Individuum und Gesellschaft bei Wilhelm Raabe: Bürgerliche Devianz in "Abu Telfan", "Stopfkuchen" und "Die Akten des Vogelsangs" 9783110670684, 9783110670417

The conflict between the individual and society is a frequent subject in Wilhelm Raabe’s novels. The volume explores thi

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German Pages 294 [296] Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1 Das Individuum zwischen Bürgerlichkeit und Devianz
2 Das Individuum zwischen Anpassung und innerer Freiheit: Abu Telfan
3 Das Individuum zwischen Isolation und Selbstdarstellung: Stopfkuchen
4 Das Individuum zwischen Fremddeutung und Auflösung: Die Akten des Vogelsangs
5 Das Individuum innerhalb gesellschaftlicher Grenzen
Literaturverzeichnis
Index
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Individuum und Gesellschaft bei Wilhelm Raabe: Bürgerliche Devianz in "Abu Telfan", "Stopfkuchen" und "Die Akten des Vogelsangs"
 9783110670684, 9783110670417

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Sabine Haderer Individuum und Gesellschaft bei Wilhelm Raabe

Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur

Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart, Gangolf Hübinger, Barbara Picht und Meike Werner

Band 151

Sabine Haderer

Individuum und Gesellschaft bei Wilhelm Raabe Bürgerliche Devianz in „Abu Telfan“, „Stopfkuchen“ und „Die Akten des Vogelsangs“

Zugl. Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 2018.

ISBN 978-3-11-067041-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-067068-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-067074-5 ISSN 0174-4410 Library of Congress Control Number: 2019949652 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Danksagung  |  VII 1 1.1 1.2

Das Individuum zwischen Bürgerlichkeit und Devianz | 1 Zur Forschung | 2 Sozialgeschichtliche Darstellung des Bürgertums im 19. Jahrhundert | 11

2

Das Individuum zwischen Anpassung und innerer Freiheit: Abu Telfan | 24 Zur Bedeutung Afrikas: Eigenes und Fremdes als Kategorien zur Beschreibung gesellschaftlicher Zugehörigkeit | 24 Das Fremde zwischen Sensationslust und Devianz | 29 Das deviante Individuum als Verkörperung von Eigenem und Fremdem | 34 Zwischen Provinz und Residenz: Grundzüge der Gesellschaft | 38 „Triumph der höchsten Zivilisation“: Die Gesellschaft der Provinz | 38 „So bleibt die gewöhnliche Welt hübsch draußen“: Die adelige Gesellschaft der Residenz | 55 Die Suche nach sinnhafter Individualität innerhalb gesellschaftlicher Grenzen | 62 Äußerliche Anpassung und innere Fremdheit | 63 Möglichkeit einer öffentlich gelebten Individualität | 71 Individualität im Privaten | 79 Gesellschaftlichkeit als Bedingung gelebter Individualität | 82 Die Vernichtung weiblicher Individualität durch die militärische Erfüllung gesellschaftlicher Konventionen | 87 Die Katzenmühle: Totstellen und gesellschaftliches Totsein | 91 Das Leben im Traum als individuelles Glück | 98

2.1 2.1.1 2.1.2 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.4 2.5 2.6 3 3.1 3.2 3.2.1

Das Individuum zwischen Isolation und Selbstdarstellung: Stopfkuchen | 101 Individuelle Historie zur Relativierung des Gegensatzes zwischen Individuum und Gesellschaft | 102 Das bürgerliche Selbstverständnis | 107 Der „Spießbürger in seiner Kneipe“: Philisterkritik | 107

VI | Inhalt

3.2.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.5 4

Verlust der bürgerlichen Selbstsicherheit | 112 Der Fall Kienbaum | 126 Das Scheitern der Justiz und soziale Sanktionen | 126 Der Naturzustand als Bedrohung für individuelle Selbstbestimmung | 133 Die Mordaufklärung als individuelle Rache an den Mechanismen der Gesellschaft | 138 Klassenunterschiede und Kritik an der spießbürgerlichen Moralvorstellung | 146 Individuelle Selbstdarstellung des devianten Individuums | 150 Devianz und soziale Konsequenzen | 150 Bildung als Institution sozialer Reproduktion | 154 Stopfkuchen als unabhängiges Individuum? | 160 Problematik der Selbstdarstellung | 173

4.3.3 4.4 4.4.1 4.4.2

Das Individuum zwischen Fremddeutung und Auflösung: Die Akten des Vogelsangs | 183 Der Untergang des Vogelsangs: Zur Eigentumsthematik des Romans | 184 Gesellschaftliche Anpassung und soziale Karriere | 195 Väterliche Erziehung im Sinne der Gesellschaft | 195 Sozialer Aufstieg: Bürgerliche Musterbiografie | 202 Deutsches Großbürgertum und amerikanische Spekulanten | 206 Krise des bürgerlichen Individuums | 210 Bürgerliche Identitätskrise durch Auseinandersetzung mit dem „Anderen“ | 210 Überwindung der Krise: Auflösung des Widerspruchs im „Ganzen“ | 219 Krise des Bürgerlichen als Teil der Gesellschaft | 223 Das deviante Individuum als Verkörperung des „Anderen“ | 235 Die Negation des Bürgerlichen | 235 Der Versuch der Weltüberwindung | 247

5

Das Individuum innerhalb gesellschaftlicher Grenzen | 269

4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3 4.3.1 4.3.2

Literaturverzeichnis | 273 Index | 285

Danksagung An dieser Stelle möchte ich einigen Personen meinen Dank aussprechen, ohne deren Hilfe diese Arbeit niemals zustande gekommen wäre. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Gideon Stiening für die vielen hilfreichen Anregungen, die konstruktive Kritik und nicht zuletzt die außerordentlich freundliche Betreuung und Unterstützung. Des Weiteren danke ich Prof. Dr. Friedrich Vollhardt für die Übernahme des Zweitgutachtens. Stellvertretend für die Herausgeber verdanke ich Prof. Dr. Christian Begemann die Möglichkeit, meine Arbeit in der Reihe Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur veröffentlichen zu dürfen. Der größte Dank gilt meiner Familie, meiner Mutter Veronika und meiner Schwester Julia, die mich stets unterstützt und mir immer den Rücken freigehalten haben.

https://doi.org/10.1515/9783110670684-203

1 Das Individuum zwischen Bürgerlichkeit und Devianz Ich bin ich, und das ist das Leiden. Wie jedes anständige denkende Wesen machte ich den Versuch, in Waffen gegen die Welt aufzustehen; sie erhaschten aber den bunten Stieglitz schon auf der nächsten Hecke wieder und nun sitzt er in seinem Käfig und zieht seinen Bedarf an Wasser und Hanfsamen zu sich in die Höhe. […], so kam ich doch in das Tumurkieland, und was das schlimmste ist, ich sitze noch darin! (BA 7, S. 35)1

Mit diesen Worten beschreibt Nikola von Einstein dem gerade aus Afrika heimgekehrten Leonhard Hagebucher, dem Protagonisten in Wilhelm Raabes 1867 erschienenem Roman Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge, ihren Konflikt mit der Gesellschaft. Obwohl gerade Nikolas Stellung als Frau „gegen die Welt“ exzeptionell ist, kann ihre Aussage stellvertretend für viele Charaktere in Wilhelm Raabes Werken gelten. In seinen Romanen und Erzählungen begegnet man wiederholt Außenseiterfiguren2 – Einzelne, die aufgrund ihrer devianten Individualität, Einstellungen und Werte im Konflikt mit gesellschaftlichen Faktoren liegen. Diesen Figuren gegenüber steht ein Normierungsdruck der Gesellschaft mit ihrem Anspruch an jeden Einzelnen, die gesellschaftlichen Standards einzuhalten. Dabei beschreibt Wilhelm Raabe nicht nur eingehend die vorwiegend bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, sondern reflektiert auch gesellschaftliche Mechanismen im Umgang mit devianten Persön-

|| 1 Wilhelm Raabe: Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge. In: Ders.: Sämtliche Werke. Im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft hg. von Karl Hoppe. Bd. 7: Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge. Bearbeitet von Werner Röpke. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1969. Zitate aus diesem Band der „Braunschweiger Ausgabe“ werden mit der Sigle BA 7 und Seitenzahl nachgewiesen. 2 Hans Mayer beschäftigt sich mit Außenseitern in der Literatur und geht dabei vom Gleichheitspostulat der Aufklärung aus, welches er angesichts der gesellschaftlichen Außenseiter – wie Frauen, Homosexuelle und Juden – als gescheitert bezeichnet. Merkmale der Außenseiter reduziert er dabei auf ihre Subjektivität, die von der Gesellschaft nicht geteilt werde und somit zu „Monstren“ und „gedrückte[n] Mensch[en]“ mache. Des Weiteren unterscheidet er zwischen intentionalen, gegen äußere Umstände aufbegehrenden und existenziellen, aufgrund innerer Eigenschaften den äußeren Umständen ausgelieferten Außenseitern. Dabei werden jedoch Kategorien gesellschaftlicher Zugehörigkeit nicht mit der nötigen Präzision erkannt und genannt. Mayer spricht vielmehr von Grenzen und Tabus, deren Überschreitung genüge, um zum Außenseiter zu werden. Im Hinblick auf eine sozialgeschichtliche Interpretation dieser Problematik bei Raabe genügt seine Definition nicht. Hier liegt der Fokus vielmehr auf gesellschaftlicher Devianz und sozialen Ausschlusskriterien und -mechanismen. Vgl. Hans Mayer: Außenseiter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975, S. 9–23 (Zitate S. 11; Hervorhebung im Original). https://doi.org/10.1515/9783110670684-001

2 | Das Individuum zwischen Bürgerlichkeit und Devianz

lichkeiten. Das Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft, aber auch der adeligen Führungsschicht des späten 19. Jahrhunderts, verlangt vom Einzelnen Anpassung und Unterwerfung unter die gesellschaftlichen Konventionen, was der Sicherung der sozialen Stabilität dient – und für das Individuum wiederum eine Einschränkung seiner Individualität bedeuten kann. Der Einzelne wird, wie es Nikola ausdrückt, von der Gesellschaft in einen Käfig gesperrt. Hier deutet sich auch schon der zentrale Konflikt an, der zwischen der Entwicklung einer von der Sozialität unabhängigen Individualität und der gesellschaftlich normierten Umwelt herrscht: Das Individuum stellt die herkömmlichen Werte der Gesellschaft infrage, es steht sozusagen „in Waffen gegen die Welt“3 auf, da diese es an seiner Selbstverwirklichung hindert. Der Einzelne steht aber, „obgleich kein voll teilnehmendes Mitglied seiner Gesellschaft, […] nichtsdestoweniger unter dem Druck sozialer Kräfte“.4 Während diese Individuen „um [ihrer] Selbstverwirklichung willen die vorbehaltlose Anpassung an die Normen und Konventionen des Besitz- und Bildungsbürgertums“5 verweigern, scheinen die gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen eben genau das – eine von der Norm abweichende Persönlichkeitsentwicklung – unmöglich zu machen. Somit geht von beiden Einheiten, Individuum und Gesellschaft, eine Bedrohung für die jeweilig andere aus: Das Individuum fordert das gesellschaftliche Sicherheitsgefühl heraus, indem es sich in seiner Individualität nicht den geltenden Normen anpasst. Um ihre Stabilität zu sichern, lässt die Gesellschaft im Gegenzug jegliche Andersartigkeit innerhalb ihrer Kreise nicht zu. Individualität bzw. Selbstbewahrung scheinen hier nahezu unmöglich.

1.1 Zur Forschung Die „Frage nach dem Verhältnis des Menschen zur Welt“6 – „Welt“ wird dabei gerne als Synonym für die gesellschaftliche Umwelt gesehen – ist immer wieder Gegenstand der Betrachtung von Raabes Werken und wird unter verschiedenen Gesichtspunkten bewertet: Joachim Müller nennt es ein „soziale[s] Motiv“,7 das bereits in den früheren Erzählungen Raabes dominiere. Dabei wird bei Analysen

|| 3 BA 7, S. 35. 4 William T. Webster: Der „Hinhocker“ und der „Weltwanderer“. Zur Bedeutung der Reise bei Wilhelm Raabe. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 23 (1982), S. 57. 5 Gerhart Mayer: Wilhelm Raabe und die Tradition des Bildungsromans. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 21 (1980), S. 99. 6 Joachim Müller: Das Weltbild Wilhelm Raabes. In: DVjs 21 (1943), S. 198. 7 Joachim Müller: Das Weltbild Wilhelm Raabes, S. 199.

Zur Forschung | 3

der Fokus auf das Individuum gelegt, das Probleme mit den äußeren Umständen hat – oft im Sinne eines einfachen, gesellschaftlichen Ausgeschlossenseins, das bis zur Problematik der fast unmöglichen Weltbewältigung reicht. Die spezifisch gesellschaftlichen Begebenheiten, die Raabe hiermit eigentlich beschreibt, werden in der Forschung aber meistens nur umrissen oder, wie bei Joachim Müller, zugunsten einer moralischen Frage verschoben: Das Verhältnis des Menschen zur Welt, die eine böse Welt ist, wird damit als weiteres Grundanliegen Raabes sichtbar. Nun ist es bezeichnend, daß gerade die Menschen, die ein tapferes Herz und ein reiches Gemüt haben, davor zurückscheuen, sich allzu sehr mit der Welt einzulassen, weil sie sich ihr nicht gewachsen fühlen. […] Die aber wirklich mit beiden Füßen in der Welt stehen und sie bejahen, das sind meist die Gewissenlosen, die rohen Gesellen oder die gewandten Blender, die anderen nur Unheil bringen und freilich auch unheilvoll enden.8

Diese als negativ empfundene Weltsicht hat Raabe den Ruf eines Moralisten eingebracht.9 Insbesondere Raabes Auseinandersetzung mit zeitgenössischen politischen und wirtschaftlichen Veränderungen und der Gesellschaftswelt des 19. Jahrhunderts wird vor dem Hintergrund seiner eigenen kritischen Abneigung gegen die Philisterkreise und seiner politischen Ansichten gedeutet.10 Der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft wird hier unter einer ethischen Sozialkritik zusammengefasst. Es seien vor allem die „sozial Erniedrigten und Verfemten [und die] innerlich Einsamen“,11 die in einen Konflikt mit der Gesellschaft geraten. Gabriele Varo weist darauf hin, dass bei Raabe besonders die „selbstbewussten Charaktere […] von klein auf alles ab[stoßen], was ihrem Ich nicht entspricht“.12 Dazu gehören Einwände von Eltern, Erziehern und auch der Gesellschaftswelt des 19. Jahrhunderts.13 Das Individuum wird dabei als mora-

|| 8 Joachim Müller: Das Weltbild Wilhelm Raabes, S. 201–202. 9 Vgl. beispielsweise Georg Lukács: Die Grablegung des alten Deutschlands. Essays zur deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. Ausgewählte Schriften I. Reinbek: Rowohlt 1967, S. 103. 10 Vgl. Georg Lukács: Wilhelm Raabe. In: Raabe in neuer Sicht. Hg. von Hermann Helmers. Stuttgart: Kohlhammer 1968, S. 45–50; Dieter Kafitz: Die Appellfunktion der Außenseitergestalten: Zur näheren Bestimmung des Realismus der mittleren und späten Romane Wilhelm Raabes. In: Wilhelm Raabe. Studien zu seinem Leben und Werk. Hg. von Leo A. Lensing und HansWerner Peter. Braunschweig: pp-Verlag 1981, S. 55; Dieter Kafitz: Figurenkonstellationen als Mittel der Wirklichkeitserfassung. Dargestellt an Romanen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Freytag – Spielhagen – Fontane – Raabe). Kronberg: Athenäum 1978, S. 166–169. 11 Joachim Müller: Das Weltbild Wilhelm Raabes, S. 199. 12 Gabriele Varo: Feindlichkeit des Lebens und Lebensbewältigung in den Romanen Wilhelm Raabes. Pfaffenweiler: Centaurus 1994, S. 19. 13 Vgl. Gabriele Varo: Feindlichkeit des Lebens, S. 56–68.

4 | Das Individuum zwischen Bürgerlichkeit und Devianz

lisch besser, menschlicher und in seiner Originalität wertvoller dargestellt als das gesellschaftliche, kapitalistisch korrumpierte und uniforme Kollektiv, dem es hilflos ausgeliefert ist.14 Die Außenseiter seien „Träger einer bestimmten konservativ-liberalen Weltsicht des Autors“15 und würden dadurch auf die „Mißstände der dargestellten gesellschaftlichen Wirklichkeit“16 verweisen. Die jedem „moralische[n] Mensch[en]“17 gegenübergestellte Gesellschaft wird deshalb streng verurteilt und die „Humanisierung der öffentlichen Meinung“18 zum Ziel von Raabes Sozialkritik erklärt. Diesen Betrachtungen gemeinsam ist, dass sie die zentralen gesellschaftlichen Bedingungen nur hinsichtlich ihrer Gefahr für das Individuum betrachten. Zwar wird, wie bei Dieter Kafitz, der Wirklichkeitsanspruch der dargestellten Gesellschaftswelt betont,19 die gesellschaftlichen Funktionsweisen werden jedoch nur hinsichtlich ihrer moralischen Defizite untersucht. Auch Erich Weniger, der Raabes Werke nicht moralisch bewertet – es gehe um „Kategorien des Seins und nicht des Sollens“20 – empfindet die Problematik zwischen Individuum und Gesellschaft als Gegensatz zwischen Philistertum und „wirkliche[m] Menschentum“.21 Diese Tendenz, die devianten Charaktere in Raabes Werken als menschlicher und die gesellschaftliche Ordnung als unmenschliche Sozialform zu deuten, wird besonders im Rahmen der „Sonderlingsforschung“ deutlich. Hier wird häufig die Differenz von Individuum und Gesellschaft auf die in Raabes Romanen dargebotene Gesellschaftskritik reduziert. Ausgangspunkt für die Analyse in Bezug auf den zentralen Konflikt ist dabei stets das von der gesellschaftlichen Norm abweichende Individuum. Ausgehend von diesem wird nachgezeichnet, auf welche Weise es der Gesellschaft gegenübergestellt und infolgedessen aus ihr ausgeschlossen wird, bzw. sich selbst für die Isolation und damit für ein Leben außerhalb der Gesellschaft entscheidet oder sich mit ihr arrangiert. Der Begriff des Sonderlings wird von Herman Meyer als Typus in der Literatur beschrieben, der sich durch die Abweichung objektiver Normen auszeichne.22 Stanley Radcliffe nennt dage-

|| 14 Vgl. Dieter Kafitz: Appellfunktion, S. 60, 72; Georg Lukács: Wilhelm Raabe, S. 54–57. 15 Dieter Kafitz: Appellfunktion, S. 72. 16 Dieter Kafitz: Appellfunktion, S. 72. 17 Georg Lukács: Wilhelm Raabe, S. 57. 18 Dieter Kafitz: Appellfunktion, S. 60. 19 Vgl. Dieter Kafitz: Figurenkonstellation, S. 21. 20 Erich Weniger: Wilhelm Raabe und das bürgerliche Leben. In: Raabe in neuer Sicht. Hg. von Hermann Helmers. Stuttgart: Kohlhammer 1968, S. 79. 21 Erich Weniger: Wilhelm Raabe und das bürgerliche Leben, S. 92. 22 Vgl. Herman Meyer: Der Sonderling in der deutschen Dichtung. Frankfurt a. M.: Ullstein 1984, S. 24.

Zur Forschung | 5

gen drei Aspekte, nämlich eine „andersartige Benehmens- und Denkensweise als die geläufige gesellschaftliche Norm“,23 die „Gleichgültigkeit den Mustern oder dem Tadel der Gesellschaft gegenüber“24 und eine „starke[...] oder hochphantasievolle[...] Persönlichkeit“.25 Im Allgemeinen wird sich hierbei also mit gesellschaftlich devianten Individuen beschäftigt, wobei ein Fokus auf die Abweichung von gesellschaftlichen Normen und Konventionen gelegt wird. Sonderformen der Beschäftigung mit diesen devianten Einzelnen finden sich hingegen beispielsweise bei William Webster oder Iulia-Karin Patrut, die sich im Hinblick auf gesellschaftliche Kategorien des sozialen Ausschlusses mit psychisch Kranken26 und inner-gesellschaftlich Fremden, wie Sinti und Roma oder Juden,27 beschäftigen. Generell wird bei der Analyse der Romane Raabes in diesem Bereich verstärkt der Fokus auf normabweichende Sonderlinge gelegt, deren individuelle Freiheit sich in einer Auseinandersetzung mit der „nivellierenden Macht der fortschreitenden Zivilisation“28 befinde. Die gesellschaftliche Wirklichkeit wird dabei nur am Rande und besonders in Zusammenhang mit ihren Einflüssen auf die Individualität des Sonderlings betrachtet. Als zentrale Problematik wird hierbei erkannt, dass der Sonderling nur im Rahmen des Ausgeschlossenseins sich selbst behaupten könne,29 woraus eine spezifische Gesellschaftskritik abgeleitet wird: Mit jedem Beispiel übt Raabe seine Kritik an der Gesellschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Anklage ist selten spezifischer Art; es werden allgemein Werte und die geistigen Horizonte dieser Gesellschaft angegriffen. Die Folgen für den Einzelnen sind es, die Raabe angehen, und wir sehen nur, wie seine Gestalten persönlich durch die zunehmende Anonymität, Gewinnsucht und den starren Konventionalismus ihrer Gesellschaft befallen werden. In jedem individuellen Fall können wir feststellen, daß soziale und politische

|| 23 Stanley Radcliffe: Der Sonderling im Werk Wilhelm Raabes (Raabe-Forschungen 2). Braunschweig: pp-Verlag 1984, S. 4. 24 Stanley Radcliffe: Der Sonderling, S. 4. 25 Stanley Radcliffe: Der Sonderling, S. 4. 26 William T. Webster: Psychiatrische Beobachtungen oder Gesellschaftskritik? Zur Darstellung geistiger Abnormalitäten im Werk Wilhelm Raabes. In: Wilhelm Raabe. Studien zu seinem Leben und Werk. Hg. von Leo A. Lensing und Hans-Peter Werner. Braunschweig: pp-Verlag 1981, S. 324–341. 27 Iulia-Karin Patrut: Nation, Bürgertum und ihre „inneren Fremden“ bei Wilhelm Raabe. In: Signaturen realistischen Erzählens im Werk Wilhelm Raabes. Hg. von Dirk Göttsche und UlfMichael Schneider. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 103–124. 28 Herman Meyer: Sonderling, S. 235. 29 Vgl. beispielsweise Herman Meyer: Sonderling, S. 252.

6 | Das Individuum zwischen Bürgerlichkeit und Devianz

Faktoren dazu beigetragen haben, daß diese Gestalten eine mißtrauische oder ablehnende Haltung der Gesellschaft gegenüber angenommen haben.30

Auch Günther Matschke bezeichnet die gesellschaftliche Isolation der Individuen als Ausdruck einer Gesellschaftskritik und richtet dabei den Fokus auf die isolierten Einzelnen. Individualität wird dabei allein dem nichtgesellschaftlichen Bereich zugewiesen, die nur in der Isolation bewahrt werden könne und somit aus einer gegengesellschaftlichen Position als Mittel zur gesellschaftlichen Kritik verwendet werde.31 Auch Renate Heuer beschäftigt sich mit dem Gegensatz zwischen Individuum und Allgemeinheit. Die Gesellschaft wird hier jedoch auf die „Nivellierung alles Besonderen“32 reduziert und die „Veränderung des Gesellschaftszustandes zu erreichen“,33 wird zum Ziel der gegengesellschaftlichen Haltung dieser „besonderen“ Individuen gesetzt. Dieser starke Fokus auf das von der Gesellschaft divergierende Individuum scheint aber zu kurz zu greifen. Denn in Raabes Romanen begegnet man auch explizit gesellschaftlichen Individuen. Es scheint also ebenso ein spezifisches Verhältnis von Individualität und der jeweiligen Stellung des Individuums innerhalb der Gesellschaft zu geben. So sehen sich auch gerade jene Individuen, die die objektiven Normgrenzen der Gesellschaft überschreiten, subjektiv nicht dieser zugehörend – bis hin zur öffentlichen Negierung der gesellschaftlichen Werte –, während andere Individuen eine spezifisch gesellschaftliche Identität entwickeln und so auch einen bestimmten Rang in der Gesellschaft erwerben. Es muss folglich nicht nur eine von der Gesellschaft abweichende, deviante Persönlichkeitsentwicklung geben, sondern auch so etwas wie eine innerliche Konstitution von Gesellschaftlichkeit. Auch wenn Raabes Figuren und bisweilen auch seine Erzähler zweifelsohne eine stark gesellschaftskritische Einstellung einnehmen, kann die Aussage seiner Werke daher nicht allein als Gesellschaftskritik gewertet werden. Sie sind vielmehr auch eine sozialhistorische Studie, die gesellschaftliche Elemente und deren Entwicklung miteinbezieht und so sichtbar macht, wo und wie sich der Gegensatz zwischen einem von der Norm abweichenden Individuum und der Gesellschaft entfaltet. Deshalb müsste auch eine Neubewertung dieses zentralen Konflikts nicht nur von den devianten Figuren in Raabes Romanen ausgehen, sondern auch die Bereiche der Gesamtgesellschaft und der vergesellschafteten Individuen miteinbeziehen. Schon || 30 Stanley Radcliffe: Der Sonderling, S. 47. 31 Vgl. Günther Matschke: Die Isolation als Mittel der Gesellschaftskritik bei Wilhelm Raabe. Bonn: Bouvier 1975, S. 154. 32 Renate Heuer: Individualität und Allgemeinheit bei Wilhelm Raabe. Diss. Köln 1955, S. 42. 33 Renate Heuer: Individualität und Allgemeinheit, S. 67.

