinterfragen. 22
Pitschas (Fn. 11), § 42 Rn. 237.
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Auf dieser dritten Stufe kommt auch die sozialstaatliche Frage einer gerechtigkeitsorientierten Zurverfügungstellung auf. Zu denken ist hier insbesondere an die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Dabei wird die den Mix betreffende Frage des Konnexes zwischen der Zulassung eines Arzneimittels (also einem Instrument der zweiten Stufe) und der Beurteilung der therapeutischen Wirksamkeit im Rahmen des Arzneimittelverordnungs- und -kostenerstattungsrechts seit langem diskutiert.23 Unabhängig von der verfassungsrechtlichen Gebotenheit eines derartigen Konnexes ergeben sich jedenfalls für den Staat Synergieeffekte dadurch, bestimmte Risiken nur einmal und umfassend zu prüfen. Doppelprüfungen machen nicht nur mehr Aufwand, sondern wirken im Sinne eines konsekutiven Mix kontraproduktiv. Ein ganz anderes Beispiel für die Einbeziehung der forschenden Arzneimittelhersteller in die sozialstaatlichen Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung stellt deren „Solidarbeitrag“24 im Jahr 2001 dar. Neben den bereits auf zweiter Stufe genannten Instrumenten kommen auch auf der dritten Stufe der Innovation weitere Instrumente zur Wahrnehmung innovationsbegrenzender Risikoverantwortung in Betracht. Dabei rückt vor allem das Haftungsrecht in den Vordergrund. Zu denken ist hier an eine bewusst gesteuerte Risikoverteilung durch differenzierte Beweislastregeln25. Dabei sind – gegebenenfalls ergänzend – auch versicherungsrechtliche Lösungen denkbar. Gerade das Innovationsrecht sollte ein Bereich sein, in dem Risiken nicht nur tatsächlich minimiert, sondern darüber hinaus wirtschaftlich ausgewogen verteilt werden sollten. Der Contergan-Skandal zeigt, welche Dimensionen auch Fragen von Entschädigungen erreichen können. Neben versicherungsrechtlichen Lösungen kommen – gerade wenn die Einführung einer Versicherungspflicht zu spät kommt – auch Fondslösungen in Betracht.
VI. Schluss Wenn Innovationsverantwortung – wie der Titel dieses Beitrags es fordert – die Ausgestaltungsdirektive beim Mix unterschiedlicher Instrumente sein soll, dann ist ein Mix an den Parametern der positiven und der negativen Innovationsverantwortung zu messen. Diese Maßstäbe sind verfassungsrechtlich geprägt, belassen aber dem Gesetzgeber weitgehende Spielräume. Das Innovationsrecht unter dem Gesichtspunkt des Instrumentenmix zu untersuchen, stellt eine ebenso reizvolle wie anspruchsvolle Aufgabe dar, die nur monographisch zu bewältigen ist. Der vorliegende Beitrag soll aber nicht nur dies anstoßen, sondern jegliche Beschäftigung 23 Gunther Schwerdtfeger, Die Bindungswirkung der Arzneimittelzulassung, 1983, einerseits und Erhard Denninger, Die Bindungswirkung der Arzneimittelzulassung, NJW 1984, S. 645 f. andererseits. 24 Dazu instruktiv Florian Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, 2007, S. 248 ff. 25 Pitschas (Fn. 11), § 42 Rn. 236.
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mit dem Innovationsrecht für den Aspekt des Mix sensibilisieren. An dieser Stelle konnten nur Fragen aufgeworfen, Begriffe abgesteckt, Kriterien benannt und eine erste Typisierung vorgenommen werden.
Innovationsverantwortung in der Zeit Von Martin Eifert I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 II. Innovationsverantwortung in der Zeit als Problem der punktuellen Entscheidung . . 371 1. Verweisende Kriterien und komplexe Verfahren als Garanten einer informierten Erstentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 2. Relativierung des Bestandsschutzes als Öffnung für neue Erkenntnisse . . . . . . . . 372 3. Die Gewährleistung dynamischer entscheidungsbezogener Wissensbestände als missing link? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 a) Zur Notwendigkeit der Dynamisierung der Wissensbestände . . . . . . . . . . . . . . . 373 b) Sicherung der Dynamisierung durch allgemeine Mechanismen? . . . . . . . . . . . 375 aa) Dynamisierung über die Entscheidungsfrequenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 bb) Dynamisierung in Folge gerichtlichen Kontrollschattens? . . . . . . . . . . . . . 376 III. Innovationsverantwortung in der Zeit als Aufgabe einer ausgestalteten Informationsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 1. Die Erblast des Entscheidungsbezugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 2. Der europäische Zugriff: Organisatorische Differenzierung von Risikobewertung und -management . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 3. Bausteine der sich differenzierenden Informationsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 a) Organisatorische Verselbständigung der Risikobewertung („Wissensbehörden“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 b) Zentralisierung der Risikobewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 aa) Organisatorische Hochzonung im Mehrebenensystem (Bundesbehörden; europäische Agenturen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 bb) Informationsbündelung durch zentrale Datenbanken und Dokumentationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 c) Generierung fortlaufenden neuen Wissens durch dezentrale Beobachtungen praktischer Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 aa) Beobachtungs- und Meldepflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 bb) Wissenserzeugende Normierungsaufträge auf europäischer Ebene . . . . 388 IV. Die Dynamisierung der Informationsordnung und ihre Verknüpfung mit den Entscheidungsbefugnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
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I. Einleitung Innovationsverantwortung ist die Chiffre für eine normative Orientierungen und Vorgaben sichernde Begleitung von Innovationsprozessen1 und damit eine notwendig dynamische Größe. Sie trägt den über die Neuerung selbst hinausgehenden sozialen Dimensionen von Innovationen und ihren Wirkungen Rechnung und richtet den Blick auf ihren gesellschaftlichen Kontext. Die Innovationsbegleitung hat dabei eine schon begrifflich ausgewiesene starke zeitliche Komponente, in der sich widerspiegelt, dass die moderne Gesellschaft notwendig eine „Gesellschaft der Selbstexperimentation“ 2 ist.3 Das Bewusstsein um die Risiken zweiter Ordnung4, also die Risiken einer Fehlsteuerung bei der Bewältigung der technologischen Risiken, verbunden mit der Erkenntnis, dass die Anwendung von innovativen Technologien immer weniger Erprobung theoretischen Wissens sein kann und immer öfter Teil der Produktion theoretischen Wissens sein muss5, verweist den Umgang mit riskanten Innovationen in vielen Fällen auf die Frage nach dem geeigneten Design für ein relativ kontrollierbares Experiment unter Realbedingungen.6 1 Begriffsprägend Wolfgang Hoffmann-Riem, Ermöglichung von Flexibilität und Innovationsoffenheit im Verwaltungsrecht, in: ders. / Schmidt-Aßmann, Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 9 (15 f.); näher entfaltet in Wolfgang Hoffmann-Riem, Vorüberlegungen zur rechtswissenschaftlichen Innovationsforschung, in: ders. / Schneider, Jens-Peter (Hrsg.), Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung, 1998, S. 11 (17); Wolfgang Hoffmann-Riem, Recht als Instrument der Innovationsoffenheit und der Innovationsverantwortung, in: Hof, Hagen / Wengenroth, Ulrich (Hrsg.), Innovationsforschung – Ansätze, Methoden, Grenzen und Perspektiven, 2007, S. 387 (392). 2 Wolfgang Krohn, Rekursive Lernprozesse: Experimentelle Praktiken in der Gesellschaft, in: Rammert, Werner / Bechmann, Gotthard (Hrsg.), Technik und Gesellschaft Jahrbuch 9, 1997, S. 65 (71). 3 Vgl. zur Wahrnehmung des technischen Fortschritts als politisch und den gesellschaftlichen Verarbeitungsstrategien Adalbert Evers / Helga Nowotny, Über den Umgang mit Unsicherheit, 1987, S. 79 ff., 190 ff.; zur Inanspruchnahme von Vertrauen, das durch Selbstbeobachtung abzustützen ist und die systematische begleitende Lernfähigkeit grundlegend KarlHeinz Ladeur, Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft, 1995, etwa S. 142 ff., 161 ff.; vgl. auch Brun-Otto Bryde, Das Recht der Risikogesellschaft, in: Grabes, H. (Hrsg.), Wissenschaft und neues Weltbild, 1992, S. 71 (81 f.) und konkret für die Risikosteuerung Arno Scherzberg, Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht – Ermöglichung oder Begrenzung von Innovationen, VVDStRL 63 (2004), S. 214 (234 f.). 4 Scherzberg (Fn. 3), S. 220 ff.; in der Sache ähnlich bereits Ladeur (Fn. 3) S. 146; zur auch kontraproduktiven Verhinderung von Erfahrungen als Lernimpuls durch zu viel Vorsorge Rainer Wahl / Ivo Appel, Prävention und Vorsorge, 1995, S. 27 f.; Klaus Japp, Struktureffekte öffentlicher Risikokommunikation auf Regulierungsregime, in: Engel, Christoph / Halfmann, Jost / Schulte, Martin (Hrsg.), Wissen – Nichtwissen – Unsicheres Wissen, 2002, S. 35 (58). 5 Vgl. Karl-Heinz Ladeur, Privatisierung öffentlicher Aufgaben und die Notwendigkeit der Entwicklung eines neuen Informationsverwaltungsrechts, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard (Hrsg.), Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft, 2000, S. 225 (242 ff.) sowie Ralf Kleindiek, Wissenschaft und Freiheit in der Risikogesellschaft, 1998, S. 102 f., 125 ff. v. a. am Beispiel der Kernenergietechnik.
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Aus der Perspektive eines zeitlich gestreckten Experiments lassen sich zwei Ebenen der Kontrolle unterscheiden: Einerseits die Ebene der punktuellen Entscheidungen über die Zulässigkeit und das Design riskanter Innovationen und andererseits eine Ebene kontinuierlicher Informationsherstellung und -verarbeitung, die der verstetigten Bearbeitung der in der Entscheidungssituation bestehenden Ungewissheit dient. Diese Ebenen lassen sich analytisch wie praktisch trennen und haben bisher in sehr unterschiedlichem Maße rechtswissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten. Nachfolgend sollen sie zunächst jeweils für sich behandelt werden, wobei die vernachlässigte Ebene der verstetigten Bearbeitung der Ungewissheit stärker in den Blick genommen werden soll.7 Da die Ebenen aber in derselben Ungewissheit wurzeln und auf diese bezogen sind, liegt auf der Hand, dass sie auch wieder verbunden werden müssen. Die Ausgestaltung dieser Verknüpfung de lege lata wie de lege ferenda wird abschließend näher beleuchtet.
