Innenansichten Utopias: Wirkungen, Entwürfe und Chancen des utopischen Denkens [1 ed.] 9783428496600, 9783428096602

Der Titel dieses Buches kennzeichnet das Erkenntnisinteresse, das seinen Beiträgen zugrunde liegt. An ausgewählten Beisp

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Innenansichten Utopias: Wirkungen, Entwürfe und Chancen des utopischen Denkens [1 ed.]
 9783428496600, 9783428096602

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Richard Saage . Innenansichten Utopias

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 106

Innenansichten Utopias Wirkungen, Entwürfe und Chancen des utopischen Denkens

Von Richard Saage

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Saage,Richard: Innenansichten Utopias: Wirkungen, Entwürfe und Chancen des utopischen Denkens I von Richard Saage. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft; Bd. 106) ISBN 3-428-09660-6

Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany

© 1999 Duncker &

ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-09660-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

7

I. Wirkungen Die Geburt der "schwarzen Utopie" aus dem Geist des Suprematismus ...........

13

Geometrische Muster zwischen frühneuzeitlicher Utopie und russischer Avantgarde (gemeinsam mit Eva-Maria-Seng) ..................................

33

Naturalisierte Utopien zwischen literarischer Fiktion und frühneuzeitlicher Gartenkunst (gemeinsam mit Eva-Maria-Seng) .................................

49

Utopie und Industrielle Revolution bei William Morris und Oscar Wilde .......

73

11. Entwürfe Zur Konvergenz von kontraktualistischem und utopischem Denken in Johann Gottlieb Fichtes "Der geschlossene Handelsstaat" .............................

97

Zur Konvergenz von Vertragsdenken und Utopie im Licht der "anthropologischen Wende" des 18. Jahrhunderts ..........................................

113

Kann das Europa des 21. Jahrhunderts von seiner utopischen RepublikTradition lernen? ......................................................................

128

Utopie und Science-fiction - Versuch einer Begriffsbestimmung ................

144

111. Chancen Die konstruktive Kraft des Nullpunkts - Samjatins "Wir" und die Zukunft der politischen Utopie ....................................................................

159

6

Inhaltsverzeichni s

Benötigen wir politische Utopien zur Bewältigung der Probleme des 21. Jahrhunderts? .....................................................................

171

Reflexionen über die Zukunft der politischen Utopie ...............................

182

Bemerkungen zu Paolo Flores d'Arcais' "Philosophie und Engagement" ......

194

IV. Anhang Quellen- und Literaturverzeichnis

203

Personenregister

. ..... ................................... ................. .................

216

... ... ......... ...... .... ................... .......... ......... ...... ............

220

Sachregister

Einleitung Der Titel dieses Buches kennzeichnet das Erkenntnisinteresse, das seinen Beiträgen zugrundeliegt. An ausgewählten Beispielen soll das utopische Denken von seinen eigenen Prämissen her rekonstruiert werden, ohne sich den kritischen Blick auf den Untersuchungsgegenstand durch voreilige Apologien und den verstehenden Zugang zu den untersuchten Themen durch apriorische Vorverurteilungen zu verstellen. Die so verstandenen "Innenansichten Utopias" werden exemplarisch konkretisiert an Aspekten der Wirkungsgeschichte (Teil I), an ausgewählten Entwürfen (Teil 11) und an Überlegungen zur Zukunftsfahigkeit des utopischen Denkens (Teil III). Die in Teil I dieses Bandes aufgeführten Arbeiten setzen sich bewußt von Forschungsparadigmen ab, die von der Annahme ausgehen, man könne die Geltung des utopischen Denkens in Gestalt einer experimentellen Versuchsanlage rekonstruieren. Das Muster dieser Forschungsstrategie arbeitet zumeist mit anthropologischen Unterstellungen. Sie verweist auf die kühnen Vorstöße jener utopistischen Aktivisten, die bei dem Versuch, ihr spezifisches Utopia zu verwirklichen. in aller Regel gescheitert sind, weil der Perfektionierung der Gesellschaft durch die menschliche Natur selbst eine unübersteigbare Grenze gesetzt sei. Wer sie ignoriere und dennoch am Verwirklichungsanspruch des utopischen Konstrukts festhalte. müsse entweder seinen Irrweg eingestehen, oder er ende notwendig im Terrorismus und realisiere das Gegenteil dessen, was ursprünglich beabsichtigt worden war. Im Gegenzug zu diesem Ansatz beruhen die vorliegenden Aufsätze auf der Prämisse, daß der Wirkungsgeschichte Utopias nicht mit einfachen "wenn-dann"-Sätzen beizukommen ist. Für sie sind nicht monokausale Zuordnungen und Ursachen ketten entscheidend, sondern die indirekte Beeinflussung der sozio-politischen Wirklichkeit, die seit der Frühen Neuzeit auf ein unentwirrbares Geflecht von Modernisierungszwang, Machtrepräsentation, kollektiven Gerechtigkeitsvorstellungen, gesellschaftlicher Auflehnung der Unterschichten und rationalistischem Denken zuTÜckführbar ist. Ein Aspekt dieses komplexen Wirkungsgefüges ist für die vorliegenden Aufsätze zentral: Sie wollen einen Beitrag zur Klärung der Frage leisten. wie das geometrische und das naturalisierte Muster des utopischen Denkens zur Formierung eines neuen Zeitgeistes geführt hat, dessen Manifestationen von den projektierten, aber auch gebauten Idealstädten der Renaissance und dem literarisch imaginierten "Edlen Wilden" über die geometrische Gartenarchitektur von Versailles und die naturalisierten Szenarien der Englischen Landschaftsgärten bis zu

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Einleitung

den künstlerischen Produktionen der russischen Avantgarde reichen. Der in Teil I dieses Bandes untersuchte Forschungsgegenstand ist freilich nicht auf die Antizipation von solchen Möglichkeitsdimensionen der Realität begrenzt. Er will auch das spezifische Profil utopischen Denkens, nämlich seinen methodischen K01lstruktivismus, seine kritische Distanzierung von der gegebenen Herkunftswelt und sein gesellschaftliches Modelldenken verdeutlichen. Tatsächlich umreißen die Aufsätze dieses Schwerpunktes das erste Strukturmerkmal sehr deutlich: die spezifische Modernität des utopischen Ansatzes, die die Wirklichkeit als Konstrukt begreift. Ansprüche der modernen Zivilisation wie die Berücksichtigung hygienischer Erfordernisse bei der Stadt-und Architekturplanung, funktionierende Ver-und Entsorgungseinrichtungen sowie ein übersichtliches und effizientes Straßensystem etc. vorwegnehmend, traten die an geometrischen Mustern orientierten Entwürfe der Idealstädte in der Frühen Neuzeit mit dem Anspruch auf, auch tatsächlich gebaut werden zu können. Dasselbe galt für die naturalisierte Variante des utopischen Denkens. Auch die Landschaftsgärten wurden geplant und zweckrational angelegt. Die Irregularität ihrer Architektur beruhte auf minutiöser Berechnung, die nichts dem Zufall überließ. Selbst der "Edle Wilde" war eine hochartifizielle Konstruktion; erst in seiner utopisierten Gestalt eignete er sich zur Kritikfolie der modernen Zivilisation. Dieser Konstruktivismus deutet auf das zweite Strukturmerkmal des utopischen Denkens hin: den Bruch mit der Herkunftswelt, der erst jene tabu la rasa ermöglicht, auf der er sich entfalten kann. Die utopische Stadt der Frühen Neuzeit, so kann den Beiträgen entnommen werden, geht nicht aus der mittelalterlichen Welt hervor, sondern wird, inspiriert durch antike Vorbilder, gleichsam neu gegründet: Sie ist so vollständig Konstrukt, daß sie auf nichts anderes verweist als auf ihre Bauprinzipien in Form des Rechtecks, des Quadrates und des Kreises. Im Grunde kann sie an jedem Ort der Erde errichtet werden, wenn nur bestimmte Bedingungen für ihre Funktionsfähigkeit gegeben sind. Aber auch ihr naturalisierter Gegenspieler "erfindet" seinen Gegenstand neu. Ebenfalls angeregt durch antike Metaphern, mußte "Natur" in ihrem Selbstwert erst "entdeckt" werden, um sich mühsam aus der Hegemonie des geometrischen Musters befreien zu können. Verbunden mit dem Primat der Planbarkeit verweist diese Trennung von der mittelalterlichen Herkunftswelt auf ein drittes Strukturmerkmal, das dem methodischen Kontruktivismus und der kritischen Distanzierung erst die eigentliche utopische Qualität verleiht: die gesellschaftliche Visio1l. Das äußere Gehäuse darstellend, in dem sich das gute Leben in harmonischen und solidarischen Sozialbeziehungen entfalten soll, bringt sie in ihrer herrschaftsfreien (anarchistischen) oder herrschaftsbezogenen (archistischen) Variante das Spektrum jener Modellentwürfe zum Ausdruck, die das utopische Denken den Fehlentwicklungen der zeitgenössischen Gesellschaft konfrontiert.

Einleitung

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In Teil 11 des vorliegenden Bandes wird der Entwurfscharakter des utopischen Denkens weiter vertieft. Auch hier versuchen die einschlägigen Beiträge, Distanz zu vorherrschenden Interpretationsmustern zu gewinnen. Besonders unter dem Einfluß von Karl Raimund Popper ist das utopische Denken immer wieder als ein starrer Idealtypus vorgestellt worden, dessen menschenverachtende Qualität in seinem holistischen Ganzheitsanspruch, seinem unkorrigierbaren Dogmatismus und seiner lernunfähigen und dadurch statischen Identität seinen sinnfälligsten Ausdruck gefunden habe. Demgegenüber zeigen die beiden ersten Aufsätze dieses Abschnittes, daß die im 18. Jahrhundert nachweisbare Konvergenz von "Vertragsdenken und Utopie" durchaus als eine individualistische Korrektur utopischen Ganzheitsdenkens interpretiert werden kann: Genauso wie umgekehrt der Individualismus des Vertragsdenkens unter dem Einfluß des utopischen Solidaritätsprimats seine egoistischen Aspirationen zu relativieren beginnt. Zugleich wird deutlich. daß der utopische Holismus keineswegs auf eine unveränderliche anthropologische Grundausstattung reduzierbar ist, wie die Tatsache zeigt, daß er die Wende von der Leitwissenschaft der Geometrie zur Biologie ebenso nachvollzieht wie die Historisierung der menschlichen Natur mit der von ihr bewirkten Entinstitutionalisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen und ihrer Einbindung in den teleologischen Geschichtsprozeß. Aber auch der dem utopischen Denken immer wieder unterstellte Dogmatismus in der Festsetzung seiner Ziele und der konsequenten Wahl bzw. Anwendung der Mittel zu ihrer Realisation muß neu überdacht werden. Wie nämlich die republikanischen Szenarien des utopischen Denkens seit der Frühen Neuzeit erkennen lassen, sind insbesondere die Autoren der klassischen "schwarzen" Utopien als die radikalsten Kritiker des utopischen Dogmatismus aufgetreten und haben dadurch ein selbstreflexives Potential zur Geltung gebracht, an das die freiheitlichen Republiken des 21. Jahrhunderts anknüpfen können. Und schließlich zeigt sein Verhältnis zu dem konkurrierenden Genre der Science-fiction, daß sich das utopische Denken als literarische Gattung keineswegs notwendig zur Wahrung einer starren Identität wie eine in sich ruhende Monade abkapseln muß. Vielmehr wird seine Fähigkeit dokumentiert, von außen kommende Impulse produktiv zu verarbeiten und durch diese Offenheit seine Erneuerungs -und Entwicklungsfähigkeit zu beweisen. In Teil III schließlich versucht der Verfasser in vier Beiträgen, einige Aussagen über die Zukunftsfähigkeit des utopischen Denkens zu machen. Einerseits stellen sie unmißverständlich die Gefahren heraus, die dem utopischen Denken aus holistischen und dogmatischen Irrwegen, verbunden mit einer rigiden Abschottungstendenz, erwachsen können. Andererseits verdeutlichen sie aber auch die Chancen eines selbstreflexiven utopischen Denkens, das sich seiner eigenen Gefährdung voll bewußt geworden ist. Dessen Zukunftsfähigkeit besteht darin, daß es fiktive Alternativen zu einer angeblich naturwüchsigen Evolution der modernen Zivilisation ausloten und dadurch zugleich Kräfte mobilisieren kann,

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Einleitung

der fatalistischen Ideologie eines nicht steuerbaren Selbstlaufs der gesellschaftlichen Prozesse entgegenzuwirken. Wenn es in der Tat eine gemeinsame Stoßrichtung der Beiträge dieses Bandes gibt, dann ist es die Überzeugung Karl Mannheims, die er 1929 in seinem Buch "Ideologie und Utopie" geäußert hat. Er befürchtete damals, daß mit dem Verschwinden der Utopie "eine statische Sachlichkeit" hegemonial, ja, daß der Mensch selbst zur Sache werden und damit "den Willen zur Geschichte" verlieren könnte, und zwar, paradox genug, in einer historischen Situation, in der er vielleicht zum ersten Mal in seiner Entwicklung über die Mittel verfügt, seine Geschichte nicht als blindes Schicksal erleiden zu müssen. Abschließend habe ich vor allem Eva-Maria Seng zu danken. In der Zusammenarbeit mit ihr sind zwei wichtige Beiträge zur geometrischen und naturalisierten Variante des utopischen Denkens und ihre Auswirkung auf Stadtplanung, Architektur und Gartenkunst entstanden. Dank gebührt aber auch meinen Mitarbeitern Martin Kühnei, M.A., und stud. phi\. Ingo Helm für redaktionelle Zuarbeit und die Anfertigung eines Personen- und Sachregisters.

I. Wirkungen

Die Geburt der "schwarzen Utopie" aus dem Geist des Suprematismus*

I. Daß Samjatins "Wir" das Muster der "schwarzen" Utopien darstellt, welches in Huxleys "Schöne neue Welt" und Orwells "1984" seinen klassischen Ausdruck gefunden hat, ist in der Forschung unbestritten. Offen dagegen ist die Frage, auf welche Phänomene Samjatin reagierte, als er sich entschloß, das fiktive Schreckensbild einer zukünftigen Gesellschaft zu entwerfen. Ich selber habe den Versuch unternommen, "Wir" als eine immanente Kritik der klassischen, an autoritären Leitbildern orientierten Utopietradition zu interpretieren I. Doch andere Lesarten sind möglich. Die am weitesten verbreitete Deutung dieses utopischen Romans legt ihn als eine geniale Antizipation jenes totalitären Herrschaftssystems aus, das als "Stalinismus" Geschichte gemacht hat. Demgegenüber werde ich die These vertreten, daß für Samjatin der "Stalinismus" im engeren Sinne um 1920, als das revolutionäre Rußland in einen blutigen Bürgerkrieg verstrickt und die UdSSR noch nicht gegründet war, kein Thema sein konnte. Vielmehr hat er sich auf die utopischen Horizonte der linken ästhetischen Avantgarde in seinem Lande bezogen, die dem Etikett "Suprematismus" zugeordnet wird. Der Suprematismus, entscheidend von Kasimir Malewitsch (1878-1935) geprägt, hatte sein Programm bereits 1915 auf der Ausstellung "0.10" in St. Petersburg fonnuliert. Einen radikalen Schlußstrich unter die künstlerischen Formen der Vergangenheit ziehend, wurde sein Symbol, Malewitschs "Schwarzes Quadrat auf weißem Grund", wie eine Ikone unter der Decke des Ausstellungsraumes plaziert. Planung und Klassenlosigkeit, der Aufbau eines "neuen Lebens" im "tabula-rasa-Verfahren", dazu die Erhebung der Grundelemente Qua-

* Erstmals erschienen in: Leviathan 1/1996. Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 24. Jg. (1996), S. 124-145. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Westdeutschen Verlages. Hervorgegangen ist der vorliegende Essay aus dem Hauptseminar "Kunsthistorische Aspekte politischer Utopien der Neuzeit", das EvaMaria Seng und der Verfasser im Sommersemester 1995 an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg durchgeführt haben. Eva-Maria Seng danke ich für Anregungen und für die kritische Lektüre des Textes. 1 Vgl. Saage 1991: S. 264 ff.

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Die Geburt der "schwarzen Utopie"

drat und Kreis zu zentralen Formwerten stellen Elemente einer ästhetischen Programmatik dar, die, wie im folgenden nachgewiesen werden soll, ihre Herkunft aus dem klassischen utopischen Denken nicht leugnen kann. Nach der Revolution hatte Malewitsch wichtige Funktionen in den Kulturinstitutionen der Sowjetunion inne; es gelang ihm und seinen Anhängern. dem Suprematismus im nachrevolutionären Rußland zunächst öffentliche Anerkennung zu verschaffen, unterstützt durch den sowjetischen "Kommissar für das Bildungswesen" Lunatscharsky. In Deutschland blieb diese künstlerische Richtung bis zur "Ersten Russischen Kunstausstellung" im Jahr 1922 weitgehend unbekannt. Allerdings konnte Malewitsch 1927 während eines Deutschland-Aufenthaltes die Chance nutzen, seine Kunstkonzeption und seine Theorien einem größeren Publikum vorzustellen. In der Zeit des Stalinismus im Zeichen der offiziellen Formalismus-Kritik marginalisiert, kam es zu einer Wiederentdeckung des Suprematismus erst in der Periode von "Glasnost" und "Perestroika". In Deutschland fand die neue Suprematismus-Rezeption ihren vorläufigen Höhepunkt in der Frankfurter Ausstellung "Die große Utopie" (1992) und in der Berliner Ausstellung "Berlin-MoskauIMoskau-Berlin" (1995/96); in beiden wurde der Suprematismus und seine Weiterentwicklung als Konstruktivismus (EI Lissitzky, G. Klucis, L. Moholy-Nagy u.a.) in umfassender Weise dokumentiert und damit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der Beweis meiner These, daß Samjatin die sozio-politischen Konsequenzen der suprematistischen Utopie zu Ende dachte, wirft mindestens drei Fragen auf, die es im Vorfeld dieses Essays zu klären gilt: I. Dem Begriff "Kunst" folgt, wie man weiß, die Utopie wie ein Schatten. Aber diffus wie dieser, wird nur selten geklärt, was der jeweilige Autor kunsthistorischer Texte mit dieser Kategorie assoziiert. Dieses Defizit wiegt um so schwerer, als es "die" Utopie nicht gibt. Wir haben es vielmehr mit einer Pluralität konkurrierender Utopiekonzeptionen zu tun. Im folgenden gehe ich von der Annahme aus, daß sich sowohl der Suprematismus als auch Samjatins "Wir" am ehesten in die Tradition des utopischen Denkens einordnen lassen, die von Platon und Morus ihren Ausgang nimmt. In dieser Tradition ist die politische Utopie das Konstrukt einer künftigen Gesellschaft, die sich entweder zu einem Wunsch - oder Furchtbild verdichtet. Auf erkennbare und rational nachzuvollziehende Fehlentwicklungen der jeweiligen Ursprungsgesellschaft reagierend, schlägt sie auf derselben Ebene Lösungsmöglichkeiten vor, die weltimmanent ausgerichtet sind und auf die Kraft der säkularisierten Vernunft setzen. Dies vorausgesetzt, sind die Strukturmerkmale zu benennen, die als heuristisches Muster zur Auffindung utopischer Aspekte in Malerei, Architektur und Stadtplanung aus dieser Definition resultieren. Ich möchte folgende Elemente nennen, die mir für das klassische utopische Denken charakteristisch erscheinen. Zunächst ist utopisches Denken immer auch Ausfluß einer kritischen Diagnose jener Gesellschaftsformation. zu der es eine Alternative im negativen wie im

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positiven Sinn bieten will. Traditionsbruch und gleichzeitige Gegenwarts- bzw. Zukunftsbezogenheit sind notwendige Korrelate dieses Reagierens. Das Ideal, das dem kritisierten sozio-politischen Status quo konfrontiert wird, ist durch Transparenz in der Architektur sowie durch Übersichtlichkeit und Funktionalität in der Stadtplanung gekennzeichnet, eingebettet in eine Zivilisation, deren Repräsentanten entschlossen an der Spitze des wissenschaftlich-technischen Fortschritts marschieren. Den Fortschritt zum eigentlichen Fundament der utopischen Konstruktion erhebend, kommt es zu einer Geometrisierung bzw. Verwissenschaftlichung des utopischen Raumes, die den holistischen Totalitätsanspruch der geseIlschaftlichen Fiktion ebenso symbolisiert wie den rigiden Antiindividualismus, der jenen erst ermöglicht. 2. Kaum schwieriger als die Begriffsbestimmung der Utopie erweist sich die Definition dessen, was man unter "Suprematismus" zu verstehen hat. Diese Richtung innerhalb der ästhetischen Avantgarde Rußlands fand, wie schon erwähnt, ihren Niederschlag in K. Malewitschs "Schwarzes Quadrat auf weißem Grund" aus dem Jahr 1915 (das auf ein von ihm gestaltetes Bühnenbild zu der 1913 in Petersburg uraufgeführten futuristischen Oper "Sieg über die Sonne" von A. Krutschonych und M. Matjuschin zurückgeht). "Dieses Manifest des Verzichts auf die abbildende Funktion der Malerei wurde von Malewitsch theoretisch mit dem Anspruch fundiert, eine völlige neue, hohe, funktionslose Kunst zu schaffen, der er entsprechend die Bezeichnung Suprematismus gab"z. Eine zweite schulernachende Variante des Suprematismus ist die von EI Lissitzky entwickelte "Umsteigestation von der Malerei zur Architektur"] , die er mit dem Kürzel Proun kennzeichnete: Es läßt sich als "Projekt für neue Formen in der Kunst" übersetzen. 1925 bestritt EI Lissitzky die Möglichkeit, ProUIl absolut zu definieren. weil diese Arbeit noch nicht zum Abschluß gekommen sei. Doch immerhin präzisierte er: "Mein Ziel ( ... ) ist nicht darzusteIlen, sondern etwas selbständig Gegebenes zu bilden. Diesem Ding habe ich den selbständigen Namen ProufI gegeben." (L I 359)4. Schon drei Jahre früher kennzeichnete er Proun dadurch, "daß das neue Gemälde, das aus uns wächst, nicht mehr länger ein Bild ist. Es beschreibt nichts, sondern es konstruiert Ausdehnungen, Flächen, Linien zu dem Zweck. ein System neuer Kompositionen der wirklichen Welt zu schaffen"'. Ich nehme die Texte von EI Lissitzky und Malewitsch als Einheit, obwohl klar ist, daß der Begründer des Suprematismus die reine Gegenstandslosigkeit mit "unbewußten Erregungen" und dem "kosmischen Zusammenhang aller ErZ Simons 1993: S. 33 f. ] Zit. n. Simolls 1993: S. 28. 4 Die Quellen werden im Text nach folgenden Kürzeln zitiert, denen die jeweilige Seitenzahl folgt: a) L I = EI Lissitzky 1992; b) L 11 = EI Lissitzky 1977; c) M = Malewitsch 1989; d) Sa = Samjatin 1984; e) Sh = Shadowa 1978. , Zit. n. Simons 1993: S. 27.

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regungserscheinungen" (M 9) in Verbindung brachte. die EI Lissitzky als Mystizismus ablehnte. In einem Brief vom 21.3.1924 an Sophie Küppers schrieb er: "Wie Du siehst. habe ich ziemlich viel für das Malewitsch-Buch übersetzt ( ... ) Ich übersetze das ungefähr wie Gedichte. weil (ich) sonst (... ) viel(e) Einwände machen (müßte). Aber selbst dort. wo ich mich wehre. schlägt mir solch eine herrliche Kraft entgegen. daß ich den Streit unterlasse.( ... ) Einiges (.) was ich habe. möchte ich (.) um die Sache nicht ins falsche Licht zu bringen. nicht übersetzen. so antiplastisch und mystisch sind die Definitionen" (L I 39). Trotz dieser unbestreitbaren Differenz ist aber auch bei Malewitsch der utopische Rationalismus in einer so signifikanten Weise präsent. daß es lohnt. dessen gemeinsame Schnittmenge mit dem suprematistischen Konstruktivismus EI Lissitzkys zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen zu machen. 3. Kann Samjatins "Wir". um 1920 entstanden. als Reaktion auf den Suprematismus interpretiert werden. obwohl diesem Essay auch später publizierte Texte der beiden avantgardistischen Künstler und ihrer Anhänger zugrundezuliegen scheinen? Diese Frage greift insofern zu kurz. als das Paradigma des Suprematismus um 1920 bereits feststand und seine Schulbildung 1919 mit der Begründung der Gruppe UNOWIS (Gründung neuer Formen in der Kunst) in Witebsk praktisch abgeschlossen war. Die hier berücksichtigten Schriften und Manifeste. die bis 1924 und später erschienen. sind lediglich Konkretionen dieses in seinen Grundzügen bereits abgeschlossenen ästhetischen Musters. Selbstverständlich umfaßt die Gruppe UNOWIS ein ganzes Spektrum bedeutender avantgardistischer Künstler. Doch beziehe ich mich im folgenden vorwiegend auf Malewitsch und EI Lissitzky. weil sie am umfassendsten diese neue Richtung in zahlreichen Schriften theoretisch fundierten. Diese Vorklärungen vorausgesetzt. werde ich im folgenden die utopische Selbstinterpretation des Suprematismus bei Malewitsch. EI Lissitzky und der von ihnen geprägten Gruppe UNOWIS in der Perspektive des klassischen Utopiebegriffs zu rekonstruieren versuchen. Dabei kommt mir der Umstand entgegen. daß diese ästhetischen Avantgardisten ihre gegenstandslosen Werke keineswegs als "autonome Kunst" verstanden. Vielmehr hat deren expliziter Bezug auf die sozio-technische Realität der Moderne bei ihnen eine solche Bedeutung, daß man ihn als die eigentliche Legitimation der Abkehr des Suprematismus vom Klassizismus der älteren Architektur und Malerei bezeichnen kann. Im zweiten Teil werde ich dann untersuchen. wie Samjatin die suprematistischen Muster radikalisiert und durch Anwendung auf die sozio-politische Realität ihre inhumanen Konsequenzen aufdeckt. Im letzten Teil geht es schließlich um die Frage. ob die Kritik der suprematistischen Avantgarde im Medium der ersten klassischen "schwarzen" Utopie das Ende der Moderne oder deren Selbstkorrektur bedeutet.

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11. Die kritische Zeitdiagnose, auf die utopisches Denken reagiert, ist kein bloßes Ornament seines Konstrukts, sondern gehört zu seinem Kernbestand. Auch der Suprematismus lebte von Anfang an von der Spannung zu dem gesellschaftlichen Kontext, innerhalb dessen er entstand. Malewitsch wurde nicht müde, den sogenannten "Futtertrog-Realismus" anzuprangern, von dem er die auf Gegenständlichkeit fixierten Systeme sowohl des Kapitalismus als auch des bolschewistischen Sozialismus dominiert sah (M 52). In diesem Reich des gegenständlichen Realismus kämpfe jeder gegen jeden um sein nacktes Dasein (M 66). Nach der Vorstellung der Menge geschehe in der Natur nichts anderes, "als daß einer den anderen verschlingt" (M 119). Im Namen des "kommenden vollendeten materiellen Wohlergehens" kämen Drahtverhaue, Kanonen und Gas zur Anwendung. Es gebe zu denken, daß bisher noch kein politischer Führer sein Volk "unter Umgehung von Kanonen und Opfern zum Wohlstand führen konnte". Sie behaupteten zwar, sie hätten den besten Weg zum künftigen Wohlstand gefunden. Doch ihre Finger wiesen immer nur auf das Schwert und die Kanonenmündungen, hinter denen das wahre Glück, der Wohlstand, liegen solle. Das Volk aber lasse sich immer aufs neue hypnotisieren und renne gegen die Kanonen an (M 135). Der Mensch der Gegenwart, so lautet die zeitkritische Diagnose Malewitschs, verharre auf der "animalischen Ebene" (M 206). In seine "Futtertrog-Interessen" verstrickt, bleibe zugleich die Organisation der Gesellschaft in dramatischer Weise hinter dem Stand der wissenschaftlich-technischen Entwicklung zurück. Während die Ingenieure bereits Flugzeug und Zeppelin entwürfen, halte die Gesellschaft an den Pferdedroschken fest. Statt die neuen Formen des künstlerischen Ausdrucks zu akzeptieren, sehe sich die Gesellschaft nach wie vor an den Gegenständen der klassischen Stile satt (M 225). Die Gesellschaft verhalte sich wie eine Riesenschlange, die ihre Nahrung ewig verdaut: Noch immer irrten inmitten der Motoren Esels-und Pferdegespanne umher, weil die Liebe zu den alten Dingen und Gewohnheiten allem Neuen den Weg versperre (M 218). Doch das Reaktionäre sei nicht mehr zu retten, weil es nur zu verhindern suche, was ohnehin nicht mehr konserviert werden könne (M 226). Die kritische Zeitdiagnose wird freilich erst dann zu einem genuinen Korrelat des utopischen Konstrukts, wenn sie nicht eine Aufhebung von Vergangenheit und Gegenwart im Sinne Hegels empfiehlt, sondern gedanklich den radikalen Bruch mit allen Traditionen im Namen einer alternativen Zukunft vollzieht. Genau dieses Kriterium erfüllt der Suprematismus in idealtypischer Weise. Die Tradition, so Malewitsch, sei ein Sarkophag, "in dem dilettantische Mumien liegen" (M 23)). Es sei notwendig, heißt es im Suprematistischen Manifest UNOWIS, "alle absterbenden Systeme der Vergangenheit mit allen ihren Anlagerungen durch unaufhaltsames Vorwärtsdrängen auf dem neuen Wege zu besei2 Sooge

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tigen" (M 237). Die heutigen Energien ließen sich nicht in gestrige Erzeugnisse pressen (M 227). Nicht zufällig propagierte Malewitsch den Ingenieur zum Vorbild für die Avantgarde: Er sei "erbarmungslos gegen die gestrigen Vollkommenheiten. Auch die gesamte technische Jugend ist für jeden neuen Schritt. Ihre Parole ist: 'Weiter!'" (M 43). Der Sieg des Heute über die liebgewonnenen Gewohnheiten setze die Absage an das Gestern, "die Entrümpelung des Bewußtseins" (M 238), voraus. Er ließ keinen Zweifel daran, daß in dem Augenblick, in dem die "ganze Führung" in der Hand der Neuerer liege, die in der Tradition verharrenden Schulen des Eklektizismus in Kunst und Gesellschaft gesäubert werden (M 227). Erst der Sieg über die Formen des Gestern, so die Standardforderung Malewitschs, garantiere "eine neue Lebensform einheitlicher Ordnung" (M 238). EI Lissitzky pflichtete ihm bei. Es sei die Pflicht der Bürger der Kommune, "das Feld des Lebens von dem alten Plunder" zu säubern (L I 334). Ausdrücklich betonte er die revolutionären Dimensionen dieses Bruchs. 1918 sei vor seinen Augen in Moskau der Kurzschluß aufgeblitzt, "der die Welt entzweispaItete. Dieser Hieb hat unsere Gegenwart wie einen Keil zwischen Gestern und Morgen auseinandergetrieben. Auch mein Schaffen gehört dazu, nun den Keil tiefer zu treiben. Man gehört hierhin oder dorthin: - es gibt keine Mitte" (L I 329). Dieses Bekenntnis brachte er 1919 in seinem legendären Bürgerkriegsplakat "Schlagt die Weißen mit dem roten Keil" auf eine klassische Formel. Und Malewitsch wandte gegen den Vorwurf, der Suprematismus sei nicht revolutionär, ein, daß "die Revolution, die die jahrhundertealten eingefahrenen Wechselbeziehungen vernichtet, ( ... ) ebenso die gegenständliche Welt um(stürzt)". Er bezeichnete die Suprematisten als "unmittelbare Teilnehmer an dieser Revolution" (Sh 293). Malewitsch hatte freilich schon vor der Oktoberrevolution den radikalen Traditionsbruch durch eine eindrucksvolle malerische Metapher symbolisiert: das berühmte "Schwarze Quadrat auf weißem Grund" von 1913. "Der Künstler wagte sein Verderben", kommentierte EI Lissitzky diese Zäsur. "Eine Form war aufgestellt, die zu allem in Kontrast stand, was wir als Bild begreifen, als Malerei, als Kunst. Der Autor selbst war der Ansicht, daß er die Formen und die Malerei bis zur Null gebracht hätte. Wir haben aber gesagt: ja, das ist der Nullpunkt der abnehmenden Reihe. Wenn wir also die aus dem Unendlichen kommende Reihe ... 6, 5. 4, 3, 2, I, 0 haben, so beginnt hier, nachdem sie die Null erreicht hat, ein neues Anwachsen I, 2. 3 ... " (L 11 25). EI Lissitzky hat damit, wie ich meine, die utopische Dimension dieses Umschlags in ihrer ganzen Ambivalenz zutreffend beschrieben. Wer einen ganzen Traditionszusammenhang auf einen absoluten Nullpunkt bringt, schafft eben jene tabula rasa, ohne die es eine utopische Alternative zum Status quo nicht gibt. Wahrscheinlich ist der russischen Avantgarde die konstrukutive Kraft des Nullpunktes. des "befreiten Nichts" (Malewitsch), erst in der Oktoberrevolutiqn

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selber klar geworden. "Im SUPREMATISMUS", schrieb EI Lissitzky 1920, "erschien uns nicht das Symbol der Erkenntnis und der Gestalt des schon Fertigen im Weltgebäude, sondern hier traten zum ersten Male in ihrer ganzen Reinheit das klare Zeichen und der Plan einer gewissen neuen, noch nicht dagewesenen Welt hervor, die allein von unseren Wesen ausgeht, die in das All hinauswächst und nur sich selbst zu bauen beginnt. So wurde das Quadrat des Suprematismus zum Fanal" (L I 331). Doch die Frage ist, an welchen Prinzipien sich das "Fundament des neuen räumlichen Aufbaus der Realität" (L I 338) orientierte. Was bedeutet in diesem Zusammenhang das "klare Zeichen" und der "Plan für eine bestimmte neue Welt", die der Suprematismus in Reinform offenbart habe? Und wie wirkte sich "die dynamische Kraft des radikal Neuen in der Kunst" als jener Faktor aus, der den durchgreifenden "politischen und gesellschaftlichen Wandel vorhersagen und sogar bewirken konnte"? 6 In keinem Bereich der gesellschaftlichen Umgestaltung lassen sich diese Fragen klarer beantworten als am Beispiel der Architektur und der Stadtgestaltung. Wie die klassische Utopietradition seit Morus, so überwindet auch der Suprematismus den absoluten Nullpunkt durch die geometrischen Konstruktion einer neuen Wirklichkeit, die sich an Planung, System, Transparenz, Homogenität, Funktionalität und Kollektivismus orientiert. "Säubert die Plätze des Weltraums von allem Chaotischen, das in ihm herrscht!", lautet eine Propagandalosung der UNOWIS (Sh 289). "Wir sind Plan, System, Organisation", verkündete sie an anderer Stelle (Sh 297). Und in Malewitschs "Kurze Entstehungsgeschichte der UNOWIS" heißt es: "Alles Systemlose, Ziellose ist, weil ohne festen Grund, zum Absterben verurteilt" (Sb 306). Der Suprematismus, so EI Lissitzky, schicke sich an, der Erde ein neues Gesicht zu geben. "Wir werden sie durch und durch umgestalten, so daß die Sonne ihren Trabanten nicht mehr wiedererkennen wird" (L I 332). Zentren dieser Umgestaltung sind, wie in der klassischen Utopie, die Architektur und die Stadtplanung. Niemand hat deren Ideal schärfer charakterisiert als EI Lissitzky: Die Ästhetik müsse den Bedürfnissen eines modernen Menschen "einer geometrischen Epoche" entsprechen, "dessen Auge reine, einfache Formen sehen will, die in klaren Proportionen gegliedert und zur gen auen Orientierung im Raum exakt miteinander koordiniert sind" (L II 61). Noch 1923 kündigte Malewitsch an, daß "die Neuerer auf allen Gebieten der Kunst (... ) die Straßen der Städte begradigen (werden). Sie werden die eklektischen Verknotungen beseitigen und die Gebäude von ihrem Stilgemisch, die neuen Systeme von veralteten, nicht mehr zeitgemäßen Dingen befreien" (M 227f). Die Zeit, so EI Lissitzky, sei vorbei, in der wie in Nord- und Südamerika die modernen Städte chaotisch angelegt seien. Die neue Stadt werde "klar und übersichtlich wie ein Bienenstock" (L I 332). 6 Sharp 1992: S. 32.

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Es war unausweichlich, daß die suprematistische Stadtplanung Front machte gegen die mittelalterliche Stadt mit ihren gewachsenen Komplexen von Straßen, die sich unregelmäßig wie Jahresringe um einen Ausgangspunkt (Burg, Schloß, Dom, Markt) gruppieren. So plante EI Lissitzky acht "Wolkenbügel" genannte Hochhäuser, die gleichsam das Zentrum Moskaus einkreisten sollten. Ihre Funktion entsprach voll den Absichten der klassischen Utopietradition. Konfrontiert mit dem Symbol des mittelalterlichen Moskau, dem Kreml, sollte die Serie der acht Wolkenbügel den Gegensatz zwischen den "absterbenden alten Teilen und den wachsenden neuen vertiefen" ( L 1183). Darüber hinaus stellte er seine Konzeption ganz in den Dienst eines weiteren, fast klassischen Utopiepostulats: der Forderung nach Transparenz. Das Ensemble der Wolkenbügel hatte nämlich die Aufgabe, eine klare räumliche Orientierung zu ermöglichen, die durch die Bemalung jedes Hochhauses noch gesteigert werden sollte (L 11 83). Und EI Lissitzkys Konstruktion ist noch in einer dritten Hinsicht charakteristisch: Wie die klassischen Utopisten paßte er die Architektur den Standards der fortgeschrittensten Technik der Zeit an. Als solche galt Anfang der zwanziger Jahre die Flugtechnologie. "Wir sind der Meinung", begründete er das architektonische Muster der Wolkenbügel, "daß, solange noch keine Möglichkeiten eines vollkommen freien Schwebens erfunden worden sind, wir der horizontalen Bewegung stärker zuneigen als der vertikalen". Aus dieser Option leitete er für seine Konstruktion den Grundsatz ab, sie müsse ein Maximum an Nutzfläche bei einem Minimum an Stützfläche bieten. Tatsächlich ruhte das Bauwerk gleichsam auf Stützen. Das zugrundeliegende Ideal ist eindeutig. Es wurde von Malewitsch benannt: "Schwebende Planiten ('Plan' abgeleitet von Aeroplan) werden den neuen Plan der Städte und die Form der Häuser der 'Semjaniten' (neugebildetes Wort für Erdbewohner) bestimmen. In ihnen werden die Geräusche künftiger Musik ertönen, die neuen Stimmen im neuen Chor der Planiten. Im Hinblick auf sie muß alles geplant und koordiniert werden. Die Bauwerke der Semjaniten müssen in ihrer Planung und ihren Bewegungen sowohl im Raum als auch auf der Erde aufeinander abgestimmt werden" (M 229). Wie wird nun aber die Gesellschaft der Zukunft aussehen, in der diese Architektur und Stadtplanung verwirklicht ist? Und vor allem: Welche Rolle spielt das Individuum in ihr? Gewiß, man sucht in den Schriften der Suprematisten vergebens nach detailliert ausgeführten gesellschaftlichen Fiktionen. Doch es gibt genügend fragmentarische Äußerungen zu diesem Thema, die sich zwanglos in ein konsistentes Bild einfügen. Zunächst fällt die kollektive Stoßrichtung auf, durch die die supremetistische Konzeption gekennzeichnet ist: Sie läßt sich mühelos in das anti individualistische Muster der klassischen Utopien einordnen. Wenn deren Signum darin besteht, daß das Individuum anstelle des Gesichts ein hloßes Oval trägt, in das eine Indexnummer eingeschrieben ist7, dann hat es eine präzise Entsprechung im ästhetischen Selbstverständnis des Suprematismus: Dessen erklärtes Ziel ist es, im Betrachter des Bildes keine subjektiven Stim-

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mungswerte zu evozieren. Zwar strebt auch er wie die gegenständliche Malerei eine Wechselbeziehung zwischen Farbe und menschlichem Auge an, aber doch im Gegensatz zur ihr "gesetzmäßig, konstant und überpersönlich, überindividuell für alle Menschen im Prinzip gleich"8 . Solange nach diesem Interpretationsmuster die Farbe im Dienst der Gegenstände verharrte, wie dies in der Geschichte der Malerei - freilich mit abnehmender Intensität - vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert der Fall gewesen sein soll, war sie ein Mittel zur Individuierung des Bildes: Es galt, einzelne Dinge oder Personen ästhetisch so zu überhöhen, daß sie sich von den Alltagserfahrungen der Arbeitswelt abheben. In dem Augenblick aber, in dem sich die Farbe von ihrer gegenständlichen Abhängigkeit emanzipierte, mußte nach dem suprematistischen Credo das Gegenteil eintreten: das Bild transformierte sich, wie Behne schreibt, zum "Kollektivwesen", "weil in ihm das Leben des Ganzen wichtiger genommen wird als das Leben des einzelnen"9. Zugleich veränderte es in der Sicht der Suprematisten sein Verhältnis zum Ganzen, zur "sozialen Einheit" (Behne) der Arbeitswelt, grundlegend: Es beziehe seine Aura nicht mehr aus der Distanz zu ihr, sondern verstehe sich als deren Ausfluß und Gestaltungsprinzip zugleich. Aber auch die kollektivistische Prägung des suprematistischen Architekturund Stadtplanungsparadigmas ist unübersehbar. Nicht das Individuum steht im Vordergrund, sondern das Ganze der angestrebten wissenschaftlich-technischen Zivilisation. Es hat gewissermaßen programmatische Bedeutung, wenn Malewitsch fordert, daß die "provisorischen Behausungen" der neuen Menschen sowohl im Weltraum, als auch auf Erden nicht individuellen Bedürfnissen, "sondern den Aeroplanen angepaßt" werden müßten (M 238). Die neue Kultur, so EI Lissitzky, müsse sich in der Architektur von den "alten Methoden der alleinigen Betonung der Individualität" ein für alle Mal trennen (L 11 41 f). Das spießbürgerliche Ideal "Mein Haus - meine Festung" gehöre der Vergangenheit an. Daß damit eine alte Forderung der klassischen Utopietradition - mit der Individualität des Wohnens zu brechen - vom Suprematismus eingelöst wird, ist klar. EI Lissitzky weigert sich förmlich, von "Häusern" zu sprechen: Er ersetzt das Wort durch "Bauwerke", um den Begriff des "individuellen Hauses" zu überwinden (L 11 80). Ausdrücklich fordert er die "Gleichstellung aller Bevölkerungsschichten in ihren Bedürfnissen": Dieses Postulat sei "die wichtigste Grundlage für die Ausarbeitung eines (Wohnungs)typs, im Gegensatz zu den kapitalistischen Ländern, in denen eine vollkommene Anarchie der Bedürfnisse

7 Wells 1967: S. 9 f. 8 Belme 1925: S. 16. 9 A.a.O., S. 67.

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herrscht" (L 11 50). Von "gleichgestellten Bedürfnissen" ausgehend, habe der moderne Architekt die Wohnung so zu konstruieren, daß sie einem Reisekoffer gleicht, "wobei alles Notwendige, das Platz finden muß, beachtet und jeder Kubikzentimeter Raum" auszunutzen sei (L 11 56). Tatsächlich ist das Gesellschaftsbild des Suprematismus durch einen Holismus charakterisiert, dessen Antiindividualismus die utopischen Konstruktionen der klassischen Tradition am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Radikalität sogar noch übertrifft. Während z.B. ein utopischer Autor wie H.G. WeHs um die Jahrhundertwende forderte, die utopischen Konstrukte müßten in viel stärkerem Maße der Individualität Rechnung tragen als dies in der klassischen Tradition der Fall gewesen sei 10, wird man Malewitschs "Schwarzes Quadrat" kaum anders denn als ein Symbol der Abkehr von der menschlichen Subjektivität interpretieren können. Das Bewußtsein sei nichts weiter als Konvention, Annahme und Meinung (M 154). Auf die Kritik einer konkurrierenden Künstlerorganisation, die Suprematisten hätten keine Seele und ihren Werken fehle die Inspiration, antwortete Malewitsch: "Ja, Seele haben wir nicht! Ich verspüre Energie, aber keine Seele! Jetzt richtet man das Augenmerk auf die Technik, aber wer hat die Frage der Technik aufgeworfen? Wir. Technizismus, Konstruktivismus und Kompositivismus sind unsere Leitsätze" (Sh 293). An die Stelle der Subjektivität im Medium der Bildmalerei soll Allgemeines und Eindeutiges treten: Quadrat und Glaszylinder (L 11 371). Ohne Zweifel kommt, so Malewitsch, der gegenstandslosen Gleichheit des Suprematismus "vielleicht der Ingenieur bei der Konstruktion einer Maschine am nächsten. Bei der Maschine gibt es weder äußerlich noch innerlich wichtige oder unwichtige Teile. Sie funktioniert nur, wenn alle Teile funktionieren. Darin könnte man die Merkmale der gegenstandslosen Gleichheit erblicken, die in der weißen Gegenstandslosigkeit des Suprematismus uneingeschränkt zum Ausdruck kommt" (M 62). Die Erreichung dieses Ideals setze voraus, daß das Ich als Einzelwesen aufgelöst wird im "befreiten Nichts"(M 126). Bei EI Lissitzky ist gar vom "Verfall des vom Pesthauch des Individualismus umgebenen Subjekts" (L I 333) die Rede. Zustimmend zitiert er ein Flugblatt der UNOWIS, am Prozeß der Erschaffung einer neuen Kultur könne man nur auf dem Weg der Parteiorganisation teilnehmen. "Denn das Leben erkennt keine abgesonderte Persönlichkeit an" (L I 341 ). Neben dem Antiindividualismus ist der Technikkult gleichsam die zweite Säule der suprematistischen Gesellschaft. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß Malewitsch und seine Schüler von Anfang an eine neue Kultur forderten und jeden Rückgriff auf die Vergangenheit scharf ablehnten. Zwar erkannte der Suprematismus die Größe der antiken Klassik in ihrer Zeit voll an. Auch bestritt er nicht, "daß das Proletariat die klassische Antike kennen und ein richtiges 10

Wefls 1967: S. 36 f.

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Verhältnis zu ihr gewinnen muß" (M 329). Ebenso entschieden lehnte er aber die Auffassung ab, "daß die Antike noch heute zu uns paßt". Es sei ein Anachronismus, "antike Tempel, die sowohl den Heiden als auch den Christen genügten, nun auch als Klubhaus oder als 'Haus der Kultur' für das Proletariat anzuerkennen, auch dann, wenn diese Tempel nach den Führern der Revolution benannt und mit deren Bildern geschmückt werden sollten!" (M 240). Demgegenüber forderte er immer wieder eine Kultur, die sich auf der Höhe des wissenschaftlich-technischen Fortschritts bewegt und permanent mit deren Dynamik Schritt hält. Tatsächlich gerinnt die Parallelisierung - wenn auch nicht Ineinssetzung - von Kunst und moderner Technik in den Schriften der führenden suprematistischen Autoren zu einem schulernachenden Topos. Die Technik der Maschine und die Technik der Kunst, so lautet das suprematistische Glaubensbekenntnis, drücke die höchste Kraftentfaltung, die Dynamik der wissenschaftlich-technischen Zivilisation aus, nur daß die eine von reinen Nützlichkeitserwägungen ausgeht, die andere von ästhetisch-künstlerischen Gesichtspunkten (M 170). So gesehen blieben Kunst und Technik wohl zwei verschiedenartige Gebiete. Doch könnten sie einen "Doppelstern bilden, jeder mit eigener Logik seiner Bewegungen, mit eigener Mathematik ( ... )" (M 224). Dieser "Doppelstern", so EI Lissitzky, habe seine Identität darin, "daß die moderne Kunst ( ... ) auf ganz intuitiven und selbständigen Wegen zu denselben Resultaten gekommen (ist) wie die moderne Wissenschaft. Sie hat, wie die Wissenschaft, die Form bis auf ihre Grundelemente zerlegt, um sie nach den universellen Gesetzen der Natur wieder aufzubauen" (L I 352). EI Lissitzky nannte auch den Grund, warum sich der Suprematismus in einem Immediatverhältnis zur modemen Wissenschaft und Technik befindet. Wie diese gehe auch er von der Formel aus, daß jede Form das "erstarrte Momentbild eines Prozesses (ist). Also ist das Werk Haltestelle des Werdens und nicht erstarrtes Ziel" (L I 352). Gewiß, der Suprematismus war nicht blind gegenüber den Destruktionspotentialen der modernen Technik: Sie sei, so EI Lissitzky, durch den Ersten Weltkrieg "auf die Bahn der Verbreitung des Todes gedrängt" worden (L I 331). Doch zugleich lebte der Suprematismus von der Überzeugung, daß die Technik in dem Augenblick, in dem der sozialdarwinistische "Kampf ums Dasein" beendet sei, den Weg der konstruktiven Gestaltung einer neuen Zivilisation einschlagen werde. Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß an der Wiege des Suprematismus die futuristische Oper "Sieg über die Sonne" stand. Doch es ist nicht nur ihr von Malewitsch gestaltetes Bühnenbild in Form eines schwarzen Quadrates, sondern vor allem die Metapher des Operntitels selbst, die die zentralen Intentionen des Suprematismus symbolisiert: Der moderne Mensch reißt die Sonne als Ausdruck der alten Weltenergie vom Himmel herab, um sich kraft seiner technischen Kompetenz eine eigene Energiequelle zu schaffen (L I 353). Der Sieg der modernen Technik wird im Medium einer neuen Ästhetik gefeiert, wel-

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che sich als authentischer Ausdruck der wissenschaftlich-technischen Zivilisation begreift. Es liegt durchaus in der Logik des Suprematismus, wenn Malewitsch empfiehlt, daß "der Ingenieur, der Techniker ( ... ) als Erfinder den Erfindern von Staatssystemen als Vorbild dienen (sollte) mit seiner ewigen Veränderung der Systeme und Ablehnung veralteter Systeme". Man könne den Staat mit der Maschine eines Ingenieurs vergleichen. Nur wenn der Ingenieur die innere Gesetzmäßigkeit seiner Maschine bis in die letzte Einzelheit durchdenke, könne sie funktionieren. In analoger Weise vermeide ein Staat den Gesetzesbruch seiner Bürger erst dann, wenn der Gesetzgeber "alle Einzelteile seiner Staatsmaschinerie bis ins letzte durchdacht und alle möglichen Folgen überlegt habe" (M ISO). Wie sollte der "neue Mensch" beschaffen sein, der den Funktionserwartungen dieses perfekten Staates der zukünftigen wissenschaftlich-technischen Zivilisation entspricht? Die Autoren der klassischen Utopietradition waren sich darin einig, daß ihre fiktiven Gesellschaftsentwürfe nur funktionieren, wenn die Menschen den Individualismus des bürgerlichen Zeitalters überwanden. Ohne Zweifel liegt auch dem Suprematismus diese Prämisse zugrunde. Der "neue Mensch", so Malewitsch, habe sich von der utilitaristischen Motivation, "zu einem gemütlichen, bequemen Leben zu gelangen", emanzipiert (M 114). Er werde weder Bedürfnisse noch praktischen Nutzen kennen (M 188). Zugleich höre er auf, sich über die Arbeit zu definieren. Dies sei nur so lange der Fall gewesen, wie er sich sein Leben lang abmühen mußte, "um sich satt essen zu können, und darin unterscheidet er sich nicht vom Tier" (M 188). Diese Überwindung der rein animalischen Ziele des Menschen setze freilich den wissenschaftlich-technischen Fortschritt voraus. Es war explizit die utopische Hoffnung des Suprematismus, "daß die Menschheit in ihrer Entwicklung in ein Alter kommen muß, in dem sie die technisch-gegenständlichen Aufgaben nicht mehr befriedigen. Denn wenn alles vollendet ist und reibungslos funktioniert, dann muß der Mensch doch über seinen animalischen Zustand hinauswachsen" (M 115). Sei ihm dies endlich gelungen, so habe sich der Mensch der Zukunft im wahrsten Sinne des Wortes "entindividuiert". Ohne materielle Bedürfnisse und befreit vom Zwang entfremdeter Arbeit zum Zweck seines materiellen Überlebens, nehme er teil an der "schweigenden dynamischen Weisheit der kosmischen Erregung, diesem reinen, ziellosen, gegenstandslosen Wirken" (M 211). Hinter dieser mystischen Formulierung verbirgt sich die Vorstellung, daß sich die neuen Menschen im Medium der Kunst - "frei von allen politischen, staatlichen, gesellschaftlichen, gegenständlichen Gesetzen des praktischen Realismus" (M 115) - durch einen schöpferischen Akt im Einklang mit dem Kosmos befinden, in dem alle individualisierenden Differenzen beseitigt sind. Es ist dieser fast pseudoreligiöse Zug, der von Anfang an den Suprematismus vom bolschewistischen Sozialismus unterschied. Auch wenn der Kommunismus, "der die Arbeit auf den Thron setzte und der Suprematismus, der das Qua-

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drat des Schöpferischen" schuf, heute zusammengehen, schrieb EI Lissitzky 1920, so werde ersterer doch in der weiteren Entwicklung hinter letzterem zurückbleiben (L I 334). Zwar bestand ihm zufolge das Verdienst der "Kommune" darin, die Arbeit von der Ausbeutung befreit sowie diese zum Recht und zur Pflicht eines jeden einzelnen gemacht zu haben. Doch die Arbeit bringt auch im Sozialismus sozio-technische Superstrukturen hervor - so müssen wir EI Lissitzky interpretieren -, die das Proletariat unter seine dinghafte SachgesetzIichkeit zwingen. Auf dieser Stufe verharre der bolschewistische Sozialismus. Zwar stelle er, so Malewitsch, "die äußerste Grenze des menschlichen gegenständlichen Realismus dar" (M 109): Zweifellos werde er die wirtschaftlich-technische Entwicklung zu ihrer höchsten Vollkommenheit vorantreiben (M 110). Schriebe er freilich diese Ebene höchster Perfektion der gegenständlichen Welt fest, so bliebe der Mensch ein "mechanischer Kauapparat", für den die Welt nichts anderes sei als ein "zur Befriedigung der Freßgier brauchbares Objekt" (M 115). Tatsächlich wird die suprematistische Überbietung der kommunistischen Utopie genau in dem Maße deutlich, wie sie die menschliche Arbeit als das letzte Ziel der Gesellschaft ablehnt. Die Arbeit, so EI Lissitzky, sei zwar zur materiellen Reproduktion des Lebens notwendig; insofern ist sie "eine organische Tätigkeit wie der Schlag des Herzens, wie das Pulsieren der Arterien". Aber diese Funktionen könnten nur als "ein Merkmal des lebendigen Körpers, nicht (als) der Sinn des Lebens" gelten. Letzterer bestehe im reinen schöpferischen Akt, wie der Suprematismus ihn verkünde. Auch wer der authentische Parteigänger und Verkünder Utopias, der neue Hythlodeus, sei, der den Weg zur gegenstandslosen Welt der Zukunft weise, stand für EI Lissitzky 1920 fest: Es war Kasimir Malewitsch selbst (L 11 334). Der Suprematismus, so kann zusammenfassend festgestellt werden, unterschied sich vom Bolschewismus nicht dadurch, daß er ihn als eine historische Fehlentwicklung ablehnte. Das Verhältnis zu ihm war das einer kritischen Ergänzung: Er warf ihm vor, sein Ganzheits- und Homogenitätsdenken nicht radikal genug forciert und von den differierenden Traditionen der Vergangenheit befreit zu haben. Im übrigen ging er wie dieser von einem geschichtsphilosophischen Fortschrittsmodell aus, das die Vision einer harmonischen und differenzlosen Gesellschaft in die Zukunft projizierte. Dies vorausgesetzt, halte ich es für falsch, Malewitsch als Vertreter der Raum- und EI Lissitzky als Repräsentanten der Zeit-Utopie zu interpretieren 11, weil beide Autoren gemeinsam das suprematistische Utopia mit einer geschichtsphilosophischen Teleologie verbanden, deren vorletzte Etappe der bolschewistische Sozialismus war. So betonte Malewitsch immer wieder, "daß die echte menschliche ungegenständliche Gleichheit, die frei von jedem Daseinskampf ist, zunächst durch die gegenständliche Lehre 11 Vgl. Gaßner 1992: S. 52 und 61.

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des Sozialismus hindurchschreiten muß, ehe sie in die Gegenstandslosigkeit des Suprematismus übergeleitet werden kann" (M 115). Und EI Lissitzky konstruierte 1920 ein geschichtsphilosophisches Evolutionsmodell, wonach "auf das alte Testament das neue, auf das neue das kommunistische und auf das kommunistische schließlich ( ... ) das Testament des Suprematismus" folgte (L I 334).

IH. Der Angriff des Suprematismus auf das "Ich" war von einer solchen Intensität. daß er seIhst den Kollektivismus der Bolschewiki in den Schatten stellte. Bereits um 1920 wurde eine Antwort auf diese suprematistische Herausforderung formuliert, die als die erste klassische "schwarze" Utopie gelten kann. Jewgenij Samjatin stellte zwei Fragen ins Zentrum seines fiktiven Szenarios "Wir": Wie sieht die Gesellschaft aus, wenn in ihr die ästhetischen Forderungen der Suprematisten nicht bloße Provokation, sondern praktizierte Wirklichkeit sind? Und wie ist die Gesellschaft zu beurteilen, wenn das normative Maß menschlicher Verhältnisse jene persönliche Integrität bleibt, in deren Namen sich die frühe Moderne des 17. und 18. Jahrhunderts von den Fesseln der traditionalen Gesellschaft zu befreien begann? Daß Samjatin in der Tat auf die wichtigsten Forderungen der Suprematisten reagierte, indem er deren Logik zu Ende dachte und gleichzeitig in kritischer Absicht zu einem fiktiven sozio-politischen System komprimierte, geht aus vielen Passagen seines utopischen Romans hervor. So trug das Flugblatt der UNOWIS in Witebsk, der Hochburg des Suprematismus, den Titel "Wir". "Wir" ist aber auch der Name des utopischen Romans von Samjatin. EI Lissitzky kennzeichnete seine Proulle nach Buchstaben und Zahlen, z. B. 23 N etc. Auch die Namen der Personen in Samjatins Roman sind auf Nummern reduziert: D-503 etc. Der Suprematismus wollte die "Seele" aus der Kunst verbannen; in Samjatins Roman tritt sie, soweit residual überhaupt noch vorhanden, als Anachronismus im Funktionsgefüge der Gesellschaft in Erscheinung. Der Suprematismus orientierte seine Ästhetik, wie wir sahen, an der damals fortgeschrittensten Technologie, der Luftfahrt. In Samjatins "schwarzer Utopie" ist der Ich-Erzähler Ingenieur des ersten Raketenflugzeugs "Integral", das auf den Start ins Weltall zur Eroberung anderer Planeten vorbereitet wird. Vor allem aber finden wir in Samjatins Roman alle Ebenen jenes utopischen Musters wieder, der für den Suprematismus charakteristisch ist: Nur schlagen die von ihm positiv gemeinten Perspektiven, oft in ironisierter Form, ins Negative um. Allerdings, Samjatin interpretierte das, was im Suprematismus ein Zukunftsszenario war, als Gegenwart: Entsprechend wird die Zeitdiagnose zur Vergangenheitskritik. Als deren Signum aber erscheint - wie in der suprematistisehen Bestandsaufnahme - das umfassende Chaos, hervorgerufen durch die unbe-

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rechenbare menschliche Subjektivität und den "Kampf ums Dasein", dessen Triebkräfte der Hunger und die Liebe sind. Der Traditionsbruch mit dieser alten Welt wird in Samjatins "Wir" durch einen 200jährigen Krieg vollzogen. Nach dessen Ende isoliert sich die neue Zivilisation des "Einzigen Staates" vom Rest der Welt durch die sogenannte "Grüne Mauer": Während sich das jenseits von ihr gelegene Land in eine totale Wildnis verwandelt, werden im "Einzigen Staat" die entscheidenden Ursachen der Konflikte der alten Welt beseitigt. Durch die künstliche Naphta-Nahrung wird der Hunger erfolgreich bekämpft, und durch die "lex sexualis" bringt der Staat den Geschlechtstrieb unter Kontrolle (Sa 24 f.). Gewiß, in den suprematistischen Schriften bleibt das politische System weitgehend eine Leerstelle. Doch den Pluralismus in der Kunst, den er als "Eklektizismus" kritisierte, lehnte er mit allen Mitteln kompromißlos ab. Wie konnte er sich, zur politischen Macht gelangt, anders verwirklichen als durch die Diktatur? Samjatin hat diese Konsequenz benannt. Dem "Wir" korrespondiert ein totalitäres System. Ihm gelingt es zwar nicht, die menschliche Subjektivität vollständig auszurotten. Aber das System ist in seinen Bemühungen, eine alle Lebensbereiche durchdringende Transparenz zu verwirklichen, weit fortgeschritten. Zu ihrem sinnlich manifesten Ausdruck gelangen diese Bemühungen durch eine Geometrisierung des utopischen Raumes, die ihre Affinität zum suprematistischen Selbstverständnis nicht leugnen kann. Zunächst fällt auf, daß Ästhetik im Sinne des Suprematismus gleichgesetzt wird mit der "Schönheit des Quadrats, des Würfels und der Geraden" (Sa 22). Die Faszination der "makellosen geometrischen Schönheit" (Sa 164) besteht in ihrer Eindeutigkeit: Daß die vier Seiten eines Quadrates gleich lang sind, ist kein vom Bewußtsein zu reflektierender Tatbestand. Dem Primat der Eindeutigkeit, in dessen Licht die moderne Technik zu einem "vom bläulichen Sonnenlicht überfluteten Maschinenballett" (Sa 7), ja, zu einem "Gesamtkunstwerk" - wenn auch ironisch verfremdet - mutiert, entspricht die konsequente Festlegung des utopischen Raumes auf geometrische Formen und mathematische Strukturen. "Wir werden die wilde, krumme Linie geradebiegen", so heißt es programmatisch, "sie zur Tangente, zur Asymptote machen. Denn die Linie des Einzigen Staates ist die Gerade. Die große göttliche, weise Gerade, die weiseste aller Linien" (Sa 6). Von dieser Prämisse geht - wie im Suprematismus - die Stadtplanung, die Architektur und die Formierung der Massen aus: Die Straßen sind "schnurgerade", die Wohnhäuser haben die Form langgestreckter Kuben und die blaugrauen Marschblöcke bewegen sich in "quadratischer Harmonie" voran (Sa 9). Eindeutigkeit bedeutet immer auch Transparenz: Das architektonisch bevorzugte Material ist denn auch das durchsichtige Glas. Aus ihm bestehen nicht nur die "Grüne Mauer", sondern auch alle Gebäude (Sa 7) und selbst die Einrichtung der Zimmer wie Stühle, Tische, Schränke und Betten (Sa 42). Schon ist der Zustand absehbar, "daß es morgen überhaupt keine Schatten mehr geben wird,

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weder von einem Menschen noch von einem Gegenstand; die Sonne wird alles durchdringen" (Sa 170). Wenn die Architektur dem einzelnen konsequent den Rückzug in unkontrollierte Räume versperrt, ist nur zum Ausdruck gebracht, was der Suprematismus immer gefordert hat: rigiden Antiindividualismus, der sich in einem homogenisierenden Ganzheitsentwurf des utopischen Raumes vollendet. Schon zu Beginn des Romanes bekennt der Ich-Erzähler, Ingenieur D-503, er könne nicht wiedergeben, was ER, sondern im Grunde nur was WIR denken, "und deshalb sollen meine Aufzeichnungen den Titel WIR tragen" (Sa 6). Dieser Holismus wird in Samjatins Roman an verschiedenen Stellen metaphorisch weiter überhöht. "Stellen Sie sich einen einzelnen Finger vor", so wird die totale Abhängigkeit des Individuums von der ihm umgebenden gesellschaftlichen Totalität illustriert, "der vom Ganzen, von der Hand, abgeschnitten ist, einen einzelnen Finger, der geduckt mit langen Schritten über die gläsernen Bürgersteig eilt" (Sa 99). Diese Absorption des Ich vom Ganzen findet einen ähnlichen Ausdruck in dem Bild zweier Waagschalen: " ... auf der einen liegt ein Gramm, auf der anderen eine Tonne, auf der einen das Ich, auf der anderen das Wir, der Einzige Staat. Dem Ich irgendwelche Rechte dem Einzigen Staat gegenüber einzuräumen, wäre das gleiche, wie wenn man behaupten wollte, daß ein Gramm eine Tonne aufwiegen könne. Daraus ergibt sich der Schluß: Die Tonne hat Rechte, das Gramm Pflichten, und der einzige natürliche Weg von der Nichtigkeit zur Größe ist: Vergiß, daß du nur ein Gramm bist, und fühle dich als millionsten Teil einer Tonne" (Sa 109). Mit dieser "weisen" Erkenntnis marschieren die einzelnen uniformiert zu den Klängen der Staatshymne, "gleich einer Armee, so, wie sie auf assyrischen Reliefs dargestellt ist: Tausend Köpfe, zwei Beine, zwei emporgestreckte Arme" (Sa 118), und jeder von ihnen empfindet sich nur als "eine der unzähligen Wellen des gewaltigen Stroms" (Sa 9): "Tausende Füße im gleichen Schritt, ein millionenfüßiger Leviathan" (Sa 84). Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, daß der von den Suprematisten propagierte Ganzheitsentwurf in sein dialektisches Gegenteil umschlägt: Malewitschs "befreites Nichts" wird von Samjatin als der äußerste Grad der Versklavung der Individuen entlarvt. Es lag, wie gezeigt, in der Logik des Suprematismus, daß er die "Seele", die reflektierende Subjektivität, aus der Kunst verbannen wollte. Samjatin weitet dieses Verdikt auf alle Lebensbereiche aus: Immer dort, wo sich Individualität und ihr Korrelat, die spontane Emotion, äußert, ist von einer Krankheit, ja, einer Epedemie die Rede. Sie unter Kontrolle zu halten, ist das große Ziel der gläsernen und überraschungslos gewordenen Zivilisation des "Einzigen Staates". Das Gebot der Transparenz duldet kein Briefgeheimnis; schriftliche Mitteilungen werden von Kontrolleuren gelesen (Sa 53 f.). Dasselbe trifft für alle mündlichen Äußerungen zu: Membrane hängen, elegant dekoriert, in allen Straßen und registrieren die Gespräche der Passanten für das Beschützeramt (Sa 53f). Überhaupt ist das Leben der auf Nummern reduzierten Personen

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vollständig von der sogenannten "Stundentafel" reglementiert. "Jeden Morgen stehen wir, Millionen wie ein Mann zu ein und derselben Stunde, zu ein und derselben Minute auf. Zu ein und derselben Stunde beginnen wir, ein Millionenheer, unsere Arbeit, zur gleichen Stunde beenden wir sie. Und zu einem einzigen, millionenhändigen Körper verschmolzen, führen wir in der gleichen, durch die Gesetzestafel bestimmten Sekunde die Löffel in den Mund, zur gleichen Sekunde gehen wir spazieren, versammeln uns zu den Taylor-Exerzitien in den Auditorien, legen uns schlafen ... " (Sa 15). Zwar ist die Lösung des Problems Glück noch nicht vollständig gelungen. Noch wird zwei Mal am Tag von 16 bis 17 und von 21 bis 22 Uhr durch "Persönliche Stunden" den Restbeständen an "Seele" und Individualität Rechnung getragen. Aber schon ist absehbar, daß auch dieses Relikt der Subjektivität auf eine allgemeine Formel gebracht und die "Gesetzestafel sämtliche 86.400 Sekunden des Tages umfassen wird" (Sa 16). Es kommt eine weitere gemeinsame Schnittmenge hinzu, die das suprematistische Zukunftsszenario mit Samjatins "Wir" verbindet: die konstitutive Bedeutung von Wissenschaft und Technik. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß Samjatin das Raketenflugzeug Integral zum Symbol seines "Einzigen Staates" erhebt. Es handelt sich um das fortgeschrittenste Produkt einer Maschinenwelt, die sich vollständig von der primären Natur emanzipiert und ihre eigenen soziopolitischen Superstrukturen gleichsam als eine Art sekundärer Natur mit künstlichen Sachzwängen aus sich hervorgetrieben hat. Doch während im suprematistische Entwurf im wissenschaftlich-technischen Fortschritt die Voraussetzung für das Ende des "Kampfs ums Dasein" und damit die Befriedung der Welt sah, hat er im Einzigen Staat den Status eines Unterdrückungsinstruments par excellence. Nach außen steht die Spitzentechnologie im Dienst der Unterwerfung anderer Planeten "unter das segensreiche Joch der Vernunft" (Sa 5), und dem Konstrukteur des Raumschiffes wird folgerichtig die Rolle eines "großen Konquistador" zugemutet, "dessen Name einen neuen glanzvollen Abschnitt in der Geschichte des Einzigen Staates einleiten sollte" (Sa 195). Nach innen ist Wissenschaft und Technik durch das Ziel festgelegt, noch die Spuren von Subjektivität und "Seele", die das reibungslose Funtionieren des Ganzen stören könnten, zu entfernen. Das, was der Suprematismus als "Entrümpelung des Bewußtseins" forderte, wird gleichsam mit technischen Mitteln verwirklicht: Der staatlichen Wissenschaft ist es gelungen, das Zentrum der Phantasie, einen winzigen Knoten an der Gehirnbasis, durch dreimalige Bestrahlung aufzulösen. "Ihr seid vollkommen, ihr seid wie Maschinen, der Weg zum vollkommenen Glück ist frei. Kommt in die Auditorien und laßt euch operieren. Es lebe die Große Operation, es lebe der Einzige Staat! Es lebe der Wohltäter!" (Sa 167). Doch Samjatins "Wir" reagiert nicht nur auf die Geometrisierung des utopischen Raumes, auf das anti individualistische Ganzheitsdenken und auf den Wissenschafts- und Technikkult des Suprematismus; sein utopisches Konstrukt rea-

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giert zugleich auf den Geltungsanspruch einer Zukunfts vision, die, wie wir sahen, die Fonn einer Zeit-Utopie angenommen hatte. Auch Samjatins "Einziger Staat" hat seine Potenzen noch keineswegs vollständig verwirklicht, weil "der Prozeß der Verhärtung, der Kristallisation des Lebens, noch nicht abgeschlossen ist. Wir sind noch einige Schritte vom Ideal entfernt. Das Ideal ist dort, wo nichts mehr geschieht" (Sa 26). Wie das "befreite Nichts" Malewitschs versteht sich auch dieses Projekt einer perfekten wissenschaftlich-technischen Zivilisation als dem weiteren Fortschritt dienlich. Aber im Unterschied zu den Suprematisten zieht Samjatin die unverhüllt terroristische Konsequenz (Sa 110): Den Fortschritt mit allen Mitteln, auch mit der Folter und der physischen Liquidierung von Menschen, zu unterstützen, gilt als Selbstverständlichkeit. Vor etwa fünfhundert Jahren, heißt es, wurden diese Methoden "mit der Inquisition unserer Vorfahren verglichen, doch das ist genauso absurd, wie wenn man einen Chirurgen, der eine Tracheotomie-Operation durchführt, auf eine Stufe mit einem Mörder stellen wollte. Beide gebrauchen vielleicht das gleiche Messer, beide führen die gleiche Operation durch - sie schneiden einem Menschen die Kehle durch: Der eine ist ein Helfer der Menschheit und der andere ein Verbrecher" (Sa 77f).

IV. Samjatins Kritik am antiindividualistischen Ganzheitsdenken des Suprematismus wirft zwei Fragen auf, denen ich mich abschließend zuwende. (I) Bezeichnet die kollektive Spielart der Moderne, von der sich der Suprematismus inspirieren ließ, eine Entwicklungsperspektive, die dem einzelnen als unentrinnbares Schicksal gegenübertritt? (2) Will Samjatin mit seinem "schwarzen" Zukunftsszenario die Moderne verabschieden? Oder beabsichtigt er nur deren Selbstkorrektur? Was die erste Frage betrifft, so fällt auf, daß Samjatin den Einzigen Staat trotz seiner totalitären Manipulations- und Repressionsmechanismen als ein erstaunlich fragiles Gebilde schildert: Er kann nicht verhindern, daß eine Fundamentalopposition bis zu den Schaltstellen der Macht vordringt und selbst den Spitzentechniker des Systems zeitweise für ihre Ziele instrumentalisiert. Tatsächlich wird D-503 als kreativer Ingenieur vorgestellt, der freilich gerade dadurch, daß er über schöpferische Phantasie verfügt, in den erotischen Bann einer oppositionellen Aktivistin gerät. Diese Beziehung, die seine Ich-werdung vorantreibt, löst in ihm zugleich eine tiefe Identitätskrise aus, die sich am Ende des Romans zu einer solchen des gesamten Systems ausweitet. Die Reaktion des Systems auf die Infragestellung seiner Fundamente ist charakteristisch: Es antwortet auf die spontanen und unkontrollierbaren Äußerungen der "Seele", die sich wie ein Lauffeuer verbreiten, mit der Operation des Gehirnchirurgen, der sich jedes Mitglied des Einzigen Staates unterziehen muß. Daß dieser Schritt je-

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doch im höchsten Maße selbstdestruktiv ist für eine wissenschaftlich-technische Zivilisation, die sich dauerhaft nur durch permanente Innovationsschübe zu behaupten vermag, wird deutlich, wenn wir die "neuen", ihrer Phantasie und "Seele" beraubten Menschen betrachen. Aus der geöffneten Tür des Operationssaales, so erfahren wir, "kam eine Kolonne von etwa fünfzig Menschen herausgestampft. Menschen ist nicht das richtige Wort - nein, es waren keine Füße, sondern schwere, von einem unsichtbaren Triebwerk bewegte Räder, es waren keine Menschen, sondern Traktoren in Menschengestalt ( ... ). Unaufhaltsam pflügten sie durch die Menge, und wenn statt unserer blaugrünen Reihen ihnen eine Mauer, ein Baum, ein Haus im Wege gestanden hätte, hätten sie alles niedergewalzt" (Sa 174). Auch auf die zweite Frage gibt Samjatins Text eine klare Antwort. In dem Roman findet sich an keiner Stelle ein Hinweis, daß der Autor dem Leser die Rückkehr zu vormodernen traditionalen Gesellschaftsformationen als Alternative zum Totalitarismus des "Einzigen Staat" empfiehlt. Das Gegenteil scheint der Fall. Denn auch die Reste der alten Zivilisation jenseits der Grünen Mauer, an die die Fundamentalopposition anknüpft, haben wenig zu bieten. Von ihr blieben nur Ruinen zurück, die von einer eher menschenfeindlich geschilderten Wildnis überwuchert sind. Zwar überlebte in ihr eine Gruppe von Menschen den 200jährigen Krieg, aber sie sind, nackt und mit Haaren bedeckt, auf vorzivilisatorische Standards zurückgefallen, umgeben von einer undurchdringlichen Vegetation und von Tieren, "die ihre gelben Zähne fletschen" (Sa 180). Die Botschaft von Samjatins "Wir", so scheint es, ist weder die Rückkehr zu traditionalen Gesellschaftsformationen noch gar die Option für einen vormodernen Naturfundamentalismus. Sie versucht vielmehr, an der humanen Substanz des modernen Individualisierungsprozesses festzuhalten, wohl wissend, daß dieselbe Dynamik, die die moderne Subjektivität ermöglichte, sie auch unter bestimmten Voraussetzungen wieder zu zerstören vermag. Was bedeutet das für den Geltungsanspruch des Suprematismus? Zieht man ein Resümee seiner Wirkungsgeschichte, so fällt die Bilanz ernüchternd aus. Zunächst verdeutlicht Samjatins Kritik, daß das Scheitern des suprematistischen Experiments, das sich bereits Anfang der zwanziger Jahre abzeichnete, nicht nur den repressiven Rahmenbedingungen des sich herausbildenden "Stalinismus" geschuldet ist; der Suprematismus selbst hat ihm Vorschub geleistet, indem er sich durch seine Ablehnung der individuellen Verantwortung des Künstlers und seiner Subjektivität externen Mächten verfügbar machte l2 . Noch schwerer aber wiegt, daß die dem Suprematismus zugrundeliegende Utopie die Grundlagen insbesondere der modernen Architektur und Stadtplanung in entscheidender Weise mitgeprägt hat. Diese Utopie war erstaunlich realistisch: Sie trug erheb-

12 Vgl. zu dieser Problematik insbesondere Gaßner 1992: S. 63 ff. und Saage 1994: S. 77 f.

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lich dazu bei, daß "der Mensch als Subjekt und Individuum aus dem Blickfeld geraten und zur anonymen Planungsvariante verkommen")3 ist, diesseits und jenseits des Realsozialismus. Bruno Taut brachte den modernen Antiindividualismus bereits 1919 auf seinen entlarvenden Begriff, als er seiner "Alpinen Architektur" das Motto voranstellte: "Aediftcare necesse est. vivere non est necesse" (Bauen ist notwendig, zu leben dagegen nicht)14. Von dieser Prämisse bis zur ihrer Ausführung in Gestalt der "Wohnmaschine" Le Corbusiers ist nur ein kurzer Weg. Allerdings, der Suprematismus klagte durch seine ästhetischen Konstrukte das Recht der wissenschaftlich-technischen Zivilisation auf einen authentischen kulturellen Ausdruck in bahnbrechend kühner Weise ein. Ist dies der Grund, warum viele seiner ästhetischen Muster den Betrachter noch heute unmittelbar ansprechen und faszinieren, obwohl die ihnen zugrundliegende gesellschaftliche Utopie ein historischer Irrweg war? Oder verfügen sie doch über einen "überschießenden Gehalt" des künstlerischen Ausdrucks, der ihre Gebundenheit an jenes utopische Gesellschaftsszenario zumindest punktuell sprengt, in dessen Kontext sie entstanden?