Zur Forschung | 7

in Bezug auf Raabes Werke wäre deshalb die erneute Untersuchung der Differenz zwischen Individuum und Gesellschaft relevant. Diese außerindividuellen Kategorien versuchen sowohl Dirk Göttsche als auch Hermann Helmers miteinzubeziehen. Göttsche konzentriert sich dabei auf geschichtliche Veränderungen und deren Einfluss auf die Identität. Sein zentraler Fokus liegt auf der zeitgeschichtlichen Erfahrung und deren Bedeutung für die personale Identität im Kontext des Zeitromans nach 1848.34 Seine Arbeit berücksichtigt zwar das Verhältnis des zeitkritischen Individuums zu größeren zeitgeschichtlichen Umbrüchen, spart aber die Konsequenzen für gesellschaftliche Phänomene und die Problematik des Individuums mit der Gesellschaft aus. Helmers dagegen untersucht die das Individuum beeinflussenden „Mächte“ der Gesellschaft und konzentriert sich dabei auf erzieherische und bildende Einflüsse. Dabei bezieht er die zeitgenössische Wirklichkeit oder gesellschaftliche Maxime, wie den sozialen Status oder das Bürgertum im Allgemeinen, mit ein.35 Die Gesellschaft wird aber begrifflich ungenau, insbesondere als „Vollstrecker eines anonymen Gesamtwillens“36 im Hinblick auf ihren Umgang mit den Außenseiterfiguren, analysiert. Auch Helmers’ Begrifflichkeiten für die einzelnen „bildenden Mächte“ weisen wenig gesellschaftliche Realität auf: So werden auch „Mächte der ‚Dunkelheit‘“37 zur gesellschaftlichen Einflusssphäre aufgenommen. Hierzu zählt er u.a. den außermenschlichen Bereich, die Naturgewalten, den Tod oder das Böse, die in der Auseinandersetzung mit dem Helden dessen innere Entwicklung konstituieren. Diese werden in die gesellschaftliche Wirklichkeit eingegliedert, wobei sie auf eine gesellschaftskritische Haltung verweisen, wenn die Gesellschaft zur „anonymen Macht des Bösen“38 erklärt wird. Dagegen gibt es auch Bestrebungen in Raabes Werken hinsichtlich einer spezifisch bürgerlichen Problematik zu untersuchen. Seinen Fokus auf speziell bürgerliche Individuen legt beispielsweise Hubert Ohl, der gerade in der Auseinandersetzung mit den bürgerlichen Erzählergestalten der späteren Romane deren Hinterfragen bürgerlicher Erscheinungsformen erkennt: Er hat sich in seinen Werken nicht im Sinne des Zeitromanes der sozialen Wirklichkeit seiner Zeit in der vollen Breite ihrer Erscheinungen zugewandt; aber er hat die Antino-

|| 34 Vgl. Dirk Göttsche: Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 4–12. 35 Vgl. Hermann Helmers: Die bildenden Mächte in den Romanen Wilhelm Raabes. Weinheim: Beltz 1960, S. 13–16; 34–38. 36 Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 35. 37 Vgl. beispielsweise Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 38. 38 Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 76.

8 | Das Individuum zwischen Bürgerlichkeit und Devianz

mien der bürgerlichen Gesellschaft in einzelnen Gestalten exemplarisch zur Darstellung gebracht. Das geschieht vor allem in den Erzählergestalten der späten Romane – im Sinne einer Reflexion des bürgerlichen Lebensverständnisses auf seine eigenen Voraussetzungen – und in den ihnen zugeordneten, meist die „Binnenhandlung“ beherrschenden, „unbürgerlichen“ Kontrastgestalten. In ihnen begegnet den bürgerlichen Erzählern etwas von jener Unbedingtheit, die sie selbst – wie die bürgerliche Gesellschaft – aufgegeben haben.39

Dieser Auseinandersetzung mit bürgerlichen Daseinsproblemen schließen sich u.a. Eckhardt Meyer-Krentler40 und Felix Wassermann41 an. Dem Bürgerlichen wird hier nicht mehr jegliches lebensbewältigendes Potenzial abgesprochen – im Gegenteil wird Raabes bürgerlichen Figuren ebenfalls die Fähigkeit, die Problematik ihrer Existenz zu erkennen, zugestanden. Dabei wird der Fokus auf deren Auseinandersetzung mit dieser Problematik im Rahmen einer bürgerlichen Lebensführung gelegt. Andere Versuche zur Deutung der Problematik des Individuums und der Gesellschaft finden sich beispielsweise in Arbeiten über die Raumsymbolik42 oder der Beschäftigung mit der Idylle.43 Diese Werke stellen zwar hauptsächlich andere Themenbereiche der Werke Raabes dar, verweisen aber in ihren Deutungsangeboten auf den zentralen Konflikt zwischen Mensch und Umwelt. So wird bei Karl Hotz darauf hingewiesen, dass sich Mensch und Raum entsprechen – die spezifische Raumsymbolik in Raabes Werk erhält dabei die Funktion, grundlegende Spannungen zwischen Teilen der Gesellschaft darzustellen.44 Die Idylle dagegen wird als großer Gegensatz zur „Welt“ gedeutet, in die sich die devianten Individuen zurückziehen könnten, die aber besonders von der „lärmenden, auf Äußerlichkeit und Gleichmacherei gerichteten modernen Zeit“45 bedroht werde. Raabe wird als Idylliker gedeutet, dem es um die

|| 39 Hubert Ohl: Eduards Heimkehr oder Le Vaillant und das Riesenfaultier. Zu Wilhelm Raabes Stopfkuchen. In: Raabe in neuer Sicht. Hg. von Hermann Helmers. Stuttgart: Kohlhammer 1968, S. 275. 40 Vgl. Eckhardt Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur. München: Fink 1984, S. 241–281. 41 Vgl. Felix M. Wassermann: Die Akten des Vogelsangs und das Problem der bürgerlichen Existenz im Neuen Reich. In: German Quarterly 36/4 (1963), S. 421–433. 42 Vgl. hierzu Karl Hotz: Bedeutung und Funktion des Raumes im Werk Wilhelm Raabes. Göppingen: Kümmerle 1970. 43 Vgl. z.B. Uwe Heldt: Isolation und Identität. Die Bedeutung des Idyllischen in der Epik Wilhelm Raabes. Frankfurt a. M.: 1980; Karin Kluger: „Der letzte Augenblick der hübschen Idylle“. Die Problematisierung der Idylle bei Wilhelm Raabe. New York: Lang 2001. 44 Vgl. Karl Hotz: Bedeutung und Funktion des Raumes im Werk Wilhelm Raabes. Göppingen: Kümmerle 1970, S. 26. 45 Joachim Müller: Das Weltbild Wilhelm Raabes, S. 206.

Zur Forschung | 9

Darstellung des „Allgemeinmenschlichen“ gehe.46 Sein Bild der Idylle wird im Hinblick auf die zerstörerischen Zeitkräfte untersucht, die die durch die Idylle verkörperten allgemeinen, überdauernden Werte bedrohen. Dagegen stehen Uwe Heldts und Karin Klugers Werke, die der Idylle gesellschaftliche Dimensionen verleihen.47 Die Modernisierung der Lebensbereiche im 19. Jahrhundert und die damit einhergehende rasche gesellschaftliche Entwicklung wird als Gefahr für die Idylle, die meist als Rückzugsort für jene Individuen fungiert, die mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten Probleme haben, bezeichnet.48 Die Idylle steht sozusagen der gesellschaftlichen Welt gegenüber. In ihr können sich jene devianten Persönlichkeiten vor der Gesellschaft und damit auch vor dem gesellschaftlichen Anderssein zurückziehen. Wenn die Idylle aber vom Fortschritt der Modernisierung bedroht wird, gerät das Individuum in die Schnittstelle zur Gesellschaft und muss sich somit wieder mit diesem Gegensatz auseinandersetzen.49 Erst im Kontakt mit der Gesellschaft erfährt das Individuum den Konflikt dieser mit seiner Individualität. Damit sind es aber die Herausforderungen der Moderne, die nicht nur eine raschere Gesellschaftsentwicklung begünstigen, sondern auch die Konstituierung von Individualität prägen: „Individualität wird hier […] als eine spezifisch moderne Lebensaufgabe [begriffen], die über die Situierung des Subjekts innerhalb einfacher dualer Bezüge hinausgeht.“50 Unter diesem Gesichtspunkt müssen auch die zurückgezogenen Orte der Idylle in Raabes Werken gedeutet werden – sie verweisen noch auf die alte Welt, in der die von der „modernen Zeit“51 bedrohte Individualität noch kein Konfliktthema war, da die Gesellschaft noch nicht in den privaten Lebensbereich eingedrungen ist. Während frühere Arbeiten über den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft von deren Abweichung ausgegangen sind, ist es das Ziel dieser Arbeit, auch deren Konvergenz nachzuzeichnen. Anhand dreier Romane Wilhelm

|| 46 Vgl. Karl Jürgen Ringel: Wilhelm Raabes Roman Hastenbeck. Ein Beitrag zum Verständnis des Alterswerkes. Bern: Lang 1970, S. 50. 47 Heldt konzentriert sich dabei auf eine marxistische Deutungsweise der Idylle, welche der Wunsch nach einem Leben ohne Entfremdung sei. Kluger untersucht dagegen vermehrt die Bedeutung der Idylle für die Innerlichkeit der Person. Vgl. Uwe Heldt: Isolation und Identität. Die Bedeutung des Idyllischen in der Epik Wilhelm Raabes. Frankfurt a. M.: Lang 1980, S. 14; Karin Kluger: Problematisierung der Idylle, S. 9. 48 Vgl. Karin Kluger: Problematisierung der Idylle, S. 19. 49 Vgl. Karin Kluger: Problematisierung der Idylle, S. 35–40. 50 Jutta Schlich: Literarische Authentizität. Prinzip und Geschichte. Tübingen: Niemeyer 2002, S. 51. 51 Joachim Müller: Das Weltbild Wilhelm Raabes, S. 206.

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Raabes – Abu Telfan (1867), Stopfkuchen (1891) und Die Akten des Vogelsangs (1896) – soll deshalb der in ihnen dargestellte Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft untersucht werden und dabei die Zusammenhänge zur gesellschaftlichen Wirklichkeit im ausgehenden 19. Jahrhundert aufgedeckt werden. Diese drei Romane können stellvertretend für die Darstellung der Problematik in Raabes Werken gelten, da man, neben den Protagonisten, Leonhard Hagebucher, Heinrich Schaumann und Velten Andres in ihnen noch weitere solcher Außenseiterfiguren aber auch andere angepasste und nicht angepasste Vertreter der Gesamtgesellschaft findet, die aus verschiedenen Gründen in Konflikt mit der Gesellschaft treten. Dabei werden auch unterschiedliche Positionen innerhalb der Gesellschaft dargestellt – von den ärmlichen Verhältnissen des Landbriefträgers Störzer bis zum großbürgerlichen Haushalt Karl Krumhardts und dem adeligen Leben in der Residenz Abu Telfans. Dies ermöglicht einen eingehenden Blick auf Raabes Darstellung der Gesamtgesellschaft sowie auf die historischen und sozialen Entwicklungen in Deutschland im 19. Jahrhundert. Denn die Gesellschaft, die Raabe in seinen Romanen beschreibt, zeigt klare Bezüge zur zeitgenössischen gesellschaftlichen und historischen Wirklichkeit, die beispielsweise besonders durch den Erzähler in Abu Telfan kritisch hinterfragt wird. Ausgehend von den Figuren und der Gesellschaftssituation der Romane soll die Problematik zwischen dem Wunsch nach einer gesellschaftlich unabhängigen Entwicklung des Individuums und dem Anspruch auf Homogenität und Anpassung der Gesamtgesellschaft aufgezeigt werden. Dabei sollen folgende Themenschwerpunkte untersucht werden: (1) Wie gestaltet sich in den drei zu analysierenden Romanen Individualität und inwiefern unterscheidet sich das Individuum von der Gesellschaft? Dabei sollen neben jenen Schnittstellen, an denen die devianten Persönlichkeiten der gesellschaftlichen Ordnung gegenübergestellt werden, auch die Übereinstimmungen gesellschaftlicher Individuen mit der Sozialität herausgearbeitet werden. Zudem soll dargestellt werden, wann eine gesellschaftliche Normüberschreitung vorliegt, die von den Vertretern der Normalgesellschaft gegebenenfalls sozial geahndet wird. Ebenso sollen die Auswirkungen einer von der Norm abweichenden Individualität für das Individuum selbst und für die Gesellschaft sowie deren Reaktionen darauf genauer betrachtet werden. Unter Berücksichtigung der Entwicklung der einzelnen Figuren zu oder weg von der Gesellschaft, soll somit eine Beurteilung des Konflikts für die Individualität vorgenommen werden. (2) Wie werden die gesellschaftliche Ordnung und ihre inneren Funktionsmechanismen in den drei Romanen reflektiert? Dabei soll auch auf verschie-

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dene Gesellschaftsschichten und deren besondere Symbolsysteme und Sichtweisen eingegangen werden. Im Hinblick auf eine sozialgeschichtliche Untersuchung des Themas soll gleichzeitig anhand von gesellschaftswissenschaftlichen Theorien die Funktion von Gesellschaft im Allgemeinen und die spezifische Funktion von Sozialisation für die Eingliederung des Individuums in die Gesellschaft beschrieben werden. Dadurch soll der Gegensatz von Individuum und Gesellschaft deutlicher herausgearbeitet und besonders der gesellschaftliche Anteil an der Problematik erörtert werden. (3) Wie gestaltet sich die Institutionalisierung gesellschaftlicher Normen? Hierbei soll vor allem die Rolle von Normen in der Gesellschaft dargelegt und der Prozess der Verinnerlichung durch spezifische gesellschaftliche Institutionen nachgezeichnet werden. Außerdem soll die Frage geklärt werden, welchen Einfluss und welche Auswirkungen die strenge Normvorgabe, gerade die der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, auf die Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen hat und wie dies speziell in den Romanen Raabes dargestellt wird. (4) Welche Problemlösungen werden innerhalb der Romane für den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft geboten? Dabei soll auch untersucht werden, ob diese Lösungen vom Individuum selbst gewählt oder ob eventuell durch die Gesellschaft Einschränkungen vorgegeben werden. (5) Welche Funktionen haben zeitgenössische Gegebenheiten, wie die Rolle des Bürgertums, der gesellschaftliche Wandel, die wirtschaftliche Modernisierung oder historische Ereignisse in den Romanen und wie fallen deren Bewertungen aus? Welchen Einfluss haben sie auf den dargestellten Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft oder auf dessen Lösung?

1.2 Sozialgeschichtliche Darstellung des Bürgertums im 19. Jahrhundert Der in Wilhelm Raabes Romanen beschriebene Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft lässt sich sowohl soziohistorisch als auch soziologisch verorten.52 Um die Darstellung der Gesellschaft und die dadurch entwickelte Proble|| 52 Diese Arbeit geht, basierend auf der sozialgeschichtlichen Literaturmethode, zunächst von der inhaltlichen Gesellschaftsdarstellung aus, um dann durch den Vergleich mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit und im Hinblick auf soziologische Gesellschaftstheorien Parsons und Bourdieus Rückschlüsse über die in den Romanen gemachte Gesellschaftskritik treffen zu können. Über die Sozialgeschichte der Literatur siehe: Renate von Heydebrand (Hg.): Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur. Ein struktural-funktionaler

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matik des Individuums analysieren zu können, muss jedoch zunächst ein Blick auf die zeitgenössische Gesellschaft Raabes geworfen werden. Raabe beschreibt in seinen Romanen eingehend und facettenreich die Gesellschaftswelt des 19. Jahrhunderts, lässt aber auch seine persönliche Sichtweise auf die vorwiegend bürgerliche Gesellschaft einfließen. Die Gesellschaft wird in Raabes Romanen und Erzählungen nicht nur dem Individuum gegenübergestellt, sondern auch kritisch beurteilt. Soziale Handlungen und Konstellationen sind somit zum großen Teil Gegenstand seiner Romane, bei denen man durch die Betrachtung der tatsächlichen Gesellschaftswelt des 19. Jahrhunderts durchaus von einem Wirklichkeitsbezug ausgehen kann. Das 19. Jahrhundert wird oft auch als „bürgerliche Epoche“53 bezeichnet. Darin versteckt sich die „soziale und kulturelle Machtstellung“54 des Bürgertums, welches als neue Sozialform die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklung maßgeblich beeinflusst. Dabei soll das „Bürgertum“ zunächst jedoch nicht im eingegrenzten Sinne eines rechtlichen Standes, etwa einer gesellschaftlichen Mittelschicht bestehend aus bestimmten Berufsgruppen,55 aufgefasst werden, sondern in der enger gefassten Bedeutung des Begriffs „Bürgerlichkeit“. Damit ist der für diesen spezifischen Teil der Gesamtgesell-

|| Entwurf. Tübingen: Niemeyer 1988; Martin Huber und Gerhard Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen: Niemeyer 2000; Jörg Schönert: Perspektiven der Sozialgeschichte der Literatur. Beiträge zu Theorie und Praxis. Tübingen: Niemeyer 2007; Hans Norbert Fügen: Zur Wissenschaftlichkeit und Systematik der soziologischen Romaninterpretation. In: IASL 7 (1982), S. 1–20. 53 Andreas Schulz: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenburg 2005, S. IX. Schulz spricht auch davon, dass das Bürgertum in diesem Jahrhundert die kulturelle Hegemonie erlangte. 54 Andreas Schulz: Lebenswelt, S. 22. 55 Die Heterogenität des Bürgertums im 19. Jahrhundert wird mehrfach erwähnt. So geht das Bürgertum aus dem mittelalterlichen Stadtbürgertum hervor. Gehören damals noch kleine Kaufleute und Handwerker zur bürgerlichen Schicht, ändert sich dies bis ins 19. Jahrhundert zugunsten der Selbstständigkeit als Voraussetzung für die Zugehörigkeit zum Bürgertum. Des Weiteren werden auch Beamte, Gelehrte und Angehörige der Geistlichkeit dazu gezählt. Durch die Industrialisierung ab Mitte des 19. Jahrhunderts bilden sich die lohnabhängigen Teile der Bevölkerung zu einer neuen Sozialschicht, dem Kleinbürgertum, heraus. Vgl. Reinhart Koselleck u. a.: Drei bürgerliche Welten? Zur vergleichenden Se-mantik der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland, England und Frankreich. In: Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit. Wirtschaft – Politik – Kultur. Hg. von Hans-Jürgen Puhle. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991, S. 14–58. Und Hans-Ulrich Wehler: Die Geburtsstunde des deutschen Kleinbürgertums. In: Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit. Wirtschaft – Politik – Kultur. Hg. von Hans-Jürgen Puhle. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991, S. 199–209.

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schaft vorherrschende Lebensstil und dessen Werte gemeint. Die Identität des Bürgertums wird nicht durch eine rechtliche Definition der Zugehörigkeit bestimmt, sondern durch symbolische Formen, wie Normen und Konventionen, die für das gesamte Bürgertum gelten und ein einigermaßen kohärentes Bild einer speziell bürgerlichen Lebensart prägen. Dieses bürgerliche Weltbild spiegelt sich in der „Zielutopie“ des Standes „als Vereinigung rechtlich freier, durch Besitz und Bildung ausgezeichneter, wirtschaftlich ungestört konkurrierender, besitzindividualistisch orientierter, politisch handlungsfähiger Individuen“56 wider. Rechtliche Freiheit und Gleichheit, sowie politische Selbstorganisation sind zentrale Begriffe der bürgerlichen Ideologie, die jedoch in der Realität trotz eines liberalen Gesellschaftsmodells politisch wie moralisch nicht erfüllt werden konnten. Politisch immer noch von den alten Herrschaftsständen dominiert und dadurch zunehmend apolitisiert,57 bleiben auch im Sozialen, „im außerpolitischen Sinne […] die alten Stände mächtig und einflußreich, stilbildend und wirksam“.58 Was dem Bürgertum bleibt, ist ein Rückzug ins Private – im Gegensatz zum Politischen – und die Fokussierung auf wirtschaftlichen und sozialen Einflussgewinn. Gerade letzterer wird besonders stark vom Bürgertum forciert: Indem es versucht, sich immer mehr gegen den Adel und die alten Ordnungsverhältnisse abzugrenzen, wird Bürgerlichkeit zunehmend zur „Kultur und Verhaltensmatrix“.59 Es entsteht ein „Raum staatlich gesicherter, aber nicht staatlich vorgegebener Lebensverhältnisse“,60 in dem der Boden für eine neue Form sozialer Ungleichheit geboten wird, die durch die Einhaltung oder Missachtung strenger sozialer Kodizes bestimmt wird. So wird die ökonomische Zugehörigkeit zum Bürgertum – dem gesellschaftlichen Mittelstand – nun enger gefasst als vorher: Berufe, die früher zum Bürgertum gehörten, wie Handwerksmeister und kleinere Kaufleute, gehören nun dem Kleinbürgertum an und verlieren dadurch an sozialem, wirtschaftlichem und politischem Einfluss. Dagegen steigt eine neue Gruppe wohlhabender Bourgeoisie, angesehener Bil-

|| 56 Hans-Ulrich Wehler: Die Zielutopie der „Bürgerlichen Gesellschaft“ und die „Zivilgesellschaft“ heute. In: Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986–1997). Hg. von Peter Lundgreen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 86. 57 Vgl. Reinhart Koselleck u. a.: Drei bürgerliche Welten, S. 16–17. 58 Reinhart Koselleck u. a.: Drei bürgerliche Welten, S. 17. 59 Manfred Hettling: Die persönliche Selbstständigkeit. Der archimedische Punkt bürgerlicher Lebensführung. In: Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Hg. von Manfred Hettling und Stefan-Ludwig Hoffmann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 76. 60 Manfred Hettling: Die persönliche Selbstständigkeit, S.76.

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dungsbürger und gelehrter Beamter in den Stand des Bürgertums auf, die vor allem über die strenge Einforderung der Realisierung ihrer sozialen Werte ihre gesellschaftliche Macht ausüben. Für das 19. Jahrhundert gilt sozusagen ein „bürgerlicher Wertehimmel“,61 ein „Spektrum an Sinndeutungen und Verhaltensanleitungen, die den Bürgern des 19. Jahrhunderts als Handhabe dafür dienen sollten, ihr Leben ‚zu ordnen‘“.62 Dadurch wird sichergestellt, dass die „unterschiedliche[n] Lebensordnungen unter einheitlichen moralischen Vorzeichen“63 zusammengefasst werden. Denn während diese Werte durchaus identitätsstiftend für seine Mitglieder sind, wird über sie ebenfalls der gesellschaftliche Einfluss des neuen Bürgertums geltend gemacht. So ist zwar die Zugehörigkeit zu dieser Schicht nicht exklusiv, aber entscheidend über diese „sittlich-moralische[n] Qualitäten“64 bestimmt. Bürgerlichkeit wird so zum sozialen Statusbegriff: Es reichte nicht aus, in einer bestimmten sozialen Position geboren zu sein, um Bürger zu sein. Daß die Wiege im Haushalt eines Kaufmanns, eines Professors oder eines Pastoren stand, war hierfür nur eine zwar meist notwendige, jedoch nicht hinreichende Bedingung. Entscheidend war vielmehr das Erlernen einer spezifischen Lebensführung.65

Diese „spezifische Lebensführung“ meint, um es mit Pierre Bourdieu zu sagen, die Einhaltung eines für eine bestimmte Gesellschaftsschicht geltenden Habitus: Damit sind „die Haltung des Individuums in der sozialen Welt, seine Dispositionen, seine Gewohnheiten, seine Lebensweise, seine Einstellungen und seine Wertvorstellungen gemeint“.66 Gesellschaftliches Zusammenleben erhält dadurch Stabilität, indem von jedem Einzelnen ein mit dem Habitus konformes,

|| 61 Vgl. Manfred Hettling und Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. 62 Manfred Hettling und Stefan-Ludwig Hoffmann: Zur Historisierung bürgerlicher Werte. Einleitung. In: Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Hg. von Manfred Hettling und Stefan-Ludwig Hoffmann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 9. 63 Manfred Hettling und Stefan-Ludwig Hoffmann: Zur Historisierung bürgerlicher Werte, S. 9. 64 Manfred Hettling: Die persönliche Selbstständigkeit, S. 58. Georg Wilhelm Friedrich Hegel unterscheidet Moralität und Sittlichkeit, wobei sich der subjektive Wille der Moralität in die gesellschaftliche Ordnung, die Sittlichkeit eingliedert. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, § 141. 65 Manfred Hettling: Die persönliche Selbstständigkeit, S. 58. 66 Werner Fuchs-Heinritz und Alexandra König: Pierre Bourdieu. Eine Einführung. Konstanz: UVK 2005, S. 113.

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soziales Verhalten und Handeln erwartet wird. Die Gesellschaft gibt so, durch kollektive Anforderungen an seine Akteure, ein umfassendes Persönlichkeitskonzept vor, das nicht nur soziale Situationen regelt, sondern auch die Zugehörigkeit zu bestimmten Gesellschaftskreisen bestimmt.67 Damit wird Gesellschaftlichkeit auch zur Maxime für die Persönlichkeitsentwicklung – der Einzelne muss ein „in seinem Inneren vergesellschaftetes Individuum“68 werden, indem er die gesellschaftlichen Bestimmungen so annimmt, dass sie ein Teil seiner Persönlichkeit werden. Dies geschieht über Sozialisationsprozesse. Talcott Parsons erklärt diesen Vorgang so, dass die Individuen mit ihrer einzigartigen Persönlichkeitsstruktur, kontinuierlich an die gesellschaftliche Ordnung mit ihrer „bestimmte[n] Struktur von Werten, Normen und Regelungen“69 angepasst werden. Das oberste Ziel ist dabei die Erhaltung der sozialen Ordnung. Durch gemachte Erfahrung in der sozialen Welt lernen die Individuen gesellschaftliche Handlungsmuster kennen und übernehmen diese zusammen mit den zugrundeliegenden, geltenden Werten.70 So wird das „kulturelle System“ – nach Parsons das allem übergeordnete System der Werte und Normen in der Gesellschaft, das in den gesellschaftlichen Institutionen veräußerlicht wird71 – internalisiert und dient als unbewusste, an gesellschaftlichen Maximen orientierte Handlungsanleitung für den Einzelnen. Die Individuen übernehmen dann soziale „Rollen“, welche wiederum die Erhaltung der Struktur der Gesellschaft sichern. Rollen sind bestimmte kollektive Erwartungen an individuelles Handeln, die für jeden gelten.72 Demnach wird regelkonformes Verhalten sozial belohnt, nämlich durch Akzeptanz und Aufnahme in die Gesellschaft, aber auch dadurch, dass

|| 67 Bei Bourdieu wird der Habitus vor allem dafür verwendet, soziale Ungleichheiten zu beschreiben. Da der Habitus „von vornherein Ausdruck und Ergebnis der Konstellation der Großgruppen“ (Werner Fuchs-Heinritz und Alexandra König: Pierre Bourdieu, S. 114) ist, werden „durch den Habitus und durch ihn hindurch […] die sozialen Existenzbedingungen, auf die er zurückgeht“ (Werner Fuchs-Heinritz und Alexandra König: Pierre Bourdieu, S. 115), reproduziert. 68 Werner Fuchs-Heinritz und Alexandra König: Pierre Bourdieu, S. 114. 69 Heinz Abels und Alexandra König: Talcott Parsons: Normative Integration, Herstellung funktional notwendiger Motivation und das individuelle Code-Erhaltungssystem. In: Sozialisation. Soziologische Antworten auf die Frage, wie wir werden, was wir sind, wie gesellschaftliche Ordnung möglich ist und wie Theorien der Gesellschaft und der Identität ineinander spielen. Wiesbaden: VS Verlag, S. 106. 70 Vgl. Heinz Abels und Alexandra König: Talcott Parsons, S. 113. 71 Vgl. Heinz Abels und Alexandra König: Talcott Parsons, S. 108. 72 Vgl. Heinz Abels und Alexandra König: Talcott Parsons, S. 110. Damit wird nicht nur soziales Handeln kollektiv verbindlich, sondern auch die Normen wegen der kollektiven Gültigkeit bestärkt.