II. Innovationsverantwortung in der Zeit als Problem der punktuellen Entscheidung Die Grenzen des Wissens und die Grenzenlosigkeit des Nichtwissens hinsichtlich der Gesundheits- und Umweltauswirkungen von Stoffen wurden zunächst als Entscheidungsproblem wahrgenommen, da ihre rechtliche Bearbeitung hier unausweichlich wurde. 1. Verweisende Kriterien und komplexe Verfahren als Garanten einer informierten Erstentscheidung Die Antworten des Rechts erfolgten bekanntermaßen auf zwei Ebenen: Die Programmierung der Entscheidung wurde teilweise auf Verweisbegriffe umgestellt, die eine Anlehnung vor allem an das jedenfalls breitere Wissen privater, professioneller Gemeinschaften erlaubten.8 6 Die Voraussetzungen unterscheiden sich dabei allerdings nach den Sachbereichen. Das anlagenbezogene Risikowissen hat im Vergleich zum produktbezogenen erheblich stärkere ortsbezogene Anteile. 7 Die verstetigte Bearbeitung hat hierbei verschiedene Dimensionen. Entsprechend der Logik der Gesellschaft der Selbstexperimentation, in der die Experimente regelmäßig privat organisiert sind, betrifft die eine Ebene die produktive Selbst- und Fremdkoordination der Privaten bzw. der Privaten mit öffentlichen Stellen (Dazu nur Karl-Heinz Ladeur, Risikobewältigung durch Flexibilisierung und Prozeduralisierung des Rechts, in: Bora, Alfons (Hrsg.), Rechtliches Risikomanagement, S. 41 (58 f.); ders., in: Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft (Fn. 5). Hier steht eher die bescheidenere Ebene der Reduzierung von Nichtwissen im Vordergrund. 8 Grundlegend dazu Peter Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, 1979; aus öffentlich-rechtlicher Perspektive näher beschrieben und problematisiert bei Andreas Rittstieg, Konkretisierung technischer Standards im Anlagenrecht, 1982; Irene Lamb, Kooperative
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Die Verfahren der Rechtskonkretisierung wiederum wurden breit als Genehmigungsverfahren ausgestaltet und zu komplexen Arrangements der Wissensgenerierung weiterentwickelt, die entscheidungsbezogen eine Vielzahl spezialisierter Behörden, Sachverständigengruppen und oft auch die allgemeine Öffentlichkeit einbeziehen. Während diese Verfahrensarrangements vor allem auf die Erhebung des Wissens und den Abgleich mit dem bestehenden Wissen zielen9, wurden den Antragstellern auch verbreitet Pflichten zur Erzeugung neuen Wissens, etwa durch Unschädlichkeitsnachweise auferlegt.10 Alle diese Vorkehrungen, und darum geht es hier, beziehen sich aber auf die eine (punktuelle) Behördenentscheidung, die oft als Genehmigungsentscheidung ergeht. 2. Relativierung des Bestandsschutzes als Öffnung für neue Erkenntnisse Das zeitliche Moment der Risikoentscheidung wurde in dieser Perspektive in zweierlei Weise aufgegriffen. Es wurde die angemessene Integration von Langzeitwirkungen in die jeweiligen Entscheidungsprogramme gefordert11 und vor allem angesichts der Ungewissheit hinsichtlich relevanter Umweltwirkungen eine Relativierung der Bestandskraft der Erstentscheidung vorgenommen.12 Die aus der Gesetzeskonkretisierung, 1995; Erhard Denninger, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Normsetzung im Umwelt- und Technikrecht, 1990; jüngst Martin Schulte, Wissensgenerierung im Technikrecht, in: Spiecker, Indra gen. Döhmann / Collin, Peter (Hrsg.), Generierung und Transfer staatlichen Wissens im System des Verwaltungsrechts, 2008, S. 259 (264 f.) mit der Rekonstruktion als strukturelle Kopplungen der Systeme. 9 Siehe etwa Martin Eifert, Regulierte Selbstregulierung und die lernende Verwaltung, DV Beiheft 4, 2001, S. 139 (145). 10 Vgl. frühzeitig Elke Gurlit, Die Verwaltungsöffentlichkeit im Umweltrecht, 1989, S. 78, 82, 87, 89; am Referenzgebiet des Arzneimittelrechts entfaltet bei Udo DiFabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 185 ff. und als Querschnittsfrage mit Blick auf die Umweltverträglichkeitsprüfung behandelt bei Jens-Peter Schneider, Nachvollziehende Amtsermittlung in der Umweltverträglichkeitsprüfung, 1991; für eine stärkere Kopplung der privaten Wissensgenerierung mit behördlichen Strukturvorgaben Eifert (Fn. 9), S. 149 ff. am Beispiel der UVP; generell in ähnliche Richtung aber mit größerer Skepsis gegenüber der privaten Wissensgenerierung Indra Spiecker gen. Döhmann, Die informationelle Inanspruchnahme des Bürgers im Verwaltungsverfahren: der Amtsermittlungsgrundsatz nach § 24 VwVfG, in: dies. / Collin, Peter (Hrsg.), Generierung und Transfer staatlichen Wissens im System des Verwaltungsrechts, 2008, S. 196 (215) („begleitende Amtsermittlung“). 11 Siehe dazu grundlegend Hasso Hofmann, Nachweltschutz als Verfassungsfrage, ZRP 1986, S. 87 ff.; ausführlich Peter Saladin / Christoph Zenger, Rechte zukünftiger Generationen, 1988 sowie Carl Friedrich Gethmann / Michael Kloepfer / Hans Nutzinger, Langzeitverantwortung im Umweltstaat, 1993. 12 Siehe insgesamt zur Relativität des Bestandsschutzes Bumke Christian, Verwaltungsakte, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 2, 2008, § 35, Rn. 210; Friedrich Schoch, Der Verwaltungsakt zwischen Stabilität und Flexibilität, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt–
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Ungewissheit erwachsende, allgemein geforderte Lernoffenheit13 wurde durch die Möglichkeit der zumindest partiellen Revision der Entscheidung bei Vorliegen neuer Erkenntnisse aufgegriffen.14 Damit wurden die Entscheidungswirkungen flexibilisiert und Möglichkeiten, aber eben auch nur Möglichkeiten der Anpassung geschaffen. 3. Die Gewährleistung dynamischer entscheidungsbezogener Wissensbestände als missing link? Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob diese entscheidungsbezogenen Anpassungsmöglichkeiten im Rechtssystem genügen – oder nur eine verkürzende Selektion spiegeln, die in der typischen entscheidungsbezogenen rechtswissenschaftlichen Perspektive15 angelegt ist. Die Anpassungen hinterlassen offensichtlich eine Leerstelle hinsichtlich der zeitlichen Zwischenräume der Entscheidungen. Es ergeht eine Entscheidung unter Unsicherheit und wenn neue Erkenntnisse vorliegen, kann nachträglich eine ergänzende Maßnahme ergriffen oder die Entscheidung sogar ganz revidiert werden. Die Frage, ob und wie es zu solchen neuen Erkenntnissen kommt, wird rechtlich offen gelassen. Da die Anpassungen im Ergebnis normativ geboten sind, wird diese Leerstelle zum Problem, wenn die angemessene Bearbeitung der Ungewissheit nicht auch ohne eigenständige rechtliche Adressierung angemessen erfolgt. a) Zur Notwendigkeit der Dynamisierung der Wissensbestände Eindeutig dürfte jedenfalls sein, dass im Ergebnis eine Dynamisierung der Wissensbestände geboten ist. Man kann hier funktional darauf verweisen, dass eine Gesellschaft der Selbstexperimentation ohne Beobachtungsebene sich nicht nur kognitiv ahnungslos stellt, sondern auch höchst instabil ist, weil das für die Teilrolle als Experimentierobjekt erforderliche soziale Vertrauen in den Ablauf der (Gesellschafts-)Experimente dann keine Grundlage hat.16 Aßmann, Eberhard, Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 199 (236 ff.). 13 Vgl. nur Wolfgang Hoffmann-Riem, Ermöglichung von Flexibilität und Innovationsoffenheit im Verwaltungsrecht, in: ders. / Schmidt-Aßmann, Eberhard, Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 9 (63 ff.). 14 Siehe nur Arndt Schmehl, Genehmigungen unter Änderungsvorbehalt zwischen Stabilität und Flexibilität, 1998; Ivo Appel, Methodik des Umgangs mit Ungewissheit, in: SchmidtAßmann, Eberhard / Hoffmann-Riem, Wolfgang, Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 327 (345 ff.). 15 Siehe zum Rechtsaktsbezug grundlegend Christian Bumke, Relative Rechtswissenschaft, 2004, S. 255 ff.
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Es lässt sich auch auf das Rationalitätsversprechen des modernen Staates verweisen17, das rechtsdogmatisch unter anderem im Rechtsstaatsgebot verankert wurde, eine belastbare, intersubjektiv vermittelbare Informationsgrundlage für staatliches Handeln sowie Sicherungen seiner Effektivität fordert und schwerlich auf Ungewissheit und Nichtwissen mit Ignoranz antworten kann.18 Rechtsdogmatisch liegt die Begründung über die grundrechtlichen Schutzpflichten am nächsten. Die Pflicht zum Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit aus Art. 2 II 1 GG verpflichtet den Staat auch, die zur Erfüllung des Auftrags erforderlichen Informationen zu ermitteln oder zu generieren. Unter Ungewissheitsbedingungen entspricht dem eine Pflicht zur Risikoforschung, auch wenn diese, wie alle Schutzpflichtelemente, und wegen ihrer Ressourcenabhängigkeit sogar in gesteigertem Maße, durch gesetzgeberische Entscheidungsspielräume 19 wenig verfassungsunmittelbare Kraft besitzt. Die Dynamisierung des Wissens bildet zumindest eine notwendige Effektivitätsvoraussetzung der verfassungsgerichtlichen Figuren von Korrektur- und vor allem Nachbesserungspflichten20, die zwar als konkrete Beobachtungspflicht vom Bundesverfassungsgericht an den Rang des betroffenen Schutzgutes geknüpft und eher selten ausdrücklich hervorgehoben wird21, aber als fester Bestandteil jedenfalls des Schutzes vor breiten und erheblichen Gesundheitsgefahren gedacht werden sollte.22 16 Vgl. nur Timothy O’Riordan / Brian Wynne, Die Regulierung von Umweltrisiken im internationalen Vergleich, in: Krohn, Wolfgang / Krücken, Georg (Hrsg.), Riskante Technologien, S. 186, 211 ff.; vgl. auch den Beitrag von Bora in diesem Bande; in diese Richtung bereits früh Karl-Heinz Ladeur, Risikooffenheit und Zurechnung – insbesondere im Umweltrecht, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann (Fn. 12), S. 124 ff. 17 Näher entfaltet bei Andreas Voßkuhle, Das Konzept des rationalen Staates, in: ders. / Schuppert, Gunnar Folke (Hrsg.) Governance von und durch Wissen, 2008, S. 13 (14 ff.); vgl. auch Bardo Fassbender, Wissen als Grundlage staatlichen Handelns, HbStR IV, 3. Aufl. 2006, § 76 Rn. 1 ff. 18 Vgl. etwa die Verankerung der Aufgabe der Wissensorganisation im verfassungsrechtlichen Gebot der Optimierung der Aufgabenerfüllung bei Hermann Hill, Neue Organisationsformen in Staats- und Kommunalverwaltung, in: Schmidt-Aßmann, Eberhard / HoffmannRiem, Wolfgang, Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, 1997, S. 65 (84 f.). 19 Siehe nur aus der Rechtsprechung BVerfGE 79, 174 (202); BVerfG, NJW 1996, 651; BVerfG, NJW 1997, 2509 (2509); aus der Literatur nur Helmuth Schulze-Fielitz, in: Dreier, Horst, Grundgesetz Kommentar, Art. 2 II Rn. 86 ff.; Johannes Caspar, Umweltrecht, in: Koch, Hans-Joachim (Hrsg.), Umweltrecht, 2. Aufl. 2007, § 2 Rn. 123. 20 Siehe nur BVerfGE 16, 147 (186); 55, 274 (308); 56, 54 (76 ff.); 73, 40 (94); 88, 203 (309 f.); aus der Literatur dazu insbesondere Peter Badura, Die verfassungsrechtliche Pflicht des gesetzgebenden Parlaments zur „Nachbesserung“ von Gesetzen, in: FS Eichenberger, 1982, S. 481, insbes. 487 ff.; Rudolf Steinberg, Verfassungsrechtliche Kontrolle der „Nachbesserungspflicht“ des Gesetzgebers, Der Staat, 1987, S. 161 ff. 21 Eine Ausnahme in der Rechtsprechung bildet BVerfGE 88, 203 (310) mit der Ableitung aus dem Rang des Schutzgutes Leben und der Erwähnung von Berichtspflichten der Regierung als Operationalisierungsbeispiel; zu weiteren Beobachtungspflichten in der Rechtsprechung siehe auch BVerfG, NJW 2002, 1638 (1639); BVerfG, NVwZ 2007, 805 (805); BVerfG, NVwZ 2006, 559 (570).