13 Fischer 1992: S. 358.

14 Zit. n. Fischer 1992: ebd.

Geometrische Muster zwischen frühneuzeitlicher Utopie und russischer Avantgarde*

I. Die Utopieforschung hat bisher weitgehend vernachlässigt, was im Zentrum der frühneuzeitlichen Entwürfe einer alternativen Gesellschaft steht, nämlich die an geometrischen Fonnen orientierte architektonische und stadtplanerische Gestaltung des fiktiven Raumes. Es ist kein Zufall, daß in der groß angelegten Bilanz der Utopieforschung, die Wilhelm Voßkamp 1982 herausgegeben hat l , ein Bericht über den Forschungsstand der Korrelation von Utopie und Stadtplanung bzw. Architektur fehlt, weil es eine solche Auseinandersetzung, die diesen Namen verdiente, bisher nicht gegeben hat. Umgekehrt handelte die kunstgeschichtliche Forschung die utopischen Modelle unter dem Oberbegriff "Architekturtheorie" ab. Diese Rezeptionsversuche standen aber im Schatten zweier Defizite. Die eine Interpretationsrichtung glaubte nämlich, die utopische Dimension von Stadtplanung und Architektur als ein randständiges Phänomen ignorieren zu können. So erwähnte zwar Albert Erich Brinkmann Freudenstadt mehrfach. Aber er ordnete sie pauschal der deutschen Renaissance zu. Daß Freudenstadt nicht nur in der Tradition der Idealstadt-Entwürfe steht, sondern auch Johann Valentin Andreaes utopischen Christianopolis-Entwurf beeinflußt hat, war für ihn kein Thema2 . Wenn aber der utopische Ansatz der jeweiligen kunstgeschichtlich relevanten Entwürfe ernst genommen wurde, blieb unklar, auf welchen Utopiebegriff sich diese Aussagen gründeten. Infolgedessen konnten die bisherigen kunstgeschichtlichen Versuche, das Utopische an den Gegenständen selber zu zeigen, auch nur selten überzeugen. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, daß es eine Monographie gibt, die als Pionierstudie der "Städte in Utopia" gelten muß. Ausgehend von der Beschäftigung mit der Geschichte der Architekturtheorie hat Hanno-Walter Kruft

* Erstmals erschienen in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 8/96, 44.Jg. (1996), S. 677-692. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Metropol- Verlages. Dieser Aufsatz ist in Kooperation mit Eva-Maria Seng entstanden. I Im folgenden wird zitiert nach Voßkamp 1985. 2 Vgl. Brinkmann 1921: S. 135 f., 174 f., 190. 3 Sa.gc

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die gleichnamige Untersuchung 3 vorgelegt, in der - so der Untertitel - "Die Idealstadt vom 15. bis zum 18. Jahrhundert" untersucht wird. So bedeutend und richtungweisend dieses Werk auch ist: Es enthält einige Annahmen und Prämissen, von denen wir glauben, daß sie noch zu sehr dem herkömmlichen Umgang der Architektur- und Kunstgeschichte mit der Utopieproblematik verhaftet sind. Das Paradigma, in dessen Rahmen im folgenden ein Vergleich zwischen der Architektur und Stadtplanung in den utopischen Konstrukten der Frühen Neuzeit bzw. deren verschwiegenen Vorbildern und der russischen Avantgarde durchgeführt werden soll, unterscheidet sich dann auch von dem Kruftschen Ansatz in drei Punkten: 1. In Krufts Untersuchung bleibt unklar, von welchem Utopiebegriff er ausgeht. Offenbar rekurriert er aber auf den Blochschen Ansatz, ohne ihn freilich von konkurrierenden Konzepten wie dem totalitären Utopiebegriff bei Popper oder aber von dem klassischen, auf Morus zurückgehenden Muster hinreichend abzugrenzen 4. So behauptet er im Sinne Blochs, der Grad an utopischem Gehalt bemesse sich daran, wie das Konstrukt gleichsam "unsichtbar", also ohne klare Konturen, bleibe 5 . Dieser eher latente Bezug auf Blochs Prinzip Hoffnung ist nun aber mit Krufts eigenen Erkenntnisinteressen nicht vereinbar. In dem Maße nämlich, wie das Utopische bei Bloch gerade die Konzipierung eines klaren GeseIlschaftsmodells vermeidet, kann auch nicht in den Blick geraten, was Kruft untersuchen will: dessen "ideale" Umsetzung in spezifische Architektur- und Stadtplanungsmuster, die er unter den Begriff "Ideal stadt" subsumiert. Demgegenüber gehen wir vom klassischen Utopiebegriff aus. Er gewährt uns den Vorteil, daß Morus, Campanella, Andreae u.a. genügend Details ihrer utopischen Idealstadt beschrieben haben: Sie lassen sich in ihrer Fülle und Differenziertheit zwanglos zu einem Paradigma verdichten, auf dessen analytischer Folie Kontinuität und Wandel einer bestimmten, an geometrischen Vorbildern orientierten Archiktektur und Stadtplanung abgebildet werden können. 2. Im Gegensatz zu Kruft ist für uns die Frage, ob utopische Stadtkonzeptionen und entsprechende architektonische Muster verwirklicht wurden, von sekundärer Bedeutung. Während Kruft es ausschließlich "um den Berührungspunkt von Utopie und Wirklichkeit in der realisierten Idealstadt"6 geht, interessiert uns in diesem Aufsatz das fiktive Muster als solches. So läßt Kruft ohne hinreichende Begründung die Tradition des Idealstadt-Denkens, dessen experimenteller Charakter an kleine, überschaubare Siedlungseinheiten gebunden bleibe, mit der Französischen Revolution abbrechen, weil mit der Industrialisierung und der von ihr induzierten Urbanisierung ein neuer Städtetypus im Zeichen der soziali3 KrI~ft 1989. 4 Vgl. zu den Unterschieden dieser drei Ansätze Saage 1995: S. 2-8. 5 KrI~ft 1989: S. 15. 6 A.a.O .. S. 11.

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stischen Utopie entstanden sei 7 . Demgegenüber wollen wir Kontinuität und Wandel jener fiktiven Formprinzipien untersuchen, die sich sowohl in der Stadt der vorindustriellen Epoche als auch während der Industrialisierung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auffinden lassen. Unser Erkenntnisinteresse will herausfinden, ob und in welcher Weise formale Muster der Utopie- und Kunstgeschichte in sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten verändert oder tradiert wurden. 3. Nach Kruft schließen sich Utopie und Wirklichkeit per se aus 8. Aber diese These unterläuft er bereits selber, indem er betont, daß die Utopie auf den Möglichkeitscharakter der Realität verweist9 : Sie entwirft also etwas, das nicht ist, aber sein könnte. Wir fügen dieser Einschränkung noch eine weitere Relativierung hinzu. In der Perspektive unseres dem klassischen Utopiebegriff verpflichteten Paradigmas mag Krufts These zwar für die Raum-Utopien gelten, wenn man unter "Verwirklichung" die revolutionäre Umwälzung der Gesamtgesellschaft versteht, in der das utopische Konstrukt entstand. Sie ist aber nicht mehr übertragbar auf die Zeit-Utopien, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert hegemonial waren 10. Denn bekanntlich wird dieser Utopietypus gerade dadurch definiert, daß das in die Zukunft projizierte utopische Konstrukt von der Wirklichkeit eingeholt wird: Das als machbar erkannte Fiktive tritt mit dem Anspruch auf, auch tatsächlich verwirklicht zu werden. Während man daher in den Raum-Utopien eine Transformationsstrategie vergebens sucht, ist die Zeit-Utopie substantiell auf sie verwiesen, ja, sie avanciert zu einem ihrer konstitutiven Bestandteile. Dies vorausgesetzt, stellt für uns - im Gegensatz zu Kruft - die Unterscheidung zwischen der Raum- und der Zeit-Utopie ein wichtiges Kriterium des Wandels der gemeinsamen Schnittmenge von Utopie und Architektur bzw. Stadtplanung dar: Sie signalisiert den Übergang von der Statik zur Dynamik bei der Gestaltung des utopischen Raumes. Die folgenden Ausführungen erheben nicht den Anspruch, das genannte Forschungsdesiderat zu beheben. Aber sie wollen die Umrisse eines Forschungsfeldes analytisch verdeutlichen, das sowohl für die Utopieforschung als auch für die Kunstgeschichte von erheblicher Bedeutung ist. In Teil I dieses Aufsatzes wird es daher darauf ankommen, eine Art heuristisches Modell zu entwerfen, innerhalb dessen die spezifischen architektonischen und städtebaulichen Merkmale der Renaissance-Utopien zu einem konsistenten Szenario entwickelt werden. In Teil 11 sollen dann die Quellen verdeutlicht werden, aus denen das frühneuzeitliche Utopiekonzept seine Inspiration, aber auch sein spezifisches "Feindbild"

7 A.a.O., S. 17. 8 A.a.O., S. 11. 9 A.a.O., S. 14 f. 10 Zur Unterscheidung zwischen Raum- und Zeitutopie vgl. grundlegend Koselleck 1982: S. 1-14.

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bezog: Die nicht selten im Auftrag frühabsolutistischer Herrscher konzipierten "Idealstädte". Schließlich wird es in Teil III anhand einer kurzen Fallstudie der russischen Anvantgarde in Gestalt des Suprematismus und Konstruktivismus darauf ankommen, die Rezeption der klassischen Muster und ihre Umformung im Medium der ästhetischen Moderne nachzuzeichnen. Wir wählten das russische Beispiel, weil in diesem Land der utopische Diskurs zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine radikalste Ausprägung fand und städtebauliche sowie architektonische Modelle mit einbezog.

11. Wer die Vorläufer bzw. die Erben der klassischen Tradition utopischer Architektur- und Stadtplanung analysieren will, kommt um die Benennung dessen, was als Idealtypus der Gestaltung utopischer Räume gelten kann, nicht herum. Es ist oft zu Recht darauf hingewiesen worden, daß das Mittelalter einen solchen Idealtypus nicht hervorbringen konnte, weil ihm das utopische Denken im hier gemeinten Sinn fremd sein mußte: Wenn unterstellt wird, daß Gott - selbst in korrumpierter und depravierter Weise - in der irdischen Ordnung präsent ist, kann es eine weltimmanente Alternative nicht geben; die vorhandene Wirklichkeit vermag sich dann nur eine Form der Überhöhung zu geben, nämlich die eschatologische Verheißung!!. So verstanden, ist Utopie Menschenwerk. Ihr immanentes Kriterium besteht in dem fiktiven Nachweis, wie eine auf menschliche Arbeit gegründete vollkommene Gesellschaft in einer tendenziell säkularisierten Welt funktionieren kann. Demgegenüber ist Eschatologie nicht als ein präzise funktionierendes Gesellschaftsmodell zu definieren. Als heilsgeschichtliche Konzeption verlagert sie vielmehr die Erlösung der Menschheit ins Jenseits!2. Im Blick auf die Architekturgeschichte bedeutet dies, daß die eschatologische Vision des "himmlischen Jerusalem" in den Kathedralen der mittelalterlichen Stadt ihren bildhaften Ausdruck fand. Zwar gab und gibt es verschiedene Typen der mittelalterlichen Stadtgrundrisse. Aber sie waren nicht Ausfluß eines nach rationalen Kriterien entwickelten Planes. Wer nämlich das Spezifische des utopischen Weltentwurfs, wie er sich in Architektur und Stadtplanung niederschlägt, erkennen will, ist gut beraten, sich das Bauprinzip der mittelalterlichen Welt klar vor Augen zu führen: Ihr ruhender Pol ist jene im Kosmos verankerte Ordnung, die die Interdependenz ihrer Teilbereiche durch deren Einbindung in eine Hierarchie abgestufter Seinsqualitäten ermöglicht. Auch der Rang der Gebäude und ihrer Architektur legitimierte sich durch die Geltung der jeweiligen Seinsqualität, die er zu repräsentieren vorgab.

11 V gl. 12 V gl.

hierzu Nipperdey 1962: S. 364. hierzu Kiinzli 1989: S. 27 f.

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Demgegenüber ist das utopische Denken von Anfang an mit einem Anspruch aufgetreten, der die mittelalterliche Welt mit neuen architektonischen und städtebaulichen Standards konfrontierte. Wir möchten folgende Aspekte nennen: An erster Stelle ist die Tatsache zu erwähnen, daß die utopische Stadt mit den traditionellen Vorgaben ihrer Herkunftswelt bricht. Sie entsteht gleichsam auf einer "tabula rasa". Indem sie die historisch gewachsenen Fonnen des Mittelalters auf den Nullpunkt zurückführt, eröffnet sie einen Raum, welcher von Grund auf neu gestaltet werden kann. Der Baustoff, aus dem diese neue Welt errichtet wird, ist die säkularisierte Vernunft bzw. die durch Vernunft gezügelte Phantasie der Menschen. Ihre Orientierung gewinnt sie nicht aus einem in der Transzendenz verankerten Kosmos hierarchischer Seinsqualitäten, sondern aus der Rationalität geometrischer Basisfiguren wie dem Quadrat, dem Rechteck oder dem Kreis. Sie werden bereits durch den geographischen Grundriss der "Utopia" des Thomas Morus symbolisiert. So bilden deren Küsten "einen wie mit dem Zirkel gezogenen Kreisbogen von fünfhundert Meilen Umfang und geben der ganzen Insel die Gestalt des zunehmenden Mondes" 13. Stadtgestaltung und Architektur verstehen sich nicht länger mehr als eine Anpassung an aus der Tradition entstandene oder natürliche Gegebenheiten; vielmehr vollziehen sie sich in berechenbaren Formen, die der Natur von außen aufgezwungen werden. Sodann ist die Stadtgestaltung keine bloße Fortsetzung traditionaler Urbanität, sondern Ausfluß von Planung und bewußter Konstruktion. So wurde der gesamte Plan von "Amaurotum", der Hauptstadt Utopias, von ihrem Gründungsvater selbst konzipiert. Lediglich die Ausgestaltung dieser Vorgabe war das Werk späterer Generationen. Der Grundriß der utopischen Stadt selbst ist quadratisch l4 . Ihre Festlegung auf abstrakte geometrische Grundfonnen ennöglicht ein Höchstmaß von Homogenität. Tatsächlich stimmen alle 45 Städte Utopias nicht nur in Sprache, Sitten, Einrichtungen und Gesetzen vollständig überein. Darüber hinaus haben alle dieselben Anlagen und, sofern es die geographische Lage gestattet, auch dasselbe Aussehen l5 . "Wer eine von ihren Städten kennt", heißt es programmatisch, "kennt alle: so völlig gleichen sie einander, soweit es das Gelände erlaubt" 16. Auch an der Architektur fällt auf, daß ein Haus wie das andere aussieht. Wir haben es mit Typenhäusern zu tun, die in langer und blockweise zusammenhängender Reihe angeordnet sind. An der Hinterseite dieser Zeilenbebauung zieht sich ein großer durch die Rückseite der Blöcke von allen Seiten eingeschlossener Garten hin. Die Fronten der Häuserblöcke trennt eine zwanzig Fuß breite Straße.

13 Morlls 1970: S. 48.

14 A.a.O., S. 51. 15 A.a.O., S. 49. 16 A.a.O .• S. 50.

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Ferner sind die Straßen, im Rastersystem angelegt, durch Funktionalität und Übersichtlichkeit gekennzeichnet: "sowohl günstig für den Verkehr als auch gegen die Winde geschützt"17. Ähnliches läßt sich von der Architektur der Häuser sagen. Zwar genügen sie durchaus ästhetischen Maßstäben. Doch ihr hervorragendes Merkmal ist ihre Transparenz und Funktionalität. So besitzt jedes Haus ein zweiflügeliges Vordertor zur Straße und eine Hinterpforte zum Garten hin. Diese Türen können durch einen leichten Druck geöffnet werden; sie schließen sich darauf hin von allein. Der Sinn des Fehlens von Schlössern in den Türen ist evident: Weil jeder zu jedem Zeitpunkt jedes Haus betreten kann, gibt es wenn überhaupt - nur einen eingeschränkten Privatbereich, dem die Architektur Rechnung zu tragen hat, zum al die Utopier ohnehin alle zehn Jahre ihre Häuser durch Auslosung wechseln 18. Wenn aber die Funktionen der Architektur für die Gestaltung der Privatsphäre nur periphere Bedeutung haben, dann wachsen ihre Aufgaben im öffentlichen Bereich. Sie stehen im Dienst einer auf Harmonisierung der öffentlich verwalteten Sozialbeziehungen abzielenden Integration und der Lebensfähigkeit der Stadt als ganzer. Jede Häuserzeile verfügt z.B. über einige geräumige Hallen in gleichem Abstand voneinander, in denen man gemeinschaftlich die Mahlzeiten einnimmt l9 . Funktional im Sinne gesellschaftlicher Harmonisierung ist aber auch die Zuordnung eines Gartens zu jedem Haus. Er dient nicht nur der Versorgung der Utopier mit Obst, Gemüse und Blumen, sondern auch zur sinnvollen Gestaltung ihrer Freizeit und zum friedlichen Wettbewerb zwischen den einzelnen Stadtteilen 20 . Darüber hinaus verfügt jede Stadt über öffentliche Einrichtungen wie Schulen, in denen sich die Utopier von ihrer Kindheit bis ins Alter weiterbilden, sowie über vier hervorragend eingerichtete Krankenhäuser, in denen die erfahrensten Ärzte ihre Patienten versorgen 21 und über Magazine, in denen die erwirtschafteten Güter zentral verteilt werden 22 . Und schließlich achten im Unterschied zur mittelalterlichen Bauweise die Utopier darauf, daß ihre an geometrischen Mustern orientierten Baupläne mit den technisch am fortgeschrittensten Materialien ausgeführt werden. Zwar waren ursprünglich auch die Häuser der Utopier den mittelalterlichen Standards angepaßt. Es handelte sich um eine Art von niedrigen Hütten und Buden, deren Wände, planlos aus Holz errichtet, mit Lehm verschmiert und einem steilen und stroh gedeckten Dach versehen waren. Doch in dem Maße, wie sich die Zivilisation der Utopier festigte, gingen sie dazu über, dreistöckige Häuser aus Granit, Backsteinen und anderem harten Gestein zu bauen und die Wände innen mit

17 A.a.O .• S. 52. 18 Ebd. 19 A.a.O .. S. 60.

20 A.a.O .• S. 52. 21 A.a.O .• S. 60. 22 A.a.O .• S. 52.

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Mörtel zu verputzen 23 . Die aus gewissen Kunststeinen gefertigten Flachdächer sind so beschaffen, daß sie kein Feuer fangen können und den Unbilden des Wetters vorbeugen. Ein wichtiges Baumaterial ist für sie auch die damals im Hausbau aufkommende Verwendung von Glas, aus dem sie die Scheiben ihrer Fenster herstellen: Es sorgt nicht nur für die Helligkeit der Wohnung, sondern bietet auch Schutz vor dem Wind.

IH. Wenn es zutrifft, daß die Entstehung der literarischen Utopien und der ersten Idealstadtentwürfe in der Frührenaissance parallel verliefen, steBt sich die Frage, ob es identische Elemente in beiden Ansätzen gibt. Lassen sie sich auf unserer heuristischen Folie so überzeugend abbilden, daß von einer Verwandtschaft ihrer Konstruktionsprinzipien gesprochen werden kann? Diese Frage soll durch den Rekurs auf die "Sforzinda"-Idealstadt Antonio Averlinos, genannt Filarete, Albrecht Dürers Festungsbautraktat und Heinrich Schickhardts FreudenstadtEntwürfe beantwortet werden. Zunächst fällt auf, daß "Utopia" und "Sforzinda" sich von allen natürlichen, aber auch historischen Voraussetzungen des Mittelalters weitgehend gelöst haben: Gleichsam auf einer "tabula rasa" entstanden, könnten sie in dem Maße, in dem sie ein vollständig instrumentelles Verhältnis zur Natur erkennen lassen, auf jedem Platz der Erde errichtet werden. Zugleich sind beide Konstrukte hochgradig anthropomorph. Nicht nur bei den klassischen Utopisten, sondern auch bei Filarete ist die Tendenz erkennbar, "die menschlichen Proportionen selbst in einfache Maßverhältnisse (zu) bringen"24. Es ist die säkularisierte Verstandes- und Phantasietätigkeit der Menschen selbst, die die ideale Stadt konstruiert. Die geometrischen Figuren der Stadtgrundrisse bei der Ansätze symbolisieren, daß der rationalistische Geist des Machens der äußeren Natur seine Signatur aufzwingt. Wie die utopische Stadt, so ist auch der Grundriß des Dürerschen Festungsplans auf eine geometrische Form festgelegt, nämlich das Quadrat25 . Warum er nicht auf die in Italien dominierende Figur des Kreises zurückgriff, die auch Campanella als Grundriß seines "Sonnenstaates" wählte, wird von ihm nicht weiter begründet. Von Dürers Festungsarchitektur ist leicht eine Linie zu Schickhardts Freudenstadtentwürfen zu ziehen 26 . Auch sie stellen ein Befestigungssystem mit großen Spitzenbasteien dar, wie es dem seinerzeit modernen Stand der Festungsbaukunst entsprach. Im Gegensatz zu Dürer wählte

23 A.a.O., S. 52. 24 Germami 1987: S. 66. 25 Diirer 1527.

26 Vgl. Topfstedt 1983/84: S. 22.

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Schickhardt aber nicht die geometrische Figur des Quadrats, sondern die eines Rechtecks zur Form seines Grundrisses für Freudenstadt; nur das Schloß ist als quadratische Vierflügelanlage ausgebildet. Tatsächlich bestätigt ein Vergleich des Grundrisses von Dürers "fest schloß" und Schickhardts "Freudenstadt" auf der einen sowie Andreaes utopischer "Christianopolis"-Entwurf auf der anderen Seite, was in der Forschung als erwiesen gilt: daß nämlich Andreaes protestantische Utopie eines besten Staates von den Entwürfen seiner bei den Vorgänger, insbesondere von Schickhardts Entwurf, nachhaltig beeinflußt worden ist 27. Es kommen noch andere Übereinstimmungen hinzu. Beide Ansätze, die das harmonische Zusammenleben von Menschen in arbeitsteilig differenzierten Gesellschaften teils voraussetzen und teils erst ermöglichen sollen, streben Perfektion auch in dem Sinne an, daß ihre Machbarkeit plan bar, d.h. berechenbar sein soll. So macht Filarete präzise Angaben über die Arbeitsdisziplin, die Zahl der Arbeiter, der Bauführer etc., die benötigt werden, um die Stadt innerhalb einer bestimmten Zeit bauen zu können. Auch weist Kruft zu Recht darauf hin, daß Filarete zum ersten Mal die Möglichkeit unbegrenzter Repetition und Reihung identischer Häuser formuliert habe 28 : eine Intention, die gemäß unserem heuristischen Muster mit wichtigen Vorstellungen des Homogenitätsideals der klassischen Utopietradition konvergiert. Vor allem aber dienen - wie in den utopischen Konstrukten - die sakralen, öffentlichen und privaten Bauten Aufgaben, die das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Funktionieren der Stadt gewährleisten sollen: Sie reichen von den Kirchen und Kastellen über die Paläste und Schulen bis hin zum Spital und den Gefängnissen. Kurz: Sowohl Filarete als auch Morus, Campanella u.a. denken die Stadt als Ganzes, deren Teile bzw. Subsysteme auf Interdependenz bzw. auf berechenbare Integration angelegt sind. Auch Dürers Festungsarchitektur korreliert in ähnlicher Weise wie die klassischen utopischen Entwürfe mit der "Darstellung einer räumlich organisierten sozialen Struktur"29. Er beschreibt zunächst ein System von Gräben und Wällen, in dessen Zentrum das über quadratischem Grundriß errichtete Schloß lokalisiert ist. "Dann folgt eine genaue Aufteilung des übrigen Stadtareals. Benachbarte Handwerke werden einander zugeordnet; Schmiede sollen in der Nähe der Gießhütten wohnen etc. Das Rathaus und die Häuser des Adels befinden sich in der Nähe des Königlichen Schlosses"30. Dürer bringt die funktionalistische Stoßrichtung seines fiktiven Arrangements auf einen prägnanten Begriff, wenn er schreibt: "Der König sol nicht unnütze leut in disem schloß wonen lassen, 27 28 29 30

A.a.O., S. Vgl. Kruft A.a.O., S. A.a.O., S.

20-33. 1991: S. 58. 123. 124.

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sunder geschickte, frumme, weyse, manliehe, erfarne, kunstreyche menner, gute handwercksleute (,) die zum schloß düglich sind, püchsengiesser und gute schützen"31. Ferner klingt hier das utopische Verdikt des Müßigganges an, dem die vollständige Mobilisierung der Arbeitsressourcen entspricht. So befürwortet Dürer den Einsatz von Bettlern sowie arbeitsloser und armer Leute beim Festungsbau, "die man ohnehin durch Almosen unterhalten müsse und die man durch den Tagelohn am Betteln hindere und deren Lust am Aufruhr man auf diese Weise unterdrücke; Dürer erwähnt zur Unterstützung seines Arguments die nutzlose Kostenverschwendung beim Bau der ägyptischen Pyramiden. Festungsarchitektur wird so zugleich zum Arbeitsbeschaffungsprogramm"32. Eben so wichtig ist, daß der systematische Einsatz aller vorhandenen Arbeitskräfte zugleich auch die Reglementierung der Zeit und die Anpassung an die Organisation des Arbeitsprozesses bedeutet: Mechanismen der Sozialdisziplinierung, die z.B. in Campanellas "Sonnenstaat" durch Zeitmeßgeräte und Wetterfahnen symbolisch überhöht werden 33 . Andererseits sind wichtige Unterschiede nicht zu übersehen, die "Utopia" von der "Idealstadt" unterscheidet. Gerade das Motiv der Sozialdisziplinierung, das beide verbindet, deutet auch die Differenz zwischen ihnen an. Die Reglementierungsmechanismen der "Idealstadt" sind nämlich im Vergleich zu den utopischen Konstruktionen dadurch gemildert, daß sie in der gesellschaftlichen Struktur des 16. Jahrhunderts verankert bleiben, mit der der utopische Diskurs gerade bricht. Es hat gleichsam paradigmatische Bedeutung, daß Dürer z. B. Bierkeller vorsieht34 , die im Interesse eines rigiden Luxusverbots aus der utopischen Stadt kategorisch verbannt sind. Auch ist der soziale Standort ihrer Autoren durch einen scheinbar unüberbrückbaren Gegensatz gekennzeichnet. Die klassischen Utopisten der frühen Neuzeit betteten ihre alternativen Entwürfe in eine kritische Zeitdiagnose ein: Ihre fiktiven Gegenentwürfe müssen als Alternativen zur existierenden Ständegesellschaft gedeutet werden 35 , auch wenn sie nur den Geltungsanspruch eines regulativen Prinzips bzw. eines Ideals im Interesse der kleinen Leute erheben. Demgenüber arbeiteten Filarete und Schickhardt im Auftrag von Fürsten und Herzögen. Idealstädte wie Sforzinda oder Freudenstadt werden von "oben verordnet", d.h. sie werden von denen begründet, "die im Besitz von Macht und Geld sind"36, und zwar mit dem Ziel der Intensivierung des individuellen Herrschaftsanspruchs frühneuzeitlicher Machtträger, gegen die die utopischen Autoren gerade polemisierten.

31 Zit. n. Kruft 1991, a.a.O., S. 24. 32 Ebd. 33 Vgl. hierzu Gustafsson 1985: S. 288. 34 Diirer 1527.

35 Vgl. hierzu Saage 1991. 36 K1'Iift 1989: S. 14.

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Andere Unterschiede sind offensichtlich. Die sozialen Einrichtungen werden in der "Ideal stadt" zwar nicht ignoriert. Aber sie stehen auch nicht im Mittelpunkt des Konstrukts wie in den klassischen Utopien. In Dürers Entwurf fällt auf, daß Gebäude überhaupt fehlen, die der Erziehung dienen. Ein durch Bildung formierter "neuer Mensch" wird also von ihm nicht vorausgesetzt. Ähnliches kann von Schickhardts Freudenstadt-Entwürfen gesagt werden. In seinem funktionalen Stadt-Modell fehlen Schulen und Bildungsstätten ganz. Sie wollen nicht Lebensraum für "neue Menschen" schaffen, sondern Ausfluß und Überhöhung der gegebenen Machtverhältnisse ihrer Zeit sein. Deren Zentrum bleibt die Herrschaftsrepräsentation der Renaissance-Fürsten, die freilich um innovatorische funktionalistische Aspekte ergänzt wird. Dem entspricht, daß die Konzeption der "Idealstadt" weder die real vorhandene Ständestruktur noch die individuelle Verfügung über Besitz einschränkt oder auch nur in Frage stellt. Die "Privatheit" ist nicht wie in den utopischen Architekturmustern entweder ganz verbannt oder aber auf den Status einer bloß residualen Größe reduziert. Vielmehr wird sie dadurch, daß sie deutlich der individuellen Verwertung von Geld, Boden und Waren zugeordnet erscheint, als legitimer Sozialraum akezeptiert und architektonisch gestaltet37 . Auch überlagert im Architektur-Traktat Filaretes die Vielfalt der historisch gewachsenen Abstufungen der nicht in Frage gestellten ständischen Hierarchie das utopische Postulat der Homogenität: Ebenso, wie kein Mensch dem anderen vollkommen gleich sei, so unterschieden sich die Gebäude in Typus, Form und Schönheit38 . WeIche Schlüsse sind aus dem Vergleich der Idealstädte bei Filarete, Dürer und Schickhardt einerseits und den utopischen Entwürfen der frühen Neuzeit andererseits zu ziehen? Zunächst einmal verdeutlicht er, daß utopisches Denken auf Konstruktionselemente zurückgreift, die gar nicht utopisch gemeint, sondern Ausdruck der von ihm gerade kritisierten realen gesellschaftlichen Verhältnisse der Frührenaissance sind. Aber dieses heimliche Vorbild der geometrischen und funktionalen Gestaltung des fiktiven Raumes wird dadurch utopisiert, daß sich die rezipierten formalen Muster mit Inhalten füllen, die die angeblichen Defizite der Ursprungsgesellschaft zu vermeiden suchen. Trifft diese Einschätzung zu, so wäre ein wichtiger Beleg für die These formuliert, daß utopisches Denken zwar einen Bruch mit der frühneuzeitlichen Gesellschaft und dem aufkommenden absolutistischen Staat anstrebt. Aber dies geschieht in der Weise, daß es deren funktionale Modelle und geometrische Architektur und Stadtplanungskonzeptionen nutzt, um Fehltentwicklungen einer im Umbruch begriffenen Übergangsgesellschaft besser bekämpfen zu können. Doch die Frage ist, inwiefern diese Muster auf die entstehende Modeme zu Beginn des 20. Jahrhunderts anwendbar sind.

37 Vgl. Germann 1987: S. 78. 38 A.a.O., S. 74.

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IV. Die Affinität zwischen "Idealstadt" und "Utopie" hat gezeigt, daß die letztere keineswegs voraussetzungslos war, auch wenn sie durch die Opposition zu ihrem heimlichen Vorbild sich selbst ihre eigene Genese verschwieg. Aber sie griff nicht nur auf die älteren Vorbilder der oft im Auftrag von Fürsten entworfenen Idealstädte zurück, die sie freilich, wie wir sahen, charakteristisch umgestaltete. Noch wichtiger erscheint, daß ihre konstruktiven Formen in einem ganz anderen sozio-kulturellen Kontext vier Jahrhunderte später eine erstaunliche Renaissance erlebten. An keiner Avantgarde der ästhetischen Moderne läßt sich dieser Zusammenhang klarer darstellen als am Beispiel jener Gruppe russischer Maler, Architekten und Stadtplaner, die unter den Bezeichnungen "Suprematismus" und "Konstruktivismus" in die Kunstgeschichte eingegangen sind39 . Aber welche gemeinsamen Schnittmengen sind nachweisbar? Um sie abbilden zu können, greifen wir erneut auf das oben entwickelte heuristische Raster zurück, das die wichtigsten architektonischen und städteplanerischen Merkmale zu einem Strukturmodell verdichten soll. Architektur und Stadtplanung der klassischen Utopietradition lebten, wie wir sahen, vom Bruch mit den gewachsenen Strukturen der mittelalterlichen Stadt. Suprematismus und Konstruktivismus lassen eine ähnliche Stoßrichtung erkennen. Ihr Ziel ist nicht die "Reformierung von schon Bestehendem, sondern eine andere Begebenheit zustande zu bringen"40. Diese ästhetische Avantgarde hat zum Programm erhoben, was auch die klassische Utopietradition in ihrem Verhältnis zum Mittelalter kennzeichnete, nämlich die "Dinge von der Bindung ans Gestrige zu befreien"41. Das Leben müsse gereinigt werden von dem "Gerümpel der Vergangenheit, vom parasitären Eklektizismus". Dieser "Sieg des Heute" setze die "Entrümpelung des Bewußtseins" voraus. Die Verbindung von ästhetischen Formen verschiedener Epochen habe in dem angestrebten "gesäuberten, gesunden Lebensbewußtsein" zu verschwinden 42 . Diesen Imperativ begründete Malewitsch damit, daß sich die heutigen Energien nicht in gestrige Erzeugnisse pressen ließen. "Man kann einem Wagen nicht einfach anstelle der Pferde einen Motor vorspannen, man muß schon die Form des Wagens verändern. Derjenige aber, der die heutigen Dinge begreifen will, muß frei von ihnen, das heißt gegenstandslos sein"43. Die neue Kunst, so verkündete er, kenne keine Liebe zu alten Gewohnheiten. Sie kämpfe gegen die gestrige Form, gegen die gestrige Ästhetik und den "unerschütterlichen" antiken Schönheitsbegriff. Darum habe 39 Vgl. hierzu u.a. Behne 1925; Gaßner/Kopanski/Stengel 1992; Wolter! Schwenk 1992; AntonowaiMerkert 1995. 40 EI Lissitzky 1992: S. 353. 41 Malewitsclz 1989: S. 227. 42 A.a.O., S. 338. 43 A.a.O., S. 227.

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der Suprematismus auf den Brettern des Theaters durch die Oper "Sieg über die Sonne"44 die Gegenstandslosigkeit verkündet. Er wolle damit sein Bewußtsein und die Enwicklung der Kunst von Formvorstellungen der Vergangenheit befreien 45 . Tatsächlich ist Kasimir Malewitschs "Schwarzes Quadrat" aus dem Jahr 1913 mehr als eine Zäsur in der Geschichte der Malerei. Es ist auch das Symbol eines architektonischen und städtebaulichen Programms, das sich deswegen auf die elementaren Formen der Geometrie verwiesen sah, weil sich das Bauen und Planen neuer Städte von allen Voraussetzungen emanzipiert hatte, die nicht dem konstruierenden Intellekt des Menschen zugeordnet werden können. Diese Prämisse vorausgesetzt, machten sie nicht nur Front gegen den längst zur Tradition geronnenen Neo-Klassizismus in Malerei und Architektur, sondern auch gegen die mittelalterlichen Stadtkerne der großen Metropolen wie Wien, Paris oder Moskau. An die Stelle klassizistischer Monumentalität setzten sie die Gegenstandslosigkeit, und die historisch gewachsene Straßenführung der alten Stadtgrundrisse konfrontierten sie - wie die klassische Utopietradition - mit dem geometrischen Raster. Aber sie trieben diese Konvergenz noch ein Stück weiter. Sie korrelierten nämlich - wie ihre Vorgänger in der Frühen Neuzeit - die geometrische Gestaltung des Raumes mit der Option für holistische Architektur- und Stadtplanungsmuster, der Festlegung der Architektur auf die Befriedigung kollektiver Bedürfnisse und dem Eintreten für eine Bautechnik, die sich in Übereinstimmung weiß mit der Spitze des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Die holistische Prämisse des konstruktivistischen Architektur- und Stadtplanungskonzepts besteht darin, "daß sich jeder Teil dem Ganzen unterordnen muß und das System der Stadt den Charakter seiner Bauwerke bestimmt"46. Sie ist dann eingelöst, wenn verwirklicht wird, was die utopische Stadt der Frühen Neuzeit auszeichnete: Transparenz und Funktionalität ihrer ins Ganze eingebundenen Elemente. So plante EI Lissitzky im Zentrum Moskaus acht Hochhäuser, die er Wolkenbügel nannte. Den Kern des mittelalterlichen Moskau, den Kreml, umkreisend, sollten sie den Gegensatz zwischen den "absterbenden alten (... ) und den wachsenden lebendigen neuen (Teilen)"47 der Metropole vertiefen. Ebenso wichtig wie diese kulturrevolutionäre Stoßrichtung ist freilich, daß sie innerhalb des Ganzen der Stadt mehr Transparenz zu ermöglichen hätten. Aufgabe der Wolkenbügel war nämlich auch, das unübersichtliche Straßennetz des mittelalterlichen Moskau dadurch übersichtlicher zu gestalten, daß die kreisförmige Gruppierung der Wolkenbügel, die zudem mit unterschiedlichen 44 Vgl. grundlegend Günther 1992. 45 Malewitsch 1989: S. 228. 46 EI Lissitzkv 1977: S. 80.

47 A.a.O., S.

in.

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Farben gestrichen werden sollten, den Passanten nach allen Himmelsrichtungen Orientierung bietet. Stellte diese Konzeption noch einen Kompromiß mit den Überresten der mittelalterlichen Siedlungsstruktur Moskaus dar, so ließ Malewitsch über das Straßensystem der zukünftigen Stadt keinen Zweifel aufkommen: "Die Neuerer auf allen Gebieten der Kunst", so schrieb er, "werden die Straßen der Städte begradigen. Sie werden die eklektischen Verknotungen beseitigen und die Gebäude von ihrem Stilgemisch, die neuen Systeme von veralteten, nicht mehr zeitgemäßen Dingen befreien. Sie werden den Städten die kubistische Rundumfassade geben und den Einklang zwischen der akustischen und der optischen Form herstellen"48. Die zweite Voraussetzung suprematistischer Architektur bestand in dem Verdikt, das Bauen in den Dienst der Befriedigung individueller Bedürfnisse zu steilen. "Wir sprechen von Bauwerken", heißt es programmatisch bei EI Lissitzky, "nicht von 'Häusern', weil wir der Meinung sind, daß die neue Stadt den Begriff des individuellen Hauses überwinden muß"49. Auch die utopische Architektur der Frühen Neuzeit, so konnte gezeigt werden, hatte - im Unterschied zur "Idealstadt" - eine eindeutig kollektive Stoßrichtung. Morus sah Häuser vor, die jederzeit durch die zweiflügelige Vorder - und Hintertür von jedermann zu betreten waren. Der private Bereich stellte - im Gegensatz zum öffentlichen Sektor keine architektonische Herausforderung dar, weil er bei Morus auf ein Minimum eingeschränkt wurde und bei Campanella ganz entfiel. Diese charakteristische Akzentsetzung ist von der russischen Avantgarde übernommen und weiterentwickelt worden. Der Architektur ist - wie in der klassischen Tradition - eine klare Aufgabe gestellt: Sie hat die Gemeinschaftsbildung und damit die Entstehung eines "neuen Menschen" zu fördern. Wie in "Utopia" die eigene EinzeIküche ihre Funktion verliert, so verlegt das konstruktivistische Paradigma die Zubereitung der Speisen ebenso "in das gemeinsame Kochlaboratorium" wie die Hauptmahlzeit in öffentliche Speiseanstalten und die Erziehung der Kinder in die staatlichen Kindergärten oder in die Schulen. Diese Schrumpfung des Raumes für das individuelle und private Leben ist nicht nur der Wohnungsnot in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution geschuldet; sie wird zum Programm der Zukunft erhoben. "Dafür soll das Allgemeine immer freier in Ausmaß und Gestaltung werden. Die Architektur wird damit zum Ausdruck des sozialen Zustandes, gilt als Wirkungsfaktor des sozialen Lebens. Das Ziel ist heute, das Haus aus einer Summe von Privatwohnungen in eine Hauskommune zu überführen "50. So gesehen, gehört die architektonische Gestaltung des individuell bewohnten Hauses der Vergangenheit an. Die Funktion der Vergemeinschaftung vor Augen, hat sich die architektonische Phantasie auf die Räume zu konzentrie-

48 Malewitsch 1989: S. 228. 49 EI Lissitzkv 1977: S. 80. 50 EI Lissitzky 1989: S. 18.

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ren, in denen die Eingliederung der einzelnen ins Kollektiv stattfindet: auf den Klub als "sozialem Kraftwerk"51, auf die Sportanlagen - und Tribünen sowie auf die Fabrikhallen. Und schließlich haben Architektur und Stadtplanung den Imperativen des fortgeschrittensten Standes der wissenschaftlich-technischen Entwicklung zu entsprechen, dessen Ausfluß genau die Bedürfnisse sind, für deren Befriedigung gebaut wird: des "neuen Menschen" in einer "geometrischen Epoche". Dessen Auge will, davon war die ästhetische Avantgarde überzeugt, "reine einfache Formen sehen ... , die in klaren Proportionen gegliedert und zur gen auen Orientierung im Raum exakt miteinander koordiniert sind"52. Dieses Gebot erstreckt sich sogar auf die Gestaltung der Möbel. Sie sind ehrlich, so EI Lissitzky, weil sie nur sich selbst darstellen und nicht etwas vollkommen anderes. Sie sind elementar, weil sie nach dem Prinzip "erfinderischer Einfachheit" gestaltet sind. Sie haben ferner dem Kriterium der Exaktheit zu genügen, das heißt: Sie müssen als Ganzes wahrnehmbar sein, "ohne in einem Wirrwarr umherzuirren und darin steckenzubleiben". Und sie sind das Resultat geometrischer und industrieller Fertigungsweisen, weil sie als Ganzes und in ihren Details mit Zirkel und Lineal konstruiert und durch eine moderne Maschine hergestellt wurden 53 . Wie wir gesehen haben, verfügten auch die Utopier der Frühen Neuzeit bereits über standardisierte Häusertypen und über Baumaterialien, die dem neuesten Stand des 16. Jahrhunderts entsprachen. Das Baukonzept der russischen Avantgarde ist diesem Vorbild gefolgt: Zur Ausführung ihrer architektonischen Entwürfe sahen sie gleichfalls die in ihrer Zeit technisch am weitesten fortgeschrittenen Materialien vor, nämlich Stahl, Beton und vor al\em der großflächige Einsatz von Glas. Zugleich stellten sie den avanciertesten Stand der Technik in den Dienst ihrer Bauvorhaben. Wurde bei den Utopiem noch der Kalk auf der Baustel\e angerührt und zog der Maurer aus den einzelnen Ziegelsteinen die Wände hoch, so eröffnen jetzt neue technische Möglichkeiten ganz andere Modalitäten des Bauens. Weil das Haus ebenso als Mittel zum Wohnen zu betrachten sei wie das Auto oder das Flugzeug als Instrument zur Fortbewegung, stehe die Forderung auf der Tagesordnung, Zeitlimits und Normen für Fertigteile festzulegen, damit deren Massenproduktion Fabriken übertragen werden könne. Nach Katalog bestellt, sollten sie in kürzester Zeit auf der Baustelle montiert werden. Das Resultat wäre im Idealfall eine Homogenisierung der Architektur gewesen, die in ihrer Massenhaftigkeit das utopische Vorbild der klassischen Tradition bei weitem übertroffen hätte. EI Lissitzky selbst schildert deren Eindruck auf den Betrachter in nüchternen Worten: "Die massenhafte Herstellung bedingt diese großen gl at-

51 A.a.O .. S. 25 f. 52 EI Lissitzkv 1977: S. 61. 53 A.a.O., S. '93.

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ten Wandmassen, die Rechtwinkligkeit der Formen und die flachen Dächer, also all das, was für den neuen geometrischen Stil charakteristisch ist"54. Die Totalisierung der städtebaulichen und architektonischen Homogenität, die so charakteristisch für die russische Avantgarde ist, deutet bereits darauf hin, daß sie in wesentlichen Aspekten die Grenzziehungen der klassischen Utopietradtion überschritt. Das von Morus geprägte Muster stand noch im Schatten der "PoIiteia" des Platon: Ausgestattet mit dem Geltungsanspruch eines Ideals war die utopische Stadt auf Statik angelegt wie das in sich Vollkommene selbst. Was perfekt ist, wird zu einer Größe, die sich nur um den Preis ihres Niederganges verändern kann. Dynamik kann - unter der Voraussetzung der Raum-Utopie ausschließlich in Kategorien des Verfalls gedacht werden. Demgegenüber hat die russische Avantgarde entschlossen die Wende von der Raum- zur Zeit-Utopie mit vollzogen, die sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts anbahnte: Das utopische Projekt ist nicht per se vollkommen, sondern es kann dieses Ziel erst in der Zukunft erreichen. Was für die Raum-Utopie gleichsam kontraproduktiv war, gelangt nun ins Zentrum des utopischen Konstrukts: die permanente Veränderung. Zugleich benannten die Klassiker der Zeit-Utopien seit dem frühen 19. Jahrhundert auch den Motor dieser Dynamik: die moderne Technik. Sie spielte seit Morus in den utopischen Entwürfen schon immer eine wichtige Rolle. Doch jetzt avanciert sie zum Dreh- und Angelpunkt des utopischen Konstrukts selbst: Der weise Gründungsvater der utopischen Insel, dessen ideale Verfassungsstrukturen selbst in Bacons "Neu-Atlantis" als unverzichtbare Rahmenbedingung des wissenschaftlichen Fortschritts akzeptiert werden, sieht sich nun durch den auf fortwährende technische Innovation drängenden Ingenieur ersetzt. Malewitsch brachte diesen Paradigma-Wechsel auf eine anschauliche Formel, als er schrieb: "Der Ingenieur ist erbarmungslos gegen die gestrigen Vollkommenheiten. Auch die gesamte technische Jugend ist für jeden neuen Schritt. Ihre Parole ist: 'Weiter"'55. Die Wende von der Raum- zur Zeit-Utopie ließ die russische Avantgarde das utopische Muster der frühen Neuzeit in zweierlei Hinsicht durchbrechen. Zunächst einmal verabschiedeten sie sich von der konstitutiven Bedeutung der menschlichen Arbeit, die sie in der Frühen Neuzeit für die Reproduktion der utopischen Gemeinwesen hatte. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt, so lautete ihr Credo, werde die in vorindustriellen Gesellschaften eherne Notwendigkeit, durch physische Muskelkraft von Mensch und Tier das Überleben der Gesellschaft zu sichern, wegrationalisieren. Es gelte jetzt, die neuen Freiräume für die "gegenstandslose" Kreativität zu nutzen. Wenn demgegenüber die Bolschewiki hartnäckig an eben dieser Prämisse festhielten, so bezeichnete dieser Umstand präzise eine entscheidende Trennlinie, die sie von der ästhetischen Avant54 EI Lissitzkv 1992: S. 373. 55 Malewitscl; 1989: S. 43.

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garde unterschied. So sah Malewitsch das Stigma des Bolschewismus in dessen "praktischen Futtertrog-Realismus"56. Zwar stelle der Sozialismus eine notwendige Etappe in der historischen Entwicklung der Menschheit dar, weil durch ihn der wissenschaftlich-praktische Realismus seine höchste Vollendung und äußerste Grenze erreiche 57 . Doch das Ende der Geschichte kristallisiere sich erst in einer Welt, in der sich die kreativen Energien der Menschen von allen materiellen Restriktionen befreit haben. Für unseren Zusammenhang ist nun entscheidend, daß der wissenschaftlichtechnische Fortschritt, der dieses Zeitalter des "befreiten Nichts" (Malewitsch) erst ermöglicht, die Strategien von Stadtplanung und Architektur weit über das hinaustreibt, was im 16. Jahrhundert für die utopischen Antizipationen des klassischen Diskurses möglich war. Orientiert an der fortgeschrittensten Technologie ihrer Zeit, der beginnenden Flugtechnik, forderten deren Wortführer, allen voran Malewitsch, die Architektur habe die Schwerkraft zu überwinden, und die Stadplanung sei partiell ins All zu verlegen: "Die neuen Behausungen der neuen Menschen liegen im Weltraum. Die Erde wird für sie zu einer Zwischenstation, und dementsprechend müssen Flugplätze angelegt werden, die sich den Aeroplanen anpassen, also ohne säulenartige Architektur"58. Auf jeden Fall müsse, so EI Lissitzky, solange noch keine Möglichkeit eines vollkommen freien Schwebens erfunden worden sei, die horizontale Bewegung beim Häuserbau stärker betont werden als die vertikale. Die Parole habe zu lauten: "Das Ziel ist, ein Maximum an Nutzfläche bei einem Minium an Stützfläche zu erreichen"59. Freilich sollten diese Grenzen der Überschneidung der utopischen Architekturund Stadtplanungskonzeption der Frühen Neuzeit mit dem entsprechenden Ansatz im russischen Suprematismus und Konstruktivismus nicht überbewertet werden. Sie relativieren sich nämlich dann, wenn man in dem Umschlag von der Raum- zur Zeit-Utopie keinen Bruch mit der klassischen Tradition sieht, sondern deren Weiterentwicklung. Löste man nämlich deren Postulat, immer an der Spitze des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu marschieren, von den begrenzten Möglichkeiten der Frühen Neuzeit ab, um sie auf die Bedingungen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zu übertragen, so könnten die kühnen Visionen der russischen Avantgarde als Modernisierungsanstrengungen angesehen werden, welche mit den damals neuesten technischen Mitteln die ursprünglichen Vorgaben lediglich fortschrieben und radikalisierten. Die Differenzen zur klassischen Tradition ließen sich dann als deren konsequente Weiterentwicklung interpretieren.

56 57 58 59

A.a.O., S. 53. A.a.O., S. 110. A.a.O., S. 238. EI Lissitzky 1977: S. 80.

Naturalisierte Utopien zwischen literarischer Fiktion und frühneuzeitlicher Gartenkunst* Nicht zufällig wurde im 19. Jahrhundert in Deutschland die politische Utopie mit dem "Staatsroman" gleichgesetzt. Tatsächlich zog Robert von Mohl, der diesen Terminus in den wissenschaftlichen Diskurs einführte, in seiner Ideengeschichte der utopischen Entwürfe eine Linie von Platons Schriften "Der Staat" und "Die Gesetze" über Morus' "Utopia", Campanellas "Sonnenstaat" und Andreaes "Christianopolis" bis hin zu Cabets "Reise nach Ikarien": Er konkretisierte diesen Begriff also mit utopischen Modellen alternativer idealer GeselIschaften in Gestalt eines "starken Staates", der das Leben der einzelnen von der Wiege bis zur Bahre reglementierte, auch wenn er - wie exemplarisch bei Morus und CampanelIa zu beobachten - für sie eine maximale kulturelle Entfaltung garantieren sollte]. Erst verhältnismäßig spät, nämlich im Jahr 1906, hat Andreas Voigt darauf hingewiesen, daß die autoritäre Staatsutopie in der Geschichte dieses Genres stets auch von einer anderen Variante begleitet wurde, die gerade mit dem Antiindividualismus und dem repressiven Institutionalismus des Staatsromanes brach. Um ihr spezifisches Profil zu verdeutlichen, führte er eine analytische Trennung zwischen zwei Typen von Utopieentwürfen durch. Er begründete deren unterscheidendes Merkmal anthropologisch, nämlich "in dem verschiedenen Verhalten der Menschen zum Herrschen und Dienen, zu Zwang und Freiheit"2. Unselbständige Naturen, die der Hilfe, Fürsorge und Beratung bedürften, seien die einen bereit, sich der Herrschaft anderer zu unterwerfen, um bei ihnen Schutz, Frieden und materielle Sicherheit zu finden. Die anderen dagegen sähen den höchsten Wert in der als Selbstbestimmung verstandenen Freiheit, der sie Güter wie wirtschaftliche Sicherheit etc. unterordneten. Voigt zufolge entspre-

* Erstmals erschienen in: Bürgersinn und Kritik. Festschrift für Udo Bermbach zum 60. Geburtstag, Baden-Baden 1998, S. 207-238. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der NOMOS Verlagsgesellschaft. Dieser Aufsatz ist in Kooperation mit Eva-Maria Seng entstanden. ] Vgl.Mohl 1855. 2 Voigf 1906: S. 18. 4 Saage

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chen nun diesen zwei Charaktergegensätzen der Menschen zwei ebenso gegensätzliche Arten von Utopien, die freilich Mischfonnen keineswegs ausschließen. Die eine Variante kennzeichnete er durch den Idealtypus der archistischen Utopie. "Ihr Ideal ist in der Regel das eines Staates mit starker, allumfassender Zentralgewalt, weIche alle Beziehungen der Staatsangehörigen aufs strengste regelt und diese in stramme Zucht hält. Freiheit ist nur für die Herrscher; die Masse hat sich den Gesetzen des Staates und den Verordnungen der Obrigkeit zu fügen"3. Demgegenüber geht die anarchistische Utopie von dem Gesellschaftsideal der absoluten persönlichen Freiheit aus. Sie lehnt "jeden Zwang, jede Art der Herrschaft" ab und darum auch deren Organe wie Regierung, Polizei, Justiz und selbstverständlich auch den Staat als den Träger dieser Gewalten. Selbst geistige Mächte wie Autorität, Sitten und Religion verfallen dem Verdikt der Herrschaftslosigkeit4 . Wie wir meinen, ist diese idealtypische Unterscheidung nützlich, um das Thema dieses Aufsatzes zu verdeutlichen. Es läßt sich nämlich nachweisen, daß die archistische Utopie durch spezifische Muster der Stadtplanung und der Architektur gekennzeichnet werden kann, die eine bemerkenswerte Kontinuität von der Frühen Neuzeit bis zur russischen Avantgarde in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts aufweist5 . Wir möchten folgende Aspekte nennen. Zunächst fällt auf, daß die Stadtplanung auf die Rationalität geometrischer Basisfiguren wie Quadrat, Rechteck und Kreis festgelegt ist. Nicht zufällig entsteht die utopische Stadt auf einer "tabula rasa": Ihre Gründung setzt gleichsam voraus, daß von den ursprünglichen Gegebenheiten der Landschaft abstrahiert wird, um der Natur von außen rational durchdachte Fonnen aufzuzwingen. Die utopischen Städte selbst sind in ihrer Planung und Architektur vollständig transparent und homogen. Den seriellen Typenhäusern sind im Rastersystem oder in Kreisfonn angelegte Straßen zugeordnet. Da die Privatheit in einem Maße abgeschafft ist, daß selbst die Sexualität staatlicher Kontrolle unterliegt, stellt sie keine architektonische Herausforderung dar. Der städteplanerisch und architektonisch zu gestaltende utopische Raum ist per se "öffentlich" und läßt für die Entfaltung individueller Bedürfnisse nur einen begrenzten Raum: Sie sind als Rahmenbedingung für Stadtplanung und Architektur unerheblich. Ihre Zielperspektive besteht vielmehr darin, funktional auf die Hervorbringung eines kollektiven Gemeinwesens bezogen zu sein, dessen Träger ein "neuer Mensch" in einer "geometrischen Epoche" ist. Sein Auge will, um mit EI Lissitzky zu sprechen, "reine einfache Formen sehen, die in klaren Proportionen gegliedert und zur genauen Orientierung im Raum exakt miteinander koordiniert sind"6.

3 A.a.O, S. 19. 4 Ehd. 5 Vgl. Saage/Sellg 1996. in diesem Band S. 33-48. 6 FJ Lissitzkr 1977: S. 61.

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Es ist nun für unsere Fragestellung von entscheidender Bedeutung, daß die anarchistische Utopie ein ganz anderes Naturverhältnis erkennen läßt. Sie strebt nicht Herrschaft über die Natur an; ihr Ziel ist vielmehr, die durch die Zivilisation depravierte Natur - einschließlich die des Menschen selbst - möglichst authentisch wiederherzustellen. In dezentralen und in von Institutionen weitgehend entlasteten Lebenswelten soll das zwischenmenschliche Verhalten gleichsam renaturalisiert werden: Nicht zufällig empfiehlt sie vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts das Leben der sogenannten Naturvölker als Vorbild für die in ihrer Sicht verkommenen Zivilisationen der westlichen Länder. Materieller Überfluß durch die Natur direkt gesichert - soll den Zwängen der organisierten Arbeitsteilung den Boden entziehen, um ein authentisches Leben, das sich ausschließlich an natürlichen Normen orientiert, überhaupt erst zu ermöglichen. Seinen prägnantesten Ausdruck findet es freilich im Umgang mit der Erotik. Von allen gesellschaftlichen Konventionen befreit, rückt sie ins Zentrum der individuellen Selbstbestimmung: ein Motiv, das sich wie ein roter Faden durch die Utopien des "Edlen Wilden" im 18. Jahrhundert zieht. Auf den ersten Blick scheint der Gegensatz zwischen der geometrischen Ausrichtung der archistischen und der naturalisierenden Stoßrichtung der anarchistischen Utopie unüberbrückbar zu sein. Doch verbindet beide Utopietypen eine wichtige Gemeinsamkeit: Sie sind Konstrukte der menschlichen Vernunft, die sie als kritische Gegenbilder in Gestalt solidarischer und konfliktfreier Gemeinwesen der bestehenden Gesellschaft konfrontiert. Dieser Hinweis leitet zum Thema dieses Aufsatzes über. Wenn sich nachweisen läßt, daß die auf geometrische Muster fixierte etatistische Utopie spezifische Muster der Stadtplanung und Architektur induziert hat, dann stellt sich die Frage, wie es sich in dieser Hinsicht mit den naturalisierten anarchistischen Utopien verhält. Gibt es Entsprechungen zwischen ihnen und bestimmten Formen der Gestaltung von Lebensräumen, wie wir sie in der klassischen archistischen Utopie beobachten können? Wir wollen uns unserem Thema in einer Weise nähern, die verschiedene Grade der Utopisierung von "Natur" unterstellt. In Teil I dieses Aufsatzes wird es darauf ankommen, die Genese des naturalisierten Musters anhand der Entwicklung des utopischen Diskurses einerseits und der Gartenkunst andererseits zu rekonstruieren, das sich erst mühsam von der Hegemonie des geometrischen Formprinzips lösen mußte. Nachdem dieser Prozeß zum Abschluß gekommen ist, wird in Teil 11 das Problem zu diskutieren sein, in welchen Varianten sich das "befreite" naturalisierte Konzept im historischen Kontext des 17. und 18. Jahrhunderts verwirklichte. Wir gehen in diesem Zusammenhang von der Hypothese aus, daß sich die Differenz, die z. B. die Idealstadt Filaretes von der archistischen Utopietradition trennt 7 , auch im naturalisierten Landschaftsgarten der Whigs im England des 17. und 18. Jahrhunderts

7 Vgl. hierzu Saage/Seng 1996: S. 685 f .. in diesem Band S. 41. 4*

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wiederfindet, während erst in den anarchischen Lebenswelten der "Edlen Wilden" von einer naturalisierten Utopie im engeren Sinn die Rede sein kann. In Teil III schließlich soll am Beispiel des Wörlitzer Parkes gezeigt werden, daß er als "dritter Weg" zwischen dem Eskapismus der naturalisierten Utopie und dem realistischen Ansatz des englischen Landschaftsgartens interpretiert werden kann.

I. Ihren ersten klassischen Ausdruck fand in der Frühen Neuzeit die naturalisierte Utopie in Rabelais' Beschreibung der "Abtei Thelema", wie wir sie in seinem satirischen Roman "Gargantua und Pantagruel" finden. In geradezu schulernachender Weise wird der Abbau von Herrschaft im Namen einer durchgreifenden Naturalisierung einer fiktiven Gegenwalt propagiert. Ganz im Sinne des Idealtypus der anarchistischen Utopie geht Rabelais' Konstrukt von der Prämisse aus, daß freie Menschen "von Natur aus einen Trieb und Stachel in sich (tragen), tugendhaft zu handeln". Erst wenn Gewalt und Zwang sie niederdrücken und knechten, werde dieser freie und edle Hang zur Tugend in die Begierde verwandelt, "das Joch der Dienstbarkeit abzuschütteln und zu zerbrechen"8. In der klassischen archistischen Utopie dominierte, wie wir sahen, ein strikter Institutionalismus mit antiindividualistischer Stoßrichtung, der das Leben der einzelnen bis in die alltäglichen Details reglementierte. In Thelema reduziert sich die Ordensregel auf einen einzigen Paragraphen: "Tu, was Dir gefällt!"9. Den Thelemiten wird eine bestimmte Lebensweise durch Gesetze, Statuten oder Regeln nicht vorgeschrieben. Vielmehr "standen sie auf, wann sie wollten, aßen und tranken, wann sie Appetit hatten, und arbeiteten oder schliefen, je nach dem wie sie Lust ankam. Niemals weckte sie jemand, ebensowenig wie jemand sie zum Essen oder Trinken oder sonst wozu nötigte"IO. Zugleich sehen sie es als etwas außerordentlich Törichtes an, "sich vom Schlag der Glocke, statt vom Verstand und Überlegungen leiten zu lassen" 11. Ferner war im Rahmen der archistischen Utopie die Arbeitspflicht für alle striktes Gebot: Erst sie ermöglichte die Reduktion der Arbeitszeit und damit die Muße für alle. In Thelema dagegen wird die autonome Gestaltung der Muße zum hauptsächlichen Lebenszweck der einzelnen, ohne auf Arbeit als die Bedingung ihrer Möglichkeit bezogen zu sein. Es kommen andere wichtige Differenzen hinzu, die Thelema vom archistischen Utopietyp absetzen. So hatten sich in den archistischen Utopien die Frauen in letzter Instanz den Männern unterzuordnen, auch wenn sie wie bei

8 Rahe/ais 1974: S. 180. 9 Ehd. 10 Ebd. 11 A.a.O .. S. 179.

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Platon und Campanella als Amazonen verstanden wurden. In Thelema dagegen sind die Beziehungen zwischen den Geschlechtern von allen sozialen Zwängen entlastet: Sie beruht ausschließlich auf der gegenseitigen Zuneigung der Partner. Und schließlich muß noch ein letzter Unterschied zum vorherrschenden archistischen Utopie typus der Renaissance genannt werden: Zwar ist der Zutritt zur Abtei Thelema an bestimmte Kriterien gebunden. Im Gegensatz zur archistischen Utopietradition kann jeder "die Abtei ( ... ) nach freiem Willen" verlassen l2 . Wenn man so will, ist Rabelais' "Abtei Thelema" ein genuines Gegenprogramm zum archistischen Utopietyp der klassischen Tradition. Im Namen der Natur bezieht sie ihre normative Kraft aus jenem Individualismus, in dem Morus, Campanella, Andreae und Winstanley die Ursache allen gesellschaftlichen Elends sahen. Und doch ist nicht zu übersehen, daß die von Rabelais angestrebte Konvergenz zwischen Naturalisierung und Herrschaftslosigkeit das dominante archistische Muster nicht vollständig zu sprengen vermag. Eine kleine Elite lebt, von den Zwängen der Arbeitswelt befreit, ihren Individualismus voll aus, während die große Masse der Bediensteten und Handwerker für die materiellen Voraussetzungen dieser unbeschränkten Entfaltung der einzelnen zu sorgen hat. Es besteht kein Zweifel, daß Rabelais' Elite eine veredelte Version der feudalen Aristokratie seiner Zeit ist. Herrschaftsfrei war seine Utopie also nur in einem eingeschränkten Sinn: Die Autonomie des Individuums verbleibt im Medium der höfischen Gesellschaft und erstreckt sich nur auf eine kleine adlige Elite, während die große Masse der Bevölkerung weiterhin in sozialökonomischer Abhängigkeit verharrt. So gesehen, sind die dargelegten Differenzen zwischen der klassischen Utopie und Rabelais' "Abtei Thelema" zu relativieren: Herrschaft qua Herrschaft wird, bezogen auf die die Gesamtgesellschaft, von beiden Ansätzen nicht in Frage gesteilt. Auch ist die Konzipierung einer neuen Führungsschicht ein alter Topos der archistischen Utopietradition. Bereits Platon konzentrierte sich auf die politisch herrschende Kaste in seinem "besten" Staat und Bacon in seiner "Neu-Atlantis" auf die wissenschaftliche Elite des "Hauses Salomon". Vor allem aber ist in unserem Zusammenhang von großer Bedeutung, daß der utopische Raum in Gestalt der "Abtei Thelema" ebenso durch geometrische Strukturen gekennzeichnet ist wie im Idealtyp der archistischen Utopie. Der Palast, in dem die Thelemiten wohnen, "bildete ein Sechseck; an jeder Ecke befand sich ein großer nmder Turm; alle diese Türme waren von gleicher Größe und Gestalt. ( ... ) Von einem zum andern Turm betrug die Entfernung dreihundertzwölf Schritt. Das Gebäude bestand aus sechs Stockwerken" 13 und lehnte sich damit an den französischen Schloßbau seiner Zeit an. Offenbar müssen wir davon ausgehen, daß sich der naturalisierte anarchistische Utopietypus im Verlauf eines Prozesses 12

A.a.O., S. 171.

13 A.a.O .. S. 172. Hervorhebungen von uns, R.S. u. E.-M.S.

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erst mühsam von seiner Einbindung in die geometrischen Formen der klassischen archistischen Tradition emanzipieren mußte. Daß dieser Prozeß der Unterminierung des Primats der Symmetrie und der Homogenität selbst in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts noch nicht abgeschlossen war, zeigt die Australien-Utopie Gabriel de Foignys einerseits und der Bätika-Entwurf Fenelons andererseits. Zwar treibt de Foigny am Ende des 17. Jahrhunderts die Naturalisierung des utopischen Konstrukts weit über den Ansatz der "Abtei Thelema" hinaus. So lokalisiert er seinen Entwurf nicht mehr in Europa, sondern in dem Umkreis neu entdeckter Naturvölker, nämlich auf dem australischen Kontinent. Sodann wird die anarchistische Tendenz innerhalb der adligen Elite in Rabelais' "Abtei Thelema" nunmehr auf die Gesamtgesellschaft übertragen: Sie stellt im utopischen Entwurf eine herrschaftsfreie Assoziation ohne Gesetze dar, in der es einen Staat bzw. politische und soziale Herrschaft nicht mehr gibt. Da die mit der Natur konvergierende Vernunft als universale Norm für alle verbindlich ist, stellt sich die soziale Harmonie ohne den heteronomen Zwang staatlicher Gesetze ein. Bei de Foigny ist also bereits eine Normativierung der Natur zu beobachten, die zu einer Art ethischem Imperativ avanciert, der darüber entscheidet, was gut im Sinne von "natürlich" und böse im Sinne von "depraviert" oder "denaturiert" erscheint. Diese Naturalisierung bestimmt selbst die materiellen Grundlagen des utopischen Gemeinwesens. Das Neue an seiner Fiktion besteht nämlich darin, daß eine durch hochgradig organisierte und disziplinierte Arbeit vermittelte Auseinandersetzung mit der Natur nicht mehr stattzufinden braucht, weil die Menschen bereits alles zum Leben Notwendige haben. "Kann man sich etwas Wünschenswerteres einbilden?", schildert de Foigny die materielle Situation der Australier "als herrlich und äußerst angenehm zu leben ohne irgendeinen Aufwand (sans faire aucune depense)? Man braucht nur drei oder vier Früchte, die schmackhafter und appetitlicher sind als unser Fleisch, zu essen und von einer Art natürlichen Nektars zu trinken, der in diesem Land durch die Bäche fließt. Jeder kann sich im Übertluß ernähren, ohne das Feld zu beackern oder die Bäume zu kulti vieren" )4. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts hat also die Naturalisierungstendenz der anarchistischen Utopie im Vergleich zu Rabelais' "Abtei Thelema" weitere Breschen in das fest gefügte archistische Muster der klassischen Utopietradition geschlagen: Die Aufhebung sozio-politischer Zwangsgewalt bezieht sich nicht nur auf eine kleine Elite, sondern auf die Gesamtgesellschaft. Fast wichtiger noch ist, daß der Zwang zur organisierten Arbeit objektiv entfällt, weil, wie gezeigt, die ideale Gesellschaft so vorgestellt wird, als habe es nie einen Bruch zwischen ihr und der äußeren Natur gegeben. Und dennoch zeigt gerade der Stellenwert, den de Foigny der menschlichen Arbeit in seinem utopischen Gemeinwesen 14de Foigny 1693: S. 131.

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beimißt, wie sehr er noch den Formprinzipien der archistischen Utopietradition verhaftet bleibt. Obwohl die Arbeit der Menschen für die materielle Reproduktion aufgrund des natürlichen Reichtums des Landes peripher ist und sie eher der Unterhaltung als dem nackten Überleben dient, ist es offenbar Pflicht, ein Drittel des Tages mit der Gartenarbeit zu verbringen, die die Australier so vervollkommnet haben, daß sie die europäische Kunst des Obstanbaus und der Blumenzucht bei weitem übertreffen l5 . Ferner korrespondiert bei ihnen - wie in den archistischen Utopien - der Zustand absoluter gesellschaftlicher Konfliktfreiheit mit einer strikten Homogenität in der Besiedlung des Landes, in der Sprache sowie in den Sitten und Gebräuchen. "Im Land der Australier sieht man keine Berge", so heißt es. "Sie wurden eingeebnet. ( ... ) Die Kenntnis eines Wohn bezirks genügt, um zu wissen, wie es in allen übrigen aussieht"16. Die Siedlungsweise und die Anlage der Städte ist also einheitlich. Jede der 15 000 Städte um faßt 16 Wohnbezirke, die jeweils aus 25 Häusern bestehen. Jedes Haus hat vier Wohnungen für je vier Personen; "somit gibt es in jeder Stadt (Seizain) 400 Häuser und 6.400 Personen, die, wenn man sie mit den 1.500 Städten multipliziert, die Zahl der Einwohner des ganzen australischen Landes ergeben, also ungefähr 96 Millionen" 17. Die Einebnung der gesellschaftlichen Verhältnisse in diesem utopischen Entwurf geht so weit, daß die Geschlechterdifferenz zugunsten androgyner Zwitterwesen ausgelöscht wird 18. Als klassischer Vorläufer der politisierten Naturalisierung muß neben Rabelais "Abtei Thelema" und de Foigyns Australien-Utopie Fenelons BätikaEntwurf gelten, der sich explizit gegen den Absolutismus wandte. In seinem Fürstenspiegel "Die Abenteuer des Telemach" schöpfen die Bewohner dieses utopischen Gemeinwesens, wie es heißt, "ihre ganze Weisheit nur aus dem Studium der einfachen Natur"19. Es existiere, so wird betont, kein weiteres Volk auf der Erde, "welches, den Vorschriften der Natur folgend, zugleich so weise und so glücklich sei"20. Tatsächlich fällt auf, daß Fenelon in seinem BätikaEntwurf die Naturalisierung der Utopie in einem Maße vorantreibt, wie dies die ältere anarchistische Tradition nicht kennt. Hielt diese, wie wir sahen, an einer an geometrischen Formen orientierte Architektur bzw. Stadtplanung fest, so lehnen die Bätikaner alle "Künste der Architektur" als unnütz ab, "und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie keine Häuser bauen. 'Es bezeugt eine zu große Anhänglichkeit an die Erde', sagen sie, 'wenn man sich auf ihr Gebäude errichten will, die von längerer Dauer sind als wir selbst; es ist schon genügend, sich gegen die Unbill der Witterung zu schützen'. Alle anderen Künste, die von den 15 16 17 18 19 20

A.a.O .. S. 108 f. A.a.O .. S. 48. A.a.O., S. 48 f. A.a.O., S. 59 f. Fette/on 1984: S. 147. A.a.O., S. 152.

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Griechen, den Ägyptern und den übrigen zivilisierten Nationen geschätzt werden, verachten sie als Erfindungen, die der Eitelkeit und der Üppigkeit dienen "2\. Ein Motiv aufgreifend, das wir bereits in der Australien-Utopie de Foignys beobachten konnten, dient der Primat der Natur zugleich auch als regulatives Prinzip für die materielle Reproduktion der Bätikaner, deren Grundlage die Landwirtschaft ist. Die Natur selbst begünstigt sie durch optimale Voraussetzungen: "Dieses Land scheint die Herrlichkeiten des goldenen Zeitalters bewahrt zu haben. Die Winter sind dort gelinde, und nie wehen die kalten Nordwinde, die Hitze des Sommers ist stets durch erfrischende laue Lüfte gemildert, die die glühende Mittagsluft abkühlen. So ist das ganze Jahr nur eine innige Verkettung von Frühling und Herbst, die sich die Hände zu reichen scheinen. Der Boden in den Tälern und Ebenen bringt jedes Jahr eine doppelte Ernte hervor. Die Wege sind dort mit Lorbeer- und Granatbäumen sowie mit Jasmin und anderen stets grünen und blühenden Bäumen gesäumt. Die Berge sind mit Schatberden bedeckt, welche jene feine und von allen bekannten Nationen so sehr gesuchte Wolle liefern"22. Daß diese bukolische Vision gegen die streng formalen und tektonischen Gestaltungsmittel gerichtet war, mit mit denen Andre Le Nötre (1613-1700) die Parkanlagen von Versailles formte, liegt auf der Hand. Er wußte wie kein anderer vor ihm zwei große Strömungen der Zeit "von Anbeginn in seine Gärten einzuführen und miteinander zu verbinden. Die eine repräsentierte den Geist der Disziplin, der festen klar übersichtlichen Regel, der Proportion; diese Strömung fand ... in der Politik, in dem immer wachsenden monarchischen Empfinden, in der Geselligkeit der bis zum äußersten Raffinement ausgebildeten Etikette ihren Ausdruck". Die andere entsprach dem Bedürfnis nach Transparenz, das nach einem "prächtigen, von dem Haus ganz überschaubaren Repräsentationsgarten" verlangte. Ihm trug er dadurch Rechnung, daß er, "so abwechslungsreich sich auch die Achse in Parterre und Wasser gestalten mochte", vor allem einem Kriterium genügte: der Übersichtlichkeit, "denn dieser Garten war bestimmt, königlichen Festen mit Entfaltung herrlicher Kostüme, Aufzügen, Feuerwerken als Schauplatz zu dienen: alles und alle mußten gesehen werden"23. Im Barockgarten bildete sich gleichsam das absolute Königtum ab. Daß Fenelons bukolische Idylle nicht anders als die Abkehr von dem in Europa vorherrschenden absolutistischen Gestaltungsideal Ludwig XIV. interpretiert werden kann, geht im übrigen aus der expliziten Kritik hervor, die er mit ihr an dem denaturierten Luxus des absolutistischen Hofes verbindet. Getarnt als guter Geschmack, als "Vervollkommnung der Künste" und als "Verfeinerung der Nation", gehe der Geltungskonsum vom Hof des Königs aus und gewinne eine 2\ A.a.O .• S. 146. 22 A.a.O., S. 144. 23 Gothein 1914: S. 132.