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das Individuum durch eine gelungene Sozialisation ein stabiles Orientierungsmuster in der Gesellschaft erhält, nämlich im Sinne von „Identität“.73 Diese stabile Wertbindung an die soziale Umwelt, kann jedoch nur gelingen, wenn das Individuum dem kulturellen System nicht nur kontinuierlich zustimmt, sondern auch im Allgemeinen zustimmen will.74 Reiner Zwang würde somit zur Instabilität der gesellschaftlichen Ordnung führen, wohingegen die freiwillige Bindung an die kollektiven Erwartungsmuster durch jeden Einzelnen die Gesellschaft und damit auch das Individuum stärkt. Für das Bürgertum des 19. Jahrhunderts bewirkt nicht nur die relativ einheitliche Lebensform seiner Mitglieder – definiert durch Besitz und Bildung – die Vergesellschaftung dieser Schicht, sondern auch seine innere Struktur: So sind die Interessen des Bürgertums bereits durch die bestehende Sozialordnung bestimmt. Die im gesamten Bürgertum einheitliche Ordnungsvorstellung verbreitet dessen Wertvorstellungen und schafft durch mit dem Bürgertum identifizierbare Handlungsorientierungen ein bestimmtes bürgerliches Selbstbewusstsein.75 Die Handlungsmaxime für die Einhaltung der erwarteten Lebensführung werden einerseits äußerlich explizit durch das Recht, andererseits implizit vor allem durch kollektive Normen, Moral und Konventionen bestimmt. Normen werden definiert als „allgemein geltende und in ihrer Allgemeinheit verständlich mitteilbare Vorschriften für menschliches Handeln“.76 Die Grundlage dafür bieten zeitgenössische, gesellschaftliche Wertvorstellungen, die mittels Normen in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Normen regeln also gesellschaftliches Zusammenleben, indem sie soziale Handlungsweisen bestimmen. Im Gegensatz zu gesetzlich festgeschriebenen Rechten77 sind sie aber in der Gesellschaft nur

|| 73 Vgl. Heinz Abels und Alexandra König: Talcott Parsons, S. 109 und 113. Für Parsons kann demnach Identität nur in der Verknüpfung mit Gesellschaftlichkeit existieren. Identität ist die „individuelle Variation der Kombination von kultureller Bindung, sozialer Erfahrung und spezifischen Rollenkonstellationen“ (S. 123, Hervorhebung im Original). 74 Vgl. Heinz Abels und Alexandra König: Talcott Parsons, S. 114. So sind die Normen und die Erfüllung der sozialen Handlungsmuster nicht nur kollektiv geltend, sondern erscheinen auch für das Individuum sinnvoll. 75 Vgl. M. Rainer Lepsius: Zur Soziologie des Bürgertums und der Bürgerlichkeit. In: Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Hg. von Jürgen Kocka. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987, S. 80–81. 76 Hans Paul Bahrdt: Schlüsselbegriffe der Soziologie. Eine Einführung mit Lehrbeispielen. München: Beck 2003, S. 49. 77 Auch die Gesetzgebung orientiert sich an Normen. Bernhard Schäfers nennt Gesetze auch sogenannte „Muss-Normen“, deren Einhaltung durch besonders verbindliche Sanktionierungen, wie Gefängnisstrafe, gewährleistet wird. Vgl. Bernhard Schäfers: Einführung in die Soziologie. Wiesbaden: Springer 2013, S. 60. Zur sozialen Norm gehört es beispielsweise auch im

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implizit vorhanden. So können verschiedene Gesellschaften oder Gesellschaftsbereiche unterschiedliche Werte und damit auch unterschiedliche Normen haben. Normen dienen sozusagen als Grundlage für die Identifikation mit unterschiedlichen Kulturkreisen, indem sie vorgeben, wo welche Werte in den sozialen Handlungen erfüllt werden müssen und damit die Erwartbarkeit sozialen Handelns steuern.78 Dagegen sind zudem die Begriffe Moral und Konvention abzugrenzen. Im Gegensatz zum Recht existiert die Moral nur informell: Es „gibt keine formell zur Entscheidung unklarer Fälle und zur Weiterentwicklung der Moral beauftragte Instanz“.79 Die Moral ist demnach ein verinnerlichtes Grundverständnis darüber, wie sich beurteilbares Handeln auf andere und sich selbst auswirkt.80 Sie konstituiert die innere Einstellung des Menschen zu seinem eigenen Handeln und dem Handeln anderer. Konventionen bestimmen dagegen die auf Gewohnheit basierenden sozialen Regeln. Nach ihnen orientieren sich gesellschaftliche Bräuche: So stellen Konventionen soziale Regeln auf, die kollektive Interessen sowie den Fortbestand gesellschaftlicher Lebensverhältnisse bewahren sollen.81 Für das Bürgertum des 19. Jahrhunderts ergibt sich damit ein strenges gesellschaftliches Normenkorsett, das aus der gesellschaftlichen Mittelposition der Schicht und ihres inneren Grundverständnisses als „Stand der Regel“82 den Anspruch auf einen „universalistischen Wertekanon, dessen auf die gesamte Menschheit zielende Realisierung angestrebt werden sollte“,83 erhebt. So ist auch die innere Hierarchie des Bürgertums straff nach ihren Werten geregelt: Sie erhält durch „rigorose Exklusion und schroffe Distanzierungspraktiken“84 ihre Homogenität und gibt den sozialen Rang des Einzelnen in der Gesellschaft vor. Die Konzentration des Bürgertums nicht auf politische Herrschaft, sondern auf die Sicherung seiner wirtschaftlichen Interessen, ebnet den Weg für die beiden vermittelnden Werte „Besitz und Bildung“,85 mit denen das „Besitz- und Bildungsbürgertum“ des 19. Jahrhunderts heute noch verbunden

|| 19. Jahrhundert, dass Frauen abhängig sind und damit nicht wählen durften, was sich in den Gesetzen niederschlägt. 78 Hans Paul Bahrdt: Schlüsselbegriffe, S. 49. 79 Marcus Düwell, Christoph Hübenthal und Micha H. Werner (Hg.): Art. Moral. In: Handbuch Ethik. Zweite aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Metzler 2006, S. 427. 80 Marcus Düwell, Christoph Hübenthal und Micha H. Werner (Hg.): Art. Moral, S. 427. 81 Vgl. Joachim Ritter u. a. (Hg.): Art. Konvention. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4. Basel: Schwabe 1976, S. 1071–1072. 82 Reinhart Koselleck u. a.: Drei bürgerliche Welten, S. 26. 83 Hans-Ulrich Wehler: Zielutopie, S. 87. 84 Hans-Ulrich Wehler: Zielutopie, S. 87. 85 Hans-Ulrich Wehler: Zielutopie, S. 87.

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wird. Tatsächlich hängt auch der politische Status als Staatsbürger mehr vom ökonomischen und sozialen Status ab und dieser wird durch eben diese beiden Werte definiert.86 Besonders das bürgerliche Leistungsprinzip87 ist es jedoch, das von seinen Mitgliedern die enge Bindung an Arbeit und Selbstständigkeit fordert und das Grundmodell des gesellschaftlichen Lebens regelt: Grundlegende Begriffe bürgerlicher Lebensführung waren einerseits Arbeit, im Sinne einer bewußten und schöpferischen Tätigkeit, in Abgrenzung gegen unnützen „Müßiggang“ […], andererseits die Bildung, als Aufgabe einer immerwährenden Entwicklung des einzelnen, als angenommenen Auftrag, die individuellen Fähigkeiten zu bilden […]. Waren Arbeit und Bildung sozial vermittelte Anforderungen, wurden sie als Verhaltenszumutung ergänzt durch einen dritten Grundwert, den der Selbstständigkeit – die Aufforderung, sich jeweils selbst um die Ausgestaltung der eigenen Stellung und des eigenen Lebenswegs zu kümmern, und nicht nur Vorgegebenes zu übernehmen.88

Ist Selbstständigkeit noch der Wert, der für die Zugehörigkeit zur bürgerlichen Schicht steht und so den Ausschluss bestimmter Berufsgruppen rechtfertigt,89 fungiert der Wert der Leistung, eng verknüpft mit der als Privileg angesehenen Bildung, auch als gesellschaftliche Aufstiegsmöglichkeit. Speziell Bildung dient als Legitimation gegenüber den ererbten Standesprivilegien des Adels und gewährt Zugang zu bestimmten Qualifikationen. Leistung und Bildung sind somit zentrale Bedingungen für die Rechtfertigung der „Überlegenheit des Bürgers als Mitglied eines Leistungsstandes gegenüber dem Adel“90 und werden verwendet, um den Anspruch auf die Einnahme staatlicher Ämter durch Vertreter des Bürgertums geltend zu machen. Der Beruf, insbesondere die Ausübung eines Amtes, bestimmt im Bürgertum den Einfluss ganzer Familien in der Gesellschaft und wird deshalb mit entsprechender Anerkennung gewürdigt.91 Wie bereits

|| 86 Vgl. Jürgen Kocka: Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 21. Jahrhundert. In: Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Hg. von Jürgen Kocka. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987, S. 33. 87 Reinhart Koselleck beschreibt, wie sich mit „dem Artikel ‚Bürgerstand‘ im Brockhaus von 1820 […] die bürgerliche Selbstdefinition als Leistungsstand durchgesetzt“ (Reinhart Koselleck: Drei bürgerliche Welten, S. 24) hat. 88 Manfred Hettling: Die persönliche Selbstständigkeit, S. 59. 89 Handwerker und Angestellte zählen beispielsweise nicht zum Bürgertum. Diese Berufsgruppen gehören zum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehenden Kleinbürgertum, das zwar größtenteils die Werte des Bürgertums teilt – da diese Gruppen aber eben nicht selbstständig sind, befinden sie sich am unteren Rand dieser Schicht. Vgl. Jürgen Kocka: Bürgertum und Bürgerlichkeit, S. 45. 90 Reinhart Koselleck: Drei bürgerliche Welten, S. 24. 91 Vgl. Andreas Schulz: Lebenswelt, S. 14–19.

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erwähnt, wird die innere Hierarchie des Bürgertums stark von der Realisierung seiner Werte geprägt. Wer also die Kriterien Selbstständigkeit, individuelle Leistung, selbsterworbener Besitz und Bildung, sowie eine moralische Abgrenzung92 gegenüber dem Adel einhält, erhält aufgrund eines „bestimmten Sozialprestiges“93 soziales Ansehen. Auch bestimmte Posten innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft sind nur jenen vorbehalten, die den bürgerlichen Habitus realisieren. So bildet sich sozusagen an oberster Stelle des Bürgertums die Honoratiorenschicht, jene Schicht der angesehensten Bürger, heraus, die nicht notwendigerweise politische, aber große soziale Macht innehaben. Diese Macht zeigt sich vor allem darin, dass ihre Vertreter aufgrund ihres hohen Ansehens und ihrer bevorzugten Stellung Autorität besitzen und die soziale Norm vorgeben, gleichzeitig aber auch das Fortleben der geltenden Normen und Werte sichern. Diese soziale Hierarchie zeigt sich auch in ihren inneren Abgrenzungen: Nach außen hin zum Bürgertum gehörend, entfaltet sich an oberster Stelle das sogenannte Großbürgertum, das aufgrund seines Reichtums starke Ähnlichkeit mit dem Adel aufweist. Während die bürgerliche Ideologie sich moralisch vom dekadenten Adel abgrenzt, herrscht in den oberen Bürgerkreisen ein Nobilitierungsstreben hin zur adeligen Herrschaftsschicht. Diese Kreise sind, obwohl keine rechtliche Gleichheit entsteht, vor allem von einem adeligen Lebensstil geprägt.94 Die Einhaltung der bürgerlichen Werte sowie die Aneignung eines spezifischen Lebensstils werden von der Gesellschaft also nicht nur hierarchisch belohnt: Sie bindet den Einzelnen auch an sich, indem sie seine Stellung in der Gesellschaft sichert und dadurch eine Identifikationsmöglichkeit mit ihren Werten schafft. So wird gerade die gesellschaftliche Anpassung bereits in der gesellschaftlichen Grundstruktur begünstigt, da sie die der Gesellschaft zugrundeliegenden Normen und sozialen Regelungen und dadurch die Anforderung einer spezifisch vergesellschafteten Persönlichkeit ihrer Mitglieder verstärkt. Während also die Erfüllung der bürgerlichen Normen sozial belohnt wird, wird derjenige, der sie nicht einhält, von vornherein vom Bürgerstatus ausgeschlossen, und zwar nicht nur sozial, sondern auch rechtlich:

|| 92 Vgl. M. Rainer Lepsius: Zur Soziologie des Bürgertums, S. 96. Oftmals bestimmen auch die drei Werte „Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit“ eben diese moralische Abgrenzung. Vgl. auch Hermann Bausinger: Bürgerlichkeit und Kultur. In: Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Hg. von Jürgen Kocka. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 122. 93 Reinhart Koselleck: Drei bürgerliche Welten, S. 24. 94 Vgl. Hermann Bausinger: Bürgerlichkeit und Kultur, S. 131–132.

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Der Zugang zur Selbstständigkeit war vor allem als ökonomisch definierte Voraussetzung bestimmt worden. […] Die materielle Unabhängigkeit wurde als Bedingung dafür angesehen, sich auch geistig eine selbstständige Meinung bilden zu können, unabhängig zu sein vom Urteil anderer Personen. Denn das erschien als unabdingbare Voraussetzung für die Freiheit des Urteils – und damit auch für die Freiheit der Person. Im Kern des Wertes der Selbstständigkeit stand damit die Erfordernis, nicht in personaler Abhängigkeit von anderen zu sein. Das war die entscheidende Bedingung dafür, daß nicht nur Dienstboten, sondern auch Frauen von Partizipationsrechten ausgeschlossen werden konnten, da sie als nicht ‚selbstständig‘ wahrgenommen wurden.95

Zwar erhebt das Bürgertum den Anspruch, einen universalistischen Wertekanon zu besitzen, in seinem Inneren zeichnet es sich aber durch strenge Distinktion aus.96 Dies zeigt sich schon darin, dass die liberalen Werte wie Aufstieg durch Bildung und Selbstständigkeit eng an die bürgerliche Lebensführung gebunden sind, so dass auch sie nur in der „Erfüllung des Konventionellen“97 existieren. Wie bereits erwähnt, ist es für die Stabilität einer Gesellschaft bedeutend, dass ihre Mitglieder ein mit ihren Normen konformes Verhalten zeigen. Um dies zu gewährleisten, gibt es innerhalb jeder Gesellschaftsschicht – und so auch im Bürgertum des 19. Jahrhunderts – Mittel zur sozialen Kontrolle, womit „alle Strukturen, Prozesse und Mechanismen [gemeint sind], mit deren Hilfe eine Gesellschaft oder soziale Gruppe versucht, ihre Mitglieder dazu zu bringen, ihren Normen Folge zu leisten“.98 Ein von den Normen abweichendes Verhalten wird somit sozial bestraft – und zwar über gesellschaftliche Sanktionen, „die darauf abzielen, die betreffende Person zu bestrafen, zu isolieren, zu behandeln oder zu bessern“.99 Damit werden wiederum die Normen gestärkt, da die Bestrafung von Normabweichungen diese in der Gesellschaft lebendig machen und somit stabilisieren.100 Die Gesellschaft grenzt sich dabei von denjenigen ab, die sich ihr gegenüber nicht konform verhalten und macht dadurch klar, was gesellschaftlich begünstigtes Verhalten beinhaltet. Für das Bürgertum des 19. Jahrhunderts zielt diese Kontrolle vor allem auf die spezifisch bürgerliche Lebensführung und die Einhaltung der bürgerlichen Werte ab:

|| 95 Manfred Hettling: Die persönliche Selbstständigkeit, S. 66. 96 Diese Distinktion lässt sich äußerlich in der Ablehnung der alten Ständeordnung – dem Adel – und der Abgrenzung zu den unteren gesellschaftlichen Schichten erkennen. 97 Manfred Hettling: Die persönliche Selbstständigkeit, S. 62. 98 Bernhard Schäfers: Einführung, S. 83. 99 Bernhard Schäfers: Einführung, S. 83. Bei Gesetzesbrüchen sind die Strafen deutlich härter als bei einem rein sozial sanktionierten, normabweichenden Verhalten. Diese werden hier aber ebenso von gesellschaftlicher Abgrenzung begleitet. 100 Vgl. Bernhard Schäfers: Einführung, S. 85.

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Diese [Lebensführung] war indes nicht mehr im Detail vorgegeben, sie schrieb dem einzelnen Bürger nicht vor, was er anzuziehen […] hatte. Statt dessen setzte die bürgerliche Lebensführung eher Barrieren, die nicht überschritten werden durften, wollte der einzelne gesellschaftlichen Sanktionen entgehen. Innerhalb dieses durchaus weitgesteckten Rahmens erfolgte die Orientierung an der Gestaltung der Lebensführung abstrakten Prinzipien, die inhaltlich offen waren und innerhalb eines weit gesteckten Spektrums an Möglichkeiten individuell festgelegt und ausgestaltet werden mußten.101

Da aber gerade das Bürgertum des 19. Jahrhunderts den Anspruch erhebt, „Vertreter und Verwalter der Normalmoral“102 zu sein, ist auch seine soziale Kontrolle universalistisch, da die Werte für jeden als verbindlich angesehen werden. Dadurch verschärft sich aber der Konflikt sozialer Ungleichheit, da beispielsweise weniger einflussreiche (Mit-)Glieder103 ebenso streng an das Normverhalten gebunden werden, auch wenn sie niemals rechtliche und soziale Gleichheit erreichen können. Wiederholtes abweichendes Verhalten kann schließlich dazu führen, als Außenseiter von der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden.104 Die bürgerliche Ideologie rechtlicher und sozialer Gleichheit wurde in der Realität nicht verwirklicht. Dies ist aber auch wegen der differenzierten Sozialstruktur des Bürgertums und den gesellschaftlichen Mechanismen im Allgemeinen sogar unmöglich. Da die Gesellschaft im Ganzen immer darauf abzielt, durch Gleichheit der Mitglieder Stabilität zu erlangen, werden ihre Normen verbindlich. Gerade deshalb können jedoch nicht alle sozial gleich sein, weil es eben in der Grundstruktur der Gesellschaft liegt, dass nur diejenigen denselben Status erhalten, die die Normen erfüllen. Alle anderen, die aus dem Muster der gesellschaftlichen Norm fallen, werden von ihr sozial sanktioniert, bisweilen ausgeschlossen oder erhalten von vornherein nicht den Mitgliedsstatus. Das Bürgertum des 19. Jahrhunderts zeigt sich bezüglich der Lebensformen als weitgehend homogen und nach außen hin abgeschlossen, was gerade für jene, die sich den strengen Normstandards nicht unterordnen wollen, problematisch wird. Bedeutend hierbei ist jedoch, dass das Individuum per se nie vollkommen von den gesellschaftlichen Bedingungen zu trennen ist. Vielmehr konstituiert sich Devianz erst durch den Kontrast mit den sozialen Normen. Ausgehend von diesen Vorüberlegungen soll im Folgenden die Darstellung von Individuum und Gesellschaft anhand dreier Romane Raabes – Abu Telfan, || 101 Manfred Hettling: Die persönliche Selbstständigkeit, S. 58–59. 102 Hans-Ulrich Wehler: Geburtsstunde, S. 207. 103 Hier sei beispielsweise auf Frauen, Dienstboten etc. verwiesen, die zwar nicht den Bürgerstatus haben, so doch wesentlicher Teil dieser Kultur sind. 104 Vgl. hierzu Howard S. Becker: Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Wiesbaden: Springer 2014, S. 25–38.

22 | Das Individuum zwischen Bürgerlichkeit und Devianz

Stopfkuchen, und Die Akten des Vogelsangs – nachgezeichnet werden. Dabei werden sowohl die beschriebenen gesellschaftlichen als auch individuellen Phänomene behandelt. So soll zunächst anhand sozial verorteter Figuren und Bereiche deren Normerfüllung nachgezeichnet werden. Im Umgang mit devianten Figuren sollen außerdem nicht nur deren Probleme mit der Gesellschaft und deren Ausschlussmethoden in Zusammenhang mit nicht-normgerechten Individuen, sondern auch deren Bedeutung und Auswirkungen für die Gesellschaft erörtert werden. Meist werden gerade bürgerliche und nichtbürgerliche Figuren kontrastiert und weisen so im Zusammenspiel auf eine beiderseitige Problematik hin, die jedoch nicht von gesamtgesellschaftlichen Phänomenen zu trennen ist. Ausgehend von den in den Romanen enthaltenen Kategorien gesellschaftlicher Zuweisung, wie die Dialektik von „Eigenem“ und „Fremden“ in Abu Telfan, der Individualhistorismus in Stopfkuchen oder die Eigentumsthematik in den Akten des Vogelsangs, wird die Problematik von Individuum und Gesellschaft bei Raabe untersucht. Ist in Abu Telfan die gesellschaftliche Sphäre noch gut von den der Gesellschaft Fremden zu trennen, fällt diese Unterscheidung in Stopfkuchen und Die Akten des Vogelsangs deutlich differenzierter aus. Diese Romane sind in ihrer Binnenstruktur bereits auf die Problematik bürgerlichen Selbstverständnisses angelegt. So stehen sich sowohl in Stopfkuchen als auch in den Akten des Vogelsangs bürgerliche und nichtbürgerliche Figuren gegenüber, wobei diese bisweilen nicht mehr eindeutig durch gesellschaftliche Zuweisungskategorien zugeordnet werden. Deshalb wird bei der Untersuchung der Problematik von Individuum und Gesellschaft in Abu Telfan zunächst die Beschreibung der Gesellschaft, getrennt von den der Gesellschaft gegenübergestellten Personen, analysiert. Dabei wird sowohl auf gesellschaftliche Umstände, Schichten und Institutionen als auch auf vergesellschaftete Individuen eingegangen. Anschließend wird zuerst ausführlich die Entwicklung Leonhard Hagebuchers nachgezeichnet, bevor im Hinblick auf die kontrastierenden Entwicklungen Nikolas und anderer Figuren eine Deutung der Problematik devianter Persönlichkeiten vor dem Hintergrund der Gesamtgesellschaft und einzelner vergesellschafteter Individuen vorgenommen wird. In Stopfkuchen sind gesamtgesellschaftliche Phänomene nicht mehr deutlich von den Einzelbiografien der im Roman dargestellten Charaktere zu trennen. So wird zunächst anhand der im Roman enthaltenen Philisterkritik auf Eduards Konstitution bürgerlicher Daseinsproblematik eingegangen. Anschließend werden rechtliche und soziale Folgen des Mordfalls Kienbaum erörtert, bevor Stopfkuchens Rolle zwischen Devianz und sozialer Isolation besprochen wird. In den Akten des Vogelsangs gestaltet sich die Problematik von Individuum und Gesellschaft im Dualismus der Protagonisten Velten Andres und Karl Krumhardt. Da die Beschreibung

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ausschließlich aus Karls Perspektive vorgenommen wird, kann auch Veltens Darstellung nicht vom bürgerlichen Standpunkt getrennt werden. So wird zunächst auf Karls bürgerliche Laufbahn und seine Krise bürgerlicher Identität eingegangen, bevor Veltens Versuch einer von der Sozialität unabhängigen Existenz erörtert wird.

2 Das Individuum zwischen Anpassung und innerer Freiheit: Abu Telfan In Wilhelm Raabes Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge kehrt der Protagonist Leonhard Hagebucher nach elf Jahren als Sklave in Abu Telfan im Tumurkieland nach seiner Befreiung durch den Abenteurer Kornelius van der Mook nach Hause in das kleine Dorf Bumsdorf zurück. Da er allerdings die Erwartungen der heimischen Gesellschaft nicht erfüllt, wird er dort als „Afrikaner“ und Fremder aufgenommen. Die Kategorien „Eigenes“ und „Fremdes“ bilden im Roman die Grundlage für die Erörterung der Problemstellung von Individuum und Gesellschaft. Durch diese Einteilung der Lebensbereiche in „Eigenes“ und „Fremdes“ wird die heimische Gesellschaft dem von ihr ausgeschlossenen Bereich nichtbürgerlicher Subjektivität gegenübergestellt, woraus sich Rückschlüsse auf die soziale Konstitution von Normen und Werten ergeben. Ausgehend von einer Analyse dieser Begriffe im Romankontext werden im Folgenden zunächst die Gesellschaft allgemein sowie die normerfüllenden Vertreter des Bürgertums, des Adels und deren Normen, Werte und Konventionen untersucht. Anschließend wird Leonhards Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Normerfüllung und Individualität nachgezeichnet, bevor auf andere Figuren und deren Problematik mit der Gesellschaft eingegangen wird.