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Der verfassungsrechtliche Auftrag strahlt aber vor allem auch auf die Interpretation der umweltrechtlichen Gesetze aus. Die dort regelmäßig anzutreffende Dynamisierung von Pflichten der Privaten und Entscheidungsbefugnissen der Überwachungsbehörden ist besonders, aber nicht nur unter dem Einfluss der Schutzpflicht auch mit dem rechtlichen Gebot zur effektiven Durchsetzung und Wahrnehmung verbunden.23 Hiermit wird zugleich funktional an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der erheblichen Verlagerung von Entscheidungsmacht über Risiken vom Gesetzgeber auf die Exekutive angeschlossen, die von Beginn an ausdrücklich an die „laufende Abpassung der für die Risikobeurteilung maßgeblichen Umstände und an den jeweils neuesten Erkenntnisstand“24 geknüpft wurde. b) Sicherung der Dynamisierung durch allgemeine Mechanismen? Wenn aber die Dynamisierung der Wissensbestände geboten und doch rechtlich weder unmittelbar adressiert noch näher ausgestaltet ist, bildet das nur dann kein Problem, wenn sie über indirekte Mechanismen sichergestellt ist. aa) Dynamisierung über die Entscheidungsfrequenz? Hier lässt sich als erstes an die Entscheidungsfrequenz denken. Es gibt zwar keine Verbindung zwischen den punktuellen Entscheidungen über denselben Sachverhalt, aber dieser Zeitraum kann durch eine Vielzahl von Entscheidungen über gleiche Sachverhalte ausgefüllt werden, deren notwendiger Nebenertrag dann auch eine Überprüfung der jeweils bislang zu Grunde gelegten Annahmen wäre. Die Unaufhörlichkeit des Entscheidens würde dann zum Trost für die Entscheidung unter Ungewissheit.25 Dies setzte aber voraus, dass die Entscheider ihre Routine jeweils bewusst und hinreichend offen halten, um die Verfahren nicht nur zu deren Reproduktion, sondern eben auch zu deren Überprüfung zu nutzen und zugleich über die Verfahren auch die Untersuchungsmethoden weiterzuentwickeln. Die Dynamisierung über die Entscheidungsfrequenz kann aber auch von vornherein nur in solchen Bereichen funktionieren, in denen die Entscheidungen jeweils hinreichend ähnlich sind, was gerade im Bereich innovativen Vorgehens unwahrscheinlich ist. Schließlich können die zeitlich befristeten Zulassungen im Pflanzenschutz(§ 16 PflSchG) und Gentechnikrecht (§ 16d II GenTG (Inverkehrbringen GVO)) Vgl. auch BVerfGE 49, 89 (132). Vgl. nur Alexander Roßnagel, in: Koch, Hans-Joachim / Scheuing, Dieter (Hrsg.), GK-BImSchG, § 5 Rn. 391; Zum Auftrag zur Wissensgenerierung bei der Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe im Risikorecht auch Hans-Christian Röhl, Ausgewählte Verfahrensarten, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, GVwR II, § 30, Rn. 28, 30. 24 BVerwGE 49, 89 (139 f.) mit zunächst noch zu starker Orientierung auf deren Handlungsformen; unspezifischer aber dann schon BVerfGE 81, 185 (192). 25 Siehe allgemein dazu Uwe Schimank, Die Entscheidungsgesellschaft, 2005, passim und S. 460 zum Trost. 22 23
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auch als gesetzgeberisches „Eingeständnis“ und als Dokumentation dafür gelesen werden, dass die Genehmigungsverfahren als deutlich leistungsstärker in der Informationserzeugung und -verarbeitung angesehen werden als die laufende Beobachtung und die daran anschließenden nachträglichen Maßnahmen. bb) Dynamisierung in Folge gerichtlichen Kontrollschattens? Auch eine hinreichende Aktivierung der Verwaltung durch die Gerichte oder zumindest deren Kontrollschatten scheidet hier weitgehend aus. Denn zunächst ist der Anwendungsbereich der Kontrolle durch die Bindung an das subjektive Recht bekanntermaßen begrenzt.26 Hierdurch wird die besonders bedeutsame Vorsorge allenfalls bei entsprechenden europäischen Vorgaben für die Gerichtskontrolle geöffnet27 und auch das Umweltrechtsbehelfsgesetz bietet in seiner noch bestehenden Gestalt28 keine neuen Möglichkeiten. Aber auch in den Bereichen grundsätzlich eröffneter Gerichtskontrolle bleibt die Steuerungskraft gering. Die Gerichte leiten aus den materiellen Vorgaben zwar zu Recht ab, dass die Verwaltung insbesondere beim Maßstab der Wissenschaft und Technik alle „wissenschaftlich und technisch vertretbaren Erkenntnisse heranzuziehen“ 29 haben und auch Möglichkeiten „anhand ,bloß theoretischer‘ Überlegungen und Berechnungen in Betracht ziehen“ müssen, um bestehende Unsicherheiten oder Wissenslücken hinreichend zuverlässig auszuschließen30. Und es entspricht auch selbst bei der Annahme von Beurteilungsspielräumen der allgemeinen Dogmatik, dass die Gerichte überprüfen, ob der Sachverhalt richtig ermittelt und die allgemeinen Beurteilungsmaßstäbe eingehalten wurden.31 Unklar ist allerdings, wie die Gerichte diese Kontrolle selbst vornehmen sollen. Gerade hinsichtlich der heranzuziehenden Informationen finden sich häufig Formulierungen, die verdeutlichen, dass die 26 Siehe grundlegend zu den Grenzen der Gerichtskontrolle im Umweltrecht und der daraus folgenden Aufgaben eines modernen Verwaltungsrechts Wolfgang Hoffmann-Riem, Reform des allgemeinen Verwaltungsrechts als Aufgabe – Ansätze am Beispiel des Umweltschutzes, AöR 115 (1990), S. 400 (407 ff.). 27 Siehe zur weitgehenden Ausgrenzung der Vorsorge nur Wilfried Erbguth / Sabine Schlacke, Umweltrecht, 2. Aufl. 2008, § 6 Rn. 13; Michael Kloepfer, Umweltrecht, 2004, § 8 Rn. 24; mit der Ausnahme BVerwGE 61, 256 (264 ff.); sowie zur begrenzten europäischen Öffnung Wilfried Erbguth / Sabine Schlacke, Umweltrecht, 2. Aufl. 2008, § 6 Rn. 13; Friedrich Schoch, Individualrechtsschutz im deutschen Umweltrecht unter Einfluss der Gemeinschaftsrechts, NVwZ 1999, S. 457. 28 Dazu recht kritisch Wolfgang Ewer, Aktuelle Neuregelungen im Verwaltungsprozessrecht, NJW 2007, S. 3171 (3174 ff.); Sabine Schlacke, Das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz, NuR 2007, S. 14. 29 BVerwGE 49, 89 (140). 30 BVerwGE 106, 115 (121). 31 Siehe statt aller nur Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl. 2009, § 7, Rn. 31 ff. und aus der ständigen Rechtsprechung BVerwGE 128, 329 (332).
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Gerichte bereits hier nur eine Vertretbarkeitskontrolle vornehmen. Die typische Argumentationsfolge lautet, dass die Behörde die Erkenntnisse der einschlägigen Verbände oder anderer Behörden zu Grunde gelegt und daraus vertretbare Schlüsse gezogen hätte.32 Insofern werden wohl schon Beurteilungsgrundlage und Bewertungsmaßstäbe oft nur einer Plausibilitätsprüfung unterzogen. Und woher sollte auch eine Kompetenz zur eigenständigen Prüfung erwachsen, da das Gerichtsverfahren doch allenfalls auf die Anhörung einer begrenzten Zahl von Sachverständigen eingestellt ist? Versagen aber eine Dynamisierung durch Entscheidungspraxis oder Gerichtskontrolle zumindest partiell, steht kein allgemeiner Sicherungsmechanismus zur Verfügung und wird das Vertrauen in die angemessene Bearbeitung der Unsicherheit prekär. Dies aufzufangen ist eine Aufgabe des Rechts – und zwar vor allem des objektiven Rechts. Es kann transparente Strukturen und belastbare Positionen schaffen und darüber Vertrauen generieren.33 Damit wird eine eigenständige Informationsordnung unverzichtbar, die das Problem der angemessenen dynamischen Wissensvorsorge bearbeitet.34 Angesichts der dafür erforderlichen Kontinuität, systematischen Herangehensweise und Verkopplung unterschiedlicher Perspektiven, Informationsstände, Wertungen u. ä. kann sie nur über organisationsrechtlich durchwirktes Verfahrensrecht geleistet werden.
III. Innovationsverantwortung in der Zeit als Aufgabe einer ausgestalteten Informationsordnung Betrachtet man die Problemlage aus der Perspektive einer Informationsordnung, wird zunächst deutlich, dass der Entscheidungsbezug der Diskussion hier retardierend wirkt. 32 z. B. BVerwGE 72, 300 (319 ff.); 81, 185 (195); anders aber etwa OVG RLP, ET 1996, 257 f. 33 Siehe auch zum Zusammenhang von Beurteilungsspielräumen der Verwaltung und einer Kompensation durch Monitoring-Pflichten Karsten Herzmann, Monitoring als Verwaltungsaufgabe, DVBl. 2007, S. 670 (672 f.). 34 Kritik an den mangelnden Vorkehrungen des Risikoverwaltungsrechts zur Fortentwicklung des Standes der Wissenschaft etwa bei Klaus-Martin Groth, Die gentechnische Herausforderung, KJ 1988, S. 247 (261); Dietrich Murswiek, Die Bewältigung der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen durch das Verwaltungsrecht, VVDStRL 48 (1990), S. 207 (218) (für das Gentechnikrecht a.F.) und breiter Scherzberg (Fn. 3), S. 251 m. Fn. 262; zum „Zeitproblem“ der Aktualisierung der Erkenntnisgrundlagen als Herausforderung Appel (Fn. 14), S. 329; zum Zusammenhang von Wissens- und Risikovorsorge auch bereits Rainer Pitschas, Die Bewältigung der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen durch das Verwaltungsrecht, DÖV 1989, S. 785 (800); zur Institutionalisierung der Lernfähigkeit, ihren ersten Ansätzen und der Kritik der Unterentwicklung auch Wolfgang Köck, Grundzüge des Risikomanagements, in: Bora (Fn. 7), S. 171 f. bzw. 173.