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Macht über das Bewußtsein der Bevölkerung, der sich auch die Geringsten des Volkes nicht zu entziehen vermögen. Als hemmungsloses Streben nach Luxus ein Politikum ersten Ranges, zerstöre es nicht nur die sittlichen Grundlagen des Gemeinwesens, sondern auch dessen Einheit. Zwar bringe die Natur alles hervor, "was für die Erhaltung einer zahllosen Menge genügsamer und arbeitsliebender Menschen erforderlich ist; aber der Stolz und die üppige Schwelgerei mancher Leute stürzen so viele andere in schreckliche Armut"24. Fenelon zufolge gleicht die Metropole als das Zentrum des Luxuskonsums einem Ungeheuer, "dessen Kopf von übermäßiger Größe ist und dessen ausgemergelter, der Nahrung beraubter Körper in keinem Verhältnis zu diesem Kopf steht"25. Andererseits kann diese denaturalisierte Metapher jedoch nur für den tyrannischen, nicht für den aufgeklärten Absolutismus gelten. Er wird in der Salent-Utopie idealisiert, die Fenelon dem naturalisierten Bätika-Entwurf als gleichberechtigtes ideales Gemeinwesen in seiner Schrift gegenüberstellt. Dieser Absolutismus, der durch keine erkennbare Institution, wie etwa die Ständeversammlung, eingeschränkt wird, unterscheidet sich von der absolutistischen Despotie, die Fenelon so heftig kritisiert, nur dadurch, daß sich der Herrscher freiwillig den Gesetzen der Natur unterwirft: Es ist die aufgeklärte Moral und das wohl verstandene Eigeninteresse des Fürsten selbst, die ihn - im idealen Sinne - zum ersten Diener des Gemeinwesens machen 26 . Die Naturalisierung des utopischen Entwurfs bei Rabelais, de Foigy und Fenelon bedeutet also noch nicht einen Bruch mit den Formprinzipien des Absolutismus schlechthin. Zwar wird der Angriff auf ihn eröffnet. Aber er erfolgt in einem Rahmen, der noch vom Absolutismus selbst gesetzt zu sein scheint. So bricht sich allmählich im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts in der Gestaltung des Barockgartens eine Tendenz bahn, die zwar die geometrische Grundrißgestalt beibehält; "jedoch fällt bei näherem Hinsehen auf, daß es in diesen Gärten für gewöhnlich gar nicht mehr möglich ist, sie von einem Standpunkt aus zu 'erfassen', daß sie nicht einmal von mehreren Punkten aus vollständig übersehen werden können, um den Eindruck zu erwecken, wirklich Bedeutendes könne nirgendwo mehr verborgen sein. (... ) Der Grund für die Erschwerung einer orientierenden Übersicht liegt weniger im Weglassen der Symmetrie für den Grundriß (... ) als in dem Streben nach Intimität, Vielfalt und überraschendem Wechsel der Eindrücke"27. Zwar wird um das Schloß nach wie vor die Umgebung geordnet. Doch trotz der Beibehaltung seiner zentralen Stellung beginnt sich der Garten insofern zu "naturalisieren", als die "(immer noch geraden) Wege (... ) zu überraschenden, meist abgeschlossenen Plätzen (führen)". Diese "Eman-

24 Fenelon 1984: S. 244.

25 A.a.O., S. 398. 26 A.a.O .. S. 199-229. 27 HennebolHoffmann 1965: S. 324.

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zipation" des Gartens vom Schloß geht in manchen Fällen so weit, daß Einzelszenen ihm "den Rang ablaufen, indem sie miteinander durch Vielfalt ihrer Erscheinungen auf das lebhaftestes beeindrucken"28. Nirgendwo in Deutschland wird diese subkutane Transformation deutlicher als in der Gartengestaltung der Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth. Ausdrücklich bezog sich die Schwester Friedrichs des Großen auf die "Abenteuer des Telemach", als sie sich entschloß, das immer noch dominierende geometrische Muster der Gartengestaltung zu modifizieren. Direkt beeinflußt durch FeneIons Naturalisierungskonzept hat sie ihre Gärten Eremitage und Sanspareil in einer Weise gestaltet, daß es scheint, "als habe die andernorts aus der Architektur eines Schlosses bezogene geometrische Ordnung des Gartengrundrisses hier schon begonnen, sich aufzulösen und in diesem Prozeß alle Stufen der Lockerung des Zusammenhanges von Haus und Garten bis zum gänzlichen Verschwinden geometrischer Formen überhaupt durchlaufen"29. Wie der Plan der Anlage der Eremitage in Bayreuth zeigt, wird zwar auf geometrische Formelemenie nicht verzichtet. So gehen vom Neuen Schloß "axiale, das umliegende Gelände aufschließende Linienführungen ... aus". Das Neue aber ist, daß die Gartengestaltung nur sehr bedingt als Fortführung der Architektur des Schlosses angesehen werden kann: Die geometrische Regelmäßigkeit der Anlagen vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, daß von einem Bedürfnis nach Symmetrie ebenso wenig die Rede sein kann wie die Entwicklung "eines geometrischen Grundrißsystems auf einen Punkt hin oder besser: von einem Punkt - dem Schloß - in die Unendlichkeit"30. Daß die Abwandlung des "geometrisch-gradlinigen Systems ... im Ganzen zur Unverbindlichkeit, nicht mehr einfach Überschaubaren"31 hin, keine deutsche Spezialität war, zeigt die Entwicklung in England. Hier werden bereits im 17. Jahrhundert die streng symmetrischen Formmuster flexibel dem Terrain ange paßt, die zuvor spiegelbildliche Wiederholung gleicher Motive aufgegeben und die Muster der Parterres vereinfacht bzw. diese schon teilweise durch Rasenflächen (Bowling green) ersetzt. Nicht zufallig kam die chinesische Gartenkunst mit dem Begriff "sharawadgi" ("nicht regelmäßig seiend") im Sinne einer eleganten Unordnung in Mode 32 . Dennoch blieben diese ersten Versuche, das neue Gedankengut in den geometrischen Garten einzubringen, merkwürdig hilflos: Ohne sich ganz von der Hegemonie des barocken Schemas befreien zu können, wurden in einzelnen Partien Schlängelwege, amöbenhafte Teiche und irreguläre Pflanzungen angelegt. In seinem Gartentraktat "Ichnographia Rustica" (1718) 28 29 30 31 32

Ebd. A.a.O., S. 327. A.a.O., S. 329. Ebd. V gl. Buttlar 1989: S. 21.

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plädierte denn auch ein führender Architekturtheoretiker wie Stephen Switzer eher für eine "Liberalisierung" des barocken Schemas als für seine Überwindung: England als Vollenderin eines in der Antike wurzelnden, in Frankreich und Holland durch willkürliche Übertreibungen korrumpierten Stiles 33 . Wenige Jahre später war freilich, von England ausgehend, die Hegemonie des geometrischen Barockgartens bereits gebrochen. Die Alternative eines Gartens, in dem die "ungeschmückte Natur" nachgeahmt und das Verschneiden der Bäume ebenso vermieden wurde wie Symmetrien, setzte sich immer mehr durch. Die Bausteine des naturalisierten englischen Gartens hat Pope in seiner Beschreibung des Gartens von Stowe 1724 auf die Formel gebracht, daß "nichts unregelmäßiger im ganzen, nichts regelmäßiger in den einzelnen Teilen" ist, "weiche vollkommen voneinander verschieden sind". Zugleich Hillt die durch Mauern symbolisierte Abschottung das Gartens nach außen: Der Ausblick ist offen "in eine schöne waldige Gegend". Sie lasse den Betrachter im Ungewissen, "wie weit die Gartenwege sich ausdehnen"34. Nichts verdeutlicht diese Gartenrevoution mehr als die Tatsache, daß sich die Grenze zwischen Garten und Landschaft verwischte. "Die Mauer gab dem architektonischen Garten einst seine eigentliche Stütze und Berechtigung, sie schloß ihn von der umgebenden Landschaft ab und aus, so daß er sich als eine Welt für sich fühlen und entwikkein konnte, und auch in dem großen französischen Stil war dieser Gedanke festgehalten, so sehr man den Ausblick als Vedute für den Endpunkt der Alleen liebte. Jetzt aber gab es für das Auge nirgends mehr einen Rahmenabschluß, der Garten war nunmehr nur noch der Vordergrund für die weite Landschaft dahinter"35.

11. Die Naturalisierung der architektonischen Formen der Gartengestaltung, so kann zusammenfassend festgestellt werden, war nicht von Anfang an eine fertige Alternative zum geometrischen Muster. Sie konnte, so unsere These, sich erst durchsetzen, nachdem die politische Opposition gegen den Absolutismus, alle Brücken zu ihm abbrechend, darin ihren programmatischen Ausdruck entdeckte, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Es ist in diesem Zusammenhang von großer paradigmatischer Bedeutung, daß einer der führenden Köpfe der Aufklärung in England, Shaftesbury, im barocken Garten ein Symbol politischer Unterdrückung und Willkür, ein Synonym für 33 Ebd. 34 Zit. n. Gothein 1914: S. 371. 35 Ebd.

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die despotische Ordnung des Ancien Regime sah. Er wurde nicht müde, über die "formale eitle Spielerei fürstlicher Gärten" zu spotten 36 . Dem königlichen Park von Hamptoncourt, der sich an dem Vorbild von Versailles orientierte, setzte dementsprechend Joseph Addison (1710) seine Sicht eines Traumes vom Paradies als "dem Reich der Göttin der Freiheit entgegen", in dem jede Blume in ihrer individuellen Schönheit, "ohne in regelmäßige Begrenzungen oder Parterres eingepfercht zu sein", blüht37 . Diese Polarisierung zwischen Freiheit und Tyrannis, die sich in den konkurrierenden Konzeptionen der Gartengestaltung niederschlug, hat v. Buttlar auf eine prägnante Formel gebracht: "War das der Natur geradezu entgegengesetzte und sorgfältig aus ihr ausgegrenzte barocke Gartenkunstwerk Symbol mathematisch-kosmischer Gesetzlichkeit und hierarchischer Staats- und Weltordnung, so sollte der neue Landschaftsgarten gerade umgekehrt die Grenzen zur freien Landschaft vergessen machen und all ihre Naturschönheiten - Hügel, Täler, Wiesen, Bäche, Bäume, Teiche und Wälder - in sich aufnehmen: als Kunstwerk zugleich und gesteigertes Abbild der sichtbaren Schöpfung und Ausdruck einer neuen, liberalen Paradiesvorstellung"38. Unterstützt wurde dieser antiabsolutistische Affekt durch den immer wieder betonten Gegensatz des gesund-bäuerlichen Landes zur Sitten verderbnis der Stadt: ein Topos, der, wie von Buttlar zu Recht schreibt, "erstmals in der 2. Epode des Horaz 'Beatus ille .. .' (Glücklich der Mann, der fern von Geschäften ... ) als Phantasie eines Städters ausgesprochen war, der ohne alle Härten des Alltags den Landmann spielen will"39. Eine interessante Analogie wird in diesem Zusammenhang deutlich. Wie vom 15. bis zum 17. Jahrhundert formale geometrische Basisfiguren, die später von den etatistischen Utopien rezipiert und kritisch gewendet wurden 40 , der Herrschaftsrepräsentation der Renaissance-Fürsten und später der absoluten Monarchen diente, so scheint sich dieser Vorgang im 17. Jahrhundert hinsichtlich des Naturalisierungsmusters zu wiederholen. Es sind die liberalen Whigs, die es für die Symbolisierung der konstitutionellen und parlamentarisch verfaßten Monarchie zu instrumentalisieren suchen: Der naturalisierte Landschaftsgarten wird zum politisierten Gegenbild des Liberalismus gegenüber Versailles und den Restaurationsbestrebungen der Krone im eigenen Land stilisiert. So kritisierte Alexander Pope (1688-1744) "die Beschneidung der Pflanzen in tote geometrische Gebilde und lächerliche immergrüne Skulpturen ( ... ) analog zu dem durch Etikette zurechtgestutzten Höfling, während ihm der frei wachsende Baum zum Sinnbild des freien Menschen in seiner natürlichen Entfaltung wurde, edler

36 37 38 39

Zit. n. Butt/ar 1989: S. 12. Ebd. A.a.O" S. 7. A.a.O" S. 17. 40 Vgl. Saage/Seng 1996: S. 682 ff" in diesem Band S. 41.

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als ein Monarch in seinem Krönungsornat"41. Das Bestreben, die Naturalisierung mit dem liberalen politischen System ineinszusetzen, findet sich auch bei dem Gartentheoretiker William Mason (1725-1797). Für ihn "war der gewundene Pfad des Landschaftsgartens im Gegensatz zur starren barocken Allee ein 'Emblem konstitutioneller Freiheit', und sogar der eher pragmatische Landschaftsgärtner Humphry Repton (1752-1818) hielt den englischen Gartenstil für die glückliche Mitte zwischen Wildnis und ste!fer Fonnalität, so wie die liberale Verfassung zwischen der Anarchie der Wilden und dem Zwang despotischer Herrschaft stehe"42. Reptons Formel bezeichnet präzise den herrschaftslegitimierenden Aspekt der von den Whigs propagierten "Naturalisierung", wie sie ihn als Ausdruck ihrer kulturellen Hegemonie im englischen Landschaftsgarten verkörpert sehen. Nicht zufällig hat sie ihre politiktheoretische Entsprechung im Vertragsdenken des subjektiven Naturrechts, in dessen Namen die Whigs, allen voran John Locke 43 , dem Absolutismus jegliche Existenzberechtigung absprachen. Zwar gehen sie von der "Anarchie der Wilden" in einem fiktiven "Naturzustand" aus. Zugleich mißtrauen sie ihr aber in dem Maße, wie der "status naturalis" die Garantie der privaten Verfügung über Eigentum vermissen läßt. Daher schaffen die ursprünglich Gleichen und Freien untereinander über einen Gesellschaftsvertrag erst die Regeln, unter denen die als Eigentümer verstandenen einzelnen in einem Staat koexistieren können. Diese Konstruktion läßt "Naturalisierung" in einer ambivalenten Perspektive erscheinen. Einerseits sind die "natürlichen" Rechte der einzelnen auf Leben, Freiheit und Eigentum die entscheidenden Bausteine der "bürgerlichen Gesellschaft". Der Schutz dessen, was als ein Stück "Natur" in den Staat hineinreicht, avanciert zu seinem eigentlichen Zweck und zum Grund seiner Konstituierung. Andererseits ist aber nicht weniger wichtig, daß dieser Individualismus sich ebenso vom staats freien Zusammenleben der "Wilden" distanziert, der gerade das in Frage stellt, was als eines der wichtigsten "natürlichen Rechte" des Individuums gilt: das Recht auf Privateigentum. So gesehen, hat dieser Ansatz sein getreues Abbild im englischen Landschaftsgarten: Er befreit den einzelnen von den Zwängen der starren Konventionen, die durch die Symmetrie ebenso symbolisiert werden wie durch die von Mauern erzwungene Abschottung nach außen. Aber er gibt auf der anderen Seite die Vision einer solidarischen Gesellschaft preis. Der englische Landschaftsgarten ist Privateigentum und schließt die Öffentlichkeit von seinem Gebrauch aus. Zwar bleibt seine polemische Differenz zum Absolutismus bestehen. Zugleich geht aber die von ihm ausgedrückte Naturalisierung in dem Maße ihrer utopischen Dimension ver-

Butt/ar 1989: S. 12 f. 42 A.a.O., S. 13. (Hervorhebungen von uns, R.S. u. E.-M.S.) 43 Vgl. Locke 1977: S. 255 ff.

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lustig, wie sie der Legitimierung der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft und ihres liberalen Herrschaftssystems dient. Von dieser Tendenz, die "Naturalisierung" in den Dienst der liberalen Herrschaftslegitimation zu stelIen, blieb selbst der Mythos des "Bon Sauvage"44 nicht unberührt. Seine liberale Rezeption und Umdeutung gelang unter der Bedingung, daß die Südsee-Metaphorik dem klassischen Geschmack angepaßt wurde: ein Vorgang, der sich nicht nur an der neoklassizistischen Modifikation des neuseeländischen Grottenmotives und an der Errichtung tahitianischer Badehäuser nachweisen läßt. Er hat auch zahlreiche Motive der zeitgenössischen Wandteppiche geprägt. Vor alIem aber sind die Südseebilder dieser Zeit zu nennen. So ist in Zoffanys DarstelIung des "Todes des Kapitäns Cook" der Kopfschmuck der hawaiischen Häuptlinge vom antiken Helm der Griechen nur schwer zu unterscheiden: "Die Gleichsetzung von Tahiti mit Griechenland aus ästhetischen Gründen ermöglicht demnach auch die Gleichsetzung Tahitis mit politischer Freiheit aufgrund der Identifikation von natürlicher Landschaft mit politischer Verfaßtheit"45. Allerdings haben sich gegen diese Indienstnahme des "Bon Sau vage" im Interesse der Legitimierung von Herrschaft bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts jene Autoren gewandt, die - wie der Baron de Lahontan den anarchistischen Utopietypus auf eine neue Grundlage stellten. Er setzte in seinen "Dialogen" das utopische Gemeinwesen so vollständig mit der Natur ineins, daß er dessen Protagonisten, den Huronen Adario, fragen läßt: "Gibt es einen einzigen Menschen auf der Welt, der nicht weiß, daß das Schlechte gegen die Natur ist und daß er nur geschaffen wurde, um sich der Natur gemäß zu verhalten?"46 Ist diese Prämisse verwirklicht, so scheint das harmonische Zusammenleben der Menschen als deren notwendige Konsequenz. "Wir leben einfach unter den Gesetzen des Instinkts und des unschuldigen Verhaltens, das die weise Natur uns seit der Wiege eingeprägt hat", sagt der Edle Wilde Adario. "Wir stimmen in unseren Willen, Meinungen und Gefühlen überein. Wir verbringen unser Leben in einem so volIkommenen Einverständnis, daß man unter uns weder Prozesse, Streitereien und Rechtsverdrehungen kennt"47. In der älteren Utopietradition hatte, wie wir sahen, das Harmonieideal des geselIschaftlichen Zusammenlebens seine Entsprechung in einer Architektur, die, an geometrischen Formen orientiert, die absolute Transparenz der sozialen Verhältnisse verbürgen sollte: Selbst Fenelon relativierte, wie wir sahen, die Naturalisierung seines Bätika-Entwurfs durch die Konfrontation mit der Salent-Utopie, deren Vorbild der aufgeklärte Absolutismus ist. Bei de Lahontan wird nun diese letzte Verbindung mit den europäischen Verhältnissen, auch in ihrer freiheitlichen

44 V gl. hierzu grundlegend Meißner 1997. 45 A.a.O., S. 167. 46 de La/rontan 1704: S. 69. 47 A.a.O., S. 41.

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Modifikation durch die liberale Whig-Tradition, im Namen der Natur abgebrochen. Tatsächlich ist dieser Bruch so radikal, daß selbst noch die materiellen Grundlagen der europäischen Zivilisation, an die das bisherige utopische Denken subkutan anknüpfte, unterlaufen werden. Zunächst fällt auf, daß die Aufwertung von Wissenschaft und Technik, die seit Morus den archistischen Diskurs kennzeichnet, in de Lahontans naturalisierter Huronen-Utopie gänzlich rückgängig gemacht wird. Die Notwendigkeit des Lesens und Schreibens entfällt. Die Huronen kennen nur Zeichen (hieroglifes), die sie in die Bäume ritzen, um sich bei der Jagd oder im Krieg zu orientieren. Aher sie beharren darauf, Analphabeten zu bleiben"48. Damit wird dem modernen Wissenschaftsverständnis, das im Sinne Bacons auf Naturbeherrschung aus ist, eine Absage erteilt: Die Huronen sind, so müssen wir de Lahontan interpretieren, Teil der Natur und nicht deren Beherrscher. Ferner verabschiedet er die zweckrationale, durch Technik und Wissenschaft angeleitete arbeitsteilige Produktion, die seit Morus in den utopischen Diskursen eine wichtige Rolle spielt49 . Aber auch die Beziehungen zwischen den Geschlechtern werden grundsätzlich revidiert. Machte in Fenelons BätikaUtopie die Naturalisierung noch halt vor der patriarchalischen Struktur der monogamen Ehe, so wird nun die absolute sexuelle Freiheit propagiert. Die Frauen können sich so viele Liebhaber nehmen, wie sie wollen~iO. Offenbar war de Lahontan davon überzeugt, daß nicht eugenische Vorkehrungen im Sinne Platos, sondern die durch äußere Zwänge entlastete, nur auf gegenseitige Zuneigung beruhende Liebesgemeinschaft eine entscheidende "conditio si ne qua non" des "neuen Menschen" sei, der als der eigentliche Träger des utopischen Konstrukts angesehen werden muß. Schon in der Vorrede wird betont, daß es sich der Autor als eine Ehre anrechnet, wenn man ihn selber den "Wilden" zuordnet: Er werde dadurch zum ehrenwertesten Menschen erhoben 51 . Immer wieder lobt er den "bon esprit" und die Weisheit in den Reden und Taten dieser armen Amerikaner52 : Sie würden nur eine Glückseligkeit kennen, nämlich die Seelenruhe und die Freiheit53 . Dies vorausgesetzt, stellt sich die Frage, wie die politischen Verhältnisse im engeren Sinne he schaffen sein müssen, innerhalb deren sich diese "edlen Wilden" entfalten. Sie lassen sich auf eine kurze Formel bringen. Ihr Signum ist in "jener Art der Gleichheit" zu dechiffrieren, "die den Gefühlen der Natur entspricht", also ein Gemeinwesen, das frei ist von staatlich vermittelter Herrschaft. Interessant ist, daß es sich in dem herrschafts-

48 A.a.O., S. 72 f. 49 A.a.O., S. 55. 50 A.a.O., S. 98. 51 A.a.O., S. 5 f. 52 A.a.O., S. 8. 53 A.a.O., S. 81.

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freien Gemeinwesen de Lahontans keineswegs um einen Anarchismus "avant la leUre" handelt. Ausdrücklich wird betont, daß die unerträglichen Herrschaftsstrukturen in Europa und speziell in Frankreich so lange andauerten, bis auch hier die Anarchie eingeführt worden sei ("L'Anarchie soit introduite chez nous")54 wie bei den amerikanischen Indianern, bei denen der geringste mehr gelte als ein Kanzler von Frankreich. Diese "wohl geordnete Anarchie" kennt nur ein regulatives Prinzip des menschlichen Zusammenlebens jenseits gesatzter Normen und staatlicher Zwangsgewalt: Es ist eine Art Naturreligion, deren deistische Stoßrichtung unübersehbar erscheint. De Lahontans Muster hat die naturalisierte anarchistische Utopie im 18. Jahrhundert so nachhaltig geprägt, daß ihre Spuren selbst noch am Vorabend der Französischen Revolution erkennbar sind, als Diderot mit seinem "Nachtrag zu 'Bougainvilles Reise'" ihr Ende diagnostiziert. Auch er verzichtet darauf, den Harmoniegedanken durch die geometrische Gestaltung des utopischen Raumes zu unterstützen: ein Motiv, an dem, wie gezeigt, selbst noch die Entwürfe Rabel ais' und de Foignys festgehalten haben. Indem auch er die letzten Reste tilgt, die die älteren Utopisten mit ihrem historischen Gegner, dem frühneuzeitlichen Staat, gemeinsam hatten, wird sein Entwurf einer naturalisierten Gesellschaft zum Gegenbild der europäischen Zivilisation schlechthin. Die architektonische Geometrisierung der Wohnblocks, der öffentlichen Gebäude, der Straßen, der städtischen Grundrisse etc., die der in Stein gefaßten Herrschaftsrepräsentation des absoluten Staates nachempfunden waren, werden auch bei ihm durch eine Normativierung der Natur ersetzt, weIche autonom das gesellschaftliche Verhalten der einzelnen im utopischen Gemeinwesen steuert. Die entscheidende, die soziale Harmonie verbürgende Prämisse seines Ansatzes lautet denn auch: Die Tahitianer "folgen dem reinen Trieb der Natur"55. Aus dieser Prämisse zieht Diderot Konsequenzen, die bereits in de Lahantons Huronen-Utopie erkennbar sind: Sie reichen von der Option für eine staatsfreie Assoziation ursprünglich Gleicher und Freier über den WegfaIl organisierter und disziplinierter Arbeit aufgrund des natürlichen Überflusses an Nahrungsmitteln bis hin zu einer freizügigen Sexualmoral und der Abkehr von der modernen Wissenschaft und ihrer Anwendung als Technik. Dennoch unterscheidet sich der Ansatz einer naturalisierten Utopie bei Diderot vom Entwurf de Lahantons zu Beginn des Jahrhunderts in einer entscheidenden Hinsicht. Während dieser die sozialen Beziehungen der Wilden den Europäern als ideales Vorbild empfahl, das auch tatsächlich zu realisieren sei, ordnet Diderot seinen naturalisierten Entwurf einem historischen Ablaufmodell zu, das - in Analogie zur Entwicklung eines Menschen vom Kind über den Jugendlichen und den Erwachsenen bis hin zum Greis - Ausfluß der anthropologischen Wende um die Mitte des 18. Jahrhunderts 54 A.a.O., Preface. 55 Diderot 1984: S. 204.

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ist 56 . In Diderots Südsee-Utopie wird dieser geschichtsphilosphische Paradigmenwechsel konsequent nachvollzogen. "Der Tahitianer steht dem Anfang der Welt, der Europäer dem Greisenalter so nahe!" heißt es. "Der Abstand, der ihn von uns trennt, ist größer als der Abstand zwischen dem neugeborenen Kind und den Menschen in der Auflösung des Alters. Er versteht nichts von unseren Bräuchen und Gesetzen oder sieht in ihnen nur Fesseln, die in hundertlei Form gekleidet sind: Fesseln, die nur Empörung und Verachtung in einem Wesen hervorrufen können, in dem das Freiheitsgefühl das tiefste aller Gefühle ist"57. Damit hat sich in der anarchistischen Utopie Diderots der traditionelle Gegensatz zwischen den kritikwürdigen gesellschaftlichen Zuständen und der utopischen Norm entscheidend verändert. Bei der Abfahrt der Europäer, so berichtet Diderot, habe der alte Häuptling der Tahitianer "im Stillen über die entschwundenen schönen Tage seines Lebens"58 getrauert. Tatsächlich verabschiedet Diderot das bisher in den geschichtslosen Raum gestellte Ideal des naturalisierten Gemeinwesens: Tahiti wird in den historischen Prozeß eingebunden und vermag daher dem Zugriff der europäischen Zivilisation nicht zu entgehen; mit ihr konfrontiert, sind die Tahitianer nicht willens und stark genug, ihrer Herausforderung standzuhalten. Die Europäer, diese "bösen und ehrgeizigen Menschen", werden zurückkehren, die kulturelle Identität der Eingeborenen vollends brechen und die Idylle schließlich zerstören. Doch inwiefern wirkte dieser in den historischen Prozeß hineingezogene Utopieansatz auf die Gartenkunst des späten 18. Jahrhunderts zurück? Wahrscheinlich hat Rousseau in "Julie ou la Nouvelle He101se" ihm am nachdrücklichsten Ausdruck verliehen. "Der berühmte Garten, in den Helolse den einstigen Geliebten Saint-Preux führt, ist eine köstliche Wildnis, in der mit höchster Kunst jede Kunst, ja jede Spur der Menschenarbeit, verborgen wird. Die Blumen wachsen wie an ihrem eigentlichen Standort regellos in der Wiese und am Rande des Bächleins, das sich überall durchschlängelt, oder im natürlichen Fall über Steine schäumt. Die gewundenen, unregelmäßigen Alleen sind mit Schlingpflanzen bekränzt, die Vögel sind hier nicht Gefangene, sie werden nur durch Vogelhäuser und Futterplätze aller Art gelockt, sich hier anzubauen, und ihr tausendfältiger Gesang entzückt den Eintretenden". Doch ebenso charakteristisch ist, daß Rousseaus Option, im Naturgarten keine Gebäude zuzulassen, scheitern mußte: Wie tiefgreifend seine Wirkung auch immer sein mochte, "so konnte man sich in der Praxis doch dieser Forderung nicht fügen "59.

56 Vgl. hierzu Garber 1996. 57 Diderot 1984: S. 202.

58 A.a.O., S. 204. 59 Gotheill 1914: S. 385. 5 Sa.ge

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IU. Im ausgehenden 18. Jahrhundert scheint das Naturalisierungsparadigma ein ernsthaftes Problem aufzuwerfen. Auf der einen Seite schwindet seine utopische Qualität in dem Maße, wie es zur Herrschaftslegitimation eines liberalen Regierungssystems instrumentalisiert wird, das sich nicht nur vom absolutistischen Herrschaftsapparat, sondern auch in seinem architektonischen Selbstverständnis vom geometrischen Schema des Barockgartens von Versailles absetzt. Auf der anderen Seite wird es im Zeichen des "Edlen Wilden" mit einer Intensität utopisiert, daß es alle Verbindungslinien mit der europäischen Zivilisation auf eine einzige reduziert: die der Kritik an Herrschaft überhaupt. Diese kritische Distanzierung zur gegebenen sozio-politischen Wirklichkeit radikalisiert sich in einem Maße, daß der Weg in den Eskapismus wie bei de Lahontan oder in einen geschichtsphilosophischen Pessimismus wie bei Diderot unvermeidbar erscheint. Angesichts dieses Dilemmas stellt sich die Frage, ob es im zeitgenössischen Kontext nicht Versuche gegeben hat, beide aufgewiesenen Naturalisierungsvarianten zu einer Art "drittem Weg" zu synthetisieren. Es spricht, wie wir meinen, vieles dafür, im Wörlitzer Park einen solchen Versuch zu sehen, wie er in ähnlich idealtypisch reiner Form nirgendwo anders in Deutschland zu finden ist. Bereits in Rodes authentischer Beschreibung dieses Gartenkunstwerks aus dem Jahr 1788 ist vom "Fürstlichen Anhalt-Dessauischen Landhaus und Englischen Garten zu Wörlitz"60 die Rede. Rode hat mit dieser Formulierung ein Forschungsparadigma bezeichnet, dessen Einfluß nicht überschätzt werden kann. In seinem Rahmen wird der Wörlitzer Park ohne Rest in die Tradition des englischen Landschaftsgartens eingeordnet. So schreibt Marie Luise Gothein in ihrem Standardwerk über die "Geschichte der Gartenkunst": "Walpole hatte noch hochmütig gemeint, er glaube nicht, daß auf dem Kontinent die neue Gartenkunst großen Anklang finden würde, höchstens 'die kleinen deutschen Fürsten, die so verschwenderisch ihre Paläste und Landhäuser ausstatteten, könnten unsere Nachahmer sein'. Als Walpole seinen Essay veröffentlichte, war seine Prophezeiung schon Wirklichkeit geworden. ( ... ) In den Jahren 1769-1773 erbaute der Herzog Franz von Dessau seinen Sommersitz bei seiner Residenz in Wörlitz"61. Dies vorausgesetzt, wird Fürst Franz als einer der ersten Schüler der englischen Gartenkünstler hingestellt, die es verstanden hätten, die antiken Naturalisierungsmetaphern in "ein reales Arkadien" umzwandeln. So heißt es in einer neueren Untersuchung: "Als Beispiel eines besonders erfolgreichen Lernprozesses steht das Gartenreich des Anhalt-Dessauer-Fürsten Franz zeitlich und künstlerisch an erster Stelle. Das Ende des Siebenjährigen Krieges ermöglichte dem Dreiundzwanzigjährigen, die ersehnte Studienreise

60 Vgl. Rode 1928. 61 Go/hei" 1914: S. 329.

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nach England anzutreten, die erste von vieren. Die Eindrücke wurden für sein Leben bestimmend. Gleich nach seiner Rückkehr legte er mit dem Bau des Englischen Sitzes den Grundstein der späteren Wörlitzer Anlagen. Als Vorbild diente ein neopalladianischer Bau in Stourhead. Diese Wahl zeigt seinen sicheren Sinn für Qualität, denn der Park von Stourhead ist eine der künstlerisch vollendetsten der noch heute erhaltenen Gartenschöpfungen"62. Daß man in Wörlitz "nach den Prinzipien englischer Parkgestaltung"63 vorgegangen ist, scheint im übrigen durchaus der liberalen Politik des Fürsten Franz zu entsprechen. Wie schon bei den Whigs zu beobachten war, ging es ihm nicht - im Unterschied zu den Utopisten des Bon Sauvage - um die Abschaffung von Herrschaft überhaupt. Was er dagegen intendiert zu haben scheint, war die gartenkünstlerische und architektonische Überhöhung eines neuen Herrschaftssystems, das im Sinne der Emanzipation des Individuums für ein liberales Gemeinwesen stand. So war es kein Zufall, daß der "wahre" Palladianismus, wie ihn Erdmannsdorff in Wörlitz praktizierte, mit seinen "humanen Proportionen, seinen eher bescheidenen Dimensionen, seiner noblen Einfachheit und seiner überschaubaren Raumdisposition"64 kaum dem Geschmack großer Potentaten und absolut regierender Fürsten entsprach. Von ihm wandte sich Leopold Franz nicht nur in seinen Vorstellungen einer angemessenen Herrschaftsrepräsentation ab, sondern auch in seiner praktischen Politik. Tatsächlich brach er nicht nur mit den militaristischen Traditionen des preußischen Absolutismus. Darüber hinaus ließ der Bau seines Hoftheaters in Dessau eine erstaunlich unhöfische GrundhaItung erkennen: In dessen Innenraum, nach antikem Vorbild auf Gleichheit der Sitzordnung angelegt, nahm der Fürst seinen Platz nicht mehr auf dem Rang in einer eigens für ihn vorgesehenen Loge ein, sondern in den Reihen des bürgerlichen Publikums im Parterre 65 . Dem entsprach, daß in Dessau, wie das ]oumal des Luxus ulld der Modell anerkennend schrieb, "die traurige, ängstlich bewachte Barriere zwischen Adel und Bürgerschaft im Grund gar nicht vorhanden"66 war. Diese Gleichstellung hatte ihre Entsprechung in der VerbürgerIichung des Adels und der Nobilitierung des Bürgertums, wie sie von den Whigs in England praktiziert wurde. Gleichwohl griffe zur kurz, wer den Wörlitzer Park als eine bloße Fortschreibung des englischen Landschaftsgartens verstünde. Die antiken Motive, die seine Schöpfer inspirierten, wurden nämlich unübersehbar überlagert von jenen Bon-Sauvage-Visionen, die in der Südsee-Sammlung einerseits und der Rousseau-Insel andererseits ihren symbolischen Ausdruck fanden. Bekanntlich trafen 62 Siihnel 1996: S. 77. 63 Trallzettel 1996: S. 85. 64 Forssmann 1996: S. 105. 65 Vgl. Niedermeier 1996: S. 61. 66 Zit. n. Niedermeier 1996. ebd. 5*

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Fürst Franz und seine Begleiter Johann Reinhold Forster und Georg Forster in London, die gerade von einer dreijährigen Südseefahrt unter der Leitung von James Cook zurückgekehrt waren. Sie schenkten dem Fürsten eine Reihe von Exponaten ihrer umfangreichen Südseesammlung, für die er 1785 eigens einen Pavillion auf dem sogenannten Eisenhart bauen ließ67. Schon einige Jahre früher hatten Fürst Franz und seine Gemahlin Luise Rousseau am 16.10.1775 in seiner Pariser Wohnung besucht68 . Nach dessen Tod ließ er ihm, wie Rode berichtet, "auf einer kleinen länglichrunden Pappelinsel" im See ein Denkmal errichten. "Mitten auf der Insel erhebt sich, wie zu Eremonville, im Runde italienischer Pappeln auf Stufen eine Ara mit einer Urne aus Stein. Auf der nach der Anfurt gekehrten Seite der Ara liest man folgende vom Fürsten selbst gefertigte Inschrift: DEM ANDENKEN J. J. ROUSSEAUS BÜRGERS ZU GENF DER DIE WI1ZLINGE ZUM GESUNDEN VERSTANDE DIE WOLLÜSTLINGE ZUM WAHREN GENUSSE DIE IRRENDE KUNST ZUR EINFALT DER NATUR DIE ZWEIFLER ZUM TROST DER OFFENBARUNG MIT MÄNNLICHER BEREDSAMKEIT ZURÜCKWIES ERSTARB DEN 11. JULI MDCCLXXVIII. "69 Diese Inschrift läßt kaum einen Zweifel daran, daß - im Gegensatz zu Boettigers Deutung70 - die "Einfalt der Offenbarung" - ganz im Sinne Rousseaus nichts anderes bedeuten konnte, als die "Offenbarung in Gottes Buch der Natur"71. Trifft diese Interpretation zu, so signalisiert die Rousseau-Verehrung des Fürsten Franz zugleich auch die Differenz seines Wörlitzer Gesamtkunstwerkes zum englischen Landschaftsgarten: Rousseaus Einfluß, der sein Naturalisierungskonzept nicht nur gegen den französischen Absolutismus, sondern - wie seine rigide Kritik des englischen Parlamentarismus zeigt - auch gegen den Liberalismus der Whigs wandte, so unsere These, öffnete gleichsam das Einfalls67 Vgl. Rüffer 1996: S. 127.

68 Vgl. hierzu die privaten Tagebucheintragungen der Fürstin Luise von Anhalt-

Dessau 1996: S. 374 f. 69 Rode 1928: S. 59. 70 Vgl. Boettiger 1976: S. 27. Boeuiger wendet hier ein,"daß Rousseau die Zweifler nie zum Troste der Offenbarung. wohl aber in seinen Bergbriefen zum Glauben an Fortdauer durch das Licht der Natur geführt hat". 71 Sahnel 1996: S. 74.

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tor, durch das Elemente der Bon-Sauvage-Utopien in das Muster des englischen Landschaftsgartens in Wörlitz eindrangen. In dieser Perspektive hat auch die Wörlitzer Südseesammlung eine ganz andere Bedeutung, als Boettiger, der sie als "tote Raritätenkammer"n abtat, ihr beigemessen hat. Vielmehr gaben "die ausgesteIlten Gegenstände ...Zeugnis von einer exotischen Welt, in der die Menschen noch naturnah und unverdorben von den negativen Einflüssen der Zivilisation zusammenzuleben schienen. Diese Vorstellung von der Südsee als paradiesischem Ort wurde zwar durch die Reiseberichte der Forsters in vielen Punkten relativiert. Aber der Mythos vom 'edlen Wilden' und glücklichen Naturmenschen, der sich unter anderem auf die Werke Jean-Jacques Rousseaus gründete, blieb eng mit den Südseeinseln, besonders Tahiti, verknüpft." Ohne Zweifel ist in diesem Zusammenhang auch "die Präsentation der Südseesammlung in Wörlitz zu sehen, bei der einmal mehr die pädagogischen Ambitionen des Fürsten zum Ausdruck kommen: Die hier vorgeführten Gegenstände soIIten im Sinne der Naturphilosophie Rousseaus vorbildhaft auf die urtümliche, naturverbundene Lebensweise der Südseebewohner verweisen"73. Wir wollen nicht mißverstanden werden: Wenn wir die These vertreten, daß die Öffnung zum Naturalisierungskonzept Rousseaus dem Wörlitzer Garten erst gibt, was der englische Landschaftsgarten nie besessen hatte, nämlich eine utopische Dimension, dann bedeutet dies nicht, daß seine Gestalter dem Eskapismus der Bon-Sauvage-Utopien das Wort geredet hätten. Wohl aber impliziert sie, daß hinter dem Gesamtkunstwerk Wörlitz ein utopisches GeseIlschaftsmodelI steht, welches den Emanzipationsgedanken mit Hilfe der Visionen des "Edlen Wilden" weiter vorantreibt, als es von den englischen Whigs je intendiert worden war. Ein deutliches Indiz für die Tragfähigkeit dieser Interpretation ist die Aufwertung der Erotik, die, wie wir gesehen haben, als ein entscheidendes Signum der Bon-Sauvage-Utopien gelten kann. Zu Recht ist betont worden, daß sich das kosmologisch-erotische Gartenprogramm von Wörlitz als Reich der Venus und der Liebe zeigt. Zwar seien, wie es in einer neueren Untersuchung heißt, Liebe und Erotik als Gestaltungsmotiv sowie Inhalt und Ort der Gartenkunst nicht neu. Doch fänden sie in Wörlitz eine besondere Ausprägung. "Die Erotica das Wörlitzer Parkes", schreibt Michael Niedermeier, "gewannen Eingang in ein kulturgeschichtliches und weltanschauliches Gartenprogramm, zu dem zumindest ganze Passagen des Gartens verdichtet werden"74. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die Möglichkeiten "für den intimen und bequemen Rückzug auf das Thema Liebe und Erotik (... ) in den meisten Bauwerken des Wörlitzer Parkes zwischen Luisenklippe und Rotem Wachhaus"75. Vor

72 Boettiger 1976: S. 25. 73 Rüffer 1996: S. 127. 74 Niedermeier 1995: S. 175, 196. 75 Trauzettel 1996: S. 90.

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allem aber muß auf den Liebesgarten am Flora-Tempel hingewiesen werden. Daß in Flora das "Symbol der allerzeugenden Natur" zu sehen ist, hat bereits Boettiger ebenso verdeutlicht, wie "jene hochverehrten Werkzeuge der Fruchtbarkeit", die im Phallus-Symbol verkörpert sind 76 . Boettigers Schilderung folgend hat man seit einigen Jahren das Priapos-Beet vor dem Tempel wieder in Form eines Phallus beptlanzt77 . Daß im Wörlitzer Park Naturschönheit und Erotik - ganz im Sinne Rousseaus - zu einer Einheit verschmelzen sollten, deren Resultat ein "neuer Mensch" ist, kann vielfach belegt werden. Die utopische Zielperspektive vor Augen, die weit über den Horizont der deutschen Aufklärung hinausging, nämlich "auch im Zwischenmenschlichen eine Vermittlungebene zwischen Naturdrang und gesellschaftlicher Konvention, Vernunft und Leidenschaft, kreatürlichMenschlichem und Kulturell-Zivilisiertem"78 anzustreben, setzte sich Fürst Franz nachdrücklich in seinem Privatleben für die "Emanzipation des Fleisches" ein. Im Gegensatz zu dominanten Strömungen der Aufklärung in Deutschland sah" er die kreatürliche Sexualität ... nicht mehr als Gefahr, sondern als legitimen Ausdruck des Menschen"79. Ausdrücklich setzte er sich dafür ein, daß "das Tier in uns ... auch sein Recht"80 haben will, und zwar in einer Weise, die "Sinnlichkeit mit der Vernunft in Einklang"81 bringt. So gesehen, erscheint es nur konsequent, daß Fürst Franz mit der Tochter seines Gärtners, Leopoldine Luise Schoch, eine Liebesbeziehung eingegangen ist, aus der mehrere Kinder hervorgegangen sind. Viel wichtiger in unserem Zusammenhang aber ist, daß er den Wörlitzer Garten - bis auf den Besuch des Gothischen Hauses, den er für seine Privatheit reklamierte - der Öffentlichkeit zugänglich machte. Man geht sicherlich nicht fehl in der Deutung, daß er seinen Bürgerinnen und Bürgern das naturalisierte Szenario des Wörlitzer Gesamtkunstwerkes öffnete, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich mit der Natur ineinszusetzen und sich dadurch gleichsam zu "veredeln". Dieses Rousseausche Motiv, in der Auseinandersetzung mit der unberührten Natur zur individuellen Selbstfindung zu gelangen, prägte auch das Erziehungswesen im Fürstentum Anhalt-Dessau. So wurde im Philanthropin zum ersten Mal der Versuch unternommen, "eine aufklärerische, überkonfessionelle, kosomopolitische, tolerante, auf die Natur der Kinder abgestimmte Erziehung und Bildung zu praktizieren"82.

76 Boettiger 1976: S. 41.

77 Vgl. Trauzettel 1996: S. 90. 78 Niedermeier 1995: S. 53. A.a.O., S. 54.

79 80 81 82

Ebd. Ebd.

A.a.O .. S. 55.

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Noch in einer anderen Differenz zum Englischen Garten wird die utopische Qualität des Wörlitzer Parks erkennbar. Er ist mehr als das private Gartengrundstück eines Magnaten, der die Öffentlichkeit von seinem Gebrauch ausschließt. Schon 1795 meinte Charles Joseph de Ligne, als er Wörlitz besuchte, er habe Unrecht, einen Garten zu nennen, "was ganz als Landschaft zu behandeln (ist) und sich sogar von seiner (d.h. des Fürsten Franz) Residenz Dessau bis nach Wörlitz erstreckt: Denn seine Kanäle, seine vortrefflichen Wiesen und die Fülle von Eichen, Plantanen, italienischen Pappeln, Fichten usw. verbinden beide Wohnsitze miteinander"83. Tatsächlich zielten seine Schöpfer darauf ab, das "ganze Dessauer Land" in "einen englischen Garten zu verwandeln"84. Genau diese Intention hatte Boettiger vor Augen, als er 1797 schrieb, der ganze Weg von Dessau nach Wörlitz sei "mit so weiser Benutzung seiner Umgebungen angelegt, daß man sich in einem aneinanderhängenden Park zu sein dünkt, und in der Tat sieht man hier alles aus dem richtigsten Gesichtspunkt, wenn man die ganze Gegend in einem Umkreis von 6 deutschen Meilen für einen großen Park, für einen Tempel der Natur hält, wovon die engen, zusammenhängenden Wörlitzer Anlagen gleichsam nur das Allerheiligste ausmachen"85. Das Utopische dieses Projekts besteht darin, daß hier nicht nur ein Garten, sondern ein ganzes Land, eine - wenn man so will - Totalität im kleinen "naturalisiert" wurde. Nicht nur ein für Gärtner, Maler, Philosophen und Dichter attraktiver Aufenthaltsort, wie de Ligne meinte ("Jardiniers, Peintres, Philosophes, Poetes, allez a Wörlitz")86, aber auch nicht nur eine Erholungsstätte für die kleinen Leute war das Ziel, sondern die Schaffung eines "neuen Menschen" in einer naturalisierten Gesellschaft, die alle Bereiche des Lebens durchdringen sollte. Zugleich waren sich aber die Initiatoren dieses Projekts darüber im klaren, daß es in Mitteleuropa aufgrund der klimatischen und geographischen Gegebenheiten nicht ausreichte, sich einfach nur - wie in den Bon-Sauvage-Utopien unterstellt - des natürlichen Überflusses an allen lebenswichtigen Gütern zu bedienen. Vielmehr verbanden sie das naturalisierte Gesamtkunstwerk Wörlitz mit einem handfesten sozialreformerischen Szenario. Dessen Ziele, die von der Anhebung des Lebensstandards für alle über die Sicherung eines relativ breit gestreuten Wohlstandes bis hin zu einer gewissen sozialen Absicherung der einzelnen reichte 87 , waren nur dann zu realisieren, wenn die landwirtschaftliche Technik gleichsam an der Spitze des Fortschritts des ausgehenden 18. Jahrhunderts marschierte.

83 de Ligne 1795: S. 158. 841er;ckelH;rsch 1976: Einleitung zu Boett;ger: S. 11. 85 Boettiger 1976: S. 19. 86 de Ligne 1795: S. 153. 871erickeiHirsch 1976: S. 11 f.

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Daß in der Tat "Natur" und "technischer Fortschritt" im Wörlitzer Park nicht als Gegensatz, sondern als sich ergänzende Komponenten eines utopischen Refonnprogramms zumindest von vielen zeitgenössischen Beobachtern aufgefaßt wurde, ist verbürgt. Das Elend und die Wirren des Siebenjährigen Krieges vor Augen, erschien ihnen der Dessauer "Friedensstaat" als "irdisches Paradies", als das "Eden des Fürsten von Dessau" oder als "Arche Noah ... aus der allgemeinen Sündflut gerettet88 .

88 Zit. n. Je,.ickeIHi,.sch 1976: S. 12.

Utopie und Industrielle Revolution bei William Morris und Oscar Wilde

I. Der Topos des "Edlen Wilden" und die ihm zugeordnete "Republique Sauvage" I sind bis auf den heutigen Tag in ihrer Relevanz für den Erkenntnisfortschritt umstritten. Auf der einen Seite wird diese Metapher an ihrem fachwissenschaftlichen Aussagewert gemessen und als Ergebnis festgehalten, daß sie für die Ethnologie keinerlei Erkenntnisgewinn bietet2 . Auf der anderen Seite hält man dieser These, der "Bon Sauvage" sei nichts weiter als "Geistreichelei"3 oder "elegante Spiegelfechterei"4 zivilisationsmüder europäischer Intellektueller des 18. Jahrhunderts, entgegen, eine solche Abqualifizierung werde den Diskursen über dieses Thema in keiner Weise gerecht. Es gehe bei ihnen "nicht in erster Linie um eine nach heutigen Maßstäben rationale Erkenntnis 'wilder' oder 'primitiver' Völker, sondern um die Identität derer, die den 'edlen Wilden' beschreiben", also um die der Europäer und der Aufklärung. Der Wilde sei nicht auf eine reale Gestalt übertragbar; auch das Kind, der Bauer oder der Hirte im europäischen Kontext könnten als solcher erscheinen und nicht nur "die Funktion der Kritik, der Selbstvergewisserung und des Eskapismus, sondern auch die der Legitimation und Durchsetzung politischer Interessen"5 übernehmen. Doch selbst wenn man dieser Aussage zustimmt, darf nicht übersehen werden, daß mit ihrer Historisierung in der zweiten Hälfe des 18. Jahrhunderts im Zuge der "anthropologischen Wende"6 die Bon-Sauvage-Utopien ihre normative Kraft und damit ihr utopisches Potential schließlich im Zeitalter der Industrialisierung einzubüßen schienen. Sie mutierten zum Genre der Unterhaltungsliteratur von James Fenemore Coopers "Lederstrumpf' bis hin zu Karl Mays "Winnetou": Vorläufer einer Entwicklung, an deren Ende die Vermarktung von "Südseeträumen" in den einschlägigen Katalogen der Reisegesellschaften steht.

I Vgl. Funke 1986. 2 Vgl. Bitterli 1991: S. 389 f. 3 A.a.O., S. 374. 4 A.a.O., S. 376. 5 Meißner 1997: S. 185. 6 V gl. Garber 1996.

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Utopie und Industrielle Revolution

Ist also die naturalisierte Utopie der Industriellen Revolution und den aus ihr folgenden gesellschaftlichen Umwälzungen zum Opfer gefallen? Im folgenden werde ich diese Frage verneinen und die These vertreten, daß der Diskurs über die "Republique Sauvage" (Funke) im 19. Jahrhundert fortgesetzt wurde, wenn auch in anderen Fonnen und - im Vergleich zum 18. Jahrhundert - unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen. Beim Aufweis dieser Kontinuitätsline gehe ich von der Hypothese aus, daß sie sich besonders exemplarisch konkretisiert in William Morris' "News from Nowhere"7 und Oscar Wildes "The Soul of Man under Socialism". 8 In der Literatur ist zu Recht darauf hingewiesen worden, daß z. B. Morris' Versuch, im mittelalterlichen England ein Vorbild für seinen "neuen Menschen" zu finden, sehr stark der Konstruktion des "Edlen Wilden" bei Montaigne und Rousseau gleiche, die die nordamerikanischen Indianer dem europäischen Publikum des 17. und 18. Jahrhunderts als Vorbild und Anlaß zur moralischen Selbstreflexion empfehlen zu können glaubten 9. Die Frage ist allerdings, in welchem Umfang die Bon-Sauvage-Utopien als soziales System in den genannten Texten wirksam geworden sind und wie ihre Übertragung von den Agrargesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts auf den Kontext der Industriellen Revolution in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das spezifische Utopie-Szenario bei Morris und Wilde geprägt haben. Wer dieses Problem lösen will, kommt um die Frage nicht herum, worin denn eigentlich die wesentlichen Struktunnerkmale der Bon-Sauvage-Utopien bestehen, die ihre unverwechselbare Identität konstituieren. Diese Notwendigkeit, apriori bereits wissen zu müssen, was wir in den utopischen Gesellschaftsbildern bei Morris und Wilde suchen wollen, hat methodologische Konsequenzen. Sie legen aus heuristischen Gründen nahe, ein Struktunnodell der "anarchistischen Utopie" zu konstruieren und als analytische Folie zu nutzen, auf der sich womöglich die vennuteten Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede abbilden lassen.

7 Morris 1970. Zitiert wurde nach der von Gert Seile herausgegebenen deutschen Ausgabe (Morris 1981). Die Zitate wurden mit dem Original verglichen. 8 Wilde 1986. Zitiert wurde nach der Übersetzung von KoschelIWeidenbaum (Wilde 1982). 9 Redmond 1970: S. XXXI: "Morris' dream-Englishmen have a great deal in common with these idealized primitive men: 'these people', Morris teils us repeatedly, 'were Iike children'; they do not depend upon booklearning, but become wise through natural growth. (... ) their 'real education' has nothing to do with the 'commerciaI learning' which led to the exaggerated cynism typical of the 'wordly wise' Victorians. Like the barbarians admired by Tacitus, Montaigne, and Rousseau, they live morally better Iives without a legal system than their sophisticated equivalents were ever forced to do by threat of punishment; they do not love gold, they are healthy und handsome, they are hospital beyond measure, they are trustworthy, they do not feel opressed by their social structure, and they have not sense of guilt or sin".

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Vorher ist freilich zu klären, warum bei der Rekonstruktion des Bon-Sauvage-Topos im folgenden nicht die Reiseberichte eines Kolumbus 1o, BougainvilIeil oder Cook l2 , sondern die Fiktionen de Foignys l3, Fenelons l4 , de Lahontans l5 und Diderots l6 zugrundegelegt werden. Die Ursache liegt in der Differenz zwischen dem Muster des Reiseberichts, das von persönlichen Eindrükken, wissenschaftlichen Beobachtungen und der europäischen Herkunftskultur des jeweiligen Autors geprägt worden ist, und der politischen Utopie. Zwar gibt es kaum eine Utopie des Bon Sau vage, die sich nicht auf das in solchen Berichten gesammelte Material stützt oder von ihm seinen Ausgang nimmt. Doch was beide Genres unterscheidet, ist nicht nur ihr Verhältnis zur Authentizität der geschilderten Wirklichkeit, sondern auch das sie leitende Erkenntnisinteresse. Sowohl Kolumbus als auch Bougainville und Cook hielten an dem Anspruch fest, ethnologische und geographische Realität zu ermitteln und dem Leser mitzuteilen, auch wenn leicht nachgewiesen werden kann, daß sie vor allem wahrnahmen, was sich mit ihrem durch klassische Bildung oder religiöse Erziehung geprägten Weltbild assimilieren ließ. Konkrete ökonomische und politische Intessenlagen, die das Perzeptionsvermögen der Autoren nicht unerheblich beeinflußten, kommen hinzu. Trotz dieser kognitiven, die Wahrnehmung neuer Erfahrungen einschränkender Rezeptionsbarrieren waren diese Berichte "authentisch" insofern, als ihre Inhalte von den Autoren gleichsam "vor Ort" wahrgenommen wurden: Der "Realitätsvorsprung" gegenüber dem europäischen Leser stand außer Frage. Ein weiterer Aspekt erscheint wichtig. Die Wertungen der sogenannten "Wilden" in diesen Reiseberichten sind in der Regel offen. Dem "guten Wilden" tritt in der Regel das "böse" Pendent gegenüber, und ob eine positive oder negative Beurteilung erfolgt, hängt von dem Grad ab, in dem das Verhalten der "Primitiven" und "Exoten" der WiIlfahrigkeit einklagenden Erwartungshaltung der Europäer entgegenkommt 17. Mit beiden Strukturmerkmalen der klassischen Reiseberichte brechen die Utopien des Bon-Sauvage. Für die letzteren ist charakteristisch, daß sie das Postulat einer möglichst realistischen Wirklichkeitsrezeption gar nicht erst erheben. Worum es vielmehr geht, ist der Aufweis der Defizite europäischer Gesellschaften einerseits und die lebens weltlich vermittelte Illustration eines alternativen Zustandes andererseits, der in Europa angeblich dem Zivilisationsprozeß geopfert und daher nur noch der Möglichkeit nach vorhanden ist. Hochgradig 10 Vgl. Koll1mbus 1991. 11 de Bougainville 1980. 12 Cook 1777. 13 de Foigny 1693.

14 Fellelon 1984. 15 de Lahontall 1704. 16 Diderot 1984. 17 Vgl. hierzu Meißner 1997: S. 190 ff.

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fiktiv, sind die empirischen Befunde der fremden Kulturen lediglich das Medium, in dem der eigenen Zivilisation im Namen einer emanzipatorischen Vernunft, die sich der Gefahr des Umschlagens in bloße instrumentelle Rationalität bewußt geworden ist, der Prozeß gemacht wird. Diese Intention wirkt auf das Erkenntnisinteresse der politischen Utopie zurück. Da der konstatierten "Dialektik der Aufklärung" mit der Problematisierung, ja Abschaffung von Herrschaft des Menschen über den Menschen begegnet werden soll, ist die von der für den klassischen Reisebericht so charakteristischen Unterscheidung zwischen "guten" und "bösen Wilden" der Boden entzogen: Das utopische Ideal der "Republique Sauvage" ist per se gut, und alle negativen Abweichungen werden der europäischen Zivilisation zugeordnet oder angelastet. Daß die Rezeption des "Guten Wilden" nur wenig zu tun hat mit seiner Instrumentalisierung durch die Vertreter der Whigs bzw. bürgerlicher Liberaler in ihrem Kampf gegen absolutistische Aspirationen 18 einerseits und gleichzeitig eine deutliche Distanz zur autoritären Utopietradition in der Nachfolge Morus' und Platons 19 andererseits erkennen läßt, muß nicht eigens betont werden. Doch welche spezifischen Merkmale machten ein solches scharf geschnittenes Profil möglich? Ich möchte im folgenden vier charakteristische Merkmale in der gebotenen Kürze erläutern, die von der Negation der Geometrie der autoritären Utopietradition und der Vision einer Überflußgesellschaft ohne physische Arbeitsfron über die Minimisierung und Entinstitutionalisierung von Herrschaft zugunsten der Entfaltung des Individuums bis hin zu Konzeptionen einer befreiten Sexualität reichen. Ohne mit dieser Reihung Prioritäten behaupten zu wollen, sollte hinzugefügt werden, daß sie erst in ihrer Gesamtheit die naturalisierte Utopie konstituieren, die bekanntlich in dem von antiken Autoren wie Hesiod, Ovid, Vergil, Theokrit und Horaz beschworenen Mythos des "goldenen Zeitalters" ihren literarischen Vorläufer hat20 . 1. In der archistischen Utopietradition 21 hatte das Harmonieideal des gesellschaftlichen Zusammenlebens seine Entsprechung in einer Architektur, die, an geometrischen Formen orientiert, die absolute Transparenz der sozialen Verhältnisse verbürgen sollte. In gewisser Weise war die Herrschaftsarchitektur der Renaissance und des Absolutismus das heimliche Vorbild des utopischen Konstrukts22 . In den Fiktionen des Bon Sauvage wird nun auch diese letzte Brücke, die die Utopie mit ihrem Gegner verband, abgebrochen: Die Vernunft, in deren Namen das utopische Denken an ihnen Kritik übt und zugleich eine positive Al-

Vgl. hierzu Saage/Seng 1998, in diesem Band S. 45-72. Vgl. hierzu Saage/Seng 1996, in diesem Band S. 33-48. Vgl. Meißner 1997: S. 167. 21 Vgl. zur Unterscheidung zwischen archistischer, d.h. herrschaftsbezogener und anarchistischer Utopie grundlegend Voigt 1906: S. 18. 22 Saage/Seng 1996. in diesem Band S. 33-48, sowie de Bruyn 1996. 18 19 20

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ternative entwickelt, ist so vollständig von der Natur absorbiert, daß selbst noch die materiellen Grundlagen der europäischen Zivilisation, an die das bisherige utopische Denken immerhin anknüpfte, unterlaufen werden. Diese Prämisse hat von Anfang an innerhalb des Diskurses über den Bon-Sauvage dessen Verhältnis zur Architektur geprägt. So lehnen bei Fenelon die Bätikaner alle "Künste der Architektur" als unnütz ab. Es reiche aus, sich gegen die Unanehmlichkeiten der Witterung zu schützen 23 . Die architektonische Geometrisierung der Wohnblocks, der öffentlichen Gebäude, der Straßen, der städtischen Grundrisse etc. werden durch eine Normativierung der Natur ersetzt, die sich der Disziplinierung durch geometrische Basisfiguren wie Kreis, Quadrat oder Rechteck entzieht. An ihre Stelle tritt das Unregelmäßige und Asymetrische bzw. die vom Menschen nicht domestizierte Wildnis. 2. Der klassischen Utopietradition, die von Platon und Morus ihren Ausgang nahm, lag die Annahme zugrunde, daß der Natur erst durch physische Arbeit abgerungen werden mußte, was die Gesellschaft an materiellen Gütern zu ihrer Reproduktion benötigte. Erst ein Höchstmaß an Disziplin, die in der Regel von starken staatlichen Institutionen kontrolliert wurde, stellte sicher, daß der Arbeitstag auf 6 oder 4 Stunden reduziert, die Güter egalitär verteilt und Freiräume für die Befriedigung kultureller Bedürfnisse ermöglicht wurden. Die Bon-Sauvage-Utopien brechen mit diesem Muster. Physische Arbeit von Mensch und Tier sinkt in dem Maße zu einer peripheren Größe herab, wie Natur und Gesellschaft als Einheit vorgestellt werden: Jene versorgt diese von sich aus mit materiellen Gütern im Übertluß, so daß die Notwendigkeit einer staatlich garantierten Arbeitsorganisation- und Disziplinierung ebenso entfällt wie die institutionalisierte Verteilung der Güter an die Konsumenten. Auch wenn sich de Foignys Australien-Utopie in anderen Hinsichten vom Muster der Bon-Sauvage-Utopie unterscheidet 24 , hat er gleichsam programmatisch die Entlastung von den Zwängen der materiellen Reproduktion auf eine treffende Formel gebracht: "Jeder kann sich im Übertluß ernähren, ohne das Feld zu beackern oder die Bäume zu kultivieren"25.

3. Die archistische Utopietradition ging von einem Menschenbild aus, das zwar die Möglichkeit einer Höherentwicklung der einzelnen im Sinne eines harmonischen Zusammenlebens im Kollektiv unterstellte, zugleich aber den Rückfall in egoistisches Verhalten nicht von vornherein ausschloß. Die Folge dieser Prämisse war, daß der einzelne von der Wiege bis zur Bahre in ein System überwachender und strafender Institutionen eingebunden war, das ihn seiner Individualität weitgehend beraubte und zu einem transparenten, durchsichtigen Menschen machte. Demgegenüber führten die Utopisten des Bon-Sauvage alle De23 Fine/on 1984: S. 146.

24 Vgl. hierzu Saage/Seng 1998, in diesem Band S. 45-72. 25 de Foigny 1693: S. 131.

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pravationen der Gesellschaft umgekehrt auf die den einzelnen zur Konformität zwingenden Institutionen zurück. Die Folge war, daß sie das Ideal des utopischen Gemeinwesens in einer weitgehend institutionenfreien und dezentralisierten Gesellschaft sahen, in der es eine übergeordnete Herrschaft des Menschen über den Menschen nicht mehr gab. So sucht man in Fenelons Bätika-Utopie einen Staat als übergeordnete Herrschaftsinstanz vergeblich. Die Notwendigkeit einer staatlichen potestas entfällt, da alle aufkommenden Konflikte innerhalb der einzelnen Familien gelöst weden. Das Fehlen sozialer Antagonismen führt Fenelon auf das Nomadendasein der Bätikaner und vor allem auf "die Abschaffung unnützer Reichtümer und der trügerischen Vergnügungen" zurück 26 . Noch prononcierter betonte de Lahontan die anarchistische Struktur des politischen Gemeinwesens der Huronen. Seine "geordnete Anarchie"27 kennt nur ein regulatives Prinzip des menschlichen Zusammenlebens jenseits gesatzter Normen und staatlicher Zwangsgewalt: Es ist eine Art vernünftiger Naturreligion, deren deistische Stroßrichtung unübersehbar erscheint. 4. Keiner Dimension des menschlichen Zusammenlebens hat die archistische Utopietradition größere Aufmerksamkeit geschenkt als der Sexualität. Sie wurde aus zwei Gründen zu einem bevorzugten Bereich staatlicher Kontrolle und Reglementierung erhoben. Einerseits galt sie als biologische Voraussetzung zur Hervorbringung eines "neuen Menschen", die für die Reproduktion des utopischen Gemeinwesens viel zu bedeutend war, als daß man sie der natürlichen Emotionalität überlassen konnte. Andererseits wurde ihre systemsprengende Kraft gefürchtet; sie zu kanalisieren, war also eine wichtige Maßnahme zur Sicherung der inneren Stabilität des utopischen Gemeinwesens. Die Utopisten des Bon Sauvage gingen von konträren Annahmen aus. Sie ließen keinen Zweifel daran, daß es gerade die nicht frei ausgelebte Sexualität und Erotik war, die zu Aggressionen, Konflikten und Frustrationen führte und so die Harmonie der gesellschaftlichen Beziehungen störte. Die konfliktfreie Gesellschaft, so lautete ihre Botschaft, steht und fällt mit der Befreiung der Sexualität von Reglementierungen religiöser, moralischer und staatlicher Art. Niemand hat die Folgen dieser Option für das Sexualverhalten anschaulicher beschrieben als Diderot in seiner Tahiti-Utopie. "Unsere Töchter und Frauen gehören allen"28, heißt es. Es gibt zwar "Ehen" auf Tahiti, doch sie haben ihr ausschließliches Fundament in der freiwilligen Zustimmung der Partner, dieselbe Hütte zu bewohnen und in denselben Betten zu schlafen, solange sie sich dort wohlfühlen. Die durch keine Herrschaft regulierte Liebe läßt sich nicht in eine feste Form pressen: Ihr Wesen ist, sie zu sprengen, sobald die emotionale Beziehung zwischen den Partnern erlischt. Dann ist der Weg frei für neue Liebesverhältnisse, die Eifersucht nicht

26 Fenelon 1984: S. 147. 27 de LallOntan 1704: S. 61. 28 Diderot 1984: S. 204.

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kennen, weil deren Voraussetzung fehlt: die Ausdehung des Eigentumsrechts "auf einen freien empfindenden, denkenden und wol1enden Gegenstand"29. Bevor wir jedoch dieses idealtypische Strukturmodel1 nutzen, um die utopischen Szenarien bei Morris und Wilde innerhalb der Tradition des Bon Sauvage zu verorten, muß der gesel1schaftliche Kontext verdeutlicht werden, auf den sie reagierten. Für den gesamten Utopie-Diskurs bis zur Französischen Revolution ist charakteristisch, daß er in seiner Zeitkritik auf die sozialen Mißstände agrarischer Gesellschaften reagierte, deren Struktur nicht einmal in den utopischen Entwürfen selbst in Richtung auf eine moderne Industriegesellschaft gesprengt wurde 30 . Auch die naturalisierten Utopien des Bon Sauvage verstanden sich im 17. und 18. Jahrhundert als Alternativen zum politischen und gesel1schaftlichen System des Absolutismus, dessen Haupterwerbsquel1e man in der Landwirtschaft sah, obgleich - auch in Frankreich - bereits erhebliche Anstrengungen zu beobachten waren, die Industrialisierung voranzutreiben. Demgegenüber hatten Morris und Wilde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits einen industriellen Modernisierungsprozeß vor Augen, in dessen Zentrum die mit technischen Mitteln erzwungene industrielle Umwälzung der Gesellschaft stand. Ihnen ging es nicht mehr um die feudale Ausbeutung der menschlichen Arbeit, um absolutistische Repressionsmechanismen, um vom Luxus korrumpierte höfische Konventionen oder um die von der katholischen Kirche kontrollierten Moralvorstellungen. Ihr Ausgangspunkt war vielmehr das von der Industriel1en Revolution zu verantwortende massenhafte soziale Elend. So sieht Wilde das entscheidende Defizit der Gesel1schaft, mit der er seinen utopischen Entwurf konfrontiert, in einer Eigentumsordnung und in einem Wettbewerbssystem, die bewirken, daß der Mensch in dem Augenblick zu hungern beginnt, in dem er "Maschinen erfand, die seine Arbeit verrichten ... Ein Einzelner ist Eigentümer einer Maschine, die Arbeit von fünfhundert Menschen leistet. Dadurch sind fünfhundert Menschen arbeitslos, und weil sie keine Beschäftigung haben, fallen sie dem Hunger und dem Diebstahl anheim. Der Einzelne sichert sich das Produkt der Maschine und behält es und besitzt fünfhundertmai mehr, als er besitzen sollte und wahrscheinlich, dies ist von noch größerer Bedeutung, sehr viel mehr als er wirklich begehrt"31. Der Industrialisierungsprozeß, so schreibt Morris, habe in London Slums entstehen lassen, die er als "Orte der Qual für unschuldige Männer und Frauen, oder schlimmer noch, (als) Brutstätten der Unzucht"32 bezeichnet. In Häusern, die mehr Höhlen glichen, lebten Männer und Frauen in ihrem Unrat wie Heringe in einer Tonne zusammengepfercht, ein Leben, "das sie nur deshalb zu ertragen imstande waren, 29 A.a.O., S. 230. 30 Vgl. Saage 1995: S. 219. 31 Wilde 1982: S. 227. 32 Morris 1980: S. 10 I.

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weil ihnen jedes Gefühl von Menschenwürde abhanden gekommen war"33. Die traditionellen Dörfer fielen dem Industrialisierungsprozeß zum Opfer: Nur diejenigen von ihnen überlebten, die sich den Fabrikdistrikten anschlossen oder selbst kleine Industrieorte wurden. England sei einst "das Land der lieblichen Lichtungen zwischen Wäldern und Wüsteneien" gewesen "mit nur wenigen Städten, welche Festungen für feudale Armeen, Märkte für das Volk und Sammelplätze für die Handwerker waren. Dann wurde es das Land ungeheurer giftiger Werkstätten und noch giftigerer Spielhöllen, umgeben von schlecht bewirtschafteten armseligen Farmen und Hütten, und das arbeitende Volk wurde ausgeplündert durch die Herren der Werkstätten"34. Die urbanen Industriezentren seien zu großen, finsteren, dumpfen und rauchgeschwängerten Stätten verkommen. Was bedeutet nun "Naturalisierung", wenn man sie mit dieser welthistorisch neuen Herausforderung konfrontiert? Sind angesichts einer gesellschaftlichen Problemlage, die für die Autoren der Bon-Sauvage-Utopien noch kein Thema war, deren Topoi eines harmonischen Gemeinwesens überhaupt in den utopischen Szenarien auffindbar? Und sollte dies der Fall sein: Mußten sie modifiziert werden, um als eine plausible Alternative zum kapitalistischen Modernisierungsprozeß gelten zu können? Weder Morris noch Wilde haben sich explizit auf die sogenannten "Naturvölker" im außereuropäischen Kontext bezogen. Andererseits wurde bereits darauf hingewiesen, daß deren ethnologische Grundlage von Anfang an austauschbar war: Nicht das exotische Gewand der Bon-SauvageUtopien ist in unserem Zusammenhang relevant, sondern die von ihm loslösbaren Topoi, die zugleich als Strukturmerkmale einer naturalisierten utopischen Gesellschaft gelten können. Wie also sieht ein solcher Entwurf aus, wenn er nicht als Antwort auf eine Agrargesellschaft, sondern als Alternative zu einer wissenschaftlich-technischen Zivilisation unter kapitalistischen Bedingungen konzipiert wurde, deren Entwicklung bereits ihren "point of no return" erreicht hat? Diese Fragen versuche ich anhand des oben entwickelten Strukturmodells zu beantworten. Dabei gehe ich zunächst auf die Punkte eins (Naturalisierung), drei (Herrschaftsabbau) und vier (befreite Sexualität) des oben entwickelten Strukturmodells der Bon-Sauvage-Utopien ein, weil ich in ihnen die größte Übereinstimmung vermute. Punkt zwei (Rolle der Arbeit und Technik) werde ich anschließend als den Aspekt der Komparatistik diskutieren, der die deutlichsten Divergenzen erkennen läßt.

33 A.a.O., S. 102. 34 A.a.O., S. 106.

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11. Zunächst ist charakteristisch, daß sowohl Morris als auch Wilde dem für die klassische Utopietradition so charakteristischen Postulat der Homogenität und Transparenz, das in der Festlegung der Architektur und Stadtplanung auf geometrische Muster seinen sinnfälligen Ausdruck fand, eine ebenso deutliche Absage erteilen wie dies hundert Jahre zuvor bei den Autoren des Bon-Sauvage der Fall gewesen ist. Für Oscar Wilde ist es gerade die Betonung der Differenz, die ein gelungenes Leben auszeichnet. Niemand bleibe frei, so betont er immer wieder, "der sich mit den Ansprüchen des Konformismus einläßt"35. Für ihn ist die "Gleichförmigkeit des Typus" und die "Anpassung an die Regel" ein "unsittliches Ideal"36. Was es zu zerstören gelte, sei "die Eintönigkeit des Typischen ( ... ), die Herabsetzung des Menschen auf das Niveau einer Maschine"37. Die "neuen Menschen" in der vollendeten Gesellschaft, davon war er überzeugt, werden die anderen lieben, "weil sie so verschieden sind ( ... ). Die Persönlichkeit des Menschen wird wundervoll sein. So wundervoll wie das Wesen eines Kindes"38. Morris setzte sich nicht weniger engagiert als Wilde für die Vielfalt des Lebens ein. Sie findet in seiner Utopie ihren Ausdruck in einer "Anarchie der Baustile", die quer steht zum Einheitsgebot der geometrischen Basisfiguren. Er sieht in seiner vollendeten kommunistischen Gesellschaft Bauten der Renaissance und der Antike sowie mittelalterliche Wohnhäuser ebenso vor wie große Hallen in einem glänzenden Prachtstil, "der die besten Eigenschaften der nordeuropäischen Gotik mit denen des. sarazenischen und byzantinischen Stils zu vereinigen schien, ohne sich sklavisch an eine dieser Stilarten zu binden"39. Beide Autoren setzen die Betonung der Differenz bzw. der Individualität mit Naturalisierung gleich. Nach Wilde wird die wahre Persönlichkeit unter den idealen Bedingungen seiner Utopie "natürlich und einfach wachsen, wie eine Blume oder ein Baum wächst"40. Sein Anliegen, die Individualisierung des Lebens, kleidet er immer wieder in eine naturalisierende Metaphorik. Eine rote Rose, so betont er, "ist nicht egoistisch, bloß weil sie eine rote Rose sein will". Dies wäre nur dann der Fall, "wenn sie von allen anderen Blumen des Gartens verlangen wollte, daß sie nicht nur rot, sondern auch Rosen sein sollten"41. Der entfaltete Mensch, so betonte er immer wieder, werde "ganz natürlich und vollkommen selbstlos sein"42. In seiner Lebensfreude drücke sich "die 35 Wilde 1982: S. 224.