2.1 Zur Bedeutung Afrikas: Eigenes und Fremdes als Kategorien zur Beschreibung gesellschaftlicher Zugehörigkeit Das erste Kapitel des Romans beginnt mit Leonhards Ankunft in Triest und hält sich damit an die spätere Bemerkung des Erzählers, dass Leonhard „seine mannigfaltigsten, buntesten, gefahrvollsten, geheimnisvollsten Abenteuer nicht in Ägypten, Nubien, Abyssinien und im Königreich Dar-Fur erlebte, sondern da, wo aus alter Gewohnheit der mythische Name Deutschland auf der Landkarte geschrieben steht“.1 Der Roman reiht sich mit der Heimkehr des deutschen „Afrikaners“ Leonhard und dessen Erfahrungen in der deutschen Gesellschaft in die aufklärerische Tradition des Blicks auf Europa durch den Fremdling in der

|| 1 BA 7, S. 12. https://doi.org/10.1515/9783110670684-002

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Literatur ein, was seinen Beginn in Montesquieus Lettres Persanes2 hat.3 Als „konstantes Motiv der europäischen Literatur“4 ist diese Begegnung mit dem Fremden immer mit der „Infragestellung der eigenen Kulturposition“5 verbunden: Dieses Verfahren konsequenter Infragestellung vom archimedischen Punkt der überseeischen Kulturform aus konnte grundsätzlich auf drei verschiedene Arten durchgeführt werden. Es war möglich, daß der Autor einen Eingeborenen durch den Zufall eines phantasievoll erdachten Abenteuers nach Europa versetzte; man konnte einen Europäer irgendwo in Amerika oder Asien mit einem Überseebewohner ins Gespräch kommen lassen, welcher von dessen Herkunftsland keine Ahnung hatte; und man konnte schließlich diesen Dialog noch um eine pikante Note bereichern, indem man den überseeischen Gesprächspartner als weitgereist und mit den abendländischen Sitten vertraut erscheinen ließ.6

Was aber ist das Fremde? Erwin Leibfried spricht dem Fremden jegliche Existenz ab: Es sei letztendlich nur die „travestierte Ausgabe des Eigenen“,7 da es immer bereits das Eigene enthalte, die eigene Kultur – das ist die „soziokulturelle Lebensweise“8 und die Erwartungen gegenüber menschlichem Verhalten.9 Alles was fremd ist, ist somit alles, das „nicht nach Art der eigenen Kultur“10 ist. Dies kann sowohl negativ als auch positiv – etwa als Sehnsuchtspunkt zur ei-

|| 2 Charles-Louis Montesquieu: Lettres Persanes. In: Ders.: Oeuvres complètes. Edition dirigée par Jean Ehrard et Catherine Volpilhac-Auger. Bd. 1. Oxford: Voltaire Foundation 2004. 3 Diese von den Lettres Persanes ausgehende Tradition sammelt Winfried Weißhaupt in: Winfried Weißhaupt: Europa sieht sich mit fremdem Blick. Werke nach dem Schema der Lettres persanes in der europäischen, insbesondere der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Bd. 1–3. Frankfurt a. M.: Lang 1979. 4 Alois Wierlacher: Mit fremden Augen oder: Fremdheit als Ferment. Überlegungen zur Begründung einer interkulturellen Hermeneutik deutscher Literatur. In: Hermeneutik der Fremde. Hg. von Dietrich Krusche und Alois Wierlacher. München: Iudicium 1990, S. 51. 5 Vgl. Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. München: Beck 2004, S. 411. 6 Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“, S. 411. 7 Erwin Leibfried: Was ist und heißt fremd? Ein Beitrag zu einer Phänomenologie des Fremden. In: Fremde und Fremdes in der Literatur. Hg. von Joanna Jablkowska und Erwin Leibfried. Frankfurt a. M.: Lang 1996, S. 10. 8 Uwe Paßmann: Orte fern, das Leben. Die Fremde als Fluchtpunkt des Lebens. Die deutsche Literatur in der europäischen Tradition von Grimmelshausen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung von Philosophie und Literatur der Aufklärung. Würzburg: Königshausen & Neumann 1989, S. 35. 9 Vgl. Uwe Paßmann: Orte fern, S. 38. 10 Uwe Paßmann: Orte fern, S. 39.

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genen Langeweile11 – gewertet werden. Man stößt auf das Fremde nur, wenn man die Grenzen dessen erreicht, was einen selbst ausmacht. Und es wird allein vom eigenen Standpunkt aus betrachtet. Robert Charlier beschäftigt sich mit der Sprache des Fremden in der Literatur und beschreibt diese als „PseudoExotismen“,12 die letztendlich auf der europäischen Denkweise basieren. Das Fremde entspricht damit einer „fiktive[n] Außenansicht des Eigenen“,13 sie ist ein Problem, das erst mit dem Auftreten – überhaupt der Möglichkeit – einer anderen Perspektive entsteht. Die historische Grundlage der literarischen Begegnung mit dem Fremden findet sich in der Kolonialgeschichte. Hier wird das europäische Denken über das Fremde erst gebildet. Durch zahlreiche Entdeckungsreisen tritt Europa in Kontakt mit fremden Kulturen, was Auswirkungen auf das europäische Selbstverständnis hat.14 Die Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem beherrscht dann spätestens mit der Epoche der Aufklärung die anthropologischen Debatten.15 Als gegensätzliche Beispiele hierfür können Jean-Jacques Rousseaus Discours sur l’inégalité parmi les hommes (1754)16 und Voltaires Essai sur les mœurs (1756)17 angegeben werden. Während beide von der Perfektibilität des Menschen ausgehen, zeichnet Rousseau von einer kulturkritischen Perspektive aus den Werdegang des Menschen vom Naturmensch zum Zivilisationsgeschöpf nach, wobei der Eintritt in die Gesellschaft zur Veränderung der sittlichen Natur des Menschen führe und daher nie ohne den Verlust natürlicher Empfindungen zu Lasten von Abhängigkeit und Entfremdung vor sich gehe.18 Voltaire legt seinen Umgang mit archaischen Völkern in einem „zivilisatorische[n] Sendungsbewusstsein“19 an. Biologisch der polygenetischen Auffassung folgend,20

|| 11 Vgl. Uwe Paßmann: Orte fern, S. 39. 12 Robert Charlier: Der Jargon des Fremdlings. Fiktive Sprechweisen als Mittel der Gesellschaftskritik im 18. Jahrhundert. In: Was heißt hier „fremd“? Studien und Materialien der interdisziplinären Arbeitsgruppe „Die Herausforderung durch das Fremde“. Hg. von Dirk Naguschewski und Jürgen Trabant. Berlin: Akademie 1997, S. 163. 13 Robert Charlier: Der Jargon, S. 165. 14 Eine Zusammenfassung dieser Begegnungen findet man im ersten Teil von: Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“, S. 19–173. 15 Vgl. Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“, S. 208. 16 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes. In: Ders.: Œuvres complètes. Bd. 3. Hg. von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond. Paris: Gallimard 1964. 17 Voltaire: Essai sur les mœurs et l’esprit des nations. In: Œuvres complètes. Bd. 3. Paris: Bacquenois 1838. 18 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Discours, S. 171–178. 19 Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“, S. 280.

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vertritt er die Ansicht, der Mensch sei grundsätzlich kulturentwickelnd. Seiner Darstellung der archaischen Völker entspricht auch der Anspruch, die Perfektibilität derjenigen Völker, welche sich auf einer zivilisatorisch niedrigeren Entwicklungsstufe befinden, müsse von weiterentwickelten Völkern bevormundet werden.21 Da die Begegnung mit den Fremdkulturen vor allem vom „europäischen Anspruch auf ethnozentrische Vormachtstellung“22 geprägt ist, ist es nicht überraschend, dass die Darstellung des Fremden immer den Blick auf Europa miteinschließt. So wird beispielsweise die europäische Perspektivierung der Debatte bemängelt, da diese die Einsicht in das Eigene erschwere, um „dem eigenen moralischen Fortschritt zu dienen“.23 Auffällig ist, dass die anthropologischen Debatten kaum ohne moralische Beurteilung des Fremden auskommen.24 Vom europäischen Idealtyp ausgehend werden diese „ästhetischmoralische[n] Kriterien auf die Menschen anderer Rassen“25 übertragen, um in einem solch wertenden Vergleich den eigenen Überlegenheitsanspruch zu manifestieren. Dies wird besonders durch die Begriffe „Barbar“ und „Wilder“26 deutlich, die schließlich als „Antonyme für das, wofür man sich hält“,27 verwendet werden. Indem die „Wilden“ zur Abgrenzung der eigenen Identität zu „Nicht-Menschen“28 erklärt werden, versichert man sich umso mehr des kulturell Eigenen. Das Fremde fordert allein durch seine Existenz das Selbstverständnis des Eigenen heraus.29 Da es in seiner Andersartigkeit bewusst über moralische Kriterien hierarchisch unter dem Eigenen angesiedelt wird, versichert man sich wiederum der eigenen kulturellen Gültigkeit. So kommt es aber

|| 20 Vgl. Voltaire: Essai, S. 4. 21 Vgl. Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“, S. 280. 22 Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“, S. 345. 23 Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“, S. 280. 24 Vgl. Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“, S. 356. 25 Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“, S. 358. 26 Auch Friedrich Schiller unterscheidet diese Begriffe in seiner Ästhetischen Erziehung des Menschen. Um einen moralischen Staat der Freiheit zu erreichen, ist es notwendig, den Charakter eines Volkes zu veredeln, statt sich als „Wilder“ oder „Barbar“ entgegengesetzt zu sein. Der „Wilde“ stellt demnach seine Gefühle über seine Grundsätze, der „Barbar“ die Grundsätze über seine Gefühle. Ziel ist es, die Natur und die Kunst zu einen und zur Totalität des Charakters im Volke zu finden. Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8: Theoretische Schriften. Hg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992, S. 566–567. 27 Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“, S. 367. 28 Vgl. Uwe Paßmann: Orte fern, S. 55. 29 Vgl. Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“, S. 407.

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auch zum Selbstabschluss.30 Da das Fremde immer nur in seiner Funktion der Spiegelung und Abhebung des Eigenen auftritt, wird die Absonderung des Eigenen vom Fremden garantiert und das Eigene bleibt somit letztendlich homogen. In Raabes Roman Abu Telfan präsentiert sich die deutsche Gesellschaft als ein in sich geschlossenes, homogenes System, das von außen durch den Fremdling Leonhard herausgefordert wird. Die im Roman beschriebene Gesellschaft beschränkt sich, durch den Schauplatz des Geschehens bestimmt, bis auf kleinere Erzählungen aus Leonhards Gefangenschaft auf die in Deutschland angesiedelten Gesellschaftsschichten. Die Gesellschaft gibt die Grenzen vor, innerhalb derer sich die einzelnen Mitglieder bewegen.31 Die bürgerliche Lebensform, einschließlich ihrer Normen, Werte, Erwartungen und Überzeugungen, bedingt ihr kulturell Eigenes. Leonhard wird zwar als „Heimkehrender“ durchaus der Gesellschaft zugeordnet, betrachtet diese bedingt durch seine jahrelange Abwesenheit aber vom Standpunkt einer fremden Kulturform aus. Afrika, als der Ort seiner mehr als zehn Jahre dauernden Gefangenschaft,32 wird dabei vor allem mit „Versatzstücken europäischer Denk- und Redeweisen“33 gefüllt. Der Roman spielt hier mit Exotismen, die sowohl das Fremde als Sehnsuchtsbereich bürgerlicher Kultur – nämlich als exotischer, abenteuerlicher Ort, der bestimmte Vorstellungen in den deutschen Gemütern weckt34 – als auch als pejorativ konnotierter Vergleichspunkt zum Eigenen einschließen. Leonhard übernimmt dabei

|| 30 Vgl. Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“, S. 367. 31 Neben dem Adel gilt dies in Abu Telfan insbesondere für das Bürgertum, das seine gesellschaftliche Macht über ihre einheitliche Lebensform, einer spezifischen „Bürgerlichkeit“, ausübt. Vgl. u. a. Manfred Hettling: Die persönliche Selbstständigkeit, S. 76. 32 Die Eckdaten seines genauen Verschwindens lassen sich einigermaßen über Leonhards Geschichte auf ca. 1847–1863 rekonstruieren. Dazu wurden mehrere Versuche in der Forschung unternommen. Für einen Überblick hierzu, siehe Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 51. Vgl. ebenso BA 7, S. 23–28. 33 Robert Charlier: Der Jargon, S. 163. Beispiele hierfür sind Leonhards afrikanische Kleidung, die exotischen Gegenstände, die er mit sich führt und sein von der Fremde geprägter Wortschatz. Vgl. hierzu auch Robert Charlier: Der Jargon, S. 166–167. 34 Dass Raabe auf das zeitgenössische Interesse an der „Erforschung jenes noch weitgehend unentdeckten, ‚geheimnisvollen‘ und ‚rätselhaften‘ (…) Inneren Afrikas“ Bezug nimmt, wurde mehrmals nachgewiesen. Vgl: Daniela Gretz: Das „innere Afrika“ des Realismus. Wilhelm Raabes Abu Telfan (1867) und der zeitgenössische Afrikadiskurs. In: Magie der Geschichten. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hg. von Michael Neumann und Kerstin Stüssel. Konstanz: University Press 2011, S. 197–216, hier S. 201; Dirk Göttsche: Der koloniale „Zusammenhang der Dinge“ in der deutschen Provinz. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 46 (2005), S. 53–73.

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die Rolle des individuell Fremden, der in Konflikt mit der Gesellschaft gerät, die durch seine Anwesenheit ihr Eigenes infrage gestellt sieht. Eigenes und Fremdes werden damit Kriterien für gesellschaftliche Zugehörigkeit. Das Fremde und die Zugehörigkeit zur Gesellschaft werden hier auf zwei Ebenen definiert: Einerseits äußerlich durch die An- beziehungsweise Abwesenheit in Deutschland – das „germanische Spießbürgertum“35 zeichnet sich gegenüber Leonhard dadurch aus, dass es sein Leben innerhalb der deutschen Gesellschaftsordnung verbracht hat, und andererseits inhaltlich durch die Erfüllung bürgerlicher Normen und Werte.36 Hier bricht aber der Roman mit der literarischen Tradition des fremden Blicks auf Europa. Denn Leonhard ist kein klassischer Fremder, der die Heimat nur bereist, sondern ein „Heimkehrer“, also einer, der zum eigenen Kulturkreis gehört. Er ist vertraut mit der heimischen Kultur, deren Normen und Werte, und betrachtet deshalb die eigene Kultur nicht nur von einem rein äußerlichkritischen Standpunkt aus. Da das Fremde immer vom eigenen Standpunkt aus betrachtet wird, Leonhard aber selbst ein Fremder ist, der eigentlich zum Eigenen gehört, wird dieses Verhältnis zwischen Eigenem und Fremden problematisiert und der kritische Blick auf die eigene Kulturposition verschärft. Damit verändert sich aber auch der Blick auf Fremdes und Eigenes. Denn indem Leonhard als Eigener selbst fremd ist und das Eigene nun selbst zum Fremden wird, da er es als solches betrachtet, werden sowohl das Fremde als auch das Eigene hinsichtlich ihrer Gültigkeit hinterfragt. Dies stellt die bürgerliche Gesellschaft ebenso wie das Individuum vor ein Problem, denn da die Kategorien nicht mehr eindeutig getrennt sind, wird das Eigene auch von innen heraus, vom fremd gewordenen Eigenen, bedroht.

2.1.1 Das Fremde zwischen Sensationslust und Devianz Leonhards Rückkehr und das damit verbundene Auftreten des Fremden in der bürgerlichen Gesellschaft bedeutet für diese eine Herausforderung. Durch das || 35 BA 7, S. 42. 36 Nach Talcott Parsons wäre Leonhards gesellschaftliche Abwesenheit und Unangepasstheit so zu deuten, dass die gesellschaftlichen Bestimmungen nicht vollkommen Teil seiner Persönlichkeit geworden sind. Während Leonhards Familie sich dank ihrer Anwesenheit vollständig in ihre sozialen Rollen fügen und damit identifizieren, fällt Leonhard – teils durch Flucht aus der Heimat, teils durch Nichtidentifikation mit ihren Werten – aus diesen Sozialisierungsprozessen hinaus. Dies macht ihn im Roman zum Fremden. Vgl. Heinz Abels und Alexandra König: Talcott Parsons, S. 109–113.

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Bewusstsein der Fremde wird der Anspruch auf Allgemeingültigkeit der eigenen Lebensweise infrage gestellt. Das wird insbesondere dadurch verstärkt, dass Leonhard nicht traditionell als Fremder die vertraute Kulturform bereist, sondern als „Heimkehrer“ in ihr verbleibt.37 Damit hält das Fremde auf Dauer Einzug im Eigenen und wird somit zum Problem. Die Gesellschaft reagiert darauf vor allem mit stereotypen Bildern auf das Fremde und mit dem Versuch des Zueigenmachens. Bereits bei Leonhards Ankunft in Triest hebt er sich als „Individuum“38 von den „übrigen Passagiere[n]“39 ab. Er unterscheidet sich äußerlich „durch manche Sonderlichkeit“40 von den europäischen Gewohnheiten und wird daher von „den an mancherlei Erscheinungen der Menschen und Völker gewöhnten Tergestinern als etwas Neues“41 wahrgenommen: Ein verwilderteres und, trotz der halbeuropäischen Kleidung, aschanti-, kaffern- oder mandingohafteres Subjekt hatte seit langer Zeit nicht vor dem Zollhause auf seinem Koffer gesessen und verblüfft herumgestarrt. Der Mann hätte sich in das Fremdenbuch oder vielmehr auf den Fremdenzettel des Schwarzen Adlers dreist als „particolarissimo“ einzeichnen dürfen; er tat es aber nicht, sondern schrieb einfach seinen Namen: Leonhard Hagebucher, hinein und fügte, den Polizeivorschriften gemäß, hinzu: „Kriegsgefangener – kommt aus Abu Telfan im Land Tumurkie, Königreich Dar-Fur – geht nach Leipzig im Königreich Sachsen.“ (BA 7, S. 7)

Leonhard zeichnet sich nicht nur durch seine Herkunft aus Afrika, sondern auch durch sein exotisches Auftreten als Fremdling aus. Seine Kleidung ist zwar zumindest „halbeuropäisch“, sein „verwildertes“ Aussehen zeigt aber bereits seine Andersartigkeit, welche mit dem Überlegenheitsdenken der „zivilisierten“ deutschen Gesellschaft einhergeht. Auf diese Weise wird Leonhard sogleich von der europäischen Norm abgegrenzt und zum „Fremden“ erklärt. Das Afrikanische fungiert dabei als Gegenbild zur deutschen Gesellschaft und beinhaltet die

|| 37 Wie Michel Kokora und Peter Brenner anmerken, wird der Begriff des Heimkehrers nicht mit dem des Fremdlings gleichgesetzt. Fremdheit ist vielmehr auch eine innere Haltung gegenüber der Gesellschaft. Dies zeigt sich schon darin, dass es bereits vor Leonhards Abreise aus Deutschland „Zerwürfnisse“ mit seiner Familie gegeben hat. Vgl. BA 7, S. 23, Michel Kokora: Die Ferne in der Nähe. Zur Funktion Afrikas in Raabes Abu Telfan und Stopfkuchen. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 35 (1994), S. 55; Peter J. Brenner: Die Einheit der Welt. Zur Entzauberung der Fremde und Verfremdung der Heimat in Raabes Abu Telfan. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 30 (1989), S. 46. 38 BA 7, S. 7. 39 BA 7, S. 7. 40 BA 7, S. 7. 41 BA 7, S. 7.

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von ihr abgelehnten bzw. ausgeschlossenen Normvorstellungen. Da Leonhard diese Vorstellungen vom Afrikanischen erfüllt, wird er für die bürgerliche Gesellschaft zum „Individuum“, zum „Subjekt“ und schließlich zum „Fremdling“.42 Dies wird vorerst jedoch nur von der Gesellschaft auf Leonhard projiziert, denn an der oben zitierten Stelle zeichnet sich bereits der erste Konflikt zwischen äußerer Wahrnehmung der Gesellschaft und dem inneren Empfinden des Individuums, nämlich Leonhards, ab: Während seine äußere Erscheinung die der Gesellschaft eigenen Merkmale sprengt und als „particolarissimo“ eingestuft wird, stellt sich für Leonhard die Identifizierung mit dem eigenen Namen und somit seiner Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft als etwas Normales dar. Er selbst sieht sich nicht als etwas Besonderes, für die heimische Welt ist er hingegen zum Fremden geworden. Dass Leonhards Fremdheit insbesondere mit der Bezeichnung „Individuum“ einhergeht, deutet bereits das strenge Diktat der Homogenität des Kollektivs an, welches im Laufe des Romans thematisiert wird. Von Beginn an wird also in Abu Telfan Fremdheit als Individualität und somit als Nichtzugehörigkeit zur Gesellschaft beschrieben. Damit erzeugt der Roman von vornherein eine klare Distanz zwischen Individualität und Gesellschaft. Um zu verstehen, wie sich dieser Gegensatz im Roman darstellt, muss zunächst betrachtet werden, worin Leonhards Verstöße gegen die Gesellschaftlichkeit bestehen. Leonhards Heimfahrt ab Triest ist geprägt von einer Kette an Befragungen nach seiner persönlichen Geschichte. Die Sensationslust gegenüber dem „Fremdling“43 bricht nicht ab, da die Öffentlichkeit „[a]us Afrika doch immer etwas Neues“44 erwartet. Auch zuhause in Bumsdorf angekommen, ist der „geheimnisvolle[...] Fremdling“45 zunächst die Attraktion in der Umgebung: „Die ganze Gegend auf sechs Meilen in der Runde schlägt einen Purzelbaum über diese Geschichte!“, rief jetzt der Ritter von Bumsdorf im hellen Enthusiasmus. „So etwas ist ja noch gar nicht dagewesen; kein Mensch hat es für möglich gehalten, das geht über alle Zeitungsblätter und Romangeschichten […]. Hagebucher, alter Freund, Sie sind ein glücklicher Patron […]. (BA 7, S. 19)

Hier verstößt Leonhard noch nicht gegen geltende gesellschaftliche Regeln. Seine Wiederkehr wird im Gegenteil als etwas Erfreuliches aufgefasst. Leon|| 42 BA 7, S. 7–8. 43 BA 7, S. 8. 44 BA 7, S. 7. Auch diese Passagen nehmen Bezug auf den zeitgenössischen Afrikadiskurs, der sich weitgehend wegen der Unerforschtheit des afrikanischen Kontinents mit zahlreichen Berichten über neue Entdeckungen beschäftigte. Vgl. Daniela Gretz: Das „innere Afrika“, S. 205. 45 BA 7, S. 9.

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hards Fremdheit ist zunächst also ein äußerer Faktor, der die Faszination des Exotischen zum Ausdruck bringt. Die Bezeichnung als „Afrikaner“ im Anschluss an diese Rede des Ritters von Bumsdorf ist daher vor allem durch seine jahrelange Abwesenheit aus der Heimat bedingt: Seine Zeit in Afrika hat ihn für die heimische Gesellschaft zum fremden, exotischen „Afrikaner“ gemacht. So sind es während seiner Rückfahrt auch vor allem Leonhards exotische Angaben in den Fremdenbüchern, die die Neugier der „kaiserlich-königliche[n] Beamten“46 und der Polizei wecken. Ebenso sein fremdländischer Anblick – er ist „schlimmer von Aussehen als ein Zigeuner“47 – grenzt ihn äußerlich von den Leuten in der Heimat ab und verstärkt seinen Eindruck als „Fremder“. Die Erwartungshaltungen bezüglich seines Aussehens werden durch „Elemente des europäischen Stereotyps vom Afrikaner“48 geprägt: So nimmt der Ritter von Bumsdorf an, Leonhard wäre mit einem „Ring in der Nase“49 und einer „grünen und gelben Tatauierung“50 zurückgekehrt. Dass der Mutter ein „solche[r] Jammer […] gnädig erspart“51 wird, zeigt bereits die pejorative Einstellung gegenüber dem Fremden, die mit der Neugier und Sensationslust des zeitgenössischen Afrikabildes einhergeht. Afrika ist für die Gesellschaft ein Ort der Barbarei und Kulturlosigkeit52 und zugleich eine „Projektionsfläche für negative wie positive Gegenbilder zu einer deutschen Realität“.53 Mit diesen Bildern spielt auch der Roman, wenn er Leonhard nach seiner Rückkehr sowohl mit Faszination als auch Ablehnung der Gesellschaft konfrontiert. Auf diese Weise versucht die Gesellschaft das Fremde zu bewältigen. Indem sie es auf stereotypen Exotismus reduziert und den eigenen „moralisch-kulturellen Fortschritt“54 betont, schließt sie sich gegen den Einfluss des Fremden auf die eigenen Normvorstellungen ab. Solange sich diese Reaktionen aber nur auf die äußeren Rahmenbedingungen von Leonhards Aufenthalt in Afrika beziehen, bleibt dieser für Leonhard in

|| 46 BA 7, S. 8. 47 BA 7, S. 17. 48 Michel Kokora: Die Ferne in der Nähe, S. 57. 49 BA 7, S. 18. 50 BA 7, S. 19. 51 BA 7, S. 19. 52 Vgl. dazu auch Christof Hamann: Schwarze Gesichter im deutschen Mondschein. Zum Konzept des Barbarischen in Wilhelm Raabes Abu Telfan. In: Deutsch-Afrikanische Diskurse in Geschichte und Gegenwart: Literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hg. von Michael Hofmann. Amsterdam: Rodopi 2012, S. 54–56. 53 Daniela Gretz: Das „innere Afrika“, S. 205. 54 Winfried Weißhaupt: Europa sieht sich mit fremden Blick (Bd. 1), S. 288.

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gesellschaftlicher Hinsicht noch relativ folgenlos. Sein afrikanisches Äußeres ist aber nicht allein „der Anlaß dafür, daß die heimatliche Gesellschaft ihn als Fremdling behandelt und völlig isoliert“.55 Dies zeigt die Beurteilung seines Vaters, des pensionierten Steuerinspektors Hagebucher, der Leonhards Rückkehr schon mit einer inneren Erwartungshaltung der Gesellschaft gegenüber dem Heimkehrer verbindet und daher schon rationaler ausfällt: Wir haben beide in dieser Hinsicht das Fazit noch nicht gezogen […]. Daß der Junge aber wieder da ist, ist freilich ein gutes Ding, schon der Alten wegen. Wir haben böse Nächte durchlebt diese Jahre durch; aber wer kann sagen, was wir anjetzo zurückempfangen haben? (BA 7, S. 19)

Das Fremde wird für die eigene Kulturform dann zum Problem, wenn sie fremd bleibt, also sich nicht zu eigen machen lässt.56 Leonhards äußerer Exotismus erweckt in seinen ersten Wochen nach seiner Rückkehr vor allem Neugierde und Sensationslust. Dies lässt sich mit der Bedeutung des Fremden als bürgerliches Sehnsuchtsbild, das mit Reichtum und Freiheit verbunden wird,57 erklären. Da aber Leonhard fortfährt das Fremde zu verkörpern und somit weiterhin als „Fremdling“ und „Afrikaner“ wahrgenommen wird, reagiert die bürgerliche Gesellschaft58 mit dem Versuch, das Fremde an das Eigene anzugleichen. Die Gesellschaft erwartet, dass der „Fremdling“ sich in sie einfügt und nach ihren Regeln dazugehört – sprich ihr kulturell Eigenes erfüllt. Leonhard soll eine den bürgerlichen Standards entsprechende Lebensführung annehmen und alles, was an ihm als „fremd“, d.h. von der heimischen Norm abweichend gesehen wird, ablegen. Dieses Fremde ist allerdings nicht mehr nur sein wildes Äußeres und seine Kleidung, sondern vor allem die Nichterfüllung der bürgerlichen Normen. Leonhards bloße Rückkehr aus der Ferne in die Heimat, sowie sein fremdländisches Aussehen, prägen also zwar den Eindruck als „Fremder“ und „Afrikaner“, den er in der heimischen Gesellschaft macht, sind aber allein kein Grund für seine fortgesetzte Nichtzugehörigkeit. Diese wird an der Nichterfüllung gesellschaftlicher Werte gemessen: Der eigentliche Normverstoß, den Leonhard begeht, ist somit seine mangelnde Anpassung, besonders in Bezug auf

|| 55 Günther Matschke: Isolation, S. 50. 56 Vgl. Uwe Paßmann: Orte fern, S. 51. 57 Vgl. Uwe Paßmann: Orte fern, S. 52. 58 Dass die Bumsdorfer Gesellschaft bürgerlich ist, kann schon an den Berufen der Bewohner, die vor allem aus Ämtern bestehen, gesehen werden. Vgl. Andreas Schulz: Lebenswelt, S. 14– 19; BA 7, S. 41.