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1. Die Erblast des Entscheidungsbezugs Das offensichtliche Informationsproblem wurde zunächst stark auf der Ebene der Konkretisierung der Entscheidungsmaßstäbe thematisiert. Gerade die Technik der Verweisbegriffe35, deren Bezugsobjekt sich meist als kaum rückverfolgbares Ergebnis von Risikoermittlung, -bewertung und -begrenzung darstellt36, führte zur notwendigen Gegenreaktion, in der die politische Verantwortlichkeit und, rechtlich gewendet, also die demokratische Legitimation von Risikoentscheidungen betont wurde. Die enge Verzahnung von wissenschaftlichen und politischen Bewertungen wurde angesichts der breiten Einbeziehung Privater und der notwendigen Dezision in den Mittelpunkt gerückt.37 Hierüber konnten zumindest scheinbar auf Objektivität vertrauende Konstruktionen wie das antizipierte Sachverständigengutachten38 abgewehrt und normative Anforderungen angesichts der faktischen Verlagerung der relevanten Grenzwertfestlegungen etc. in den Privatbereich oder hybriden Bereich entwickelt und eingefordert werden.39 In den Sozialwissenschaften wurden parallel hierzu vor allem Modelle hybrider, Experten wie Laien und / oder politische Vertreter umfassender Gremien entwickelt.40 So produktiv diese Hervorhebung der Verzahnungen für die Thematisierung notwendiger staatlicher Steuerungsansätze war und so sehr sie eine notwendige Gegenreaktion gegen eine unreflektierte Expertifizierung der Entscheidungen war41, so sehr überlagerte und erschwerte der Blick auf die Rezeption im Entscheidungskontext aber auch die Fragen nach sinnvollen Differenzierungen für die Aufbereitung dieser Gemengelage innerhalb der Verwaltungsorganisation, nach den zu berücksichtigenden Eigengesetzlichkeiten sowie nach den notwendigen Dynamisierungen des Wissens42. Der Entscheidungsbezug ließ insofern wenig Raum für die Konturierung einer eigenständigen, verstetigten Informationsordnung. Lamb (Fn. 8), S. 39 ff.; Michael Kloepfer, Umweltschutzrecht, 2008, § 2 Rn. 22 ff. Siehe nur Michael Schäfer, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für die Konkretisierung unbestimmter Sicherheitsstandards durch die Rezeption von Sachverstand, 1998, S. 102 ff. 37 Vgl. nur Monika Böhm, Risikoregulierung und Risikokommunikation als interdisziplinäres Problem, NVwZ 2005, S. 609, 613. 38 Maßgeblich entwickelt von Rüdiger Breuer, Die rechtliche Bedeutung der Verwaltungsvorschriften nach § 48 BImSchG in Genehmigungsverfahren, DVBl. 1978, S. 28 (34 ff.). 39 Siehe nur Rittstieg (Fn. 8), S. 195 ff.; Denninger (Fn. 8), S. 168 ff.; Gertrude LübbeWolff, Fragen der Normsetzung und Normkonkretisierung im Umweltrecht, ZG 1991, S. 219 (240 ff.); Lamb (Fn. 8), S. 229 ff.; Hans-Heinrich Trute, Die Verwaltung und das Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, DVBl. 1996, S. 950 (954 ff., 960 ff.). 40 Siehe nur Ulrich Beck, Die Erfindung des Politischen, 1993, S. 193 ff.; Nico Stehr, Wissenspolitik, 2003, S. 200 ff., 211 ff. 41 Vgl. nur Evers / Nowotny (Fn. 5), S. 276 ff.; diese Zielrichtung ist besonders deutlich etwa bei Schäfer (Fn. 36), S. 102 ff. 42 Auch etwa die Arbeit von Kleindiek (Fn. 5), S. 298 ff., die schon den Bezug der Ressortforschung zur Entscheidungsebene thematisiert, nimmt nur das Genehmigungsverfahren in 35 36
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2. Der europäische Zugriff: Organisatorische Differenzierung von Risikobewertung und -management Diese organisationsrechtliche Dimension wurde eher auf der europäischen Ebene hervorgehoben. Weil die Gemengelage aus wissenschaftlichen und politischen Entscheidungen hier als Gefahr verdeckter Diskriminierungsmöglichkeiten wahrgenommen wird, musste sich das Augenmerk zwangsläufig auf eine möglichst weitgehende Rationalisierung der Entscheidung und die Isolierung der politischen Anteile richten. Dem entspricht die organisatorische Fruchtbarmachung der schon lange bekannten43 Trennung von Risikoermittlung und Risikobewertung als primär wissenschaftlicher Aufgabe einerseits von dem Risikomanagement als politischer Aufgabe der Abwägung des ermittelten Risikos mit anderen Gemeinwohlzwecken andererseits.44 Diese Trennung ist bereits in der Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips angelegt45 und vor allem in der Lebensmittelregulierung weiter entfaltet. Diese Differenzierung nach Schwerpunkten erlaubt es, die Fragen der Informationsordnung als zumindest partiell selbständige Fragestellungen aufzugreifen und ermöglicht potentiell eine Entkopplung der Fragen auch in ihren Zeithorizonten. Die unabweisbaren Wechselwirkungen, die in der entscheidungsbezogenen Diskussion herausgearbeitet und in frühen Kritiken einer solchen Trennung betont wurden,46 können weitestgehend auch über die Ausgestaltung der jeweiligen Aufgaben und deren Verknüpfungen verarbeitet werden.47 Dass die Gemengelage von wissenschaftlichen und politischen Entscheidungselementen sich besser durch Differenzierung und definierte Verknüpfungen als durch eine politisierte Gesamtentscheidung bewältigen lässt, scheint auch international (wieder) die prägende Perspektive zu bilden.48 Bezug. Ansätze, die Strukturierung des Verfahrens mit sachgerechten organisatorischen Zuordnung zu verknüpfen und die Institutionalisierung zumindest von Evaluationsschleifen einzufordern aber in den Gutachten des Sachverständigenrat für Umweltfragen, 1996 (BTDrs. 13 / 4108, bei Abb. 4.21) und 1998 (13 / 10195 bei Abb. 1.5 – 1), die der Rat auch in seinen Ausführungen zur Risikoregulierung 1998 (BT-Drs. 14 / 2300, Rn. 143 ff.) ausdrücklich übernimmt. 43 Siehe nur US National Research Council (NCR), Risk Assessment in the Federal Government: Managing the Process, 1983. 44 Diese gängige Beschreibung darf aber nicht über die Komplexität und Ausdifferenzierung der Risikoforschung hinwegtäuschen (siehe zu dieser nur den frühen Überblick bei William D. Rowe, Ansätze und Methoden der Risikoforschung, in: Krohn, Wolfgang / Krücken, Georg (Fn. 16), S. 45 ff. 45 Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips vom 2. 2. 2000 (KOM(2000) 1 endg.), S. 15 ff. 46 Siehe nur die Kritik bei Ladeur (Fn. 3), S. 219 ff.; Udo DiFabio, Entscheidungsprobleme der Risikoverwaltung, NuR 1991, S. 353 (355 ff.). 47 Vgl. zu den Grundmustern der Interpretation von Wissensproduktion und Expertise und die kritische Hinterfragung mit Blick auf das Nebeneinander verschiedener Formen Holger Straßheim, Die Governance des Wissens, in: Voßkuhle / Schuppert (Fn. 17), S. 61. Zu den Möglichkeiten differenzierter Verschränkung in einem abgeschichteten Verfahren nur die Modelle des Sachverständigenrates für Umweltfragen (Fn. 42).
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3. Bausteine der sich differenzierenden Informationsordnung a) Organisatorische Verselbständigung der Risikobewertung („Wissensbehörden“) Die Differenzierung zwischen Risikobewertung und -management hat organisatorische Konsequenzen, die sich entsprechend der Herkunft des Konzepts vor allem in den europäisierten Bereichen beobachten lassen. Im Lebensmittelrecht und im Arzneimittelrecht wurden die Fragen der Risikobewertung und des Risikomanagements getrennt49, indem die Risikobewertung v.a. dem Bundesinstitut für Risikobewertung bzw. der Europäischen Arzneimittelagentur und das Risikomanagement vor allem dem Bundesinstitut für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit bzw. der Europäischen Kommission zugewiesen ist.50 Die damit erfolgte organisatorische Trennung bei verfahrensrechtlicher Verschränkung soll nur an Hand weniger Beispiele illustriert werden. Das Bundesinstitut für Risikobewertung ist eine typische expertiseorientierte wissensvermittelnde Behörde. Sie wird im Rahmen von entscheidungsorientierten Verwaltungsverfahren anderer Behörden, insbesondere des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit 51, über Einvernehmens- und Benehmensherstellung beteiligt. 48 Vgl. nur jüngst wieder Holly Doremus, A Challenge fort he Obama Team: Put Science and Federal Scientists to Better Use, 36 Ecology Law Quaterly (2009), S. 151 (153 ff.), allerdings vor allem mit Blick auf die Binnendifferenzierung in den Behörden. Siehe zur vorübergehend favorisierten Verschmelzung mit ablehnender Stellungnahme nur Sachverständigenrat für Umweltfragen, Sondergutachten Umwelt und Gesundheit 1998 (BT-Drs. 14 / 2300, Tz. 112). 49 Vgl. etwa Rudolf Streinz, Bewältigung von Risiken im Lebensmittelrecht und im Arzneimittelrecht, in: Vieweg, Klaus (Hrsg.), Risiko – Recht – Verantwortung, 2006, S. 131 (150 f., 159 f.); Florian Dietz / Thomas Regenfus, Risiko und technische Normung im Spannungsfeld von Recht und Technik, in: Vieweg, a. a. O., S. 403 (419). 50 Außerhalb des stoffbezogenen Umweltrechts sieht allein die Artenschutzverordnung eine organisatorische Trennung von Risikobewertung und Risikomanagement vor (sog. wissenschaftliche Behörde im Gegensatz zur Vollzugsbehörde (Birger Arndt, Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht, Manuskript bei Fn. 260). 51 Das Bundesinstitut für Risikobewertung ist auch in Verfahren anderer Behörden zu beteiligen, bspw. bei der Zulassung von Biozidprodukten gem. §§ 12a ff. ChemG durch die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Zum Verfahren der Zulassung von Biozidprodukten siehe Kloepfer (Fn. 27), § 19 Rn. 114 ff.). Bei diesem Verfahren muss sogar das Einvernehmen des Bundesinstituts für Risikobewertung hergestellt werden gem. § 12j II 1 Nr. 1 ChemG, sofern es um die Beurteilung geht, ob nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen und technischen Kenntnisse sichergestellt ist, dass das Biozid-Produkt bei einer der Zulassung entsprechenden Verwendung zum einen keine unannehmbaren Auswirkungen auf die Zielorganismen hat, insbesondere keine unannehmbaren Resistenzen oder Kreuzresistenzen erzeugt oder bei Wirbeltieren vermeidbare Leiden oder Schmerzen verursacht (§ 12b I Nr. 2 Buchstabe b ChemG) und zum anderen nicht selbst oder aufgrund seiner Rückstände, auch unter Berücksichtigung einer Exposition über Trinkwasser, Nahrungs- oder Futtermittel,