36 A.a.O .. S. 248. 37 A.a.O .. S. 229. 38 A.a.O .. S. 220. 39 Morris 1980: S. 52. 40 Wilde 1982: S. 220.

41 A.a.O .• S. 247. 42 Ebd. 6 Saage

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Natur aus, ihr stimmt sie zu"43. Für Wilde ist charakteristisch, daß er das Naturalisierungsmotiv sogar auf die Funktionen der Maschine in seinem utopischen Gemeinwesen überträgt. Während die moderne Technik "die notwendige, unangenehme Arbeit verrichtet", werde die Menschheit "schöne Dinge hervorbringen oder schöne Dinge lesen oder einfach die Welt mit Bewunderung und Entzücken betrachten". Die hierzu notwendige Muße ermöglichten die Maschinen, und zwar "so wie die Bäume wachsen, während der Landwirt schläft"44. In Morris' Utopie avanciert die Gleichsetzung von Individualisierung und Natur zu einem regulativen Prinzip der Stadtenwicklung und der ökologischen Landschaftsgestaltung in den zerstörten Industrieregionen. An der Themse in der Nähe Londons, so berichtet der Ich-Erzähler, sind die Seifensiedereien mit den rauchspeienden Schornsteinen verschwunden, "die Bleiwerke fort, und der Westwind trug von Thorneycroft keine Schmiede- und Hammergetöse mehr herüber"45. In der Themse selbst ist das Wasser so klar, daß sie zum Baden einlädt und in ihr Lachse gefangen werden können. Die Industriezentren, diese "großen, finsteren, dumpfen, rauchgeschwärzten Städte" mit ihren Slums, sind "vom Erdboden verschwunden"46. In London stehen zwar noch einige Gebäude aus dem 19. Jahrhundert wie das Parlament und das British Museum. Doch an die Stelle der ehemaligen Ziegel- und Steinwüste der Slums ist ein "Labyrinth von Gärten und Häusern"47 getreten, die durch irregulär angelegte Heckenpfade verbunden sind. Die von Morris imaginierte Gartenlandschaft ebnet das Gefälle von Stadt und Land ein. Ihre Abkehr von den geometrischen Formen ist eine klare Fortsetzung zentraler Intentionen der Bon-Sauvage-Utopien. Zwar wird nicht deren Verzicht auf Gestaltung des utopischen Raums propagiert, zum al es die unversehrte Natur ja erst mit technischen Mitteln wiederherzustellen gilt. Doch geht es Morris darum, sowohl die Architektur als auch die Landschaftsgestaltung möglichst authentisch den natürlichen Lebensbedingungen anzupassen. Diese Tendenz läßt sich auch in der Naturalisierungsmetaphorik Wildes unschwer erkennen. In weIchem Verhältnis stehen die beiden Autoren zu dem anderen zentralen Motiv der Bon-Sauvage-Utopien, nämlich der Autonomie des Individuums und des gleichzeitigen Abbaus von politischer und sozialer Herrschaft? Auch hier ist charakteristisch, daß sie alle Varianten der archistischen Utopie, den autoritären Sozialismus des 19. Jahrhunderts nicht ausgenommen, vorbehaltlos ablehnen. "Ich glaube kaum", schrieb Wilde, "daß heute ein Sozialist ernsthaft vorschlagen würde, ein Inspektor solle jeden Morgen in jedem Hause vorsprechen, 43 44 45 46 47

A.a.O .. S. 251. A.a.O .. S. 22R. Mo,.,.is 19RO: S. 41. A.a.O .. S. 39. A.a.O .. S. 74.

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um zu überprüfen, ob jeder Bürger aufgestanden ist und sich an seine achtstündige Handarbeit begeben hat"48. Die Menschheit sei über dieses Stadium hinausgelangt und zwinge eine solche Lebensform nur denjenigen auf, die sie höchst willkürlich als Verbrecher zu bezeichnen pflege. Die archistische Utopie bzw. der autoritäre Sozialismus sei gescheitert, stellte er bereits Dekaden vor der Etablierung eines solchen Systems in der Sowjetunion fest. "Wenn der Sozialismus autoritär ist, wenn Regierungen mit ökonomischer Macht ausgestattet werden, so wie sie jetzt mit politischer Macht ausgestattet sind, wenn wir mit einem Wort eine Industrietyrannei bekommen sollten, dann wäre der neue Status des Menschen schlimmer als der hisherige"49. Unter den Bedingungen des Privateigentums sei es immerhin möglich, daß wenigstens einige Individuen sich in Freiheit entfalten können; innerhalb eines "industriellen Kasernensystems" hingegen bliebe niemandem mehr eine solche Chance 50. Diesem Urteil hätte Morris sicherlich zugestimmt. In seiner Vorrede zu der von ihm 1893 edierten "Utopia" des Thomas Morus kritisierte er bei aller Wertschätzung dieses Werkes, daß es einen König, eine beinahe angebetete Kaste von Priestern und Sklaven vorsehe 51 . Aber auch die archistische Utopie Edward Bellamys "Looking backward" lehnte er entschieden ab. In einem Brief an Bruce Glasier schrieb er, er würde sich weigern, in "such a Cockney paradise" zu leben, wie Bellamy es imaginiere 52 . Gerade weil er die Akzeptanz der staatlichen Reglementierung und der zunehmenden Standardisierung von Produzenten, Produkten und Konsumenten verwarf, ist seine Utopie als ein Gegenentwurf zu Bellamys "Looking backward" entstanden .. Die Ablehnung der antiindividualistischen Utopietradition hat - wie in den Bon-Sauvage-Fiktionen des 18. Jahrhunderts - ihren letzten Grund in dem Menschenbild, das Morris und Wilde mit ihren Vorgängern teilten. Von der Prämisse ausgehend, daß "der Mensch von Natur aus gesellig"53 ist, verlange er danach, "intensiv, ganz und vollkommen zu leben. Wenn er das vermag, ohne auf andere Zwang auszuüben oder selbst Zwang zu erleiden und wenn ihn alle seine Arbeiten befriedigen, dann wird er geistig gesünder, stärker, zivilisierter und mehr er selbst sein"54. Aber diese seine natürliche Bestimmung wird er, so müssen wir Wilde interpretieren. verfehlen. wenn er unter den Bedingungen institutionalisierter Herrschaft lebt. die den einzelnen zu aggressivem Verhalten zwingt, weil sie dem Autonomiestrehen seiner Natur widerspricht. Falle die in repressiven Institutionen geronnene Herschaft weg, so werde sich auch die Natur 48 Wilde 1982: S. 217. 49 A.a.O .• S. 213. 50 A.a.O .. S. 216 f. 51 Zit.n. Redmond 1970: S. XXVII. 52 Zit. n. a.a.O .. S. XXXVI. 53 Wilde 1982: S. 249. 54 A.a.O., S. 251. 6*

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des Menschen ändern 55 . Nicht anders hätten die Autoren des Bon-Sauvage-Ansatzes argumentiert. Den Satz von Wilde, daß die scheiternden Systeme diejenigen sind, "die auf der Beständigkeit der menschlichen Natur aufbauen und nicht auf ihrem Wachstum und ihrer Entwicklung"56, hätten auch sie unterschrieben. Wenn aus dieser Prämisse für die einzelnen der Schluß folgt, die vollkommenen Menschen würden "keine anderen Gesetze als die eigenen anerkennen, keine andere Autorität als die eigene"S7, dann stellt sich die Frage nach der Struktur des sozio-politischen Systems, die einer solchen Konsequenz angemessen erscheint. Nichts unterstreicht die Kontinuität zwischen den Bon-Sauvage-Gemeinwesen und den entsprechenden Vorstellungen bei Morris und Wilde mehr als ihre Visionen einer "geordneten Anarchie", die in der Tat weitgehend deckungsgleich sind. Beide Autoren greifen alle Formen institutionalisierter Herrschaft an, ob sie sich in autokratischer, oligarchischer oder demokratischer Institutionalisierung darstellt. Alle "Arten des Regierens erweisen sich als Mißgriff', heißt es bei Wilde. "Der Despotismus ist ungerecht gegen alle, auch gegen den Despoten, der vielleicht zu etwas Besserem bestimmt war. Oligarchien sind ungerecht gegen die vielen, und Ochlokratien sind ungerecht gegen die wenigen. Einmal hat man große Hoffnungen in die Demokratie gesetzt; aber Demokratie ist nichts weiter als das Niederknüppeln des Volkes durch das Volk"S8. Auch bringe die Demokratie - offensichtlich meint Wilde ihre liberal-parlamentarische Variante - zudem eine Öffentlichkeit hervor, die gleichsam subkutan zum Konformismus zwinge, ohne daß es - wie in einer Despotie - zu einem Aufstand kommen könne, weil die einzelnen sich des scheinbar zwanglosen publizistischen Druckes, nach den Normen anderer Menschen leben zu müssen, gar nicht bewußt werden 59 . Morris hat diese Ablehnung geteilt. In seiner Utopie ist die parlamentarische Demokratie abgeschafft. Das Parlamentsgebäude in London wurde zu einem Magazin für natürlichen Dünger umgestaltet, der nicht, wie Morris meint, die schlechteste Art der Verfaultheit und der Verderbnis sei. Aus dem Dünger könne Fruchtbarkeit resultieren, "während nur Mangel und Not von der anderen Art der Fäulnis kam, deren Hauptstützen einst diese Mauern bargen "60. Was wollten nun aber Morris und Wilde an die Stelle institutionalisierter politischer Herrschaft setzten? Mit ihrer Option wären die Autoren des BonSau vage uneingeschränkt einverstanden gewesen: Es gibt zwar gewisse Regeln, die die Allgemeinheit betreffen, aber sie sind keine Gesetze in dem Sinne, daß

55 A.a.O.,S. 245. 56 A.a.O .. S. 246. 57 A.a.O .. S. 220. 5R A.a.O .. S. 224. 59 A.a.O .. S. 225. 60 Morris 1980: S. 108.

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hinter ihnen die sanktionierende Gewalt des Staates steht. Eine Regierung, die aus dem Parlament hervorgeht, existiert nicht: Die Gesellschaft organisiert sich also autonom ohne staatliche Zwangsgewalt. Sie ist überflüssig geworden, weil die Menschen eine organisierte Regierung mit ihrer Armee, ihrer Kriegsflotte und ihrer Polizei nicht benötigen, um "sich dem Willen der Majorität von seinesgleichen zu fügen"61. Die einzige Funktion, die Wilde dem Staat, der nicht regieren soll, zugestehen will, besteht darin, "ein unabhängiger Erzeuger und Verteiler lebensnotwendiger Waren zu sein. Sache des Staates ist es, das Notwendige zu schaffen"62. Indes weiß er sich aber mit Morris einig, daß zu diesem Notwendigen nicht mehr die Justiz gehört. Mit der Autorität werde auch die Strafe verschwinden. Die Geschichte habe gezeigt, daß das Widerliche nicht das von den Bösen begangene Verbrechen sei, sondern die Strafen, die die Guten verhängt hätten. Eine Gesellschaft verrohe viel mehr durch "die gewohnheitsmäßige Anwendung von Strafen als durch das gelegentliche Vorkommen von Verbrechen "63. Nicht anders argumentierte Morris. Dem Abbau institutionalisierter Herrschaft fällt in seiner Utopie gleichfalls vor allem die Justiz zum Opfer. Mit dem Privateigentum ist zugleich das bürgerliche Gesetzbuch obsolet geworden, weil die Konflikte entfallen, auf die dessen Normen bezogen sind. Auch das Strafgesetzbuch habe sich überlebt. Der bei weitem größte Teil der Gewaltverbrechen sei ebenfalls die Folge der Eigentumsgesetze gewesen. Mit deren Abschaffung entfalle auch diese Ursache der Kriminalität vollständig64 . Komme es dennoch, was selten genug geschehe, zum Totschlag im Affekt, so seien nur zwei Reaktionen wahrscheinlich. Ist der Übeltäter krank oder wahnsinnig, so werde er "unter Bewachung" gehalten, "bis seine Krankheit oder sein Wahnsinn geheilt ist"65. Diesem Vorschlag ist auch Wilde gefolgt. Ihm zufolge muß der Delinquent "von den Ärzten als eine sehr quälende Form von Dementia behandelt werden, die durch sorgfältige und liebevolle Pflege zu heilen ist"66. Ansonsten ahnde, so betonte Morris, eine Gesellschaft, in der es keine Gesetze gebe, Delikte nicht mit Strafen. Vielmehr riefen solche Vergehen Gewissensbisse, Reue und Zerknirschung hervor, und die Allgemeinheit wisse dies "dem Täter klarzumachen, wenn er abgestumpft sein solle"67. Im Gegensatz zu Wilde hat Morris ansatzweise beschrieben, wie die politische Willensbildung in seiner fiktiven "wohlgeordneten Anarchie" funktionieren

61 A.a.O., S. 109. 62 Wilde 1982: S. 226. 63 A.a.O., S. 225. 64 Morris 1980: S. 112. 65 A.a.O., S. 114. 66 Wilde 1982: S. 225. 67 Morris 1980: S. 114.

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sollte. Auch diese von ihm vorgeschlagene Lösung des Konflikt- und Machtproblems stimmt mit den Vorstellungen der Bon-Sauvage-Utopisten weitgehend überein. Er teilte mit ihnen eine wesentliche Prämisse: Mit dem Verschwinden des Privateigentums und der durch die institutionalisierte Gewalt des Staates hervorgerufenen Deformationen der menschlichen Natur entbehren die Konflikte in der Gesellschaft jeder politischen Relevanz. Zu ihrer Austragung sind politische Parteien und Verbände, die sich konkurrierend gegenüberstehen, überflüssig, ja, kontraproduktiv, weil ihr Gegenstand nicht antagonistische soziale Interessenlagen, sondern lediglich Meinungsverschiedenenheiten in technischen Fragen und gelegentliche aus ihnen resultierende Spannungen sind. In jedem Fall handelt es sich um Differenzen, die nicht dauernd trennen und entzweien 68 . Dies vorausgesetzt, werden die Entscheidungen basisnah vorbereitet und getroffen, und zwar auf der Grundlage des Mehrheitswillens. Zwar hat die Minorität das Recht, ein dreifaches aufschiebendes Veto einzulegen und ihren Standpunkt hinreichend zu verdeutlichen. Da es sich aber um eine Gesellschaft freier Menschen handele, sei die scheinbare Mehrheit immer auch die wirkliche, die am Ende auch von der unterlegenen Minderheit anerkannt werde 69 . Es ist gleichfalls ganz im Sinne der Bon-Sauvage-Utopisten, daß mit der Aufhebung des Staates zugleich eine politische Elite entfällt, die - wie in den klassischen Utopien immer wieder betont wird - ihn in besonderer Weise repräsentiert und sich so vom Rest des Volkes abhebt. Wie wird nun aber der für die Bon-Sauvage-Utopien so zentrale Topos der befreiten Sexualität in den utopischen Enwürfen Wildes und Morris' variiert? Auch in dieser Hinsicht kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß sie den Ansatz ihrer Vorgänger im 17. und 18. Jahrhundert fortschreiben. Wilde hebt unter direkter Anspielung auf die Bon-Sauvage-Utopien hervor, "daß bei kommunistisch organisierten Stämmen die Eifersucht völlig unbekannt"70 sei; entsprechend müsse nach Wegfall des Privateigentums die Ehe in ihrer gegenwärtigen Form verschwinden. "Der Individualismus nimmt diesen Grundsatz auf und verfeinert ihn. Er wandelt die Abschaffung gesetzlichen Zwangs in eine Form der Freiheit um, die der vollen Entfaltung der Persönlichkeit dient und die Liebe zwischen Mann und Frau wundervoller, schöner und freier machen wird"71. Auch bei Morris sind die Beziehungen zwischen den Geschlechtern vollständig entstaatlicht. Die Heirat bedeutet nichts anderes als den freiwilligen Konsens zweier Partner, eine eheliche Gemeinschaft zu gründen. Da sie kein vom Staat sanktioniertes Vertragsverhältnis mehr darstellt, ist auch eine Scheidung obsolet: Die

68 A.a.O .. S. 117. 69 A.a.O., S. 118. 70 Wilde 1982: S. 226. 71 A.a.O .• S. 223.

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Partner trennen sich, sobald ihre Gefühle füreinander erkaltet sind72 . Tatsächlich entfalten sich in Morris' kommunistischem Gemeinwesen alle Varianten erotischer Leidenschaften ungehemmt73, freilich auch mit möglichen destruktiven Wirkungen 74. Wenn Morris auch keine Frauen- und Kindergemeinschaft vorsieht, die wir in nicht wenigen Bon-Sauvage-Utopien finden, so führt er doch die Schönheit, die Ausgeglichenheit und das Glück der "neuen Menschen" auf die befreite Sexualität zurück. Ihren Urspung sieht er darin, "daß ein in der natürlichen und gesunden Liebe zwischen Mann und Frau entsprossenes Kind, selbst für den Fall, daß diese Liebe flüchtiger Natur ist, nach jeder Richtung hin und besonders auch im Punkt der körperlichen Schönheit besser ausgestattet ist als der Sprößling des ehrbaren Schacher-Ehebettes der Reichen oder der stumpfsinnigen Vermischung der Lasttiere des früheren Systems"75.

III. Wie wird nun aber das zweite Strukturmerkmal der Bon-Sauvage-Utopien, nämlich die Garantie der materiellen Reproduktion der Gesellschaft ohne Armut und Ausbeutung, aber auch ohne den Zwang staatlich kontrollierter Arbeitsteilung und -disziplin, in den uropischen Szenarien bei Morris und Wilde rezipiert und verarbeitet? Oder anders gefragt: Auf weIcher politischen Ökonomie basiert deren Ziel, die Verwirklichung der für die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit unabdingbaren Muße? Die sozialen Bedingungen zur Erreichung dieses Ziels sahen Wilde und Morris nicht anders als die Utopisten des BonSauvage in der Umwandlung des Gemeineigentums in allgemeinen Wohlstand sowie der Transformation des Wettbewerbs in Kooperation, kurz in einem "gesellschaftlichen Organismus", der nicht nur "das materielle Wohl eines jeden Mitglieds der Gesellschaft sichert", sondern allgemein "dem Leben seine richtige Grundlage und seine richtige Umgebung"76 verschafft. Ferner besteht kein Zweifel, daß sowohl Wilde als auch Morris insofern den Bon-Sauvage-Utopien folgen, als für sie die lebendige Arbeit als Mittel zur Erreichung dieses Ziels nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt; so gesehen, optieren sie wie ihre Vorgänger für eine ideale Gesellschaft jenseits der Arbeitsutopie. Zugleich konstituiert aber die Bedeutung der industriellen Technik bei Wilde und Morris die entscheidende Differenz zu den Bon-Sauvage-Utopien. Während deren Autoren - noch ganz dem Kontext agrarischer Gesellschaften verhaftet - die

72 Morris 1980: S. 89. 73 A.a.O., S. 9 I f. 74 A.a.O .. S. 70. 75 A.a.O .. S. 228. 76 Wilde 1982: S. 213.

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Industrialisierung weder in ihrer Zeitkritik noch in ihren utopischen Szenarien selbst thematisieren, avanciert sie bei Wilde und Morris zur conditio sine qua non ihrer Naturalisierungskonzeptionen. Wilde betonte immer wieder, daß jede Zivilisation Sklaven erfordere. "Darin hatten die Griechen ganz recht. Wenn nicht Sklaven die häßliche, unangenehme, uninteressante Arbeit ausführen, werden Kultur und Kontemplation beinahe unmöglich sein. Menschliche Sklavenarbeit ist unrecht, inkonstant und demoralisierend. Von der Sklaven arbeit der Maschine (Hervorhebung von mir, R.S.) hängt die Zukunft der Welt ab"77. Für Wilde war die fortgeschrittenste Technik unmittelbar utopierelevant. Nachdem er in seinem Text für jede Stadt und, wenn nötig, für jedes Haus, große "Kräftereservoirs" in der zukünftigen Gesellschaft antizipiert hat, die die Menschen in die Lage versetzen, diese Energien "in Wärme, Licht oder Bewegung" umzuwandeln, und zwar "je nach den Lebensnotwendigkeiten", stellt er die Frage: "Ist das utopisch?" Und dann folgt die berühmte Antwort, die man zugleich auch als ein Bekenntnis zum technischen Fortschritt interpretieren muß: "Eine Weltkarte, die das Land Utopia nicht enthielte, wäre nicht wert, daß man einen Blick darauf wirft, denn ihr fehlt das einzige Land, in dem die Menschheit immer landet. Und wenn die Menschheit dort gelandet ist, hält sie wieder Ausschau, und sieht sie ein schöneres Land vor sich, setzt sie die Segel. Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien"78. Es ist oft unterschätzt worden, daß auch William Morris ein Erbe der Industriellen Revolution ist. Zwar wird die moderne Technik gleichsam "hinter den Horizont der Erzählung"79 verlagert und eher unauffällig auf "ein gesellschaftlich notwendiges Maß beschränkt"80. Doch nicht anders als Saint-Simon, Fourier, Cabet und Bellamy betont er, daß die größte Tat des 19. Jahrhunderts die Herstellung von Maschinen war, die er als Wunder der Erfindungskraft, der Geschicklichkeit und der Geduld preist81 . Ähnlich wie dies bei Wilde zu beobachten ist, lehnt er demgegenüber die gesellschaftlichen Interessen ab, die sich unter kapitalistischen Verhältnissen der Technik "zur Herstellung ungeheurer Massen wertloser Gegenstände" bedienen; sie reduzierten sie auf ein Mittel, "sich selbst zu bereichern"82. Demgegenüber stellte er wie Wilde die modernen technischen Mittel in den Dienst der Schaffung von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, innerhalb deren "alle andere Arbeit in Freiheit und Muße die Fähigkeiten aller Menschen in schöpferischer Selbstverwirklichung frei(setzt)"83. Nicht zufällig ist die Rede davon, daß schwere körperliche Arbeit in den letzten 50 Jahren eini77 A.a.O., S. 228.

78 Ebd. 79 Seile 1980: S. 19. 80 A.a.O., S. 10. 81 Morris 1980: S. 124 f. 82 A.a.O., S. 124. 83 Seile 1980: S. 10.

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germaßen selten geworden sei 84 . Daß dieses Ziel mit einer Technik erreicht wurde, die den Entwicklungsstand der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei weitem übertrifft, geht aus einer Reihe von Andeutungen hervor. So erwähnt er im 24. Kapitel seines Buches Lastkähne und Kraftfahrzeuge zu Wasser und zu Land, die nicht durch Dampfmaschinen angetrieben werden 85 . Auch habe ein großer Wandel "in der Benützung mechanischer Kraft" stattgefunden 86 . Und schließlich deutet auf die Anwesenheit modernster Technik hin, wenn Morris Brennöfen erwähnt, die keinen Rauch absondern"87. Offensichtlich ist, wie Paul Thompson vermutet, Elektrizität gleichsam hinter der Szene verborgen 88 . Allerdings darf eine wichtige Differenz im Arbeits- und Technikverständnis bei Wilde und Morris nicht verschwiegen werden. Wilde möchte jede Form der Handarbeit aus seinem utopischen Gemeinwesen verbannen. Er hält es für töricht, von deren Würde zu sprechen. "Handarbeit ist durchaus nicht etwas, das Würde verleiht, zumeist ist sie absolut erniedrigend. Irgend etwas zu tun, das man ohne Freude ausführt, ist geistig und moralisch verwerflich, und viele Arbeiten sind völlig freudlose Tätigkeiten und soHten auch als solche betrachtet werden. Eine schmutzige Straßenkreuzung während acht Stunden des Tages bei scharfem Ostwind zu fegen, ist eine widerliche Beschäftigung. Sie mit geistiger, moralischer oder körperlicher Würde zu fegen, scheint mir unmöglich. Sie mit Freude zu fegen, erscheint mir ungeheuerlich. Der Mensch ist für Besseres geschaffen, als Dreck aufzuwirbeln. AHe diese Arbeiten soHte eine Maschine ausführen"89. Wenn in der Antike vom "ehernen Zeitalter" die Rede war, in dem die Menschen unter der Fron physischer Arbeit ächzten, so treten bei Wilde an deren Stel1e Maschinen, die "jede mechanische Arbeit, jede stumpfsinnige Arbeit, jede Arbeit, die aus schrecklichen Verrichtungen besteht", bewältigen. "Die Maschine soll für uns in den Kohlebergwerken arbeiten und alle sanitären Dienstleistungen übernehmen, sie soll die Dampfer heizen, die Straßen säubern und

84 Morris 1980: S. 6l. 85 Die entscheidende Stelle im Original lautet: "( ... ) we had ( ... ) met and passed and been passed by many craft of one kind and another. The most part of these were being rowed like ourselves, or were saiting, in the sort of way that sailing is managed on the upper reaches of the river; but every now and then we came on barges. laden with hay and other country produce, or carrying bricks, time, timber, and the tike. and these were going on their way without any means 0/ propulsion visible to me - just a man at the tiller (... ) Dick (... ) said: 'This is one of our forcebarges; it is quite as easy to work vehicle by force as by water as by land'. I understood pretty weil that these 'force vehicles' had taken the place of our old steampower carrying." (Morris 1970: S. 140, Hervorhebungen von mir, R.S.). 86 A.a.O., S. 102. 87 A.a.O., S. 80. 88 Thompson 1967: S. 244. 89 Wilde 1982: S. 226 f.

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bei schlechtem Wetter Botendienste ausführen und überhaupt alles tun, was langweilig und unangenehm ist"90. Für Morris ist demgegenüber charakteristisch, daß man in seinem Text eine solche pauschale Ablehnung der Handarbeit, die in Zukunft die Angelegenheit von Maschinen-Sklaven ist, nicht findet. Er will hochentwickelte Technik nur dann eingesetzt wissen, wenn es gilt, gesellschaftlich notwendige physische Schwerstarbeit zu bewältigen 91 . Jenseits dieser Schwelle jedoch setzt er sich dezidiert für eine Rehabilitierung der Handarbeit ein. Nur wenn sie ihre Würde zurückerlange. werde der Bann jener sozio-politischen Superstrukturen gebrochen, die einen Zustand herbeiführen, in dem "Sklaven und Sklavenhalter allein von Maschinen" leben 92 . Im Gegensatz zu Wilde, lehnte er eine "Welt von selbsttätigen Maschinen"93 ab, die es ermöglichen, daß sich der intelligentere Teil der Menschen ausschließlich der höheren Ausbildung der Kunst und Wissenschaft sowie der Geschichte widmen. Die prinzipielle Option für die Technik, die Morris mit Wilde teilt, schließt also eine Entmechanisierung weiter Produktionsbereiche wie z.B. der Landwirtschaft mit ein: für Morris eine notwendige Konsequenz, um die Abhängigkeit der Menschen von der Maschine zu brechen und zu einem ganzheitlichen Arbeitsbegriff zu gelangen. Tatsächlich sollen intellektuelle Fähigkeiten, handwerkliches Können und physische Arbeit dieselbe gesellschaftliche Anerkennung finden: eine Hierarchie, die die geistige Tätigkeit grundsätzlich höher bewertet als die Handarbeit, entfällt als0 94 . Nicht zufällig wird z.B. die Heuernte von Wissenschaftlern eingebracht, die sonst nur einer sitzenden Tätigkeit nachgehen 95 . Morris' Hochschätzung der Handarbeit in einer technisch so hoch entwickelten Gesellschaft, daß sie ihrer eigentlich zu ihrer Reproduktion entraten kann, ist nicht unkritisiert geblieben. Es sei ein Irrtum, so schrieb H.G.Wells, wenn Morris und die "outright Return-to-Nature Utopians" davon ausgingen, "that all toil may be a joy, and with that a levelling down of all society to an equal participation in labour. But indeed this is against all the observed behaviour of mankind. It needed the Olympian unworldlines of an irresponsibel rich man of the shareholding type, a Ruskin or a Morris playing at life, to imagine as much. ( ... ) The essence of toil is that imperative, and the fact that the attention mllsf cramp itself to the work in hand - that it excludes freedom and not that it involves fatigue"96. Doch diese Kritik übersieht, daß auch Morris unzumutbare

90 A.a.O., Morris 92 A.a.O., 93 Ebd. 94 A.a.O., 95 A.a.O.,

91

S. 227. 1980: S. 126. S. 197.

S. 191. S. 214.

96 Wells 1967: S. 101.

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Fron den Maschinen überlassen will. "Alle Arbeit, die schwer mit der Hand zu verrichten wäre, wird mit außerordentlich verbesserten Maschinen gemacht, und alle Arbeit, die mit der Hand herzustellen ein Vergnügen ist, wird ohne Maschinen angefertigt"97. Tritt der Fall ein, daß die Produktion eines Gegenstandes zu mühsam oder zu unangenehm ist, gibt man dessen Herstellung auf. Wells' Kritik verkennt ferner jene Intention, die Morris mit Wilde trotz aller Gegensätze in der Bewertung der Handarbeit teilt: Dank der Existenz von Maschinen beschäftigt sich jeder mit dem, was "ihm besonders gefällt und seinen Neigungen und Fähigkeiten entspricht, so daß keiner für die Bedürfnisse des anderen geopfert wird"98. So unterschiedlich akzentuiert die Stellung der Technik und die Rolle der Handarbeit in den utopischen Entwürfen bei Wilde und Morris auch sein mag: Sie läuft auf ein naturalisiertes Konzept nichtentfremdeter Tätigkeit hinaus, das den einzelnen wiedergibt, was ihnen der kapitalistische Industrialisierungsprozeß raubte: ihre unverwechselbare Individualität. Konfrontiert mit der Häßlichkeit der von der Industrialisierung geschaffenen Verhältnisse, die von den Slums bis zu Landschaftszerstörung gigantischen Ausmaßes reichten, mutieren die "Edlen Wilden" des 18. Jahrhunderts, die damals nicht selten - wie bei de Lahontan zu beobachten - als "nackte Philosophen" (des philosophes nuds)99 inszeniert wurden, bei beiden Autoren zu Ästheten par excellence. So wird Wilde in seinem Essay nicht müde, den Ziel wert seines utopischen Konstrukts, die vollkommene Individualität, die sich allen Konformitätszwängen im Namen ihrer ungehinderten Selbstverwirklichung entzieht, in der Existenz des Künstlers zu sehen. Programmatisch formuliert er: "Die Gegenwart ist, was der Mensch nicht sein sollte. Die Zukunft ist, was die Künstler sind" I 00. Die Herstellung aller lebenswichtigen Dinge sei die Aufgabe des Maschinenwesens; die schönen Dinge hingegen müssen ihm zufolge von den Individuen geschaffen werden. Da das Kunstwerk das unverwechselbare Ergebnis eines unverwechselbaren Temperaments sei, stelle die Kunst "die intensivste Form des Individualismus" dar, "die die Welt je kannte. Das Verbrechen, von dem man meinen könnte, es habe unter gewissen Bedingungen den Individualismus hervorgebracht, muß mit anderen Menschen rechnen und in seine Handlungen mit einbeziehen. Es gehört dem Bereich des Handeins an. Der Künstler aber kann allein, ohne Rücksicht auf seine Mitmenschen, ohne ihr Dazwischentreten, etwas Schönes gestalten; und wenn er nicht einzig zu seiner eigenen Freude arbeitet, ist er überhaupt kein Künstler" 101. Wer argumentiere, eine solche Konzeption lasse sich nicht verwirkli-

97 Morris 1980: S. 126.

98 Ebd. 99 de Lalrontall 1704: S. 5. 100 Wilde 1982: S. 245. 101 A.a.O., S. 229.

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ehen, weil sie der Natur des Menschen widerspreche, setze die bestehenden Verhältnisse als unüberwindbar voraus, die in Wirklichkeit zu bekämpfen seien; "und ein jeder Entwurf, der sich den bestehenden Verhältnissen anpaßt, ist falsch und töricht" 102. Bei Morris ist es der Kunsthandwerker, der die zivilisationskritische Funktion des Bon-Sauvage übernimmt. Vielseitigkeit der Arbeit und handwerkliche Produktion sind die Stichwörter, durch die das Alltagsleben in seiner Utopie charakterisiert werden kann. Durch den Wegfall von außen wirkender Zwänge motiviert, die handwerkliche Arbeit so gut wie möglich zu verrichten, erwacht, so Morris, allmählich ein Sehnen nach Schönheit im Geist der Menschen. Sie fangen an, die Gegenstände, die sie herstellen, zu verzieren, bis sie die Vollkommenheit von Kunstwerken erreicht haben und die Fron vollständig durch das bewußte Vergnügen an der Arbeit erSetzt worden ist l03 . Diese Utopie der nichtentfremdeten Arbeit setzt den Dualismus zwischen dem Reich der Notwendigkeit und dem Reich der Freiheit außer Kraft: In Morris' Utopie ist eS normal, daß jemand, der für die Müllbeseitigung zuständig ist, sich nicht nur so prächtig kleidet wie ein Baron im Mittelalter; er verbringt, wie selbstverständlich, einen Teil seiner Zeit mit dem Schreiben altertümlicher Romane l04 . Wildes Bezugspunkt in der Ästhetisierung des utopischen Alltagslebens war die griechische Antike. Während er den "neuen Individualismus" mit dem "neuen Hellenismus" \05 gleichsetzte, fällt auf, daß Morris sich auf eine idealisierte Sicht des Mittelalters bezieht. Ihr entspricht seine Vorliebe für die handwerkliche Produktion und die Verbannung aller Maschinen aus der Landwirtschaft. Redeten beide Autoren - gemessen an dieser Vorgabe - einem rückwärtsgewandten Ideal das Wort? Gaben sie die nach vorn orientierte Perspektive der Sozialutopie mit ihrer antizipierten Erfahrung eines guten und gelungenen Lebens auf? Offensichtlich haben wir es, wie ein Interpret zutreffend ausführt, bei Morris' "News from Nowhere" mit einer "Mischung von Konservatismus und Progressivität" zu tun, die "einerseits bewahrend in die Geschichte zurück, andererseits revolutionär verändernd in die Geschichte nach vorn zu greifen versuchte" 106. Alles in allem ließe sich Ähnliches von Wildes "The Soul of Men under Socialism" behaupten. Ich möchte diese Interpretation sogar noch in einem zentralen Punkt zuspitzen. Meine These lautet: Der Rekurs aufs Mittelalter bzw. auf die griechische Antike bezieht sich nur auf die ästhetischen Formen des Lebens. Dessen materielle Voraussetzung in ihrem sozio-politischen und ökonomischen Kontext verweist vielmehr auf eine anarchistisch interpretierte Sozietät, die man \02 A.a.O., S. 245 f. 103 Morris 1980: S. 161 f. 104 Wilde 1982: S. 55.

105 A.a.O., S. 252. 106 Seile 1980: S. 22.

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"nachindustriell" in dem präzisen Sinne nennen kann, daß sie die Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts sowohl "negiert" als auch "bewahrt". Zu nennen sind hier vor allem die bei den Strukturmerkmale ihrer neuen Gesellschaft, die, wie gezeigt worden ist, zugleich die Kontinuität und die Differenz zu den BonSau vage-Utopien des 18. Jahrhunderts markiert: Einerseits die Abschaffung zentralisierter politischer und sozialer Herrschaft, der eine Abkehr von den geometrischen Mustern der archistischen Utopietradition zugunsten einer tiefgreifenden Naturalisierung des utopischen Raumes sowie die Vision einer befreiten Sexualität entspricht und andererseits die - wenn auch bei Morris nur indirekt wahrnehmbare - Anwesenheit modernster Technik.

IV. Die vorliegende Untersuchung konnte zeigen, daß es eine erstaunliche Kontinuität zwischen zentralen Topoi der Bon-Sauvage-Utopien des 18. Jahrhunderts und der utopischen Entwürfe einer idealen Gesellschaft bei William Morris und Oscar Wilde in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts gibt. Die Abkehr von der geometrischen Gestaltung des utopischen Raumes mit ihrem imperativen Homogenitätszwang wurden ebenso übernommen wie das gegen jede Herrschaft sich sperrende Konzept des autonomen Individuums, für das eine von Konventionen befreite Erotik und Sexualität eine Selbstverständlichkeit ist. Neu ist freilich, daß Morris und Wilde mit einer Größe rechneten, die für die Utopisten des Bon-Sauvage im 18. Jahrhundert noch kein Thema war: die modeme Technik. Sie war für sie zwar auch Gegenstand der Kritik, aber in einer Weise, daß sie sich eher auf die Eigentumsverhältnisse bezog, innerhalb deren sie wirkte, als auf die industriellen Technologien selbst. Über die Gründe dieses ParadigmenwechseIs finden sich in den untersuchten Texten keine einschlägigen Aussagen. Doch ist die Vermutung nicht abwegig, daß sowohl Morris als auch Wilde bei aller Kritik an seinen sozialen und ökologischen Auswirkungen im Industrialisierungsprozeß Potentiale entdecken zu können glaubten, gegenüber denen die realitätsverändernden Möglichkeiten der Indianer- und Südsee-Utopien des 17. und 18. Jahrhunderts als bloßer Eskapismus erscheinen mußte. Tatsächlich wurde das ältere Naturalisierungskonzept des Bon-Sauvage den angeblich depravierten gesellschaftlichen Verhältnissen Europas konfrontiert, ohne zu sagen, wie das Ideal erreicht werden sollte. Auch wenn zu Beginn des 17. Jahrhunderts Gueudeville die Faszination des "Edlen Wilden" nutzte und den europäischen Unterschichten in dessen Namen die soziale Revolution empfahl I07, mußte er von vornherin deren Aussichtslosigkeit in Kauf nehmen, weil die naturalisierte ideale Gesellschaft, die er anstrebte, quer stand zu den

107 Vgl. hierzu Kohl 1986: S. 75 f.

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"harten" Strukturen der europäischen Zivilisation. Zwar wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Bon Sauvage in das Konzept einer einheitlich gedachten Menschheit integriert. Aber diese Heranführung an die westliche Zivilisation bedeutete zugleich auch eine Distanzierung von ihr. Die "Edlen Wilden" waren im Rahmen dieses Evolutionsmodells auf der frühen Stufe der Menschheitsentwicklung angesiedelt. Zu ihr hin konnte sich weder die westliche Zivilisation zurückentwickeln noch war es der naturalisierten Idylle der fiktiven sogenannten "Naturvölker" möglich, Anschluß an die westliche Zivilisation zu finden. weil sie, mit ihr in Berührung gekommen, deren Destruktionspotentialen nichts entgegenzusetzen hatten. Ihr "Identitätsverlust" war für Diderot Z.B. am Vorabend der Französischen Revolution eine ausgemachte Sache l08 . Demgegenüber banden Wilde und Morris ihr Naturalisierungskonzept an eine dynamische Größe, die in den Strukturen ihrer in Umwälzung begriffenen Gesellschaften selbst verankert waren: die moderne Industrie. Während diese von den Vertretern der Bon-Sauvage-Utopie sowohl in ihrer Zeitdiagnose als auch in ihrem utopischen Szenario selbst noch keine Rolle spielte, rechneten Morris und Wilde - sich in dieser Hinsicht nicht von den meisten Vertreter der klassischen Utopietradition des 19. Jahrhunderts unterscheidend - offenbar mit einer Steigerung des gesellschaftlichen Reichtums, der, nach Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, jenen materiellen Übertluß real hervorbringt, zu dessen Selbstversicherung die Utopisten des Bon Sau vage noch den antiken Mythos des "goldenen Zeitalters" oder, religiös gewandt, des Paradieses bemühen mußten. Durch diesen Rekurs auf eine welthistorisch neue Quelle gesellschaftlichen Überflusses stellten sie das Naturalisierungskonzept auf eine scheinbar realistischere Basis als ihre Vorgänger im 18. Jahrhundert, und zwar mit der Konsequenz, daß in ihren Fiktionen wohl der Exotismus des "Edlen Wilden" entzaubert, zugleich aber die moderne Industriegesellschaft zu einer idealen anarchistischen Sozietät in einer "postindustriellen" Epoche utopisiert wurde.

108 Vgl. Diderot 1984: S. 204.

11. Entwürfe

Zur Konvergenz von kontraktualistischem und utopischem Denken in Johann Gottlieb Fichtes "Der geschlossene Handelsstaat"*

I. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erreicht eine Entwicklung im politischen Selbstverständnis der Aufklärung ihren Höhepunkt, der bisher in der Forschung zu wenig beachtet worden ist: Die starre Antithetik zwischen dem klassischen utopischen und dem vertragstheoretischen Paradigma beginnt, einer Konvergenz beider Konstruktionsmuster zu weichen. Meine Ausgangshypothese ist, daß das utopische Denken allmählich seinen rigiden Antiindividualismus relativiert; es betont nicht nur in einem vorher unbekannten Maße die Sphäre der Privatheit, von der der Kontraktualismus seinen Ausgang nahm, sondern übernimmt auch kontraktualistische Verfassungsprinzipien I. Zugleich findet insofern eine Subjektivierung der Utopie statt, als die Entdecker des idealen Gemeinwesens zu dessen Begründern werden 2 und das träumende Subjekt explizit zum Demiurgen des utopischen Konstrukts anvanciert3. Umgekehrt beginnt der Kontraktualismus, in Gestalt der Rousseauschen volonte generale und des aus ihm hervorgehenden "neuen Menschen" den kollektiven Staatszweck4, aber auch - wie ich in diesem Beitrag zeigen möchte - die sozio-ökonomischen Ganzheitsmuster des utopischen Denkens zu übernehmen. Tatsächlich gibt es in der klassischen deutschen Philosopie keine Schrift, in der sich die Konvergenz

* Erstmals erschienen in: Neugebauer-Wölk. Monika / Saage. Richard (Hrsg.): Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert, Tübingen 1996, S. 40-55. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Max Niemeyer Verlages. In der Forschung ist bisher Ficlztes "Geschlossener Handelsstaat" nicht unter dem Aspekt der Konvergenz von kontraktualistisc~.em und utopischem Denken interpretiert worden. Gleic~wohl gibt es punktuelle Uberschneidungen mit den folgenden Studien, die meinen Uberlegungen als Informationsquelle und Korrektiv zugleich dienten. Es handelt sich u.a. um folgende Arbeiten: Brunner 1935; Freyer 1936; Klenner 1957; Krause 1962; Buhr 1965; Schottkv 1967; Wilhns 1967; Halm 1969; Barscha 1970; Batscha 1972; Saage 1977; Schinidr 1983; Renaut 1986; Harada 1989. 1 Vgl. Vairasse 1702. 2 Vgl. Schnabel 1979 sowie Breronne 1979. 3 Mercier 1982 sowie Koselleck 1985. 4 Vgl. grundlegend Rousseau 1981. 7 Saage

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Konvergenz von kontraktualistischem und utopischem Denken

von kontraktualistischem und utopischem Denken so konkret nachweisen läßt wie in Johann Gottlieb Fichtes "Der geschlossene Handelsstaat"5, der 1800 erschienen ist: Er wird im folgenden als ein Lehrstück behandelt, das für einen ganzen Trend steht. Mein Versuch, jene Konvergenz darzustellen, kann freilich nur gelingen, wenn Klarheit über den kontraktualistischen und den utopischen Denkansatz besteht. Daher werde ich im folgenden - idealtypisch vereinfacht - ein heuristisches Koordinatensystem entwerfen, dessen Extreme die Pole bilden, zwischen denen Fichtes Position im "Geschlossenen Handelsstaat" oszilliert. Mir kommt dabei der Umstand zur Hilfe, daß Fichte sein politisches Philosophieren als radikaler Vertragstheoretiker begann: Der äußerste Rand innerhalb des kontraktualistisehen Spektrums des vorgeschlagenen Rasters wird daher durch die vertragstheoretischen Schlußfolgerungen bezeichnet, die er in seiner Frühschrift von 1793 "Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution"6 zog. Dagegen soll das andere Extrem des Skalenbereichs durch Topoi charakterisiert werden, wie sie in den klassischen Utopien bei Morus 7 und Campanella8 zu finden sind9 . Zugleich schlage ich drei analytisch zu trennende Ebenen vor, auf denen sich die signifikanten Unterschiede des utopischen und des kontraktualistischen Denkens abbilden lassen: die Legitimationsebene, die Strukturebene und die Transformationsebene.

I. Die Legitimationsebene bezeichnet innerhalb des kontraktualistischen und des utopischen Musters einerseits den politischen Gegner, dem die Existenzberechtigung abgesprochen wird, weil er bestimmten normativen Kriterien nicht genügt. Andererseits sind aber auf ihr auch jene legitimatorischen Argumentationsfiguren erkennbar, die das alternative Gesellschaftsmodell rechtfertigen, das den kritisisierten Zuständen gegenübergestellt wird. Der Kontraktualismus des jungen Fichte läßt keinen Zweifel daran, daß neben dem absoluten Staat die entscheidenden gesellschaftlichen Träger des Feudalsystems auf der Anklagebank sitzen, nämlich katholische Kirche und Adel 10. Deren Versuchen, ihre auf Privilegien gegründete Herrschaft auf eine besondere Stellung innerhalb der Hierarchie der kosmischen Seinspyramide zurückzuführen, steHt er einen radikalen In-

5 Fichte 1977. Aus dieser Edition wird im folgenden zitiert. Die Belegstellen sind im Text durch runde Klammern gekennzeichnet. 6 Fichte 1967. Eine prägnante Zusammenfassung des subjektiven Naturrechts findet sich auch bei Eucllller 1979. 7 Morus 1970. 8 Campanella 1970. 9 Die Strukturmerkmale

dieser klassischen Utopiemuster habe ich entwickelt in:

Saage 1991. Auf sie beziehe ich mich im folgenden; die Belegstellen finden sich in

der angegebenen Studie. 10 Fichte 1967: S. 142 ff.

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dividualismus gegenüber 1I. Dem Anspruch nach fiktiv, ist er gleichwohl auf reale Tendenzen der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft bezogen. Ausfluß des Willens autonomer einzelner, verliert der Staat seine natürliche Qualität: Er ist nichts weiter als das Kunstprodukt ursprünglich Gleicher und Freier, die das politische Gemeinwesen im Medium eines Sozialvertrages aller mit allen überhaupt erst konstituieren 12. Auch nach dem Vertragsschluß bleiben die Individuen Herr des Verfahrens in den sie betreffenden Angelegenheiten. Ihnen stehen nicht nur wesentliche individuelle Grundrechte zur Disposition 13, die sie schon im Naturzustand besaßen. Es liegt auch in der Logik der Ausgangsprämissen, daß der aus dem ursprünglichen Vertrag hervorgegangene Staat offen und gemäß dem Willen der gleichen und freien Vertragspartner jederzeit reformierbar ist. Darüber hinaus erfährt er eine Abwertung, die bis zu seiner Negation reicht: Vollständig instrumentalisiert durch den Willen derjenigen, die ihn konstituierten, können sie jederzeit aus dem staatlichen Verband austreten und neue freiwillige Assoziationen bilden 14. Demgegenüber ist der Gegner der klassischen Utopien der Renaissance und der Reformation nicht nur das Feudalsystem und der frühabsolutistische Staat, sondern - wie Morus in seiner Kritik der Einhegungsbewegung eindrucksvoll zeigt - auch die auf der Verfügung über Privateigentum beruhende bürgerliche Gesellschaft. In deren Individualisierungstendenzen sahen die großen Utopisten eine bedeutende Ursache der gesellschaftlichen Krise ihrer Zeit. Diese Ausgangslage hat zwei wichtige Konsequenzen. Einerseits erhöht sie den Fiktionsgrad des utopischen Konstrukts im Vergleich zum kontraktualistischen Entwurf erheblich: Indem sie die Distanz zum Ancien Regime und der enstehenden bürgerlichen Gesellschaft gleichermaßen erzwingt, muß der Neuanfang in einen fiktiven Raum verlegt werden, der sich gegenüber der Außenwelt vollkommen abschottet: Nicht zufällig wird die Insel zum Symbol des utopischen Konstrukts. Mit der individualisierenden Modeme konfrontiert, denkt der klassische Utopiediskurs darüber hinaus seine "besten" Staaten gerade nicht vom Willen der einzelnen her. Infolgedessen sind deren Interessen auch nicht - wie bei den Kontraktualisten - den staatlichen Institutionen vorgeordnet, sondern vielmehr deren Produkt. Da das "Ganze" als Konkretion einer kollektiven Vernunft stets Priorität gegenüber den einzelnen hat, die sich absolut in den Institutionen des idealen Staates repräsentiert wissen, entfällt eine unantastbare Sphäre der Privatheit, die durch natürliche Grund - und Menschenrechte in der liberalen Version des kontraktualistischen Ansatzes geschützt wird. Zugleich werden die utopischen Leviathane als geschlossene Systeme vorgestellt, die in ihrer Perfektion und Voll-

11 A.a.O., S. 65 ff.. 68. 86. 103. 113.202 f. 12 13 14 7*

A.a.O .. S. 64 ff. A.a.O .. S. 36. 45. 67 f.. 68. 101 f. A.a.O .. S. 80 f.. 85. 103.

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kommenheit im Prinzip nicht veränderbar sind. Auf Statik und gesellschaftliche Harmonie hin angelegt, ist die Integration der einzelnen in das gesellschaftliche Gefüge total. Die Verheißung einer menschenwürdigen Existenz in materieller und kultureller Hinsicht vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, daß sich nicht der Staat, sondern das freie Individuum überflüssig macht. Weitgehend seiner Autonomie beraubt, wird es zum Objekt effizienter Sozialtechniken und Planungsinstrumentarien. 2. Auf der Strukturebene ist zu zeigen, wie das Verhältnis von Eigentum und Staat, die Rolle der menschlichen Arbeit, die Struktur der zu befriedigenden Bedürfnisse und der Stellenwert von Wissenschaft und Technik im kontraktualistischen und im utopischen Muster geregelt sein müssen, um die materielle Reproduktion dieser Modelle im Sinne ihrer jeweiligen legitimatorischen Vorgaben zu garantieren. Im Vertragsdenken des jungen Fichte ist das Privateigentum eine dem Staat naturrechtlich vorgegebene Größe. Durch individuelle Arbeit formiert, konstituieren die einzelnen bereits im Naturzustand ihr Privateigentum. Dieses schuldet dem Staat und dem von ihm repräsentierten Gemeinwohl nichts l5 . Im Gegenteil: Es zu schützen, ist sein wesentlicher Zweck. Im übrigen hat der Staat sich jeglicher Intervention in die Eigentumsverhältnisse und in den wirtschaftlichen Prozeß zu enthalten. Dem entspricht, daß im kontraktualistischen Denken die Triade Arbeit, Bedürfnisse und Wissenschaft! Technik in ihrer Dynamik nur eine Grenze kennt: Sie darf die Regeln des "ursprünglichen Vertrages" nicht verletzen, nach denen die autonomen Individuen koexistieren wollen. Demgegenüber wird im klassischen utopischen Denken das Privateigentum als die Quelle des Egoismus, der gesellschaftlichen Konflikte und des moralischen Verfalls radikal abgewertet. Auf der Grundlage des kommunistischen Gemeineigentums funktioniert die vom Staat geplante und regulierte Herstellung und Verteilung der Güter im Prinzip krisen frei. Eine von der Gesellschaft funktional getrennte Sphäre des Staates entfällt: Beide Bereiche sind vollkommen kongruent, weil es keine wirtschaftliche Aktivität mehr gibt, die nicht der staatlichen Planung und Kontrolle unterliegt. Dies vorausgesetzt, versteht es sich von selbst, daß Arbeit, Bedürfnisse sowie Wissenschaft und Technik zu unmittelbar vom Staat modellierten und kontrollierten Größen erhohen werden.

J. Auf der Transformatiollsebene ist zu diskutieren, wie sich die Autoren kontraktualistischer und utopischer Alternativ-Modelle das Verhältnis ihrer Konstrukte zur sozio-politischen Wirklichkeit der jeweiligen Ursprungsgellsc haften vorstellen. Es geht also um das Problem ihres praktischen Geltungsanspruchs. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts - nachweishar an der Pamphletistik der Großen Englischen Revolution von 1642 - 1649 16 - hat der Kontraktualis15 A.a.O .. S. 89-99. 16 V gl.

Saage 1981: S. 115 ff.

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mus seine welthistorische Bedeutung dem Umstand zu verdanken, daß er diefaktische Opposition der frühbürgerlichen Freiheitsbewegung gegen die Privilegiengesellschaft und den absolutistischen Staat legitimierte. Der Geltungspruch des Kontraktualismus war also mit politischer Praxis unmittelbar kurzgeschlossen: Ohne seine normative Bedeutung als eines praxisauslösenden Faktors herunterspielen zu wollen, rechtfertigte er das, was sich als Oppositionspotential aufgrund eines komplexen sozio-politischen Ursachenzusammenhanges ohnehin entlud. Demgegenüber hatte im klassischen utopischen Denken das Konstrukt des idealen Gemeinwesens den Status eines Ideals bzw. eines regulativen Prinzips. Im Lichte der Errungenschaften des fiktiven Modells sollten die Defizite der Ursprungsgesellschaft aufgezeigt werden, um bestenfalls begrenzte Reformen, nicht aber revolutionäre Umwälzungen zu ermöglichen. Diese Ausgangslage änderte sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts für beide Ansätze grundlegend. Zwar geht es auch dem jungen Fichte wie dem älteren Kontraktualismus um den Nachweis, daß die tiefen Eingriffe in das Gefüge des Ancien Regime ohne Einschränkung legitim und notwendig sind, weil nur so die einzelnen in ihre natürlichen Rechte eingesetzt und bestätigt werden können. Doch er begnügt sich nicht mehr mit der Rechtfertigung der faktischen Aufstands bewegung im revolutionären Frankreich: Sie wird nur als der Beginn einer Entwicklung interpretiert, deren Ziele erst in der Zukunft auf einer höheren Stufe der Evolution des Menschengeschlechts zu erreichen sind l7 . Aber auch das utopische Denken kommt ohne eine geschichtsphilosophisch begründete Transformationsstrategie nicht mehr aus, seit es gleichfalls spätestens mit Morellys "Gesetzbuch der Natur"18 und Merciers "Das Jahr 2440"19 dazu übergegangen ist, das ideale utopische Konstrukt vom Raum in die Zukunft zu verlagern. Die Frage besteht also darin, ob sich die Konvergenz von Vertragsdenken und Utopie, wie sie sich in der gemeinsamen geschichtsphilosophischen Wende niederschlägt, auch in Fichtes "Geschlossenem Handelsstaat" nachweisen läßt.

11. Zu welchen Resultaten kommt eine Analyse des "Geschlossenen Handelsstaates" auf der Legitimationsebene des Fichteschen Konstrukts? Zunächst fällt auf, daß er seine Delegitimationsstrategie gegenüber dem politischen Gegner deutlich von ihrem kontaktualistischen Ausgangspunkt löst und sie dezidiert dadurch im utopischen Spektrum verankert, daß für ihn vorrangig nicht mehr das Feudalsystem und der absolutistische Staat, sondern die marktorientierte Verwertung des Privateigentums die entscheidende Ursache des gesell17 Fichte 1967: S. 81 f. 18 More/lv 1964: S. 155. 19 Mercie-r 1982: S. 21, 32.

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schaftlichen Elends ist. Tatsächlich bewirkt ihm zufolge der Marktmechanismus einen "endlose(n) Krieg aller ( ... ) gegen alle", einen "Krieg zwischen Käufern und Verkäufern" (121). Im Innern der Staaten führt in Fichtes Zeitdiagnose die Marktproduktion zu Absatzkrisen. Der Zwang, die Waren unter Wert zu verkaufen, bleibt seinerseits nicht ohne Folgen für das Einkommen der Arbeiter: Sie verarmen, "und fleißige Familien verkommen im Mangel und Elende, oder wandern aus von einem ungerechten Volk" (121). Diejenigen Arbeiter aber, die im Lande bleiben, rufen "die Gefahren eines Aufruhrs von Volkshaufen" hervor, "denen die äußerste Not nichts übrig läßt, das sie noch zu schonen hätten" (133). Die Möglichkeit des offenen Klassenkampfes - ein Terminus, den Fichte freilich nicht verwendet - wird dadurch verschärft, daß die Bevölkerung die "Verteuerung der Dinge" der Regierung anlastet. Aus dem Haß gegen sie entsteht ein Konflikt, der zuletzt von beiden Seiten "durch offene Gewalt geführt" (134) wird. Diese innenpolitische Krise verschärft sich durch die außenpolitischen Folgen der internationalen Handelskonkurrenz. Der Merkantilismus, der eine Erhöhung des Exportes bei gleichzeitiger Erschwerung der Einfuhr fremder Waren zum Prinzip erhoben hat, fügt der "feindseligen Tendenz, weIche ohnedies alle Staaten wegen ihrer Territorialgrenzen haben", eine neue hinzu: In dem Maße, wie eine Nation ein Übergewicht im Handel erringt, unterliegen die dadurch benachteiligten Staaten dem Zwang, das Gleichgewicht wieder herzustellen; es kommt, wie Fichte schreibt, zu einem "allgemein geheimen Handelskrieg" (129), dessen letzte Eskalationsstufe der bewaffnete Konflikt zwischen den Nationen ist (130). Hellsichtig konstatierte Fichte darüber hinaus die imperialistische Dynamik der europäischen Volkswirtschaften. Die reichen Nationen geben "ihren periodisch gewonnenen Geldüberschuß" in das Ausland zum Zweck der Gewinnmaximierung ab. Doch indem sie für diesen Überschuß das Entbehrliche eintauschen, den armen Ländern aber kaum das Existenzminimum garantieren können, steigern sie unaufhörlich ihren Wohlstand "auf Kosten des Ausländers, der immer elender wird" (124). Auf den ersten Blick scheint es, als ob Fichte auf der legitimatorischen Ebene seines Vernunftstaates, die er seinem Krisenszenario der zeitgenössischen Gesellschaft gegenüberstellt, diese utopische Wende nicht vollzieht. Der einzelne als Wirtschaftssubjekt wird nämlich keineswegs abstrakt negiert. Ausdrücklich betont Fichte, daß das Individuum seine ökonomische Kompetenz "der Natur und sich selbst, nicht dem Staate (verdankt) ( ... ). Nackend an jedes Ufer geworfen, kann er sagen: ich trage alles das Meinige an mir selbst. Was kann ihm nun der Staat noch geben?" (111). Aber diese individualistische Prämisse, die ihn nach wie vor mit dem kontraktualistischen Denken verbindet, wird dadurch von utopischen Perspektiven überlagert, daß sich der Zweck des Fichtesehen Vernunftstaates den Zielen der utopischen Leviathane annähert: "In diesem Staate sind alle Diener des Ganzen und erhalten dafür ihren gerechten Anteil an den Gütern des Ganzen", heißt es. "Keiner kann sich sonderlich bereichern, aber es kann auch keiner verarmen. Allen einzelnen ist die Fortdauer ihres Zustandes

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und dadurch dem Ganzen seine ruhige und gleichmäßige Fortdauer garantiert" (88). Indem der Vernunftstaat sie durch die Garantie ihrer Arbeit, des Absatzes ihrer Waren und der Zuteilung der ihnen zustehenden Gütern an sich bindet, begibt er sich gleichsam unter einen utopischen "Sachzwang", dessen idealtypische Strukturmerkmale deutlich hervortreten. Ich möchte die folgenden normativen Vorgaben nennen, durch die sich Fichtes "Geschlossener Handelsstaat" legitimiert: 1. Der Kontraktualismus wird zwar nicht grundsätzlich aufgegeben, weil die Basis des Fichteschen Konstrukts nach wie vor frei geschlossene Verträge zwischen Individuen und Kollektiven sind. Den Rationalismus der ursprünglich Gleichen und Freien teilend, deduziert er aus ihnen einen konsequent durchdachten Vernunftstaat. Aber wir sahen auch, daß sich die utopischen Entwürfe der klassischen Tradition durch ihre innere Geschlossenheit auszeichnen: Sie stellen ein interdependentes Ganzes dar, dessen Totalität alle Lebensbereiche umfaßt. Eben auf dieses Ziel ist Fichtes Vernunftstaat festgelegt. Er allein sei es, "der eine unbestimmte Menge Menschen zu einem geschlossenen Ganzen, zu einer Allheit vereinigt; er allein ist's, der bei allen, die er in seinen Bund aufnimmt, herumfragen", d. h. Eingriffe in die Privatsphäre vornehmen kann (72). 2. Der inneren Geschlossenheit mit ihrer antiindividualistischen Tendenz entspricht die Abschottung des utopischen Konstrukts nach außen. Die Symbolik der "utopischen Insel" enthüllt, wie das heuristische Koordinatensystem gezeigt hat, ihren Sinn erst dann, wenn man sich die Notwendigkeit eines radikalen Neuanfangs vor Augen führt: Nur dadurch, daß die Abgrenzung von der kritisierten Umwelt gelingt, eröffnet sich die Chance, die Verhältnisse gemäß der Vernunft von Grund auf neu zu gestalten. Auch Fichtes "Vemunftstaat" ist Ausfluß dieser utopischen Logik; erst die Abschließung von der Außenwelt garantiert dessen Identität. 3. Dem klassischen Utopediskurs, so geht aus unserem heuristischen Raster hervor, liegt die Prämisse zugrunde, daß das Zusammenleben der Menschen von der Zeugung bis zur Bahre planbar ist. Auch Fichte will in seinem Vernunftstaat nichts der Natur überlassen. Seine Überzeugung ist, daß "alles Gute, dessen der Mensch teilhaftig werden soll, ( ... ) durch seine eigene Kunst, zufolge der Wissenschaft, hervorgebracht werden (muß): dies ist seine Bestimmung". Aus diesem Primat der Planung folgt das Verdikt, "irgendetwas zu Berechnendes dem blinden Zufall zu überlassen, in der Hoffnung, daß er es wohl machen werde" (S.70). 4. Eng verknüpft mit dem Planungspostulat ist im utopischen Denken, wie wir sahen, das Prinzip der Statik und der Harmonie der gesellschaftlichen Verhältnisse. Als Schlüsselbegriff fungiert in Fichtes Konstrukt nicht zufällig die Kategorie des "Gleichgewichts": Sie soll die Relation zwischen den Arbeitskräften in den einzelnen Berufszweigen und der Menge der zu produzierenden Güter,

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zwischen Angebot und Nachfrage der Waren, zwischen den Interessen der einzelnen Berufszweige etc. gleichsam auf "ewige" Dauer stellen.

Hf. Wie muß nun aber auf der Strukturebene das wirtschaftliche System des Fichteschen Vernunftstaates beschaffen sein, um den Postulaten der inneren Geschlossenheit, der Planbarkeit und der statischen Harmonie der gesellschaftlichen Beziehungen sowie der Abschottung nach außen genügen zu können? Und in welchem Verhältnis steht es zu den Topoi des utopischen Spektrums unserer heuristischen Skala? Fichte unterscheidet sich in seinem Vernunftstaat von den klassischen Sozialutopien dadurch, daß er die Formen der Eigentumsverhältnisse nicht einfach voraussetzt; vielmehr leitet er sie aus naturrechtlichen Prämissen ab. Deutet diese methodologische Option auf die Affinität seines Konstruktes mit dem kontraktualistischen Denken hin, so gelangt er freilich zu Resultaten, die zwar nicht identisch mit denen des utopischen Ansatzes sind, doch sie kommen dessen Intentionen sehr nahe. Im Gegensatz zur radikal liberalen Option in seinem "Beitrag" von 1793, die die etatistische Zwangsgewalt auf einen bloßen Garanten des naturrechtlich legitimierten Privateigentums reduziert, geht er jetzt von dem Prinzip aus, daß es die Bestimmung des Staates sei, "jedem erst das Seinige zu geben, ihn in sein Eigentum erst einzusetzen und sodann erst, ihn dabei zu schützen" (71). Zugleich identifiziert Fichte nicht mehr wie noch in seiner Frühschrift von 1793 das Privateigentum mit der Verfügung über Sachen, die andere von ihrem Gebrauch ausschließt. Vielmehr setzt er es gleich mit dem ausschließlichem "Recht auf Handlungen (... ). Ein Eigentum auf den Gegenstand der freien Handlung fließt erst und ist abgeleitet aus dem ausschließenden Rechte auf die freie Handlung" (73). In dem Maße aber, wie "die freie Tätigkeit ( ... ) der Sitz des Streits der Kräfte (ist)" (73), wird sie und nicht das private Sacheigentum zum Gegenstand des Gesellschaftsvertrages. Dessen Derivat, der Staat, kann aber seinerseits die kontligierenden "freien Handlungen" nur dadurch schlichten, dass er "jedem allmählich zu den Seinigen" verhilft (74). Diese Aufgabe ist freilich nur dann zu erfüllen, wenn er die ökonomische Aktivität der Vertragschließenden und damit das gesamte Wirtschaftssystem lückenlos normiert: Es handelt sich um eine Konsequenz, die Fichtes Vernunftstaat erneut mit den utopischen Leviathanen der klassischen Tradition konvergieren läßt. Tatsächlich war das Motiv des Wirtschaftens in den kontraktualistischen Gemeinwesen die Produktion für den Markt: Auf ihm sollten die hergestellten Güter zum Zweck der Gewinnmaximierung angeboten werden. Dagegen teilt Fichte die utopische Kritik, daß die Freiheit der Marktteilnehmer nichts anderes bedeute als die Freiheit, "sich gegenseitig zugrunde zu richten" (122). Zwar hält Fichte,

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wie gezeigt wurde, am Privateigentum fest: Dessen Verwertung erfolgt im Bereich der Güterherstellung durch die "Produzenten" (Ackerbauern) und durch die sogenannten "Künstler" (Handwerker und andere Berufe, die die Rohstoffe gewerblich verarbeiten) sowie in der Sphäre der Güterverteilung durch den Berufsstand der Händler. Doch bei näherem Hinsehen wird deutlich, daß die auf Privateigentum gegründeten Berufsstände und ihre Untergliederungen nichts anderes sind als Agenturen einer zentralisierten staatlichen Planwirtschaft. Deren Funktionäre ähneln in einer entscheidenden Hinsicht den politischen Eliten der klassischen Utopiekonstrukte: Sie sind von körperlicher Arbeit entlastet und werden über die Abgaben der "Produzenten", "Künstler" und "Händler" bezahlt (92f). Der Staat, so können seine Funktionen zusammengefaßt werden, setzt die einzelnen nicht nur in ihr Privateigentum ein; er schreibt ihnen auch bis ins Detail vor, wie es zu verwerten ist. So bestimmt er nicht nur die Zahl der Arbeiter in den einzelnen Berufsständen gemäß dem berechneten Gesamtbedarf der Gesellschaft. Darüber hinaus garantiert er "jeden Bürger sein(en) verhältnismäßige(n) Anteil an allen Produkten und Fabrikaten des Landes" im Verhältnis zu der ihm zugemuteten Arbeit (106). Er setzt ferner die Preise fest: Als Maßeinheit gilt die zur Herstellung einer bestimmten Menge Roggen notwendige Arbeitszeit (85f). Aber er garantiert auch die "ewige" Stabilität des Geldes, indem er dessen Wert von Gold und Silber und damit von der öffentlichen Meinung löst. An sich aus wertlosem Material gefertigt, soll es nun als funktionales Medium des Tausches (99) fungieren. Schließlich bestimmt er, was und in welchen Mengen produziert wird; er ergreift alle notwendigen Maßnahmen, um den "unmittelbare(n) Handel der Bürger mit dem Ausland" unmöglich zu machen (106). Und er streicht - wie in den utopischen Leviathanen der klassischen Tradition - das Grundrecht auf Bewegungs- und Reisefreiheit für die Bürger, sofern sie keine Wissenschafter und Gelehrte sind, ersatzlos: "der müßigen Neugier und Zerstreungssucht soll es nicht länger erlaubt werden, ihre Langeweile durch alle Länder herumzutragen" (162). Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, daß Fichte auf ökonomische Mechanismen zurückgreift, die wir von der klassischen Utopietradtion her kennen. Der Markt als Motor der Ökonomie wird ersetzt durch einen umfassenden Wirtschaftsplan, den der Staat entwickelt und in der gesamten Produktions-, Zirkulations- und Distributionssphäre durchsetzt, und zwar orientiert an dem Ziel der wirtschaftlichen Autarkie sowie des errechneten Gesamtbedarfs der Gesellschaft an notwendigen Gütern. Dies vorausgesetzt, wird das kontraktualistisch begründete Privateigentum in Fichtes Vernunftstaat in dem Maße in den Dienst der utopischen Intention gestellt, wie es als funktionales Mittel des Staatszweckes, nämlich die materielle Existenz aller zu garantieren, wirkt. Diese Tendenz widerspiegelt sich auch in jener Triade, die die Effizienz der Ökonomie des "Geschlossenen Handelsstaates" zusätzlich garantieren soll, nämlich die Bestimmung der zu befriedigenden Bedürfnisse, den Stellenwert der menschlichen Arbeit sowie die Rolle von Wissenschaft und Technik.

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Wie unser heuristisches Raster gezeigt hat, sind im kontraktualistischen Denken die menschlichen Bedürfllisse eine dynamische Größe. Da sie innerhalb eines weit gesteckten Rahmens expandieren können, wird der Differenz zwischen der Deckung eines "natürlichen" und eines "künstlichen" Mangels der Boden entzogen. Demgegenüber unterscheidet Fichte wie die klassische utopische Tradition scharf "zwischen Bedürfnissen, die wirklich zum Wohlsein etwas beitragen können, und solchen, die bloß und lediglich auf die Meinung berechnet sind" (139). Die ersteren werden als eine konstante Größe verstanden. Sie durch die Bereitstellung von Nahrungsmitteln, Kleidung und Wohnung zu befriedigen, ist die zentrale Aufgabe des utopischen Staates. Dagegen fallen die letzteren unter ein striktes Luxusverbot: Im Prinzip unbegrenzt und daher auch unberechenbar, ist der Geltungskonsum Ausdruck des Egoismus und des moralischen Verfalls, die der utopische Staat gerade beenden soll. Wie es scheint, bewegt sich Fichtes Bestimmung der menschlichen Bedürfnisse im "Geschlossenen Handelsstaat" zwischen diesen beiden Extremen. Zwar werden in seinem Konstrukt die "Bedürfnisse des Luxus" (79) nicht prinzipiell geächtet. Doch Fichte nähert sich in dieser Frage insofern dem utopischen Spektrum unserer heuristischen Skala an, als bei ihm die Befriedigung der sogenannten natürlichen Bedürfnisse absolute Priorität hat: "Es sollen erst alle satt werden und fest wohnen, eher einer seine Wohnung verziert, erst alle bequem und warm gekleidet sein, eher einer sich prächtig kleidet. Ein Staat, in welchem der Ackerbau noch zurück ist, und mehrerer Hände zu seiner Vervollkommnung bedürfte, in welchem es noch an gewöhnlichen mechanischen Handwerkern fehlt, kann keinen Luxus haben" (79). Der Luxuskonsum ist also erst dann legitim, wenn der wirtschaftliche Entwicklungsstand eines Landes eine solche Höhe erreicht hat, daß für die Grundbedürfnisse der Bevölkerung gesorgt ist. Festzustellen, ob dies der Fall ist oder nicht, obliegt aber nicht dem einzelnen, sondern dem Staat. Wie in den utopischen Leviathanen geht Fichte von einer apriori festgelegten Nachfrage an Gütern aus, deren entscheidendes Kriterium die Sicherung des Existenzminimums ist. Was die Bestimmung der menschlichen Arbeit betrifft, so hat sie gemäß unserem heuristischen Raster im kontraktualistischen Spektrum ein individualisiertes Gepräge, im utopischen Bereich hingegen ein kollektives Profil. Für Fichtes Vernunftstaat ist nun entscheidend, daß die Arbeit, obwohl auch bei ihm auf Privateigentum bezogen, ihren individualisierten Charakter, den sie in seinem "Beitrag" von 1793 noch hatte 20, weitgehend einbüßt: Da die Berufsstände Agenturen des Vernunftstaates sind, steht die in ihrem Rahmen verrichtete Arbeit zu seiner Disposition. Insofern ist die utopische Wendung des Arbeitsbegriffs bei Fichte unübersehbar. Einerseits kommt es unter staatlicher Aufsicht -

20 Vgl. Fiehtes Rezeption der Loekesehen Formationstheorie in: Fichte 1967:

S.91 ff.

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wie in der klassischen Utopietradition - zu einer vollständigen Mobilisierung der Arbeitsressourcen. Zwar soll im Prinzip die Freiheit der Berufswahl gelten. Doch behält sich der Staat das Recht vor, den einzelnen dann autoritär ihre Tätigkeit vorzuschreiben, wenn der wirtschaftliche Gesamtplan dies verlangt (95, 97f). Andererseits übernimmt er das utopische Humanisierungsgebot: Der einzelne soll zwar arbeiten, "aber nicht wie ein Lasttier, das unter seiner Bürde in Schlaf sinkt und nach der notdürftigsten Erholung der erschöpften Kraft zum Tragen derselben Bürde wieder aufgestört wird. Er soll angstlos, mit Lust und Freudigkeit arbeiten, und Zeit übrig behalten, seinen Geist und sein Auge zum Himmel zu erheben, zu dessen Anblick er gebildet worden ist. ( ... ) Das ist sein Recht, darum weil er nun einmal Mensch ist" (91). Die Skala unseres heuristischen Koordinatensystems ging schließlich von der Beobachtung aus, daß sich sowohl der kontraktualistische als auch der utopische Ansatz von Anfang an für die moderne Naturwissenschaft und ihre Anwendung als Technik geöffnet haben, allerdings in unterschiedlicher Weise. Für die Vertragstheoretiker war die wissenschaftliche und technische Innovation primär eine Angelegenheit der die "Gesellschaft" konstituierenden Individuen; der Staat hingegen hatte lediglich für eine günstige Infrastruktur zu sorgen. Im utopischen Denken hingegen trat der Staat von Anfang an als Träger der wissenschaftlichtechnischen Innovation auf; er organisierte den gesamten Wissenschaftsprozeß, wie das "Haus Salomon" in Bacons "Neu-Atlantis"21 eindrucksvoll dokumentiert. Fichtes Vernunftstaat verbindet zwar mit beiden Positionen der ungebrochene Wissenschafts - und Technikoptimismus: Nach Schließung seines Handelsstaates sollen z.B. für die Produkte, die jetzt nicht mehr aus dem Ausland eingeführt werden können wie etwa Baumwolle, durch künstliche Ersatzstoffe auf wissenschaftlich-technischer Grundlage ersetzt werden. Dennoch nimmt Fichte auch in diesem wichtigen Politikfeld eine mittlere Position ein. Einerseits verbindet ihn mit den Vertragstheoretikern, daß der technische Fortschritt von denen unmittelbar exekutiert wird, die über Privateigentum verfügen: die Berufsstände der "Produzenten" und der rohstoffverarbeitenden "Künstler". Andererseits ist aber der eigentliche Modernisierer - wie in den klassischen Utopien der omnipotente Staat. So ermöglicht er nicht nur den Wissenschaftlern und Gelehrten Studienaufenthalte im Ausland, um sie mit dem letzten Stand des wissenschaftlich-technischen Fortschritts vertraut zu machen. Er kauft auch mit den verbleibenden Gold- und Silberreserven die "Maschinen des Auslands" und "mach(t) sie im Lande nach". Darüber hinaus wirbt er mit diesem Zahlungsmittel "große Köpfe in praktischen Wissenschaften" aus dem Ausland an: "erfindende Chemiker, Physiker, Mechaniker, Künstler und Fabrikanten". Die Regie-

21 Bacon 1960: S. 205, 211 f.

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rung macht mit ihnen "einen Vertrag auf Jahre, innerhalb welcher sie ihre Wissenschaft und Kunst in das Land bringen und die Inländer unterrichten" (156t).