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die Einhaltung einer bürgerlichen Lebensweise.59 Da er sich auch nach seiner Rückkehr weigert, den gesellschaftlichen Regeln – die einen bürgerlichen Beruf und eine Integration in das gesellschaftliche Leben verlangen – zu entsprechen, bleibt er für die Gesellschaft fremd. Als Umgang mit dem Fremden bieten sich für die Gesellschaft also zwei Möglichkeiten: Einerseits den Versuch der Integration ins Eigene durch Anpassung oder, wenn diese misslingt, der Ausschluss des Fremden. Durch Leonhards fortgeführte Fremdheit wird er somit weiterhin gesellschaftlich außerhalb des Eigenen angesiedelt. Weil er anders ist und nicht den kollektiven Vorgaben folgt – hier trennt der Roman klar zwischen Gesellschaftlichkeit und Individualität – wird er zum gesellschaftlichen Außenseiter.

2.1.2 Das deviante Individuum als Verkörperung von Eigenem und Fremdem Die bisher beschriebene Differenzierung zwischen Eigenem und Fremden in Abu Telfan, wird zudem noch um die Sicht des fremden Individuums erweitert. Hier werden Deutschland und die Gesellschaft aus der Außenperspektive des Fremdlings wahrgenommen und zudem an der fremden Kulturform gespiegelt. Dies ist möglich, da Leonhard als Fremder unabhängig von den gesellschaftlichen Umständen ist. Durch seine jahrelange Abwesenheit ist er weder durch Sozialisation noch durch die Formen gesellschaftlicher Selbstinterpretation befangen.60 Als Fremder betrachtet Leonhard aus einer Distanz, die ihn scharfsichtig für die Wirklichkeit macht, das, was für die Zugehörigen der Gesellschaft zur Norm geworden ist.61 Allerdings ist Leonhard sowohl Fremder als auch „Heimkehrer“, also jemand der zum „Eigenen“, zum Kulturkreis der Heimat, gehört. Dies wird für die Gesellschaft insofern ein Problem, da das Fremde auf diese Weise bleibt, bei Leonhard verschärft sich dieser Konflikt zudem. Da auch Leonhard durch seine „Heimkehr“ in der Heimat verbleibt, wird seine Sichtweise als Fremder auch für ihn problematisch. Leonhard wird sich seiner Fremdheit zunächst nur langsam bewusst. Wie bereits erwähnt, identifiziert er sich mit seinem deutschen Namen zu Beginn des Romans, während die Gesellschaft ihn bereits als Fremdling wahrnimmt. Als „Heimkehrer“ ist die bürgerliche Gesellschaft eigentlich seine eigene Kulturform. Dies wird allerdings einerseits durch seine Konflikte mit der Gesellschaft

|| 59 Vgl. hierzu auch Hans-Ulrich Wehler: Zielutopie, S. 87. 60 Vgl. Winfried Weißhaupt: Europa sieht sich mit fremden Blick (Bd. 1), S. 284–285. 61 Vgl. Winfried Weißhaupt: Europa sieht sich mit fremden Blick, S. 298–299.

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vor seiner Reise in die Ferne62 und andererseits durch seine Entwicklung während seines Aufenthalts in Afrika gebrochen. Dieser hat ihn nicht nur für die äußerlichen Betrachter hinsichtlich seiner Hautfarbe und Kleidung zum Fremden gemacht, sondern auch innerlich geprägt. Leonhards Erwartungen und sein Blick auf die Wirklichkeit der heimischen Gesellschaft werden verändert: In Afrika ist Leonhard ebenfalls ein Fremder und wird als solcher von der dortigen Kulturform zum Sklaven degradiert. Hier reagiert die afrikanische Gesellschaft – wie die deutsche später im Umgang mit Leonhard – mit der Abwertung und Degradierung zum Objekt der ihr fremden Kulturform. So betrachtet Leonhard seine Erfahrungen der Grausamkeit und Unfreiheit während seiner Gefangenschaft von der Distanz des Fremden aus. Aus dieser Perspektive vergleicht er die afrikanische mit der eigenen Kulturform und sieht – durch die Degradierung zum Besitz – gerade seine innere Freiheit gefährdet. Als in Afrika Fremder wird Leonhard durch die ihm fremde Kulturform in seinem eigenen Selbstverständnis bedroht. Auch seine Reaktion auf das ihm Fremde folgt den typischen Mustern der Begegnung zwischen Eigenem und Fremden. Denn Leonhard empfindet einerseits den afrikanischen Alltag als Barbarei, welche er gegen die eigene Lebensform abwertet, andererseits bewältigt er die Herausforderung des Eigenen durch das Fremde mit Selbstabschluss: So begegnet er der Abweichung der afrikanischen Lebensform von den eigenen, persönlichen Werten, indem er diese – wenn auch idealisiert – mit der deutschen Gesellschaft identifiziert. Er entzieht sich dem Fremden, indem er der deutschen Kultur den Anspruch auf Überlegenheit zugesteht und sich zugleich zu dieser zählt. Denn hier sieht Leonhard Menschlichkeit und Freiheit verwirklicht.63 So werden seine früheren Unstimmigkeiten mit der heimischen Gesellschaft als „Sünden und Laster“64 uminterpretiert und die Reaktionen auf seine „leichtsinnige[...] Individualität“65 durch den Vater sogar völlig akzeptiert. Dies ermöglicht es ihm, trotz der Herausforderung durch die fremde Kultur, die ihn sogar als Mensch entwertet, sein Eigenes zu bewahren. Dass Leonhards Identifikation seiner eigenen Werte mit der heimischen Gesellschaft eine Illusion ist, erfährt er nach seiner Heimkehr: Er muss in etwa zeitgleich zu den Ereignissen des Familienrats erkennen, dass die Heimkehr in die zivilisierte Welt nach elf Jahren in Afrika sich anders gestaltet, als er erwar-

|| 62 Vgl. BA 7, S. 23. 63 Vgl. Michel Kokora: Die Ferne in der Nähe, S. 63. Michel Kokora bezeichnet Leonhards Heimat in diesem Zusammenhang als Ort der inneren Nähe. 64 BA 7, S. 23. 65 BA 7, S. 23.

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tet hat. Hat er sich auf seiner Heimfahrt noch als „Leonhard Hagebucher“ als der deutschen Gesellschaft zugehörig identifiziert, begreift er nun, dass sich die Wirklichkeit nicht mit seinen eigenen Erwartungen deckt: […] denn von hier an bis zur Mündung ist für einen Menschen, der elf Jahre in Abu Telfan gefangen saß, der Nil kaum vom englisierten deutschen Rhein zu unterscheiden […]. Ihr sagt, dies sei Bumsdorf und ich heiße Leonhard Hagebucher – ich will es euch glauben und muß die Konsequenzen auf mich nehmen. (BA 7, S. 29)

Leonhard muss sich erst mit „der erstaunten europäischen Welt von neuem bekannt“66 machen, um „sich wieder in der Zivilisation zurechtzufinden“.67 Durch die lange Abwesenheit kennt er die Regeln und die Wirklichkeit der Gesellschaft nicht mehr. Er muss sich eingestehen, dass er auch hier wieder fremd ist: In Abu Telfan im Tumurkielande hatte den armen Gefangenen nichts gestört als die physische rohe Gewalt und die Sehnsucht nach der Freiheit, das Heimweh nach dem Vaterlande; jetzt in der Heimat fing alles an, ihn zu stören und zu beunruhigen; er war fremd geworden in der Zivilisation, in Europa, in Deutschland, in Nippenburg und Bumsdorf; eine unendliche und in jeder Weise begründete Angst vor den Dingen und vor sich selber mußte sich seiner bemächtigen – ein Schritt weiter, und er konnte sich nach dem Tumurkielande leise zurücksehnen: die Würde und Freiheit, die Bildung und Sitte des europäischen Menschen imponierten ihm viel zu mächtig. (BA 7, S. 40)

Die Erwartungen der bürgerlichen Gesellschaft, ihre Normen zu erfüllen, erweisen sich als zu schwierig für Leonhard. Seine Gefangenschaft hat „ihn von der Realität des Lebens in der europäischen Heimat völlig abgekoppelt“.68 Die Existenz als Sklave in Afrika beraubt ihn nicht nur seiner äußeren Freiheit, sondern bedeutet auch, durch die Erniedrigung des Individuums zur Ware, die „vollständige moralische Vernichtung der Person“.69 Was ihm bleibt in der eintönigen Langeweile seiner Gefangenschaft ist die Erhaltung seiner geistigen, inneren Freiheit.70 William T. Webster weist darauf hin, dass diese Erfahrungen in

|| 66 BA 7, S. 12. 67 BA 7, S. 31. 68 Michel Kokora: Die Ferne in der Nähe, S. 58. 69 Dirk Göttsche, Zeitreflexion, S. 55. 70 Diese innere Freiheit wird in der afrikanischen Gefangenschaft von Leonhard noch als bedrückend empfunden. So sehnt er sich nach geistiger Beschränkung, um die äußerliche Unfreiheit zu ertragen. Vgl. BA 7, S. 85: „Eine Schildkröte, mit aller geistigen Begabung der Schildkröte und nicht mehr, zu sein – o die Vorstellung eröffnete einen Blick in das Reich der höchsten krönenden Gnade.“

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der Gefangenschaft es Leonhard ermöglichen, ein kritisches Bewusstsein gegenüber den Normen der bürgerlichen Gesellschaft zu entwickeln.71 Dadurch, dass er elf Jahre aus der Gesellschaft entfernt war, ist er in der Tat zu einem „in der Luft stehenden Individuum“72 geworden, das durch diese Distanz die Heimat als fremd erfährt73 und diese nun kritisch betrachtet. Die bürgerlichen Erwartungen nach bedingungsloser Anpassung werden von ihm jetzt mit der afrikanischen Unfreiheit verglichen und als gleichwertig erkannt. So kann sich Leonhard – entgegen seiner Illusionen während der Gefangenschaft in Afrika – nach seiner Rückkehr auch verständlicherweise nicht mit der bürgerlichen Gesellschaft Bumsdorfs identifizieren.74 Er erkennt, dass sein eigener, in der Gefangenschaft entstandener „Anspruch auf [innere] Freiheit“75 von den gesellschaftlichen Anforderungen an das Individuum bedroht wird. Sowohl auf Gesellschaftsebene als auch auf der Ebene des Individuums entsteht hier eine Differenz zwischen Eigenem und Fremden. Die heimische Gesellschaft erwartet vom Fremdling Leonhard, „ein Leben in der Sozialität zu führen“76 und will den „Versager“ wieder „zu einem nützlichen Mitgliede [des] Gemeinwesen[s]“77 machen. Sein „hochmütige[s] und ausländische[s] Wesen“78 bedroht, weil es den bürgerlichen Normen nicht entspricht, die Stabilität der in den eigenen Reglementierungen festgesetzten Gesellschaft. Diese Normen schützen aber die Sicherheit der Gesellschaft und gewährleisten den Fortbestand des bürgerlichen Lebensstils.79 Aus diesem Grund wird ein starker Normierungsdruck auf das Individuum ausgeübt, der letztendlich die Freiheit und Individualität des Einzelnen einfordert.80 Das Kollektiv möchte also vom Einzelnen Anpassung und die Erfüllung der gesellschaftlichen Normen, während Leonhard die Verwirklichung der während seiner Gefangenschaft ersehnten Werte wie Freiheit und Menschlichkeit erhofft. Da dies aber durch den von der

|| 71 Vgl. William T. Webster: Der „Hinhocker“ und der „Weltwanderer“, S. 28–29. 72 BA 7, S. 39. 73 Vgl. hierzu: Peter J. Brenner: Die Einheit der Welt, S. 55. 74 Vgl. Günther Matschke: Isolation, S. 50–51. 75 Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 47. 76 Christian Müller: Subjektkonstituierung in einer kontingenten Welt. Erfahrungen zweier Afrika-Heimkehrer – Gottfried Kellers Pankraz, der Schmoller und Wilhelm Raabes Abu Telfan. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 43 (2002), S. 101. 77 BA 7, S. 44. 78 BA 7, S. 43. 79 Vgl. Werner Fuchs-Heinritz und Alexandra König: Pierre Bourdieu, S. 113. 80 Vgl. hierzu: Peter J. Brenner: Die Einheit der Welt, S. 54; Christian Müller: Subjektkonstituierung, S. 106–107 und Günther Matschke: Isolation, S. 50–52.

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Gesellschaft, insbesondere durch den Familienrat auf ihn ausgeübten Normdruck nicht erfüllt wird, erfährt Leonhard hier erneut seine Fremdheit: Die Gesellschaft lehnt den für sie Fremden ab und weist ihm die Tür, während er selbst erkennen muss, dass auch seine eigenen Werte von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abweichen: Die heimische Kulturform stellt sich nicht als das ihm Eigene heraus, mit dem er sich während seiner Gefangenschaft identifiziert hat. Da die Unfreiheit der Gesellschaft so für Leonhard eine Spiegelung seiner Erfahrungen in der Fremde bedeutet, wird diese ihm nun als Konsequenz selbst zur Fremde. Leonhards Eingeständnis seiner Fremdheit äußert sich auch in seinem Ausspruch, er sei nun „[d]aheim im Tumurkielande“.81 Leonhard wird von Beginn an als „Fremder“ und als „Individuum“ in Opposition zur Gesellschaft gestellt. Seine Abwesenheit macht ihn nicht nur äußerlich der bürgerlichen Gesellschaft fremd: Auch innerlich muss Leonhard erkennen, dass er selbst zum Fremden geworden ist. Es herrscht eine Differenz zwischen seinen eigenen Vorstellungen und der erfahrbaren, bürgerlichen Realität. Die titelgebende „Heimkehr vom Mondgebirge“ – und das eigentliche Thema des Romans – bedeutet die Überwindung dieser Entfremdung.82

2.2 Zwischen Provinz und Residenz: Grundzüge der Gesellschaft 2.2.1 „Triumph der höchsten Zivilisation“: Die Gesellschaft der Provinz Wilhelm Raabes Roman Abu Telfan weist sowohl Elemente des sozialen Lebens im 19. Jahrhundert als auch der speziell deutschen Zeitgeschichte auf. In seiner Darstellung individueller „Lebensgeschichte und Zeitgeschichte im Raum des

|| 81 BA 7, S. 63. Michel Kokora beschreibt Abu Telfans Doppeldeutigkeit: „Als Ferne gegenüber der heimatlichen Nähe bedeutet es den Zufluchtsraum aller derjenigen, die aus irgendeinem Grund fliehen wollen. Als Wertinhalt bedeutet es aber grausam drückende Knechtschaft, die auch in der heimatlichen Nähe zu erleben ist“. Michel Kokora: Die Ferne in der Nähe, S. 64. 82 Christian Müller beschreibt die Bedeutung Afrikas in Abu Telfan als „das Leiden an der gesellschaftlichen Wirklichkeit (durch die Potenzierung der Unfreiheit in Form einer Gefangenschaft), und […] den Zustand absoluter Isolation und Entfremdung (durch die Potenzierung des Gegensatzes von Individuum und Gesellschaft in Form einer Verneinung der sozialen Moralität des Individuums)“. Beides erfährt Leonhard wieder nach seiner Rückkehr und muss diese Entfremdung erst überwinden, um wirklich „heimzukommen“. Vgl. Christian Müller: Subjektkonstituierung, S. 104.

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Sozialen“83 greift der Roman in einer „exemplarischen Konstellation aus Dorf, Provinzstädtchen und großherzoglicher Residenz“84 die Gesellschaft im Ganzen auf und übt darüber hinaus Kritik an einzelnen Schichten der Gesellschaft. Um diese möglichst genau zu erfassen und die daraus resultierenden Probleme der einzelnen Figuren mit der Gesellschaft zu bestimmen, sollen zunächst die einzelnen gesellschaftlichen Elemente im Roman untersucht werden. 2.2.1.1 Die Provinz als Spiegel der afrikanischen Sklaverei Die Darstellung der Gesellschaft in Abu Telfan erfolgt größtenteils über den Erzähler. Er kommentiert die politische Zeitgeschichte und allen voran das bürgerliche Selbstverständnis dieser Zeit in ironischer Weise. So kritisiert er besonders heftig geschichtliche Tatsachen, die besonders durch Leonhards Abwesenheit akzentuiert werden. Dirk Göttsche zeigt auf, wie der Zeitsprung von 1847 auf 186385 „Vergangenheit und Gegenwart um die Achse der Epochenschwelle von 1848 miteinander in Beziehung setzt“.86 Leonhard verschläft sozusagen die „Errungenschaften [der] Zivilisation“87 während seiner Gefangenschaft und muss die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen des Nachmärz erst nachholen.88 Dass diese, wie Leonhard es mit einer „wilden Ironie“89 zusammenfasst, ihn fast ins „Landesirrenhaus“90 bringen oder ihm zumindest einen „Wutanfall“91 bescheren, zeigt die heftige Kritik an den von Leonhard verpassten Geschehnissen.92 Auch den gesellschaftlichen Umgang mit dem Fremden kommentiert der Erzähler kritisch: In dem im 13. Kapitel dargestellten „sarkastischen Abriß der

|| 83 Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 46. 84 Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 47. 85 Dies ist genau die Zeitspanne von Leonhards Abwesenheit aus Europa. 86 Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 52. 87 BA 7, S. 156. 88 Vgl. BA 7, S. 156–159. Siehe hierzu auch Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800– 1866. Bürgerwelt und starker Staat. München: Beck 1994, S. 749–768; Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3. München: Beck 1995, S. 251–264. 89 BA 7, S. 159. 90 BA 7, S. 156. 91 BA 7, S. 157. 92 Für Raabes Sicht auf diese Entwicklungen sei verwiesen auf: Gerhart Mayer: Die geistige Entwicklung Wilhelm Raabes. Dargestellt unter besonderer Berücksichtigung seines Verhältnisses zur Philosophie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1960.

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deutschen Geschichte“93 erinnert er an die unzivilisierte Vergangenheit Deutschlands, die sich entgegen der „Heroisierung germanischer Urgeschichte“94 als eine „Geschichte sozialer Gewalt, skrupelloser Machtpolitik und leidvoller Kriege“95 entpuppt. Daneben wird gleichzeitig die Mentalität der deutschen Bevölkerung ironisiert. Während die bürgerliche Gesellschaft sich den afrikanischen Barbaren überlegen fühlt, erweist sich ihre eigene Geschichte letztendlich als Spiegelbild dieser Grausamkeiten. Auch der zivilisatorische Fortschritt, welche die Gesellschaft dem Fremden gegenüber hervorhebt, wird falsifiziert. So wird die „Gesittung und Bildung“,96 des „biederste[n] Volk[s] der Erde“,97 das den „Triumph der höchsten Zivilisation zur Erscheinung“98 bringt, nur als folgsamer „Untertanengeist“99 entlarvt.100 Auf diese Weise macht sich der Erzähler über das bürgerliche Selbstverständnis von den eigenen „zivilisierten“ Umständen lustig. Dies wird auch im immer wieder thematisierten Kulturvergleich sichtbar. Nicht nur in Leonhards Vorlesung in der Residenz, in der er deutlich die deutschen Verhältnisse mit den afrikanischen vergleicht,101 sondern bereits im früher stattfindenden Familienrat werden die beiden Kulturen miteinander gleichgesetzt. Die afrikanische Gesellschaft fungiert als Spiegelbild des Bürgerlichen, welches an Leonhards Erfahrungen greifbar wird. Bemerkenswert ist, dass Leonhards Zeit in Afrika als Leerstelle in seinen Erzählungen ausgespart wird: „Ich ging nur als ein Handelsartikel mit variierendem Werte von Hand zu Hand, von Stamm zu Stamm, und wurde zuletzt im Schatten Dschebel al Komris zu Abu Telfan im Tumurkielande einem meiner eigenen Hampelmänner, einem glotzäugigen, grinsenden Kerl mit blauen Hosen, gelben Husarenstiefeln und einer roten Jacke – zugegeben. Tiefer war doch gewiß noch niemals ein deutscher Studiosus der Gottesgelahrtheit im Preise ge-

|| 93 Wolfgang Beutin: Reformation, Französische Revolution, 1848 – progressive weltgeschichtliche Ereignisse als Reminiszenzen in Wilhelm Raabes Erzählwerk. In: Jahrbuch der RaabeGesellschaft 50 (2009), S. 157. 94 Dirk Göttsche, Zeitreflexion, S. 53. 95 Dirk Göttsche, Zeitreflexion, S. 53–54. 96 BA 7, S. 129. 97 BA 7, S. 12. 98 BA 7, S. 129. 99 Margrit Bröhan: Die Darstellung der Frau bei Wilhelm Raabe und ein Vergleich mit liberalen Positionen zur Emanzipation der Frau im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M.: Lang 1981, S. 122–124. 100 Vgl. BA 7, S. 12: „[…] da wo das biederste Volk der Erde seit uralter Zeit Treu und Redlichkeit übt und, seit es aus dem Urschlamm entstand, seinen Regierungen nicht ein einziges Mal einen gerechten Grund zur Klage gegeben hat“. 101 Vgl. BA 7, S. 186–187.

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sunken?!“ […] „Und dann, und dann, o Gott, und dann?“ „Nichts!“ sagte der Afrikaner mit einer Ruhe, die in der Tat etwas gespensterhaft Unheimliches hatte. Das Licht seiner Augen schien sich wie in einem Nebel zu verlieren, seine ganze Gestalt sank zusammen, die Mutter faßte ihn laut weinend in die Arme, Lina saß mit gefalteten Händen regungslos im zitternden Gram und Schrecken, und dem Papa Hagebucher ging wieder einmal die Pfeife aus. (BA 7, S. 28)

An die Stelle dieses „Nichts“ treten die zeitgenössischen Stereotype der afrikanischen Barbarei: Zwanzig bis dreißig in einen kahlen, glühenden Felsenwinkel geklebte Lehmhütten – hundertundfünfzig übelduftende Neger und Negerinnen mit sehr regelmäßigen Affengesichtern und von allen Altersstufen – von Zeit zu Zeit Totengeheul um einen erschlagenen Krieger oder einen am Fieber oder an Altersschwäche Gestorbenen – von Zeit zu Zeit Siegsgeschrei über einen gelungenen Streifzug oder eine gute Jagd – von Zeit zu Zeit dunkle Heuschreckenschwärme, welche über das gelbe Tal hinziehen – zur Regenzeit ein troglodytisches Verkriechen in den Spalten und Höhlen und Felsen! (BA 7, S. 28–29)

Leonhards Erzählungen entsprechen dem, „was die Daheimgebliebenen annehmen, was er dort erlebt habe“.102 Die Stereotype „sagen also mehr über jene aus, die sie verwenden, als über diejenigen, auf die sie sich beziehen“.103 Gerade die dem Familienrat vorsitzende Tante Schnödler erinnert Leonhard nämlich „lebhaft an jene Audienzen […], welche ihm vor kurzen noch Madam Kulla Gulla, die Schwiegermutter seines Besitzers im Tumurkielande, so häufig erteilte“.104 Mit den ihm auferlegten Ratschlägen zur Anpassung an die gesellschaftlichen Vorstellungen wird zugleich auf die in der Sklaverei erlittenen Brutalitäten verwiesen.105 Dass die Tante Schnödler sich ironischerweise trotz dieser Vergleiche den afrikanischen Verhältnissen überlegen fühlt, zeigt die Kritik des Romans am Bürgertum. Das Barbarische, das Spiel mit dem Exotischen,106 dient dabei nicht nur als Spiegelbild für die heimische Gesellschaft, sondern insbesondere für das Bürgertum zur Rechtfertigung ihrer Vorstellungen von Kultur. Niklas Luhmann führt die historische Unterscheidung zwischen Barbaren und Hellenen auf In-

|| 102 Lucas Marco Gisi: Barbaren, Kinder und Idioten. Von Wilhelm Raabes Abu Telfan und Altershausen zu Robert Walsers Jakob von Gunten. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 55 (2014), S. 112. 103 Dirk Göttsche: Der koloniale „Zusammenhang der Dinge“, S. 58. 104 BA 7, S. 42. 105 Vgl. BA 7, S. 42. 106 Hier wird vor allem auch mit den zeitgenössischen Lesererwartungen gespielt. Vgl. Lucas Marco Gisi: Barbaren, S. 110.