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So erteilt das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit die Zulassungen für Pflanzenschutzmittel gem. § 15 PflSchG.52 Dabei muss es hinsichtlich der Gesundheit des Menschen und hinsichtlich der Vermeidung gesundheitlicher Schäden durch Belastung des Bodens das Benehmen des Bundesinstituts für Risikobewertung gem. § 15 III 1 Nr. 2 PflSchG herstellen.53 Die Beteiligung des Bundesinstituts für Risikobewertung betrifft hier die Entscheidung darüber, ob das Pflanzenschutzmittel nach dem Stande der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der Technik bei bestimmungsgemäßer und sachgerechter Anwendung oder als Folge einer solchen Anwendung keine schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch und Tier und auf das Grundwasser hat und keine sonstigen nicht vertretbaren Auswirkungen, insbesondere auf den Naturhaushalt sowie auf den Hormonhaushalt von Mensch und Tier, hat (§ 15 I 1 Nr. 3 Buchstaben e, d PflSchG). Zudem betrifft die Benehmensherstellung die Frage, ob bedeutsame Rückstände, die bei bestimmungsgemäßer und sachgerechter Anwendung des Pflanzenschutzmittels entstehen, für die Gesundheit von Mensch und Tier und für den Naturhaushalt, mit vertretbarem Aufwand zuverlässig bestimmt werden können (§ 15 I 1 Nr. 4 Buchstabe b PflSchG). Das Bundesamt für Verbrauchschutz und Lebensmittelsicherheit erteilt außerdem die Genehmigung für die Freisetzung und das Inverkehrbringen von gentechnisch veränderten Organismen gem. § 16 I GenTG.54 Auch bei dieser Entscheidung muss es das Benehmen des Bundesinstituts für Risikobewertung herstellen (§ 16 IV 1 GenTG).55 Das Bundesinstitut für Risikobewertung soll dabei wohl vor allem abschätzen, ob nach dem Stand der Wissenschaft im Verhältnis zum Zweck der Freisetzung unvertretbare schädliche Einwirkungen auf die in § 1 Nr. 1 GenTG bezeichneten Rechtsgüter zu erwarten sind (§ 16 I Nr. 3 GenTG). Diese Rechtsgüter sind unter anderem das Leben und die Gesundheit von Menschen, die Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge, die Tiere und die Pflanzen (§ 1 Nr. 1 GenTG). Die Differenzierung zwischen der Risikobewertung durch das Bundesinstitut für Risikobewertung und dem Risikomanagement durch das Bundesamt für VerbrauLuft in Innenräumen oder am Arbeitsplatz, unmittelbare oder mittelbare unannehmbare Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch oder Tier hat (§ 12b I Nr. 2 Buchstaben b, c ChemG). 52 Zum Verfahren der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln siehe den in Grundsätzen weiterhin zutreffenden Aufsatz von Volker Kaus, Abwägungsentscheidung bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln, DVBl. 2000, S. 528 (530 ff.). 53 Bei diesem Verfahren muss auch das Benehmen des Julius-Kühn-Instituts gem. § 15 III 1 Nr. 1 PflSchG und das Einvernehmen des Umweltbundesamts hergestellt werden gem. § 15 III 1 Nr. 3 PflSchG. 54 Zum Verfahren der Genehmigung der Freisetzung und des Inverkehrbringens von gentechnisch veränderten Organismen siehe Kloepfer (Fn. 27), § 18 Rn. 59 ff. 55 Bei diesem Verfahren muss auch das Benehmen des Robert-Koch-Institus und des Bundesamts für Naturschutz hergestellt und eine Stellungnahme des Julius-Kühn-Instituts und ggf. des Friedrich-Loeffler-Instituts eingeholt werden, § 16 IV 1 GenTG.
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cherschutz und Lebensmittelsicherheit spiegelt sich auch beim Monitoring von Lebensmitteln nach §§ 50 ff. LFGB wider.56 Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit veröffentlicht gem. § 51 V 5 LFGB jährlich einen Bericht über die Ergebnisse des Monitorings. Dieser basiert auf von Landesbehörden ermittelten Daten, die es aufbereitet, zusammenfasst und dokumentiert sowie diesbezügliche Berichte erstellt, § 51 V 1, 1. HS LFGB. Die Kernaufgabe des Monitorings, die Bewertung der Daten mit Blick auf den Gehalt an gesundheitlich unerwünschten Stoffen, also die Risikobewertung selbst, erfolgt aber durch das Bundesinstitut für Risikobewertung, § 51 V 1, 2. HS LFGB. Dessen Bewertung fließt in den Jahresbericht des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit ein.57 Durch die Mehrebenen-Architektur verschachtelter, aber in der funktionalen Differenzierung parallel, stellt sich die Situation bei europäischen Zulassungsverfahren dar. Hier sei beispielhaft auf arzneimittelrechtliche und gentechnikrechtliche Verfahren verwiesen. In diesen Verfahren ist die europäische Kommission die entscheidende Behörde. Die europäische Kommission erteilt die Genehmigung für das Inverkehrbringen von bestimmten Arzneimitteln gem. Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 10 VO (EG) 726 / 2004.58 An dieser Entscheidung ist der Ausschuss für Humanarzneimittel, der bei der Europäischen Arzneimittelagentur gebildet wurde (Art. 5 Abs. 1 der VO (EG) 726 / 2004), beteiligt. Er erstellt ein Gutachten zu allen Fragen bezüglich der Zulässigkeit der nach dem sog. zentralisierten Verfahren eingereichten Dossiers, der Erteilung, Änderung, Aussetzung oder des Widerrufs einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Humanarzneimittels (Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 726 / 2004). Auf diese Weise bewertet er die Risiken, die mit dem Arzneimittel verbunden sind. Er hat außerdem unterstützende Befugnisse, die eine effektive Wahrnehmung der Aufgabe absichern.59 Die europäische Kommission kann sich bei der Genehmigungsentscheidung über das Gutachten hinwegsetzen, 56 Zum Verfahren des Monitorings von Lebensmitteln und der Erstellung des Monitoringberichts gem. §§ 50 ff. LFGB siehe Alfred Hagen Meyer, in: ders. / Streinz, Rudolf, Kommentar zu LFGB und BasisVO, 2007, §§ 50 f. 57 Meyer (Fn. 56), § 51 Rn. 9. 58 Zum Verfahren der Genehmigung für das Inverkehrbringen von bestimmten Arzneimitteln siehe Birgit Schmidt am Busch, Die Gesundheitssicherung im Mehrebenensystem, 2007, S. 274. 59 So kann der Ausschuss in diesem Zusammenhang verlangen, dass ein amtliches Arzneimittelkontrolllabor oder ein von einem Mitgliedstaat zu diesem Zweck benanntes Labor das Humanarzneimittel, dessen Ausgangsstoffe und gegebenenfalls dessen Zwischenprodukte oder sonstige Bestandteile prüft, um sicherzustellen, dass die vom Hersteller angewandten und in den Antragsunterlagen beschriebenen Kontrollmethoden ausreichend sind (Art. 7 Buchstabe b der VO (EG) 726 / 2004). Er kann auch gem. Art. 8 Ab S. 2 Satz 1 VO (EG) 726 / 2004) vom Antragsteller verlangen, einer speziellen Inspektion des Herstellungsbetriebs des betreffenden Arzneimittels zuzustimmen. Solche Inspektionen können unangemeldet erfolgen (Art. 8 Ab S. 2 Satz 2 VO (EG) 726 / 2004).
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muss dies allerdings eingehend begründen (Art. 10 Abs. 1 Satz 3 VO (EG) 726 / 2004). Die europäische Kommission lässt auch gentechnisch veränderte Organismen, die als Lebensmittel oder in Lebensmitteln verwendet werden sollen gem. Art. 4 Abs. 2 i. V. m. Art. 7 VO (EG) 1829 / 2003 zu.60 Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit gibt diesbezüglich eine Stellungnahme ab, für welche sie wiederum Stellungnahmen des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit einholen kann.61 Die Stellungnahmen des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit haben eine Sicherheitsbewertung des Lebensmittels, eine Umweltverträglichkeitsprüfung und eine Bewertung der umweltbezogenen Sicherheitsanforderungen zum Gegenstand.62 In diesem Verfahren hat das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit aus europäischer Perspektive nur eine untergeordnete Bedeutung. Auf nationaler Ebene kommt ihm aber auch in diesem Verfahren das Risikomanagement zu: Es stellt bei den verschiedenen Stellungnahmen nach § 1 EGGenTDurchfG wiederum das Benehmen mit informationsvermittelnden Behörden her und holt Stellungnahmen von diesen ein um dann auf dieser Wissensgrundlage die eigenen Stellungnahmen zu erarbeiten.63 Auch jenseits dieser prominenten organisatorischen Trennungen lässt sich durchaus eine Aufgabenteilung der Organisationslandschaft ausmachen.64 Als expertiseorientierte wissensvermittelnde Behörden, die jedenfalls partiell von den 60 Zum Verfahren der Zulassung von gentechnisch veränderten Organismen, die als Lebensmittel oder in Lebensmitteln verwendet werden, siehe Gerhard Roller, Die Genehmigung zum Inverkehrbringen gentechnisch veränderter Produkte und ihre Anpassung an Änderungen des Standes der Wissenschaft, ZuR 2005, S. 113 (118). 61 Vgl. Art. 6 i. V. m. Art. 5 Ab S. 2 Buchstabe a Ziff ii VO (EG) 1829 / 2003 hinsichtlich der Stellungnahme der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und § 1 I Nrn. 2 – 4 EGGenTDurchfG i. V. m. Art. 6 Ab S. 3 Buchstaben b, c, Ab S. 4 Satz 3 VO (EG) 1829 / 2003 bezüglich des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit. 62 Vgl. hierzu § 1 I Nr. 2 EGGenTDurchfG i. V. m. Art. 6 Ab S. 3 Buchstabe b der Verordnung (EG) Nr. 1829 / 2003, § 1 I Nr. 3 EGGenTDurchfG i. V. m. Art. 6 Abs. 3 Buchstabe c der VO (EG) 1829 / 2003 bzw. § 1 I Nr. 4 EGGenTDurchfG i. V. m. Art. 6 Ab S. 4 Satz 3 der VO (EG) 1829 / 2003. 63 Es muss das Benehmen des Robert-Koch-Instituts hinsichtlich Stellungnahmen nach § 1 I Nrn. 2 – 4 EGGenTDurchfG (§ 3 I, II 1 EGGenTDurchfG) sowie das Benehmen des Bundesamts für Naturschutz hinsichtlich Stellungnahmen nach § 1 I Nrn. 3, 4 EGGenTDurchfG (§ 3 II 1 EGGenTDurchfG) hergestellt werden. Zudem sind Stellungnahmen des Bundesinstituts für Risikobewertung, des Friedrich-Loeffler-Instituts sowie des Julius-KühnInstituts einzuholen (§ 3 II 2 EGGenTDurchfG). 64 Die Entwicklungen sind allerdings nicht einheitlich. Hier wird nur die vor allem produktbezogene, stark auf Bundesebene zentralisierte Regulierung betrachtet. Auf Landesebene, die mit den ortsspezifischen Kenntnissen etwa bei der anlagenbezogenen Regulierung besonders wichtig wird, führte der Kostendruck wohl eher zu einer Entdifferenzierung der Organisationslandschaft (vgl. näher Michael Bauer / Jörg Bogumil / Christoph Knill et al., Modernisierung der Umweltverwaltungen, 2007).