IV. Ist nun auf der Transfonnatiollsebene, so muß abschließend gefragt werden, die in Fichtes Vernunftstaat nachgewiesene Konvergenz von Vertragsdenken und Utopie die geschichtsphilosophische Wende des Geltungsanspruches nachvollzogen worden? Und wenn dies der Fall ist: Wie läßt sich seine Transformationsstrategie in ihrem Verhältnis zum Geltungsanspruch der Zeitutopien seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts charakterisieren? Fichte verdeutlicht bereits in der Einleitung zu seiner Schrift, daß er einen klaren Begriff vom Geltungsanspruch der klassischen Utopietradition vor ihrer geschichtsphilosophischen Umorientierung hat. Ausdrücklich nimmt er die "platonischen Republiken und utopischen Verfassungen" (61) gegen den Vorwurf in Schutz, sie könnten nicht unmittelbar verwirklicht werden. Eine solche Kritik ziele ins Leere, weil deren Urheber bewußt mit ihren Konstrukten "in einer idealen Welt geblieben sind". Sich zu dieser Prämisse ausdrücklich bekennend, paßten "ihre Vorstellungen aufgestelltermaßen nur auf den von ihnen vorausgesetzten und erdichteten Zustand der Dinge, an welchen die allgemeine Regel wie an einem Exempel der Rechenkunst dargestellt wird" (81). Der normative Status, von dem hier die Rede ist, ist der eines Ideals bzw. eines regulativen Prinzips. Von ihm scheint Fichte auszugehen, wenn er in der Widmung seiner Schrift an von Struensee betont, "daß auch dieser Entwurf eine bloße Übung der Schule ohne Erfolg in der wirklichen Welt bleiben möge; ein Glied aus der Kette" des "allmählich auszuführenden Systems" des Verfassers. Mit der Veröffentlichung seines "philosophischen Entwurfes" wolle er lediglich Anstöße geben, "über diese Gegenstände tiefer nachzudenken, und vielleicht auf eine oder die andere Sphäre, aus der man nun einmal nicht herausgehen wollen wird, nützliche und anwendbare Erfindung" vorzuschlagen. Ausdrücklich schränkt er seine Schrift "auf diese Zwecke" (64t) ein. Bei näherem Hinsehen jedoch wird deutlich, daß Fichtes Konstrukt eines Vernunftstaates weit über diesen eingeschränkten Geltungsanspruch hinausgreift. So bezeichnet er den philosophischen Entwurf des "Geschlossenen Handelsstaates" als "Probe einer künftig zu liefernden Politik" (59). Er betont, daß die "Regierungswissenschaft" "in der Mitte zwischen dem gegebenen Staat und dem Vernunftstaat" liegt: Sie hat die "stete Linie zu beschreiben, durch welche der erstere sich in den letzteren verwandelt" (69). Wenn es dergestalt die Bestimmung der Wissenschaft ist, "den Vernunftstaat allmählich herbeizuführen" (70), dann müssen wir Fichte so interpretieren, daß die Menschen die Zukunft, die sie für erstrebenswert halten, selbst zu gestalten haben: Von der Natur

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können sie nicht mehr erwarten "als die Möglichkeit, Kunst anzuwenden" (70). Dies sei auch der Grund, warum selbst der "spekulative Politiker", der im Gegensatz zum "ausübenden Politiker" sich nicht von konkreten Problemlösungen, sondern von allgemeinen Begriffen leiten lasse, niemals "die absolute Unausführbarkeit seiner Vorschläge ( ... ) zugeben oder voraussetzen" (62) könne. Wenn aber das Problem, wie die zukünftige Gesellschaft, die wir haben wollen, auf der politischen Tagesordnung steht, kann die Frage von ihr nicht gestrichen werden, durch welche Maßnahmen sie herbeigeführt werden soll. Tatsächlich ist Fichtes Konzeption eines "geschlossenen Handelsstaates" - im Gegensatz zur klassischen Utopietradition - explizit mit einer Transformationsstrategie korreliert. Wenn man so will, rückt er sie sogar ins Zentrum seines Konstrukts. "Die Insel", schreibt ein Interpret, "die die Utopie trägt, wird nicht erdichtet, nicht entdeckt, sondern durch die politische Tat gebildet"22. Sie hat in Fichtes Vernunftstaat der Zukunft zwei Aufgaben zu erfüllen: Einerseits betont er immer wieder, daß die "genaue Berechnung der verschiedenen Stände der Nation gegeneinander" nur "durch die völlige Schließung des Handels gegen das Ausland" möglich sei (131). Diese systematische Abschottung wird, wie schon gezeigt wurde, nur an einer Stelle durchbrochen: Der Vernunftstaat öffnet sich der internationalen "scientific community", da, wie Fichte schreibt, "die Bereicherung der Wissenschaft durch die vereinigte Kraft des Menschengeschlechts sogar die abgesonderten irdischen Zwecke" seines geschlossenen Handelsstaates "befördert" (167). Von dieser Konzession, die der Sorge um die Innovationsfähigkeit seines fiktiven Modells geschuldet zu sein scheint, einmal abgesehen, gilt jedoch der eherne Imperativ, daß erst dann, wenn die vollständige wirtschaftliche Autarkie erreicht ist, die anvisierten Sollwerte seines Konstrukts verwirklicht werden können, nämlich die Geschlossenheit und Planbarkeit der wirtschaftlichen und sozialen Prozesse zur Sicherung der materiellen Existenz aller sowie die Garantie der statischen Konfliktfreiheit des gesellschaftlichen Ganzen. Fichte läßt es jedoch nicht bei dieser allgemeinen Forderung bewenden. Er führt auch aus, wie diese Schließung seines Vernunftsstaates nach außen erfolgen soll. Zunächst ist es notwendig, daß alle Maßnahmen, die von der Umstellung der auf Gold und Silber beruhenden internationalen Währung auf das durch die tatsächlich geleistete Arbeit der Gesellschaftsmitglieder gedeckte Landesgeld über die "Regulierung des öffentlichen Verkehrs" und die "Festsetzung der Preise" bis hin zur Abnahmegarantie aller produzierten Waren reichen, in "allen ihren Teilen" (147), d.h. als integriertes Ganzes, durchgesetzt werden müssen. Außerdem hat die Währungsumstellung sowie die staatliche Kontrolle des gesamten Aktiv- und Passivhandels mit dem Ausland "mit einem Schlag" (144, 152) zu erfolgen, und zwar ohne die Mitbestimmung und vorherige Information

22 Freyer 1936: S. 143.

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der Bevölkerung. Blieben diese Forderungen unerfüllt, so entstünde "eine Unsicherheit des Eigentums und eine ungeheure Unordnung ( ... ), durch welche das Volk gar bald zur Verzweiflung und zur Empörung gegen die durchaus unrechtliche Regierung gebracht werden würde" (147). Andererseits besteht der zweite Eckpfeiler der Fichteschen Transformationstrategie darin, daß sich der Vernunftstaat erst dann nach außen abschließen kann, wenn er durch Expansion oder aber durch Verkleinerung seines Territoriums innerhalb sogenannter "natürlicher Grenzen" seine "produktive Selbständigkeit und Selbstgenügsamkeit" (140) zu erreichen vermag. Dieses Ziel hofft der Vernunftstaat nicht nur durch "überlegene" Aufrüstung erreichen zu können. Er setzt auch seine verbleibenden Gold- und Silberreserven ein, um zu diesem Zweck so viel "von den Hilfsmitteln und Kräften des Auslandes ( ... ) zu kaufen und zu dingen, daß ( ... ) kein Widerstand geleistet" werden kann (158). Auf diese Weise werde das Ziel der "natürlichen Grenzen" durch eine "Operation" erreicht, die "mehr ein(em) Okkupationszug ( ... ) als ein(em) Krieg" (159) ähnle. Zugleich ist Fichte davon überzeugt, daß durch die Existenz von geschlossenen, in ihren sogenannten "natürlichen Grenzen" befindlichen Staaten das System der internationalen Beziehungen insofern umgewälzt werde, als nunmehr jeder angeblich "vernünftige" Kriegsgrund entfalle. Außenpolitisch saturiert, verlieren nun stehende Heere zur Führung eines Eroberungskrieges ihre Existenzberechtigung. Die verbleibenden Truppen dienen lediglich der Erhaltung der inneren Ruhe und Ordnung ( 163). Vollends deutlich wird aber die Politisierung des Fichteschen Ansatzes dadurch, daß er seine Transformationsstrategie nicht als eine bloße sozialtechnische Handlungsanweisung mißverstanden sehen will. Die zukunftsbezogene Wende des fortgeschrittenen utopischen und kontraktualistischen Denkens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts nachvollziehend, geht es ihm vielmehr darum, die Validität seines praxisbezogenen Geltungsanspruchs geschichtsphilosophisch zu untermauern. Die Akteure, die den in die Zukunft projizierten Vernunftstaat errichten, sollen die Gewißheit haben, daß sie sich in Übereinstimmung mit den realen Tendenzen der historischen Entwicklung befinden. Zu diesem Zweck konstruiert Fichte ein historisches Szenario, das nur ein einziges Ziel hat: Es soll den Nachweis erbringen, daß in einer Epoche, in der sich Nationalstaaten herausbilden, deren Partizipation am freien Welthandel ein Anachronismus ist, weil es zu einer unerträglichen Spannung zwischen der freien weltoffenen Wirtschaft und den geschlossenen und homogenisierten politischen und rechtlichen Systemen dieser Länder komme. Mit der Bestimmung des historischen Endziels, diese Diskrepanz zu beheben, untersteHt Fichte eine Entwicklungsteleologie, auf deren Folie "jene Systeme, welche Freiheit des Handels fordern" und "jene Ansprüche, in der ganzen bekannten Welt kaufen und Markt halten zu wollen", als Ausfluß "der Denkart unserer Voreltern" erscheinen, "für welche sie paßten" und die wir "uns angewöhnt" haben" (118). Umgekehrt bedeutet diese geschichtsphi-

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losophische Option aber auch, daß diejenigen historisch im Recht sind, die die Errichtung des Vernunftstaates mit allen geschilderten Konsequenzen zum politischen Programm erheben.

v. In der vorliegenden Untersuchung, so ist abschließend festzustellen, konnte gezeigt werden, daß Fichtes Entwurf eines Vernunftstaates den Kontrakualismus nicht grundsätzlich aufgegeben hat. Aber er füllte das vertragstheoretische Paradigma mit Inhalten, die ihre Herkunft aus der klassischen Utopietradition nicht leugnen können. In gewisser Weise beginnt Fichtes Kontraktualismus die Schattenseiten der besitzindividualistischen Marktgesellschaft zu reflektieren und nach Korrektiven zu suchen, die er in der klassischen Utopietradition findet. Diese Adaption hat eine beträchtliche Politisierung des kontraktualistischen Denkens bei Fichte zur Folge: Die Konfliktlage der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts antizipierend, verlieren die natürlichen Rechte der ursprünglich Gleichen und Freien ihren individualistischen Charakter in dem Maße, wie sie zum Garanten des materiellen Existenzminiums der Massen werden, das seinerseits nur mit den Mitteln einer staatlichen Planwirtschaft erreichbar erscheint. Zugleich erhält diese Politisierung dadurch eine zusätzliche Stoßkraft, daß sowohl die kontraktualistischen als auch die utopischen Elemente in Fichtes Konstrukt den Status eines ahistorischen Ideals verlieren. Sie geraten in den Sog des geschichtsphilosophischen Fortschrittsdenkens und werden in den teleologisch strukturierten Geschichtsprozeß eingebunden. Die Folgen für den Geltungsanspruch des Fichteschen Vernunftstaates sind unausweichlich: Dessen normative Zielvorgaben können erst in der Zukunft im Medium einer geschichtsphilosphisch begründeten Transformationsstrategie vollendet werden. Diese impliziert zugleich, daß die Fortschrittsperspektive zwar vorgegeben, ihre Ziele aber nur durch bewußtes Handeln der Menschen selbst verwirklicht werden können. Allerdings darf der Zwiespalt des Fichteschen Entwurfs nicht verschwiegen werden. So innovativ sein Versuch auch war, das kontraktualistische Denken durch die Rezeption utopischer Elemente für die soziale Frage zu öffnen, so wenig hat er sich - selbst in seiner eigenen Zeit - als zukunftsfähig erweisen können. Das Festhalten an der "utopischen Insel", die jene Konvergenz von Vertragsdenken und Utopie erst ermöglichen soll, mutet wie eine Regression an. Bereits über 20 Jahre vor Fichtes Entwurf hatte Mercier im utopischen Diskurs die Weichen in Richtung auf eine durch globale Öffentlichkeitsstrukturen ermöglichte Weltgesellschaft gestellt. In der Tat scheint Fichte nicht - wie die führenden Utopisten seiner Epoche - die Bildung von Nationalstaaten unterlaufen, sondern sie vorantreiben zu wollen. Jedenfalls hebt er lobend hervor, daß mit dem zu gründenden "geschlossenen Handelsstaat" "sehr bald ein hoher Grad

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der Nationalehre und ein scharf bestimmender Nationalcharakter entstehen werde" (164). Wenn er diese "durchaus neuen Nationen" zugleich mit dem historischen Recht ausstattet, ihre "natürlichen Grenzen" - wie immer sie definiert sein mögen - notfalls mit der Waffe in der Hand zu erzwingen, dann macht er seinen philosophischen Entwurf von einem Geflecht unkontrollierbarer machtpolitischer Kausalitäten abhängig, die quer stehen sowohl zu den Errungenschaften des kontraktualistischen als auch des utopischen Denkens.

Zur Konvergenz von Vertragsdenken und Utopie im Licht der "anthropologischen Wende" des 18. Jahrhunderts*

I. Es ist das Verdienst Ernst Blochs, darauf hingewiesen zu haben, daß eine Unterscheidung zwischen "aufgeklärtem Naturrecht" und "Sozialutopie" dringend geboten sei. Ihm zufolge bezieht sich die Sozialutopie auf menschliches Glück, während das modeme Naturrecht die menschliche Würde ins Zentrum seiner Deduktion stellt I. Doch gibt Bloch die mit dieser idealtypischen Gegenüberstellung von Kontraktualismus und Utopie gewonnene Präzisierung des Utopiebegriffs wieder preis zugunsten einer inhaltlichen Ausweitung seines Konzepts, das die "utopische Intention" immer nur auf der Ebene des subjektiven Erlebens nachvollziehbar macht 2 . Vor allem aber thematisiert er nicht, daß beiden Ansätzen diametral entgegengesetzte Konstruktionsprinzipien und darüber hinaus zwei alternative Wege in die Modeme zugrunde liegen 3. Zwar ist sowohl für den utopischen als auch für den vertragstheoretischen Ansatz in seiner konsequenten und idealtypisch vereinfachten Auslegung der Bruch mit der Feudalgesellschaft sowie ihrer Legitimation durch das traditionelle Naturrecht ebenso charakteristisch wie das Anknüpfen an die säkularierte Vernunft als einer unverzichtbaren Voraussetzung für die Neuordnung des Gemeinwesens. Doch unterscheiden sie sich gravierend in der Frage, ob die Vernunft als Ausfluß des autonomen Willens ursprünglich Gleicher und Freier oder eines den Individuen übergeordneten vernünftigen Ganzen zu gelten habe. Für die Kontraktualisten ist das politische Gemeinwesen nichts anderes als das Kunstprodukt der ihren individuellen Nutzen rational kalkulierenden Egoisten, die über einen Vertrag den anarchischen Naturzustand beenden und sodann die Gesellschaft zu einem Staat konstituieren. In ihm sind sie in der Regel - nicht anders als im Na-

* Erstmals erschienen in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 46. Jg. (1998). Heft 5. S. 432-444. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Metropol Verlages. Jörn Garber habe ich für Anregungen und die kritische Lektüre des vorliegenden Aufsatzes zu danken. 1 Vgl. Bloch 1990: S. 632. 2 Vgl. Saage 1997: S. 10-17: Saage 1995: S. 94 f. 3 Vgl. Saage 1995: S. 101-116. Im folgenden beziehe ich mich auf diesen Text und die dort angegebenen Belege. 8 Saage

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turzustand - auf die nutzenmaximierende Verwertung ihres Privateigentums aus. Sie erfolgt in der Gesellschaft über den Markt, ohne auf ein apriori festgelegtes Gemeinwohl fixiert zu sein. Zugleich begrenzt das Vertragsmodell die Planbarkeit des gesellschaftlichen Lebens auf die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen, die aus dem Sozialvertrag folgen: Es läßt der individueIIen Spontanietät, aber auch den Konflikten breiten Raum. Freilich stand das kontraktualistische Denken von Anfang an in einem Spannungsbezug zu einem anderen Denkansatz, dessen Umrisse sich seit dem Erscheinen der "Utopia" des Thomas Morus im Jahr 1516 klar abzeichneten: Es sind die neuzeitlichen Utopien. Deren Autoren denken ihre Gemeinwesen nicht vom egoistischen, seinen privaten Nutzen suchenden einzelnen, sondern von einem "neuen" Menschen her: Dessen Interessen sind nicht wie bei den Vertragstheoretikern den Institutionen vorgeordnet, sondern von ihnen gleichsam in Form sich überschneidender Ringe umschlossen, so daß sie als deren Produkte angesehen werden können. Mit dem Wegfall des Egoismus funktioniert nicht nur die vom Staat regulierte Herstellung und Verteilung der Güter auf der Grundlage des kommunistischen Gemeineigentums krisen frei und das Zusammenleben der Menschen harmonisch. Darüber hinaus entfäIIt eine von der Gesellschaft funktional getrennte Sphäre des Staates überhaupt: Beide Bereiche sind voIIkommen kongruent, weil es keinen Gegenstand mehr gibt, der nicht staatlicher Planung und Überwachung unterliegt. Da das Ganze als Konkretion der koIIektiven Vernunft stets Priorität gegenüber den einzelnen hat, die sich absolut in den Institutionen des idealen Staates repräsentiert wissen, entfäIIt eine unantastbare Sphäre des Privaten, die durch individuelle vorstaatliche Grund- und Menschenrechte zu schützen wäre. Es wurde in der politischen Ideengeschichte bisher zu wenig beachtet, daß es im 18. Jahrhundert zu einer Konvergenz des kontraktualistischen und des utopischen Denkansatzes gekommen ist: Deren statische Antithetik begann einer Annäherung beider Konstruktionsmuster zu weichen. Das utopische Denken betonte in einem bisher unbekannten Grad die Sphäre der Privatheit (vgl. Vairasse, Schnabel, Mercier), von der der Kontraktualismus seinen Ausgang nahm. Zugleich übernahm er kontraktualistische Verfassungsprinzipien wie Grundrechte, Widerstandsrecht, Repräsentation, Gewaltenteilung (Vairasse, Mercier). Auch fand insofern eine Subjektivierung der Utopie statt, als die Entdecker des idealen Gemeinwesens zu dessen Begründern werden (Schnabel, Restif) und das träumende Subjekt explizit zum Demiurgen des utopischen Konstrukts avanciert (Mercier). Umgekehrt beginnt das Vertragsdenken in Gestalt der volonte generale den koIIektiven Staatszweck, die Fiktion des veredelten "neuen Menschen" (Rousseau) und die den Markt ausschließenden, planwirtschaftlichen Ganzheitsmuster (Fichte) des klassischen Utopiediskurses zu übernehmen. Wenn dergestalt die Konvergenz zwischen Vertragsdenken und Utopie im 18. Jahrhundert außer Frage steht, dann ist mit dieser FeststeIIung noch nicht ge-

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klärt, worin die Bedingung ihrer Möglichkeit begründet liegt. Wodurch ist diese Konverenz bewirkt worden? Warum beginnen sich diese beiden Denkströmungen erst im 18. Jahrhundert aufeinander zuzubewegen, nachdem sie sich vom 16. bis zum Ende des 17. Jahrhundert unabhängig voneinander entwickelten? Ich werde im folgenden die Hypothese vertreten, daß sich im Zuge der anthropologischen Wende des 18. Jahrhunderts der klassische, von Morus herrühende UtopieDiskurs ebenso zu naturalisieren begann wie der ältere Kontraktualismus und daß diese Naturalisierung beider Muster jene gemeinsame Schnittmenge hervorbrachte, die die oben skizzierte Konvergenz ermöglichte. Neu an dieser Fragestellung ist nicht das Naturalisierungsphänomen selbst, das - im Gegenzug zu Descartes' Unterscheidung zwischen "res cogitans" und "res extensa" - Ausdruck einer neuen Erfahrung ist, der es um den "Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit der geistigen"4 geht. Bekannt ist auch, daß diese "neue Anthropologie", die den "ganzen Menschen" ins Visier nimmt und den Orientierungswechsel von der Mathematik und Physik zur Biologie5 zur Voraussetzung hat, dezidiert jene Tendenzen der Aufklärung absorbiert, die durch die Stichworte "Rückgang auf die Empirie", "Naturalisierung des Menschen" oder "Rehabilitierung der Sinne" zu kennzeichnen sind6 . Doch läßt der Umstand eine bemerkenswerte Forschungslücke erkennen, daß diese Frontstellung "gegen die Spiritualisierung und Halbierung des Menschen", der "eine Wendung zum Körper, zu den Sinnen, zum Triebleben, zu den unteren Seelenkräften, zum dunklen fundus animae, zum Unbewußten"7 entspricht, bisher für die Erklärung der Konvergenz von Vertragsdenken und Utopie ungenutzt geblieben ist: Man hat sie weder auf dem bekannten DFG-Symposium "Der ganze Mensch"8 noch in den drei von Voßkamp herausgegebenen Bänden "Utopieforschung"9 thematisiert. Diese Forschungslücke ist gewiß nicht in einem kurzen Aufsatz zu schließen. Doch sollen wenigstens einige Hypothesen entwickelt werden, die möglicherweise Licht auf den Zusammenhang von anthropologischer Wende und der Konvergenz zwischen Vertragsdenken und Utopie werfen. Ich werde im folgenden versuchen, mich meinem Thema in der Perspektiver dreier Fragestellungen zu nähern: I. Ist im utopischen und kontraktualistischen Diskurs des 18. Jahrhunderts ein Wechsel der Leitwissenschaften von der Geometrie zur Biologie zu beobachten, der in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der anthropologischen Wende steht? 2. Läßt sich im utopischen und kontraktualistischen Denken aufgrund modifizierter anthropologischer Prämissen eine veränderte Stellung der einzelnen zu den Institutionen ausmachen, dem der Übergang von einem dis4 Zit. n. Sclrings 1994: S. I. 5 Vgl. grundlegend Moravia 1977; Delaporte 1983; Lefh're 1984: S. 20 ff.

6 Schings 1994: S. 1. 7 A.a.O .. S. 5. 8 Vgl. Sclrings 1994. 9 VoßkamJ1 1985. S*

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ziplinierenden zu einem autoregulierenden Gesellschaftsmodell entspricht? 3. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der anthropologischen Wende und der Historisierung des utopischen und des kontraktualistischen Denkansatzes?

11. Der klassische archistische Utopie-Diskurs von Morus bis Andreae teilte mit dem älteren Kontraktualismus des subjektiven Naturrechts des 17. Jahrhunderts eine entscheidende Gemeinsamkeit: Sie orientierten sich an der Leitwissenschaft der Mathematik bzw. der Geometrie. "Ganz im Gegensatz zu den zeitgenössischen Illustrationen, die nach mittelalterlichem Brauch die Insel Utopia und ihre Städte unter dem Aspekt der Bedeutungsordnung abzubilden trachteten, schilderte Morus mit Amaurotum das Modell einer rational durchgeplanten Quadratstadt und schuf damit einen Prototyp" 10. Auch für Campanellas "Sonnenstaat" ist die Orientierung an geometrischen Basisfiguren konstitutiv. Doch im Gegensatz "zu den 54 Quadratstädten des Inselstaates Utopia besteht die 'Civitas Solis' nur aus einer einzigen kreisrunden Stadt. Ihr größter Teil liegt auf einem Hügel, so daß sich im Gegensatz zum 'flachen' Amaurotum eine Vertikal gestalt in Form eines stumpfen Kegels ergibt, der aus aufeinandergeschichteten Terassen besteht" 11. Ähnlich wie in Morus' Amaurotum hat Andreas Christianopolis "die Form eines Quadrates von 700 Fuß Seiten länge. Sie ist von absoluter geometrischer Regelmäßigkeit, genau nach den vier Himmelsgegenden ausgerichtet und durch einen breiten Wassergraben sowie durch eine mit Eckbastionen und zinnenbekrönten Toren bewehrte Stadmauer geschützt. Zum Verteidigungssystem gehören ferner 24 über das Stadtareal verteilte Türme, welche zugleich im gesellschaftlichen Leben der Christianopolis eine wichtige Rolle spielen. Die Bebauung ist auf ebenem Gelände zu vier quadratischen Gebäudekomplexen formiert" 12. Auch wenn Bacons "Neu-Atlantis" noch einem chemisch-alchimistischen Deutungsmuster verhaftet bleibt, tritt sein Entwurf nicht aus dem Schatten der fTÜhneuzeitlichen Ordnungsutopien heraus. Bei ihm "wird der Staat zentriert um ein ideal ausgestattetes Labor des Naturforschers" 13. In seiner Utopie konstituiert zwar nicht die Geometrie, wohl aber die sich in der Sprache der Mathematik artikulierende Experimentiertechnik die neue Welt. Entscheidend für alle vier Entwürfe ist, daß ihr Rekurs auf die Geometrie bzw. die Mathematik dem angestrebten idealen Gesellschaftsmodell nicht äußerlich bleibt. Sie werden vielmehr als Ordnungsmuster ins Spiel gebracht, nach deren Vorbild nicht nur

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1 de B,.l/\"Il 1996: S. 63. 11 A.a.O.: S. 71. 12 TOJl(ftedt: 1983/84: S. 21. 13 Ga,.be,. 1992: S. 19.

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die Architektur und Stadtplanung, sondern das gesamte soziale Leben "in Fonn" gebracht werden soll. Im älteren Kontraktualismus ist eine ähnliche Tendenz zur Anlehnung an die geometrische bzw. mathematische Leitwissenschaft zu erkennen. Unter den Klassikern des Vertragsdenkens ist niemand dem Ideal, die Staaten nach Art der Geometrie zu konstruieren, näher gekommen als Thomas Hobbes. "Die Kunst, Staaten zu schaffen und zu erhalten, besteht wie die Arithmetik und die Geometrie aus sicheren Regeln und nicht wie Tennisspielen aus bloßer Übung. Bisher besaßen weder anne Leute, denen die Muße dazu fehlte, noch Reiche, die diese Muße gehabt hätten, die Neugier oder die Methode, um diese Regeln ausfindig zu machen"14. Dieser Forderung entspricht Hobbes' Wisenschaftsverständnis. Ihm zufolge entstehen wissenschaftliche Aussagen dann, "wenn Namen zu Behauptungen (Aussagen) und diese zu Schlüssen (Syllogismen) verbunden werden. Hobbes setzt Schließen mit Rechnen gleich und orientiert sich damit am Vorbild der Mathematik, das auch im Bereich der Moralphilosophie und Politik gelten sollte. Diese Denkweise wurde zu jener Zeit als mos geometricus (nach Art der Geometrie) bezeichnet"15. Wenn auch in unterschiedlicher Abstufung läßt sich dieses Wissenschaftsverständnis auf die meisten Vertreter des älteren Kontraktualismus übertragen. Daß für sie nicht die durch die Sinne vennittelte historische Erfahrung, sondern die an abstrakten rationalen Prinzipien ausgerichtete Versuchsanordnung des Naturzustandes und des Gesellschaftsvertrages konstitutiv war, geht aus vielen Beispielen hervor. Im 18. Jahrhundert ist nun sowohl im utopischen als auch im kontraktualistischen Denken eine deutliche Abkehr von der Geometrie zu beobachten, der eine dezidierte Hinwendung zu den Sinnen und ihrem Erkenntnisvennögen entspricht. Zum ersten Mal im Utopie-Diskurs - so scheint es - sind im Severamben-Entwurf Varaisse' die einzelnen dann von den Zwängen staatlicher Funktionen entlastet, wenn es um ihr Liebesglück geht: Sie erkennen sich gleichsam als Individuen im Medium der Erotik l6 . Bei Schnabel schlägt sich die Bedeutung sinnlicher Erfahrung in der detaillierten Bescheibung der Lebensläufe jener Gestrandeten nieder, aus denen sich die Bevölkerung seines idealen Gemeinwesens "Insel Felsenburg" rekrutiert 17 . Gleichzeitig beginnen sich im Zeichen der Naturalisierung die utopischen Entwürfe von dem geometrischen ArchitekturParadigma zu emanzipieren, das, wie wir sahen, das Vorbild der klassischen etatistischen Utopietradition war. In Fenelons Bätika-Utopie werden alle "Künste der Architektur" als unnütz abgelehnt, "und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie keine Häuser bauen. 'Es bezeugt eine zu große Anänglichkeit an die Erde', 14 Hobbes 1966: S. 162. 15 Eucltllel' 1987: S. 24. 16 Vairasse 1702: S. 235 f .• 238 ff. 17 Vgl. Schnabel 1985.

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sagen sie, 'wenn man sich auf ihr Gebäude errichten will, die von längerer Dauer sind als wir selbst; es ist schon genügend, sich gegen die Unbill der Witterung zu schützen'" 18. Und der Herausgeber der Huronen-Utopie Lahantons, Gueudeville, ließ in der Einleitung zu seiner französischen Übersetzung der Utopia des Thomas Morus keinen Zweifel daran aufkommen, daß die Völker den Tugenden der Utopier am nächsten kommen, "die unter dem weiten und gewaltigen Gel1'ölbe des Himmels (Hervorhebung von mir R.S.) leben"19, also als "Edle Wilde" jenseits geplanter Geometrie-Städte. Was Lahontan an den idealisierten Bon Sau vages fasziniert, liegt auf der Hand: Es ist der Umstand, daß sie als "ganze Menschen" leben, befreit vom Korsett geometrischer Formen. Diese Gleichsetzung des geistigen mit dem sinnlichen Menschen ist in dem Terminus "Edler Wilder"20 dann erkennbar, wenn er - wie bei Lahontan - als "nackter Philosoph" (philosophe nud)21 vorgestellt wird. In diesem Begriff verschmelzen Geist (philosophe) und Sinne (Nacktheit) zu einer Einheit, die die Descartessche Trennung von "res cogitans" und "res extensa" aufhebt. Eine analoge Entwicklung hat sich im kontraktualistischen Denken des 18. Jahrhunderts vollzogen. In den älteren Vertragskonstruktionen waren die "natürlichen Menschen" im vorstaatlichen Zustand zwar der Dynamik des Strebens nach individueller Selbsterhaltung und damit dem systemischen Zwang nach grenzenloser Machtakkumulation ausgeliefert. Doch daß sie, der Sprache mächtig, ihren Verstand zweckrational im Interesse des eigenen Überlebens nutzen konnten, stand auch außer Frage. Demgegenüber ist in Rousseaus "reinem Naturzustand" nicht mehr von rational kalkulierenden Egoisten die Rede, die ihren individuellen Nutzen zu maximieren suchen, sondern von "Wilden" in ihrer von zivilisatorischen Defiziten freien Natürlichkeit, die durch die Wälder umherirren, "ohne Fertigkeiten, ohne Sprache, ohne Wohn stätte, ohne Krieg und ohne Bindungen, ohne seinesgleichen zu bedürfen und ohne Begierde, ihnen Übles zuzufügen"22. Sie definieren sich über ihre natürliche Sinnlichkeit und sekundär erst über ihren Verstand. Die Sprache und die durch sie artikulierten Begriffe sind Produkte der Gesellschaft. Im "reinen status naturalis" wird dagegen das Verhalten der Menschen durch ihre Instinkte gesteuert, die auch für die Reproduktion des Menschengeschlechts sorgen: Jeder richtete sich "im Naturzustand, in dem es keine Häuser, keine Hütten, kein Eigentum irgendweJcher Art gab, auf gut Glück ein, oft nur für eine einzige Nacht. Die Männer und die Weiber vereinigten sich zufällig, je nach dem Zusammentreffen, der Gelegenheit und Begierde, ohne daß das Wort ein dringender Dolmetscher für die Dinge gewesen wäre, die

18 Fenelon 1984: S. 146. 19 Guelldevi/le 1704: S. 5. 20 Vgl. zu diesem Topos grundlegend Bitterli 1982; Kohl 1986; Meißner 1997. 21 Lahontan 1704: S. 5. 22 ROllsseall 1981: S. 89.

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sie sich zu sagen hatten. Sie verließen sich mit gleicher Leichtigkeit"23. Dem natürlichen Menschen, so Rousseau, war "alles gegeben, um im Naturzustand leben zu können. Einen gebildeten Verstand brauchte er nur, um in der Gesellschaft leben zu können"24. In welchem Maße sich der Kontraktualismus "naturalisierte", wird am Beispiel der Whigs im England des 18. Jahrhunderts eindrucksvoll demonstriert: Der naturalisierte Landschaftsgarten steigt zum politischen Symbol des kontraktualistischen Liberalismus gegenüber dem von Le Nötre perfektionierten geometrischen Muster des Barockgartens von Versailles auf. Nicht zufällig hielt der Landschaftsgärtner Humphrey Repton den englischen Gartenstil für die glückliche Mitte zwischen "Wildnis und steifer Formalität", so wie die auf dem Sozial vertrag gegründete liberale Verfassung zwischen der "Anarchie der Wilden und dem Zwang despotischer Herrschaft"25 stehe. Reptons Formel bezeichnet präzise den herrschaftslegitimierenden Aspekt der von den Whigs im 18. Jahrhundert propagierten "Naturalisierung", wie sie ihn als Ausdruck ihrer kulturellen und politischen Hegemonie im englischen Landschaftsgarten verkörpert sahen: Das "geometrisch-gradlinige System"26 wurde ersetzt durch Schlängelwege, amöbenhafte Teiche und irreguläre Pflanzungen. Zum Vorbild des Garten avancierte nun die "ungeschmückte Natur". Zugleich verwischte sich durch den Wegfall der Abschottung des Gartens nach außen die Grenze zwischen ihm und der offenen Landschaft. Diese "Gartenrevolution" hat ihre politiktheoretische Entsprechung im Vertragsdenken des subjektiven Naturechts 27 , das freilich jetzt aus dem Schatten der Leitwissenschaft Geometrie heraustritt und sich an der der Biologie zu orientieren beginnt. Diese wenigen Hinweise, die sich beliebig vermehren ließen, mögen genügen, um zu verdeutlichen, daß sowohl das utopische als auch das kontraktualistische Denken im 18. Jahrhundert von der "Erfindung des (ganzen, R.S.) Menschen"28 nicht unberührt blieben. Daß diese Wendung zur "empirischen Evidenz der Verbindung von Körper und Seele"29 auch das Verhältnis des einzelnen zu den Institutionen veränderte, wird im folgenden zu zeigen sein.

23 A.a.O., S. 143. 24 A.a.O., S. 165. 25 Zit. n. Butt/ar 1989: S. 13 f. 26 Hefll1ebo/Hoffmanfl 1965: S. 329.

27 Vgl. hierzu SaageiSeng 1998, S.207-238, in diesem Band S. 49-72. 28 Schings 1994: S. 1. 29 A.a.O., S. 11.

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111. Der ältere Kontraktualismus ging ebenso wie der klassische Utopie-Diskurs der Renaissance und der Reformation von der Prämisse aus, daß die Natur des Menschen durch einen unüberwindlichen Dualismus gekennzeichnet sei, auch wenn zweifellos die Klassiker des utopischen Denkens dieser Epoche der menschlichen Gattung einen höheren Perfektionsgrad unterstellten als die Vertragstheoretiker. Auf der einen Seite, so wurde angenommen, haben wir es mit der "niederen physischen Natur" des Menschen zu tun, die durch Leidenschaften, Sinnlichkeit, Aggressivität, Egoismus und den Hang zur Machtakkumulation gekennzeichnet ist. Auf der anderen Seite ist der Mensch aber auch durch seine Vernunft definiert: Sie stellt gleichsam das Gegengewicht zur irrationalen Seite seiner Natur dar, das dessen Überleben in einer von ihm selbst geschaffenen Umwelt überhaupt erst möglich macht. Niemand hat im älteren Kontraktualismus dieses Muster prägnanter zur Darstellung gebracht als Thomas Hobbes. Grundelemente seines politischen Modells sind "Menschen von ungefähr gleichen Fähigkeiten und ausgestattet mit Leidenschaften, unter denen der Selbsterhaltungstrieb und der Machttrieb vorherrschen. Wird ferner angenommen, daß die Güter, nach denen die Menschen streben, knapp sind, so werden sie darum kämpfen und sich dabei aller erfolgsversprechender Mittel, ob Gewalt oder List, bedienen. Sie werden dabei prinzipiell in anderen Menschen den Konkurrenten sehen und seinen Absichten mißtrauen"30. Diese anthropologischen Prämissen führen dazu, daß der status naturalis, also der vorstaatliche Zustand, durch die berühmte Formel des "Krieges aller gegen alle" gekennzeichnet ist. Hobbes ließ nie einen Zweifel daran, daß der Mensch, auf sich allein ohne den Schutz einer staatlichen potestas gestellt, zum zivilisatorischen Fortschritt unfähig ist31 : Alle kulturellen, ökonomischen, politischen und sozialen Strukturen, so prognostizierte er, müßten zusammenbrechen, wenn nicht ein Vertrag der ursprünglich Gleichen und Freien zugunsten eines Dritten - des allmächtigen Leviathan - für starke Institutionen sorgt, die, von legalen und materialen Restriktionen ungehemmt, funktionieren, damit eine Reaktualisierung des Naturzustandes verhindert wird. Aber auch den liberalen Varianten des Vertragsdenkens kann man kaum ein institutionelles Defizit vorwerfen. Überzeugt von der Korrumpierbarkeit der menschlichen Natur, die zum Machtmißbrauch im Dienst der individuellen Nutzenmaximierung neigt, setzt sich z.B. John Locke gleichfalls für starke Institutionen ein, die dem "amor sceleratus habendi" der einzelnen gewachsen sind. Er sieht die Lösung nicht - wie Hobbes - in der institutionellen Konzentration der Macht, sondern in

30 Euchner 1987: S. 36. 31 Vgl. Hobbes 1966: S. 94-98.

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deren Teilung 32 . Zwar wird im institutionellen Arrangement bei beiden Klassikern die negative Anthropologie unterschiedlich ins Spiel gebracht: einmal als Furcht vor den Schrecken des anarchischen Naturzustandes, zum anderen als Angst vor dem Terror der Despotie. Doch in beiden Fällen ist der Grund für "harte" Institutionen das "anthropologische Defizit", das in der durch Vernunft nicht sublimierten tierischen Natur des Menschen besteht. Nicht anders als der ältere Kontraktualismus geht auch die klassische Utopietradition der Renaissance und der Reformation von einem dualistischen Menschenbild aus. Zwar fungieren die "neuen Menschen" in Morus' Utopia und Campanellas Sonnenstaat als ideale Platzhalter einer kollektiven Vernunft, die sich durch die Liebe zu Kunst und Wissenschaft, durch solidarisches und tugendhaftes Verhalten, aber auch durch die vorbehaltlose Ineinssetzung mit einem apriori vorgegebenen Gemeinwohl auszeichnen. Doch ebenso sicher ist, daß im Hintergrund "die Sünde lauert, immer bereit zum Sprung"33. Morus sieht in seinem idealen Gemeinwesen das Streben nach Luxus und "sinnlosen Ehrbezeigungen"34 keineswegs restlos getilgt. Er rechnete vielmehr mit "üblen Verlokkungen verwerflicher Begierden", die "nicht nur für die höchste Lust gehalten, sondern sogar unter die wichtigsten Lebenszwecke gezählt werden"35, ebenso wie mit der Wandelbarkeit der menschlichen Natur, die die Möglichkeit des Absinkens selbst der Tugendhaften "in Verderbnis und Laster"36 keineswegs von vornherein ausschließt. Auch Campanella läßt durchblicken, daß in seinem Sonnenstaat die Begierde nach egoistischem Geltungskonsum durchaus präsent ist. Wie sonst hätte er für Frauen, die sich schminken oder Schuhe mit hohen Hacken oder Schleppenkleider tragen, die Todesstrafe37 vorsehen können? Vor allem aber wird die Sexualität als Einfallstor chaotischer Triebhaftigkeit interpretiert, die das gesamte Ordnungssystem des "idealen Staates" in Frage stellt. Die Dynamik der Leidenschaften in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern vor Augen, legte Campanella nicht zufällig Wert auf die Feststellung, im Sonnenstaat stelle "die brennende Begierde" die Ausnahme dar. In der Regel seien die Geschlechter durch "freundschaftliche Gefühle" miteinander verbunden 38 . Gewiß stellt sich der Zusammenhang zwischen der triebhaften, d.h. unvernünftigen Seite der menschlichen Natur und den sozio-politischen Institutionen des verfaßten Gemeinwesens im älteren Kontraktualismus anders dar als im

32 Vgl. Locke 1977: S. 291 f. 33 Marius 1987: S. 222. 34 Morus 1970: S. 72 f. 35 A.a.O., S. 72. 36 A.a.O .. S. 102. 37 Campanella 1970: S. 134 f. 38 A.a.O., S. 135.

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klassischen Utopie-Diskurs. Das Vertragsdenken pazifizierte den individualisierten und zugleich konkurrenzbezogenen "bürgerlichen" Menschen im Arrangement der auf Vertragsbasis, also konsensuell, errichteten Institutionen lediglich äußerlich: Es erhob nicht den Anspruch, ihn dadurch zu "veredeln". Die Menschen bleiben die aggressiven Wesen, die sie bereits im Naturzustand waren. Starke Institutionen sichern lediglich die Regeln, nach denen sie im Staat koexistieren können. Die klassische archistische Utopie dagegen ging von einem "neuen Menschen" aus, dessen Triebhaftigkeit - am Ende eines langen Zivilisationsprozesses stehend - durch die Internalisierung der venünftigen Normen des idealen Gemeinwesens weitgehend gebändigt erscheint. Doch, wie wir sahen, darf diese Differenz nicht überbewertet werden. Auch in der klassischen Utopie ist das "Böse" nicht vollständig aus der Szenerie des "guten Lebens" gebannt. Seine subkutante Präsenz ist so gewichtig, daß die Klassiker der frühneuzeitlichen Utopie glaubten, ein institutionalisiertes Überwachungs-, Kontroll- und Sanktionssystem etablieren zu müssen, das die einzelnen in einen gläsernen Menschen verwandelte: Erst in dem Maße, wie das "Auge des Systems" jeden einzelnen in seinem Denken und Handeln erfaßte, konnte sein Funktionieren innerhalb der Institutionen des idealen Staates garantiert werden. Dabei spielte die etatistische Institutionalisierung des Sexuallebens eine zentrale Rolle. Erst wenn sie voll etabliert ist, entfällt - so das Credo Campanellas - der Anlaß zu Streit, Konflikt und Differenzierung. Sie werden ersetzt durch "eine dauerhafte Einmütigkeit im Staat, denn sie lieben einander sehr, und einer hilft dem anderen gern"39. Wenn es demgegenüber um die Mitte des 18. Jahrhunderts zur Hegemonie eines "anthropologischen Unitarismus" kam, der die Entfaltung des sinnlichen Menschen als Voraussetzung dafür ansah, "daß dieser lernt, seine Erkenntniskräfte selbsttätig zu gebrauchen"40, dann ist die Frage aufgeworfen, welche Auswirkung diese anthropologische Umorientierung auf das Verhältnis des Individuums zu den Institutionen im verfaßten Staat des kontraktualistischen und des utopischen Musters hatte. Offensichtlich bestand sie darin, daß die Relation zwischen dem aggressiven Verhalten der einzelnen und den Schutz gewährenden Institutionen umgekehrt wurde: Man setzte den Aggressor nicht mehr mit der menschlichen Natur, sondern mit den etatistischen Institutionen gleich: Sie wurden als Ursache dafür herausgestellt, daß die Menschen depravieren und sich brutaler verhalten als Tiere. Erst wenn die durch staatliche Institutionen vermittelte Herrschaft minimisiert wird oder ganz entfällt, können die Menschen die konstruktiven Potenzen ihrer Natur entfalten: Auf diese Formel läßt sich die Botschaft bringen, die der Metapher des "Edlen Wilden" sowohl im kontraktualistischen als auch im utopischen Denken zugrundeliegt.

39 Zit. n. de Bruvn 1996: S. 77. 40 Garbe/' 1996:·S. 88.

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Unter den Kontraktualisten des 18. Jahrhunderts hat diese Umorientierung Jean-Jacques Rousseau am konsequentesten nachvollzogen. Das, was von den älteren Vertretern des modernen Naturrechts den "wilden Menschen" im status naturalis zugeschrieben wurde, nämlich Bedürfnisse, Habsucht, Unterdrückung, Begierden und Stolz, so seine These, seien nicht Ausfluß des "Zustandes der Natur", sondern erst in der durch gesellschaftliche oder staatliche Institutionen strukturierten Zivilisation den einzelnen induziert worden. "Vom wilden Menschen sprachen sie", polemisierte Rousseau gegen die Vertreter des älteren Naturrechts, "den gesitteten beschrieben sie"41. Die Lösung des Problems des durch Institutionen deformierten gesellschaftlichen Zusammenlebens sah Rousseau zwar nicht in einer Reaktualisierung des Naturzustandes, sondern - wie die Vertreter des älteren Kontraktualismus - im Sozial vertrag. Doch im Unterschied zu ihnen entläßt Rousseaus contrat sodal die Menschen dadurch aus dem Zustand gegenseitiger Konkurrenz, daß er sie in die Homogenität der volonte generale einbindet. Die wichtigste Funktion seines Vertragskonstrukts besteht darin, den egoistischen Bourgeois in einen nur dem Gemeinwohl verplichteten Citoyen zu transformieren 42 . Ist dies geschehen, so können in Rousseaus Republik die Institutionen auf ein Minimum reduziert werden, bis sie beim jungen Fichte von einem anarchistischen Gemeinwesen kaum noch zu unterscheiden sind. Fast noch gravierender als auf das kontraktualistische Denken wirkte sich die anthropologische Wende des 18. Jahrhunderts auf den utopischen Diskurs aus. Das Muster des herrschaftsfreien und entinstitutionalisierten Binnenraums der bürgerlichen Kleinfamilie, der sich schroff abhebt von den reglementierenden Großinstitutionen der utopischen Leviathane in der Renaissance und der Reformation, wird nun im Sozialverhalten der "Edlen Wilden" wiedererkannt und zur utopischen Norm der Europäer erhoben 43 . Die ideale Gesellschaft, die den "Staat" durch "Natur" ersetzt, funktioniert, weil die einzelnen "einfach unter den Gesetzen des Instinkts und des unschuldigen Verhaltens" leben, "das die weise Natur uns seit der Wiege eingeprägt hat", läßt Lahontan den Häuptling der Huronen, Adario, schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts sagen, und er benennt dadurch zugleich auch die Ursache gesellschaftlicher Harmonie: "Wir stimmen alle in unseren Willen, Meinungen und Gefühlen überein. Wir verbringen unser Leben in einem so vollkommenen Einverständnis, daß man unter uns weder Prozesse, Streitigkeiten noch Rechtsverdrehungen kennt"44. Im Gegensatz zum älteren Utopie-Diskurs werden nun die Sexualität wie die Instinkte insgesamt nicht als ein gefährliches, weil die institutionalisierte Ordnung bedrohendes Potential angesehen, das es strikt zu kanalisieren und zu kontrollieren gilt. Viel-

4\ 42 43 44

Rousseau 1981: S. 60. A.a.O., S. 79-81. Vgl. Garber 1992: S. 14 \. de Lahontan 1704: S. 141.

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mehr schafft deren ungehinderte Entfaltung erst die Voraussetzung dafür, daß der Einfluß von Frustration und Aggression auf das menschliche Verhalten schwindet, weil nun Vernunft und Trieb als sich gegenseitig durchdringende Einheit aufgefaßt werden. Nun hat aber die anthropologische Wende nicht nur einen "Sublimierungsschub" des sinnlichen Menschen bewirkt, sondern auch dessen Historisierung. Wie letztere sich auf die beiden vorgestellten Paradigmen auswirkte, soll abschließend untersucht werden.

IV. Sowohl der ältere Kontraktualismus als auch die klassische archistische Utopietradition kamen ohne eine geschichtsphilosophische Teleologie aus. Der ideale utopische Staat hatte den Geltungsanspruch eines kollektiven Vernunftideals, während der ursprüngliche Vertrag der Gleichen und der Freien seine Verbindlichkeit aus dem freiwilligen vernünftigen Konsens der Paktierenden ableitete. Dem entsprach nicht nur, daß die menschliche Natur, wie wir sahen, als eine ahistorische Konstante angesehen wurde: sei es, daß sie - wie im utopischen Denken - als "neue", wenn auch immer noch mit dem Makel der Erbsünde behaftete Wesen, sei es, daß sie - wie im Kontraktualismus - als vernunftbegabte Egoisten vorgestellt wurden. Darüber hinaus trug dieses Menschenbild alle Züge einer normativen Anthropologie, der ein disziplinierendes Gesellschaftsmodell zuzuorden ist, weil es der permanenten Präsenz "harter" Institutionen bedarf, damit die angestrebte gesellschaftliche Wirklichkeit dem jeweiligen Geltungsanspruch genügt. Mit dieser bis dahin dominanten ahistorischen Konzeption brach die anthropologische Wende in der Mitte des 18. Jahrhunderts: Sie erzwang, wenn man so will, den Übergang von der normativen Anthropologie des älteren Kontraktualismus und der klassischen archistischen Utopie zu einem nichtnormativen, historisch-empirisch orientierten Menschenbild, das auf einen autoregulativen GeseIlschaftsentwurf hinauslief, weil es nicht nur mit einer soziablen Natur der einzelnen rechnete, sondern auch damit, daß sie - vermittelt über ihre Sinne durch Arbeit und Interaktion die materiellen Grundlagen ihrer eigenen Existenz selber schaffen. In diesem Prozeß sich erst mühsam von den sinnlichen Daten lösend, bilden die Menschen allmählich ein selbständiges Erkenntnisvermögen heraus, das sie in dem Maße zu Schöpfern ihrer selbst macht, wie sie lernen, ihre Umwelt "zu erkennen, zu benutzen und schließlich zu beherrschen"45. Der Mensch, so lautet das Credo der anthropologischen Wende, bringt sich durch seine Auseinandersetzung mit der Natur vermittels seiner Sinne gleichsam 45 Garber 1996: S. 89.

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selbst hervor, und zwar bezogen auf den jeweiligen historischen Stand der Bewältigung seiner Umwelt. Wenn auf diese Weise nach einem Wort Herders der Mensch wird, was er ist und er zugleich ist, was er wird 46 , dann wurde ein Fortschrittsparadigma unterstellt, das nach dem Vorbild der biologischen Entwicklung des Menschen von der Kindheit über das Erwachsenendasein bis zum Greisenalter modelliert war. Was bedeutet nun aber diese geschichtsphilosophische Konsequenz47 der anthropologischen Wende für das kontraktualistische und das utopische Denken in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts? Es ist für unser Thema von entscheidender Bedeutung, daß es tatsächlich zu einer Synthese zwischen dem kontraktualistischen Denken und der utopischen Fiktion mit dem geschichtsphilsophischen Fortschrittsparadigma kam. So arbeitete zwar Kant noch mit der ahistorischen Naturzustands- und Vertragskonzeption des modernen Naturrechts 48 . Doch deren Geltungsanspruch wird nicht mehr nur als abstraktes Ideal der praktischen Vernunft einer sperrigen historischpolitischen Welt konfrontiert, sondern in ein zukunftsbezogenes historisches Kontinuum hineingenommen. Erst vermittels einer welthistorischen Teleologie kann sich der Verfassungsstaat vollenden, der in Kants eigener Gegenwart nur punktuell verwirklicht worden ist, weil die Evolution des Menschengeschlechts ihre Frühphase kaum überschritten hat. Bekanntlich löste Kant das Problem seines Kontraktualismus, "wie das apriorische Modell der Weltverfassung und der Bestimmung der Menschheit mit dem realen Lauf der Geschichte zur Deckungsgleichheit gebracht werden kann"49, durch den Gedanken, "daß die Natur eine zwecksetzende, handlungsfähige und letztlich gar eigen - und al1mächtige Instanz ist, die ihre Ziele zu realisieren vermag und sich dazu der anthropologischen Ausstattung des Menschen ebenso bedient wie ihrer ureigenen Potentiale"50. Das Zusammengehen von kontraktualistischem und geschichtsphilosphischem Denken, für das im deutschsprachigen Raum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Kant und Fichte 51 stehen, hat seine Entsprechung im Übergang von der Raum- zur Zeitutopie einerseits und der Historisierung der utopischen Fiktion des Bon Sau vage andererseits. Die klassische frühneuzeitliche Utopie bestand, wie man weiß, auf der strikten räumlichen Trennung zwischen dem idealen Gemeinwesen und den zeitgenössischen kritikwürdigen Verhältnissen der Herkunftsgesel1schaft des utopischen Autors. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts

46 Zit. n. Böhme 1994: S. 140. 47 Vgl. grundlegend Fergllson 1986; Medick 1973; Rohbeck 1987: S. 58 ff; Kittsteiner 1980: S. 153 ff. 48 Vgl. Saage 1994: S. 67-89. 49 Zotta 1997: S. 147. 50 A.a.O., S. 146 f. 51 Zu Fichte vgl. Saage I 996a; in diesem Band S. 97-112.

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wird diese räumliche Parallelität von Sollen und Sein zugunsten einer Konzeption aufgegeben, die das utopische Ideal verzeitlicht, indem es in die Zukunft projiziert wird 52 . Mercier war einer der ersten, die ihren utopischen Staat aus dem Ancien Regime selbst hervorgehen lassen: Paris hat sich zwar im Jahr 2440 grundlegend geändert, aber es handelt sich um dieselbe Stadt, in der 1770 die literarische Version dieses utopischen Traumes veröffentlicht wird. Dieses empirische Kontinuum zwischen Sein und Sollen unterstellt die zukünftige Erreichung des Ideals als eine entwicklungsgeschichtlich reale Möglichkeit. So läßt Mercier einen Bürger seines idealen Staates des Jahres 2440 sagen: "Wir sind aus der Barbarei herausgetreten, in der ihr versunken ward ( ... ). Nach und nach wurde der Geist herausgebildet. Wir müssen noch mehr tun, als wir bisher geschafft haben. Wir müssen noch viel mehr erreichen als die Hälfte der Leiter"53. Das utopische Gemeinwesen, in die Zukunft verlegt, steht also nicht mehr außerhalb einer zielgerichteten geschichtlichen Enwicklung, sondern ist in diese eingebunden. Eine ähnliche Tendenz widerspiegelt sich in der anarchistischen Utopie des "Bon Sauvage". Versuchte Lahontan zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch, die Figur des "Edlen Wilden" zu einem zeitlosen Ideal zu stilisieren, so geht Diderot dazu über, ihn konsequent zu historisieren. "Der Tahitianer steht am Anfang der Welt, der Europäer ihrem Greisenalter so nahe! Der Abstand, der ihn von uns trennt, ist größer als der Abstand zwischen dem neugeborenen Kind und den Menschen in der Auflösung des Alters"54. Zugleich läßt er aber keinen Zweifel daran, daß die utopische Norm aus der Frühzeit der menschlichen Evolution keine Gestaltungskraft für die Zukunft besitzt: Tahiti, mit der europäischen Zivilisation in Berührung gekommen, ist nur noch ein Idylle auf Zeit; sie wird der Herausforderung der westlichen Eroberer nicht gewachsen sein und an ihr zerbrechen.

v. Kehren wird zu den eingangs gestellten Fragen zurück. Ihre Antworten legen die Feststellung nahe, daß die "anthropologische Wende" eine Reihe gemeinsamer Schnittmengen zwischen dem Kontraktualismus und dem klassischen Utopie-Diskurs bewirkt hat, die zugleich als die Bedingung der Möglichkeit ihrer Konvergenz im 18. Jahrhundert gelten können. Unter dem Einfluß der Hinwendung zum "ganzen Menschen" vollzogen beide Ansätze nicht nur den Übergang von der Leitwissenschaft von der Geometrie zur Biologie. Ebenso wichtig ist,

52 Vgl. Koselleck 1985. 53 Mercier 1982: S. 102. 54 Diderot 1984: S.202.

Konvergenz im Licht der "anthropologischen Wende"

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daß sich die Stellung der einzelnen gegenüber den staatlichen Institutionen insofern signifikant veränderte, als sie deren konsumierende und prägende Kraft gegenüber den Individuen erheblich einschränkten, ja, minimisierten. Auch gingen sie dazu über, ihre jeweiligen Geltungsansprüche in dem Maße geschichtsphilosophisch zu untermauern wie die anthropologische Ausstattung des Menschen von einer ahistorischen zu einer historischen Größe mutierte. Darüber hinaus spricht einiges dafür, daß die "anthropologische Wende" in der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht nur die Konvergenz von Vertragsdenken und Utopie ermöglichte, sondern auch als Indiz für eine "Selbstaufklärung der Aufklärung" gedeutet werden kann. Die Aufklärung hatte den Menschen bisher als reines Vernunftwesen aufgefaßt, der im Sinne der Descartesschen "res cogitans" interpretiert wurde. Jetzt begann sie, den sinnlichen Menschen zu entdecken, dessen Leiblichkeit sie als konstitutiven Bestandteil der menschlichen Existenz aufwertete. Daß durch diese Rehabilitierung der Sinne der Vernunft neue Erfahrungsräume erschlossen wurden, liegt auf der Hand. Zugleich gilt der Mensch nicht länger mehr als bloßer Mechanismus, der unabhängig von Raum und Zeit funktioniert. Vielmehr begreift die Vernunft nicht nur die über die Sinne vermittelte Emotionalität, sondern auch die Geschichtlichkeit des Menschen als ihren eigenen Gegenstand. Vor allem aber bildet die durch die anthropologische Wende ermöglichte Annäherung von Vertragsdenken und Utopie in gesellschaftstheoretischer Hinsicht ein Verhältnis der gegenseitigen Korrektur beider Denkmuster heraus. Der Egoismus des Kontraktualismus findet sein Korrektiv in der utopischen Solidargemeinschaft, und letztere hat sich vor dem Individualismus des subjektiven Naturrechts zu legitimieren. Das Ich soll zu seinem Recht kommen, ohne die prinzipiell solidarische Stoßrichtung des utopischen Musters preiszugeben.

Kann das Europa des 21. Jahrhunderts von seiner utopischen Republik-Tradition lernen? I Was ist unter "Republik" in jener Denktradition zu verstehen, die mit der klassischen, 1516 erschienenen Schrift "Utopia" des Thomas Morus ihre moderne Karriere begann? Und was kann das Europa des 21. Jahrhunderts von seiner utopischen Republik-Tradition lernen? Ich werde im folgenden versuchen, mich einer Antwort auf diese beiden aufeinander verweisenden Fragen dadurch zu nähern, daß ich mein Erkenntnisinteresse auf zwei Phänomene richte. Einerseits ist herauszufinden, wie sich vom Beginn des 16. Jahrhunderts bis zur Gegenwart der Gebrauch des Begriffs "Republik" im realpolitischen Kontext von dem des utopischen Diskurses unterschieden hat. Andererseits gilt es, Differenzierungen innerhalb des Republik-Begriffs herauszuarbeiten, die den internen Auseinandersetzungen und Lernprozessen des utopischen Denkens selber geschuldet sind. Erst wenn diese beiden ideengeschichtlichen Entwicklungslinien frei liegen, besteht die Chance, so meine Hypothese, sinnvolle Aussagen über die Anschlußfähigkeit des utopischen Republik-Diskurses an das zukünftige politische System Europas im 21. Jahrhundert zu machen.

I. Frühbürgerliche Denker, die Mitbestimmungsrechte des Volkes forderten, bezogen sich bekanntlich nicht auf diesen Begriff, sondern auf den der "Republik": Sie meinten ein politisches Gemeinwesen, das sein Vorbild in der römischen Republik hatte und außerdem die Wiedergabe des griechischen Konzepts der "Politie" darstellte. "Republik" wurde also gleichgesetzt mit der "gemischten Verfassung": ein Lehrstück, das Polybius2 , wie man weiß, im Anschluß an Aristoteles am Beispiel der drei Gewalten des römischen Staates, nämlich der Konsuln, des Senats und der Volksversammlung, gleichsam kanonisierte. Doch konstituierte das Zusammenwirken des monarchischen, aristokratischen und des

I Meinem Göttinger Kollegen Walter Euchner habe ich für Hinweise und Anregungen zu danken. 2 Vgl. Polybios, Historien (Auszug), in: Möbus 1964.

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demokratischen Elementes zunächst nur ein formales, epochenübergreifendes Muster der "Republik": Es erhielt erst durch drei zusätzliche Strukturmerkmale sein spezifisch frühneuzeitliches Profil: I. Die "gemischte Verfassung" wurde in den politischen Auseinandersetzungen der Frühen Neuzeit, modern gesprochen, kontlikttheoretisch interpretiert. Ausgehend von der Uneinigkeit zwischen Volk und Senat in der römischen Republik, treibt Machiavelli zufolge die Mischung aus den drei Regierungsformen den "besten Staat" dadurch aus sich hervor, daß die Spannung zwischen ihnen erst jene staatbürgerliche Freiheit ermöglicht, die ihrerseits zu ökonomischer Prosperität und politischer Stärke führt, weil unter solchen Bedingungen der Selbstbehauptungswille des Volkes besonders ausgeprägt ist. Zwar wird die führende Rolle des Adels nicht in Frage gestellt. Doch notwendig ist auch eine Beteiligung des Volkes an der politischen Willensbildung 3 . 2. Die "Republik" hat in der Verfügung über Privateigentum ihre eigentliche materielle Basis. Sie hat sich aus diesem Grund, wie Bodin betonte, gegenüber zwei Herausforderungen zu behaupten. Einerseits besteht die Gefahr, daß eine tyrannische Obrigkeit illegitime Steuern ohne Zustimmung der Betroffenen erhebt oder zu Konfiskationen greift. Andererseits ist aber die "Republik" nicht nur "von oben" bedroht; sie muß auch mit Angriffen "von unten" rechnen: Gemeint sind die egalitären und kommunistischen Sekten wie die der Wiedertäufer, die gleichfalls das Privateigentum in Frage stellen, indem sie die Forderung nach Gütergleichheit auf die politische Tagesordnung setzen4 . 3. Das der "Republik" zugrundeliegende "Volk" meint nicht die Frauen, die lohnabhängigen Arbeiter, die unfreien Bauern, die kleinen Handwerker und Händler, die Dienstboten oder die Bettler, sondern die kleine Schicht des steuerpflichtigen wohlhabenden Besitzbürgerturns. Es ist das eigentliche soziale Substrat der "Republik", das Gleichberechtigung mit dem Adel, aber nicht Gleichheit für die Unterschichten fordert 5 . Durch welche strukturellen Merkmale kann man auf dieser analytischen Folie die "utopische Republik" charakterisieren, wie sie für die Fiktionen idealer Gemeinwesen während der Renaissance und der Reformation kennzeichnend sind? Auf der formalen Ebene der Regierungslehre scheint es eine gravierende Differenz zum realpolitischen Gebrauch des Begriffs "Republik" nicht zu geben. So lassen sich die politischen Systeme in Morus' "Utopia", in Campanellas "Sonnenstaat" und Andreaes "Christianopolis" problemlos als "gemischte Verfassungen" im Sinne der aristotelischen "Politie" identifizieren. Bei Morus stellt die Institution des Staatspräsidenten eine Art Wahlmonarch dar. Der ihm zugeordnete Senat ist unschwer als das aristokratische Verfassungselement auszumachen, und die Demokratie ist institutionalisiert in Gestalt der Volksversamm-

3 Vgl. Macchiavelli 1965: S. 13 ff. 4 Vgl. Euchner 1973: S. 47-73. 5 Selbst Kant ging noch von diesem Paradigma aus. Vgl. Kalif 1968: S. 433. 9 Saage

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lung6 . Ähnliches läßt sich vom "Sonnenstaat" Campanellas berichten. Die Regierung, an deren Spitze ein mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteter Amtsträger steht, bringt das monarchische, der sie beratende Senat das aristokratische und die Volksversammlung das demokratische Element zum Tragen 7 . Auch Andreaes "Christianopolis" geht von einem ähnlichen Muster aus. Der großen Masse des köperlieh arbeitenden Volkes wird eine gewisse Selbstverwaltung zugestanden (demokratische Komponente). Ihr tritt eine mit exekutiven und Verwaltungsaufgaben betraute Elite von staatlichen Funktionären (Aristokratie) gegenüber, der die Richtlinien ihres Handeins von einer noch kleineren Gruppe der eigentlichen Herrscher vorgegeben wird: den Triumvirn (monarchisches Element)8. Für die utopische Verfassung ist - wie im realpolitischen Verständnis der Republik - gleichfalls konstitutiv, daß die direkte Partizipation des Volkes nach dem Vorbild der attischen Demokratie unter Perikles durch strikte Institutionalisierung der Entscheidungsvorgänge ausgeschlossen erscheint: Bei Morus gilt es, charakeristisch genug, als todwürdiges Verbrechen, wenn die politische Willensbildung außerhalb der dafür vorgesehenen Repräsentationsorgane stattfindet9 . Doch spätestens dann, wenn die utopischen Republiken mit den oben ausgeführten drei Kriterien, nämlich der konflikttheoretischen Auslegung der Mischverfassung, der Unantastbarkeit des Privateigentums und des restriktiv interpretierten Volksbegriffs, konfrontiert werden, treten die Unterschiede klar hervor. Zunächst ist darauf zu verweisen, daß die Klassiker des utopischen Denkens mit einer zentralen Prämisse des frühbürgerlichen Republik-Verständnisses brachen: Sie weigerten sich, die Mischverfassung im Licht der römischen Republik, die sich an der Bewältigung realer Konflikte bewähren mußte, zu interpretieren. Vielmehr orientierten sie sich an der platonischen "Politeia". Diese Modifikation erreichten die Klassiker des utopischen Denkens dadurch, daß sie zwar an der formalen Struktur der Mischverfassung festhielten; rein machtpolitisch jedoch hat die utopische Republik einen eher aristokratischen Zuschnitt lO . Den sozialen und politischen Auseinandersetzungen sollten nämlich dadurch von vornherein der Boden entzogen werden, daß das Politikmonopol weitgehend in den Händen einer Elite ist, die, das vernünftige "bonum commune" verkörpernd, in Analogie zu Platons Philosophen stellvertretend für das Volk handelt. Morus' "Utopia" war auch in dieser Hinsicht das schulernachende Vorbild. Die staatstragende Elite rekrutiert sich aus einer Schicht wissenschaftlich Gebildeter, die - wie in Platons "Politeia" - dem Leistungsprinzip unterworfen ist. Aus ih-

(, Mnrus 1970: S. 53 f. 7 Campanella 1970: S. 119 ff.. 149 f. 8 Alldreae 1975: S. 27. 47 f .• 130 f. 9 Morus 1970: S. 53. 10 Vgl. dazu Saage 1989.

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ren Reihen gehen die staatlichen Hoheitsträger im engeren Sinne hervor. Ihr hervorgehobener Status wird durch besondere Kleider und Insignien, die freilich einfach und volkstümlich gehalten sind, ebenso kenntlich gemacht wie durch eine besondere Bevorzugung bei den Mahlzeiten 11. Die zweite Differenz wird deutlich, wenn wir uns der materiellen Fundierung der "utopischen Republik" zuwenden. Ebenfalls in Anlehnung an Platon lehnen die Utopier das Privateigentum ab und gründen ihre Republik auf der Grundlage des Gemeineigentums. Gerechtfertigt wird dieser Schritt mit dem Argument, daß der persönliche Besitz und seine Verwertung individuelle und gesellschaftliche Konflikte hervorruft, während das Gemeineigentum divergierende Interessen zusammenführt und das Volk zu einer großen Familie eint. Die "Republik" ist unter dieser Voraussetzung für sie kein optimales Konflikt-, sondern ein höchsten Ansprüchen genügendes Harmonie-Modell. Was die Vertreter der realpolitischen Republik als großen Vorteil ansahen, daß nämlich gesellschaftliche Konfliktlagen Stagnation verhindern und wirtschaftliche und kulturelle Dynamik befördern, wiII die utopische Republik gerade vermeiden: Ihr Sollwert ist die gesellschaftliche Harmonie und die Statik der sozialen Verhältnisse 12 . Eine dritte Differenz kommt hinzu. Der Begriff des Volkes wird im utopischen Denken auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt. Im Gegensatz zur realpolitischen Auslegung der Republik in der frühen Neuzeit entfallen also die Besitzqualifikationen für die das Volk konstituierenden Vollbürger. Aber charakteristisch ist auch, daß diese soziologische Ausweitung des Volksbegriffs im utopischen Diskurs zugleich politisch wieder eingeschränkt wird. Zwar ist das Volk von der politischen WilIensbildung nicht ausgeschlossen; ihm kommen in der Volksversammlung durchaus beratende Funktionen zu. Doch seine Entscheidungsbefugnisse sind eher gering; sie dienen dazu, angestaute kollektive Unzufriedenheit zu kanalisieren und Aufstände im Ansatz zu verhindern. Es wird immer wieder behauptet, die politischen Körperschaften der utopischen Republiken der frühen Neuzeit müßten als Vorläufer der liberalen Demokratien des Westens angesehen werden, weil sie auf Repräsentation und Wahlen gründeten 13. Offensichtlich wird hier die real politische mit der utopischen Republik verwechselt. Für die erstere trifft zu, was der letzteren als Kriterium des westlichen Verfassungstyps gerade abgeht: der konfliktfähige Bürger, der seine persönliche Autonomie und öffentlich relevante Privatheit auf der Verfügung über Privateigentum stützt und es schließlich - durch die Vermittlung einer Se-

11 Morus 1970: S. 56 f. 12 V gl. hierzu zusammenfassend Saage 1989: S. 20 ff. 13 So charakterisiert Funke die utopische Republik FOlltenelles mit einer "repräsentativdemokratische Bundesrepublik" . Vgl. Fontenelle 1982: S. 61. FN I. Auch Marills bringt das Naturrecht bei Morus mit der Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten in Verbindung. Vgl. Marills 1987: S. 214. 9*

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rie von Revolutionen - schafft, beide Qualitäten mit der Kodifizierung individueller Grund- und Menschenrechte gegenüber dem willkürlichen staatlichen Zugriff zu schützen. Dagegen ist der utopische Bürger nicht Subjekt, sondern Objekt einer obrigkeitlichen Politik. Nachdem er sich der strikten Arbeitsdisziplin unterworfen hat, die zur materiellen Reproduktion des utopischen Gemeinwesens notwendig erscheint, wird alles für ihn getan und nur sehr wenig durch ihn.

,

Ein weiterer Unterschied ist zu berücksichtigen. Die frühbürgerliche RealRepublik wurde daran gemessen, inwieweit es ihr gelang, Konflikte durch Kompromisse zu regeln. Zu diesem Zwecke mußten in Form von Ständeversammlungen und Parlamenten öffentlichkeitsrelevante Foren entwickelt werden, auf denen sich mündige Bürger überhaupt erst konstituieren konnten 14. Die utopischen Republiken funktionieren demgegenüber auf einer ganz anderen Grundlage: Nicht der diskutant und durch Interessenausgleich ermittelte Komprorniß zwischen den konfligierenden Interessen ist für sie die zu lösende Aufgabe, sondern die Umsetzung des von der politischen Elite erkannten Vernünftigen in praktische Politik lS . Wenn der utopische Republikaner über Repräsentationsorgane verfügt und auch das Wahlrecht hat, wird nicht für alternative Politiken optiert, sondern das im Prinzip Richtige bestätigt. Ein solches Republikverständnis ist eine Alternative zum individualistischen Verfassungsdenken, aber nicht Teil seiner historischen Genese.

11. Doch die Frage ist, wie sich das Selbstverständnis der realpolitischen und der utopischen Republik im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung weiterentwickelte. Zunächst ist es im historischen Kontext sehr aufschlußreich, daß zwar wie bisher zwischen "Demokratie" und "Republik" unterschieden wurde. Aber das Verhältnis zwischen beiden Begriffen beginnt sich zu verändern. Bis zum Vorabend der Französischen Revolution wurde der positiv besetzte Begriff "Republik" in der Regel gegen die pejorativ ausgelegte "Demokratie" ausgepielt. Diese Relation beginnt sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts zunächst unter dem Einfluß Montesquieus l6 und dann vor allem Rousseaus l7 signifikant zu ändern: In dem Maße, wie die Demokratie als die Herrschaftsform der besonders tugendhaften Bürger eine bedeutsame Aufwertung erfährt, verliert sie allmählich ihre Funktion als Gegenbegriff zur "Republik". Diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt, als Robespierre 1794 wenige Monate vor seiner Hin-

14 15 16 17

Vgl. Vgl. V gl. Vgl.

Habermas 1968. Saa8e 1989 S. 30-35. MOfltesql/iel/ 1951: S. 62 ff. ROllsseall 0.1.: S. 59 ff.

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richtung in der berühmten Rede über die Prinzipien der politischen Moral das Problem aufwarf, wie eine Regierung beschaffen sein müsse, die in der Lage sei, Egoismus durch Moral, Gleicheit, Gerechtigkeit und Tugend zu ersetzen. Er antwortete: "allein die demokratische und republikanische Regierung - beide Wörter sind gleichbedeutend trotz des Sprachmißbrauchs im Volk"18. Allerdings veränderte er durch diese Ineinssetzung auch die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs "Demokratie" als unmittelbarer Volksherrschaft. Die Demokratie sei nämlich kein Staat, "in dem das souveräne Volk, geleitet von selbstgeschaffenen Gesetzen, selber alles tut, was es ohne weiteres vollbringen kann, und durch Beauftragte alles tut, was es nicht selber vollbringen kann"19. Robespierres Identifikation von Republik und Demokratie bedeutete also die Anerkennung des Repräsentationsprinzip, aber korrigiert durch plebiszitäre bzw. direktdemokratische Elemente. Welche Auswirkung hatte diese Konvergenz zwischen "Republik" und "Demokratie" im politischen Sprachgebrauch für das utopische Republik-Verständnis? Sicherlich trifft zu, daß bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts von Vairasse' "Histoire des Severambes"20 über die Salent-Utopie Fenelons 21 bis hin zu FonteneIles "Histoire des Ajaoiens"22 und Morellys "Code de la Nature"23 die im Licht der platonischen "Politeia" ausgelegte Mischverfassung - wie immer modifiziert - im utopischen Denken hegemonial war. Aber klar ist auch, daß neben dieser Kontinuität im utopischen Republik-Verständnis zwei neue Republik-Varianten in dieser Epoche bedeutsam wurden. Exemplarisch für den einen Trend ist Merciers "Das Jahr 2440". Mercier, ein Schüler Rousseaus, übernimmt zwar die Institutionen der Mischverfassung mit ihrem GewaItenteilungsund Repräsentationsprinzip. Das demokratische Element verkörpernd, ruht die Volkssouveränität der Legislative in der vereinigten Ständversammlung, während das aristokratische Moment im Senat und die monarchische Komponente im Staatsoberhaupt institutionalisiert ist. Doch neu an Merciers utopischem Republik-Verständnis ist, daß er die "gemischte Verfassung" nicht innerhalb des Paradigmas der platonischen "Politeia", sondern der Rousseauschen "volonte generale" entwickelt. Wie sich einerseits kein Mensch über die Gesetze, die Ausfluß des Allgemeinen Willens sind, stellen darf, so haben alle politischen Amtsträger - und allen voran das Staatsoberhaupt - keine andere Aufgabe zu erfüllen als die Vollstreckung des Volkswillens. Dies vorausgesetzt, ist der Monarch als Staatsoberhaupt nicht der "Treuhänder" der volonte generale; vielmehr

18 Robespierre 0.J.: S. 44.

19 Ebd. 20 Vgl. Vairasse 1702. 21 Fbleloll 1984. 22 Fontenelle 1882. 23 Morelly 19\0.

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richtet das Volk an ihn den Imperativ: "Handelt für uns, sobald ihr unseren Willen genau kennt"24. Dem entspricht, daß Mercier in Absetzung vom absolutistischen Herrschaftssystem und vom klassischen Utopie-Diskurs der Renaissance und der Reformation für eine weitgehende Dezentralisierung des politischen Systems eintritt25 . Um den Rückfall in den Absolutismus bzw. in die Tyrannei zu verhindern, ist der Monarch von Zensoren umgeben, die alle mit despotischen Aspirationen erfüllten Berater aus seiner Umgebung vertreiben 26 . Ferner wird der Thronerbe wie ein einfacher Bürger erzogen, um eine Entfremdung vom Volk zu verhindern. Diesem Zweck dient auch die Pflicht des zukünftigen Monarchen, im 24. Lebensjahr eine Bürgertochter zu heiraten 27 . Vor allem aber setzt Mercier die Institution der Öffentlichkeit ein, um ein Abweichen der Republik von der volonte generale zu verhindern. Er wird nicht müde, die Publizität als die "gefürchtetste Schranke" des Despotismus zu feiern, "weil sie noch die kleinsten seiner Übergriffe bekannt macht, weil nichts verheimlicht werden kann und weil sie die Dummheiten bis hin zu den Schwächen der Könige für die Ewigkeit festhält. Eine einzige Ungerechtigkeit, ist sie einmal publik gemacht, kann in allen Winkeln der Welt widerhallen und alle freien und verständigen Seelen in Aufruhr bringen"28. Merciers Republik führt also ein, was der utopischen Mischverfassung bisher abging: Publizität als Verfassungsorgan. Ist dadurch das Forum geschaffen, auf dem sich der mündige Bürger als Subjekt der Politik entfalten kann? Bedeutet die Einführung des Mediums der kritischen Öffentlichkeit in das politische System des fiktiven Gemeinwesens die Versöhnung der politischen Utopie mit dem individualistischen Verfassungsdenken? Diese Frage ist eindeutig zu verneinen, weil er - wie seine Vorgänger - von einem monistischen Vernunftbegriff ausgeht, der sich gegen seine eigene Selbstthematisierung- und problematisierung sperrt: Anstatt Aufklärung über sich selbst im Blick auf die Abwehr regressiver Gefährdungen zu betreiben, wird sie auch bei Mercier das Opfer ihrer eigenen Dialektik. Als "instrumentelle Vernunft" depraviert sie zu dem, was sie aufheben wollte, nämlich zur repressiven Herrschaftspraxis. So ist in Merciers idealer Republik die Institution der Zensur eine Selbstverständlichkeit29 . Öffentliche Verbrennungen von Büchern, die angeblich den Intentionen der volonte generale zuwiderlaufen, sind zu einer regulären Einrichtung geworden 30 .