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klusion und Exklusion zurück. Die Differenzierung geht dabei vom inkludierten Volk aus und zielt auf die Besserstellung der einen gegenüber der anderen Seite ab: Solche Unterscheidungen verdanken sich dem Versuch, trotz zunehmender Komplexität eine hierarchische Weltarchitektur aufrechtzuerhalten. Die Welt ist perfekter, wenn sie nicht nur Engel, sondern auch Steine, nicht nur Männer, sondern auch Frauen, nicht nur Hellenen, sondern auch Barbaren enthält. Formal geht es um Oppositionen oder abstrakter: um Unterscheidungen, bei denen die Höherwertung der einen Seite nicht nur ihre Gegenstellung, sondern zugleich die Zugehörigkeit des Unterschiedenen zu einer hierarchischen Ordnung bestätigt. Die „bessere“ Seite hat mithin eine Doppelfunktion in horizontaler und in vertikaler Richtung. Sie repräsentiert die Hierarchie in der Unterscheidung, und das wiederum begründet ihre Besserstellung.107

Leonhard wird immer wieder als Barbar bezeichnet. Mit diesen Titulierungen wird einerseits Leonhards Exklusion aus Sicht der Gesellschaft deutlich, aber auch das Gefühl der Überlegenheit der Gesellschaft gegenüber den afrikanischen Verhältnissen akzentuiert. Da aber auch die bürgerliche Kulturform mit der afrikanischen Barbarei in Verbindung gebracht wird, wird diese Überlegenheit ironisiert. Die vom deutschen Bürgertum vertretene vermeintliche Zivilisation wird somit vor dem Hintergrund der Erfahrungen Leonhards als die von der europäischen Gesellschaft für unterlegen geglaubte Barbarei sichtbar gemacht.108

|| 107 Niklas Luhmann: Jenseits von Barbarei. In: Modernität und Barbarei. Soziologische Zeitdiagnose am Ende des 20. Jahrhunderts. Hg. von Max Miller und Hans-Georg Soeffner. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 220. Nach Luhmann bezieht sich diese Unterscheidung aber nicht auf heutige gesellschaftliche Bedingungen, die „auf Inklusion der Gesamtgesellschaft angelegt“ (Niklas Luhmann: Jenseits von Barbarei, S. 223) sind. Dies funktioniert durch die Inklusion früherer Exklusionen, wie deviantem Verhalten, die „Formulierung philosophischer Theorien, die kein ‚Außen‘ mehr anerkennen“ (Niklas Luhmann: Jenseits von Barbarei, S. 224) und letztendlich durch die Erfindung von „Kultur“, wodurch alle Kulturen vergleichbar und damit eingeschlossen sind (vgl. Niklas Luhmann: Jenseits von Barbarei, S. 224). 108 Sandra Illmer basiert diesen Kulturvergleich auf die Gleichsetzung des Matriarchats der Madam Kulla Gulla mit den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in Leonhards deutscher Heimat. Vgl. Sandra Illmer: „Wilde Schwächlinge“ auf dem Weg „zu den Müttern“. Die Ordnung des Matriarchats und die Politik der Provinz in Wilhelm Raabes Roman Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge. In: Signaturen realistischen Erzählens im Werk Wilhelm Raabes. Hg. von Dirk Göttsche und Ulf-Michael Schneider. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 137–156.

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Ein weiterer Aspekt der Gesellschaftskritik des Erzählers ist die Verspottung der kleingeistigen Philisterkreise.109 Schon die erste Beschreibung Bumsdorfs und Nippenburgs zeigt die Doppeldeutigkeit ihrer „grausamen Idyllik“:110 Es war ebenfalls ein Vogelnest in Grün, dieses Dorf Bumsdorf, aber weniger voll zwitschernder Melodien als voll Gebrumm und Gegrunz, Gescharr und Geknarr, Gequiek und Gequak, Gefluch und Gepfeif, Gezeter und Gejodel, und die Sonne beschien heiter die Kirche, das Pfarrhaus, den Gutshof, das Wirtshaus und den Mühlenteich […]. (BA 7, S. 15)

Das Bumsdorfer und Nippenburger Bürgertum erweist sich als kleinkariert und scheinheilig. Der über der Haustür des Steuerinspektors Hagebucher geschriebene Spruch: „Gesegnet sei dein Eingang und dein Ausgang“ wird in ironischer Weise mit dem direkt dahinterstehenden „Knüppel für unverschämte Bettelleute, Handwerksgesellen und fremde Hunde“111 entkräftet. Es stellt sich heraus, dass es sich um eine Gesellschaft handelt, deren Mitglieder mehr auf ihren eigenen Ruf und Einfluss achten – „[m]an hatte sich denn doch zu rechtfertigen

|| 109 Dieter Arendt gibt einen Überblick über die kulturkritische Entwicklung des Begriffs des „Philisters“ in der deutschen Literatur. Als Philister beschreibt er „de[n] unter den Zwängen alltäglicher Gewohnheit entartete[n] und seiner selbst entfremdete[n] Mensch[en]“. (Dieter Arendt: Wilhelm Raabe und der „romantische Schlachtruf: Krieg den Philistern!“. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 22 (1981), S. 58). Der „Spießbürger-Philister“ verschließt sich jeglichen Veränderungen und „fühlt sich als Herr der bestehenden Formen und gewohnten Ordnung“. (Dieter Arendt Wilhelm Raabe und der „romantische Schlachtruf, S. 60). Vgl. auch Dieter Arendt: Brentanos Philister-Rede am Ende des romantischen Jahrhunderts oder Der PhilisterKrieg und seine unrühmliche Kapitulation. In: Orbis Litterarum 55 (2000), S. 81–102. Friedrich Nietzsche charakterisiert zudem den Bildungsphilister folgendermaßen: „Er fühlt sich, bei diesem Mangel jeder Selbsterkenntnis, fest überzeugt, daß seine ‚Bildung‘ gerade der satte Ausdruck der rechten deutschen Kultur sei: und da er überall Gebildete seiner Art vorfindet und alle öffentlichen Institutionen, Schul-, Bildungs- und Kulturanstalten gemäß seiner Gebildetheit und nach seinen Bedürfnissen eingerichtet sind, so trägt er auch überallhin das siegreiche Gefühl mit sich herum, der würdige Vertreter der jetzigen deutschen Kultur zu sein, und macht dementsprechend seine Forderungen und Ansprüche. Wenn nun die wahre Kultur jedenfalls Einheit des Stiles voraussetzt, und selbst eine schlechte und entartete Kultur nicht ohne die zur Harmonie eines Stiles zusammenlaufende Mannigfaltigkeit gedacht werden darf, so mag wohl die Verwechslung in jenem Wahne des Bildungsphilisters daher rühren, daß er überall das gleichförmige Gepräge seiner selbst wiederfindet und nun aus diesem gleichförmigen Gepräge aller ‚Gebildeten‘ auf eine Stileinheit der deutschen Bildung, kurz auf eine Kultur schließt“. (Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. 1873. Erstes Stück: David Strauß der Bekenner und Schriftsteller. München: Goldmann, 1964, S. 12). 110 Karl Hotz: Bedeutung und Funktion des Raumes, S. 75. 111 BA 7, S. 15.

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vor der Welt“112 – als auf das einzelne menschliche Wesen. Dabei wird die eigene Bedeutung überschätzt: Es kamen zwei jüngere Vettern, welche jedoch auch bereits Haare auf ihrer Beamtenlaufbahn gelassen hatten und welche, obgleich der Staat ihnen ihren Gehalt quartaliter mit einem gewissen Hohn, mit zweifelloser Ironie auszahlte, sich den idealsten wie den materiellsten Mächten, den Schwärmern für die Republik Deutschland wie der reichsten Bankiers- oder Fabrikantentochter gewachsen glaubten. (BA 7, S. 41)

Der Erzähler ist dieser Gesellschaft gegenüber überaus pessimistisch eingestellt. Der Überschätzung der eigenen Bedeutsamkeit durch die bürgerliche Gesellschaft, was ihr Ansehen und ihren sozialen Status betrifft, bringt er nur Verachtung entgegen. Das Selbstverständnis des Bürgertums wird als grundlegend falsch dargelegt. Dadurch ebnet der Erzähler den Weg für eine fundamentale Gesellschaftskritik, die durch die Figuren des Romans – etwa Leonhard oder dem Vetter Wassertreter – fortgesetzt wird. 2.2.1.2 Das kritische Individuum zwischen Anpassung und Devianz Der Vetter Wassertreter stellt durch seine Stellung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft eine Ausnahme dar: Einerseits hat er keine besonders gute Reputation – „[h]ier sitze ich, und Nippenburg sagt, ich saufe“113 – andererseits ist er aber schon kraft seines Amtes als Wegebauinspektor und seiner Zugehörigkeit zum örtlichen „Herrenklub“ ein festes Mitglied der Bumsdorfer und Nippenburger Gesellschaft. Da er der bürgerlichen Norm eines selbstständigen Berufes nachkommt,114 ist er bereits Teil der Gesellschaft, auch wenn er durch die Ideale seiner Jugend und seinen immer noch vorhandenen kritischen Geist115 die bürgerlichen Konventionen nicht einhält. Es scheint nämlich vielmehr nicht gerade der Ruf eines Trinkers zu sein, der die Gesellschaft bezüglich des Vetters Wassertreter verärgert, sondern die immer wieder laut ausgesprochene Kritik an den bürgerlichen Verhältnissen. So ist er auch der einzige, der sich im Laufe des Familienrats auf Leonhards Seite schlägt. Seine Ansichten über die Rechtspre-

|| 112 BA 7, S. 43. 113 BA 7, S. 48. 114 Wie erwähnt ist dies auch eine der Bedingungen für die Zugehörigkeit zum Bürgertum. Vgl. Manfred Hettling: Die persönliche Selbstständigkeit, S. 59. 115 Hieran erkennt man, dass der Vetter Wassertreter sich nicht vollständig mit den bürgerlichen Gegebenheiten identifiziert. Dies scheint seiner willentlichen Anpassung an die äußeren gesellschaftlichen Begebenheiten aber nicht im Wege zu stehen.

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chung der Tante Schnödler werden allerdings missbilligend als „Anzüglichkeiten und Grobheiten“116 gewertet. Der Vetter Wassertreter erweist sich sowohl politisch als auch gesellschaftlich als kritisch: Von den Auswirkungen der Karlsbader Beschlüsse auf die liberalen Strömungen der Studentenbewegungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts desillusioniert, erkennt er, dass die von ihm angestrebten Ideale von Freiheit und Humanität in der Gesellschaft nicht verwirklicht sind.117 Als Folge nimmt er einen kritischen Standpunkt gegenüber dem Bürgertum ein und prangert vor allem die Scheinheiligkeit der „argen, hinterlistigen, nichtsnutzigen Welt“118 an: Da lag ich auf dem Bauche und ließ mir die Sonne auf den Rücken scheinen, und ganz Nippenburg verzog das Maul über den Lumpen. Die Tante Schnödler dort war dermalen ein recht sauber Mädel, aber um die Essig- und Vitrolfabrikation hat sie auch Anno Tobak schon recht leidlich Bescheid gewusst. Der Vetter Stadtrat war immer zu was Großem geboren und wußte es einem gut zu geben; ich sage dir Leonhard, es ist nichts Neues unter der Sonnen, daß die angenehme Verwandtschaft ein Konzil über einen aus dem Geleis geratenen armen Tropf ausschreibt und sich weiser dünket als der liebe Gott am siebenten Schöpfungstage; und wenn kein Consilium abeundi daraus wird, so ist die Verwandtschaft niemalen daran schuld. (BA 7, S. 47)

Auch in seinen Ansichten bezüglich individueller Freiheit hebt sich der Vetter Wassertreter von den übrigen Mitgliedern des Bürgertums ab. Er rät Leonhard, sich Zeit zu nehmen, um seinen Weg in der Gesellschaft zu finden. Als „geistige Stärkungsmittel“119 sollen Leonhard „Philosophie und Geduld“120 dabei helfen, seinen kritischen Geist gegenüber der Gesellschaft zu erhalten. Darüber hinaus betont der Vetter Wassertreter besonders die Bewahrung der eigenen Individualität:

|| 116 BA 7, S. 48. 117 Eine Zusammenfassung der Auswirkungen der politischen Ereignisse im 19. Jahrhundert für das Bürgertum findet man bei: Walter Hirsch: Das Drama des Bewusstseins. Literarische Texte in philosophischer Sicht. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 87–88. An Wassertreters Person wird die politische Entwicklung Deutschlands, insbesondere hinsichtlich eines Systems der politischen Polizeigewalt, kritisiert. Vgl. hierzu auch Wolfram Siemann: Bilder der Polizei und Zensur in Raabes Werken. Realgeschichtliche Grundlagen und Antwortstrukturen. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 28 (1987), S. 95–96 und Hans-Jürgen Schrader: Zur Vergegenwärtigung und Interpretation der Geschichte bei Raabe. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 14 (1973), S. 12–13. 118 BA 7, S. 48. 119 BA 7, S. 48. 120 BA 7, S. 48.

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Tue, was du willst, Leonhard, aber in allen Lagen nimm dir ein Exempel an dem alten [Goethe] und an dem Vetter Wassertreter; stirbst du jung, so wirst du das Deinige genossen haben, stirbst du alt, so kannst du dich in Ruhe einen Quietisten, Lumpen, oder wie es dem Pöbel sonst beliebt, schimpfen lassen: du hast, was dir gehört, gerettet und kannst die Leute reden lassen. (BA 7, S. 62)

Leonhard soll, wie schon der Vetter Wassertreter selbst, „retten, was ihm gehört“ und Gleichgültigkeit gegenüber den gesellschaftlichen Erwartungen zeigen. Die gesellschaftlichen Bestrebungen nach sozialem Status werden dabei unwichtig: Leonhards langfristiges Ziel ist es, seine innere Freiheit und Individualität gegenüber der Gesellschaft zu behaupten. Dies hat der Vetter Wassertreter bereits erreicht. Auch wenn seine politischen Bestrebungen zunichtegemacht wurden, so hält er doch immer noch an den liberalen Idealen von Freiheit und Humanität fest. Sein Amt als Wegebauinspektor versteht er somit auch im weiteren Sinn als seine menschliche Pflicht, Wege zu den Menschen zu finden121 – etwa dem „armen Tropf“ Leonhard zu helfen, auch „wenn die andern [ihn] nicht wollen“.122 Seine Kritik an den gesellschaftlichen Konventionen und Normen des Bürgertums – wie etwa die Erwartung einen einheitlichen, auf gesellschaftlichen Aufstieg angelegten Lebensstil zu führen – basiert größtenteils auf moralischen Kriterien. Dabei verurteilt er nicht die fundamentalen Werte des Bürgertums, wie Besitz, Bildung und Selbstständigkeit, – diese erfüllt der Vetter Wassertreter schließlich selbst –, sondern die gesellschaftlichen Strukturen und Konventionen, die die Erfüllung seiner individuellen Werte der Freiheit, Menschlichkeit und Solidarität verhindern. Der Vetter Wassertreter durchschaut das Wesen der Gesellschaft, die in seinen Augen mit ihrem Anspruch auf gesellschaftliche Normierung letztendlich nur die eigene Inhumanität rechtfertigt. Er rechnet beispielsweise mit Leonhards Rauswurf aus dem väterlichen Haus, noch ehe sich dieser überhaupt abzeichnet.123 Auf diese Weise werden die gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen kritisiert, die sich aufgrund der bürgerlichen Bestrebungen nach homogenen Mitgliedern als unmenschlich herausstellen. Die vom Vetter Wassertreter angestrebten und im Bürgertum nicht verwirklichten Werte werden durch seine Kritik und seine Rolle als positiver Erzieher Leonhards124 hervorgehoben. Der strenge Aufbau der Gesellschaft und die bürger-

|| 121 Vgl. BA 7, S. 68: „Der Vetter Wassertreter aber hat sich nicht umsonst dem Wegbau gewidmet, er fand seinen Weg zu der geheimnisvollen Frau […].“ 122 BA 7, S. 48. 123 Vgl. BA 7, S. 60. 124 Vgl. hierzu Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 19–20.

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lichen Kriterien für die Zugehörigkeit werden hingegen vor den Idealen des Vetters als moralisch unbedeutend entlarvt. Dass zudem mit dem Vetter Wassertreter jemand, der diese Werte der Humanität und Individualität repräsentiert, fester Teil der bürgerlichen Gesellschaft ist, hinterfragt zusätzlich die Geltung der gesellschaftlichen Strukturen. 2.2.1.3 Das Diktat der Anpassung Der Familienrat nimmt eine zentrale Rolle im Roman ein. Er setzt sich aus den bürgerlichen Mitgliedern aus Leonhards erweiterter Verwandtschaft zusammen und hat die Funktion der ersten Prüfung Leonhards durch die Gesellschaft.125 Leonhard stellt als Fremder für die heimische Gesellschaft eine Herausforderung dar. Im Familienrat werden die Konsequenzen seiner Fremdheit gezogen. Die Enttäuschung über die Art und Weise, wie Leonhard nach Hause zurückgekehrt ist, ist groß. Er muss erleben, dass sich das anfängliche Interesse und die Freude über seine Heimkehr in wachsende Ungeduld wandeln. Für die heimische bürgerliche Gesellschaft ist er nämlich „als ein Nichts“ zurückgekommen.126 Er ist für die Familie eine Enttäuschung, weil er in der Ferne nichts erreicht hat und als „armer Mann aus der Fremde heimgekehrt“127 ist. Von der Überzeugung einer überlegenen Kulturform aus befasst sich das europäische Interesse an der Fremde hauptsächlich mit der Nützlichkeit dieser hinsichtlich Handel und der Chance auf Reichtümer.128 Damit gerät Leonhard zunehmend in Konflikt „mit den Strukturen und Erwartungen der bürgerlichen Gesellschaft“,129 die beginnt, ihn als „Vagabond in alle Ewigkeit“130 zu sehen. Anstatt als erfolgreicher und wohlhabender Entdecker,131 der auch in der bürgerlichen Gesellschaft etwas gegolten hätte, weil er nicht nur der bürgerlichen Forderung nach Eigentum und Selbstständigkeit genügt hätte, sondern dies auch mit Ansehen in der Gesellschaft verbunden gewesen wäre,132 war Leonhard nur ein Sklave. Auch dies steht im Kontrast zur Besitzmentalität des Bürgertums: Als

|| 125 Vgl. BA 7, S. 174: „Dem ersten [Examen] hatte er sich im fünften Kapitel zu unterziehen und fiel jämmerlich durch.“ 126 Vgl. Walter Hirsch: Das Drama des Bewusstseins, S. 90. 127 BA 7, S. 39. 128 Vgl. Uwe Paßmann: Orte fern, S. 52. 129 Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 47. 130 BA 7, S. 39. 131 Vgl. wiederum Daniela Gretz: Das „innere Afrika“, S. 212. 132 Vgl. hierzu M. Rainer Lepsius: Zur Soziologie des Bürgertums, S. 96; Hermann Bausinger: Bürgerlichkeit und Kultur, S. 122.

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Sklave wurde er immerhin selbst zum Besitz degradiert.133 Weil sich das, was Leonhard aus der Fremde mitbringt,134 weder in die positiven Vorstellungen von der Fremde noch in die bürgerlichen Erwartungen bezüglich eines speziell bürgerlichen Lebens integrieren lässt, reagiert die heimische Gesellschaft mit der Forderung an Anpassung. Das Fremde, das Leonhard verkörpert, stellt das bürgerliche Selbstverständnis, insbesondere deren Anspruch auf Homogenität, infrage. Die Erwartungen der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber Leonhard manifestieren sich im vom Vater einberufenen Familienrat. Dieser fungiert als Vertreter und Sprachrohr der gesellschaftlichen Ansprüche an den Einzelnen. Hinter ihm steht tatsächlich „die anonyme Macht der bürgerlichen Gesellschaft“.135 Der Familienrat dient hier insbesondere der gesellschaftlichen Machtausübung: Durch ihn wird einerseits die soziale Norm vorgegeben, andererseits fungiert er aber auch als Instrument der sozialen Kontrolle und gegebenenfalls zur Ausgrenzung von Mitgliedern.136 Deshalb werden hier die Bedingungen für Leonhards zukünftigen Wert für die Gesellschaft und damit sein zukünftiges Schicksal als Teil eben dieser Gesellschaft entschieden. Die Familie, die aus Vertretern der Beamtenschaft besteht, definiert sich über ihren eigenen sozialen Status als Bürger und fühlt sich Leonhard dadurch gegenüber erhaben:137 Das germanische Spießbürgertum fühlte sich dieser fabelhaften, zerfahrenen, aus Rand und Band gekommenen, dieser entgleisten, entwurzelten, quer über den Weg geworfenen Existenz gegenüber in seiner ganzen Staats- und Kommunalsteuer zahlenden, Kirchstuhl

|| 133 Dies ist eine Parallele zur afrikanischen Gesellschaft da auch hier Besitz – im Sinne eines Status als Besitz – darüber entscheidet, ob man zur Gesellschaft gehört oder nicht. Auf diese Spiegelung des Eigenen am Fremden geht auch Leonhard im Laufe des Romans, nämlich während seiner Vorlesung, ein, auf die an späterer Stelle zurückgekommen wird. 134 Tatsächlich bringt Leonhard aus Afrika keine Reichtümer, sondern nur Kuriositäten von wenig Wert – inklusive seiner eigenen Person, die den Anschluss an die bürgerliche Lebensführung verloren hat, mit. Vgl. BA 7, S. 8, 39–40. 135 Günther Matschke: Isolation, S. 52. 136 Vgl. hierzu auch Hermann Bausinger: Bürgerlichkeit und Kultur, S. 131–132; Bernhard Schäfers: Einführung, S. 83. 137 Vgl. BA 7, S. 41. Siehe hierzu auch Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 34–35: „Besonders typisch für die spießbürgerliche Welt ist es, daß das vorherrschende Lebensgefühl nicht existenziell erfahren ist, sondern daß diese soziale Klasse sich im Besitz einer angenommenen Sicherheit wähnt, die das Bestehen von Nippenburg für immer garantieren möchte und eine Erkenntnis des eigenen Wesens ausschließt. Dieses auf falschen Voraussetzungen beruhende Sicherheitsgefühl, dessen Widersinn dem Leser vermittels der abgerückten Erzählhaltung immer wieder deutlich gemacht wird, ist allzu leicht geneigt, den Außenseiter der Gesellschaft zu verdammen und ihn als Störer der Sicherheit zur Ordnung zu rufen.“

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gemietet habenden, von der Polizei bewachten und von sämtlichen fürstlichen Behörden überwachten, gloriosen Sicherheit und sprach sich demgemäß aus, und der Papa Hagebucher wäre der letzte gewesen, welcher für seinen Afrikaner das Wort ergriffen hätte. (BA 7, S. 42)

Die fremde Kulturform erfährt nicht nur als solche die Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft, sondern wird zudem moralisch-kulturell abgewertet. Der eigene Überlegenheitsanspruch gründet sich dabei auf den zivilisatorischen Fortschritt, welcher im Vergleich zur afrikanischen Rückständigkeit hervorgehoben wird. Dass dieser zudem erneut vom Erzähler ironisch als Kleingeistigkeit entlarvt wird, verdeutlicht die Kritik an den Vertretern des Familienrats. Diese fordern von Leonhard Anpassung – „die Mohren werden sich in uns schicken müssen“138 – und legen ihm den Posten als Ratsschreiber in Nippenburg nahe. Auf diese Weise könnte Leonhard über einen bürgerlichen Beruf die Zugehörigkeit zum Bürgertum erhalten. Da er aber die Differenzen zwischen ihm und der Zivilisation noch als zu bedeutend empfindet – vordergründig, weil er „alles vergessen [hat], was dem Menschen in [den] zivilisierten Zuständen zu seinem Fortkommen verhilft“139 – lehnt er diesen Vorschlag ab und bittet um Zeit.140 Hier erweist sich die bürgerliche Gesellschaft in Abu Telfan jedoch als unerbittlich. Die Entscheidung des Familienrates wird zwar zunächst vertagt, die Konsequenz einer Nichtanpassung wird Leonhard aber schon einmal vor Augen geführt: Ratsschreiber zu Nippenburg – hundertundfünfundsechzig Taler jährlich bar […] – und solch ein Gesicht! Sind wir vielleicht ein regierender König im Mohrenlande gewesen? Wenn das ist, so haben wir freilich nichts mehr zu sagen, und es handelt sich freilich nur um ein Retourbillett auf dem Postwagen und der Eisenbahn nach Afrika, und ich empfehle mich dem Herrn Potentaten ganz gehorsamst und sage nichts mehr. (BA 7, S. 44)

Auch hier findet sich die pejorative, abwertende Einstellung der heimischen Gesellschaft gegenüber der Fremdkultur wieder. Hinzu kommt, dass das Zueigenmachen des Fremden scheitert. Dies ist insofern ein Problem für die Gesellschaft, da das Bewusstsein des Fremden die Relevanz der eigenen Kulturform herausfordert. Um sich vor dieser Bedrohung der eigenen homogenen Lebensform zu bewahren, bleibt dem Bürgertum daher nur der Selbstabschluss. Daher ist der Familienrat nicht gewillt, Leonhard Zeit zu geben und fordert die sofortige Anpassung. So ist es auch nur folgerichtig, dass er einige Wochen später, in || 138 BA 7, S. 44. 139 BA 7, S. 39–40. 140 Vgl. BA 7, S. 45–46.

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denen Leonhard es immer noch nicht geschafft hat, „ein anständiger, großherzoglicher Staatsbürger und Untertan zu werden“,141 vom Vater vor die Tür gesetzt und somit aus der Gesellschaft verwiesen wird.142 2.2.1.4 Ansehen, Ehre und gesellschaftliche Macht: Der innere Aufbau der Gesellschaft Den Kern der bürgerlichen Gesellschaft in Bumsdorf und Nippenburg bildet der „Herrenklub“ im „Goldenen Pfau“, in dem die Honoratioren, die „Besten in Nippenburg“,143 ein- und ausgehen. Zu den Mitgliedern des Herrenklubs gehört auch Leonhards Vater, der Steuerinspektor Hagebucher, der im Roman sozusagen das Philiströse des Bürgertums144 repräsentiert: Im Goldenen Pfau befand sich natürlich auch der „Herrenklub“ von Nippenburg, und der Steuerinspektor Hagebucher war ebenso natürlich ein ausgezeichnetes, wohlangesehenes Mitglied dieser trefflichen Gesellschaft. Seine Pfeife mit einer Fliege auf dem Kopfe wurde vom Kellner mit kaum geringerm Respekt in Verwahrung gehalten als die des Kreisgerichtsdirektors und des Generalsuperintendenten […]. Er – der Inspektor – machte keinen Anspruch darauf, die Zeitungen zuerst zu bekommen, aber er bekam sie zu seiner Zeit und erinnerte sich nicht, daß ein anderer als ein hospitierender Vorgesetzter oder sonst im höhern Rang stehender Mann die althergebrachte Reihenfolge in frevelhaft politischer Neugier gestört habe. (BA 7, S. 94–95)

Am Beispiel des „Goldenen Pfaus“ lässt sich die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft in Abu Telfan nachvollziehen. So ist der „Goldene Pfau“ ein Symbol für die strengen und auf Homogenität ausgerichteten Zugehörigkeitsregeln der Gesellschaft. Die Struktur des Herrenklubs spiegelt die Bedeutsamkeit von Ruf und Ehre in der bürgerlichen Gesellschaft wieder. So bestehen seine Mitglieder aus den männlichen145 und sozial angesehenen Bürgern Nippenburgs und

|| 141 BA 7, S. 43. 142 Vgl. BA 7, S. 100–102. 143 BA 7, S. 95. 144 Zum Typus des Philisters siehe: Dieter Arendt: Brentanos Philister-Rede, S. 81–102 sowie Gerd Stein: Philister – Kleinbürger – Spießer. Normalität und Selbstbehauptung. Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts. Bd. 4. Frankfurt a. M.: Fischer 1985, S. 9– 18. 145 Während die Männer sich insbesondere in der Öffentlichkeit bewegten, wurde den Frauen im Bürgertum vor allem die häusliche Rolle zugeteilt. Vgl. hierzu: Gunilla-Friederike Budde: Bürgerinnen in der Bürgergesellschaft. In: Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums: Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986-1997). Hg. von Peter Lundgreen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 251.