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Entscheidungsverfahren entkoppelt, aber zugleich in die vielfältigsten Entscheidungsverfahren eingebunden sind, lassen sich etwa weiterhin das Robert-KochInstitut für die Bereiche Gesundheit und Gentechnik und das Julius-Kühn-Institut für den Bereich Pflanzenschutz ausmachen. Das Robert-Koch-Institut ist eine derjenigen Behörden, die bei der Genehmigung der Freisetzung und des Inverkehrbringens von gentechnisch veränderten Organismen gem. § 16 I GenTG mittels der Herstellung des Benehmens zu beteiligen sind, § 16 IV 1 GenTG. Es hat dabei wohl eine ähnliche Funktion wie das Bundesinstitut für Risikobewertung. Auch bei der Zulassung von Biozidprodukten gem. §§ 12a ff. ChemG durch die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin kann gem. § 12j II 2 ChemG eine Stellungnahme des Robert-Koch-Instituts eingeholt werden, wenn bei diesem besondere Fachkenntnisse zur Beurteilung der Wirksamkeit eines Biozid-Produkts vorliegen, die die Entscheidung darüber betreffen, ob nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen und technischen Kenntnisse sichergestellt ist, dass das Biozid-Produkt bei einer der Zulassung entsprechenden Verwendung hinreichend wirksam ist (§ 12b I Nr. 2 Buchstabe a ChemG). Das Julius-Kühn-Institut ist eine derjenigen Behörden deren Benehmen bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln gem. § 15 PflSchG hergestellt werden muss. Das Benehmen betrifft, im Unterschied zu dem Benehmen des Bundesinstituts für Risikobewertung, sämtliche Zulassungsvoraussetzungen für das Pflanzenschutzmittel, die in § 15 I PflSchG normiert sind, soweit diese nicht durch das Bundesinstitut für Risikobewertung und das Umweltbundesamt gem. §§ 15 III 2 Nrn. 2, 3 PflSchG beurteilt werden (§ 15 III 2 Nr. 1 PflSchG). Es befasst sich damit unter anderem mit den Fragen, ob das Pflanzenschutzmittel nach dem Stande der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der Technik bei bestimmungsgemäßer und sachgerechter Anwendung oder als Folge einer solchen Anwendung hinreichend wirksam ist, keine nicht vertretbaren Auswirkungen auf die zu schützenden Pflanzen und Pflanzenerzeugnisse hat und bei Wirbeltieren, zu deren Bekämpfung das Pflanzenschutzmittel vorgesehen ist, keine vermeidbaren Leiden oder Schmerzen verursacht (§ 15 I 1 Nr. 3 Buchstaben a, b, c). Das Julius-Kühn-Institut gibt auch bei der Entscheidung über die Genehmigung der Freisetzung und des Inverkehrbringens von gentechnisch veränderten Organismen gem. § 16 I GenTG eine Stellungnahme ab (§ 16 IV 1 GenTG). Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin kann bei der Zulassung von Biozidprodukten gem. §§ 12a ff. ChemG neben einer Stellungnahme des Robert-KochInstituts zudem eine Stellungnahme des Julius-Kühn-Instituts einholen, soweit bei diesem besondere Fachkenntnisse zur Beurteilung der Wirksamkeit eines Biozid-Produkts vorhanden sind (§ 12j II 2 ChemG), die die Entscheidung darüber betreffen, ob nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen und technischen Kenntnisse sichergestellt ist, dass das Biozid-Produkt bei einer der Zulassung entsprechenden Verwendung hinreichend wirksam ist (§ 12b I Nr. 2 Buchstabe a ChemG).
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Es ist nicht leicht auszumachen, ob die Art der beschriebenen Aufgabenteilungen tatsächlich eine organisatorische Ausdifferenzierung darstellt, (nur) funktional eine stärkere Verzahnung grundsätzlich schon lange bestehender Ressortforschungseinrichtungen mit den Verwaltungsverfahren ist oder sogar nur angesichts der quantitativen Mehrung der verwaltungsrechtlichen Risikoentscheidungen stärker ins Bewusstsein rückt. Die breite Zuweisung neuer Aufgaben an schon bestehende Behörden und die verschiedenen Umbenennungen der Institute machen die hierfür erforderlichen zeitlichen Längsschnitte schwierig und sehr aufwändig. Der zentrale funktionale Vorteil einer solchen Arbeitsteilung bleibt davon aber ohnehin unberührt. Die organisatorische Trennung erlaubt es, die sehr unterschiedlichen Kontexte von Risikobewertung und der Risiko-managenden Entscheidung getrennt zu halten und jeweils die angemessenen organisatorischen Rahmenbedingungen zu schaffen. Die Entscheidung ist als Vertrauensgrundlage eine Feststellung auf Zeit. Bei ihr wird die Ungewissheit durch die feste Zuordnung entlang der Entscheidungskriterien absorbiert und sie beschränkt sich dabei auf eine gegenwärtige intersubjektive Begründungskraft. Dabei kann und muss sie auch auf entsprechende kulturelle Ressourcen der Risikowahrnehmung zurückgreifen. Sie ist als Verantwortungsübernahme schließlich demokratisch zu legitimieren. Der Wissensaufbau im Sinne der Risikobeobachtung ist ein kontinuierlicher Prozess, der nicht in binären Entscheidungen erfüllter oder unerfüllter Tatbestandsmerkmale verläuft, sondern einen Verzicht auf die relevanzabhängige Stufung der Beurteilung sowie stufenlose Unschärfen in den Erkenntnissen zulässt. Er zielt nicht nur auf gegenwärtige intersubjektive Begründbarkeit, sondern orientiert sich an wissenschaftlichen Paradigmen und trifft damit auch Vorsorge angesichts der Brüchigkeit intersubjektiver Begründungskraft bei Skandalen etc.65 Er bezieht schließlich vor allem auch die Metaebene der Methodik fortlaufend mit ein. Die (ebenfalls demokratische) Legitimation ist primär funktional im Sinne guter wissenschaftlicher Erkenntnisse und verlangt dadurch geradezu eine Unabhängigkeit von politischen und gesellschaftlichen Interessen. Die Weisungsfreiheit der „Wissensbehörden“ bei wissenschaftlichen Bewertungen und Forschungen und ihre Orientierung an wissenschaftlichen Standards sind entsprechend zentrale Elemente der Organisationsdifferenzierung.66 Sie sind angesichts des von der ganz herr65 Vgl. nur Ulrich Beck, Risikogesellschaft, 1986, S. 321; theoretisch: Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation, 3. Aufl. 1990, S. 237 ff. 66 Siehe auch Martin Eifert, Das Verwaltungsrecht zwischen klassischem dogmatischen Verständnis und steuerungswissenschaftlichem Anspruch, VVDStRL 67 (2008), S. 286 (328); Sie ist für die europäischen Agenturen breit (vgl. etwa Art. 22 f. VO (EG) 178 / 2002 (ABl. EG 2002 L 31 / 1) für die Europäische Lebensmittelbehörde und Art. 57 VO (EG) 726 / 2004 (ABl. EG 2004 L 136 / 1) für die Europäische Arzneimittelagentur), für die nationalen Behörden aber nur teilweise rechtlich verankert, so etwa für das Bundesinstitut für Risikobewertung (§ 2 III BfRG). Politisch ist sie aber auch darüber hinaus zumindest als Anforderung erkannt. So formuliert das Konzept für eine zukunftsfähige Ressortforschung im Geschäftsbereich des
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schenden Meinung abgelehnten Grundrechtsschutzes der Ressortforschung67 konstitutiv durch einfachgesetzliche Ausgestaltung sicherzustellen. b) Zentralisierung der Risikobewertung aa) Organisatorische Hochzonung im Mehrebenensystem (Bundesbehörden; europäische Agenturen) Neben die organisatorische Verselbständigung der Risikobewertung treten die Zentralisierung der Risikoentscheidungen und insbesondere die dadurch erst ermöglichte Zentralisierung der Risikobewertung. Sieht man von den standortgebundenen Entscheidungen ab, die notwendig auch stark lokales oder regionales Wissen erfordern, wurden die Risikoentscheidungen weitgehend zentralisiert. Auf der nationalen Ebene handelt es sich um Entscheidungen von Bundesbehörden und die europäische Ebene hat in einer Reihe von Sachbereichen eine nochmalige Hochzonung auf europäische Instanzen vorgenommen. Vor allem im Lebensmittel-, Arzneimittel- und stoffbezogenen Umweltrecht erfolgen Risikobewertungen auf Gemeinschaftsebene durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (European Food Safety Authority, EFSA), die Europäische Arzneimittelagentur (European Medicines Agency, EMEA) und die Europäische Agentur für chemische Stoffe (European Chemicals Agency, ECHA) als organisatorische Fortentwicklungen früherer wissenschaftlicher Ausschüsse.68 Die Zentralisierung der Risikobewertung ist natürlich auch Korrelat der Zentralisierung des Risikomanagements und dieses wiederum ist für die freie Zirkulation der entsprechenden Stoffe und Produkte insbesondere im gemeinsamen Markt hochfunktional. Sie besitzt aber daneben auch eine doppelte eigene Logik. Eine möglichst vollständige, sich ständig weiterentwickelnde Informationsgrundlage ist zunächst eine Grundvoraussetzung für qualitätsvolle Risikobewertungen und genau diese wird am einfachsten durch die Bündelung der InformationsBMELV unter den Vorgaben auch, dass die Aufgaben der Forschungseinrichtungen unabhängig und frei von externen Interessen nach bestmöglichem wissenschaftlichem Standard erledigt werden sollen (S. 7) (http: // www.bmelv.de/cln_044/nn_751692/SharedDocs/downloads/ 11-Forschung/KonzeptRessortforschung,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/Konzept Ressortforschung.pdf). 67 Ingolf Pernice, in: Dreier, Horst (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 2004, Art. 5 III Rn. 30. 68 Zu den Europäischen Agenturen näher nur Thomas Groß, Die Kooperation zwischen Europäischen Agenturen und nationalen Behörden, EuR 2005, S. 54 ff. Neben diesen formalisierten Einbeziehungen von wissenschaftlichen Beurteilungen spezieller Behörden gibt es auch Verfahren, in denen das Prozedere faktisch wie bei diesen formalisierten Verfahren abläuft, ohne darauf rechtlich verpflichtet zu sein; Arndt (Fn. 50), nach FN 323 nennt diese Verfahren deshalb „quasi-formalisierte Risikobewertung. Zu ihnen und der Typologie der Verfahren näher Arndt (Fn. 50), S. 254 ff.