24 Mercier 1982, S. 285, FN 312.

25 A.a.O., S. 162. 26 A.a.O., S. 165. 27 A,a,O., S. 171. 28 A.a.O., S. 258, FN 200. 29 A.a.O., S. 113. 30 A.a.O., S. 114.

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Schriftsteller werden aus demselben Grund öffentlich gemaßregelt und der Freiheit von Theater und bildender Kunst eine klare Absage erteilt. So müssen die Maler bei ihrer Arbeit das Kriterium beachten, daß ihre Bilder den Betrachtern große und tugendhafte Empfindungen einflößen. Und die Bildhauer sind gehalten, keine "Skulpturen von Gegenständen herzustellen, die der Seele nichts" mitteilen; denn "alle unsittlichen Motive, die unsere Kamine umgaben, waren aufs schärfste untersagt"31. Daß Merciers utopische Tugend-Republik durchaus dem archistischen, d.h. herrschaftsbezogenen Utopie-Typus32 zugerechnet werden muß, dürfte gerade am Beispiel seines Öffentlichkeitsmodells deutlich geworden sein: Es ist ein Herrschaftsinstrument der den Allgemeinen Willen verkörpernden Republik par excellence, das der rigiden Gesinnungskontrolle seiner Bürger dient. Doch ist jene andere Variante im utopischen Republik-Verständnis, die in dieser Epoche unter dem Schlagwort "Republique Sauvage" bekannt wurde, eine freiheitliche Alternative zur utopisierten Republik der volonte generale? Die "Republique Sauvage" ist Ausfluß der Reiseliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts, wie sie von Amerigo Vespucci (1516-1517), Pietro Marty d'Anghiera (1536), Jean Macer (1555) und Petro Bembo (1566) verfaßt wurden. Sie beziehen sich "in der Regel" auf "die Indianervölker des karibischen Raumes"33. Doch im Zuge der Utopisierung der in diesen Kompilationen und Berichten auftauchenden Topoi durch de Fogny34, de Lahontan35 , Morelly36 und Diderot37 wurden sie bald von ihrem Ursprung gelöst und auf die sogenannten Naturvölker der nordamerikanischen Indianer oder der Tahitianer übertragen. Hans-Günter Funke hat die Strukturmerkmale dieser "Republique Sauvage", deren gesellschaftliches Substrat die berühmten "Edlen Wilden" sind, auf folgende Formel gebracht: "Als Merkmale der 'Republique sau vage' erkennen wir die Nackheit der Indianer, Gütergemeinschaft, Herrschaftsfreiheit, Gleichheit, Polygamie, Religionsfreiheit, das Fehlen des Handels, ein hedonistisches Leben nach dem Gesetz der Natur"38. Tatsächlich stellt die "Republique Sau vage" nicht nur einen radikalen Bruch mit dem realpolitischen Republik-Verständnis dar, sondern auch mit den utopischen Republikvarianten, die die Mischverfassung entweder in der Perspektive der platonischen "Politeia" oder der Rousseauschen vonlonte generale interpre31 A.a.O .. S. 155. 32 Zur systematischen Unterscheidung zwischen dem archistischen (herrschaftsbezogenen) und anarchistischen (herrschaftslosen) Utopietypus vgl. Voigt 1906: S. 187. 33 Funke 1986: S. 41. 34 Vgl. de Foigny 1693. 35 Vgl. de LallOntall 1704. 36 Vgl. Morelly 1753. 37 Vgl. Diderot 1984: S. 195-237. 38 Funke 1986: S. 42.

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tierten. Entscheidend ist nämlich, daß die "Republique Sauvage" mit politischer Herrschaft überhaupt bricht: Es geht ihr also nicht mehr darum, sie in die für das Befinden der Menschen bestmögliche institutionelle Form zu bringen, sondern sie ganz abzuschaffen. In de Foignys Australien-Utopie ist eine staatliche Zwangs gewalt überflüssig. Bei der Konzipierung ihrer Politik verzichten die Australier auf eine Regierung. Die Entscheidungen werden auf lokaler Ebene getroffen, und zwar so, daß unter Brüdern solche Beschlüsse gefaßt werden, "die sie für die vernünftigsten halten, ohne dabei an etwas anderes zu denken als an das öffentliche Wohl"39. De Lahontan läßt den Parteigänger der Huronen, Adario, sagen, "daß in unserem Dorf 1000 Menschen leben, die sich untereinander lieben wie Brüder und die sich stets gegenseitig helfen. Die Kriegsführer und die Leiter der Nation und des Rates haben nicht mehr Macht als die anderen Huronen. Streit und Lüge unter ihnen sind unbekannt. Jeder ist Herr seiner selbst und tut das, was er will, ohne jemandem rechenschaftspflichtig zu sein und ohne sich getadelt zu sehen"40. Diese "geordnete Anarchie" kennt nur ein regulatives Prinzip des menschlichen Zusammenlebens jenseits gesatzter Normen und staatlicher Sanktionsgewalt: Es ist das internalisierte "Gesetz der Natur", daß alle erkennen und als Richtschnur ihres Handeins akzeptieren. Und auch die Tahitianer in Diderots "Nachtrag" sind zwar aus der Isolation der ursprünglich Gleichen und Freien im "reinen Naturzustand" herausgetreten und haben sich vergesellschaftet. Aber sie lassen es bei dieser herrschaftsfreien Assoziation bewenden. Indem sie die Konsequenz des Herrschaftsvertrages, nämlich mit Repressionsgewalt ausgestattete Institutionen vermeiden, leben sie unter dem "Gesetz der Natur", das sich selbst reguliert41 . Die "Republique Sauvage" hinterläßt einen zwiespältigen Eindruck. Auf der einen Seite imaginiert sie utopische Szenarien, in denen die Prinzipien der Französischen Revolution von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit zu Prinzipien einer fiktiven Lebenswirklichkeit werden, ohne die eine freiheitliche politische Kultur keinen Bestand haben kann. Auf der anderen Seite verneint sie das Herrschaftsphänomen in einer Weise, die an Eskapismus grenzt und dem Anspruch auf ein alternatives Republik-Verständnis die Grundlage entzieht. Die "Republique Sau vage" mutiert vielmehr zum kritischen Potential, das auf die Defizite der politischen Systeme der westlichen Zivilisation verweist. Erreicht wird dieser Effekt dadurch, daß die anarchistische Republik ihr Profil in der "Abweichung von der Eigenkultur" (Funke) gewinnt. Tatsächlich fällt auf, daß die meisten ihrer Merkmale "als Ergebnis eines Vergleichs der primitiven Naturgesellschaft

39 de FoigllY 1693: S. \07 f. 40 de Lahontall 1704: S. 61. 41

Diderot 1984: S. 222.

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mit der komplexen Gesellschaft des zivilisierten Europa 'ex negativo' formuliert werden"42.

III. Wie entwickelte sich im realhistorischen Kontext der Republik-Begriff im 19. Jahrhundert weiter? Und von welchen Alternativen politischer Teilhabe ging das utopische Verständnis von Republik in der Epoche der Industrialisierung aus? In den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts wurden häufig die von Robespierre vollzogene Ineinssetzung von "Republik" und "Demokratie" übernommen und beide Begriffe synonym gebraucht. Für die Linke ist in diesem Zusammenhang charakteristisch, daß Sozialisten und Kommunisten das von ihnen favorisierte politische System als "Republik" kennzeichneten; freilich ergänzten sie diesen Terminus durch die Ajektive "demokratisch" oder "sozial". So nannte Marx die Sozialdemokratie die "Partei der roten Republik". Er konstrastiere sie mit der "offiziellen Republik", die er mit der "Bourgeois-Demokratie" gleichsetzen zu können glaubte: Entsprechend ist bei ihm von der "bürgerlichrepublikanischen Ideologie" die Rede, in die die Vertreter der kleinbürgerlichen Demokratie befangen geblieben seien 43 . Aber auch das bürgerliche Lager ging dazu über, "Demokratie" mit "Republik" zu identifizieren. Dieser Schritt war mit einer Um interpretation des ursprünglichen Demokratie-Verständnisses verbunden, die bis auf den heutigen Tag folgenreich bleiben sollte. Bekanntlich war "Demokratie" bis ins 19. Jahrhundert hinein ein "KleineLeute-Begriff' (Euchner), der in dem Maße, wie ihn die Armen, Kleinbürger, Handwerker und Arbeiter für sich reklamierten, von den besitz- und bildungsbürgerlichen Schichten abgelehnt wurde: Ganz in der antiken Tradition stehend assoziierten sie mit ihm Anarchie und, aus ihr hervorgegangen, Tyrannei. Arthur Rosenberg hat in seinem bekannten Buch "Demokratie und Sozialismus" gezeigt, daß die großbürgerlichen und zum Teil die adligen Schichten im Verlauf der Industrialisierung begannen, sich unter dem Druck der Arbeiterbewegung, die eine Ausweitung des Wahlrechts forderte, zur Demokratie zu bekennen 44. Aber mit dieser Akzeptanz ging eine Neudefinition einher: "Demokratie" wurde nicht mehr als direkte Volksherrschaft mit dem Ziel tiefgreifender sozialer Reformen zugunsten der sozial Schwachen verstanden, sondern als demokratische Elitenherrschaft auf der Basis des allgemeinen Wahlrechts, des freien Mandats und der kodifizierten individuellen Grund- und Menschenrechte: Sie war nach diesem Verständnis eine Methode, mit deren Hilfe die staatliche Ordnung zu reproduzie-

42 Flinke 1986: S. 42. 43 Vgl. Marx 1966. 44 Vgl. Rosenberg 1962: S. 41 ff.

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ren und zu legitimieren ist. Aber auch der Begriff der Republik wurde formalisiert. Am Ende bezeichnete dieser Terminus alle parlamentarischen und präsidentieIlen Systeme, die zwar auf der Volkssouveränität beruhen, deren Herrschaft aber nicht direkt, sondern von gewählten Repräsentanten ausgeübt wird. Für das utopische Denken des 19. Jahrhunderts ist charakteristisch, daß es der so verstandenen Republik in der Form der repräsentativen Demokratie, selbst wenn sie auf dem allgemeinen Wahlrecht gegründet war, mit unverhohlener Skepsis begegnet. Cabet lehnte die repräsentative Demokratie nach englischem Vorbild dezidiert ab. "Jene alte Regierungsmaschine" sei zu Unrecht eine "Repräsentativregierung" genannt worden. In Wirklichkeit hätten die Königin und die Minister geherrscht, und zwar ohne Mitwirkung der Deputierten. Deren Existenz diene nur dazu, die Despotie des Systems "unter dem Deckmantel der Volksvertreter" zu verhüllen 45 . Demokratische Wahlen, so Robert Owen, trügen nicht dazu bei, das größte Übel, nämlich die Uneinigkeit unter den Menschen, zu beheben: Solange die Inhaber von Regierungsfunktionen (governors) gewählt seien, so lautet seine zentrale These, könne die Welt weder gut noch friedlich regiert noch die Einheit des Gemeinwesens erhalten werden. In seinem besten Gemeinwesen sind Parteien durch eine "allerhöchste Deklaration" abgeschafft. Ihre Existenz, die den Konflikt auf Dauer stelle, sei der fundamentalste Irrtum, auf dem alle bisherigen Gesellschaften basierten46 . In William Morris' Utopie der vollendeten kommunistischen Gesellschaft gehört die parlamentarische Demokratie der Vergangenheit an. Das Parlamentsgebäude in London wurde zu einem Magazin für natürlichen Dünger umgestaltet, der nicht, wie Morris hervorhebt, die schlechteste Art der Verfaultheit und Verderbnis sei; "aus dem Dünger kann Fruchtbarkeit kommen, während nur Mangel und Not von der anderen Art der Fäulnis kam, deren Hauptstützen einst diese Mauem bargen"47. Und auch Hertzka knüpft an die Kritik der repräsentativen Demokratien Europas und Nordamerikas an, die im utopischen Diskurs des 19. Jahrhunderts Schule machte. Er wirft ihnen vor, sie stellten nicht nur an die Spitze der verschiedenen Verwaltungszweige inkompetente Männer. Darüber hinaus würden in den repräsentativen Demokratien partikulare Interessen als das "Gemeinwohl" ausgegeben, das dadurch manipulativ verfälscht werde48 . Welches alternative Republik-Verständnis konfrontierte nun der utopische Diskurs des 19. Jahrhunderts den in seinen Augen korrupten Varianten der liberalen Demokratie? Der Situation des 18. Jahrhunderts nicht ganz unähnlich, wurde die utopische Republik in zwei großen Varianten diskutiert, die sich als Alternativen fiktiver politischer Systeme mit höchstem Vollkommenheitsan45 Cabet 1979: S. 168. Owen 1970: S. IX. 47 Morris 1981: S. 108. 48 Hertzka 1890: S. 116 f.

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spruch gegenüberstanden. Auf der einen Seite setzte man die "Republique-Sauvage"-Tradition unter industriellen Bedingungen fort. So sind für Fouriers Gemeinwesen die Staats- und Regierungsform irrelevant, weil es einer etatistischen Intervention in seiner sozietären Ordnung nicht bedarf. Wie die Bon-Sauvage Utopien des 18. Jahrhunderts kommen die Assoziationen Fouriers sogar ohne einen staatlichen Justizapparat aus, weil der in ihnen herrschende Corpsgeist einen hohen Stand zivilen Verhaltens 49 hervorbringt und kriminel1e Delikte marginalisiert sind 50 . Auch bei William Morris ist das politische System vollständig dezentralisiert. Eine Regierung, die aus dem Parlament hervorgeht, oder eine politische Klasse, die das Politikmonopol innhätte, existieren nicht. Die Gesellschaft organisiert sich autonom ohne staatliche Zwangsgewalt. Die Entscheidungen werden in basisnahen Volksversammlungen der Gemeinden, Bezirke und des Kirchspiels getroffen. Dabei ist der Mehrheitswille identisch mit dem Willen aller, weil die auszuhandelnden Konflikte aufgrund der unterstellten sozialen Homogenität ohne politische Brisanz sind. Sie betreffen lediglich Meinungsverschiedenheiten in technischen Fragen, die nicht dauerhaft entzweien. Im übrigen hat die Minorität das Recht, ein dreifaches aufschiebendes Veto einzulegen und ihren Standpunkt hinreichend darzulegen 51 . Auf der anderen Seite war jedoch im utopischen Diskurs des 19. Jahrhunderts ein Republik-Verständnis dominant, das dessen archistische, d.h. herrschaftsbezogene Stoßrichtung betonte, jedoch in unterschiedlicher Ausprägung. Für die eine Variante ist Cabets Utopie "Reise nach Ikarien" kennzeichnend. Noch ganz in der Tradition des Republik-Verständnisses Robespierres stehend, ist in Ikarien der Begriff "Republik" ein Synonym für die klassische Demokratie als der "Selbstbestimmung des Volkes". Zwar wäre es wünschenswert, daß sich das Volk als Souverän selber versammelt, um direkt die Gesetze zu erlassen, denen es unterworfen ist. Da dies aber nicht praktikabel erscheint, delegiert es an Beauftragte die Kompetenzen, die es unmittelbar selber nicht ausüben kann. Zwar haben die Delegierten die Vollmacht, Gesetze zu verabschieden, während es die Aufgabe der exekutiven Ausschüsse ist, sie anzuwenden. Doch behält sich das Volk das Recht vor, die Gesetzesentwürfe zurückzuweisen. Es versteht sich von selbst, daß die Mitglieder der Legislative und Exekutive auf der Grundlage des imperativen Mandates direkt vom Volk gewählt sind. Unterhalb der zentralistischen Ebene teilt sich die ikarische Nation in einhundert Provinzen auf, die sich jeweils aus zehn Gemeinden mit annähernd großer Einwohnerzahl zusammensetzen. Auch sie verfügen über analoge legislative Körperschaften und exekutive Ausschüsse, die sich gleichfalls am Prinzip der Identität von Herrschern und Be-

49 Fourier 1966: S. 177 f. so Fourier 1980: S. 207. 51 Morris 1981: S. 109,117 f.

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herrschten, d.h. nicht am Repräsentations-, sondern am Delegationsprinzip orientieren S2 . Charakteristischer als der Rückgriff auf das klassische Modell, das die Republik mit der Selbstbestimmung des Volkes gleichsetzte, ist freilich für das archistische Verständnis der utopischen Republik im 19. Jahrhundert jene Strömung, die deren Begriff mit Komponenten des technischen Staates anreicherte. Das Grundmuster dieses Ansatzes ging auf Saint-Simon zurück, der in der von ihm antizipierten industriellen Gesellschaft aus der Korrelation von wissenschaftlich-technischem Fortschritt und steigenden Wohlstandserwartungen der Massen selbstintegrative Kräfte am Werk sah, die die Herrschaft des Menschen über den Menschen überflüssig machte und der Republik nur noch die Funktion der Verwaltung von Sachen zuwies 53 . Diese Funktionsbestimmung der utopischen Republik, die sich unmittelbar auf den Industrialisierungsprozeß berufen konnte, wurde vielfach variiert. So sind die zentralen Funktionen des Staats in Bellamys "Looking Backward" primär wirtschaftlich-technischer Natur: Er hat die Leitung und Kontrolle der nationalisierten Industrie inne, die aus den großen Trusts und Korporationen mit ihrem hohen Konzentrations- und Monopolisierungsgrad hervorgegangen sind 54 . Demgegenüber sind die klassischen Funktionen des bürgerlichen Staates obsolet geworden: Militärische und außenpolitische Aufgaben sind ebenso gegenstandslos geworden wie das Eintreiben von Steuern. Da es weder Klassenkonflikte noch durch gesellschaftliche Umstände bewirkte Verbrechen mehr gibt, ist der Repressionsapparat überflüssig: Justiz und Polizei sehen sich auf randständige Politikfe\der der Gesellschaft abgedrängt55 . Was berechtigt nun aber, diese beiden utopischen Republikvarianten, die doch Herrschaft überflüssig zu machen suchten, indem sie einerseits die Republik mit der Selbstbestimmung des Volkes und anderereits mit der Verwaltung von Sachen gleichsetzten, archistisch, d.h. herrschaftsbezogen zu nennen? Die Antwort ergibt sich aus der Tatsache, daß es sich hier um politische Systeme handelt, die ohne politische Eliten nicht auskommen können. Trotz seines postulierten Egalitarismus trifft diese Aussage selbst auf Cabets Ikarien-Republik zu. In ihr resultiert die Notwendigkeit politischer Eliten aus dem Zwang, Produktion und Distribution der Güter zu organisieren. Den Sockel der hierfür notwendigen riesigen bürokratischen Hierarchie öffentlicher Funktionsträger bilden die untergeordneten Bürokraten, die die "Interessen jedes und aller Bürger wahrzunehmen haben"56. Sie unterstehen den Ober- und Unterdirektoren der Nationalwerkstätten, die in ihrer Bedeutung etwa den Wächtern der "Politeia" des Platon gleich52 Cabet 1979: S. 37 f. 53 Saint-Simon 1977: S. 389. 54 Bellamv 1983: S. 45. 55 A.a.O.: S. 166 f. 56 Cabet 1979: S. 183.

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zusetzen sind. Die Richtlinien ihres politischen HandeIns erhalten sie von der politisch herrschenden Kaste im engeren Sinn. Bei Platon waren es die Philosophen, bei Saint-Simon, Cabet, Bellamy, Hertzka u.a. sind es vor allem die Wissenschaftler und Forscher sowie die in der Industrie die Leitungspositionen einnehmenden Manager. Wir haben es also mit einer Expertokratie zu tun, die in letzter Instanz nur ein einziges Legitimationskriterium kennt: Die Sicherung des Funktionierens der sozio-ökonomischen und politischen Reproduktionsmechanismen der idealen Republik.

IV. "Die Zeit zwischen der russischen Märzrevolution", bemerkte Gerhard A. Ritter in seiner Schrift "Deutscher und britischer Parlamentarismus", "und dem Ausbruch des zweiten Weltkriegs ist verfassungsgeschichtlich eine Periode der allgemeinen Krise der Demokratie und besonders des parlamentarischen Regierungssystems. Mit Rußland, den baltischen Staaten, Polen, Ungarn und Portugal setzten sich in Europa mit Ausnahme der Tschechoslowakei und Finnlands in allen der 1917 bis 1919 oder später zu demokratisch-parlamentarischen Verfassungen übergegangenen Staaten wieder totalitäre und autoritäre Regierungsformen durch"57. Das utopische Denken hat auf diese fundamentale Krise der liberalen Demokratie im 20. Jahrhundert dadurch reagiert, daß es sein eigenes totalitäres Potential einer rigorosen Selbstkritik unterwarf. Zum ersten Mal in seiner Geschichte konfrontierte es sich mit der Frage, ob eine Republik überhaupt funktionieren kann, die den einzelnen a apriori als Derivat des Ganzen und nicht als dessen entscheidende Legitimationsinstanz versteht. Diese seit Samjatins "Wir"58 einsetzende Tendenz utopischer Selbstreflexion fand zweifellos in George Orwells "1984" ihren klassischen Höhepunkt. Orwell entwirft in der Tat ein Szenario, in das alle wesentlichen Elemente der archistischen Republik des 19. Jahrhunderts integriert sind. Allerdings wird das, was dort im positiven Licht erscheint, jetzt radikal negativ bewertet. Wie die herrschende Kaste der Experten in den Technischen Staaten des utopischen Diskurses während der Industriellen Revolution, so haben bei Orwell die innere und die äußere Partei die gesamte politische und soziale Macht inne, während die große Masse der Bevölkerung, die sogenannten Proles, in dumpfer Abhängigkeit gehalten werden. Die negative Wende des Eliten-Konzepts bei Orwell besteht darin, daß die sozio-politische Macht der herrschenden Kaste nur ein Ziel kennt: Die neue Aristokratie, die sich zum größten Teil aus Bürokraten, Wissenschaftlern, Technikern, Gewerkschaftsfunktionären, Propagandafachleuten, Lehrern,

57 Ritter 1962: S. 3. 58 Vgl. Samjatin 1984.

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Journalisten und Berufspolitikern des alten Systems zusammensetzt59 , will sich in ihrer privilegierten Stellung behaupten. "Die Partei strebt die Macht lediglich in ihrem eigenen Interesse an", läßt Orwell O'Brien, den Protagonisten des totalitären Systems, sagen. "Uns ist nichts am Wohl anderer gelegen; uns interessiert einzig und allein die Macht als solche ... Die Macht ist kein Mittel, sie ist Selbstzweck ... Der Zweck der Macht ist die Macht"60. Seiner emanzipatorischen Intentionen entledigt, konnte der archistische Kern der klassischen utopischen Republik nicht schärfer herausgestellt werden: Ausdruck höchster Desillusion nach der Erfahrung der totalitären Regime des zwanzigsten Jahrhunderts, deren linke Variante angetreten war, den "Vernunftstaat Platos, den Sonnenstaat eines Campanella, den Traum vom "Vollendeten Menschen" oder der "Utopia" des Thomas Morus "zeitgemäß" zu verwirklichen 61 . Gegenüber der archistischen Republik des utopischen Denkens war ihre herrschaftsfreie Variante im historischen Kontext vergleichsweise wenig kompromittiert: Es verwundert daher nicht, daß bei dem Versuch, nach dem Zweiten Weltkrieg utopische Republiken erneut unter positiven Vorzeichen zu inszenieren, an das anarchistische Paradigma angeknüpft wurde. Doch geschah dies in einer charakteristischen Weise. Nach Orwells "1984", so scheint es, sind fiktive Szenarien einer utopischen Republik nur noch dann plausibel, wenn sie ihre inneren Gefahrdungen bei der Schilderung der utopischen Lebenswelten als deren konstitutiven Bestandteil mitberücksichtigen. Niemand hat bisher dieses Programm überzeugender literarisch gestaltet als Ursula K. Le Guin in ihrem Roman "The Dispossessed"62. Sie beschreibt ihre ideale anarchistische Republik als ein Gemeinwesen, das im Namen der maximalen persönlichen Freiheit mit einem Minimum funktionaler Institutionen auskommt. Zugleich ennöglicht es aber gerade dadurch eine infonnelle Machtkonzentration in den Händen ehrzgeiziger Individuen. Die Dialektik dieses Vorganges besteht darin, daß institutionell nicht kontrollierte Macht einen Konfonnitätsdruck erzeugt, der die nonnativen Prämissen der herrschafts freien Republik in ihr Gegenteil verkehrt. Kehren wir angesichts dieser ernüchternden Bilanz zu unserer aktualisierenden Ausgangsfrage zurück. Was kann das Europa des 21. Jahrhunderts von seiner utopischen Republik-Tradition lernen? Sowohl die archistische als auch die anarchistische Variante der utopischen Republik haben sich als defizitär erwiesen. Der interne Sprengsatz, an dem sie scheiterten, war die Stellung des einzelnen Bürgers, den ihm die Utopisten in ihren imaginären Republiken zuwiesen. Das Opfer, das die als allmächtiger Leviathan oder als Technischer Staat verstandene utopische Republik voraussetzte, war die Absage an das Leitbild des mündigen 590rwell 1984: S. 209. 60 A.a.O .. S. 68. 61 LlIkilcs/Becher/Wo(fu.a. 1991: S. 35. 62 V gl. Le Guin 1989.

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Bürgers, die sich seit Platon ohnehin wie ein roter Faden durch den utopischen Diskurs gezogen hat. Wenn politisches Handeln zum Monopol einer Leistungselite wird, hat der Bürger nur noch eine Rolle zu spielen: Er muß möglichst reibungslos im institutionellen Räderwerk des starken Staates oder der sozio-technischen Superstrukturen funktionieren. Als politische Größe kommt es auf ihn nicht mehr an. Aber auch die anarchististische Variante der utopischen Republik entzieht der Vision des mündigen Bürgers den Boden, wenn auch aus entgegengesetzten Gründen. Dadurch, daß sie den einzelnen auf einer institutionellen "tabula rasa" agieren läßt, liefert sie ihn schutzlos informellen Machtzusammenballungen aus, die, nur durch funktionierende Institutionen kontrollierbar, eine freiheitliche Kommunikation über das "bon um commune" im Ansatz verhindern. Kein Zweifel: Weder die archistische noch die anarchistische Linie des utopischen Republik-Diskurses haben dem Europa des 2\. Jahrhunderts tragfähige Visionen zu offerieren. Dennoch läßt die Radikalität, mit der sich seit Samjatins "Wir" das utopische Denken selbst hinterfragt, für das ganze Genre hoffen. Zum ersten Mal wird nicht nur marginal Selbstkritik geübt, sondern diese zum konstitutiven Element der utopischen Lebenswirklichkeit erhoben. Damit hat im utopischen Diskurs einen strukturellen Stellenwert erhalten, was bisher dem vermeintlichen Wohl des Ganzen geopfert wurde: die durch Se\bstreflexion gestützte Offenheit einer Republik, die alternatives Denken für die eigene Innovationsfähigkeit nutzt, ohne erneut der Gefahr des geschlossenen Modelldenkens zu erliegen. Das Europa des 21. Jahrhunderts, so scheint es, wäre nicht schlecht beraten, wenn es zumindest dieses Resultat des utopischen Denkens als sein Erbe annähme und weiterentwickelte.

Utopie und Science-fiction Versuch einer Begriffsbestimmung*

I. Das Verhältnis von Utopie und Science-fiction ist umstritten. So verwirft Hans Jonas zwar die Utopie in der Version Ernst Blochs als "Das Prinzip Hoffnung": In ihrem instrumenteIIen Zugriff auf die Natur sei sie ökologisch untragbar, und ihr sozio-politisches Organisationsschema laufe auf die Entmündigung der einzelnen hinaus. Zugleich lobte er aber die "ernste Seite der 'science fiction"': Sie deckt sich ihm zufolge voII mit dem "Prinzip Verantwortung", weil sie den beiden zentralen Pflichten einer Zukunftsethik, nämlich der "Beschaffung der VorsteIIung von den Fernwirkungen" und der "Aufbietung des dem VorgesteIIten angemessenen Gefühls"l, voII genüge. Auch wenn Zukunftsprojektionen unsicher seien, komme eine Ethik der Verantwortung um "die Projektion wahrscheinlicher oder auch nur möglicher Endeffekte"2 nicht herum. Sie könne auf eine "imaginäre Kasuistik" nicht verzichten, die - im Unterschied zu Recht und Moral - sich in Form eines heuristischen Gedankenexperiments auf die "Aufspürung und Entdeckung noch unbekannter (Prinzipien)"3 konzentriere. In der Schaffung eben solcher wohlinformierter Szenarien liege aber das Verdienst der Science-fiction, "deren plastischen Ergebnissen die hier gemeinte heuristische Funktion zukommen kann. (Man vergleiche zum Beispiel A. Huxleys 'Brave New World')"4. Jonas bewertet also nicht nur "Utopie" und "Science-fiction" in unterschiedlicher Weise; er differenziert auch auf einer terminologischen Ebene zwischen ihnen, auch wenn er die analytische Unterscheidung nicht weiter begründet. Ande-

* Erstmals erschienen in: Hellmann, Kai-Uwe / Klein. Arne (Hrsg.): "Unendliche Weiten ..... Star Trek zwischen Unterhaltung und Utopie, Frankfurt am Main 1997, S. 45-58. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Fischer Taschenbuch Verlages. I }ollas 1984: S. 67 u. 64 f. 2 A.a.O., S. 67. 3 Ebd. 4 A.a.O., S. 67 f.

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rerseits ist in den Sozialwissenschaften Science-fiction mit Utopie identifiziert worden. Bereits in den 50er Jahren hatte Martin Schwonke die Entwicklung des "Staatsromans" zur "Science-fiction" belegen zu können geglaubt. Seine These ist, daß die klassische politische Utopie zur Science-fiction mutierte. Die letztere habe "mit der Transformation des Zeitbewußtseins", also mit dem Umschlag von der Raum- zur Zeit-Utopie seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, das Erbe der ersteren angetreten: "Der 'Staatsroman"', so sein Befund, "stirbt aus. Aber auch in Darstellungen, die dem veränderten Zeitbewußtsein und der zeitgenössischen Wirklichkeitsauffassung entsprechen, sind die politischen und sozialen Zielsetzungen zugunsten des ständig wachsenden Einflusses von Wissenschaft und Technik in den Hintergrund getreten. Die nüchtern prognostizierende Intention und die oft sehr sorgfältige Analyse der technischen Zukunftsmöglichkeiten und ihrer Konsequenzen geben zu erkennen, wie sehr das heutige utopische Denken durch Wissenschaft und Technik bestimmt ist"5. Dem entspricht, daß im angelsächischen Sprachraum die Utopie im allgemeinen dem Begriff der Science-fiction zugeordnet wird. Dennoch hat sich in der Bundesrepublik, so scheint es, diese Gleichsetzung weder in der Umgangssprache noch in der Utopie- und Science-fiction-Forschung durchgesetzt. Tatsächlich kann Schwonkes Identifizierung von Utopie und Science-fiction nicht überzeugen. Er wirft der klassischen, auf Morus zurückgehenden Utopietradition vor, sie konzentriere sich "ausschließlich" auf "Aussagen über politische Ordnungen und soziale Strukturen". Von vornherein auf politische und soziale Kategorien und Vorstellungen festgelegt, verfehle sie "aus einem so begrenzten Blickwinkel" die Frage nach Bedingung, Ursprung und Genese der Utopie 6 . Diese Argumentation ist aber nur dann schlüssig, wenn der von Morus initiierte Utopiediskurs im 20. Jahrhundert abgebrochen wäre. Das aber ist nicht der Fall. Selbst noch die großen Utopien seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges von Orwells "1984" und Skinners "Waiden Two" über Huxleys "Eiland", Callenbachs "Ökotopia" und Le Guins "Planet der Habenichtse" bis hin zu den innovatorischen feministischen Utopien der 70er und 80er Jahre haben zwar das Morussche Muster erheblich modifiziert, aber nie ganz mit ihm gebrochen 7 . Unter dieser Bedingung ist Schwonkes Argumentation aus den 50er Jahren heute kontraproduktiv. Es macht keinen Sinn, der "Utopia" des Thomas Morus, der das ganze Genre nicht nur den Namen, sondern auch auch seine Struktur verdankt, vorzuwerfen, sie artikuliere sich in Kategorien eines fiktiven Gesellschaftsmodells. Wer diese Prämisse nicht akzeptiert, sollte konsequent genug sein, dasjenige, was er unter "Utopie" zu subsumieren sucht, als eigenständiges Phänomen zu begreifen.

5 Schwanke 1957: S. 4 f. 6 A.a.O .. S. 89. 7 Vgl. hierzu Saage 1991. J()

Saagc

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Für eine solche Lösung im Sinne einer begrifflichen Unterscheidung zwischen Utopie und Science-fiction werde ich im folgenden argumentieren. Wenn ich von "der" Utopie rede, meine ich stets ihre klassische, auf Morus zurückgehende Variante. Inwiefern meine Überlegungen auch auf das intentionale Utopieverständnis, wie es von Landauer. Bloch und Mannheim entwickelt wurde, oder auf den totalitarismustheoretischen Begriff bei Karl R. Popper zutreffen 8, kann hier nicht weiter untersucht werden.

11. Klaus Burmeister und Karlheinz Steinmüller haben in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband "Streifzüge ins Übermorgen"9 Materialien publiziert, die zu einer Klärung unseres Problems beitragen können, obwohl, wie der Untertitel des Bandes zeigt, ihr systematisches Interesse der Gegenüberstellung von "Science Fiction und Zukunftsforschung" gilt. Dieser Band ist für die Utopiediskussion aber auch deswegen von großer Bedeutung, weil seine Autoren ausschließlich Experten der Zukunfts - und Science-fictionforschung sind: Um so bemerkenswerter erscheint es, daß die meisten von ihnen die angelsächsische Zuordnung der Utopieliteratur zur "Science-fiction" nicht nachvollziehen. Doch mit welchen Argumenten nehmen sie diese systematische Differenzierung vor? Zunächst legen einige Beiträge nahe, daß die klassische positive Sozial utopie durch eine historische Genese geprägt worden ist, die sich deutlich von der der Science-fiction unterscheidet. Die politische Utopie in ihrer archistischen (herrschaftsbezogenen) und anarchistischen (herrschaftsfreien) Spielart lO , ist bekanntlich in der Antike entstanden: Sie gewann in der frühen Neuzeit mit der Veröffentlichung der "Utopia" des Thomas Morus ihr modernisiertes Gepräge, weil sie nach ganzheitlichen Antworten auf die Krise der feudalen Welt und die sozialen Probleme der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft in ihrer vorindustrie\1en Phase, aber auch in der Periode der Industriel1en Revolution sowie in ihrem postindustriellem Entwicklungsstadium suchte und sucht 11. Demgegenüber hebt Karlheinz Steinmüller mit Recht hervor, daß Science-fiction Ausfluß des Wissenschafts- und Technikoptimismus des 19. Jahrhunderts ist, obwohl sie, wie hinzuzufügen wäre, bereits in den Schriften Cyrano de Bergeracs, Godwins u.a. Vorläufer im 17. und 18. Jahrhundert hat. "Heroen des neuen, dynamischen Zeitalters, Heroen auch seiner Literatur sind seine Schöpfer: Wissen8 Zu den Differenzen zwischen dem intentionalen. dem totalitarismustheoretischen und dem klassischen Utopiebegriff vgl. meine Einleitung in: Saage 1995: S. 1-16.

9 Bllrmeiste,./Steinmiille,. 1992.

10 Zu dieser begrifflichen Unterscheidung vgl. Voigt 1906: S. 18 ff. 11 Vgl. Saage 1991.

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schaftIer und Ingenieure, aber auch Entdeckungsreisende, die den letzten unberührten Flecken der Erde dem fortschrittlichen Jahrhundert erschließen, desgleichen scharfsinnige Detektive, unternehmerische Erfinder, die Dampfkraft und Elektrizität nutzbar machen ... "12. Diesem neuen "Sozialcharakter", nicht aberwie man hinzufügen könnte - gesellschaftlichen Krisenherden haben die Gründungsväter von Science-fiction ihre Inspiration verdankt: So setzte Jules Verne einem Ingenieur wie Cyrus Smith aus den "Geheimnisvollen Insel" (1875) oder Kapitän Nemo aus "Zwanzigtausend Meilen unter dem Meeresspiegel" (1870) ebenso ein Denkmal wie dem Artilleristen in "Von der Erde zum Mond" (1865) oder dem Geographen Lidenbrock in "Die Reise zum Mittelpunkt der Erde" (1864). Aber auch die Bauprinzipien, nach denen die klassische Utopie und Sciencefiction konstruiert sind, unterscheiden sich gravierend. Nachweisen läßt sich diese Differenz an der unterschiedlichen Weise, wie utopisches Denken und Science-fiction auf Wissenschaft und Technik reagieren. Zwar stellt Schwonke zu Recht fest, daß die großen Utopisten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht in der Lage waren, "das Bild einer durch Wissenschaft gestalteten und umgeformten Gesellschaft zu entwerfen. Frömmigkeit, Gesetze und vernunftgemäße Organisation sind in den Utopien noch auf Jahrhunderte hinaus die wichtigsten Mittel zur Errichtung eines Idealstaates"l3. Doch auch für die ältere Utopietradition spielte seit Morus die Hochschätzung von Naturwissenschaft und Technik eine entscheidende Rolle: Die Option für sie symbolisiert den Bruch mit der statischen Ständegesellschaft und damit den Willen zur Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Menschen selbst. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts avancierten mit dem irreversiblen Durchbruch der Industriellen Revolution Naturwissenschaft und Technik sogar zu einem Eckpfeiler des utopischen Entwurfs. Mit der Konzipierung "Technischer Staaten" erzwang der wissenschaftlich-technische Fortschritt die sozio-politische Organisation, die er zu seiner Entfaltung benötigte 14. Dennoch interessiert das utopische Denken nicht so sehr die Technik an sich, sondern vielmehr ihre Funktion für die Befreiung der in der Gesellschaft lebenden Individuen von Elend, Ausbeutung und Arbeitsfron. Demgegenüber ist Science-fiction durch eine andere Stoßrichtung charakterisiert. Ihr geht es zentral um das "Ob und Wie der technischen Innovation". Ihre Autoren interessieren sich dafür, wie ein "Raumschiff möglichst realistisch zum Fliegen gebracht" wird, kurz: Sie überbetonen "den Anspruch von Science in dem Begriff Science-fiction" 15. Wenn aber die politisch-soziale Dimension in den Hintergrund tritt oder ganz fehlt, hat Science-fiction sich zu einem Genre 12 Steillllliifler 1992: S. 17. 13 Vgl. Schwonke 1957: S. 15. 14 Vgl. hierzu Saage 1991: S. 151-233. 15 Mm·zin 1992: S. 236. 10'

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entwickelt, das eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. Das ihm zugrundeliegende Erkenntnisinteresse vorwiegend auf die immanente Entwicklung der modernen Technik konzentrierend, gilt das fiktive Konstrukt "immer weniger als Idealzustand, als vollkommenes Gegenbild einer unvollkommenen Wirklichkeit und gewinnt dafür mehr das Ansehen einer Durchgangsstation in einer Aufwärtsbewegung, die die Möglichkeit oder gar die Notwendigkeit weiterer Veränderungen und Verbesserungen offen läßt"16. Damit werden vier weitere Differenzen deutlich, die die klassische Utropietradition von der Science-fiction trennen. Selbst nach ihrer geschichtsphilosophischen Wende ist das klassische utopische Denken ohne Prognostik ausgekommen. Bei Mercier z.B., der als einer der ersten das utopische Gemeinwesen in die Zukunft, in das Jahr 2440 projizierte, spielen, wie Koselleck schreibt, Wahrscheinlichkeitsrechnungen usw. keine Rolle. Das gelte auch für Rousseau, "dessen Visionen nicht mathematisierbar sind. Im Unterschied dazu kommen bei Condorcet Bevölkerungszählung, Lebenslänge, Versicherungswesen usw. herein, während solches von Mercier als gerade unmoralisch abgetan wird". Prognostik sei das Gegenteil der Utopie. Man könne semantisch zeigen, "daß eine Utopie im allgemeinen die Zukunft mit Ist-Bestimmungen als Sein beschreibt: 'Es ist so .. .' und nicht 'Es wird so .. "'. Im letzteren Falle müßten die Utopisten gerade das tun, wovon sie sich in der Regel distanzieren: mit "wenn - dann" Sätzen, also mit offenen Hypothesen zu arbeiten 17. Im Gegensatz zu diesem Ansatz lebte Science-fiction seit ihren Anfängen von einer, wenn auch imaginär angereicherten Prognostik technischer Enwicklungen, die bis zur Antizipation der Atombombe durch Karel Capek und Herbert G. Wells reichte. Eine in der Science-fiction übliche Vorgehensweise sieht denn auch Axel Zweck in der literarischen Extrapolation "von Folgen bereits existierender oder sich abzeichnendner Entwicklungen in die Zukunft" 18. Dabei gehe die seriöse Science-fiction von Folgeannahmen aus, "die weder Naturgesetzlichkeiten mißachten (Autonomie der Physik) noch auf historisch nicht rekonstruierbare Abwege verfallen" 19. Allerdings unterscheidet sie sich von der Zukunftsforschung dadurch, daß sie, wie Spittel hervorhebt, "auf jeden Wahrscheinlichkeitsbeweis (verzichtet), ja, sie will aus ihren Hypothesen noch nicht einmal Thesen werden lassen"20. Daß in der Tat das prognostische Prinzip des "Wenn - dann", das die Sciencefiction mit der Zukunftsforschung verbindet, aber von der Utopie trennt, nicht nur auf die visionäre Extrapolation wissenschaftlich-technischer Trends, sondern 16 Schwol1ke 1957: S. 35. Koselfeck 1989: S. 84. 1R ZII·eck 1992: S. 190.

17

19

Ehd.

20 Spittel 1992: S. 168.

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auch auf die Geschichtsschreibung allgemein anwendbar ist, hat Carl Amery sehr scharf herausgearbeitet. Für ihn ist die Frage: "Was wäre gewesen, wenn ... ?" ein legitimer Ansatz für eine Alternativgeschichte, weil sie die Chance bietet, "etwas für die lost causes, für die untergegangene Fahne, die verpaßte Chance, die besiegte und verschwundene Möglichkeit"21 zu tun. Da die Behauptung, wir lebten in der besten aller Welten, in der die Geschichte optimal verlaufen sei, keine Beweiskraft hat, sieht er in einem solchen alternativen Szenario als Unterabteilung der Science-fiction eine notwendige kritische Relati vierung der Geschichte der Sieger22 . Aus der einseitigen Wissenschaftsorientierung der Science-fiction resultiert eine zweite Differenz. Die politische Utopie ist Konstrukt der Menschen mit einem spezifischen Erkenntnis - und Handlungsinteresse. Ausfluß der säkularisierten Vernunft, will sie Gesellschaftsmodelle projektieren, die zu einer Humanisierung der menschlichen Verhältnisse beitragen sollen: entweder in Gestalt von Wunsch - oder in Form von Furchtbildem zukünftiger Sozietäten. In jedem Fall sollen Energien mobilisiert werden, die auf die Entwicklung der "einen" Menschheit bezogen sind. Science-fiction folgt dagegen der Logik des Kopernikanischen Weltbildes. Wenn die Erde nicht mehr im Mittelpunkt des Alls steht, dann kann nicht ausgeschlossen werden, daß es Planeten mit Lebewesen gibt, die dem Menschen ebenbürtig oder sogar überlegen sind. Diese Möglichkeit wirft Fragen auf, um die die Szenarien der Science-fiction kreisen: "Wie wird (der Mensch) mit den fremden Welten fertig? Wie kann er sich in einer sich verändernden Welt behaupten? Welche Anforderungen werden an seine Initiativen, an seine Anpassungsfähigkeit gestellt werden?"23. Aus dieser Erschütterung des anthropologischen Weltbildes folgen zentrale Topoi der Science-fiction: Ihr ist das Raumfahrtthema ebenso gewidmet wie ihrem Gegenpol, der unter dem Schlagwort "from outer space" Schule gemacht hat; "nicht der Mensch dringt in den Weltraum vor, sondern der Weltraum kommt zu ihm"24. Zugleich bot dieses Paradigma ein Medium, in das realistisch-konkrete Probleme im interplanetarischen Maßstabe projiziert werden konnten: "Bisher waren die 'anderen Welten' als für sich bestehend und abgeschlossen geschildert worden. Nur ausnahmsweise gelangten einzelne Besucher zu ihnen. Jetzt aber rückte der fremde Planet in den Aktionsbereich der Erde oder umgekehrt die Erde in den Aktionsbereich anderer Planeten. Dieses Miteinander-zu-tun-Haben führt in den Marsromanen von WeHs und Laßwitz wenigstens zeitweise zu kriegerischen Konflik-

21 Amery

1992: S. 274.

22 A.a.O., S. 274 f. 23 Schwonke 1957: S. 47.

24 A.a.O., S. 79.

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ten. Im Zeitalter imperialistischer Politik war eine solche Vorstellung wohl naheliegend"25. Eine dritte Differenz darf nicht verschwiegen werden. Die politische Utopie hat von Anfang an ihr Rationalitätskriterium in der weltimmanenten Vernünftigkeit einer gelungenen sozialen Organisation, sei sie nun staatlich oder nichtstaatlich verfaßt. Zu ihr stehen Wissenschaft und Technik gleichsam in einem dienenden Verhältnis. Sie werden - wie im 19. und frühen 20. Jahrhundert - aufgewertet, sofern sie Potentiale bieten, die der Entfaltung der Menschheit dienen. Aber das utopische Konstrukt gerät dann zu ihnen in kritische Distanz, wenn wie im Ausgang des 20. Jahrhunderts - ihre Destruktionskapazitäten zu überwiegen beginnen 26 . Demgegenüber sind für die Science-fiction - wie schon dargelegt - Wissenschaft und Technik autonome Größen. Ihr Rationalitätskriterium ist der jeweilige Stand des wissenschaftlich-technischen Fortschritts selbst. Wenn der Glaube an die Dauerhaftigkeit natürlicher Zustände und die dogmatische Geltung naturwissenschaftlicher Gesetze durch die Evolutionstheorie Darwins, durch die Entdeckung der Uran strahlung (Becquerel), die Atomumwandlung (Rutherford), die Relativitätstheorie (Einstein) sowie durch die Einsicht, daß die euklidische Geometrie nur ein Sonderfall einer umfassenderen Mathematik ist, erschüttert wird, dann mußten diese Paradigmenwechsel für die Sciencefiction weitgehende Konsequenzen haben. "Selbst bei den kühnsten Antizipationen, die über die Grenzen des nach den augenblicklichen Kenntnissen Möglichen weit hinaus gingen, glaubten die Autoren nicht mehr, sich im grundsätzlichen Widerspruch zur Wissenschaft zu befinden"27. Hielt sich Jules Verne noch eng an den Rahmen des von der Aufklärung geprägten konventionellen naturwissenschaftlichen Weltbildes, so hatte H.G. Wells, der durchaus über die neuesten naturwissenschaftlichen Entwicklungen informiert war, keine Hemmung, Wesen ohne Verdauungsapparat und Sexualität darzustellen: riesige dreibeinige Maschinen, die nur noch aus Hirn bestehen. Eine letzte Differenz wird erkennbar auf der literarischen Beschreibungsebene. Die klassische Utopietradition steht und fällt mit dem Entwurf eines Gesellschaftsmodells, das, staatlich oder nichtstaatlich verfaßt, dem Leser plausibel vor Augen führt, wie das ideale Gemeinwesen von den Beziehungen zwischen den Geschlechtern über die Wirtschaft bis zur Politik, Erziehung, Justiz, dem Verhältnis zu Krieg und Frieden sowie zu Kunst, Architektur und Wissenschaft optimal funktioniert. Demgegenüber bleibt im ursprünglichen Ansatz von Science-fiction, wie Marzin schreibt, "die fiktive Welt, in der sich die Protagonisten bewegen, ( ... ) in den meisten Fällen doch nur Staffage"28: Der Boden, auf 25 A.3.0., S. 43. 26 Vgl. Saage 1991. 27 Schwonke 1957: S. 44. 28 Marzin 1992: S. 243.

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dem sich die Helden bewegen, ist im Grunde beliebig austauschbar. So konzentrieren sich die Autoren im "Golden Age" der amerikanischen Science-fiction, als etwa von 1938 bis Ende der vierziger Jahre, auf einen minimalen Ausschnitt der zu beschreibenden Weit, um gerade noch den Handlungsablauf plausibel erscheinen zu lassen. Worauf es ihr vielmehr ankommt, ist, daß im Rahmen eines starren Freund - Feind - Bildes "tough guys" daran gehen, den Weltraum von "Aliens" (Fremden) zu säubern: Nicht das Szenario einer Gesamtgesellschaft ist für die klassische Science-fiction entscheidend, sondern die Handlung bzw. der Protagonist, "der sich in einer Welt bewegen mußte, von der nur der engste Kreis definiert und vom Autor - zumeist noch widersprüchlich - beschrieben wurde"29.

III. Bedeuten diese gravierenden Differenzen zugleich aber auch, daß es zwischen Science-fiction und Utopie keine gemeinsamen Schnittmengen gibt? Diese Frage erhebt sich schon allein deswegen, weil Brian Stableford in Herbert George Wells mit guten Argumenten einen der Gründungsväter der Science-fiction sieht 30 . Er nennt insbesondere dessen Romane "Die Zeitmaschine" (1895), "Von kommenden Tagen" (1897) und "Wenn der Schläfer erwacht" (1899). Andererseits kann Wells aber auch mit seinen Szenarien in "A Modern Utopia" (1905) zwanglos in die klassische Utopietradition eingeordnet werden. Zwar kritisiert er zentrale Strukturmerkmale des klassischen Musters. So macht er nicht nur Front gegen dessen Homogenitätsideal. Solange wir Unterschiede ignorierten, verleugneten wir die Individualität, so lautet sein zentrales Argument. Deren Negation sei die Sünde aller bisherigen Utopien gewesen, weil sie im absoluten Gegensatz zum Selbstwertgefühl des modernen Menschen stehe 31 . Auch das klassische Prinzip der Abschottung des idealen Gemeinwesens halte den Erfordernissen der modernen Welt nicht stand: Die in ihr lebenden Menschen sähen in ihrer ungehinderten Bewegungsfreiheit ein unverzichtbares Recht, dem auch die Utopie Rechnung tragen müsse 32 . Und schließlich habe die klassische Utopie Konflikt und Konkurrenz perhorresziert. Ihr müsse die moderne Utopie einen hohen Stellwert einräumen, wolle sie nicht ihre eigene Irrelevanz besiegeln 33 . Doch diese Kritik ist durchweg positiv gemeint: WeHs geht es in diesem Text nicht darum, die politische Utopie durch Science-fiction zu ersetzen; vielmehr will er sie modernisieren, damit sie verlorene Relevanz kompensieren kann. 29 A.a.O., S. 239. 30 Stableford 1992. 31 WeHs 1967: S. 36. 32 A.a.O., S. 44. 33 A.a.O., S. 10 f.

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Und es ist in der Tat unübersehbar, daß - bei allen Unterschieden - Utopie und Science-fiction auch auf der Definitionsebene gemeinsame Schnittmengen haben. Sie werden vor allem durch ihre Frontstellung gegenüber dem eschatologisch-chiliastischen Denken markiert. In der Tat spricht alles dafür, daß sich Utopie und Science-fiction "nicht aus der Eschatologie, sondern an ihr und gegen sie entwickelt"34 haben. Exponenten einer anderen, ja, entgegengesetzten Denkweise, ließen sich die großen Utopisten von den Möglichkeiten der menschlichen Vernunft und des neuen naturwissenschaftlichen Weltbildes inspirieren und nicht von Visionen des Jüngsten Gerichts. Im Gegensatz zu den chiliastisch-ekstatischen Visionen eines Joachim von Fiore und der Wiedertäufer sind Utopie und Science-fiction innerweltliche Konstrukte: Ihre Grenzüberschreitungen beziehen sich nicht auf die Transzendenz, sondern auf den Möglichkeitscharakter der irdischen Realität, und ihr Subjekt ist nicht Gott, sondern der Mensch selbst. Demgegenüber ist alles, was in der chiliastischen Heilslehre geschieht, "ein Akt von oben". "Nicht der Mensch drängt über die Grenze seines Daseins hinaus, sondern das Gnadenreich kommt von 'außen' zu ihm, es 'bricht herein"'35. Noch wichtiger ist aber in unserem Zusammenhang, daß es seit Anfang der 60er Jahre zu einer Art Konvergenz von klassischer Utopie und Science-fiction gekommen ist. Sie schlug sich vor allem in der Tatsache nieder, daß im Medium der Science-fiction das fiktive gesellschaftliche Konstrukt gegenüber den Akteuren zunehmend aufgewertet wurde. So legten Arkadi und Boris Strugazki, wie Erik Simon zeigen kann, in ihrem Episodenroman "Rückkehr" einen fiktiven Gesellschaftsentwurf für das 22. Jahrhundert vor, der klassische Topoi der utopischen Tradition aufweist: Sie reichen von einer geeinten Menschheit und einem auf wissenschaftlich-technischem Fortschritt beruhenden bespiellosen Wohlstand für alle bis hin zur Vervollkommung des Menschen im Medium schöpferischer Arbeit und gesellschaftlicher Harmonie, die nicht zuletzt auch das Resultat eines effektiven und ausdifferenzierten Erziehungssystems ist 36 . "Star Trek - The next generation" hat zweifellos das Erbe dieses Trends zu einer positiven Zukunftsvision angetreten: Normative Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens drängen das Action - Muster in den Hintergrund. Tatsächlich läßt die Kombination aus rationalem aufklärerischem Denken, romantischen Gefühlen, der entdeckerischen Neugier und der "Philosophie des Weltraums", die sich am Universum als Ganzem orientiert, künstliche Mittel der Spannungssteigerung wie Raumkämpfe oder Verfolgungsjagden beinahe obsolet erscheinen 37 .

34 Schwonke 1957: S. 101. 35 A.a.O., S. \03. 36 Simon 1992: S. 151. 37 Vgl. Star Trek 1994: S. 2.

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Umgekehrt wird man sagen können, daß sich das utopische Genre schon sehr viel früher für die Rezeption von Science-fiction - Elementen geöffnet hat. So ist die utopische Mars-Zivilisation, wie Bogdanow sie vor dem Ersten Weltkrieg konzipierte, der irdischen Welt in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in wichtigen Fragen der Wissenschaft und Technik weit voraus. Sie verfügt nicht nur über mit Atomenergie betriebene Raumschiffe: "Radioaktive Elemente und ihr Zerfall waren uns weitaus früher bekannt als Curie und Ramsay, und unsere Wissenschaftler haben viel früher und gründlicher den Aufbau der Materie analysiert als die bedeutendsten Forscher der neuesten Zeit. So gelangten sie zu der Erkenntnis, daß Elemente existieren, die von irdischen Körpern abgestoßen werden, und dann wurde diese 'Minus-Materie', wie wir sie kurz bezeichnen, synthetisiert. Nun war es ein leichtes, diese Entdeckung technisch zu nutzen - anfangs wurden Flugapparate zur Bewegung in der irdischen Atmosphäre gebaut, dann Sternschiffe für den Flug zu anderen Planenten"38. Die Reihe der Rezeption von Elementen eines Science-fiction-Szenarios kann zwanglos fortgeführt werden bis hin zum Utopie-Diskurs der 70er Jahre, wie besonders Ursula K. Le Guin eindrucksvoll zeigt. Doch gerade an ihrem utopischen Roman "The Dispossessed" (1975) läßt sich demonstrieren, daß die Übernahme von Science-fiction-Ansätzen keineswegs die Preisgabe utopischer Identität bedeutet: Den rein technizistischen Zugriff hinter sich lassend, können Raumschiffe, Aliens, Roboter und interstellare Reise nicht verdecken, daß sie ein ideales Gesellschaftsmodell mit seinen ethischen Problemen und strukturellen Gefährdungen schildert, das seine Herkunft aus der klassischen anarchistischen Utopietradition nicht leugnen kann 39 . Andererseits nahm ein bedeutender Teil der seriösen Science-fiction bei Dick, Asimov, Lern, Clarke, Monteleone oder Weißer mit der Aufwertung des Szenarios gesellschaftlicher Verhältnisse eindeutig dystopische Züge an, die freilich seit Vernes "Das erstaunliche Schicksal der Mission Barsac" (1919) und Wells "Die Insel des Dr. Moreau" (1896) auch Teil ihrer eigenen Tradition sind. In dem Maße aber, wie in ihrem Medium der Protagonist nur noch als Spielball der depravierten fiktiven gesellschaftlichen Verhältnisse dargestellt wird, bricht freilich die spezifische Differenz zu den klassischen Dystopien erneut auf. Zwar versucht Olaf R. Spittel am Beispiel der ehemaligen DDR zu zeigen, daß die Science-fiction in diesem Land die "Zweigeschlechtlichkeit" des utopischen Ansatzes, nämlich Kritik und konstruktiver Gegenentwurf, übernommen habe. Jede Zeile des utopischen Entwurfs, auch ihrer dystopischen Varianten, ziele auf eine Verbesserung des Bestehenden ab: "ihr Kern ist ein rationales Modell der Weltverbesserung, oft genug eine einzige Idee, aus der heraus ein ganzes System sich

38 Bogdanow 1989: S. 13. 39 V gl. Le Cuill 1988.

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auseinander herleitender Ideen entwickelt wird"40. Diese Aussage deckt sich sicherlich mit zentralen Intentionen der klassischen "schwarzen" Utopien. Ein Menschenbild vor Augen, dessen Grundwerte der Solidarität, Liebe und Wahrhaftigkeit sie nicht relativierten, wollten Samjatin, Huxley und Orwell Kräfte freisetzen, damit eine Zukunft, die wir nicht wünschen, vermieden wird. Aber ob diese Intention die fortgeschrittensten Varianten der Science-fictionLiteratur insgesamt kennzeichnet, ist mehr als fraglich. Einerseits fiel nämlich bereits Martin Schwonke in den 50er Jahren auf, daß in den "schwarzen" Varianten der Science-fiction "das Politische vollkommen eleminiert ist: Die Technik ist selbst der unheimliche, bedrohliche Gegner; sie und nicht eine politische Doktrin führt den Insektenstaat herauf; ihr Exponent, der Ingenieur, und nicht die Armee eines kriegslüsternden Staates sprengt den Erdball in die Luft. "41 Andererseits schreibt neuerdings Michael Salewski, die Avantgardisten der Science-fiction heute stellten nicht nur die "Idee des Menschen" radikal in Frage. Ausgehend von der Prämisse, daß alles, was theoretisch möglich ist, auch technisch realisiert wird, sei darüber hinaus ihre Botschaft ebenso klar wie deprimierend: "Niemand wird dem Untergang entgehen, die Zeit ist durchaus absehbar, zu der die Erde wieder einmal leblos, bar jeglichem Intelligentem durch das Universum schweben wird"42. Nimmt man hinzu, daß in der "schwarzen" Science-fiction der Untergang durch die Ästhetisierung seiner Beschreibung den zur Umkehr motivierenden Schrecken verliert, so ist für die Utopieforschung die Frage relevant, die Salewski aufwirft: Ob die im dystopischen Gewand auftretende Science-fiction heute die Funktion, durch die sich die klassischen Dystopien einst definierten, überhaupt auszuüben vermag, nämlich als "Warnschilder für aktuelle Gefahren"43 zu dienen. Was haben, so muß abschließend gefragt werden, diese Überlegungen zu dem Verhältnis von Science-fiction und Utopie mit der ideenpolitischen Kontroverse über den Begriff der letzteren zu tun, von der anfangs die Rede war? Wenn nicht alles täuscht, geht Jonas' Versuch, Science-fiction gegen die politische Utopie auszuspielen, über dessen Intention, eine heuristische Folie für das Entdecken neuer ethischer Prinzipien zu entwickeln, weit hinaus: Science-fiction bedeutet, besonders in ihren "schwarzen" Spielarten, für die Konservativen, was die Utopie für die Linke war und wohl noch immer ist: Antizipation von Zukunft. Doch während die Linke sie in der Regel als Überwindung gesellschaftlicher Fehlentwicklungen der Gegenwart begreift, ist sie für den Konservatismus die Bestätigung der bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse. So sieht Salewski das Verdienst der Science-fiction gerade darin, daß ihre Autoren auf der 40 Spittel 1992: S. 173. 41 Schwanke 1957: S. 70. 42 Salewski 1992: S. 55. 43 A.a.O., S. 54.

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verzweifelten Suche nach dem Paradies immer nur Höllen entdeckt hätten. Die Folgerung, die aus diesem Befund resultiert, ist eindeutig. Wenn alle möglichen Zukünfte nur schlechter sein können als die Welt, wie wir sie mit ihren Defiziten vorfinden, dann hilft dieses Wissen mit, "die alte vertraute, eigene Erde mit neuen Augen zu sehen, denn wie beklemmend garstig alle Himmelslieder - 'Die Träne quillt, die Erde hat uns wieder!"44.

44 A.a.O., S. 61.

III. Chancen

Die konstruktive Kraft des Nullpunkts Samjatins "Wir" und die Zukunft der politischen Utopie*

I. Im Jahr 1913 hat Kasimir Malewitsch die Geschichte der Malerei auf den Nullpunkt zurückgeführt: Er stellte sein "Schwarzes Quadrat auf weißem Grund" aus, um eine ästhetische Form aufzuzeigen, die allem, was man bisher unter Malerei verstand, entgegengesetzt war l . Sieben Jahre später schloß Jewgenij Samjatin seinen utopischen Roman "Wir"2 ab. Auch er führte alles, was bisher im utopischen Denken als positiv galt, auf Null zurück: Die utopischen Bilder als Inbegriff einer humaneren menschlichen Zukunft verkehrten sich in ihr Gegenteil. Bedeutet nun diese Nullpunkt-Reduktion das Ende des utopischen Denkens? Oder eröffnete sie die Chance eines Neuanfangs? Ist sie der Ausdruck eines radikalen Nihilismus? Oder versucht sie, die humanen Intention des utopischen Denkens gegenüber den eigenen Gefährdungen zu sensibilisieren? Mit diesen Fragen konfrontiert, werde ich im folgenden zwei Thesen vertreten: 1. Samjatins "Wir", Huxleys "Schöne neue Welt" und Orwells "1984"3 können als eine Art Selbstkritik der klassischen Utopietradition seit Platon und Morus gelesen werden, die an Radikalität kaum zu überbieten ist. Die Positivität der utopischen Hoffnungsbilder schlägt in ihr dialektisches Gegenteil um. 2. Die "schwarzen Utopien" negieren das utopische Denken nicht, aber sie verändern es dadurch, daß sie die kritische Selbstretlexion zum unverzichtbaren Bestandteil ihres Geltungsanspruchs erheben. Zugleich haben sie Standards gesetzt, ohne deren Beachtung utopisches Denken heute jede Glaubwürdigkeit einbüßt. Es würde den Rahmen meiner Ausführungen sprengen, ginge ich bei der Ausführung dieser Thesen in gleicher Weise detailliert auf die drei klassischen "schwarzen" Utopien ein. Nicht nur aus diesem Grund werde ich mich bei dem

* Erstmals erschienen in: UTOPIE kreativ. Diskussion sozialistischer Alternativen, Heft 67 (1996), S. 11-23. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags NDZ I Neue ZeitungsverwaItung. I Vgl. EI Lissitzky 1992: S. 338. 2 Samjatin 1984. Die Seitenzahlen in runden Klammern finden sich im Text. 3 Zu Orwells "1984" vgl. in der Perspektive dieser Fragestellung Saage 1995: S.168-188.

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Versuch, das von ihnen gezeichnete Furchtbild einer möglichen Zukunft als Selbstkritik der klassischen Utopietradition seit Platon und Morus zu verstehen (These I), ausschließlich auf Samjatins "Wir" beziehen. Auch die Tatsache, daß in diesem Roman das Urmuster der "schwarzen" Utopien entwickelt wurde, legt diesen Schritt nahe. Zunächst ist nämlich festzustellen, daß Samjatins origineller Beitrag zur Utopieliteratur darin besteht, schon sehr früh die destruktiven Möglichkeiten des wissenschaftlich-technischen Fortschritts im 20. Jahrhundert im Medium der Utopie als Furchtbild einer möglichen Zukunft reflektiert zu haben. So gesehen, kann Samjatins "Wir" als erste gelungene literarische Illustration der Dialektik einer technokratisch-szientifisch verkürzten Vernunft geiten. Während noch die Utopisten des 19. Jahrhunderts über Transformationsstrategien nachdachten. mit deren Hilfe ihre Konstrukte verwirklicht werden sollten, geht es seit Samjatins utopischem Roman nur noch um die Frage, wie sie verhindert werden können. Dieser Linie sind Orwells "1984" und Huxleys "Schöne neue Welt" gefolgt. Zugleich hat Samjatin die Spannung zwischen Nonkonformismus und Anpassung räumlich symbolisiert: Seine innerutopische "Gegen welt" zum totalitären Einzigen Staat ist jenseits einer "grünen Mauer" angesiedelt, in der die alte Gesellschaft in reduzierter und fragmentarischer Weise überlebt. Auch dieses Muster findet sich in den beiden anderen "schwarzen" Utopien wieder. Huxley stellt seiner "Schönen neuen Welt" eine Indianer-Reservation in Neu-Mexiko gegenüber, die durch Stacheldrahlt nach außen isoliert ist; wer sie berührt, hat mit dem sofortigen Tod zu rechnen. In Orwells "1984" sind es die von den "Proles" bewohnten Viertel, die, von den Zumutungen der totalitären Partei weitgehend entlastet, ebenfalls Züge einer innerutopischen "Gegenwelt" tragen. Nun steht freilich die Bedeutung Samjatins für das klassische Muster der "schwarzen" Utopie in einem umgekehrten Verhältnis zu seinem Bekanntheitsgrad. Die Gründe für dieses Phänomen sind zum Teil in seiner Biographie4 verankert. 1884 in Lebedjan in MitteIrußland geboren, enstammte Samjatin der gebildeten russischen Mittelschicht. Nachdem er 1892 in das Progymnasium seiner Heimatstadt eingetreten war, besuchte er vier Jahre später das Gymnasium von Woronesh, das er nach Abschluß seiner schulischen Ausbildung 1902 mit Auszeichnung verließ. Im gleichen Jahr begann er sein Studium an der Schiffsbauabteilung des Polytechnischen Instituts in St. Petersburg, das er 1908 erfolgreich beendete. Als Student gehörte er der Sozialdemokratischen Partei an und nahm am politischen Leben regen Anteil. In einer 1928 veröffentlichten autobiographischen Notiz schrieb er: "Damals wurde ich Bolschewik (heute nicht)". Wie kam es, daß der ehemalige Bolschewik Samjatin, der die revolutionären Umwälzungen von 1917 zunächst begrüßte, zum verfolgten Gegner, ja,

4 Zur Biographie Samjatins vgl. u.a. Richards 1962; Shane 1968; LeechAnspach 1978. Frank Fahlke habe ich für biographische Informationen zu danken.

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sogar zum Feind des bolschewistischen Sozialismus gestempelt, in die Isolation und schließlich ins Pariser Exil getrieben wurde, wo er 1937 starb? Tatsache ist, daß er schon kurz nach der Oktoberrevolution begann, die sich neu etablierenden Machtstrukturen zu kritisieren. Er warnte vor Tendenzen, die die emanzipatorischen Zielsetzungen der Revolution zu vernichten drohten. Bereits im Januar 1918 verweigerte er die Zustimmung zu der Politik der Regierung, dem Terror der "Weißen" den roten Terror entgegenzusetzen. Im Mai 1918 kritisierte er die Tendenz im revolutionären Lager, die Augen vor den Aufgaben der Gegenwart zu schließen und sich statt dessen an utopischen Projekten zu berauschen. Diese Kritik zielte vor allem auf den drohenden ökonomischen und kulturellen Niedergang des Kriegskommunismus einerseits und den für Samjatin mit Opportunismus gepaarten Zielen der künstlerischen A vantgarde 5 andererseits. Zum Zeitpunkt der Niederschrift seines negativ-utopischen Romans "Wir" mußte Samjatin also in der Realtität des nachrevolutionären Rußland bereits als jener Häretiker gelten, dessen Stigma die Rezeption dieser ersten klassischen "schwarzen" Utopie nachhaltig beeinträchtigen sollte. 1920 abgeschlossen, konnte Samjatin zwar in öffentlichen Lesungen aus dem Manuskript vortragen. Doch das Verbot durch die Zensur ließ nicht lange auf sich warten. Immerhin gelang es ihm, das Manuskript ins Ausland zu schmuggeln. 1924 erschien eine englische Übersetzung, der dann eine französische und tschechische Version folgte. Das russische Originalmanuskript blieb verschollen. Allerdings gelangte anonym eine russische Fassung nach New York, die hier 1952 veröffentlicht wurde; sie gilt heute als die Standardfassung des Romans. Eine deutsche Übersetzung liegt erst seit 1958 vor. In der Sowjetunion blieb es der Periode von Glasnost und Perestroika vorbehalten, Samjatins Roman der russischen Öffentlichkeit zugänglich zu machen: 1988 wurde "Wir" zum ersten Mal in der Zeitschrift "Snamja" (Auflage 500 000) publiziert.

11. Wer den Versucht unternimmt, Samjatins "Wir" in die klassische Utopietradition einzuordnen, kommt um die Frage, was unter dem Begriff "politische Utopie" zu verstehen sei, nicht herum. Dieser Terminus geht in seiner Bedeutungsgeschichte auf die 1516 von Thomas Morus veröffentlichte Schrift "Utopia" zurück. Er setzt sich aus den beiden griechischen Wörtern "ou" = "nicht" und "topos" = "Ort" zusammen und wäre also mit "Nirgendwo" zu übersetzen. Dieses ursprüngliche, von Morus geprägte Muster legt es nahe, unter politischen Utopien Fiktionen von staatlich verfaßten oder staatsfreien Gesamtgesellschaften zu sehen, die dem kritisierten sozio-politischen Kontext, innerhalb dessen sie entstanden, entweder als Wunsch - oder als Furchtbild gegenübertreten. 5 Vgl. Saage 1996b. in diesem Band S. 13-32. 11 Saagc

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Ausfluß der säkularisierten Vernunft, weichen sie nicht in die Vergangenheit oder in die Transzendenz aus, sondern sind entweder auf die jeweilige Gegenwart oder auf die Zukunft bezogen. Der Ausgangspunkt des utopischen Konstrukts freilich ist nicht die Vernunft des autonomen Individuums, sondern die des Kollektivs: Das Ganze ist dem einzelnen stets vor- und übergeordnet. Im Licht dieses klassischen Utopiebegriffs gehen meine Überlegungen von einer Rezension aus, die George Orwell 1946 im Tribune veröffentlicht hat 6 . Er warf in dieser Besprechung die Frage auf, weIche gesellschaftlichen Fehlentwicklungen der Anlaß des fiktiven Szenarios einer möglichen Zukunft gewesen sein können, die Samjatin in "Wir" beschreibt. Orwells Antwort war keineswegs eindeutig. Einerseits kennzeichnete er "Wir" als intuitiven Vorgriff auf die irrationalen Seiten des Totalitarismus. Er nannte die Stichwörter "Menschenopfer und Grausamkeit als Selbstzweck" sowie "Anbetung eines Führers, dem göttliche Attribute zugesprochen werden". Andererseits hob er aber auch hervor, daß die Entstehungszeit von "Wir" sich mit einer Periode der nachrevolutionären Gesellschaft Rußlands überschnitten hat, in der von Stalins Diktatur noch nicht die Rede sein konnte. Es sei daher keineswegs auszuschließen, daß sich Samjatins Roman nicht auf ein bestimmtes Land, sondern ganz allgemein auf spezifische Entwicklungstendenzen der industriellen Zivilisation bezieht. Diesen Deutungen der negativen Utopie Samjatins kann zugestimmt werden. Doch ist ihr eine bedeutsame Ergänzung hinzuzufügen. Wer Samjatins "Wir" nur als Antizipation der modernen Totalitarismen oder verhängnisvoller Fehlentwicklungen der wissenschaftlich-technischen Zivilisation liest, übersieht, daß in ihr alle Elemente auftauchen, die in der klassischen etatistischen Utopietradition eine zentrale Rolle spielen: freilich mit dem Unterschied, daß sie, auf den Stand der technischen und naturwissenschaftlichen Möglichkeiten des frühen 20. Jahrhunderts gebracht, den ursprünglich emanzipatorischen Ansatz in sein Gegenteil verkehren. Im folgenden möchte ich daher für eine dritte Lesart plädieren. Wie ich meine, können Samjatins "Wir", aber auch die beiden anderen klassischen "schwarzen" Utopien, als eine Art immanenter Selbstkritik der auf Morus und Platon zurückgehenden Utopietradition gelesen werden. Daß "Wir" tatsächlich deren Erbe angetreten hat, wird bereits deutlich, wenn Samjatin die Differenz zwischen der "alten" Welt und der Zivilisation des Einzigen Staates, die uns der Ich-Erzähler schildert, beschreibt. Die "alte" Welt ist nämlich mit den Makeln und Defiziten behaftet, die im Zentrum der Kritikmuster der älteren Utopietradition standen: Sie ist der Inbegriff der Chaotik und des Irrationalen. Die Menschen, die in ihr lebten, überließen sich ungehemmt ihren Leidenschaften. Die Folge waren permanente Kontlikte in den zwischenmenschlichen Beziehungen, die ihre Entsprechung in "jenen Tausenden von mikroskopisch kleinen Staaten" hatten, "die beständig miteinander Krieg führten" 6 Onl'f'1/ 1968.