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Bumsdorfs. Nur die wichtigsten und angesehensten Berufsgruppen und diejenigen mit guter persönlicher Reputation haben Zutritt zum „Herrenklub“. Wer ihm angehört, erhält zudem höheres Ansehen innerhalb des Bürgertums. Ein „ausgezeichnetes, wohlangesehenes Mitglied dieser trefflichen Gesellschaft“146 zu sein, steigert den eigenen Ruf in der Gesellschaft.147 Im Klub selbst herrscht aber auch eine strenge Hierarchie, die dem jeweiligen Status der Mitglieder in der Gesellschaft entspricht. Dies verweist auf das Aufstiegsstreben der bürgerlichen Schicht, das auf Ansehen und Ehre basiert.148 Auch dem Steuerinspektor Hagebucher bedeutet es viel, seine gute Reputation zu erhalten und „am Stammtisch von den Honoratioren in Nippenburg als fehl- und makelloser Steuerinspektor ästimiert zu werden“.149 Dabei war ihm Leonhards Abwesenheit während seiner Gefangenschaft in Afrika durchaus hilfreich: Solange unser wackerer Freund Leonhard in der geheimnisvollen Ferne undeutlich und schattenhaft vor den Augen von Nippenburg umhertanzte, ja sogar als ein Verlorener erachtet werden mußte, zog sein Papa im Pfau einen gewissen wehmütig-würdigen Genuß aus ihm. Man wußte ja von seiner Tätigkeit auf der Landenge von Suez und seiner Fahrt nilaufwärts; der junge Mann war gewissermaßen ein Stolz für die Stadt, und wenn er wirklich zugrunde gegangen war, so hatte Nippenburg das unbestreitbare Recht, sich seiner als eines „Märtyrers für die Wissenschaft“ zu erfreuen und ihn mit Stolz unter all den andern heroischen Entdeckern als den „Seinigen“ zu nennen. (BA 7, S. 95–96)

Leonhards Tätigkeit am Suezkanal wird von den Bewohnern Bumsdorfs und Nippenburgs als ehrenhaft angesehen. Eine – auch in materieller Hinsicht150 – erfolgreiche Rückkehr hätte Leonhard und der Familie Hagebucher viel Prestige eingebracht und Leonhard damit automatisch zu einem angesehenen Mitglied der Gesellschaft gemacht. Da Leonhard nun aber „nicht als glorreicher Entdecker“151 zurückgekommen ist, fühlt sich die Stadt Nippenburg, weil sie mit ihm keinen rufsteigernden Helden, sondern einen „Versager“ in ihren Reihen hat, in ihrer Ehre „sehr getäuscht und gekränkt“.152 Hier werden die Ausschlussprakti-

|| 146 BA 7, S. 94. 147 Vgl. Andreas Schulz: Lebenswelt, S. 11–12. 148 Vgl. Reinhart Koselleck u. a.: Drei bürgerliche Welten, S. 24 149 Dieter Arendt: Raabe und der „romantische Schlachtruf“, S. 69. 150 Zum Aufstiegsstreben des Bürgertums im 19. Jahrhunderts sowie die Bedeutung der materiellen Selbstständigkeit sei verwiesen auf Hans-Ulrich Wehler: Zielutopie, S. 86; Hermann Bausinger: Bürgerlichkeit und Kultur, S. 131–132. 151 BA 7, S. 96. 152 BA 7, S. 96.

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ken der bürgerlichen Gesellschaft, welche „auf jedes Auftreten echter Individualität militant“153 reagiert, am Beispiel des „Goldenen Pfaus“ deutlich. Das Versagen Leonhards schmälert nämlich auch das Ansehen des Steuerinspektors Hagebucher und er muss, weil der Sohn „den ehrlichen Namen Hagebucher so in Verruf […] gebracht“154 hat, im Goldenen Pfau den Hohn und Spott der „Aristoi“155 Nippenburgs über sich ergehen lassen. Als besonders kränkend – auch hier sei wieder auf das bürgerliche Streben nach gesellschaftlichem Ansehen verwiesen – werden dabei die Sticheleien des Onkels Schnödler empfunden, da dieser in der Hierarchie des „Goldenen Pfaus“ weit unter dem Steuerinspektor Hagebucher steht und in der Stadt „als wesenlose[s], vom Pantoffel zerquetschte[s] Ding“156 für lächerlich befunden wird. Onkel Schnödlers „Ansichten über den verlorenen Sohn und den Vater desselben“157 bringen den Steuerinspektor Hagebucher dazu, den „Herrenklub“ endgültig zu verlassen: Der an die Versammlung im allgemeinen gerichteten Erklärung, er – der Steuerinspektor Hagebucher – werde nie wieder einen Fuß in den Goldenen Pfau setzen, fügte der Alte, speziell gegen den […] Onkel Schnödler gewendet, hinzu, er – der Onkel Schnödler – sei ein allzu eselhafter Tropf und allzu jämmerlicher Waschlappen, als daß irgendein Nutzen, Genuß oder eine Genugtuung zu erhoffen sei, wenn man die wohlverdiente Ohrfeige auch noch so nachdrücklich verabreiche. (BA 7, S. 98–99)

Ansehen und Ehre sind die Voraussetzungen für gesellschaftliche Macht. Der „Goldene Pfau“ erweist sich hinsichtlich der Entscheidung über die Zugehörigkeit zum Bürgertum als äußerst einflussreich. Seine Mitglieder sind hinsichtlich ihres Ansehens in der Gesellschaft in der Position, die soziale Norm vorzugeben. Wer sich nicht ihren Regeln der Hierarchie und des gesellschaftlichen Statusgewinns unterordnet, beziehungsweise – wie Leonhard – ein auf individuellen Kriterien basiertes Leben anstrebt, wird die Zugehörigkeit zum Bürgertum aberkannt. Dass dies sogar Konsequenzen für die Familie hat, sieht man am Beispiel des Steuerinspektors Hagebucher. Sein Ansehen ist zusammen mit dem seines Sohnes gesunken und verstößt damit gegen die gesellschaftliche Norm, durch Prestigegewinn den gesellschaftlichen Status der Familie zu erhöhen. Als Resultat verliert der Steuerinspektor Hagebucher folglich nicht nur seine Stellung innerhalb des Herrenklubs, sondern auch seinen Einfluss und schließlich sogar

|| 153 Günther Matschke: Isolation, S. 52. 154 BA 7, S. 101. 155 BA 7, S. 95. 156 BA 7, S. 98. 157 BA 7, S. 98.

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seine Mitgliedschaft selbst. Dies kann symbolisch für die Ausgrenzungspraktiken der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber denjenigen, die ihrer homogenen Lebensweise widersprechen, gewertet werden. Dass sich Leonhards Vater in der Auffassung gegenüber seinem Sohn nur dem „Druck der Philisterwelt“158 beugt, muss jedoch verneint werden. Der Steuerinspektor Hagebucher tritt nämlich vor allem nicht als Vater, sondern in seiner Rolle als Teil der bürgerlichen Gesellschaft auf. So vertritt er genau jene Ansprüche gegenüber dem Sohn, die er im „Goldenen Pfau“ am eigenen Leibe erfahren muss. Seine Enttäuschung gegenüber Leonhard ist nämlich ähnlich groß, wie die seiner Mitbürger, hatte er doch ebenfalls die Hoffnung, sein Sohn würde seine Reputation steigern, indem er ein angesehenes und nützliches Mitglied der Gesellschaft wird. Dass dies vor allem im Sinn einer bürgerlichen Lebensweise und der Erfüllung bürgerlicher Werte gemeint ist, sieht man daran, dass Leonhards individuelle Qualitäten beispielsweise als Sohn dabei nicht berücksichtigt werden. Von ihm wird etwa die Möglichkeit zur Selbstständigkeit durch die Übernahme eines sozial angesehenen Berufes erwartet. Dazu zählen aber eben genau diejenigen Tätigkeiten nicht, welche Leonhard in der Ferne ausgeübt hat. So werden seine Hoffnungen auf eine Anstellung als „Hausknecht in einem der großen europäischen Hotels“159 mit dem Verweis, dass dies „für einen Nippenburger Honoratioren wenig Verlockendes gehabt“160 hätte, quittiert. Die Übernahme des Amtes als Ratsschreiber in Nippenburg hat er zudem dem Familienrat ausgeschlagen. Ein bürgerliches Leben ist Leonhard außerdem versagt, da er mittellos nach Hause gekommen ist: In der Kiste, welche dem armen Leonhard auf dem Schubkarren gen Bumsdorf nachgefahren worden war, befanden sich keine Säcke voll Diamanten und Perlen, keine Schachteln voll Goldstaub, sondern höchstens einige afrikanische Merkwürdigkeiten zum Andenken für die näheren Freunde und Verwandten. Herr Leonhard Hagebucher konnte aus dem Inhalt dieses Reisekastens keine Villa bauen und nicht nunmehr im Schatten seines Parkes, an seinem eigenen Herde und in der Gesellschaft eines liebenden Weibes aus den bessern Ständen seine Tage verbringen. (BA 7, S. 39)

Stattdessen wird Leonhard von der Gesellschaft für einen „Lumpen“161 erklärt und gibt damit den „innersten Anschauungen [des Steuerinspektors Hagebucher] recht“.162 Als der Vater auch noch seinen ihm Achtbarkeit und Status in || 158 Günther Matschke: Isolation, S. 53. 159 BA 7, S. 26. 160 BA 7, S. 26. 161 BA 7, S. 97. 162 BA 7, S. 42.

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der Gesellschaft einbringenden Platz im „Herrenklub“ verliert, wird für ihn der Sohn zu einem „Rechnungsfehler“163 – laut Dieter Arendt ein „philiströser Begriff par excellence“:164 Mein ganzes Leben bin ich ein solider und achtbarer Mann gewesen, und so hat man mich ästimiert; aber jetzt bin ich wie ein Kamel mit einem afrikanischen Affen drauf und kann mich nicht sehen lassen, ohne das ganze Pack mit Geschrei und Fingerdeuten und Gepfeife in den Gassen hinter mir zu haben. (BA 7, S. 101)

Der Steuerinspektor Hagebucher macht seinen Sohn dafür verantwortlich, dass er seinen eigenen Platz in der Gesellschaft verloren hat. In seiner Gestalt wird das Philiströse der bürgerlichen Gesellschaft kritisiert, da der Steuerinspektor Hagebucher „die Loyalität zur öffentlichen Ordnung und gesellschaftlichen Konvention [über] die Solidarität zu seinem Sohn“165 stellt. Das Philiströse, das Streben nach Austerität, Häuslichkeit und Ordnung,166 überschneidet sich dabei zwar teilweise mit bürgerlichen Werten, wird aber im Roman klar vom Bürgertum getrennt. Am Steuerinspektor Hagebucher wird die Mentalität der Bumsdorfer und Nippenburger Honoratioren mit ihrem Fokus auf Ehre und soziale Anerkennung kritisiert, die als inhuman ausgewiesen wird: Denn der Steuerinspektor legt sogar mehr Wert auf seine eigenen Eitelkeiten und persönliche Reputation als auf das Leben seines Sohnes, da ein für tot geglaubter, aber dafür von der Gesellschaft geachteter Leonhard ihm mehr Stolz und Ehren in Nippenburg eingebracht hat, als der tatsächlich lebend heimgekehrte Sohn. In der Nippenburger Gesellschaft hat nur „derjenige seinen Platz, der sich einordnet“,167 jeder andere „läuft Gefahr, […] den Bürgerbrief zu verlieren und abgedrängt, abgeschoben und verbannt zu werden“.168 So wird auch der „Rechnungsfehler“ Leonhard von seinem Vater aus dem Haus geworfen und ins gesellschaftliche Abseits gedrängt: „Ich lasse mir meine Rechnungen nicht verwirren“, schrie der Alte, „und einen Rechnungsfehler verachte ich, dulde ihn nicht und werfe ihn hinaus!“ (BA 7, S. 102)

Ansehen, Reputation und sozialer Status sind die Werte, die den philiströsen Honoratioren Bumsdorfs und Nippenburgs von Bedeutung sind. Sie bestimmen,

|| 163 BA 7, S. 101. 164 Dieter Arendt: Raabe und der „romantische Schlachtruf“, S. 69. 165 Margrit Bröhan: Die Darstellung der Frau, S. 142. 166 Vgl. hierzu Dieter Arendt: Brentanos Philister-Rede, S. 83–86. 167 Dieter Arendt: Raabe und der „romantische Schlachtruf“, S. 70. 168 Dieter Arendt: Raabe und der „romantische Schlachtruf“, S. 70.

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wer in der Gesellschaft einflussreich ist, die gesellschaftliche Ordnung und das bürgerliche Selbstverständnis. Humanität hingegen, wie sie etwa der Vetter Wassertreter auch noch innerhalb des „Goldenen Pfaus“ vertritt,169 erweist sich dabei als Einzelfall und auch nur als am Rande der Gesellschaft durchführbar: Da der Vetter Wassertreter schon an sich ein wenig angesehenes Mitglied des „Goldenen Pfaus“ ist, ist es ein umso stärkeres Zeichen für die Inhumanität und Rücksichtslosigkeit der Gesellschaft, dass Menschlichkeit eben nur von einer Randfigur ausgeht, die wenig gesellschaftliche Macht besitzt. Der „Goldene Pfau“ ist Sinnbild für die Inhumanität dieser Gesellschaft, in der das Individuum an sich keinen Platz hat, sofern es sich nicht in ihre strenge Hierarchie von Ansehen und sozialem Status einfindet.

2.2.2 „So bleibt die gewöhnliche Welt hübsch draußen“: Die adelige Gesellschaft der Residenz Die aufgezeigten Kritikpunkte des Romans gegenüber der bürgerlichen Philisterwelt Nippenburg und Bumsdorfs werden allerdings im Laufe des Romans abgeschwächt. Zwar greift Raabe tatsächlich „die engen geistigen Horizonte einer kleinen Provinz- und Residenzstadt“170 an, doch sind es – entgegen Stanley Radcliffes Meinung – vor allem die „Kriminalität und Intrigen gewisser Mitglieder der Aristokratie“,171 die kritisiert werden. So zeigt sich die bürgerliche Gesellschaft Bumsdorfs und Nippenburgs gerade hinsichtlich der adeligen Intrigen in der Residenz als erneuerbar und wird schließlich von Leonhard als das geringere Übel in seinem Kompromiss am Ende des Romans akzeptiert.172 Im Roman begegnet man zwei adeligen Kreisen – dem bürgernahen Landadel Bumsdorfs und dem militärisch geprägten Hochadel am Hofe der Residenz.173

|| 169 Der Vetter Wassertreter ist der einzige, der die Spötteleien gegenüber Leonhard im „Goldenen Pfau“ eindämmt und dem Steuerinspektor Hagebucher in dieser Sache einen, wenn auch wenig „gewürdigten Trost und Schirm“, (BA 7, S. 97) bietet. 170 Stanley Radcliffe: Der Sonderling, S. 47. 171 Stanley Radcliffe: Der Sonderling, S. 48. 172 Von einer Genesungsfähigkeit der bürgerlichen Gesellschaft spricht auch Hermann Helmers. Vgl. Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 96. 173 Immer wieder wird auf Nikolas militärische Erziehung verwiesen. Auch einige der Adeligen der Residenz haben militärische Ränge inne, wie beispielsweise Nikolas Vater, ein General, oder der Major Wildberg. Darüber, dass sich im 19. Jahrhundert der an die Städte gebundene Adel vor allem aus Militär- und Beamtenadel zusammensetzt, siehe auch Heinz Reif: Adel im

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2.2.2.1 Der Adel zwischen Erstarrung und Öffnung Der zur Nippenburger und Bumsdorfer Bevölkerung gehörige Landadel wird als positiver Kontrast zum Hochadel in der Residenz gezeichnet. Das „ländliche Wohlleben“174 steht im Kontrast zur Profitgier des Hochadels, der sich vor allem dadurch auszeichnet, seine Untertanen auszubeuten.175 Im Gegenzug dazu wird der Ritter von Bumsdorf geradezu ironisch als „der grausame Dynast des Ortes, der grimme, erbarmungslose Ausüber sämtlicher feudalen Rechte“176 beschrieben. Die Ausbeutung der nicht-adeligen Stände, die noch in der Residenz ausgeübt wird, wird hier jedoch sogleich in gastfreundliche Fürsorge gewendet.177 Das Bumsdorfer Rittergeschlecht steht auf diese Weise in engem Austausch und freundschaftlichem Kontakt mit den bürgerlichen Ständen. Auch Hugo von Bumsdorfs Schwärmen für die „schlaftrunkenen Philister[...]“178 und Leonhards Schwester Lina deutet die Annäherung des Landadels an das Bürgertum an.179 Der Adel der Residenz trennt sich hingegen bewusst von den niedrigeren Ständen ab:180 Ein sehr hübsches, eisernes Gitter mit vergoldeten Spitzen trennt, wie Sie vielleicht noch wissen, unsern Schloßplatz von der Hauptstraße der Stadt. Da es verboten ist, mit Paketen oder Körben am Arme, einer Zigarre im Munde, einem Kinde oder einem Hunde den geheiligten Bezirk zu durchwandeln, so bleibt die gewöhnliche Welt hübsch draußen. Wir betrachten und beobachten sie nur durch unser Gitter und achten uns viel zu hoch, um uns nicht bescheiden zu können […]. (BA 7, S. 36)

Die höfischen Adeligen behaupten für sich in feudaler Tradition den gesellschaftlichen und politischen Führungsanspruch über die niederen Stände. Die strenge Absonderung liegt aber auch im gesellschaftlichen Positionsverlust des Adels gegenüber dem Bürgertum im 19. Jahrhundert begründet,181 dem der Adel durch Verweigerung einer Anpassung an die wandelnde Gesellschaft und einer Verschärfung seiner Aufnahmepraktiken entgegenzuwirken versucht.182 || 19. Jahrhundert. Zweite um einen Nachtrag erweiterte Auflage. München: Oldenburg 2012, S. 32. 174 BA 7, S. 376. 175 Vgl. BA 7, S. 133. 176 BA 7, S. 376. 177 Der Ritter von Bumsdorf bewirtet beispielsweise immer wieder Leonhard und seine Freunde. Vgl. BA 7, S. 179–181, 377. 178 BA 7, S. 344. 179 Vgl. BA 7, S. 345. 180 Zum engen höfischen Kreis, siehe Heinz Reif: Adel im 19. Jahrhundert, S. 39. 181 Vgl. Heinz Reif: Adel im 19. Jahrhundert, S. 19. 182 Vgl. Heinz Reif: Adel im 19. Jahrhundert, S. 30.

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Dadurch wird allerdings letztendlich ein gesellschaftlicher Stillstand bewirkt.183 Der höfische Adel der Residenz ist laut Hermann Helmers zum „tragischen Dahinsiechen verurteilt, denn Möglichkeiten der Restauration oder Regeneration werden nicht gesehen“.184 Dies bestätigt auch Nikola in ihrem Brief an Emma, wenn sie von der Langeweile und dem immer gleichen Ablauf in der Residenz spricht.185 Im Allgemeinen zeichnet sich das Leben des Adels in der Residenz durch einen strengen, militärischen Verhaltenskodex aus. Dieser wird vor allem durch Hugo von Bumsdorf, den Sohn des Ritters von Bumsdorf, kritisiert. Hugo macht im Laufe des Romans angesichts der Umstände in der Residenz eine positive Entwicklung durch. Als „verruchteste[r] aller Sünder“186 in seiner Verwandtschaft fällt er während seiner Zeit beim Militär in der Residenz vor allem durch Schulden negativ auf.187 Diese Lebensweise scheint für ihn allerdings nur ein Mittel zur Erleichterung des strengen Militärlebens zu sein.188 Gegenüber Leonhard zeigt er sich des verschwenderischen Lebens in der Residenz zudem überdrüssig: O schweigen Sie still, mein Bester, wenn dieser mein arkadischer Erzeuger wüßte, wie sehr jeder Tag, jede Stunde mir hier Moral predigte, er würde sicherlich seine Ethik für sich behalten und Ihnen etwas Reelleres, etwas Verwendbareres für den arg geplagten, den sehr gedrückten und geknickten Sprößling seiner Lenden mitgegeben haben. […] Ich verlebte so glückliche Stunden in der Fliederlaube an der Landstraße […]. Ja, das war ein Leben, welches sich loben läßt, da brauchte man sich freilich nicht den Code moral vor die Nase rücken zu lassen, und ich sage Ihnen, Hagebucher, es ist doch kein Mensch mehr für die rationelle Landwirtschaft gemacht als ich […]. Überdrüssig?! Dies Wort reicht meinen Gefühlen nicht bis an den Nabel. Überdrüssig! Keine Naturgeschichte hat je tiefer über einen neuen Namen für eine neue Insektenart nachgedacht als ich über einen neuen Ausdruck für meine jetzigen Zustände. (BA 7, S. 276–277)

Hugo von Bumsdorf erlebt das Leben in der Residenz als bedrückend und unfrei. Die Verhaltensregeln des Militärs sind ebenso einschränkend wie die militärische Erziehung seiner hochadeligen Cousine Nikola von Einstein. Hugos Militärkritik ist gerade in Bezug auf Nikola eng mit der Kritik am strengen Verhaltenskodex des Hochadels verbunden: || 183 Vgl. hierzu Heinz Reif: Adel im 19. Jahrhundert, S. 37. 184 Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 96. 185 Vgl. BA 7, S. 35 186 BA 7, S. 281. 187 Vgl. BA 7, S. 199–200. 188 Vgl. hierzu BA 7, S. 283: „Sie kann ihr Elend nicht an den Rekruten oder am Spieltisch ausfluchen oder ausgeben wie ich.“

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Sie steht immer da, Gewehr bei Fuß, und hat sich vom Kommando Grobheiten und Anzüglichkeiten vortragen zu lassen. Und das Kommando, dann die alten Weiber, der Hof und zuletzt die Witterung mit all ihren veränderlichen Niederschlägen, die kennen kein Erbarmen, und es wäre ein Wunder, wenn sie zuletzt nicht die Oberhand über den stolzen schönen Mut meiner Kusine Nikola gewönnen. (BA 7, S. 283)

Nikolas Leben, wie das Leben Hugos beim Militär, beschränkt sich auf die Einhaltung der vorgegebenen Regeln, die auf strenge Weise bestimmen, was erlaubt ist und was nicht.189 Zu bemerken ist, dass die Pflichten und Regeln von der adeligen Gesellschaft – dem „Kommando“ – im Ganzen vorgegeben werden und dadurch einen großen Teil der Persönlichkeit vergesellschaftlichter Mitglieder einnehmen. Die adeligen Verhaltensnormen sind zudem eng mit der Struktur des adeligen Standes verbunden. Das primäre Interesse des höfischen Adels ist die politische, gesellschaftliche und kulturelle Machterhaltung. Er wird in dieser jedoch vom Bürgertum bedroht.190 Der Versuch der Statussicherung durch den Adel stützt sich auf die Bewahrung der strengen Organisation und Hierarchie des adeligen Lebens inklusive der Absonderung von den niederen Ständen. Das aus dem Aufbau des adeligen Standes resultierende enge Verhaltenskorsett mit dem Ziel „eigene Formen des Denkens, Wahrnehmens, Verhaltens und Handelns“191 zu bewahren, betrifft das Leben jedes einzelnen und spiegelt die Starrheit innerhalb dieses Standes wider. Ohne eine Öffnung – wie es der Bumsdorfer Adel vorlebt – ist aber kein Fortschritt möglich. Das zeigt sich auch am Major Wildberg, der zwar eine durchaus positive Figur ist – in seinem Haus hat man „die volle Erlaubnis zu sagen, wie es ihm ums Herz sei“192 – aber vor allem durch seine Bejahung und Ermahnung zur Einhaltung einer gesellschaftlich konformen Lebensweise auffällt.193 Dann, wenn es um Nikolas Rettung geht, wird ihm zudem – im Gegensatz zu Hugo – nur eine passive Rolle anvertraut: Ihre Botschaft ist in guten Händen, Hagebucher. Ich werde übrigens dafür sorgen, dem Tollkopf den nötigen Urlaub nachträglich zu verschaffen; aber was kann ich weiter tun?

|| 189 Vgl. beispielsweise BA 7, S. 287: „[E]s ist in der Tat eine trübselige Historie, aber wer ist befugt, da einzugreifen, und welch ein Nutzen könnte dadurch geschaffen werden.“ 190 Vgl. Heinz Reif: Adel im 19. Jahrhundert, S. 32, 36–37. 191 Heinz Reif: Adel im 19. Jahrhundert, S. 32. Dies wird auch in Abu Telfan aufgegriffen, wenn Nikola erwähnt, dass der Hof sich neueren Ansichten der „Herrn Herder, Wieland, Goethe und Schiller“ verweigere. Vgl. BA 7, S. 34. 192 BA 7, S. 286. 193 Vgl. beispielsweise BA 7, S. 154–155, 161–162.