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ströme bei einer zentralen Behörde gewährleistet. Größe, Organisation, Ressourceneinsatz und eine zentrale Stellung im Netzwerk der relevanten Fachgemeinschaft sind hier bedeutende qualitätssichernde Parameter. Daneben werden die risikobezogenen Informationen häufig in unterschiedlichen Entscheidungskontexten relevant wie die Einbeziehung vieler dieser Stellen in unterschiedliche Entscheidungsverfahren zeigt, ohne dass diese Relevanz aber im Vorwege immer schon erkennbar sein dürfte. Die eigenständige Aufgabe der Risikobewertung erlaubt hier eine umfassende Informationssammlung, die bei den einzelnen Entscheidungsbehörden jedenfalls dann problematisch würde, wenn man die Informationssammlung eng an die Zuständigkeitsordnung knüpft.69 Die Verselbständigung erleichtert also die Informationsvorsorge. Vor dem Hintergrund dieser Ratio dürften die nur vereinzelt anzutreffenden gesetzlichen Pflichten zur bibliothekarischen und dokumentarischen Erfassung, Auswertung und Bereitstellung von Informationen durch die zentralen Einrichtungen70 eher Ausdruck einer selbstverständlichen Rechtspflicht denn konstitutiver Art sein. Eine solche ausdrückliche Normierung ist allerdings unter dem Gesichtspunkt der Transparenz und der Eingangs angesprochenen vertrauensgenerierenden Funktion der Informationsordnung im Risikorecht sehr zu begrüßen. bb) Informationsbündelung durch zentrale Datenbanken und Dokumentationen Die Logik der Informationsbündelung zeigt sich auch besonders deutlich bei den datenbankgestützten Informationssystemen, die nicht unmittelbar in Organisationen der Risikobewertung integriert sind, aber zumindest eine einheitliche, möglichst umfassende Informationsgrundlage bereitstellen sollen. Als Beispiel sei hier nur auf die Datenbanken verwiesen, die beim Deutschen Institut für medizinische Dokumentation für Medizinprodukte und Arzneimittel geführt werden.71 c) Generierung fortlaufenden neuen Wissens durch dezentrale Beobachtungen praktischer Anwendung Die laufende, beobachtende Fortentwicklung der Risikobewertung kann nicht nur durch zentrale Forschungsagenden und Wissenschaftsbeobachtung erfolgen, sondern muss auch auf Erkenntnisse aus der praktischen, dezentralen Anwendung zugreifen können, die einer zentralen Beobachtung nicht zugänglich sind. Hierfür lassen sich zwei Ansätze beobachten. 69 So Bernd Holznagel, Informationsbeziehungen in und zwischen Behörden, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Fn. 12), § 24 Rn. 62 ff. 70 Vgl. etwa § 33 II Nr. 2 PflSchG für das Julius Kühn-Institut. 71 Vgl. näher Holznagel (Fn. 69), Rn. 55.
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aa) Beobachtungs- und Meldepflichten Die Antragsteller unterliegen nicht nur in den Genehmigungsverfahren zunehmend Informationsbeibringungslasten, sondern werden auch im Bereich des Produktrechts72 darüber hinaus verstärkt zur laufenden Informationssammlung mittels Beobachtung und Meldungen verpflichtet.73 Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit finden sich solche Regelungen etwa in §§ 16c GenTG; 28 IIIa; 29, 63a AMG; 5 GPSG; 30 IV MPG; Art. 14 II b) VO (EG) 1831 / 2003 über Zusatzstoffe zur Verwendung in der Tierernährung und Art. 22 REACh-VO. Dabei variieren die Regelungen durchaus u. a. hinsichtlich der gesetzgeberischen Ausgestaltung, den jeweils genannten Überwachungspflichten und der Verschränkung mit den behördlichen Überwachungsaufgaben.74 Die Meldepflichten gehen dabei teilweise auch weit über die Produktverantwortlichen hinaus und erfassen etwa im Arzneimittelbereich auch Ärzte. Sie sind auf der anderen Seite inhaltlich aber auf die Beobachtung beschränkt, so dass sie bestenfalls neue empirische Erkenntnisse über die Folgen systematisch aufspüren können, nicht aber etwa aus sich heraus bereits Stimuli zur Erzeugung risikoärmerer Produkte vermitteln.75 bb) Wissenserzeugende Normierungsaufträge auf europäischer Ebene Ein Verschnitt aus allgemeiner Wissensgenerierung und Hebung dezentral verfügbaren praktischen Wissens dürften die im europäischen Produktsicherheitsrecht anzutreffenden Aufträge an die Normierungsgremien auf der Basis von Sicherheitsstudien sein,76 wenn sie auf der Basis von Risikostudien ergehen. Die 72 Auch im Bereich des Anlagenzulassungsrechts wurden schon lange begleitende Beobachtungspflichten v. a. als zeitliche Fortschreibung der Umweltverträglichkeitsprüfung gefordert (vgl. nur Uwe Rath, Kommunale Umweltverträglichkeitsprüfung, 1992, S. 166; KarlHeinz Ladeur, Umweltverträglichkeitsprüfung und Ermittlung von Umweltbeeinträchtigungen unter Ungewissheitsbedingungen, ZfU 1994, S. 1 (19 f.)), ohne dass sich dieser im Ausland durchaus realisierte Ansatz (vgl. nur Jens Kolter, Umweltverträglichkeitsprüfung in der Praxis, 1997, S. 99, 116) hier jedoch durchsetzen konnte. 73 Vgl. nur Friedrich Curtius, Entwicklungstendenzen im Genehmigungsrecht, 2005, S. 178 f. 74 Während die Regelungen zum Sicherheitsbeauftragten für Medizinprodukte in § 30 I, IV 1 MPG und zum Stufenplanbeauftragten in § 63a I 1 AMG weitgehend übereinstimmen, geht der Aufgabenkreis des Stufenplanbeauftragten über denjenigen des Sicherheitsbeauftragten für Medizinprodukte hinaus (vgl. § 63a I 4 AMG). Die Regelung in § 5 GPSG weist eine von den letzt genannten Regelungen augenscheinlich abweichende gesetzgeberische Ausgestaltung auf (siehe hierzu Ekkehard Helmig, Das neue Recht der Produktionssicherheit in der Praxis – Darstellung am Beispiel von Ersatzteilen für Kraftfahrzeuge, PHi 2004, S. 92 (98)). 75 Solche Regeln über eine privat-öffentliche Wissenserzeugung bei der Suche nach neuem technologischem Wissen fordert zu Recht etwa Ladeur (Fn. 5), S. 240 ff. 76 Josef Falke, Management von Risiken technischer Produkte im Rahmen der Neuen Konzeption zur technischen Harmonisierung und Normung, in: Vieweg, Klaus (Hrsg.), Risiko – Recht – Verantwortung, 2006, S. 355 (363 ff.).
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Normierung verknüpft hier über die Zusammensetzung der Normungsgremien den Zugriff auf breites praktisches Wissen, muss aber für die Erarbeitung einer allgemeinen Regel für das Risikomanagement auch das Risiko selbst noch weiter spezifizieren. Sie ist bislang nur für die punktuelle Entscheidung eingesetzt, hätte aber darüber hinausgehendes Potential.
IV. Die Dynamisierung der Informationsordnung und ihre Verknüpfung mit den Entscheidungsbefugnissen Eine zumindest partiell eigenständige Informationsordnung ist zunächst vor allem die Chance zu einer verstetigten und dynamisierten Risikobegleitung. Sie bedarf allerdings der Verknüpfung mit der Entscheidungsebene, um den Anschluss an deren spezifische Bedarfe nicht zu verlieren und die Entscheidungsebene bedarf umgekehrt des Anschlusses an die expertiseorientierten informationsmächtigen Stellen, um die Befugnisse zur Anpassung von Zulassungen etc. auch effektiv wahrzunehmen. Diese doppelte Verknüpfung verlangt eine Sicherung und Verstetigung der Informationsströme zwischen den primär informationsmächtigen Risikoermittlungsund -bewertungsstellen und den Vollzugsbehörden, die bei der Risikoregulierung regelmäßig vernachlässigt wurde.77 Bis heute gibt es nur einzelne rechtliche Ansätze, etwa in § 28 GenTG a. F. und n. F.,78 die zumindest die beiderseitige Weitergabe aller aufgabenrelevanten Informationen zwischen den zuständigen Behörden und der zuständigen Bundesoberbehörde vorschreiben. Der UGB Kom-E hatte hier in seinem Abschnitt zur Umweltforschung (§§ 207 ff.) Ansätze eines allgemeinen verrechtlichten Informationsmanagements aufgezeigt, das zentrale Informationssammelstellen zur Zusammenfassung, Aufbereitung und Dokumentation vorsah und mit einer aktiven Informationspflicht an andere Behörden koppelte (§§ 210, 219).79 Eine entsprechende Weiterentwicklung des Risikorechts wäre dringend geboten, wurde aber für das Umweltrecht vom neuesten UGB-Referentenentwurf schon wegen dessen Abkehr von einem echten allgemeinen Teil80 nicht aufgegrif77 Die bestehenden Defizite können beispielhaft u. a. am Verhältnis zwischen dem Bundesinstitut für Risikobewertung bzw. dem Robert-Koch-Institut einerseits und dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit andererseits oder jenem zwischen dem Julius-Kühn-Institut und dem Bundessortenamt aufgezeigt werden. In beiden Fällen bestehen keine direkten Informationspflichten trotz hoher wechselseitiger Relevanz neuer Erkenntnisse. 78 Der Befund wie die Vorreiterrolle der Gentechnik für diesen Bereich gilt wohl international (siehe nur Joseph Morone / Edward Woodhouse, Die Vermeidung von Katastrophen, in: Krohn / Krücken (Fn. 16), S. 217 (269 f.). 79 Siehe näher Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hrsg.), Umweltgesetzbuch (UGB-KomE), 1998, S. 816 ff. 80 Siehe dazu nur Michael Kloepfer, Das Umweltgesetzbuch auf dem Weg (UGB-RefE), DV 41 (2008), S. 195 ff.