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(29). Demgegenüber ist der Einzige Staat Samjatins auf dem Weg zur absoluten Übereinstimmung mit sich selbst; an der Schwelle eines Posthistoire hat er die letzte Revolution hinter sich gebracht und sich der ewigen Norm des Kosmos, der Gleichheit und dem Gleichmaß, angenähert (162). Doch wie konkretisiert sich nun das, was den Einzigen Staat auszeichnet, nämlich "seelige Ruhe und glückliches Gleichgewicht" (154) ? Diese Frage ist rasch beantwortet: In Samjatins fiktivem Szenario ist weitgehend erreicht, was die klassische Utopietradition als zentrale Norm propagierte: Die Stillegung jeglicher gesellschaftlicher Mobilität als Voraussetzung äußerster Transparenz der menschlichen Beziehungen. Waren in der alten Welt die Straßen in "ein buntes Gewühl von Menschen, Rädern, Tieren, Plakaten, Bäumen, Farben und Vögeln" (10) verwandelt, so ist jetzt von "schnurgeraden Straßen", von "langgestreckten Kuben und durchsichtigen Wohnhäusern" sowie von der "quadratischen Harmonie der blaugrauen Marschblöcke" die Rede (9). Der Ich-Erzähler ist fasziniert von der "ganzen makellosen geometrischen Schönheit" der Metropole des Einzigen Staates, deren Ästhetik er im Schein der untergehenden Sonne bewundert: "Die runden Kuppeln, die riesigen Häuserwürfel, die Spitzen der Akkumulatorentürme, die am Himmel erstarrten Blitzen gleichen" (164). Tatsächlich leben die Mitglieder des Einzigen Staates in der Transparenz einer totalen, das Private fast völlig konsumierenden Öffentlichkeit, und zwar in "durchsichtigen, wie aus leuchtender Luft gewebten Häusern, ewig von Licht umflutet". Diese Architektur ist von ihrer sozialen Funktion nicht zu trennen. "Wir haben nichts voreinander zu verbergen", heißt es, "und außerdem erleichtert diese Lebensweise die mühselige, wichtige Arbeit der Beschützer", d.h. der Polizeiorgane des Einzigen Staates. Das absolute Tranparenzgebot wirkt aber auf die Stellung des Individuums nicht nur zurück, sondern reduziert seine Autonomie auf Null. Traten in der klassischen Utopietradition die einzelnen immerhin noch als soziale Rollenträger auf, so sind sie jetzt nichts weiter als eine "von dem mathematisch vollkommenen Leben des einzigen Staates abgeleitete Größe" (6): Die Individualität wird zu einer quantitativen Einheit, zu einer Nummer. Der Name des Ich-Erzählers lautet denn auch: D-503. Dieser "Mensch ohne Eigenschaften" (Musil) ist ebenso gläsern, wie die Gegenstände, die ihn umgeben. Teil einer Welt ohne Schatten, durchdringt die Sonne alles, auch ihn (170). Freilich ist das Ideal der völligen Selbstauflösung des Ich noch nicht ganz erreicht. Es existieren im einzelnen noch Spuren einer unverwechselbaren Persönlichkeit, die konsequent als "Krankheit" stigmatisiert werden. Doch der Einzige Staat schickt sich an, auch diese Restbestände an Seele und Phantasie zu beseitigen. "Die staatliche Wissenschaft hat vor kurzem eine wichtige Entdeckung gemacht", so heißt es, "das Zentrum der Phantasie ist ein winziger Knoten an der Gehirnbasis. Eine dreimalige Bestrahlung dieses Knoten - und ihr seid VOn der Phantasie geheilt. Für immer" (167). Zum ersten Mal in der utopischen Literatur wird der Neue Mensch nicht nur als das Resultat von Erziehung und 11*

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staatlich kontrollierter Eugenik vorgestellt; vielmehr wird er - wie eine Sache als "machbar" in dem Maß behandelt, wie das "social engineering" Zugriff auf das menschliche Gehirn erlangt. Es kann durch einen operativen Eingriff eben jenes Verhalten "herstellen", das dem reibungslosen Funktionieren des Systems angemessen ist. Samjatin verschweigt nicht die unausweichliche Konsequenz dieses Schritts. Noch Anfang der 20er Jahre hatte Trotzki dem "neuen Menschen" im vollendeten Sozialismus eine glänzende Zukunft vorhergesagt: Er werde sich auf die Höhe eines Aristoteles, Goethe und Marx aufschwingen 7 . Bei Samjatin hingegen schlägt die Fiktion der "neuen Menschen" in ihr Gegenteil um: Ohne Phantasie und Seele gleichen ihre Füße von unsichtbaren Triebwerken bewegten Rädern; sie sind, mit einem Wort, Traktoren in Menschengestalt, die alles niederwalzen, was sich ihnen in den Weg stellt (174). Wie in der klassischen Utopietradition, so hat die "gläsern-durchsichtige Architektur des einzigen Staates" (11 383 f) in der durchgängigen Rationalisierung des täglichen Lebens ihre Entsprechung: Der Tagesablauf ist strikt reglementiert. Er folgt dem kategorischen Imperativ des zweckrationalen Umganges mit der Zeit, der Abweichungen in Gestalt individueller Spontanietät nicht duldet. "Jeden Morgen stehen wir Millionen, wie ein Mann, zu ein under derselben Stunde, zu ein und derselben Minute auf', berichtet der Ich-Erzähler. "Zu ein und derselben Stunde beginnen wir, ein Millionenheer, unsere Arbeit, zur gleichen Stunde beenden wir sie. Und zu einem einzigen, millionenhändigen Körper verschmolzen, führen wir in der gleichen, durch die Gesetzestafel bestimmte Sekunde die Löffel zum Munde, zur gleichen Sekunde gehen wird spazieren, versammeln uns zu den Taylor-Erxerzitien in den Auditorien, legen uns schlafen" (15). Der Hinweis auf Taylor deutet die Differenz zum normierten Tagesablauf in der älteren etatistischen Tradition der Sozialutopie an: Es geht jetzt nicht mehr nur darum, dem Individuum die autonome Disposition über den Gebrauch seiner Zeit im Produktionsprozeß zu entziehen, um eine maximale Effizienz der Arbeit sowie das Funktionieren des Ganzen reibungslos garantieren zu können; die Gestaltung des Tagesablaufs insgesamt folgt nun den wissenschaftlichen Prinzipien einer rigiden Zeitökonomie (34). Die Unterwerfung unter die ehernen Regeln der Zweckrationalität gilt im Wertesystem des Einzigen Staates als "ideale Unfreiheit": Sie findet ihre symbolische Überhöhung in der Metaphorik marschierender Kolonnen und formierter Nummern (9, 83), in deren geschlossenen Reihen das selbstverantwortliche Ich ausgelöscht ist. Samjatins Einziger Staat folgt der klassischen Utopietradition aber auch in der Hinsicht. daß er das Privateigentum an den Produktions- und Arbeitsmitteln abgeschafft hat. Die gesamte Wirtschaft wird von staatlichen Ingenieuren wie dem Ich-Erzähler D-503 geleitet. Freilich erfahren wir Einzelheiten über die Wirtschaft des Einzigen Staates nur, soweit sie sich auf die Arbeitswelt des 7 Trolzkij 1968: S. 215.

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Konstrukteurs des Raketenschiffs "Integral" bezieht: Diese Konzentration auf die Spitzentechnologie symbolisiert, daß Samjatin auch hier an einen alten Topos der klassischen Utopietradition anknüpft: Sein fiktives Gemeinwesen marschiert an der Spitze des wissenschaftlich- technischen Fortschritts. Doch hat sich - im Vergleich zur klassischen Tradition - die gesellschaftliche Funktion der Technik und der ihr zuzuordnenden menschlichen Arbeit charakteristisch verändert. Im klassischen Utopiediskurs hatten Wissenschaft und Technik eine klar definierte Aufgabe zu erfüllen: Sie mußten jene Freiräume schaffen, die, von den Zwängen der materiellen Reproduktion befreit, menschliche Selbstverwirklichung erst ermöglichen sollten. Demgegenüber ist die Technik bei Samjatin vollständig auf die Durchsetzung der Herrschaft des Einzigen Staates festgelegt, ja, mit ihr identisch. Technik und Machtausübung sind kurzgeschlossen: Jene steht nicht mehr nur im Dienst eines Staates; vielmehr tritt der Techniker selbst als Eroberer in Erscheinung. Im Grunde genommen gibt es nur eine Autorität, die zählt: die verstaatlichte Wissenschaft, "die sich nicht irren kann", und ihre Anwendung als Technik; beide sind in letzter Instanz identisch mit der Staatslogik selbst (17f). Es kommt aber noch eine zweite Differenz hinzu. In der älteren Sozialutopie war Arbeit von Anfang an auf Muße bezogen; sie stellte das Medium dar, in dem die einzelnen ihr kollektives Menschsein verwirklichten. In Samjatins "Wir" hingegen ist die Arbeit zu einem Zwangszusammenhang geronnen, der den einzelnen ohne Rest konsumiert. Während die Technik ihren eigentlichen Zweck in der Durchsetzung der Herrschaft des Einzigen Staates nach innen und außen hat, ist die Arbeit nichts weiter als deren passive Verinnerlichung, die den Anspruch auf Muße im Ansatz zerstört. Der Enthumanisierung der menschlichen Lebensbedingungen entspricht die Brutalisierung des politischen Systems, dessen terroristischer Apparat sich die Manipulationsmittel des wissenschaftlich-technischen Zeitalters angeeignet hat und sie konsequent zur Anwendung bringt. Das "Grundgesetz" des Einzigen Staates ist die sogenannte "Stunden-Gesetzestafel", die, wie gezeigt, das Leben der "Nummern" durchgehend reglementiert: Ihre Befolgung zu garantieren, d.h. Abweichung mit Terror und Todesstrafe zu ahnden, ist der eigentliche Zweck der Diktatur des sogenannten "Wohltäters", auch "Nummer der Nummern" genannt. Einmal im Jahr, am "Tag der Einstimmigkeit", findet seine "Wahl" statt. Dieses Ereignis, so heißt es, habe "nichts mit jenen unorganisierten Wahlen unserer Vorfahren zu tun, deren Ergebnis nicht im voraus bekannt war" (129). Vielmehr komme ihnen lediglich symbolische Bedeutung zu: "sie erinnern uns daran, daß wir einen einzigen, gewaltigen Organismus bilden, der aus Millionen Zellen besteht, daß wir - in den Worten des Evangeliums gesagt, die einzige Kirche sind. In der Geschichte des einzigen Staates ist es noch niemals vorgekommen, daß auch nur eine Stimme sich erdreistet hätte, das machtvolle Unisono dieses feierlichen Tages zu stören" (130). Seiner gottähnlichen Stellung entsprechend, ist der "Wohltäter" von einer Aura des Religiösen umgeben. "Das war Er, der von den Himmeln zu uns herniederstieg, ein neuer Jehova im Flug-

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zeug, weise, gütig und streng, wie der Gott der Alten. Mit jeder Minute kam er näher und näher, immer höher schlugen ihm Millionen Herzen entgegen" (132). Ihm zur Seite stehen die sogenannten "Beschützer", eine Art Geheimpolizei, die unerkannt überall präsent ist. Man kann sie mit Platons Wächtern vergleichen; in Samjatins "Wir" werden sie mit wohlwollend strengen Schutzengeln gleichgesetzt, "die jedem Menschen von seiner Geburt an zugesellt waren" (540). Im Vergleich zu der klassischen Sozial utopie, so kann abschließend festgestellt werden, fällt auf, daß in Samjatins Einzigem Staat keineswegs Herrschaft von Menschen über Menschen durch die Verwaltung von Sachen ersetzt werden soll: Vielmehr ist die Terrormaschine das eigentlich Kernstück des Staates. Im Dienst der direkten Ausübung eines durchgehenden Konformitätsdrucks auf die einzelnen greifen selbst die Rechtsfunktionen des Staates zu kurz. Sie waren bereits in der klassischen Utopietradition auf ein Minimum reduziert, weil es keine Konflikte mehr gab, die einen juristischen Regelungsbedarf hätten hervorrufen können. Doch selbst dieser Begründungszusammenhang wird bei Samjatin fallengelassen. Begriffe wie "Wahrheit" und "Recht" sind in seinem Einzigen Staat nichts anderes als Funktionen der Macht. Daher gilt das "Recht", und sei es auch das Recht, bei entsprechenden Vergehen hingerichtet zu werden, als Reminiszenz "an lächerliche Vorurteile unserer Ahnen", an ihre "Rechtsideen" (108). Ein "Recht" im strikten Sinne des Wortes existiert also nicht; es wird vollständig von der Omnipotenz des Staates konsumiert. "Dem Ich irgendweIche Rechte dem einzigen Staat gegenüber einzuräumen", so heißt es, "wäre das gleiche, wie wenn man behaupten wollte, daß ein Gramm eine Tonne aufwiegen könne. Daraus ergibt sich der Schluß: Die Tonne hat Rechte, das Gramm Pflichten, und der einzige natürliche Weg von der Nichtigkeit zur Größe ist, vergiB, daß Du nur ein Gramm bist, und fühle dich als millionsten Teil einer Tonne" (109). Die Priorität des "Ganzen" gegenüber den einzelnen, die von Anfang an die klassische Utopietradition der Neuzeit bestimmte, ist in dieser Formulierung auf ihren negativen Begriff gebracht worden, weil sie ihre Legitimation nicht mehr - wie im klassischen Diskurs - aus der Vernunft bezieht, sondern den faktischen Machtverhältnissen.

III. Daß Samjatin die klassische Utopie auf ihren Nullpunkt zurückführte, dürfte außer Frage stehen. Doch bezeichnet diese Reduktion das definitive Ende des utopischen Denkens seit Morus? Bedeutet die immanente Selbstkritik den Bruch mit dem utopischen Denken überhaupt? Oder werden vielmehr Hindernisse aus dem Weg geräumt, ohne deren Beseitigung erkennbare Fehlentwicklungen des utopischen Denkens nicht korrigiert werden können'?

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Meine Antwort auf diese Frage ist, daß in der Tat die Null-Option Samjatins und seiner Nachfolger in Wirklichkeit die Voraussetzung eines erneuerten Utopie-Diskurses ist. So gesehen, haben wir es durchaus mit der konstruktiven Kraft des Nullpunktes zu tun: Die Null ist, mathematisch gesprochen, gleichsam als Wendepunkt zu verstehen. Die aus der Unendlichkeit kommende Reihe ... 6, 5, 4, 3, 2, 1, setzt sich in der aufsteigenden Linie 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6 fortS. Ist aber diese Überlegung zutreffend, so können die hier diskutierten fiktiven Schreckensbilder einer möglichen Zukunft auch nicht als Anti-Utopien bezeichnet werden, weil ein solcher Begriff die Vorstellung einer pauschalen Negation des utopischen Veränderungsdenkens erweckt. Das aber ist gerade nicht der Fall. So beabsichtigten alle drei Autoren eine Art "Schocktherapie", die als Warnung und Aufruf zum präventiven Handeln zu verstehen ist. Die "schwarze" Utopie, so meine These, verläßt das utopische Medium nicht, auch wenn sie sich weigert, ihrer positiven Alternative bildhaften Ausdruck zu verleihen. Das Neue an ihr ist, daß sie sich selbstkritisch auf ihre eigene Tradition zurückbezieht, ohne in Zynismus zu verfallen und an den konstruktiven Kräften der verweltlichten Vernunft zu verzweifeln.

°

Daß diese These Samjatins Position zur Utopieproblematik hinreichend kennzeichnet, dürfte außer Frage stehen. Zwar machte er entschieden Front gegen eine bestimmte Variante des utopischen Denkens, die er im Monismus der fiktiven Mars-Szenarien Bogdanows und im Kollektivismus des Proletkult sowie des Suprematismus und Konstruktivismus innerhalb der ästhetischen Avantgarde Rußlands verkörpert sah. Doch bedeutete diese Opposition nicht eine Verabschiedung des utopischen Denkens insgesamt. Im Gegenteil: Er mobilisierte unausgeschöpfte Potentiale des utopischen Diskurses der Neuzeit, denen er in "Wir", aber auch in seinen kulturpolitischen Schriften in der Figur des gegen den Konformismus aufbegehrenden Ketzers, Häretikers und Träumers, also des Utopisten, literarischen Ausdruck verlieh: "Die Ketzer sind die einzige (bittere) Medizin gegen die Entropie des menschlichen Geistes"9, brachte er die zentrale Stoßrichtung seines Denkens auf den Begriff. Wenn man so will, bekämpfte er die autoritäre, antiindividualistische Utopietradition, von der er das nachrevolutionäre Rußland zunehmend dominiert sah, mit der Vision einer offenen und entwicklungsfähigen Utopie. In ihr sah er das einzige Mittel "wider Verkalkung, Sklerose, Verkrustung, wider Moosansatz und Ruhe" 10. Zugleich spielte er gegen die Kristallisation des "Post-Histoire", das so charakteristisch ist für den klassischen Utopiediskurs, das Prinzip der prinzipiellen Offenheit des historischen Prozesses, verkörpert in der Revolution, aus. "Es gibt keine letzte Revolution, die Anzahl der Revolutionen ist unendlich" (162), heißt es proS Ygl. EI Lissitzky 1992: S. 338, der diese mathematische Konfiguration auf den Suprematismus überträgt. 9 Samjatin 1991: S. 25. 10

A.a.O., S. 26.

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grammatisch in "Wir". Diese Überlegungen möchte ich durch folgende Argumente stützen: I. Der Ausgangspunkt des utopischen Diskurses der Neuzeit, der Emanzipationsgedanke, wird zwar in einer bestimmten kollektivistischen Ausprägung, nicht aber prinzipiell aufgegeben. Zwar gilt in Samjatins "Wir" Individualität, die Spuren einer unverwechselbaren Persönlichkeit erkennen läßt, als Krankheit, der mit einer Gehirnoperation begegnet wird. In Huxleys "Schöne neue Welt" können genetische Manipulationen dafür sorgen, daß dem Individuum jede Autonomie abgeht. Und in Orwells "1984" wird die Zukunft des Individuums durch ein Antlitz symbolisiert, in das ein Stiefel tritt - immer und immer wieder". Doch in allen drei utopischen Romanen stellt die Sexualität den letzten Zufluchtsort menschlichen Emanzipationsstrebens dar. Der Konstrukteur des Raumschiffs Integral, D-503, und seine Geliebte, 1-330, in Samjatins "Wir" haben ihre Entsprechung in der (wenn auch gescheiterten) Liebesbeziehung zwischen John the Savage und Lenina Crown in Huxleys "Schöne neue Welt" und der erotischen Zuneigung, die Winston Smith mit Julia in Orwells "1984" verbindet. Die systemsprengende Kraft dieser Liebesbeziehungen bringt Orwell auf den Begriff, wenn er Winston Smith sagen läßt: "Nicht nur die Liebe zu einem Menschen, sondern der animalische Trieb, die einfache blinde Begierde: das war die Kraft, die die Partei in Stücke sprengen würde" 11. Tatsächlich löst erst die erotische Hingabe das individuelle "Ich" der Hauptakteure aller drei Romane aus dem kollektiven "Wir" heraus und setzt die Dialektik von Nonkonformismus und Anpassung in Gang, die den Handlungsabläufen erst ihre Dynamik verleiht. 2. Alle drei "schwarzen" Utopien zeigen die selbstdestruktiven Tendenzen eines totalitären Herrschaftssystems auf: Sie akzeptieren dessen Existenz nicht als ein unabwendbares Schicksal. In Samjatins "Wir" zeigt der Monolith des technisch perfekten Staates unter seiner äußeren Fassade bedenkliche Risse, wie die Entstehung eines breitverzweigten oppositionellen Netzes zeigt, das bis zu den Schaltstellen der Macht reicht. Zugleich muß das einzige Mittel, die system bedrohende Opposition auszuschalten, nämlich die vollständige Ausrottung der Phantasie, zur Selbstzerstörung des Einzigen Staates führen: Phantasielose Nummern sind aus Mangel an Kreativität nicht in der Lage, den wissenschaftlich-technischen Fortschritt voranzutreiben. Ohne ihn hat der Einzige Staat aber keine Zukunft. Zwar wird in Huxleys "Schöne neue Welt" der höchsten Kaste, den Alphas, der Status einer Persönlichkeit mit einer Normierung konzediert, die ihnen in gewissen Grenzen gestattet, Willensfreiheit zu entfalten und Verantwortung auf sich zu nehmen 12. Doch es kann bezweifelt werden, ob sich diese begrenzte Autonomie grundsätzlich systemstabilisierend

11 Orwell 1984: S. 130. 12 V gl.

Huxley 1985: S. 193.

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auswirken muß. Jedenfalls hat der totalitäre Staat Huxleys mit dem Sprengsatz "Individualismus" zu leben: Er erkennt explizit an, daß er ohne die Ressource der individuellen Phantasie und Kreativität nicht überleben kann. Und in letzter Instanz verdeutlicht auch Orwell, daß der scheinbare Sieg des Systems über Winston Smith ein bloßer Pyrrhus-Sieg ist. An der Gestalt des Protagonisten des Staates von "1984", O'Brien, zeigt er, daß eine Verwirklichung seiner "schwarzen" Utopie nichts anderes bedeuten würde als die Verwandlung der Menschheit in ein Konglomerat von Wahinsinnigen. So ist in 0' Briens Gesicht, während er die Folterungen an Winston Smith vornimmt, eine Art Verzückung zu erkennen, "eine verrückte Überspanntheit" bzw. ein "undeutlicher, irrer Begeisterungsschein" 13. Diese Hinweise deuten unübersehbar auf die Selbstzerstörung des enthumanisierten Systems hin, das, in die Arroganz der Macht verstrickt, seine Lernfähigkeit verloren hat: Tendenzen, die, wie gezeigt, auch bei Samjatin und Huxley zu beobachten sind. 3. Es gibt gute Gründe zu der Annahme, daß alle drei "schwarzen" Utopien nicht in Resignation bzw. Zynismmus verfallen, sondern an einer der menschlichen Vernunft verpflichteten humanen Perspektive des Lebens festhalten. Damit knüpfen sie aber an eine wichtige normative Vorgabe des klassischen Utopiediskurses seit Platon an. Zwar steht außer Zweifel, daß nicht nur Orwell, sondern auch Samjatin und Huxley die Zerstörung der Humanität der einzelnen Menschen für möglich halten. Auch gehen sie von der Annahme aus, daß die Mittel zur Verfügung stehen, sie herbeizuführen: sei es bei Samjatin die Gehirnbestrahlung, bei Huxley die genetische Manipulation sowie Drogen und bei Orwell die Folter und die Gehirwäsche. Doch wird damit die Humanität als solche zur Disposition gestellt? Diese Frage ist vor allem deshalb zu verneinen, weil alle drei Autoren von keinem relativistischen Menschenbild ausgehen, auf dessen Folie sie die Depravation der menschlichen Existenz abbilden. Sie sehen den Menschen, wie Fromm mit großem Recht betont, "durch wesensmäßig eigene Qualitäten" charakterisiert, nämlich durch "ein intensives Verlangen nach Liebe, Gerechtigkeit, Wahrheit und Solidarität" 14. Tatsächlich ist das Wertesystem Orwells, Samjatins und Huxleys dem frühneuzeitlichen Emanzipationsdenken verpflichtet, das sie dem fiktiven System der totalen Manipulation gegenüberstellen. So trat Orwell, wie zutreffend festgestellt worden ist, für einen Individualismus ein, "der nun einmal eine bürgerliche Entwicklung darstellt und an dem er hartnäckig festhie1t, für den Standpunkt der 'working cIass' und der 'liberty of the individual'. Er hat vom Schriftsteller 'mental honesty; 'emotional sincerity' und Wahrheitsliebe gefordert und er sah sie von allen Seiten bedroht" 15. Ob man diese Einstellung soziologisierend 13 Orwell 1984: S. 258 u. 266. 14 Fromm 1984: S. 340. 150lten 1990: S. 212.

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bzw. ideologiekritisch als "bürgerlich" bezeichnen kann. mag dahingestellt bleiben. Heute scheint es eher so, als ob sich Orwell, aber auch Samjatin und Huxley, mit Werten ineinssetzten. ohne die ein erneuerter Utopiediskurs nicht möglich ist. 4. Allerdings haben die "schwarzen" Utopien zwar die Richtung gewiesen, in der der Nullpunkt des utopischen Denkens überwunden werden kann. Doch sie selbst artikulierten das Positive nur indirekt; die Radikalität ihrer Kritik erlaubte es nicht, die Alternative zum Schrecken in affirmativen Bildern sinnlichen Ausdruck zu verschaffen. Dieser Schritt wurde seit Anfang der 60er Jahre von den sogenannten "postmateriellen Utopien" 16 vollzogen. Aber es ist charakteristisch, daß sie nicht einfach an die klassische Tradition vor Samjatins "Wir" anknüpfen, sondern die in den negativen Utopien zur letzten Konsequenz vorangetriebene Kritik insbesondere am Antiindividualismus, am instrumentellen Naturverhältnis und am unbedingten Geltungsanspruch des fiktiven Entwurfs zur Ausgangsprämisse ihrer utopischen Konstrukte erheben. So steigt - im Gegensatz zur klassischen Utopietradition - die persönliche Freiheit zu einem unverzichtbaren Element der positiven Gegenwelt auf: Entsprechend werden die soziotechnischen Superstrukturen der utopischen Leviathane abgeschafft und durch dezentrale Steuerungsmodelle ersetzt, die die Teilhabe der einzelnen am politischen Entscheidungsprozeß garantieren sollen. Wissenschaft und Technik bleiben zwar weiterhin Garanten einer menschenwürdigen Existenz, aber man fördert sie nur insofern, als sie die Überlebensbedingungen der Menschheit nicht gefährden. Und das Ideal der positiven Gegenwelt nimmt in den fortgeschrittentsten Konstrukten, wie in Ursula K. Le Guins "Planet der Habenichtse"l7, eine selbstreflexive Qualität an. Die Autorin liefert mit ihrem Ideal eines anarchistischen Gemeinwesens dessen Kritik gleich mit: Sie zeigt nämlich mit den konstruktiven Möglichkeiten des utopischen Konstrukts zugleich die Bedingungen auf, unter denen das utopische Experiment auch scheitern kann. Damit hat die Utopie den Charakter einer vorreflexiven Substanz verloren: Sie ist - unter dem Druck der "schwarzen" Utopien - selbstreflexiv in dem Sinne geworden, daß sie die Instanz, die sie kreierte, zugleich auch in Frage stellt.

16 Vgl. Saage 1991: S. 294 ff. 17 Vgl. Le Guin 1989.

Benötigen wir politische Utopien zur Bewältigung der Probleme des 21. Jahrhunderts?*

I. Von keinem Ereignis hat der Utopie-Diskurs seit Ende der 80er Jahre stärkere Anstöße erhalten als vom Zusammenbruch des Realsozialismus in Europa. Zwar sah der Marxismus-Leninismus seine entscheidende Legitimationsressource in der Behauptung, er könne mit wissenschaftlicher Präzision den Gang der Geschichte prognostizieren. Eben weil er über dieses Wissen verfüge, müsse die Diktatur der Kommunistischen Partei selbst über die Klasse, in deren Namen sie die Herrschaft ausübe, so lange dauern, bis das "richtige" Bewußtsein zum Allgemeingut der Gesamtgesellschaft geworden sei. Doch ebenso sicher ist, daß es innnerhalb des internationalen Marxismus keine Strömung gab, die sich über das Marx-Engelssche Utopieverbot dezidierter hinwegsetzte als die ältere Generation der Bolschewiki vor ihrer Entmachtung durch Stalin Ende der 20er Jahre. Ein starker Beleg für diese These sind die beiden utopischen Romane von A. Bogdanow "Der rote Planet" (1907) und "Ingenieur Menni" (1912)'. Sie zeigen, daß das bolschewistische Modemisierungsprojekt durch quantitative Daten und geschichtsphilosophischen Fortschrittsglauben allein weder den Massen noch den bolschewistischen Akteuren selbst plausibel zu machen war: Sowohl nach der gescheiterten Revolution in Rußland von 1905 als auch nach dem mißlungenen Experiment des Kriegskommunismus in Sowjetrußland 1921 spielte der Rekurs auf utopische Bilder des kommunistischen Endzustands und der zu ihm hinführenden Transformationsphase eine wichtige Rolle bei der Entwikklung neuer Handlungsperspektiven. Niemand scheint diese Zusammenhänge besser durchschaut zu haben als Lenin selbst. Auf seine Anregungen hin soll Bogdanow den "Ingenieur Menni" geschrieben haben 2 . Doch was verleiht den Mars-Utopien Bogdanows ihr spezifisch bol~chewisti­ sches Profil? Ich möchte folgende Aspekte seines utopischen Konstrukts nen-

* Erstmals erschi~nen in: Engelland, Reinhard (Hrsg.): Utopien, Realpolitik und Politische Bildung. Uber die Aufgaben politischer Bildung angesichts der politischen Herausforderungen am Ende des Jahrhunderts, Opladen 1997, S. 13-23. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags Leske und Budrich. , Bogdanow 1989. 2 Vgl. Roller 1989: S. 297.

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nen, die den Rahmen des älteren, auf Platon und Morus zurückgehenden UtopieDiskurses sprengen: I. Die Absage an den Besitzindividualismus zieht sich seit Platon wie ein roter Faden durch die Geschichte des utopischen Denkens; er ist das verbindende Prinzip, das seine archistischen und a1larchistischen Varianten zusammenhält. Auch Bogdanow steht in dieser Denktradition, aber er radikalisiert sie in einer Weise, wie man sie im vorindustriellen Kontext höchstens noch in Campanellas "Sonnenstaat" findet. In dem Maße, wie der auf Privateigentum gegründete Individualismus zum "Vampir" und historisch obsolet geworden ist, steht der Kollektivismus als das neue Prinzip auf der historischen Tagesordnung 3 . Er setzt sich auf allen Ebenen der utopischen Gesellschaft mit einer Kompromißlosigkeit durch, wie sie bis dahin in keiner Utopie zu finden ist, die sich als Erbin und Vollstreckerin des Industrialisierungsprozesses verstand. An die Stelle des Rechts auf Privatheit tritt die Transparenz des "gläsernen Menschen": Er ist nichts weiter als Ausfluß des Allgemeinen, das nach den Kriterien des utopischen Ideals allemal eine höhere Dignität besitzt als der Anspruch des einzelnen auf eine unantastbare individuelle Lebenssphäre4. 2. Bogdanow gehört zu den ersten Utopisten des 20. Jahrhunderts, die - über eine eugenische Planung im Sinne Platons hinausgehend - eine konkrete Neuerschaffung des Menschen mit Hilfe der modernen Naturwissenschaften ins Auge faßten. Der "neue Mensch" ist nicht nur Produkt gezielter Erziehung, sondern auch der Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden auf den menschlichen Organismus 5 in einer in sich geschlossenen und reibungslos funktionierenden wissenschaftlich-technischen Zivilisation, die die Defizite der Menschen in den vorhergehenden Gesellschaftsformationen restlos beseitigen. Tatsächlich sind diese Mars-Menschen nicht nur von so überragender Intelligenz, daß ihre Lehrbücher und Anleitungen von den Erdbewohnern kaum nachvollzogen werden können 6 . Darüber hinaus zeichnen sie sich durch ein solidarisches und hifsbereites Verhalten untereinander aus, das eine Institutionalisierung von Konflikten ebenso überflüssig macht wie einen Staat als Inhaber des Monopols physischer Gewaltsamkeit7 . In nur wenigen Sozialutopien von Rang findet ein solcher Prozeß der Entinstitutionalisierung des politischen Willensbildungsprozesses statt wie in Bogdanows Mars-Utopie. 3. Neu am bolschewistischen Utopie-Diskurs ist ferner, daß die Instrumentalisierung der Natur durch den Menschen selbst das Credo Bacons, es komme darauf an, die menschliche Herrschaft über die Natur "bis an die Grenze des über3 Bogdanow 1989: S. 257. 4 A.a.O., S. 103. 5 A.a.O., S. 85. 6 A.a.O., S. 99. 7 A.a.O., S. 103.

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haupt Möglichen"g voranzutreiben, in den Schatten stellt. Soweit ich sehen kann, ist Bogdanow der erste Utopist, der die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur als eine Schlacht auf Leben und Tod interpretiert. In dieser quasi militärischen Konfrontation kann die Menschheit nur überleben, wenn sie die Naturkräfte permanent mit den Mitteln der Wissenschaft und Technik angreift. Ihre Unterwerfung läuft auf zwei Ziel hinaus. Einerseits ist in Bogdanows Utopie von 10Sternschiffen die Rede, die mit fast 2000 Menschen, darunter Chemiker und Ärzte, zur Venus fliegen, um dort riesige Radiumlager abzubauen, nachdem die Vorräte an radioaktivem Material auf dem Mars erschöpft sind 9 . Aber auch die Natur des "roten Planeten" selbst wird durch den Zugriff der Menschen gründlich verändert. Andererseits wirkt das instrumentelle Verhältnis zur Natur auf die am Modernisierungsprozeß beteiligten Menschen selbst zurück. Wie bei früheren Kriegen Opfer im Interesse einer einzelnen Nation gebracht wurden, gilt nun der Imperativ, daß diesem Beispiel im Modernisierungsprozeß mit viel mehr Berechtigung gefolgt werden müsse, da es jetzt um die bessere Zukunft der Menschheit gehe 10. Spätestens nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus in Europa wissen wir, daß diese Utopie gescheitert ist. Auch wenn nicht bestritten werden kann, daß der Niedergang der Herrschaftsordnung des sowjetischen Typs auch von innen- und außenpolitischen Umständen, die in jedem Land innerhalb des ehemaligen Ostblocks gesondert zu untersuchen wären, mit ausgelöst wurde, spricht alles dafür, daß er auch mit den Strukturdefekten der bolschewistischen Utopie selbst zu tun hat. Zu Recht kann Joachim Fest darauf hinweisen, daß die kommunistischen Diktaturen in Europa zentrale Bedingungen durchsetzten, die ihnen zur Verwirklichung ihrer Utopie notwendig erschienen: Sie reichten von der Abschaffung des privaten Eigentums an den Produktions- und Arbeitsmitteln über die Gleichheit als gesellschaftliches Strukturprinzip auf Kosten der individuellen Freiheit bis hin zur Planungsdiktatur, dem Erziehungsmonopol und der soziopolitischen Alleinherschaft einer selbsternannten ElitelI. Nimmt man die rücksichtslose Ausbeutung der Natur im Prozeß der nachgeholten Industrialisierung seit Ende der 20er Jahre in der Sowjetunion sowie die systematische Abschottung nach außen hinzu, so waren alle wesentlichen Strukturmerkmale der autoritären Sozialutopie seit Platon und Morus verwirklicht. Dennoch brach dieses Modell nach 70 Jahren in sich zusammen, ohne daß es eines Anstoßes von außen bedurft hätte. Welche Schlüsse sind aus dieser Feststellung zu ziehen? Ist das Ende der autoritären, geschlossenen Systemutopie identisch mit dem Ende des utopischen Denkens überhaupt? Lehrt das Beispiel des gescheiterten kom-

g Bacon 1960: S. 205. 9 Bogdanow 1989: S. 87 f. 10 A.a.O., S. 195. 11 Fest 1991: S. 83.

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munistischen Experiments in Europa, daß wir für die Lösung der im 21. Jahrhundert anstehenden Herausforderungen nicht nur keine politischen Utopien benötigen, sondern daß der Rekurs auf sie gerade alle Wege aus den Krisen der Zukunft verbaut?

11. Joachim Fest spricht für viele, wenn er immer wieder die Verabschiedung des utopischen Denkens als eine unausweichliche Konsequenz des Zusammenbruchs der kommunistischen Herrschaftssysteme behauptet. So sei die Absage an große Ziele und geschichtliche Aufgaben eine der auffalligsten Begleitumstände der revolutionsähnlichen Prozesse in Oste uropa gewesen 12. Wer nämlich Modernität wolle, so Fest, komme um den Verzicht auf politische Utopien nicht herum 13. Einen dritten Weg "irgendwo im Niemandsland zwischen System-Utopie und offener Gesellschaft" gebe es nicht. "Die einfache Wahrheit lautet, daß die modernen Sozialstaaten der offenen Gesellschaft, mit allen Abstrichen und Unzulänglichkeiten, dieser dritte Weg sind. Anders, womöglich makelloser, sind solche Wege nicht zu haben" 14. Freilich ist diese Aussage nur dann plausibel, wenn man - wie Fest - die politische Utopie auf die geschlossene autoritäre Systemutopie festlegt. Erst dann kann schlüssig argumentiert werden, daß utopisches Denken immer auch ein Feind der "offenen Gesellschaft" (Popper) sein muß und als solches historisch definitiv gescheitert ist. Indes hat der utopische Diskurs als ganzer seit seinem Wiederbeginn in der frühen Neuzeit stets auch in Alternativen gedacht. Er erwies sich als lernfähig, weil er Selbstkritik übte. Den geschlossenen autoritären Systemutopien in der Tradition eines Morus und Campanella traten libertäre, die Freiheit der einzelnen betonende Ansätze gegenüber (Rabelais, de Foigny, de Lahontan, Diderot, Morris u.a.)15. Die "schwarzen" Utopien bei Samjatin, Huxley und Orwell haben selbstkritisch die Hegemonie der geschlossenen Systemutopien gebrochen. Vor allem aber ist seit Anfang der 60er Jahre in den sogenannten "postmateriellen Utopien" von Skinner, Huxley, Callenbach und Le Guin 16, aber vor allem auch innerhalb der Frauen- und Ökologiebewegung der 70er und 80er Jahre eine Erneuerung des Utopiediskurses verwirklicht worden, der genau mit den Defiziten bricht, die Fest der politischen Utopie vorwirft. In Anlehnung an Barbara Holland-Cunz l7 sind sechs wichtige Korrekturen zu nen12 A.a.O., S. 2. 13 A.a.O., S. 98. 14 A.a.O., S. 102. 15 Vgl. Saage 1991. 16 A.a.O., S. 264 ff. und S. 294 ff. 17 Holland-Cunz 1988.

Politische Utopien für das 21. Jahrhundert?

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nen, die das autoritäre utopische Muster schon Jahre vor dem Zusammenbruch des Realsozialismus grundlegend veränderten: Zunächst wird die Statik des klassischen Paradigmas, die mit dem Postulat einer repressiven Homogenität verbunden war, in der feministischen Utopie aufgelöst l8 . Statt die Verschiedenheit der Meinungen zu unterdrücken, weil sie die Geschlossenheit des Ganzen gefährden könnten, schafft man jetzt für deren Austragung geeignete Institutionen. Der Konflikt wird nicht länger mehr perhorresziert, sondern als Bedingung der Innovation, die bis zur Veränderung des ursprünglichen Konzepts der gesellschaftlichen Organisation reichen kann, ausdrücklich begrüßt. Diese Tendenz zur Individualisierung und Anerkennung pluraler Strukturen ist freilich nicht neu: Sie kennzeichnet die utopische Tradition des 19. Jahrhunderts von Fourier über Bellamy bis hin zu Morris. Ein weiterer Paradigmen wechsel kommt hinzu. Die klassische Utopie war ganzheitlich orientiert. Dieser Holismus wurde als Audruck höchster Perfektion in Kategorien eines in sich geschlossenen Systems gedacht. Demgegenüber ist das Ganzheitsdenken der Frauen-Utopien gekennzeichnet durch Offenheit. Das sich als "organische Einheit" begreifende fiktive Gemeinwesen wird so vorgestellt, daß es seine Grundlagen fortwährend überprüfen muß, will es den stets erneut herzustellenden Ausgleich zwischen der sozialen und ökologischen Balance wahren 19. Aber auch die Organisation des politischen Willensbildungsprozesses wird einer tiefgreifenden Revision unterzogen. Ohne Zweifel herrschte in der klassischen Utopietradition ein strikter Zentralismus vor. Demgegenüber steht die Mehrheit der feministischen Utopien eher in der anarchistischen Tradition, deren bekannteste Exponenten seit dem 16. Jahrhundert Rabelais, de Foigny, de Lahontan, Diderot und Morris sind. In der feministischen Utopie werden diese Ansätze radikalisiert, indem sie zentrale Intentionen des modernen Anarchismus wie individuelle Selbstentfaltung und Entscheidungsbefugnisse innerhalb dezentralisierter Strukturen, permanente Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft gemäß den Bedürfnissen der Individuen und der Gesamtheit ins Zentrum des fiktiven weiblichen Lebenszusammenhanges rückt20 . Vor allem aber hatte für die Zeitdiagnose der klassischen Utopien das soziale Problem überragende Bedeutung: Die individualistische Verfügung über Privateigentum galt als die entscheidende Ursache aller Übel, auf die das utopische Konstrukt als positive Alternative reagierte. Im feministischen Utopie-Diskurs dagegen wird die Eigentumsproblematik ersetzt durch eine Größe, die ihr gleichsam biologisch vorgeordnet ist: das Patriarchat. Unter dem Stichwort "patriarchalische Nekrophilie" werden wichtige selbstdestruktive Tendenzen der Mo-

18 A.a.O., S. 204. 19 A.a.O., S. 205. 20 A.a.O., S. 210 f.

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derne zusammengefaßt. Die feministischen Utopien treten daher mit dem Anspruch auf, Gesellschaftsentwürfe jenseits des Patriarchats zu projektieren, deren restriktive Bedingungen die klassische Utopietradition nur punktuell zu durchbrechen vermochten, auch wenn sie zumindest in de Foignys und Fouriers fiktiven Gesellschaftsszenarien einen gewichtigen Vorläufer hatten. Ferner ist eine tiefgreifende Distanzierung von einer weiteren zentalen Prämisse der klassischen Utopietradition zu beobachten. Die von Morus eröffnete Linie des neuzeitlichen Utopie-Diskurses war nämlich von Anfang an geprägt durch ein instrumentelles Verhältnis zur Natur. Demgegenüber gehen die Frauen-Utopien von einem Mangelzustand aus, der durch die "gewaltförmige patriarchalische Naturausbeutung"21 entstanden ist: Ihn zu begrenzen oder teilweise zu beheben, ist eine wichtige Legitimation ihrer Existenz. Wenn man so will, ist neben der Frauenfrage die Ökologieproblematik der Stoff, aus dem die neueren politischen Utopien gemacht worden sind. Und schließlich wird dem geschichtsphilosophischen Fortschrittsdenken, mit dem seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die Utopisten im Namen einer historischen Notwendigkeit die Verwirklichung ihrer Entwürfe zu begründen versuchten, im feministischen Utopie-Diskurs eine Absage erteilt. Anstatt daß der einzelne sich von einer historischen Entwicklungslogik überrumpelt sieht, auf die er keinen Einfluß hat, kehrt das utopische Konstrukt zum Geltungsanspruch der Raum-Utopien zurück, der den geschichtsphilosophisch begründeten Anspruch auf eine weIthistorische Teleologie nicht mehr erhebt und die Geschichte als einen offenen Prozeß begreift. Allerdings ist diese Revision mit einer Neuerung verbunden, die über den methodologischen Status eines regulativen Prinzips im Sinne Platons und Kants deutlich hinausgeht: die Selbstreflexivität. In gewisser Weise stellt sie sogar die entscheidende Neuerung dar, für die es im klassischen Utopie-Diskurs keine Entsprechung gibt. Worauf ist sie zuückzuführen? Man geht sicherlich nicht fehl, wenn man sie als Konsequenz der Entwicklung des utopischen Diskurses im 20. Jahrhundert selbst interpretiert. Ich möchte hier vor allem die an Radikalität der Selbstkritik des klassischen Musters kaum zu überbietenden "schwarzen" Utopien bei Samjatin, Huxlex und Orwell nennen, die zur Geburt der kritischen Utopie beigetragen haben könnten. Offenbar ist nach" 1984" eine positive Utopie nur noch glaubhaft, wenn sie sich der Möglichkeit des Umschlags ins Negative stets bewußt ist. Der neuere feministische Utopie-Diskurs liefert selber genügend Belege für diese These. Tatsächlich gab es sowohl im Theorie - als auch im Utopie spektrum des Feminismus in den 70er Jahren auch Positionen, die eine Befreiung der Frau nur dann für möglich hielten, wenn der männliche Teil der Weltbevölkerung voll-

21 A.a.O., S. 225.

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ständig liquidiert wird. Dies ist, wie wir aus der Untersuchung von HollandCunz erfahren, z.B. bei der Feministin Valerie Solinas in ihrem "Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer" (1968) der Fall. Ähnlich argumentierte Francoise d'Eaubonne in ihrer Utopie "Das Geheimnis des Mandelplaneten" (1975). Sie läßt ihre Utopie einer weltweiten weiblichen Zivlisation aus einem blutigen Geschlechterkrieg hervorgehen, den kein Mann überlebt22 . Auch Joanna Russ' utopischer "Planet der Frauen" (1975) beruht auf der kriegerischen Tötung der Männer23 . Solche hemmungslosen Vernichtungsphantasien übersteigen das totalitäre bzw. autoritäre Potential der von Männern bestimmten klassischen Utopietradition bei weitem: Sie haben mit ihm - außer dem formalen Rahmen - nur wenig, aber mit einem "feministischen Faschismus" (Holland-Cunz) sehr viel zu tun. Eine zweite Tendenz des feministischen Utopie-Diskurses der 70er Jahre darf nicht verschwiegen werden. Dessen ökologische Stoßrichtung folgt aus der Prämisse, die Frau sei die Verbündete der Natur, während der patriarchale Mann als deren Unterdrücker und Ausbeuter erscheint. Die Problematik dieser allzu simplen Dichotomie will ich hier auf sich beruhen lassen. Wichtiger ist in unserem Zusammenhang, daß es feministische Positionen im Utopie-Diskurs gibt, die eben dieses Axiom wieder vollständig dementieren, wenn es darum geht, die Reproduktion der utopischen Frauengesellschaften zu sichern. Das Spektrum der Möglichkeiten, die Zeugung durch heterosexuellen Geschlechtsverkehr zu vermeiden, reichen von der Parthogenese durch Stimulans (HengstSamen) und Fortpflanzung durch Klonen über genchirurgische Formen der Eiverschmelzung bis zur technologischen Zeugung und Austragung der Kinder24 . Die Häufigkeit, mit der auf technische Methoden zur Reproduktion des Lebens trotz Huxleys einschlägigem Horror-Szenario und eindringlichen Warnungen vor genetischen Experimenten zurückgegriffen wird, ist beachtlich: Von den 15 von Holland-Cunz untersuchten Utopien machen immerhin 9 von ihnen Gebrauch. So gesehen, stellt sich die Frage, wie ernst Frauen-Utopien den Umgang mit humanen Werten und das partnerschaftliehe Verhältnis zur Natur jenseits des Patriarchats tatsächlich meinen. Wenn es jedenfalls darum geht, die patriarchalische Welt - und sei es auch nur in der Fiktion - aus den Angeln zu heben, scheint bei einigen Utopistinnen der 70er Jahre die Bereitschaft zur gezielten Vernichtung des männlichen Teils der Bevölkerung und zur Naturmanipulation vorzuherrschen: Es handelt sich um einen feministischen Macchiavellismus, demzufolge der Zweck jedes Mittel heiligt. Er veranschaulicht, daß die humane Qualität des utopischen Entwurfs einer von weiblichen Werten bestimmten Zukunft sich daran wird messen lassen müssen, inwieweit er nicht zur Richtschnur 22 A.a.O .. S. 217. 23 A.a.O., S. 224. 24

A.a.O .. S. 286.

12 Soage

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eines "gelungenen Lebens" erhebt, was er als "patriarchale Nekrophilie" anprangert, wenn auch unter umgekehrtem Vorzeichen. Allerdings wäre es falsch, diese regressiven Tendenzen zu verabsolutieren. Sie können auch als Grund dafür interpretiert werden, daß eine positive Utopie heute nur noch denkbar ist, wenn sie die pennanente Selbstkritik und die Möglichkeit ihres immanenten Scheiterns zu ihrem unverzichtbaren Korrektiv erhebt. Eine solche "kritische Utopie" hat ihren klassischen Ausdruck in Ursula K. Le Guins "Planet der Habenichtse"25 gefunden. Ihr zentrales Thema ist die innere Selbstgefährdung ihrer geschilderten positiven Utopie in Gestalt eines anarchistischen Gemeinwesens auf dem Planeten Anarres. Sie verdeutlicht, wie hier die Freiheit des Individuums immer mehr durch infonnelle Machtstrukturen unterdrückt und damit das anarchistische Ideal verraten zu werden droht. Diese Tendenz verdichtet sich in der Person des Physikers Saboul, der aufgrund der angeborenen Feigheit der durchschnittlichen Verfassung des menschlichen Geistes ("the innate cowardice of the average human mind") und des Fehlens geeigneter Kontrollinstanzen immer mehr informelle persönliche Macht akkumuliert. Die öffentliche Meinung versagt, weil Saboul sie zu manipulieren weiß. So gesehen, besteht die innovatorische Qualität des utopischen Romans von Le Guin darin, daß sie die Dialektik utopischer Positivität nicht nur am Beispiel von deformierten, egoistischen und machtbesessenen Menschen aufzeigt. Verdeutlicht wird sie auch an den objektiven Strukturen der anarchistischen Gesellschaft selbst.

IH. Der utopische Diskurs der Gegenwart, so kann zusammenfassend festgestellt werden, läßt Elemente erkennen, die sich als zukunftsfähig erweisen könnten, weil sie die Defizite der klassischen, autoritären Linie der utopischen Tradition venneiden und sich zugleich auf die zentralen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, gipfelnd in der Frauen- und Ökologiefrage, eingestellt haben. Vor allem ist er sich der Gefahr des Umschlags in das Gegenteil des positiv Intendierten bewußt geworden. Diese Ebene der kritischen Selbstreflexion verbindet sich, wie gezeigt wurde, mit einem Geltungsanspruch, der nicht mehr geschichtskonstitutiv, sondern regulativ gemeint ist. Und doch stellt sich die Frage, wie ein dergestalt erneuertes utopisches Denken, das sich den statischen System bauten der Vergangenheit ebenso entzieht wie der Vereinnahmung durch destruktive Tendenzen der Modeme, praktisch werden kann. Ich möchte auf diese Frage am Beispiel eines der wohl bedeutendsten Handlungsfelder des 21. Jahrhunderts, nämlich des Verhältnisses von szientifischer Umwelttheorie und utopischer Konstruktion, eingehen. Doch zuvor ist zu klä25 Vgl. Le GI/in 1989.

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ren, wodurch sich diese beiden Ansätze unterscheiden. An der Realität der wissenschaftlich-technischen Zivilisation orientiert, geht es der szientifischen Umwelttheorie darum, Gesetze und Relationen zu entdecken, die uns Einblicke in die Dynamik der Natur und die Interaktion zwischen den Menschen und ihrer Umwelt gewähren. Demgegenüber beschäftigt sich das utopische Denken mit einer zukünftigen Welt, die zwar nicht ist, aber sein könnte. Im Gegensatz zur szientifischen Umwelttheorie lassen sich politische Utopien nicht von im Experiment reproduzierbaren Naturphänomenen, sondern von einer deduktiven Logik leiten. Ausgehend von einer Anzahl normativer Prinzipien, besteht das Hauptziel des utopischen Denkens darin, Formen der gesellschaftlichen Organisation zu entwerfen, die mit seinen Werten übereinstimmen. Als sein wichtigstes methodologisches Rüstzeug muß daher nicht - wie in der szientifischen Umwelttheorie - die in der Sprache der Mathematik auszudrückende Naturbeobachtung, sondern die Phantasie gelten. Mit ihrer Hilfe entwickelt es eine visionäre Pespektive, die als Ausfluß der Potentialität der Menschheit nur eingeschränkt wird durch die Grenzen der menschlichen Hoffnungen und Träume selbst. In ihrem 1977 erschienenen Buch "Environment and Utopia" 26 haben Rudolf Moos und Robert Brownstein den Versuch unternommen, diese beiden verschiedenen Denkansätze zu synthetisieren, um ein neues konzeptionelles Muster zur Analyse der menschlichen Umwelt entwickeln zu können. Allerdings setzt eine solche Synthese eine gemeinsame Grundlage voraus, die die aufgezeigten Unterschiede relativiert. Worin besteht sie? Moos und Brownstein nennen vier Aspekte: I. Das utopische Denken war stets durch die Bereitschaft gekennzeichnet, die bestehende sozio-politische Realität zu transzendieren. Dem entspricht die Einsicht der Umweltwissenschaft, daß ein ökologischer Umbau der Industriegesellschaft schon längst auf der politischen Tagesordnung steht. 2. Die Utopisten gingen immer von der Prämisse aus, es komme darauf an, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bewußt und gezielt so zu gestalten, daß in ihrem Rahmen das gewünschte Verhalten möglich, befriedigend und sinnvoIl wird. Diese Annahme teilt auch die Umweltwissenschaft: Ohne Planung und fortlaufende soziale Rückkoppelung für weitere Planungen ist eine gesicherte soziale und ökologische Stabilität nicht zu haben 27 . 3. Im Utopie-Diskurs spielte seit Platon der ganzheitliche, holistische Denkansatz eine entscheidende RoIle. Auch wenn er in seiner antiindividualistischen und autoritären Version historisch überholt ist, hat die Umweltwissenschaft erkannt, daß ohne ihn die Interdependenzen zwischen den Ökosystemen ebensowenig erfaßt werden können wie die Beziehungen innerhalb des Ökosystems 28 . 4. Das utopische Denken

26 Moos/Brownstein 1977. 27 A.a.O .. S. 269. 28 A.a.O .. S. 269 f. 12*

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verstand sich von Anfang an als eine nonnative Herausforderung gegenüber dem Wertesystem der bestehenden Gesellschaft. Ihm stellten sie die ethischen und philosophischen Prämissen der Gründung ihrer idealen Gemeinwesen gegenüber. In gleicher Weise fordert die Umweltwissenschaft eine neue Ethik, die sich am Ausgleich mit der Natur orientiert an statt sie dem Interesse der Schaffung unbegrenzten quantitativen Reichtums zu unterwerfen 29 . Angesichts dieser gemeinsamen Schnittmengen von politischer Utopie und Umweltwissenschaft gelangen die Verfasser zu einer Synthese in Gestalt eines politisch-ökologischen Szenarios. Durch welche strukturellen Merkmale kann es gekennzeichnet werden? Zunächst fordern die Autoren in Übereinstimmung mit dem neueren Utopie-Diskurs, daß das platonische Ideal der Statik und Unwandelbarkeit aus gesellschaftlichen und ökonomischen Gründen aufgegeben werden muß. Sodann muß sich die neue Utopie in einem Zustand des ökologischen Gleichgewichts befinden: Er ist nur zu erreichen, wenn das Bevölkerungswachsturn so kontrolliert wird, daß es die zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht überschreitet. Auch darf die Technik nicht als Selbstzweck betrachtet werden; sie hat vielmehr den Werten der Gesellschaft zu dienen. Und selbstverständlich besteht eine zentrale Aufgabe der gesellschaftlichen Institutionen darin, die natürlichen Ressourcen zu schonen. Diese Postulate sind durch ein Ethos der Hannonie des Umgangs der einzelnen und der gesellschaftlichen Gruppen miteinander sowie zwischen der Gesellschaft und der Natur zu stützen 30. Und endlich muß das Ideal der utopischen Insel aufgegeben werden, die sich gegen die Außenwelt abschottet, weil sowohl die physische als auch die soziale Umwelt nur noch in einem weltweiten Kontext erfaßbar sind31 . Dem Kenner der Geschichte des utopischen Denkens wird auffallen, daß diese Abkehr vom Insel-Motiv in den großen utopischen Konstruktionen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, vor allem aber in H.G.Wells "A Modern Utopia"32, einen Vorläufer hat. Anders aber als Wells binden Moos und Brownstein die Verwirklichung ihrer ökologischen Utopie, die in der szientifischen Umwelttheorie ihr unverzichtbares Korrektiv hat, nicht an ein Avantgarde-Konzept. Sie setzen vielmehr auf den Ausbau bestehender Umweltinstitutionen sowie auf die Aufklärung der Bevölkerung und ein umweltbewußtes Erziehungssystem. In letzter Instanz hänge es von dem Engagement einer hinreichenden Zahl von Männern und Frauen ab, ob "Utopia" als Traum oder als Realität existieren werde. Um nicht mißverstanden zu werden: Es geht mir nicht darum, das Utopie und Umweltwissenschaft versöhnende Modell von Moos und Brownstein als ver29 A.a.O., S. 270. 30 A.a.O., S. 273 f.

31 A.a.O .. S. 274. 32 Vgl. Wells 1967.

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bindliche Perspektive für die Lösung der Strukturprobleme des 21. Jahrhunderts hinzustellen. Gezeigt werden sollte vielmehr etwas ganz anderes. Wie einerseits die szientifische Umwelttheorie ohne die Orientierung an einem utopischen Entwurf umwelt- und sozial verträglicher Zukunftsszenarien über die Fortschreibung von bestehenden Entwicklungstrends nicht hinauskäme, so verlöre die Utopie ohne die positiven Erkenntnissse der Umweltwissenschaft ihren Bezug zur Realität: Sie bliebe bloßes Phantasieprodukt, das keine ernsthafte Aufmerksamkeit verdiente. Sicher ist aber auch, daß die Verkürzung der Antizipation von Zukunft auf eine empirisch-quantitativ verfahrende Prognostik ebenfalls eine Sackgasse darstellt. Denn was wäre für die Bewältigung der Problemlagen des 21. Jahrhunderts gewonnen, so muß abschließend gefragt werden, wenn mit der Forderung Hans Jonas' ernst gemacht würde, auf utopische Szenarien überhaupt zu verzichten? Ein solches Verdikt liefe nicht nur auf den Ausfall kommunikativer Funktionen der Utopie hinaus, "eine breite und differenzierte gesellschaftliche Diskussion über die anstehenden Probleme, über Wege zu ihrer Lösung, über hierfür gerechtfertigte Opfer und hierzu notwendige Anstrengungen in Gang zu setzen"33. Darüber hinaus müßte der Mensch, wie schon Karl Mannheim betonte, "mit dem Aufgeben der verschiedenen Gestalten der Utopie den Willen zur Geschichte und damit den Blick in die Geschichte"34 verlieren. Träte aber dieser Fall ein, so müßte die Bewältigung der Probleme des 21. Jahrhundert scheitern, noch bevor auch nur der Versuch unternommen worden wäre, ihnen durch konstruktive Antworten gewachsen zu sein.

33 Lutz 1989: S. 20. 34 Mannheim 1989: S. 20.

Reflexionen über die Zukunft der politischen Utopie*

I. Wenn man den Seismographen des Zeitgeistes trauen darf, hat die politische Utopie ihre Zukunft bereits hinter sich. Schon 1985 konstatierte Jürgen Habermas die "Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung der utopischen Energien"l. Vier Jahre später, einige Wochen nach Öffnung der DDR-Grenzen, erteilte Günter Kunert der Utopie des demokratischen Sozialismus eine schonungslose Abfuhr. Statt attraktiv für die Masse der DDR-Bevölkerung zu sein, greife "die nach vierzig Jahren Tristesse ungeduldige Mehrheit ( ... ) lieber nach dem nächstliegenden: den Bananen bei 'Aldi' ". Utopische Träume seien nichts weiter als Ausfluß des Unbehagens an der Industriezivilisation. Doch deren Mechanismen, nämlich Funktionalität, Produktivität und Konsumtion, zerrieben alle Varianten eines "Kollektiv-Ich", von dem die Utopie lebt. "Insofern kann innerhalb dieser Megamaschine, die ja deutlich den aktuellen Sozialismus sich an verwandelte, eine 'freie Assoziation freier Menschen', nichts anderes werden", so lautet sein vernichtendes Urteil, "als ein Feierabend-Club oder ein Traditionsverein, in weIchem man gemeinsam das Kommunistische Manifest liest, um sich dem Aufwachen zu entziehen."2 Und im März feierte Hans Magnus Enzensberger die von den Massen im östlichen und westlichen Teil Deutschlands spontan vollzogene Vereinigung als einen schlagenden Beweis dafür, daß es nur noch eine Möglichkeit gebe, über politische Utopien zu reden, nämlich in der literarischen Form eines "Nachtrags". Die Massen hätten sich am 9. November auf den Weg über die Grenze gemacht und die Verhältnisse in Deutschland zum Tanzen gebracht. "Mit der Gangart dieser Überläufer ist nicht das Millenium, sondern nur ein Alltag angebrochen, der ohne Propheten auskommt."3 Die Utopielosigkeit der Umwälzung in der DDR, so kann man Enzensberger interpretieren, brachte nur zutage, was allzu lange verschwiegen wurde: daß das utopische Denken keineswegs eine anthropologische Konstante

* Erstmals erschienen in: Saage, Richard (Hrsg.): Hat die politische Utopie eine Zukunft?, Darmstadt 1992. S. 152-165. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft. 1 Habermas 1985: S. 141 ff. 2 Kunert 1989: S. 33. 3 Enzensberger 1992: S. 74.

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ist. Ein spezifisches Produkt der europäischen Kultur seit der griechischen Antike, sei es zwar in andere Länder exportiert worden. Doch dieser Vorgang dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, "daß es, von der Steinzeit bis zu den amerikanischen und asiatischen Hochkulturen, Tausende von menschlichen Gesellschaften gegeben hat, die ohne Utopie ausgekommen sind. Daß ohne sie kein Leben möglich sei, ist also eine abergläubische Vorstellung". Zwar wäre es ein Vorgang von großer Tragweite, wenn sich die Europäer von der "idee fixe" der Utopie trennen sollten. Aber von einem Verlust könne nicht die Rede sein. Was einer solchen Selbstkorrektur zum Opfer fiele, "wären zuallererst die fatalsten Momente utopischen Denkens: der projektive Größenwahn, der Anspruch auf Totalität, Endgültigkeit und Neuheit"4. Es wäre falsch, würde man den realistischen Kern dieses Abgesanges auf die politische Utopie verkennen. In dem Maße, wie ihre Projektionen im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts von der gesellschaftlichen Realität eingeholt wurden, setzte zugleich ihre Entzauberung ein. Tatsächlich hat die klassische Tradition des utopischen Denkens das Profil der modernen Zivilisation mehr geprägt, als dies auf den ersten Blick der Fall zu sein scheint. So sollte, wer Campanellas Sonnenstaat als Vorläufer des Totalitarismus stigmatisiert, bedenken, daß er in gewisser Weise auch vorwegnahm, was sich in den freiheitlichen Ländern des Westens durchsetzte. "Zeitmeßgeräte und Wetterfahnen spielen eine bedeutsame Rolle in seinem Staat, Dinge, die in der Renaissance den Beginn einer zunehmenden Reglementierung im Hinblick auf Zeit, Kontrolle und angepaßtes Verhalten markieren und charakteristisch für das Zeitalter der Eisenbahnen und Fabriken sind."5 In Morus' Utopia werden die Wälder rücksichtslos abgeholzt, wenn sie den Menschen im Wege stehen. Ihr Verhältnis zur Natur ist vollkommen instrumentell, wie auch die geometrische Struktur der utopischen Stadt zeigt: Antizipation einer von technischer Zweckrationalität geprägten Architektur und Stadtplanung, die heute zum Alltag der Weltzivilisation gehört. Dem entspricht, daß die entschiedensten Apologeten der kapitalistischen Industriegesellschaft, nämlich die Vertreter des sogenannten "technokratischen Konservatismus", offen oder stillschweigend an die Prämissen des utopischen Denkens im 19. Jahrhundert anknüpfen konnten 6. In den "harten" Strukturen der hierarchisierten Arbeitswelt, charakteristisch für nicht wenige utopische Entwürfe während der industriellen Revolution, sahen sie eine "Lebensordnung", deren Herrschaftsstruktur stabiler sei als die der vorindustriellen Ständegesellschaft. Die Beendigung des Klassenkampfes im Zeichen des absoluten Vorranges der Produktionssteigerung, ein klassisches Postulat utopischen Denkens im 19. Jahrhundert, fanden sie bestätigt in der Sozialpartnerschaft der hochindustriali-

4 A. a. 0 .• S. 69. 5 GlIstafssOIl 1985: S. 286. 6 Vgl. Saage 1991 a.

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sierten Länder des Westens nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Erkenntnis der Utopisten, daß infolge der immer komplexer werdenden Arbeitsteilung jeder von jedem auf einer sich stets erweiternden Stufenleiter in zunehmendem Maße abhängig werde, glaubten sie in der Herausbildung von "Sachzwängen" und soziotechnischen "Superstrukturen" eingelöst, die dem einzelnen als unentrinnbares Schicksal entgegentreten. System übergreifend prägte dieses utopische Muster technokratischer Einheitsstiftung der sozialen Prozesse auch die Gesellschaftsordnungen des sowjetischen Typs: Sie standen gleichfalls im Banne der Erwartungen grenzenlosen quantitativen Wirtschaftswachstums und eines ungebrochenen Vertrauens in die universalen Möglichkeiten der Technik, von denen die Utopisten des 19. Jahrhunderts die Lösung aller Emanzipationsprobleme erwarteten. Aber sie kamen den klassischen Positionen der von Platon und Morus ausgehenden Linie des utopischen Denkens in einer entscheidenden Hinsicht näher als die kapitalistischen Länder des Westens. Zwar forderte Friedrich Engels bekanntlich einen Verzicht auf "Garküche für die Zubereitung der Zukunft". Doch setzten sich innerhalb der marxistischen Tradition insbesondere die Bolschewiki am entschiedensten über dieses antiutopische Bilderverbot hinweg. Dieser Tendenz hat Johannes R. Becher emphatisch Ausdruck verliehen, als er 1942 schrieb: "Der Sowjetunion verdanke ich das, ( ... ) was ich dem Leben verdanke: einem überhöhten Leben. Vita Nuova, das andere oder das Neue Leben, von dem alle Dichter aller Zeiten geträumt haben, die Ankunft des 'Reiches der Menschen', Grundriß und Baustätte eines anbrechenden Menschenzeitalters nach Jahrtausenden Götterherrschaft und Götterdämmerung, die zeitgemäße Verwirklichung des Vernunftstaates Platos, des Sonnenstaates eines Campanellas, des Traums vom 'Vollendeten Menschen' oder der 'Utopia' eines Thomas Morus."7 Bechers zur Farce geratener "Gruß eines deutschen Dichters an die Sowjetunion" vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, daß ihm eine zutreffende Prämisse zugrunde liegt. Sowohl die Gesellschaftsordnungen des sowjetischen Typs als auch die klassische Utopietradition gingen von der Annahme aus, daß das ideale Gemeinwesen nur dann zu verwirklichen ist, wenn die Politik gegenüber der Wirtschaft, die bürokratische Bevormundung und die Parteidisziplin gegenüber den individuellen Bürger- und Menschenrechten, die kollektive Planbarkeit gegenüber persönlicher Spontanität und Kreativität, die Überwachung und Bevormundung der einzelnen gegenüber ihrem Recht auf Selbstbestimmung und das Prinzip der Abschottung nach außen, eindrucksvoll symbolisiert durch den "Eisernen Vorhang", gegenüber der ungehinderten Bewegungsfreiheit eindeutig dominieren. Andere übereinstimmende Strukturmerkmale kommen hinzu. Die kommunistische Partei, die das Wahrheits- und Politikmonopol für sich bean7 Zit. n. Lukacs/Becher/Wolf 1991: S. 25. Den Hinweis auf das Becher-Zitat verdanke ich Frank Fahlke.

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sprucht, hat ihr utopisches Vorbild in den Philosophen der platonischen "Politeia" und den diesen nachgebildeten Eliten der frühneuzeitlichen Utopien. Diese selbstemannte "Avantgarde der Arbeiterklasse" - als der eigentliche Träger des historischen Fortschritts - begründet ihren Herrschaftsanspruch nicht demokratisch, sondern wie die Utopisten seit der Mitte des 18. Jahrhunderts geschichtsphilosophisch. Und schließlich ist die Vision des "Neuen Menschen" zu nennen, die zum Kernbestand der klassischen Utopietradition gehört. Auf sie rekurrierte Trotzki, als er 1924 schrieb, im vollendeten Sozialismus erhebe sich der gewöhnliche Mensch auf die Höhe eines Aristoteles, Goethe und Marx 8. Warum ist aber nun mit dem Zusammenbruch der Gesellschaftsordnungen des sowjetischen Typs in Europa diese etatistisch-autoritäre Linie des utopischen Denkens an ihr Ende gekommen? Abgesehen von vielen historisch kontingenten Ursachen außen- und innenpolitischer Art, die hier nicht weiter diskutiert werden können, gibt es Erklärungsmuster, die in der autoritären Sozialutopie selber verankert sind. Ich möchte drei Aspekte nennen: I. Ein System, das einer kleinen Elite das Wahrheits- und Politikmonopol zugesteht, ist unfähig, auf neue Herausforderungen innovativ zu reagieren, weil neue Lehren und Einsichten oft von Minoritäten außerhalb des herrschenden Machtapparates artikuliert werden. 2. Wenn die individuellen Menschen- und Bürgerrechte unterdrückt sind, müssen die Talente von Millionen verkümmern. Die Folge ist kulturelle, wissenschaftliche und vor allem wirtschaftliche Stagnation, die exemplarisch in der ehemaligen Sowjetunion beobachtet werden kann. 3. Eine Gesellschaft, die auf der Bevormundung der großen Masse der Bevölkerung beruht und die individuelle Freiheit durch einen gigantischen Überwachungsapparat zerstört, delegitimiert ihre politische Herrschaft. In dem Augenblick, in dem er durch Massenaktionen auch nur vorübergehend überrollt wird, bricht das Gesamtsystem zusammen, wie die Umstürze der Jahre 1989 und 1991 gezeigt haben.

11. Kein Zweifel: Das Ende des autoritär-etatistischen Musters der klassichen Utopietradition ist unwiderruflich. Selbst wenn es zur Errichtung von Diktaturen kommen sollte, die erneut in den Schatten von Campanellas Sonnenstaat eintauchen, so ist doch gewiß, daß es ihnen nicht mehr gelingen wird, was das utopische Denken stets auch auszeichnete: so etwas wie Hoffnung zu vermitteln. Andererseits ist, so meine These, mit dem Zusammenbruch des realen Staatssozialismus in Europa nicht das utopische Denken als ganzes diskreditiert, weil der Problemdruck, der seit Morus in der Neuzeit Utopien hervorbrachte,

8 Trofzki 1968: S. 215.

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weiter besteht. Ich meine nämlich. daß es falsch ist. Utopien immer nur mit idealen Gemeinwesen oder zukünftigen Schreckens visionen gleichzusetzen und sie ausschließlich unter diesem Aspekt zu sehen. Ebenso wichtig wie der utopische Entwurf selbst scheint mir der sozialpolitische Anlaß zu sein. der sie ausgelöst hat. Zwar konstruktiv in dem Sinne. daß sie mit Hilfe der säkularisierten Vernunft Gegenwelten entwerfen. sind politische Utopien immer auch Phänomene des Reagierens: Sie antworten nämlich seit Morus auf erkennbare Fehlentwicklungen und Krisen des gesellschaftlichen und heute sogar globalen Kontextes. innerhalb dessen sie entstanden sind9 . Die Utopisten der Renaissance und der Aufklärung reagierten auf die Willkür des absolutistischen Staates. auf die Privilegien der Ständegesellschaft sowie auf die von Feudalismus und Frühkapitalismus betriebene Ausbeutung der menschlichen Arbeit. Die Utopien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind konstruktive Antworten auf das von der Industriellen Revolution hervorgerufene soziale Elend. Die sogenannten "schwarzen" Utopien begreifen sich als Warnung vor den totalitären Systemen und Tendenzen in Ost und West seit Beginn der 20er Jahre. Der neuere Utopiediskurs nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt entscheidende Impulse von der zunehmenden Zerstörung der natürlichen Lebensbedingungen der Menschheit durch die naturwissenschaftlich-technische Entwicklung, den Industrialismus mit seinem Massenkonsum in den hochentwickelten Ländern des Nordens, der die Verelendung des Südens zumindest billigend in Kauf nimmt, sowie die noch immer bestehende Unterdrückung der Frau. Dies vorausgesetzt, könnte man, zugespitzt formuliert, sagen, der Problemdruck, der seit Morus Utopien provoziert, besteht weiter fort. Aber seine Qualität hat sich aufgrund seiner Globalisierung selbst noch im Vergleich zu den ersten Jahrzehnten ds 20. Jahrhunderts so verändert, daß die Lösungen der klassischen Tradition, insbesondere die Entwürfe des 19. Jahrhunderts, ihm nicht mehr gewachsen sind. Das utopische Denken heute steht also unter dem Zwang, ein neues Profil zu gewinnen. Doch worin besteht dessen Unverwechselbarkeit? Die überholten Utopieelemente sind bereits genannt worden: Ihr Scheitern kündigte sich lange vor dem Zusammenbruch der Herrschaftssyteme des sowjetischen Typs an. M.l. Finley hat schon 1967 darauf hingewiesen, daß sich das utopische Denken nur noch dann aus seiner Lähmung befreien könne, wenn es mit seiner Vergangenheit breche und sich auf die neuen Bedürfnisse der Menschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einlasse lO • Diese Forderung ist unterdessen - jedenfalls zum Teil - eingelöst worden. Die tiefgreifenden Revisionen des ursprünglichen utopischen Musters, die die Entwürfe von Skinners

9 Vgl. Saage 1991. 10 Fintey

1967: S. 20 f.

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"WaIden Two"ll, Huxleys "Island"12, Le Guins "The Dispossessed"l3, und Callenbachs "Ecotopia"14 bewirkten, habe ich mit dem Adjektiv "postmateriell" gekennzeichnet. Wie ich meine, gehen sie bei allen Unterschieden in der Ausmalung alternativer Zukünfte von einer Reihe gemeinsamer Strukturmerkmale aus, die eine solche Charakterisierung rechtfertigen. Zunächst kommt es ihnen auf eine weitgehende Dezentralisierung der politischen und wirtschaftlichen Institutionen an, um die Teilhabe aller an der Gestaltung des Gemeinwesens zu erweitern. Sodann werden Wissenschaft und Technik von den Zwängen des ungehemmten Wirtschafts wachstums abgekoppelt. Man fördert sie lediglich selektiv, und das auch nur dann, wenn sie vereinbar sind mit den natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen. Außerdem wird die körperliche Arbeit in einem Maße aufgewertet, daß sie zumindest der geistigen Tätigkeit ebenbürtig erscheint. Zugleich beginnt sich die strikte Trennung zwischen Arbeit und Muße aufzulösen. An die Stelle Disziplin erzwingender Hierarchien der Arbeit treten Konzepte selbstbestimmter Tätigkeit. Ferner ist eine Tendenz zum Konsumverzicht zu erkennen. Der Vorrang des Verbrauchs materieller Güter wird durch die Aufwertung sexueller und künstlerischer Bedürfnisse ersetzt. Auch erlangt die Emanzipation der Frau eine größere Bedeutung, als dies in der klassischen Utopie der Fall gewesen ist. Und nicht zuletzt distanzieren sich die postmateriellen Entwürfe von einem geschichtsphilosophisch fundierten Fortschrittsglauben genau in dem Umfang, wie sie dessen materiellem Substrat, der mit technischen Mitteln vorangetriebenen Naturbeherrschung, mit Skepsis begegnen. Die Schwachstellen der postmateriellen Utopie aus politologischer Sicht sind rasch benannt. Deren Konstrukte wollen, wie gezeigt, durch eine radikale Dezentralisierung der Institutionen auf allen Ebenen der Gesellschaft eine möglichst direkte Teilhabe der Bürger am politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsprozeß ermöglichen. Aber nichts deutet darauf hin, daß eine Massengesellschaft, vom Weltmarkt abgekoppelt, z.B. ohne großindustrielle Komplexe mit zentralisierten "Superstrukturen" überlebensfähig ist. Auch bleibt unklar, wie das postmaterielle Utopiekonzept angesichts der schichtenübergreifenden Hegemonie besitzindividualistischer Motivationen mehrheitsfähig werden kann. Andererseits ist ebenso klar, daß es falsch wäre, sie als bloße "Fluchtutopien" abzutun. Ihre zukunftsfähigen Elemente haben längst die esoterische Exklusivität literarischer "Fluchtburgen" hinter sich gelassen, wie der 1991 an den "Club of Rome" gerichtete und von ihm autorisierte Bericht "Die globale Revolution" 15

11 Skinner 1976.

12 Huxlev 1988. 13 Le Guln 1988. 14 Callenbach 1982.

15 Die globale Revolution. Club of Rome - Bericht 1991, hrsg. vom SpiegelVerlag Rudolf Augstein. Hamburg 1991. Die Belegstelle wird im Text nach dem

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unübersehbar zeigt. Jeder weiß, daß es sich bei dessen Autoren und Mitgliedern nicht um Schriftsteller handelt, die durch eine ästhetisierende "Reduktion von Komplexität" dem individuellen Harmoniebedürfnis des Lesers entgegenzukommen suchen. Wir haben es vielmehr mit anerkannten Wissenschaftlern, Wirtschaftsexperten und Politikern zu tun, die seit 1968 über die prekäre Lage der Menschheit nachdenken. Ihr Ziel ist nicht die Schaffung literarischer Traumwelten, die lediglich der Kompensation kollektiver Ängste dienen. Ihnen geht es vielmehr darum, die globale Betrachtungsweise einer Welt, in der die Abhängigkeit der Nationen und Staaten untereinander immer mehr wächst, mit einer Analyse der Wechselwirkungen politischer, sozialer, wissenschaftlicher, kultureller, psychischer, technischer und ökologischer Probleme zu verbinden. Zugleich soll aus diesen Erkenntnissen eine "Weltlösungsstrategie" entwickelt werden, um Mittel und Wege aufzuzeigen, die vielleicht zum Überleben der Menschheit beitragen können. Erscheint es überhaupt möglich, die Mitglieder des "Club of Rome", die Richard von Weizsäcker "das Gewissen der Menschheit" genannt hat, mit dem Utopiediskurs in Verbindung zu bringen? Wer den "Bericht" gelesen hat, wird kaum bestreiten können, daß diese Frage zu bejahen ist. Ihre Verfasser teilen nämlich mit den utopischen Schriftstellern die Prämisse, daß die Welt, wie sie ist, in ihrer bloßen Faktizität nicht fortgeschrieben werden darf. Dem entspricht die gemeinsame Überzeugung, daß die Zukunft prinzipeIl offen ist. Die Menschen müssen also selber entscheiden, was sie unter einem "guten Leben" verstehen und wie sie es erreichen wollen. Mit den großen Utopisten sind sich die Verfasser des "Berichts" darüber im klaren, daß eine bloße Extrapolation bestehender Trends keine realistische Antwort auf die Probleme der Gegenwart zu geben vermag (S. 11). Sie fordern ausdrücklich "eine Vision der Welt, in der wir gerne leben wollen" (S. IOf., 65). An einer Stelle bekennen sie sich sogar ausdrücklich zu deren "utopischer" Qualität (S.33). Zugleich bestätigen sie eine weitere fundamentale Bedingung des utopischen Diskurses. Wenn die Zukunft gestaltbar ist, dann muß es Denk- und Phantasiesphären geben, die vom unmittelbaren Druck politischer und gesellschaftlicher Verantwortung oder Interessendurchsetzung entlastet sind: Erst unter dieser Voraussetzung erscheint es möglich, Zukunftsszenarien zu entwerfen, die mehr sind als die bloße Verlängerung der gegenwärtigen Verhältnisse 16. Diese Überzeugung gehört zum Kern des Selbstverständnisses des "Club of Rome". Erst dadurch, daß "seine Mitglieder (.. ) eine Vielfalt von Kulturen, Ideologien, Berufen und Wissenschaftszweigen (repräsentieren)" (S. 6), schafft er sich die Freiräume, die sich der unmittelbaren politischen Instrumentalisierung entziehen. Und schließlich setzen die Verfasser

jeweiligen Zitat angegeben. Die Quelle selbst wird im folgenden "Bericht" genannt, die Seitenzahlen sind im Text angegeben. 16 Vgl. Bermbach 1992.

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auf eine Ressource, die seit Morus die Bedingung der Möglichkeit der utopischen Alternative gewesen ist: Nicht zufällig verstehen sie ihren "Bericht" als einen "Aufruf zu weltweiter Solidarität" (S. 128), und sie lassen auch erkennen, daß er nur dann eine Chance hat, befolgt zu werden, wenn er auf Menschen trifft, die an der säkularisierten Vernunft als ihrer letzten Orientierungsinstanz festhalten.

IH. Sind dergestalt wichtige Überlegungen des "Berichts" mit dem formalen Muster der neuzeitlichen Utopie erkennbar, so ist zugleich doch auch klar, daß er mit einer Reihe von Grundannahmen der autoritär-etatistischen Linie des utopischen Diskurses seit Morus bricht. Dessen inneres Gefüge war dadurch bestimmt, daß die Solidarität als Ausfluß einer kollektiven Vernunft interpretiert wurde, die nicht oder nur unzureichend den Ausgleich mit den unverzichtbaren Rechten der einzelnen anstrebte. In der Übereinstimmung mit den postmateriellen Utopieentwürfen fordern demgegenüber die Verfasser des "Berichts" eine Form von Solidarität, die das wohlverstandene Eigeninteresse des einzelnen nicht auslöscht, sondern von ihm ausgeht: Es gelte, den Egoismus zu einem mächtigen Verbündeten der Solidarität zu machen. Dieses Ziel könne erreicht werden, weil es heute nicht nur um das eigene Überleben, sondern auch um das unserer Kinder und Enkel gehe (S.129). Aber selbst die aus einer so verstandenen Solidarität folgenden universellen Werte brechen mit dem antiindividualistischen Homogenitätsideal der klassischen Utopietradition; sie umfassen nicht nur Freiheit, sondern auch individuelle Menschenrechte und persönliche Verantwortlichkeit (S.124). Gleichzeitig wird dem Korrelat des utopischen Antiindividualismus, dem nivellierenden Egalitarismus, eine Absage erteilt (S. 33 f.). Doch nicht nur die normativen Grundlagen des "Berichts" nähern sich der postmateriellen Orientierung des gegenwärtigen Utopiediskurses an. Auch wichtige inhaltliche Strukturelemente seines Gegenszenarios konvergieren mit ihm. Viele (wenn auch nicht alle) klassische Utopisten glaubten, materielle Not und Ausbeutung vor allem dadurch beenden zu können, daß der Markt durch eine zentralisierte Planwirtschaft ersetzt wird, die Produktion und Distribution gleichsam "von oben" regelt. Demgegenüber geht der "Bericht" von dem breitgefächerten Konsens aus, daß auf die Effektivität des Marktes als einer sozialen Institution, die die menschlichen Produktivkräfte zur Deckung menschlicher Bedürfnisse organisiert, nicht verzichtet werden kann (S.16): Seine Wichtigkeit für die Erhaltung ökonomischer Vitalität und Innovationsfähigkeit steht außer Frage (S.33). Aber zugleich betonen seine Verfasser wie alle Utopisten die Grenzen des Marktes. Auf kurzfristige Bedürfnisbefriedigung bzw. Gewinnmaximierung fixiert, könnten seine Mechanismen keine langfristigen Interessen vertreten (S.14, 30), bei denen es um Energie, Umwelt, Grundlagenforschung

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und Fairneß gehe (S.16). Zudem sei er auf die Perspektive unbegrenzten wirtschaftlichen Wachstums festgelegt, das entscheidend die kontraproduktiven Wirkungen mithervorgebracht habe. die es zu bekämpfen gelte (S.l20). In einem Wirtschaftssystem. so der "Bericht", "dessen Motoren die Stimulierung des Konsums beim Verbraucher und die Verfügbarkeit von Krediten sind", bestehe "nach wie vor die allgemeine Erwartung. daß Reichtum und materieller Besitz weiter zunehmen werden" (S.120). Mit einem Wort: Die Autoren plädieren nicht für eine Abschaffung der Marktökonomie, wohl aber für deren normative Begrenzung. Anknüpfend an Antitrust- und Antidumpinggesetze, Preisbindungsabkommen, Kontrollen im Kreditwesen sowie an einen bestimmten, von der Geschäftswelt akzeptierten Verhaltenskodex, fordern sie für die Unternehmen "klar erkennbare ethische Normen (... ). wie die Gesellschaft sie verlangt, Normen, mit denen auch die Industrie leben kann, wenngleich mit Einschränkungen" (S.128). Aber der "Bericht" zeigt nicht nur die "Grenzen des Marktes" bei der Bewältigung der globalen Probleme der Menschheit auf. Er stimmt auch, fast wichtiger noch, mit der Neubewertung der für den utopischen Diskurs so zentralen Triade "Technik und Wissenschaft", "Arbeit" und "Bedürfnisse" überein, wie sie in den postmateriellen Utopien nach dem Zweiten Weltkrieg vorgenommen wurde. Ganz in diesem Sinne sehen die Verfasser des "Berichts" "das dringende Gebot der Stunde zu versuchen, die Technik auf den Menschen zu beziehen und so auszurichten. daß sie zum allgemeinen und dauernden Wohl aller Völker der heutigen wie der kommenden Generationen beiträgt und sich einem ganzheitlichen. globalen, ja kosmischen Verständnis unterordnet" (S.12\). So ergibt sich für sie aus dem rapiden Anstieg der CO2- Konzentration und den aus dem Treibhauseffekt folgenden Gefahren, die vom Austrocknen der Böden in den Kornkammern der Ukraine und des amerikanischen Mittleren Westens bis zum Anstieg des Meeresspiegels reichen, ein eindeutiger Primat innerhalb der Technologieförderung: "Die sparsamere und effizientere Nutzung von Energie und die Erschließung sanfter Energiequellen sind Aufgaben, die unverzüglich angegangen werden müssen, wenn die Störung der Industrieproduktion und individuelle Not vermieden werden sollen" (S.36). Zugleich stimmt der "Bericht" mit dem neuen Utopiediskurs überein, was die Neubewertung der Arbeitswelt betrifft. Die Organisation der fremdbestimmten Arbeit nach dem Vorbild militärischer Disziplin und hierarchisierter Befehlsinstanzen, von der große Utopisten wie Campanella, Fourier, Saint-Simon oder Bellamy fasziniert waren, werden abgelöst durch Konzepte selbstbestimmter Tätigkeit. Die aus der Automatisierung der Fabrik- und Büroarbeit folgenden Probleme wie Langzeitarbeitslosigkeit könnten nur durch eine gleichmäßige Verteilung der Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung gelöst werden. Bei kürzerer Arbeitszeit für alle ergebe sich die Chance, "Maßnahmen zur Schaffung gesellschaftlich erwünschter Beschäftigungen auf freiwilliger Basis" (S.47) zu ergrei-

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fen. Kann aber der größere Freizeitanteil schöpferisch und befriedigend genutzt werden, so sehen die Verfasser des "Berichts" für die industrielle Welt "ein goldenes Zeitalter heranbrechen, in dem die Maschinen für uns arbeiten, anstatt uns zu beherrschen" (S.47). Und schließlich ist die Tendenz zum Konsumverzicht eine entscheidende Säule des Zukunftsszenarios, das der "Bericht" mit dem neueren Utopiediskurs teilt. Eine tragfähige Weltgesellschaft der Zukunft sei nur um den Preis zu haben, daß wir "den verschwenderischen Lebensstil der Industrieländer ändern - und den Konsum drosseln - Änderungen, die uns vielleicht sowieso aufgrund der Erfordernisse des Umweltschutzes aufgezwungen würden" (S.128). Auch wenn die Verfasser nicht für Nullwachstum optieren - der Süden brauche quantitatives, der Norden qualitatives Wachstum -, so könne auf Dauer nicht hingenommen weren, daß der durchschnittliche Rohstoff- und Energieverbrauch im Norden pro Kopf etwa 40mal höher als in den unentwickelten Ländern des Südens, im Extremfall sogar noch ungünstiger als hundert zu eins, ist. "Dieses Mißverhältnis spiegelt nicht nur eine soziale Ungerechtigkeit wider, es läßt auch ahnen, in welchem Maße die Ausbeutung der Natur perfektioniert wurde", vor allem dann, wenn man den individuellen Konsum ergänzt durch "die kriminelle Verschwendung von menschlichen, materiellen und Energieressourcen für militärische Zwecke" (S.33). Nicht nur das "System der Bedürfnisse" und sein Korrelat, Technik und Arbeit, entsprechen der Fiktion des postmateriellen Utopieansatzes. Auch das politische System, das ihm zugeordnet wird, bleibt ihm in wesentlichen Strukturmerkmalen verhaftet. Tatsächlich zieht sich durch die utopische Tradition der Neuzeit spätestens seit dem 19. Jahrhundert die Kritik an der parlamentarischen Demokratie wie ein roter Faden. An ihm scheinen die Verfasser des "Berichts" anzuknüpfen, wenn sie ihre Skepsis äußern, ob die repräsentative Demokratie in der Lage ist, die globalen Fehlentwicklungen wirkungsvoll zu korrigieren. Regierungen, so lautet die Kritik, die unter dem Druck der nächsten Wahlen zu handeln hätten, konzentrieren sich auf unmittelbar anstehende Probleme. Sie ließen Angelegenheiten außer acht, die ihnen weniger dringlich erscheinen, oft aber eine grundSätzliche Bedeutung hätten (S.14). "In ihrer heute praktizierten Form", so heißt es, "ist die Demokratie für die vor uns liegenden Aufgaben nicht mehr besonders gut geeignet. Die Komplexität und die technische Natur vieler heutiger Probleme gestatten es nicht, daß gewählte Volksvertreter zur rechten Zeit kompetente Entscheidungen treffen" (S.69). Nicht im Parlament, sondern im Radio und Fernsehen fänden im allgemeinen die sachkundigen Diskussionen über die wichtigsten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme statt (S. 69). Das Interesse der Parteien an ihrem Machterhalt entwickele zudem eine solche Eigendynamik, daß der Abstand zwischen der öffentlichen Meinung und den gewählten Volksvertretern ständig wachse. Wir müßten uns bewußt sein, "daß die Demokratie ausgehöhlt ist und daß sie Grenzen hat" (S.

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69). Kurz: Die Antwort auf die Frage, ob die neue Welt, in der wir uns vorfinden, überhaupt regierbar ist, lautet: "Wahrscheinlich nicht mit den derzeit vorhandenen Strukturen und Einstellungen" (S.70). Liefert angesichts der globalen Bedrohung der Menschheit eine solche Kritik nicht die Legitimation für die Wiederkehr eines utopischen Staates, wie Campanella ihn als die beste Alternative zum bestehenden Status quo empfehlen zu können glaubte? Rechtfertigt sie nicht einen utopischen Leviathan, der im Namen der Überlebensbedingungen der Menschheit eine eiserne Diktatur über die individuellen Bedürfnisse ausübt? Es ist chrakteristisch, daß der "Bericht" eine solche Alternative gerade ausschließt. Wie die klassischen postmateriellen Utopien setzen seine Verfasser vielmehr auf eine weitgehende Dezentralisierung des politischen Systems. "In der gegenwärtig entstehenden Welt", so heißt es, kann die Entscheidungsgewalt nicht länger das Monopol von Regierungen und Ministerien sein, die obendrein noch in einem Vakuum arbeiten." Viele Partner müßten in diesen Prozeß einbezogen werden: Handel und Industrie, Forschungsinstitute, Wissenschaftler, nichtstaatliche Einrichtungen und private Organisationen (S.104). Dieser pluralismustheoretische Ansatz aber wird durch ein fundamentaldemokratisches Korrektiv ergänzt, das sich längst als ein zentrales Merkmal des postmateriellen Utopiediskurses herausgestellt hat. Eine dynamische Welt, so der "Bericht", benötige "ein empfindsames Nervensystem an der Basis, nicht nur um eine möglichst breite Streuung des Inputs sicherzustellen, sondern um die Identifizierung aller Bürger mit dem gemeinsamen Prozeß der Gouvernanz zu ermöglichen" (S. 105). Vor allem aber nähert sich der Geltungsanspruch, den die Verfasser des "Berichts" mit der "Vision einer Welt, in der wir gerne leben wollen", verbinden, dem des postmateriellen Utopiediskurses weitgehend an. Deren mögliche Verwirklichung wird nicht von einer geschichtsphilosophischen Konstruktion erwartet: An die Stelle des Rekurses auf eine "historische Notwendigkeit" tritt der schlichte Appell an das existentielle Interesse der Menschheit, das eigene Überleben sichern zu wollen. Und auch die Vision jener "Weltgesellschaft" selbst, in der die bedrohlichen globalen Fehlentwicklungen der Gegenwart korrigiert sein werden, ist offen: Sie hat den Status eines regulativen Prinzips, nicht eines geschlossenen Systems, das das zukünftige Leben bis in alle Einzelheiten festlegt. In gewisser Weise geht der "Bericht" sogar über den Horizont der postmateriellen Utopie hinaus; er ist, wenn man so will, in einer bestimmten Hinsicht utopischer als diese. In den fiktiven Entwürfen bei Huxley, Callenbach und Le Guin finden sich nämlich Elemente, die dem utopischen Denken fremd sind, weil sie auf Naturmythologien oder religiöse Ganzheitsvorstellungen verweisen. In Huxleys "Island"-Utopie wird das anti individualistische Harmonieideal der europäischen Utopietradition in einer entscheidenden Weise modifiziert: Dessen normative Stoßrichtung, der säkularisierten Vernunft verpflichtet, wird durch das Ideal transzendenter Ganzheitserfahrung ersetzt, deren mystische,

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vom Buddhismus inspirierte Überhöhung definitiv mit dem Rationalismus des aufgeklärten Denkens seit der Frühen Neuzeit bricht. In Callenbachs "Ecotopia" folgt die religiöse Stimmung der einzelnen aus ihrem engen Verhältnis zur Natur: Sie wird, indianischen Riten nachempfunden, in kleinen Weihestätten, die über das ganze Land verstreut sind, verehrt. In letzter Instanz ist das Ich nichts andereres als das Derivat eines ganzheitlichen Natunnythos, aus dem es hervorgegangen ist und in das es zurückkehrt. Eine ähnliche Orientierung findet sich auch in Le Guins "The Dispossessed". In dem Maße, wie die Descartesche Subjekt-Objekt-Trennung zugunsten eines ganzheitlichen Naturbegriffes, der den Menschen mitumfaßt, aufgegeben wird, scheint dem selbstverantwortlichen Ich als autonomer Vernunftträger der Boden entzogen zu sein. "Es gibt Seelen", läßt Le Guin den Helden ihres utopischen Romans sagen, "deren Nabelschnur nicht durchschnitten wurde. Sie werden nie vom Universum getrennt. Im Tod sehen sie keinen Feind, sondern sie freuen sich geradezu darauf zu verfaulen, damit neues Leben aus ihnen wuchs."17 Demgegenüber verlassen die Überlegungen und Visionen des "Berichts" die Sphäre des rational Nachvollziehbaren an keiner Stelle. Vereinfacht fonnuliert ließe sich sagen, daß er anstrebt, was die Zukunft der politischen Utopie erst wahrscheinlich macht: nämlich im Medium der säkularisierten Vernunft und mit deren Mitteln Lösungsstrategien für eine Welt einzuklagen, die nach wie vor vom nuklearen Holocaust, von Umweltzerstörungen globalen Ausmaßes, von der Ausbeutung nichterneuerbarer Rohstoffe, von Nahrungsmittelmangel, von der Dominanz irrationaler Herrschaftsstrukturen in Gestalt eines neuen Nationalismus und religiösen Fundamentalismus sowie einer ungehemmten Bevölkerungsexplosion in den unentwickelten Ländern des Südens bedroht ist.

17 Le Guin 1988: S. 158. 13 Saage

Bemerkungen zu Paolo Flores d'Arcais' "Philosophie und Engagement"*

Paolo Flores d'Arcais hat in seinem Artikel einen wichtigen Beitrag zur Diagnose der geistigen Situation unserer Zeit vorgelegt, der ihm zugleich als analytische Folie dient: Sie soll verdeutlichen helfen, mit welcher Therapie auf die von ihm aufgezeigten intellektuellen Fehlentwicklungen zu antworten ist, wenn am Erbe der Aufklärung, nämlich, um mit Kant zu sprechen, dem "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit", festgehalten wird. In den ersten beiden Teilen dieser Entgegnung werde ich versuchen, die zeitdiagnostischen Überlegungen des Autors ebenso nachzuzeichnen wie die Alternativen, die er ihnen gegenüberstellt. Zum Schluß stelle ich dann einige Überlegungen an, inwieweit die Antworten Flores d'Arcais' geeignet erscheinen, Wege aus der Krise der Modeme aufzuzeigen.

I. Wie charakterisiert der italienische Philosoph das Profil des gegen die Aufklärung gerichteten Zeitgeistes? Wie lassen sich die Sackgassen kennzeichnen, deren Betreten ihm zufolge mit dem Preis der Regression hinter erreichte Standards einer aufgeklärten Zivilisation zu bezahlen ist? Er nennt vor allem die folgenden Trends: I. Zunächst warnt er vor der Versuchung, "noch einmal ausgetretene Wege der Vergangenheit zu beschreiten". Er meint damit alle überindividuellen Welterklärungsmuster, die mit dem "maßlosen Anspruch" auftreten, "in der Zeit die universale Ordnung zu verwirklichen": Sie reichen offenbar von der HegeIschen Geschichtsphilosophie über den Marxismus in seinen verschiedenen Brechungen und Strömungen bis hin zur Modernisierungstheorie. Alle diese Großparadigmen und die von ihnen legitimierten Transformationsstrategien seien nichts anderes als die vergebliche Anstrengung, "Gott unter anderem Namen zu buchstabieren". Historisch gescheitert, so der Autor, "tragen sie nicht mehr". Dennoch

* Erstmals erschienen in: Frankfurter Rundschau, 16.04. I996, Nr. 89. S. 10. Das Manuskript wurde überarbeitet und erweitert. Die Zitate aus diesem Artikel werden im folgenden nicht weiter belegt.

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stellten sie eine Gefahr dar, weil sie der immer noch virulenten "Sehnsucht nach Gewißheiten" entgegenkommen. 2. Die Gefahr des despotischen Herrschaftsanspruchs geschichtsphilosophisch begründeter Evolutionsmuster, so müssen wir Flores d'Arcais interpretieren, wird heute freilich nach dem Zusammenbruch der Herrschaftsordnungen des sowjetischen Typs in Europa durch eine andere Variante regressiven Denkens überlagert: Es ist die Deutung der Gegenwart in Kategorien kollektiver Identitäten. Das präpotente "Wir" sei im Begriff, sich die Kultur zu unterwerfen. Sein hegemonialer Anspruch reiche "von der Rasse über den Glauben, das Geschlecht oder das Vaterland bis hin zu städtischen Jugendgangs". In dem Maße, wie sich dieses "Wir" im Gegensatz zu den Anderen definiere, stärke es den Fanatismus der Gruppenidentität, jede Abweichung nach innen ausschließend. Die praktischen Folgen dieses Ansatzes seien unausweichlich: Sie bereiteten nicht nur dem "revanchistischen Siegeszug von Blut und Boden" sowie Aberglauben und Dogmen, sondern auch den ethnischen Säuberungen und den mit ihnen verbundenen Massakern sowie dem drohenden Dschijhad gegen die Ungläubigen den Weg. 3. Holistische Evolutionsmodelle und das Denken in Kategorien kollektiver Identitäten vereint in der Zeitdiagnose Flores d'Arcais' der Anspruch auf die "Eine Wahrheit". Im Zeichen eines solchen monistischen Wahrheitsbegriffs werde eine angeblich verwirklichte Aufklärung als Ursache und Quelle aller Übel angeklagt. Wenn so ins Kreuzfeuer der Kritik nicht ihre unausgeschöpften Möglichkeiten, sondern vor allem die Idee einer Religion der Vernunft sowie des Fortschritts gerieten, so stehe in Wirklichkeit das unverzichtbare Erbe der Aufklärung selbst zu Disposition: Die häretische Einstellung gegen die kirchlichen Dogmen; die kritische Freigeisterei, ohne die es eine freie Meinungsäußerung nicht gäbe; die Erkenntnis, daß wir mit der Ungewißheit leben müssen, immer nur Aspekte der Wahrheit erkennen zu können und schließlich die Einsicht, daß Gesellschaft und Staat Kunstprodukte der Menschen sind, für die sie in letzter Instanz selbst verantwortlich zeichnen. 4. Vor allem aber sieht Flores d'Arcais die Instanz bedroht, von der einst die AufKlärung ihren Ausgang nahm: das autonome Ich, das sich, als es in der Frühen Neuzeit die historische Bühne betrat, von allen traditionalen Bindungen befreite und seine Würde darin sah, nur Normen zu gehorchen, die es sich selbst gab. Es steht gewissermaßen im Zangengriff der unter den Punkten I bis 3 genannten Tendenzen finaler Evolutionsmodelle, homogener Wir-Identitäten und entsprechender monistischer Wahrheitsbegriffe. Gegen diese aus dem Geist der Aufklärung geborene Idee des säkularisierten Individuums habe sich eine Heilige Allianz formiert, die, wenn auch in sich brüchig, die unterschiedlichsten geistigen Strömungen der alten wie der neuen und sogar der dritten Welt auf einen Nenner zu bringen suche: die pauschale Kritik an der Moderne. Von ihrer Ablehnung lebten die "schrillen Töne der Dschijhad in den Bidonvilles der Enterb13'

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ten" ebenso wie die "erbaulichen Aufforderungen, dem Nachfolger Petrus Gefolgschaft zu leisten".

11. Ohne Frage ist diese Zeitdiagnose mit der Alternative verklammert, die Flores d'Arcais als Ausweg aus der Krise der Moderne empfehlen zu können glaubt. Es gehe darum, für die Instanz Partei zu ergreifen, die auf dem Altar des Zeitgeistes geopfert zu werden droht: für das "wirkliche Individuum" in seiner "einzigartigen und unwiederholbaren Existenz". Dieses so verstandene "Ich" ist durch zwei Eigenschaften gekennzeichnet: Es ist keine Substanz, die zu einer statischen Apriorität geronnen wäre, sondern Ausfluß eines durch permanentes Engagement einzulösenden Entwurfs. Und es ist in seiner Fragilität erst dann konsolidiert, wenn es von dem einzelnen selbst, aber auch sozial, d.h. kulturell, institutionell und psychologisch, anerkannt worden ist. Dergestalt ein Du für den anderen, eröffnet sich für das Individuum erst die Chance, vom kollektiven Wir in seinen verschiedenen Spielarten nicht zerrieben zu werden. Doch warum soll man das "individuelle Du" statt des "Wir", das sich durch den Rekurs auf die "Eine Wahrheit" legitimiert, wählen? Gibt es eine zwingende rationale Begründung, die die Option für das sich im Du wiederkennende Ich unausweichlich macht? Flores d'Arcais bestreitet die Möglichkeit einer rationalen "Letztbegründung" des von ihm propagierten Individualismus entschieden. Es gebe keinen Vernunftgrund, so betont er immer wieder, warum man das "Leben in symmetrischer Anerkennung" einer Option fürs "Wir" und seiner Tendenz, den Anderen zu unterdrücken, vorziehen sollte. Mit einem Wort: Niemand kommt um die Entscheidung herum, sich entweder als Ich, das sich durch die Anerkennung im Du geichsam voIIendet, oder als Teil einer koIIektiven identität zu entwerfen, die die individueIIe Differenz auslöscht und statt dessen "unbedingte Gefolgschaft im Namen der Wahrheit, des Fortschritts oder eines Glaubens" einklagt. Diese in jeder Hinsicht freie, durch nichts begründbare Entscheidung sei dennoch unausweichlich. Einmal getroffen, deckten das "Wir" und das "Du" alle vorgängigen Entscheidungen ab: Der Rest sei "ableitbar". Doch was folgt konkret aus dieser Dezision? Zunächst verteidigt er diesen "konsequenten ethischen Antikognitivismus" gegen den Vorwurf, er ende - vermittelt über den Relativismus - im Nihilismus des "anything goes" (P. Feyerabend). Das Gegenteil treffe zu. Wenn nämlich die in vöIIiger Freiheit getroffene Entscheidung zwischen zwei Alternativen unumgänglich sei, dann trage der einzelne für sie auch die voIIe Verantwortung; sie könne weder auf einen anderen noch auf theoretische Konstrukte wie Gott, Volk, Rasse, Menschheit etc. abgewälzt werden. Auch folge nicht aus der Tatsache, daß die Entscheidung für das Wir oder das Du in kognitiver Hinsicht we-

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der falsifizierbar T10ch verifizierbar sei, der Schluß, beide Alternativen müßten als äquivalent, symmetrisch oder gar beliebig angesehen werden. Seit das Individuum die historische Bühne betrat, so müssen wir Flores d'Arcais interpretieren, bedeutet die Entscheidung für das "Wir" nämlich insofern immer auch eine Regression hinter den Stand humaner Möglichkeiten, als sie eine "unhintergehbare Freiheit: die Freiheit zu entscheiden" verdränge. Vor allem aber läuft die Entscheidung für das Du auf eine konsequent säkularisierte Ethik hinaus. In dem Maße nämlich, wie man von der prinzipiellen Ungewißheit der Wahrheit ausgeht, ergeben sich zwei Konsequenzen. Einerseits ist das Individuum von den Zwängen einer sklavischen Gefolgschaft gegenüber der "Einen Wahrheit" entlastet. Es lebt emanzipiert in dem präzisen Sinne, daß es keine übergeordnete Autorität mehr anerkennt. Die Wahrheit, an die der einzelne glaubt, ist strikt in den Bereich des Privaten verbannt und unterliegt in letzter Instanz seinem eigenen Gewissen. Andererseits geht mit diesem Schritt eine Ethik ohne Glauben einher, weil in beiden Fällen die letzte Entscheidung über die ethischen Normen dem Individuum zukommt. Es handelt sich um eine Ethik, die sich aller transzendenten Stützen entledigt hat. Sie akzeptiert ihre Endlichkeit ebenso wie ihre Verantwortung für das Sein-Sollen, das der Mensch erfindet und für das er sich entscheidet. Diese Ethik suggeriert nicht, sie sei objektiv. Im Gegenteil: Sie sperrt sich genau gegen das, was ideologische Theoreme anstreben - ein Sein-Sollen als objektive Ordnung des Seins.

III. Es steht außer Frage: Flores d'Arcais' Versuch, die Würde des Individuums in seiner konkreten Lebenswelt einzuklagen und den "aufrechten Gang" des einzelnen aus dem Geist des Existentialismus zu neuer Geltung zu verhelfen, ist den besten Traditionen der Aukflärung verpflichtet. Mit großer Konsequenz denkt er deren Prämisse, daß der Mensch für seine eigenen Taten verantwortlich ist, ebenso zu Ende, wie er die Ideologiehaftigkeit überindividueller Wesenheiten durchschaut. Wir können uns an keine transzendenten oder traditionalen Normen halten, so lautet seine aufklärerische Botschaft: Die Imperative, die unser Handeln leiten, sind unser eigenes Produkt, und keine Instanz vermag uns die Verantwortung für sie abzunehmen. Aber zugleich wird auch klar, daß das "Ich", das er beschwört, ein zerbrechliches Gebilde ist. Auf sich allein gestellt, lediglich durch die Anerkennung des Du gestützt, wird es als Gegenposition zum "Wir" stilisiert, die sich von vornherein - trotz des beschwörenden Plädoyers ihres Verfassers - in die Defensive gedrängt sieht. Der Grund für diese fragile Identität des Individuums bezeichnet genau die Trennlinie zum Besitzindividualismus eines Thomas Hobbes. Auch bei diesem Denker kann sich das Individuum nicht aus sich selbst heraus stabilisieren. Aber

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in dem Maße, wie er ihm Eigenschaften zuschreibt, wie sie zum Funktionieren einer Marktgesellschaft notwendig sind, besteht die Autonomie des "Ich" nur in der logischen Sekunde, in der es zum Vertragsschluß aller mit allen zugunsten eines Dritten, des allmächtigen "Leviathan", kommt. Das "Ich", das sich über die Selbsterhaltung und die Konkurrenz mit anderen definiert, kann nur überleben, wenn es sich den Regeln bedingungslos unterwirft, die der "Leviathan" zum Zweck der Koexistenz der Egoisten stellvertretend für diese erläßt. Die Geltung dieser Gesetze setzt die Zerstörung einer freien Bürgergesellschaft zwingend voraus, an die Flores d'Arcais gerade anzuküpfen versucht: Das Individuum, so seine These, ist auf die Solidargemeinschaft mit anderen in der Endlichkeit angewiesen, in die es sich einbringt und von der es zugleich aber auch geprägt wird: Ohne sie fiele es in die Isolation seiner Anfange zurück. Flores d'Arcais sieht diesen Zusammenhang. So kann es eine allen zukommende Würde nur dann geben, "wenn die Chancen des zivilen Lebens für alle gleich sind". Ohne sich direkt auf ihn zu beziehen, nimmt er dezidiert Stellung gegen Nietzsches elitäre "Verstärkung und Erhöhung des Typus 'Mensch"', dem "auch eine neue Art Versklavung" korrespondiert. Demgegenüber geht er von der Prämisse aus, daß das Einverständnis mit den "tiefen Differenzen zwischen den Lebenschancen der Menschen" für das Individuum tödlich wäre. Es liefe nämlich darauf hinaus, daß es dann "nur einige wenige Privilegierte und sehr viele Heloten" gäbe. Aber er zieht aus dieser zutreffenden Einsicht nur eine halbe Konsequenz: Er bleibt beim "individue\1en Du" stehen und setzt offenbar den Schritt zu einem utopischen gesellschaftlichen Szenario, das dem Ich erst zu seinem Recht verhelfen könnte, mit dem Verrat an den eigenen Prämissen gleich. Diese Skepsis ist auf den ersten Blick nicht unbegründet. Obwohl den Rekurs auf die Transzendenz kosequent ablehnend, hat in der Tat der klassische utopische Diskurs von jenen antindividualistischen Tendenzen des "Wir" gelebt, die Flores d'Arcais gerade anprangert: Sie reichen von einem statischen Homogenitätsideal, das vor einer strikten Reglementierung der menschlichen Bedürfnisse nicht halt macht, über etatistische Überwachungsmechanismen, die das Individuum tendenziell zu einem "gläsernen Menschen" degradieren, bis hin zu einem geschichtsphilosophisch fundierten Geltungsanspruch, der die Verwirklichung der Utopie mit dem welthistorischen Fortschritt identifiziert. Aber diese Irrwege sind längst seit Samjatins "Wir", Huxleys "Schöne neue Welt" und Orwells "1984" vom utopischen Diskurs selbst korrigiert worden. Statt die Gewißheit der "Einen Wahrheit" zu suggerieren, sind politische Utopien heute nur noch im Plural denkbar. Hochgradig selbstreflexiv geworden und nur noch den Status eines regulativen Prinzips reklamierend, sehen sich ihre positiven Szenarien stets der Gefahr des Scheiterns ausgesetzt. Wenn man ihre neuesten Tendenzen auf einen prägnanten Begriff bringen wollte, könnte man sagen, ihr Ziel bestehe gerade darin. einen "dritten Weg" zwischen den von Flores d'Arcais aufgezeigten

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Alternativen des "individuellen Du" und des "repressiven Wir" ausfindig zu machen. Ein solcher Ansatz wäre nicht jenseits der Aufklärung anzusiedeln und stellte noch weniger eine Gegenposition zu ihr dar. Denn es trifft nicht zu, was ihr oft unterstellt wird: Mit der Emanzipation des Individuums befaßt, habe sie sich außerstande gezeigt, "eine positiv verbindliche Sozialidee" (Böckenförde) hervorzubringen. Wer so argumentiert, klammert den gesamten utopischen Diskurs der Aufklärung vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zur Französischen Revolution aus. Und er ignoriert die Tatsache, daß es seit der frühen Neuzeit einen individualistisch-vertragstheoretischen und einen kollektiv-utopischen Weg in die Moderne gegeben hat, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts konvergierten und eine "Selbstaufklärung der Aufklärung" bewirkten. Die Adaption individualistischer Elemente des Kontraktualismus führte zu einer Annäherung des utopischen Denkens an die Strukturprinzipien der sich durchsetzenden bürgerlichen Gesellschaft, ohne die kritische Distanz zu ihr grundSätzlich aufzugeben. Umgekehrt begann der vertragstheoretische Ansatz die Schattenseiten der besitzindividualistischen Marktgesellschaft, der er legitimatorisch zum Durchbruch verhalf, zu reflektieren und nach Korrektiven zu suchen, die er im utopischen Denken fand. Dieser Vorgang läßt erkennen, daß sich die Aufklärung im Medium der Utopie und des Vertragsdenkens ihrer eigenen instrumentellen Verkürzung im Zeichen eines utopischen Antiindividualismus einerseits und des kontraktualistischen Egoismus andererseits bewußt wurde: Das "Ich" sollte zu seinem Recht kommen, ohne die prinzipiell solidarische Stoßrichtung des utopischen Musters preiszugeben. Tatsächlich geht es in letzter Instanz um die Frage, wie mit der offenbar nicht wegzudiskutierenden "nostalgischen Sehnsucht nach Totalität" umzugehen ist. Flores d'Arcais hat ihr durch seine entschiedene Option für den heroischen Existentialismus des autonomen Individuums eine eindeutige Absage erteilt und sie zum Feindbild schlechthin erhoben. Der Dichotomie des "entweder - oder" ausgeliefert, vermag er es nicht, aus dem langen Schatten des "Wir" herauszutreten, auch wenn er ihn hinter sich zu lassen sucht. Ob es demgegenüber weiter führt, das perhorreszierte "Wir" im Medium einer aufgeklärten Utopie zu reflektieren, und zwar mit dem Ziel, dessen Holismus aufzubrechen und mit den unverzichtbaren Rechten des Individuums in Übereinstimmung zu bringen, wird die Zukunft zeigen müssen.

IV. Anhang

Quellen- und Literaturverzeichnis

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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Sühnel, Rudo1f: Der englische Landschaftsgarten in Wörlitz als Gesamtkunstwerk der Aufklärung. Fünf historische Rundgänge. in: Bechthold/Weiss 1996, S. 67-84 (Sühnel 1996). Thompson, Paul: The Work of William Morris, London 1967 (Thompson 1967). TOl~fstedt.

Thomas: Die "Christianopolis" des Johann Valentin Andreae, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte, Jg. 1983/84, S. 20-33 (Topfstedt 1983/84 ).

Trauzettel, Ludwig: Gartenkünstler und Gartenkunst in Wörlitz, in: Bechtholdl Weiss 1996. S. 85-98 (Trau zettel 1996). Voigt. Andreas: Die sozialen Utopien. Fünf Vorträge, Leipzig 1906 (Voigt 1906).

Quellen- und Literaturverzeichnis

215

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Wo/ter, Bettina-Martine ! Schwenk, Bernhart (Hrsg.): Die gros se Utopie. Die russische Avantgarde 1915-1932 (Katalog), Frankfurt 1992 (Wolter! Schwenk 1992).

Zotta, Franco: Legitimität und Recht. Eine Kritik auswählter Aspekte der Eigentumsund Staatslehre und der Geschichtsphilosophie Kants, phi\. Diss., Münster 1997 (im Druck) (Zotta 1997). Zweck, Axel: Technikeinschätzung und Science Fiction. in: Burmeister! Steinmüller 1992. S. 179-196 (Zweck 1992).

Personenregister

Addison, Joseph 60 Amery, Carl 149 Andreae, Johann Valentin 33f., 40, 53. 116. 129f. Antonowa. Irina 43 Aristoteles 164, 185 Asimov, Isaac 153 Averlino, Antonio (Filarete) 39 Bacon, Francis 47, 53, 63, 107, 116, 172f. Batscha, Zwi 97 Becher. Johannes R. 142. 184 Becquerel, Henri 150 Behne, Ado1f 21, 43 Bellamy, Edward 83. 88, 140. 175, 190 Bembo. Petro 135 Bermbach, Udo 49, 188 Bitterli. Urs 73, 118 Bloch, Ernst 34, 113, 144. 146 Bodin, Jean 129 Boettiger, Carl-August 68-71 Bogdanow, Alexander 153, 167, 171173 Böhme, Hatmut 125 Bougainville, Louis-Antoine 64, 75 Bretonne, Nicolas Restif de 1a 97 Brinkmann. Albert Erich 33 Brownstein. Robert 179f. Brunner. Heinrich 97 Buhr. Manfred 97 Burmeister. Klaus 146 Buttlar, Adrian von 58, 60f., 119 Cahct. Etienne 49.88, 138-141

Callenhach, Ernest, 187 Campanella, Tommaso 34, 39-41, 45, 49,53, 98. 116, 12lf., 129f., 142, 174, 183-185, 190 C1arke, Arthur C. 153 Condorcet, Marie-Jean Antoine, Marquis de 148 Cook. Captain James 62, 68, 75 Cooper, James Fenimore 73 Curie, Pierre 153

d'Eaubonne, Francoise 177 de Bergerac, Cyrano 146 de BTUyn, Gerd 76, 116, 122 de Foigny, Gabrie1 54, 56, 64. 75, 77, 135f., 174-176 de Lahontan. Louis-Armand de Lom d'Arce, Baron 62-64, 66, 75, 78, 91, 118, 123, 135[" 174f. de Ligne, Char1es Joseph 71 Delaporte, Franr;:ois 115 Dick, Philip K. 153 Diderot, Denis 64-66, 75, 78, 94, 126, 135f., 174-175 Dürer, Albrecht 39-42 Einstein, Albert 150 EI Lissitzky 14-16, 18-21, 23, 25f., 43-48, 50, 159. 167 Engelland, Reinhard 171 Engels, Friedrich 171, 184 Enzensberger, Hans Magnus 182 Erdmannsdorff, Friedrich Wilhelm Frhr. von 67

Personenregister Euchner, Walter 98, 117, 120, 128f., 137 Fahlke, Frank 160. 184 Fene1on. Franr;:ois de Salignac de La Mothe- 54-58, 62f., 75, 77f., 117f., 133 Ferguson, Adam 125 Fest, Joachim 173f. Feyerabend, Pau1 196 Fichte. Johann Gottlieb 97f., 100-111, 114, 123, 125 Filarete (Antonio A verlinos) 39-42, 51 Fin1ey, Moses I. 186 Fischer. Johannes Heinz 31 f. Flores d'Arcais. Pao10 194-199 Fontenelles. Bernhard 1e Bovier de 131, 133 Forssmann, Erik 67 Forster. Georg 68f. Forster, Johann Reinhold 68f. Fourier, Char1es 139, 175f., 190 Franz von Anhalt-Dessau, Fürst Leopold III. Friedrich 66-68, 70f. Freyer, Hans 97, 109 Friedrich der Große 58 Fromm, Erich 169 Funke, Hans-Günter 73f., 135-137 Garber. Jörn 65,73. 113. 116, 122124 Gaßner, Hubertus 25, 31. 43 Germann, Georg 39, 42 Glasier, Bruce 83 Goethe, Johann Wolfgang von 164, 185 Gothein, Marie-Luise 56, 59, 65f. Günther, Hubertus 44 Gueudeville, Nicolas 93, 118 Gustafsson, Lars 41, 183 Habermas, Jürgen 132. 182 Hahn, Karl 97

217

Harada, Tetsushi 97 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 17, 194 Hellmann, Kai-Uwe 144 Hennebo, Dieter 57, 119 Hertzka, Theodor 138, 141 Hirsch, Erhard 71 f. Hobbes, Thomas 117, 120, 197 Hoffmann, Hans Jörn 57, 119 Holland-Cunz, Barbara 174, 177 Horaz 60,76 Hux1ey, A1dous 13, 144f., 154, 159f., 168f., 174, 177, 187, 192, 198 Jericke, Alfred 71 f. Jonas, Hans 144, 154, 181 Kant,lmmanuel 125, 129, 176, 194 Kittsteiner, Hans-Dieter 125 Klein. Arne 144 Klenner, Hermann 97 Klucis, Gustav 14 Kohl, Karl-Heinz 93, 118 Kolumbus, Christoph 75 Kopanski, Karlheinz 43 Koschel, Christi ne 74 Koselleck, Reinhart 35,97, 126, 148 Krause, Werner 97 Kruft, Hanno-Walter 33-35,40f. Krutschonych. Alexei Jelissejewitsch 15 Kunert, Günter 182 Künzli. Arnold 36 Landauer. Gustav 146 Le Corbusier 31 Le Guin, Ursula K. 142, 145, 153, 170, 174, 178, 187, 192f. Le Nötre, Andre 56, 119 Leech-Anspach, Gabriele 160 Letevre, Wolfgang 115 Lern, Stanis1aw 153 Locke, John 61, 106, 120f.

218

Personenregister

Ludwig XIV. 56 Luise von Anha1t-Dessau, Fürstin 68 Lukacs, Georg 142, 184 Lutz, Burckhardt 181 Macchiavelli, Nicco10 129, 177 Macer, Jean 135 Ma1ewitsch, Kasimir \3-20, 22-25, 30, 43-45, 47f., 159 Mannheim, Karl 9f., 146, 181 Marius, Richard 121, 131 Marty d'Anghiera, Pietro 135 Marx, Karl 137, 164,171,185, 194 Marzin, Florian F. 147-150 Matjuschin, Michael Wasilewitsch 15 May, Karl 73 Medick, Hans 125 Meißner, Joachim 62, 73, 75f., 118 Mercier, Louis-Sebastien 97, 101, 111, 114, 126, 133-135, 148 Merkert, Jöm 43 Möbus, Gerhard 128 Mohl, Robert von 49 Moholy-Nagy, Laszl6 14 Montaigne, Michel 74 Monteleone, Thomas F. 153 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de la Brede et de 132 Moos, Rudolf 179f. Moravia, Sergio 115 Morelly 101, 133, 135 Morris, William 74, 79-94, I 38f., I 74f. Morus, Thomas 14, 19,34,37,40,45, 47, 49, 63, 76f., 83, 98-99, 114I 16, 118, 121, 128-\3 I, 142, 145f., 159, 161f., 166, 172-174, 176, 183-186, 189 Musil, Robert 163

Neugebauer-Wölk, Monika 97 Niedermeier, Michael 67,69f.

Nipperdey, Thomas 36 Orwell, George 13, 14lf., 145, 154, 160, 162, 168f., 174, 176, 198 Otten, Karl 169 Ovid 76 Owen, Robert 138 Petrus 196 Platon 14,47,49, 53, 76f., 130f., 140f., 143, 159, 162, 165, 169, 172f., 176, 179, 184 Polybios 128 Pope, Alexander 59f. Popper, Karl Raimund 9,34, 146, 174 Rabelais, Fran90is de 52-54, 57, 174f. Ramsay, Sir William 153 Redmond, James 74, 83 Renaut, Alain 97 Repton, Humphry 61, 119 Richards, D.J. 160 Ritter, Gerhard A. 141 Robespierre, Maximilian I 32f., 137f. Rode, August 66, 68 Rohbeck, Johannes I 25 Roller, Peter 171 Rosenberg, Arthur 137 Rousseau, Jean-Jacques 65, 68-70, 74, 97, 114, 118f., 123, 132f., 136, 148 Rüffer, Michael 68f. Ruskin, John 90 Russ, Joanna 177 Rutherford, Emest 150 Saage, Richard 13, 3If., 41, 50f., 60, 76f., 79, 97f., 100, 113, 119, 125, 130-132, 145-147, 150, 159, 161, 170, 174, I 82f., 186 Saint-Si mon, Claude-Henri de 88, 140f., 190 Salewski, Michael 154

Personenregister Samjatin. Jewgenij 13-16. 26-31, 141, 143, 154, 158-162, 164-170, 174, 176. 198 Schickhardt. Heinrich 39-42 Schings, Hans-Jürgen 115. 119 Schmidt. Hajo 97 Schnabel, Johann Gottlieb 97, 114, 117 Schoch, Leopoldine Luise 70 Schottky. Richard 97 Schwenk. Bemhart 43 Schwonke. Martin 145. 147-150, 152, 154 Seile. Gert 74, 88, 92 Seng, Eva-Maria 10. 13, 33, 49-51. 60, 76f.. 119 Shadowa. Larissa A. 15 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper. Earlof 59 Shane. Alex M. 160 Sharp. Jane A. 19 Simon. Erik 152 Si mons, Katrin 15 Skinner, Burrhus F. 145, 174, 186f. Solinas, Valerie 176 Spittel, Olaf R. 148, 153f. Stableford, Brian 151 Stalin. Josef 13f., 31, 162. 171 Steinmüller, Karlheinz 146f. Stengel, Karin 43 Strugazki, Arkadi und Boris 152 Sühnei, Rudolf 67f. Switzer, Stephen 59

219

Tacitus 74 Taut, Bruno 31 Taylor, Frederic W. 29, 164 Theokrit 76 Topfstedt, Thomas 39, 116 Thompson, Paul 89 Trauzettel, Ludwig 67,69f. Trotzki, Leo 164, 184f. Vairasse.Denis 97,114,117,133 Vergil 76 Verne, Jules 147, 150. 153 Vespucci, Amerigo 135 Voigt, Andreas 49, 76, 135, 146 von Weizsäcker. Richard 188 Voßkamp, Wilhelm 33, 115 Wal pole, Horace 66 Weidenbaum, Inge von 74 Weißer, Michael 153 Wells. Herbert George 22, 90f.. 148151, 153, 180 Wilde, Oscar 74, 79-94 Wilhelmine von Bayreuth, Markgräfin 58 WilIms, Bernard 97 Winstanley. Gerrard 53 Wolf. Friedrich 142, 184 Woher, Bettina-Martine 43 Zoffany, John 62 Zotta. Franco 125 Zweck, Axel 148

Sachregister

Abschottung 59,61, 103f., 109, 119, 151,184 Absolutismus 55,57,59, 61f., 67f., 76, 79,132,134 Absolutismus, aufgeklärter 57 Abtei Thelema 52-55 Adel 40,67,98, 129 Affekt, antiabsolutistischer 60 Aggressivität 120 Aliens 151, 153 Alternative 14, 18,31,36,41,59,79, 80,132, 137f., 167, 170, 174f., 189, 192, 196, 198 Amaurotum 37,116 Amazonen 53 Anarchie 22,52,61,64,78,81, 84f., 92, 94,113,119,121,123, 136f., 142, 170, 178 Anarchismus 55, 64, 175 Ancien Regime 60,99, 101, 126 Anhalt-Dessau 66, 70 Anthropologie 115, 120-122, 124f., 127, 149 Antiindividualismus 15,20, 22, 28, 31, 49,52,83,97, 103, 167, 170, 199 Ant~e 23,43,59,62,76,81,89,92,94, 146, 183 Arbeit (auch Arbeiter) 21, 24f., 28, 36, 40f., 47,51-55, 64f., 76f., 79f., 82f., 87-92, 100, 102f., 105f., 109, 124, 129, 132, 135, 137, 147, 152, 163165, 173, 183-187, 190f. Arbeiterklasse 171, 185 Architektur 14-16,19-22, 27f., 31, 33, 41-48, 50f., 55, 58f.,62, 76f.,81f., 117,150, 163f., 183

Aristokratie 53, 130, 133, 141 Arkadien 66 Armee 28,80,85,154 Ästhet~ (auch ästhetisches Muster u.ä.) 13, 16, 19,24, 26f., 32, 36, 38,43, 64,91,92, 154, 159, 163 Atombombe 148 Aufldärung 59,70,73,76,97,115,127, 132,134,150,180,186, 194f., 199 Ausbeutung 25,79,87,147,173,176, 186,189,191,193 Autarkie, wirtschaftliche 105, 109 AutomatisiefWlg 190 Autonomie 53,82, 100, 132, 148, 163, 168, 197 Autorität 50, 84f., 165, 197 Avantgarde 8, 13, 15f., 18, 33f., 43, 4548,50, 154, 161, 167, 180, 185 Barockgarten 56f.,59f.,66, 119 Bedürfnisse 19, 21f., 24, 44-46,50,56, 58,77,91,100, 105f., 123, 175, 186192,198 Berufswahl 106 Besitzbürgertum 129 Besitzindividualismus 111,172,187, 197, 199 Bilderverbot, antiutopisches 184 Bildung (auch Ausbildung, Schulbildung) 14, 16,42, 70, 75, 160 Biologie 9, 115, 119, 126 Bolschewiki (auch Bolschewismus) 17, 24-26, 47f., 150, 160, 171, 184 Bon Sauvage (auch Edler/Guter Wilder) 7f., 51f., 61-64, 66f., 69, 73-76, 78f., 91, 93f., 118, 122f., 125f., 135

Sachregister Brüderlichkeit 136 Bürger 18,24,67,70,83,105,126, 131f., 134f., 140, 142f., 187, 192 Bürgerkrieg 13, 18 Chaos 19,26, 162 Christianopolis 33,40,49, 116, 129f. Club ofRome 187f. Dasein, Kampfums 17,23, 25f., 29 Delegationsprinzip 140 Demokratie 84, 129-133, 137-139, 141, 191f. Denken, utopisches 7-9, 13f., 17, 36f., 42,63, 76f., 97f., 100f., 103, 107, 110, 112, 114, 120, 122, 124f., 128, 130f., 133, 138, 141-143, 145, 147f., 159, 166f., 170,172-174,178-180, 182-186,192,199 Despotie (auch Despotismus) 57,60,61, 84,119,121,134,138,195 Deutsche Demokratische Republik (DDR) 153, 182 Dialektik der Aufklärung 76 Diebstahl 79 Diktatur 27,130,162,165,171,173, 185,192 Dynamik 23,31,35,47,100,102,118, 121,131,168,179,191 Egalitarismus 129, 140, 189 Egoismus, Egoisten (auch egoistisches Verhalten u.ä.) 77,81, 100, 106, 113f., 118, 120-124, 127, 133, 178, 189, 198f. Ehe (auch Heirat) 63,78,86, 134 Eifersucht 78, 86 Eigentum (auch Privateigentum, Besitz) 42,61,79,83, 85f., 94, 99-101, 104107, 109, 114, 118, 129, 130-132, 137,164, 172f., 175, 190 Eigentumsverhältnisse 93, 100, 104 Einheitsstiftung, technokratische 184

221

Einziger Staat 27-31,160,162-166,168 Eiserner Vorhang 184 Eklektizismus 18f., 27, 43, 45 Elend 53, 72, 79, 102, 147, 186 Elite (pol. Klasse) 53f., 86, 105, 130132,137,139-141,143,173,185 Emanzipation 67, 69f., 168f., 184, 187, 199 Emotion, -alität 28, 78, 127, 169 England 51, 58f., 67, 74, 80, 119 Enthumanisierung 165, 169 Entwicklung 17, 24f., 30,46,48,51,58, 64,73, 77, 80, 84, 89, 94, 97, 101, 106, 110, 118, 125, 128, 133, 145f., 148-150,154,162,169,171,176, 181,186 Erotik 51, 69f., 78, 93,117 Erziehung 42,45,70,75, 150, 152, 163, 172f., 180 Eschatologie (auch eschatologischchiliastisches Denken) 36, 152 Eskapismus 52, 66, 69, 73, 93, 136 Ethik 144, 180, 197 Ethnologie 73, 75, 80 Evolution 26,94, 101, 125f., 150, 195 Exekutive 139

Fanatismus 195 Faschismus, feministischer 177 Fernsehen 191 Feudalgesellschaft 98f., 101, 113, 146, 186 Fluchtutopien 187 Folter 30, 168f. Fortschritt 15,30,71,73,88,120,185, 195f., 198 Fortschritt, wissenschaftlich-technischer 15,23,29,44, 47f., 72, 88, 107, 140, 147, 150, 152, 160, 164, 168 Fortschrittsdenken, (auch Fortschrittsglaube, -modell u.ä.) 25, 111, 125, 171,176,187

222

Sachregister

Französische Revolution 34,64, 79, 94, 132,199 Frau (Stellung der) 52,63, 78, 86f., 121, 176, 186f. Frauen- und Ökologiebewegung 174, 176-178 Frauen-Utopien 175-177 Freiheit 49f., 60-63, 65, 83, 86, 88, 92, 101, 104-106, 110, 129, 136, 142, 151,170, 173f., 178, 185, 189, 196f. Freudenstadt 33, 39,40-42 Frieden 49, 71, 150 Frühkapitalismus 186 Funktionalität 15,19,38,44,182 Fürsten 41-43,55,57,60,66-72 Garten 7, 37f., 49, 51f., 55-61, 6571,81f.,119 Gefangnisse 40 Gegenentwurf (auch Gegenbild, -progamm, -begriffu.ä.) 41,51,53, 60,83, 133, 153, 170, 186, 189 Geld 41f., 102, 105, 109 Gelehrte 105, 107 Geltungsanspruch 29,31,41,47,100, 108, 110f., 124f., 127, 159, 170, 176, 178,192,198 Gemeineigentum 87,100,114,131 Gemeinwesen 47, 50f., 54f., 57, 62-65, 67, 78, 80, 82, 84, 87, 89, 97, 99, 101,104, 113f., 117, 121-123, 125f., 128f., 132, 134, 138f., 142, 148, 150f., 164, 170, 175, 178, 180, 184, 186f. Gemeinwohl (auch öffentliches Wohl u.ä.) 100, 114, 121, 123, 136, 138, 143 Geometrie (auch Geometrisierung, geometrische Form, Struktur, u.ä.) 9, 15,19,27,29,33,34,37-40,42,44, 46f.,50f.,53f.,57-60,62,64,66, 76f., 81f., 93,115-119,126,150, 163, 183

Gerechtigkeit 7, 133, 169 Geschichtsphilosophie (auch geschichtsphilosophisches Fortschrittsdenken u.ä.) 25f.,66, 101, 108, 11Of., 124f., 127,148,171,176,185,187,192, 194f., 198 Geschlechterdifferenz 55 Geschlechtstrieb 27 Geselligkeit 56 Gesellschaft (auch Gesellschaftsmodell u.ä.) 7, 13f., 17f., 20, 22, 24-26,31, 33f.,36,40,42,47,49,50f.,53f., 61f., 64, 69, 71, 74, 77-81, 85-88, 90, 93, 98-100, 107, 109, 113f., 116, 118, 123f., 137-140, 146f., 149, 152, 153,160,162,172,174,176-178, 180,183-185,187,190,196,199 Gesellschaftsordnungen des so\\jetischen Typs 173, 184f. Gesellschaftsvertrag 61, 104, 117 Gesetzbuch, bürgerliches 85 Gesetzbuch der Natur (Code de la Nature) 101, 133, Gesetze 23,24,29, 37, 49f., 52, 54, 57, 60,62, 64f., 84f., 123, 133, 135f., 139,147,150, 164f., 179, 198 Gewaltenteilung 114, 133 Ge~axirrUerung 102, 104, 189 Glasnost 14, 161 Glaube (rel.) 195,197 Gleiche und Freie 61,64,99, 103, 111, 113,120, 124, 136 Gleichgewicht 102f., 163, 180 Gleichheit 22,25,63,67, 129, 135f., 163,173 Glück 17,29,60,63,87, 113, 118 Gott 36,68,152,165,194,196 Große Englische Revolution 100 Grund- und Menschemechte (auch individuelle oder Bürgerrechte) 99, 105, 114,132,137, 184f., 189, 199 Grundgesetz 165 Gruppenidentität 195

Sachregister Handarbeit 83,89-91 Harmonie (auch Harmonisierung u.ä.) 25,27,38,40,54,62,64,76-78,80, 100, 103f., 114, 123, 131, 152, 163, 180,188, 192 Heilslehre, chiliastische 152 Herrschaft 41f., 49-53, 60-64, 66f., 76, 78,80,82-84,93,98, 119, 122, 132, 134-136, 138, 140, 165f., 168, 171174,183, 185f., 193, 195 Herrscher 36, 50, 57, 130, 139 Hierarchie (auch hierarchische Ordmmg u.ä.) 36f., 42, 60, 90, 98, 140, 183, 187, 190 Historisierung 73, 116, 124-126 Hof, absolutistischer 56 Holismus (auch Ganzheitsdenken, das Ganze u.ä.) 9, 15, 21f., 25, 28-30, 40,44, 75, 97, 99, 102f., 109, 113f., 141,143,161,164,166,175,192, 195 Homogenität 19,25,37,40,42,47, 54f., 81,93,103,139,151,175,189,198 Humanität 169 Hunger 27, 79 Huronen 62-64,78,118,136 Idealstadt 7, 33f., 39,41-43, Idealtypus 9, 36, 50, 52f. Identität 9,23,30,65, 73f., 94, 103, 139,195,197 Ideologie 9f., 137, 188, 197 Indianer 64, 74, 93, 135, 160 Individualismus 9,22,24,31,53,61, 81f., 86, 91f., 98f., 102, 106, 111, 127,132,134, 168f., 172, 175, 196, 199 Individuum (auch Individualität u.ä.) 2022, 28f., 31, 53, 61, 67, 76f., 81f., 91, 93, 100, 102, 122, 151, 162f., 164, 167f., 178, 195, 196-199 Industrialisierung (auch Industrielle Revolution u.ä.) 34f., 73f., 79f., 87f.,

223

91,93,111,137, 140f., 146f., 172f., 183, 186, Industriegesellschaft (auch Industriezivilisation, -länder) 79, 92, 94, 140, 162,179,182, 183, 190f. Ingenieur 17f., 22, 24, 26, 28,30,47, 147,154,164,171 Insel 37,47,67-69,99, 103, 109, 111, 116f., 147, 153, 180, Institutionen (auch Institutiona1ismus, sierung) 49, 51 f., 57, 77f., 83f., 99, 114f., 119-123, 127, 129f., 133f., 136, 142f., 160, 172, 175, 180, 187, 189 Integration 38, 40, 100 Italien 39 Justiz 50,85, 139f., 150 Kapitalismus 17,22,80,88, 183f., 186 Kirche 40, 79, 98, 165 Klassenkampf (auch Klassenkonflikte ) 102, 140, 183 Klassenlosigkeit 13 Klassizismus 16,44,62 Kollektiv (-ismus u.ä.) 19-21,26,30, 44-46,50,77,97,99, 103, 106, 114, 121, 124, 131, 162, 165, 167, 168, 172,182,184,189, 195f., 199 Kommune 18,25,45 Kommunismus 24,26,81, 86f., 100, 114,129, 137f., 161, 171, 173f., 182, 184 Komplexität, Reduktion von 188 Konflikte 27, 78, 85f., 100, 102, 111, 114, 122, 130-132, 138-140, 149151,162,166,172,175 Konfliktfreiheit (gesellschaftliche) 51, 55,78, 109 Konformismus 81, 167 Konkurrenz (auch: Wettbewerb) 38,79, 87, 102, 122, 123, 151, 198 Konservatismus 92, 154, 183

224

Sachregister

Konstruktivismus 8, 14, 16,22,36,4345,48,167 Konsum 57,106,182, 186f., 190f. Konsumenten 77,83 Kontraktualismus (auch kontraktualistisches Denken, Herrschaftsvertrag u.ä.) 9,61,86,97-108, 110-127, 136, 198f. Konventionen 51,61,79,93 Kosmos 24, 36f., 162 Kreativität 30, 47f., 168, 184 Krieg 13, 18,23,27,31,63,66,72,85, 102, 110, 118, 120, 136, 141f., 145, 149f., 153f., 162, 173, 177, 184, 186, 190 Krieg aller gegen alle 102, 120 Kriminalität 85,139,191 Kunst (auch Kunstwerk) 14-16, 18f., 23f., 26-28, 39,43-45,51,55,58,60, 65f., 68-71, 90-92,103, 107f., 117, 121, 135, 150 Kunstgeschichte 13, 14,33-35,43 Landschaftsgarten 7f., 51f., 60f., 66-69, 119 Langzeitarbeitslosigkeit 190 Legislative (auch Gesetzgeber) 24, 133, 139 Leitwissenschaft 9,115-117,119,126 Leviathan 28,99, 102, 104-106, 120, 123,142,170,192,198 Liberalismus 60, 68, 119 Liebe 27,63, 69f., 78, 86f., 117, 154, 168f. Luxus 56f.,67, 79,106,121 Luxusverbot 41, 106 Macchiavellismus, feministischer 177 Macht 7,27,30, 41f., 57, 83, 86, 118, 120, 136, 141-143, 154, 160, 165f., 168f., 178, 185, 191 Majorität (auch Mehrheit) 85f., 139, 182 Mandat 137, 139

Manipulation 30, 138, 165, 168f., 177f., Markt 19, 101f., 104f., 11Of., 114, 187, 189f., 197, 199 Mars-Menschen 172 Mars-Zivilisation 153 Marxismus (-Leninismus) 171,194 Märzrevolution, russische 141 Maschine 22-24,27,29,46,79, 81f., 8892,107,191 Massen 27, 111, 140, 171, 182, 185-187 Massenproduktion 46, 88 Mathematik 23,115-117,179 Mensch, ganzer 115, 118, 126 - ,,neuer" (auch moderner, vollendeter u.ä.) 19,21, 23f., 42, 45f., 48,50, 63, 70f., 74, 78, 81, 87, 97, 114, 121f., 142, 151, 163f., 172, 184f., - freier 52,60, 182 Menschenbild 77, 124, 154, 169 Merkantilismus 102 Minorität 86, 139, 185 Mischverfassung 130, 133f., 136 Mittelalter 21, 36f., 39,43,92 Moderne (auch Modernisierung, Modernität u.ä.) 7f., 16,26,30,36, 42f., 48, 79f., 99, 107, 113, 171, 173f., 178, 194f., 199 Monarchie 60f., 129f., 133f. Moral57, 64, 74, 79,100,106,117, 133, 144 Moskau 14, 18,20,44f. Natur 17, 23, 29, 31, 37, 39, 50-57, 59f., 62-65,68-72,77,80-84,86-88,90, 92,94, 101f., 104, 108, 115f., 119125, 133, 135f., 140, 144, 170, 172f., 176f., 179f., 183, 187, 191-193 Naturalisierung (auch naturalisiertes Konzept u.ä.) 7,51-55,57-66,68, 70f., 74, 76, 79-82, 91, 93f., 115, 117,119, Naturrecht (auch Recht der Natur) 61, 98, 104, 113, 116, 123, 125, 127

Sachregister Naturreligion 64, 78 Naturwissenschaft 107, 147, 150, 152, 162,172,186 Naturzustand (auch status naturalis) 61, 99f., 113f., 117-123, 125,136 Nekrophilie, patriarchale 175, 178 Neu-Atlantis 47,53, 107, 116 Neuzeit, Frühe 7f., 34, 41f., 44, 45-48, 50,52,129,131,146, 166f., 174, 185, 191f., 195, 199 Nihilismus 159, 196 Notwendigkeit, historische 176, 192 Notwendigkeit, Reich der 92 Offenbarung 68 Öffentlichkeit (auch öffentliche Sphäre u.ä.) 14,38,45,50,61, 70f., 84, 105,111,132, 134f., 161, 163, 178, 191 Ökologie (ökologische Auswirkungen, Problemeu.ä.) 82,93,144,174-180, 188 Oktoberrevolution 18,45, 160 Opposition 30f., 41,59, 101, 167f. Ordnung 18, 36, 58, 60, 79, 110, 116, 121, 123, 137, 139, 145, 173, 183185, 194f., 197 Organismus 87,165,172 Palladianismus 67 Paris 44,68,126,160 Parlament (auch Parlamentarismus) 60, 68,82, 84f., 132, 138f., 141, 191 Partei 22,86, 137f., 141f., 160, 168, 171,184,191 Partizipation 110, 130 Patriarchat 175-177 Perestroika 14, 161 Persönlichkeit 22,81, 86f., 163, 168, Phantasie 29f., 37, 39,45,60, 163f., 168, 177, 179, 181, 188 Philanthropin 70 Planung (auch Plan) 13, 19f., 31, 36f., 15 Saage

225

50,58,100,103-105,109,111,114, 172f., 179, 184, 189 Pluralismus 27,192 Politeia 47, 130f., 133, 136, 140, 185 Politik 56f., 67, 107f., 117, 130, 132, 134,136, 139f., 150, 161, 184f. Polizei 50,85, 140, 163, 165 Polygamie 135 Preise 105, 109, 190 Prinzip, regulatives 41,56,64,78,82, 10 1, 108, 136, 176, 192, 198 Privatheit (auch Privatsphäre u.ä.) 38, 42,45,50,70,97,99, 103, 114, 132, 172,197 Produktion 46, 63, 90-92, 94, 102, 104f., 140,164,173,183,189, Progressivität 92 Proletariat 23, 25 Proun 15,26 Publizität 134 Rasse 195f. Rationalismus (auch Rationalität) 7, 16, 37,39,50,76, 103, 117, 150, 153, 192 Raumfahrt 149 Raum-Utopie 35,47,176 Realismus 17,25,48 Realität 7,16,19,35,75,152,179-181, 183 Realsozialismus 31, 171, 173, 175 Recht 25,28,32,62,86, 104, 107, 123, 127, 139, 144, 151, 166, 189, 198f. Rechte, natürliche 61, 79, 101, 111 Reform (auch Reforrnierung) 43, 101, 137 Reformation 99, 120f., 129 Regierung 50,83,85, 102, 108f., 129, 133,136, 138f., 141, 161, 192 Reichtum 55,94, 180, 190 Reisebericht 69, 75f. Reisefreiheit 105 Relativismus 196

226

Sachregister

Religionsfreiheit 135 Renaissance 7,33,35, 42f., 53,60,81, 99, 12Of., 123, 129, 134, 183, 186 Repräsentation 7,56, 114, 131, 133, 140, Repression 30, 79, 136, 140 Reproduktion 25,47, 56, 77f., 87, 90, 118,132,141,165,177 Republik 9, 108, 123, 128-143, 145 Republique Sauvage 73f., 76, 135f., 139 res cogitans 115, 118, 127 res extensa 115, 118 Rußland 13-15,141,160-162,167,171 Schema, barockes 58f. Schönheit 27, 42f., 60, 87, 92, 163 Schreckensbild (auch Schreckensvisionen) 13, 167, 186 Schule (als Bildungseinrichtung) 38,40, 42,45 Science-fiction 9, 144-154 scientific community 109 Seele 22,26,28-30,63, 115, 119, 134f., 163f., 193, Selbstbestimmung 49,51, 139f., 184 Selbstreflexion (auch Selbstreflexivität) 9,74,141,143,159,170,176,178, 198 Selbstverwirklichung 88,91, 165 Sexwüität 27,50,64,70,76,78,80,86, 87,93,121-123,150,168, Sinnlichkeit 70,118, 120 Sitten 37,50,55,60 Sklaven 83,88,90 Slums 79,82, 91 Solidargemeinschaft (auch solidarische Gesellschaft) 51,61,127,198 Solidarität (auch solidarisches Verhalten u.ä.) 9,121,154,169,172,189, 199 Sonnenstaat (Civitas Solis) 39,41,49, 116,121,130,142,172,183-185 Souverän 133

So\\jetunion (auch So\\jetruß1and) 13, 83, 161, 171, 173, 184f. Sozialdemokratie 137, 160 Sozialdisziplinierung 41 Sozialismus (auch Sozialisten) 17,2426,31,48, 82f., 137, 160, 164, 171, 173,175,182,185 Sozialutopie 92, 104, 113, 146, 164-166, 172f., 185 Sozialvertrag 99, 114, 119, 123 Staat (auch staatliche Zwangsgewalt u.ä.; siehe auch: Einziger Staat) 24,40, 42, 49f., 53f., 60-64, 77f., 85f., 98102,104-108,110,114, 116f., 120124, 126-129, 133f., 136f., 139-142, 145, 154, 162, 165f., 168, 172, 183, 186,188,192,195 Staatsroman 49, 145 Staatszweck, kollektiver 97, 114 Stadtplanung 14f., 19-21,27,31,33-36, 42-44,46,48, 50f., 55, 81,117,183 Stalinismus 13 f., 31 Stände 41f., 57, 109, 132, 147, 183, 186 Star Trek 144, 152 Statik 35,47,100,103,131,175,180 Statusquo 15,18,192 Steuern 129, 140 Subjektivität (auch Subjektivierung) 22, 26-29,31,97,114, Südsee 62,65,67-69,73,93 Suprematismus 13-32, 36, 43-45, 48, 167 System (politisches) 17,19,24, 26f., 30, 45,61,77,79, 83f., 87, 99, 110, 129, 134, 136-140, 142, 163, 165, 168, 169, 185f., 191f., Systemutopie 173f. tabula rasa 8, 18,37,39,50, 143 Tahiti (auch Tahitianer) 62, 64f., 69, 78, 126, 135f. Technik 20,22-24,27,29,46,47, 63f., 71,80,82, 87f., 89-91, 93, 100, 105,

Sachregister 107, 145-148, 150, 153f, 165, 170, 173,180,184,187,190,191 Technische Staaten 141f, 147 Technologie 93 Teleologie 25, 124f, 176 Terror (auch Terrorismus 7, 121, 161, 165f Todesstrafe 121, 165 Totalitarismus 13, 27f., 30f, 141f, 160, 162,168,177,183,186 Totalität 15,71,103,183,199 Tradition 14, 17f., 22, 25, 27, 33f, 36f, 44-46,48, 53-55, 63, 66f, 79, 103105, 128, 137, 139, 142, 152f, 164f, 167,170, 174f, 178, 183f, 186, 191, 197 Transformation 35,58,87,98, 100, 101, 108-111,145,160,171,194 Transparenz 15, 19f, 27f, 38,44,56, 62,76,81,163,172 Tugend 52, 118, 121, 133, 135 Tyrannei (auch Tyrannis) 57, 60, 83, 129, 134, 137 Umweltschutz 191 Umwelttheorie (auch Umweltwissenschaft) 178-181 Unitarismus, anthropologischer 122 UNOWIS 16f, 19,22,26 Urbanität (auch Urbanisierung) 34, 37, 80 Utopia 7,25,33,37,39,41,45,49,83, 88,90, 114, 116, 118, 121, 128-130, 142, 145f, 151, 179f, 183f Utopie, anarchistische 8, 50-53, 62, 64f, 74,76, 126, 135 - archistische (auch etatistische oder autoritäre Utopie; Staatsutopie ) 8, 49-53,55,60,76-78, 82f, 116, 122, 124, 135, 162 - feministische 145,175-177 - kommunistische 25 - naturalisierte 8, 74, 76, 52, 64, 79 IS'

227

- postmaterielle 170,187,190-192 - "schwarze" 9, 13, 16,26, 154, 159162,167-170,174,176,186 Utopiebegriff 33-35, 146, 162 Utopieforschung 33,35, 115, 154 Utopietradition 13, 19-21,24, 43f, 51, 53-55,62,76-78,81,83, 93f, 106, 108,109,111,117,121,124,145, 147, 150f, 153, 159, 161-164, 166f., 170,175-177, 184f, 189, 192 Verbrechen 85,91, 130, 140 Verfassung (pol.) 47,61,97, 108, 114, 119,125,129-134,178 Vergemeinschaftung 45 Vernichtung 177 Vernunft 14,29,37,51,54,70,76,99, 102-111, 113f, 120f, 124f, 127, 134, 142, 149, 152, 160-162, 166f, 169, 186, 189, 192f, 195f Versailles 56, 60, 66, 119 Verstand 52, 118f Visionen 8,25,36,48,56,61,67,69, 76,93, 143, 148, 152, 167, 185, 188, 192f Volk 17,55, 57, 80, 84, 86, 102, 109, 128f, 130f, 133f, 137-140, 191, 196 Volkssouveränität 133, 138f volonte generale 97, 114, 123, 133-135 Wahl (pol.) 129, 131f, 137f, 165, 191 Wahrheits- und Politikmonopol 184f Wahrheitsbegriff, monistischer 195 Welt,neue 19,37,116,191 Welterklärungsmuster, überindividuelle 194 Weltgesellschaft 111, 191 f Welthandel 110 Wende, anthropologische 64, 113, 115, 123-127 Werte, humane 177 Whigs 51, 60f, 67-69, 76,119 Widerstandsrecht 114

228

Sachregister

Wiedertäufer 129, 152 Wildnis 27,31,61,65,77,119 Willensbildung, politische 85,129-131, 172,175 Wirtschaft 102, 104f., 110, 150, 164, 184, 187f., 190 Wissenschaft 23,29, 63f., 90, 100, 103, 105,107-109,117,121,141,145147, 149f., 153, 163, 165, 170, 173, 187f., 190, 192 Wohlfahrtsstaat 182 Wohlstand 17,71,87,102,140,152 Wörlitzer Park (auch Wörlitzer Gartenreich u.ä.) 52,66-72

Zeitalter, goldenes 56, 94 Zeitdiagnose 17,41,94,102,175, 195f. Zeit-Utopie 25,29,35, 47f., 108, 125, 145 Zensur (auch Zensoren) 134,161 Zivilisation 8f., 15,21,23, 27f., 3032,51,63-66,75-77,80,88,94,123, 136,153,162,172,179,183,194 Zukunft 9,14, 17, 20, 24f., 29, 35,45, 88, 90f., 101, 109-111, 126, 144, 146, 148, 152, 154, 159-162, 164, 167f., 173f., 181, 184, 188, 191, 199 Zukunftsforschung 146, 148