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fen. Die gesetzgeberische Ausgestaltung könnte an die Regelung des alten Komm-E anknüpfen, aber auch noch weiter spezifiziert werden, indem etwa die Aufgabe der Informationssammlung um die Ermittlung von Divergenzen und deren möglichst weitgehende Klärung ergänzt wird, wie dies teilweise auf europäischer Ebene81 vorgesehen ist. Aber auch umgekehrt müsste die Vollzugsebene klarer die Informationsbedarfe, die sich im Rahmen der konkreten Entscheidungsverfahren ergeben, an die informationsmächtigen Behörden zur Bearbeitung überweisen dürfen. Wenn etwa in der UVP-Prüfung die Antragsteller ausweisen dürfen und sollen, welche Umweltauswirkungen wegen mangelnden Wissens nicht näher ausgeleuchtet werden konnten, ist dies anschließend daraufhin zu untersuchen, ob und inwieweit hier ein breiter erforderliches Wissen fehlt und wie es ggf. generiert werden kann. Die Ressortforschung82, in die sich die informationsmächtigen Behörden einordnen, muss also in Ergänzung zu den gegenwärtigen Aufgabenbeschreibungen auch als Schnittstelle für die Zurichtung wissenschaftlicher Erkenntnisse auf die rechtlichen Entscheidungskontexte und die Stimulierung wissenschaftlicher Forschung hinsichtlich der von den Entscheidungen nur temporär gebundenen Ungewissheiten eingerichtet werden. Die entsprechenden Behörden sind also nicht nur (wie bislang vorwiegend) auf die Ministerialbedarfe hin auszurichten, sondern auch mit einer beidseitig durchlässigen Schnittstelle zu den Vollzugsbehörden zu versehen.83 Dies setzt voraus, dass sie neben den ministeriellen Forschungsvorgaben84 auch Freiräume für eigene, sich aus der Kommunikation mit den Vollzugsbehörden ergebende oder Methodenfragen betreffende Forschungen haben.85
Siehe Art. 31 VO (EG) 178 / 2002 für die Europäische Lebensmittelbehörde. Zur Ressortforschung im Allgemeinen siehe Hans-Heinrich Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 99 ff., insbesondere S. 104; Claus Dieter Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, S. 348 ff. 83 Die Schnittstelle zum Vollzug wird nur erwähnt, aber nicht weiter aufgegriffen in: Die Bundesregierung (Hrsg.), Konzept einer modernen Ressortforschung, 2007. 84 Vgl. nur den Umweltforschungsplan des BMU unter (http: //www.bund.de/files/pdfs/ allgemein/application/pdf/ufoplan_2008.pdf (Stand: 12 / 08). Ähnlich für das BMELV http: // www.bmelv.de/cln_045/nn_751692/SharedDocs/downloads/11-Forschung/Forschungsplan2008, templateId=raw,propert y=publicationFile.pdf/Forschungsplan2008.pdf; siehe hierzu auch Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Forschung im Geschäftsbereich des BMELV, 2006, S. 29, insbesondere mit Blick darauf, dass die Forschungseinrichtung ihre Forschungsaufträge von demjenigen Ministerium erhalt, dem es nachgeordnet ist. 85 Dies kann bei entsprechendem Aufgabenverständnis in den vereinzelten Ermächtigungen zu selbstständiger Forschung verankert werden, wie etwa in § 2 I der Satzung des BfR. 81 82
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V. Fazit Die skizzierte Aufgabe einer eigenständigen, mit den Entscheidungsverfahren differenziert verknüpften Informationsordnung ist im Gegensatz zum sonstigen Informationsmanagement der Verwaltung nicht nur eine Frage guter Verwaltungsführung, sondern rechtlich zu strukturieren. Das Recht hat dabei nicht nur die Aufgabenerfüllung durch die Begründung der Pflichten zu sichern. Es hat vor allem die Funktion, über eine transparente Wissensorganisation eine belastbare Grundlage für das unverzichtbare Vertrauen zu schaffen, dass zumindest spezifische Ungewissheiten der Entscheidungspraxis fortlaufend soweit wie möglich reduziert werden und damit die Innovationsverantwortung genauso temporalisiert wird wie es die Innovationsrisiken sind.86 Die hierfür vorgestellten Bausteine, namentlich eine organisatorisch verselbstständigte, partiell unabhängige, zentralisierte und ständig ergänzend über dezentrale Beobachtungen informierte, differenziert mit den Entscheidungsverfahren verknüpfte Risikoermittlung und -bewertung, sind selbstverständlich ein mit eigenen Unsicherheiten behaftetes Ergebnis.87 Zumindest gewiss ist aber, dass die Schließung der Informationskreisläufe und die Dynamisierung der Wissensbestände dringend verstärkter rechtlicher Ausgestaltung bedürfen.
In diese Richtung bereits früh Ladeur (Fn. 16), S. 124 ff.; ders. (Fn. 3), S. 160 f. Zum Erfordernis von Beobachtungszeiten und eventuellen Nachkorrekturen für die organisationsrechtliche Steuerung allgemein Schmidt-Aßmann (Fn. 18), S. 63. Die Dynamik wird hier reflexiv, indem ihre Organisation immer wieder selbst zu prüfen ist. 86 87
Die Autoren und Herausgeber PD Dr. Stephan Albrecht, *1949, Dr. phil., stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe „Landwirtschaft und Pflanzenzüchtung“ im Forschungsschwerpunkt Biotechnik, Gesellschaft und Umwelt der Universität Hamburg (BIOGUM). Forschungsschwerpunkte: technology assessment, nachhaltige Landwirtschaftsentwicklung, Politik und Ökonomie der modernen Biotechnologie Wissenschafts- und Demokratiepolitik u. a. Prof. Dr. Ivo Appel, *1965, Inhaber des Lehrstuhls für Verfassungsrecht, deutsches und europäisches Verwaltungsrecht, Umweltrecht und Rechtsphilosophie an der juristischen Fakultät der Universität Augsburg. Forschungsschwerpunkte: Verfassungsrecht, deutsches und europäisches Verwaltungsrecht und Reform des Verwaltungsrechts, Umweltrecht, Produktregulierungsrecht, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie. Prof. Dr. Kilian Bizer, *1966, Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftspolitik und Mittelstandsforschung und Direktor des Volkswirtschaftlichen Instituts für Mittelstand und Handwerk an der Universität Göttingen, Mitglied der Sonderforschungsgruppe Institutionenanalyse – sofia. Forschungsschwerpunkte: Institutionenökonomik, Umwelt- und Regenioalökonomik, Behavioral Governance. Prof. Dr. Alfons Bora, *1957, Dr. phil., Ass. iur., Inhaber des Lehrstuhls für Technikfolgenabschätzung am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung (IWT) und an der soziologischen Fakultät der Universität Bielefeld, Mitglied des deutschen Ethikrates. Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Wissenschafts- und Technikregulierung, demokratische Technikgestaltung, Rechtssoziologie. Prof. Dr. Christian Calliess, *1964, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Europarecht an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Europarecht, Verfassungsrecht, Grund- und Menschenrechtsschutz, Umweltrecht. PD Dr. Michael Decker, *1965, Dr. rer. nat., stellvertretender Leiter des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) der Forschungszentrum Karlsruhe GmbH, Lehrtätigkeit an der Universität Karlsruhe (TU). Forschungsschwerpunkte: Konzeptionen der Technikfolgenabschätzung, Methodik interdisziplinärer Forschung, TA der Robotik und Nanotechnologie. Prof. Dr. Martin Eifert, *1965, LL.M., Professor für Öffentliches Recht am Fachbereich Rechtswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Forschungsschwerpunkte: Verfassungs- und Verwaltungsrecht, insbesondere Rechtsfragen der Regulierung, Medien- und Umweltrecht, Recht und Innovation. Saskia Fritzsche, *1980, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt Innovationsrecht an der Universität Hamburg und Doktorandin der dortigen Fakultät, Rechtsreferendarin am HansOLG. Interessenschwerpunkte: Verfassungsrecht und Verwaltungs-, insbesondere Umwelt- und Technikrecht, Medienregulierung und Medienprivatrecht, rechtswissenschaftliche Innovationsforschung.
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Die Autoren und Herausgeber
Prof. Dr. Martin Führ, *1958, Professor für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtsvergleichung an der Hochschule Darmstadt, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit; Sonderforschungsgruppe Institutionenanalyse – sofia. Forschungsschwerpunkte: Verfassungs-, Umwelt und Technikrecht, einschließlich des europäischen und internationalen Wirtschaftsverwaltungsrechts; ökonomische Analyse des Rechts. Seit 2008 Mitglied im Verwaltungsrat der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA). Prof. Dr. Erik Gawel, *1963, Dipl.-Volksw., Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Institutionenökonomische Umweltforschung, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ, Leipzig, und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Leipzig, Direktor des Instituts für Infrastruktur und Ressourcenmanagement der Universität Leipzig, Öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger. Forschungsschwerpunkte: Finanzwissenschaft, Umweltökonomik, Institutionenökonomik, insbesondere Ökonomische Analyse des Rechts. Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann-Riem, *1940, LL.M. (Berkeley), Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D., em. Professor für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der Universität Hamburg, Gründer und Mitleiter der Forschungsstelle „Recht und Innovation“ an der Universität Hamburg. Forschungsgebiete: Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht, Verwaltungswissenschaften, Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung, Rechtssoziologie. Prof. Dr. Lothar Michael, *1968, Professor für öffentliches Recht und Direktor des Instituts für Versicherungsrecht (IVR) an der juristischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Verfassungs- und Europarecht, insbesondere deutscher und europäischer Grundrechtsschutz, Verwaltungsrecht, insbesondere Instrumentenund Handlungsformenlehre, Öffentlich-rechtliche Aspekte des Versicherungs- und Versicherungsaufsichtsrechts. Prof. Dr. Eckhard Pache, *1961, Inhaber des Lehrstuhls für Staatsrecht, Völkerrecht, Internationales Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsverwaltungsrecht an der juristischen Fakultät der Julius Maximilians-Universität Würzburg. Forschungsschwerpunkte: allgemeines Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht, nationales Wirtschaftsverwaltungs- und Umweltrecht, institutionelles und materielles Europarecht und europäischen Prozessrecht und internationales Wirtschaftsrecht. Prof. Dr. Dr. h.c. Ortwin Renn, *1951, Professor für Umwelt und Techniksoziologie und Direktor des interdisziplinären Forschungsschwerpunkts ,Risiko und Nachhaltige Technikentwicklung‘ am Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung ZIRN der Universität Stuttgart. Direktor und Geschäftsführer des Forschungsinstitutes DIALOGIK, eine gemeinnützige GmbH, deren Hauptanliegen in der Erforschung und Erprobung innovativer Kommunikations- und Partizipationsstrategien in Planungs- und Konfliktlösungsfragen liegt. Forschungsschwerpunkte: Risk Governance, Risikowahrnehmung, Risikound Wissenschaftskommunikation, Technikfolgenabschätzung, Partizipationsforschung. Prof. Dr. Alexander Roßnagel, *1950, Vizepräsident der Universität Kassel, Professor für Öffentliches Recht mit dem Schwerpunkt Recht der Technik und des Umweltschutzes im Institut für Wirtschaftsrecht der Universität Kassel; Leiter der Projektgruppe verfassungsverträgliche Technikgestaltung (provet), Direktor des Forschungszentrums für Informationstechnik-Gestaltung (ITeG) und des Centers for Environmental Systems Research (CESR) und des Centers for Climate Change Mitigation and Adaption (ClIMA) der
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Universität Kassel. sowie wiss. Direktor des Instituts für europäisches Medienrecht, Saarbrücken. Forschungsschwerpunkte: Umweltrecht, Datenschutzrecht, Recht der Informationstechnik, rechtswissenschaftliche Technikfolgenforschung. Prof. Dr. Anne Röthel, *1968, Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Europäisches und Internationales Privatrecht der Bucerius Law School, Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Europäisierung des Privatrechts, Privates Recht, Familien- und Erbrecht. Prof. Dr. Arno Scherzberg, *1956, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft, Universität Erfurt, Leiter der interdisziplinären Forschungsgruppe „Offenes Europa“ an der Staatswissenschaftlichen Fakultät. Arbeitsschwerpunkte: Staatswissenschaftliche Grundfragen, theoretische Grundlagen des Öffentlichen Rechts und der Verwaltungsrechtswissenschaft, Recht und Prozesse der Europäischen Integration, Risiko- und Informationsverwaltungsrecht mit ihren verfassungsrechtlichen Bezügen, Verwaltungswissenschaft. Prof. Dr. Jens-Peter-Schneider, *1963, Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches und Europäisches Verwaltungsrecht unter Einschluss des Energie- und Kommunikationsrechts und Direktor im Institut für Europäische Rechtswissenschaft (Abteilung für Europäisches Öffentliches Recht und Rechtsvergleichung) an der Universität Osnabrück. Forschungsschwerpunkte: Deutsches Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Europäisches Verwaltungsrecht, Rechtsvergleichung, Regulierungsrecht und Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung. Katja Stoppenbrink, *1976, LL.M., M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Tiefe Hirnstimulation in der Psychiatrie. Empfehlungen zur verantwortlichen Erforschung und Anwendung“ der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlichtechnischer Entwicklungen Bad Neuenahr-Ahrweiler, Promotionsstudium an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln, Forschungsschwerpunkte: biomedizinische Ethik, philosophische Handlungstheorie, Rechtsphilosophie.