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Ich fühle mich so nutzlos und möchte doch auch meinesteils gern in diesen ernsten Augenblicken handelnd eingreifen. (BA 7, S. 339)

Die Möglichkeiten des Majors zur Hilfe beschränken sich auf die feudalen militärischen Regeln seines Standes. Die Erneuerung und die Zukunft der Gesellschaft liegen allerdings in den Händen des Bürgertums und derer, die sich wie das Bumsdorfer Rittergeschlecht durch eine Öffnung ihm annähern. Der höfische Adel der Residenz wird dagegen in seinem Aufbau und die dadurch bedingte, streng einheitliche Lebensweise als zu starr gesehen, als dass er noch Einfluss auf den gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Fortschritt bzw. Wandel haben könnte. 2.2.2.2 Moralische Kritik an der gesellschaftlichen Führungsschicht Die Kritik am höfischen Adel der Residenz wird zudem durch die Episode um den Baron von Glimmern und den Leutnant Kind verschärft. Der Leutnant Kind ist die Figur, durch die die im Roman Abu Telfan enthaltene Gesellschaftskritik am meisten zur Geltung kommt. Wurde durch den Leutnant Hugo jedoch noch der militärische Aufbau und die strengen Verhaltensnormen des Hochadels kritisiert, beanstandet Kind vor allem seine moralische Verderbtheit. Kind, der aus der kleinbürgerlichen Gesellschaftsschicht stammt, hat durch eine Intrige Friedrichs von Glimmern, des späteren Ehemanns von Nikola von Einstein, seine Familie und seine Ehre verloren.194 Das Unrecht, das dem Leutnant Kind durch Glimmern geschehen ist, basiert auf den Klassenunterschieden zwischen dem Kleinbürgertum und der gesellschaftlichen Führungsschicht. Glimmern nutzt seine höhere Stellung in der Gesellschaft zu seinem eigenen Vorteil aus: Seine Intrigen dienen der eigenen Machtsteigerung. Der Aufbau des höfischen Adels und dessen Streben nach gesellschaftlicher Statussicherung begünstigt zudem die Korruption innerhalb der eigenen Reihen – kann der Baron von Glimmern immerhin jahrelang ohne Folgen für seine Taten in die höchsten adeligen Kreise aufsteigen: Der Herr Baron begannen ihre Karriere im hiesigen Leibbataillon als Fähnrich und avancierten baldigst zum Leutnant; in dieser Stellung hatten sie die Ehre, das Vertrauen Seiner Hoheit des Prinzen Reinald in hohem Grade zu gewinnen, und Seine Hoheit waren ein großer Liebling ihres Herrn Onkels, des Höchstseligen regierenden Herrn; also haben die beiden jungen Leute sich das Leben am hiesigen Ort recht angenehm gemacht, es ist eine lustige Zeit gewesen und viel Geld in den eigenen Taschen und noch mehr Geld in den Taschen anderer Leute; das rollte und klang an allen Ecken und Enden, und wer etwas da-

|| 194 Vgl. BA 7, S. 208–213.

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gegen zu sagen hatte, der tat am besten, wenn er sich mit einem Achselzucken begnügte; denn es haben sich einige nicht geringe Herrschaften in jenen fidelen Tagen die Finger böse verbrannt; aber davon bekommt selbst unsereins nicht die letzte Wahrheit heraus, weil zu viele sind, denen dran liegt, daß ein recht hübscher dichter Schleier drübergeworfen werde […]. (BA 7, S. 149–150)

Der Baron von Glimmern sucht die Nähe zum Hof und der polizeilichen Staatsgewalt, um seine illegalen Geldgeschäfte zu decken. Er verkörpert die Korruption und Machtgier innerhalb des höfischen Adels, welche durch die adeligen Gesellschaftsstrukturen unterstützt werden. Dem politisch-militärischen Hochadel ist nämlich der Erhalt seines Standes wichtiger als beispielsweise rechtliche Aspekte wie die Einhaltung von Gesetzen durch ihre Mitglieder oder allgemeine Gerechtigkeit. Der Leutnant Kind, der machtlos das Opfer einer von Glimmerns Intrigen wird, sinnt forthin auf Rache. Er will dessen korrupte Machenschaften am Hofe aufdecken.195 Der stets auf Pflicht und Ehre bedachte Kind196 zielt dabei auf nichts anderes als eine gesellschaftliche Veränderung der machtausübenden Stände ab. Er möchte die gesellschaftlichen Missstände im Adel bloßstellen und bedient sich dabei des rechtlichen Wegs – mit seinen Anschuldigungen erhofft er, eine Festnahme Glimmerns und damit die Auflösung eben jener korrupten Strukturen zu bewirken, die die adelige Gesellschaft auszeichnen.197 Seine Rolle ist dabei beschränkt auf die des rationalen Anklägers, der sich gegen die Unmoralität der Führungsschicht erhebt: Wie er da steht und wartet, wie er im rechten Moment zuschlagen wird ohne Zaudern und jegliche Rührung! Er begrub seine Kinder und geduldete sich, mach liebes, langes Jahr bewies er große Geduld; doch nun wird er zupacken – mit beiden Händen, ohne Erbarmen. (BA 7, S. 218–219)

Kind hat sich „in die Isolation äußerster Bitterkeit zurückgezogen“,198 sein rationaler Gerechtigkeitswunsch schlägt allerdings im Laufe des Romans in Hass

|| 195 Diese Machtlosigkeit der kleineren Stände sieht man auch an den massiven Auswirkungen der früheren Intrige Glimmerns an den Fehleysens, die in deren gesellschaftlichen Existenzverlust mündet. Während Klaudine und Viktor Fehleysen nicht mehr in der Gesellschaft aufzufinden sind, ist „der Herr von Glimmern […] noch vorhanden“. BA 7, S. 150. 196 Vgl. BA 7, S. 211. 197 In diesem Zusammenhang steht auch, dass der Leutnant Kind immer wieder mit rechtlichen Begriffen wie „Beweise“, „Richteramt“ etc. in Verbindung gebracht wird. Auch die Tatsache, dass er seine öffentliche Anklage auf dem Ball des Polizeidirektors Betzendorff macht, spricht für Kinds Erwartung einer gesetzlichen Bestrafung. Vgl. BA 7, S. 222, 224, 322–324. 198 Günther Matschke: Isolation, S. 63.

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und äußerste Aggression um. „[K]alt und rücksichtslos“199 bereitet er seinen „Krieg“200 gegen die herrschende Gesellschaftsschicht vor und handelt dabei selbst äußerst inhuman, da er die erbarmungslose Vernichtung Unschuldiger, wie etwa Nikola, hinnimmt. Selbst dann, als seine eigentliche Rolle in seinem „Krieg“ – die Machenschaften Glimmerns aufzudecken – erfüllt ist, kennt seine Aggression kein Halten mehr: Bringt er seine persönlich motivierte Anklage noch rational und ruhig vor,201 verfällt er anschließend in einen geradezu nihilistischen Wahn, der sich in seiner grenzenlosen Aggression gegen die gesamte höher gestellte Gesellschaftsschicht zeigt: Sei es denn, ihr feinen Leute mit der zarten Haut und den zärtlichen Gefühlen. Ich gehe allein und fordere allein meinen Gewinn von den andern. Aber ich verlange den vollen Einsatz, Blut um Blut, Leben um Leben. Die Karten liegen auf dem Tische, aber sie haben alle falschgespielt, wie der Herr Friedrich von Glimmern, und wollen auch nicht zahlen. Es ist ihre Art so, und sie vermeinen, sie können es treiben, wie sie wollen, weil sie das Regiment führen im Mäusenest und dünken sich groß, weil sie vier Quadratmeilen zum besten haben. (BA 7, S. 327)

Die Wut des Leutnants Kind auf die Gesellschaft basiert auf der Unmoralität der Führungsschicht, welche in ihrem feudalistischen System erstarrt ist und sich vor allem durch Korruption und Ungerechtigkeit auszeichnet. Denn seine Position erlaubt es Glimmern sogar einem Prozess zu entkommen – er wird wegen seiner Nähe zu vielen hochrangigen Vertretern des Systems nicht für seine Verbrechen verfolgt.202 Seine Flucht aus dem Land ermöglicht es dem Adel anschließend zudem, den Vorfall als Skandal abzutun, da die näheren Beteiligten aus seinem Sichtfeld verschwinden.203 Kinds Weg der gesellschaftlichen Revolution durch rechtliche Konsequenzen ist damit gescheitert. Die mächtigen Stände entziehen sich nicht nur dem Gesetz, sondern auch den sozialen Auswirkungen, welche höchstens unschuldige und gesellschaftlich machtlose Opfer, wie Nikola, treffen. Auf diese Weise wird das Fortleben des Korruption begünstigenden

|| 199 BA 7, S. 272. 200 Vgl. BA 7, S. 326: „Hoho, das ist der Krieg, auf welchen ich mein ganzes langes Leben wartete […]. Krieg! Krieg! So ist es recht und so soll es sein.“ 201 Vgl. BA 7, S. 323: „[U]nd der Leutnant hatte sich, wie gesagt, an uns gewendet und sprach leise, wie jemand, der gar kein Aufsehen zu machen wünscht.“ 202 Beispielsweise müsste der Polizeidirektor Betzendorff aufgrund seiner Freundschaft zu Glimmern selbst um seinen Ruf fürchten, wodurch eine Nichtverfolgung Glimmerns gerechtfertigt wird. Vgl. BA 7, S. 322. 203 Wie schon die Fehleysens bei Glimmerns früherer Intrige, entzieht sich jetzt auch Nikola im Anschluss dem gesellschaftlichen Leben.

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Systems der adeligen Führungsschicht sichergestellt, da die Geschehnisse keine Veränderung herbeizwingen. Kind stellt mit seiner bitteren Anklage die gesamte gesellschaftliche Führungsschicht infrage und „[be]wertet den feudalistischen Adelsstand als auflösungsbedürftig“.204 Wie bereits der Leutnant Hugo von Bumsdorf zeigt, ist der Adel in seinen Strukturen zu sehr erstarrt, um gesellschaftlichen Fortschritt zu bewirken. Mit Kinds scharfer moralischer Kritik wird diese Erkenntnis nur bestärkt, da sich der Adel in seinen Werten, die sich nur noch auf die eigene Machterhaltung beschränken, als verdorben erweist. Dass diese Unmoral sogar durch die feudalen Gesellschaftsstrukturen begünstigt wird, ist nur ein weiterer Grund für die Nichterneuerbarkeit der adeligen Führungsschicht.

2.3 Die Suche nach sinnhafter Individualität innerhalb gesellschaftlicher Grenzen Leonhard erfährt kurz nach seiner Rückkehr in die Heimat, dass seine in der afrikanischen Gefangenschaft geprägten Vorstellungen von dieser nicht der Wirklichkeit entsprechen. Gleichzeitig muss er erkennen, dass er die an ihn gestellten Anforderungen der heimischen Gesellschaft nicht erfüllt. Für die Gesellschaft ist er zum Fremden geworden und als Folge wird er von ihr ausgestoßen. Diese Erfahrung führt dazu, dass die Heimat selbst für ihn zur Fremde wird. Sinnbild dieser Entfremdung ist, dass Leonhard sich immer noch „[d]aheim im Tumurkielande“205 fühlt. Afrika wird dabei zum Symbol für Leonhards Fremdheit und seine „Unfähigkeit, den heimatlichen Lebensanforderungen zu genügen“.206 Aus dieser Distanz des Fremden nimmt er die gesellschaftlichen Begebenheiten wahr und spiegelt sie an seinen Erfahrungen in der afrikanischen Fremde. Dies ermöglicht ihm die Kritik an der eigenen Kulturposition, die im Folgenden Schritt für Schritt nachgezeichnet wird, wobei vor allem auf Leonhards Verhältnis zur Gesellschaft eingegangen werden soll.

|| 204 Günther Matschke: Isolation, S. 64. 205 BA 7, S. 63. 206 Michel Kokora: Die Ferne in der Nähe, S. 58.

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2.3.1 Äußerliche Anpassung und innere Fremdheit Nach Leonhards Ausschluss aus der Gesellschaft, der im Rauswurf aus dem Haus seines Vaters deutlich wird, kommt er zunächst beim Vetter Wassertreter unter. Leonhard ist ratlos, was er mit seinem Dasein in der Zivilisation anfangen soll, hat er doch „nichts, gar nichts heimgebracht aus der Fremde“:207 Wenn ich nicht sehr irre, so habe ich sogar das Schreiben verlernt, und was ich dafür in der Fremde vielleicht gelernt habe, nämlich allerlei Anfechtungen mit Geduld zu ertragen, das honoriert sich selber, wird aber von keinem Gemeinwesen mit einem Jahresgehalt […] bezahlt. […] wer länger als zehn Jahre mit den Fingern in die Schüssel greifen mußte, der wird sich nur allmählich wieder an den Gebrauch von Messer und Gabel gewöhnen, und wenn man ihm dazu nicht Zeit lassen kann, so wird ihm der beste Bissen im Halse steckenbleiben, und er muß jämmerlich daran erwürgen. Wenn ich wüßte, was noch aus mir werden kann, so würde ich es auf der Stelle sagen; aber ich weiß es nicht – (BA 7, S. 45– 46)

Die Erwartung der bürgerlichen Gesellschaft, sich augenblicklich an die herrschenden Gegebenheiten anzupassen, wird von Leonhard als äußerst beengend empfunden. Die in der afrikanischen Gefangenschaft erlebte Unterdrückung wird dabei direkt auf die heimatliche Spießbürgergesellschaft übertragen: Schon vor seinem Aufenthalt in Afrika hat Leonhard sich nicht mit der bürgerlichen Gesellschaft identifiziert.208 Wieder zurück erlebt er die gleiche Unfreiheit wieder, welche ihn überhaupt zum Fortgehen gebracht hat: „[W]ie die Baggaraneger blieben ihm die süßen Heimatsgefühle auf den Fersen, und er konnte ihnen nicht entwischen“.209 So kommt Leonhard zur Einsicht, dass sich seine Erwartungen nicht mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit decken und distanziert sich vor ihr: Er lachte der Barbar […] und ohne auf die Gefühle der Tante Schnödler Rücksicht zu nehmen, gratulierte er sich selber zu der soeben zum Durchbruch gekommenen wohltätigen Krisis, und leider hatte er allen zarteren Regungen des Menschenherzens zum Trotz recht. In diesem Lachen hatte er für seine künftige Existenz tausendmal mehr gewonnen, als ihm ganze Säcke voll Seufzer […] einbringen konnten. Er hatte jetzt wenigstens in einer Beziehung die Überzeugung errungen, daß er während seines Siebenschläferschlafes im Mondgebirge nicht viel daheim versäumt habe und daß somit alles gebrochene, mutlose

|| 207 BA 7, S. 90. 208 Vgl. BA 7, S. 51–52. 209 BA 7, S. 51.

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Fortdämmern und melancholische Hinbrüten über solchen imaginären Verlust recht überflüssig und töricht sei. (BA 7, S. 52)210

Christof Hamann zieht Vergleiche zwischen dem an dieser Stelle unter dem „deutsche[n] Mond“211 erklingenden Lachen und dem Mondgebirge. Dabei verweist er auf die „Mondschwärmerei deutscher Lyriker […], bei der der Mond mit Empfindsamkeit und Innerlichkeit einerseits, mit dem Lob an die bestehende Ordnung andererseits einhergeht“.212 Raabe setzt dem eine „Mondgebirgspoesie“ entgegen: Während die liebliche Mondpoesie die eigene Kultur bestätigt oder sich ins Innere zurückzieht, steht mit der Mondgebirgspoesie die Subversion des Eigenen zur Disposition. Das wilde Lachen ist der Anfang einer anderen Form des Sprechens, die Hagebucher ermöglicht wird durch seine Wanderung zum Mondgebirge; dieses Lachen wird sich […] zu einer satirischen Abrechnung mit der deutschen Gesellschaft steigern. Daher muss das Mondgebirge auf keiner Landkarte gesucht werden; es handelt sich bei ihm um keinen realen, um keinen geographischen Ort, sondern um einen imaginären, jenseits des Eigenen sich befindlichen, barbarischen Schreib-Raum, der es erlaubt, die Heimat anders unter die Lupe zu nehmen.213

In diesem Lachen liegt Leonhards Eingeständnis seiner eigenen Fremdheit und setzt zugleich die deutsche mit der afrikanischen Kulturform gleich.214 Das Mondgebirge und der Mondschein reflektieren dabei einerseits das Verständnis von eigener Kultur und der „Stigmatisierung des Anderen als barbarisch“,215 andererseits die Verschiebung der Dimensionen von „Fremde“ und „Eigenen“ im Roman. Leonhard, der „Barbar“, hat Schwierigkeiten diese Begriffe einzuordnen, da sich die deutsche Wirklichkeit nicht von den Erfahrungen in Abu Telfan unterscheidet. Hierbei wird aber die eigene Kultur nicht gegenüber der Fremde ausgespielt: Afrika ist nicht der Ort, dem man „persönlichkeitsbildendes, humanitätsförderndes oder auch nur kritisches Potenzial

|| 210 Einen frühen Versuch, das Motiv des Lachens bei Raabe zu deuten, hat Else Hoppe unternommen. Vgl. hierzu: Else Hoppe: Vom tödlichen Lachen im Werk Wilhelm Raabes. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1 (1960), S. 21–59 und Else Hoppe: Raabes eigener Weg zum Lachen. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 3 (1962), S. 47–65. 211 BA 7, S. 52. 212 Christof Hamann: Schwarze Gesichter, S. 64. 213 Christof Hamann: Schwarze Gesichter, S. 66. 214 Günther Matschke deutet dieses Lachen ebenfalls als Desillusion und nennt es den „ersten Schritt in die Unabhängigkeit von der bestehenden und dem Familienrat vertretenen Gesellschaftsordnung“. Günther Matschke: Isolation, S. 55. 215 Christof Hamann: Schwarze Gesichter, S. 69.

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zu[…]schreiben“216 kann. Nur dadurch, dass die „barbarischen“ Erfahrungen in der Fremde einen Vergleichspunkt mit dem Bürgertum, in das er zurückkehrt, bieten,217 wird „die Wirklichkeit seiner Zeit als defizient[...]“218 gekennzeichnet. Das Fremde, das Leonhard verkörpert, geht dabei „alle die Bestimmungen ein, die in der zur fremden gewordenen eigenen Kultur nicht mehr zu finden sind“.219 Wurde er in Abu Telfan als Sklave seines Werts als Mensch entledigt, wird er auch hier nur nach seinem Wert für die Gesellschaft bewertet: Die Degradierung zur Handelsware, die Leonhard noch in seiner Befreiung durch Kornelius van der Mook erfährt, spiegelt sich in der Aussage seines Vaters als „Rechnungsfehler“ wider. Wie auch beim Vetter Wassertreter prangert Leonhard die fehlende Humanität in der bürgerlichen Gesellschaft an. Allen voran zeigt sich dies in seiner Kritik an der gesellschaftlichen „Unterdrückung des Einzelnen und Andersdenkenden, im Aufopfern all dessen, was sich nicht als funktionstüchtig erweist“,220 wie er es durch den Rauswurf aus dem Haus seines Vaters am eigenen Leib erfährt. Durch diese Distanzierung wird Leonhards kritische Einstellung zur bürgerlichen Gesellschaft verschärft: Der Rauswurf durch seinen Vater begründet seine endgültige Außenseiterposition. Günther Matschke meint, aus dieser kritischen Isolation erwachse eine Aggression Leonhards gegen die Gesellschaft.221 Als Beispiel hierfür führt er Leonhards Verhältnis zu seinem Vater an, dessen behaglichen Lebensabend er gleichgültig zerstöre, indem der Vater wehrlos in Leonhards Konflikt mit der bürgerlichen Gesellschaft gezogen werde.222 Dazu muss allerdings bemerkt werden, dass, obgleich Leonhard zweifelsohne durch seine „Widerstandsfähigkeit und Freiheitssehnsucht […] sowohl die Selbstbeschränkung als auch die Selbstgefälligkeit [des] Bürgertums herausfordert“,223 dies im Grunde eher passiv als aggressiv geschieht. Einen Aufstand gegen die || 216 Peter J. Brenner: Die Einheit der Welt, S. 47. 217 Brenner verweist hierbei auch auf den Menschen, der zum Gegenstand eines Geschäfts geworden ist, als die „Sprache, die in Europa wie im Tumurkielande gleichermaßen gut verstanden wird“. Peter J. Brenner: Die Einheit der Welt, S. 49. 218 Peter J. Brenner: Die Einheit der Welt, S. 56. 219 Peter J. Brenner: Die Einheit der Welt, S. 56. 220 Elias Onwuatudo Dunu: Entwürfe einer humanen Entwicklung in Wilhelm Raabes Stuttgarter Romanen. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 33 (1992), S. 98. 221 Von Aggression spricht auch Renate Heuer. Sie reduziert allerdings Leonhards Absichten bezüglich dieser Aggression allein auf die „Veränderung des Gesellschaftszustandes“. Dabei ignoriert sie allerdings Leonhards ständiges Bemühen um gesellschaftliche Akzeptanz. Vgl. Renate Heuer: Individualität, S. 66–67. 222 Vgl. Günther Matschke: Isolation, S. 55–56. 223 Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 55.

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bürgerliche Gesellschaft hält er für sinnlos: „Alles Schlagen mit Händen und Füßen versenkt mich nur immer tiefer in den Morast“.224 An den persönlichen Kränkungen, die seinen Vater, den Steuerinspektor Hagebucher, im „Goldenen Pfau“ treffen und die in Leonhards Rauswurf enden, hat er keine Schuld, zumal sich der Vater klar auf der Seite des heimischen Spießbürgertums positioniert.225 Leonhards Isolation äußert sich zunächst in einer Identitätskrise und nicht in einer aggressiven Einstellung gegenüber der Gesellschaft. Wilhelm Oberdieck vergleicht Leonhards Erfahrungen in Afrika mit einem „Trauma, verursacht durch die Erfahrung der totalen Absurdität des Lebens ohne Hoffnung auf einen Ausweg“.226 Tatsächlich erlebt Leonhard während seiner Gefangenschaft existenziell Bedrängendes: Die Vernichtung seines Status als Person durch die Reduktion zu einem „Handelsartikel mit variierendem Werte“227 sowie die erlittenen physischen Grausamkeiten228 haben auch seine Identifizierung als solche infrage gestellt. Auch seine Rettung durch Kornelius van der Mook kann diese nicht wiederherstellen. Mook ist in Afrika, um „junge Löwen, Affen und andere merkwürdige Bestien zum Vertrieb an die europäischen Menagerien einzuhandeln“.229 Als Sklave ist Leonhard „der Kategorie seiner Handelsartikel so ziemlich anheimgefallen“230 und wird deshalb von Mook „billig und wahrscheinlich nur in einer augenblicklichen Laune“231 gekauft. Auch hier bleibt Leonhard nur eine Ware – Mook kauft ihn zwar frei, der Mensch Leonhard ist ihm dabei aber völlig egal. Im Gegenteil: [W]ährend seines Aufenthalts zu Abu Telfan waren ihm die Gefühle und Stimmungen der Madam Kulla Gulla wichtiger als die meinigen. Er hatte Geschäfte mit meinen früheren Gebietern zu machen und ließ sich in denselben nicht stören. (BA 7, S. 89)

Als Sklave hat Leonhard keine Rechte, was zugleich eine „absolute Verneinung aller bürgerlichen Wertvorstellungen“232 beinhaltet. Sein Status als Person wird

|| 224 BA 7, S. 62–63. 225 Vgl. BA 7, S. 97: „[U]nd das schlimmste war, daß er ganz und gar auf der Seite der […] Spötter stand und alles, was man ihm in betreff des Sohnes zusammenkochte und -braute, selber im eigenen Busen wütend durcheinanderquirlte.“ 226 Wilhelm Oberdieck: Wilhelm Raabes Begegnung mit dem Absurden. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 9 (1968), S. 97–98. 227 BA 7, S. 28. 228 Vgl. BA 7, S. 27–29. 229 BA 7, S. 29. 230 BA 7, S. 29. 231 BA 7, S. 29. 232 Christian Müller: Subjektkonstituierung, S. 103.

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ihm aberkannt. Damit ist ihm auch jegliche gesellschaftliche Teilnahme verschlossen. Er ist Objekt und nicht Subjekt. In Abu Telfan ist Leonhard also unfrei, weil er keine Person für die dortige Gesellschaft ist. Da Afrika nach seiner Heimkehr als Spiegel für die heimischen Verhältnisse fungiert, kann dieser Zusammenhang direkt auf die bürgerliche Gesellschaft übertragen werden: Hier ist Leonhard im Gegensatz zur äußerlichen Unfreiheit als Sklave in Afrika nun innerlich unfrei. Die Gefangenschaft wird also nach innen, ins Individuum übertragen. Die gesellschaftlichen Bestrebungen zur Anpassung des Einzelnen an die Bedingungen des Bürgertums bedeuten eine innere Unfreiheit für das Individuum. Diese Homogenisierung der Individuen durch die bürgerliche Gesellschaft wird mit der Entmenschlichung Leonhards zur Ware gleichgesetzt. Mook rettet Leonhard tatsächlich nicht vor Gefangenschaft – dies wird nochmals in der Enthüllung Mooks als Viktor Fehleysen, der selbst innerlich unfrei ist,233 akzentuiert. Daher ist es auch nur folgerichtig, dass Leonhard nach seiner Rückkehr nicht zur Gesellschaft gehört – dies ist allein deshalb schon unmöglich, da sich die heimische Gesellschaft in ihren Strukturen als identisch zur afrikanischen Gefangenschaft erweist. War er dort als Sklave und Ware ausgeschlossen, muss er in einer ähnlichen Gesellschaft genauso exkludiert sein. Die von der Gesellschaft ausgehende Einengung des Individuums, die mit der afrikanischen Gefangenschaft verglichen wird, äußert sich also in deren Anforderungen, sich an herrschende Normen und Konventionen anzupassen. Leonhards Ziel ist es hingegen, seine innere Freiheit gegenüber der Gesellschaft zu bewahren. Dies bedeutet für ihn unabhängig von diesen Normen und Konventionen zu denken und zu handeln und seine eigenen Werte zu vertreten.234 Aus diesem Grund geht er zunächst auf Distanz zur Gesellschaft, da er nicht weiß, was er innerhalb der Gesellschaft „mit einem Dasein gleich dem [s]einigen anzufangen habe“.235 So zieht er sich erst einmal beim Vetter Wassertreter zurück: „So! Das ist gradsogut, als ob du zum zweitenmal das Mondgebirge zwischen dich und das süße Vaterland geschoben hättest!“ hatte der Vetter Wassertreter, den Riegel seiner Türe vorschiebend, zu dem Afrikaner gesprochen, und es war in der Tat so. Zum zweiten Male befand sich Leonhard Hagebucher auf dem besten Wege, um zu einem Mythos für Nippenburg und Bumsdorf zu werden: […] nicht viele konnten sagen, was aus ihm geworden war. (BA 7, S. 115)

|| 233 Viktor Fehleysen sieht sich selbst „daheim im Tumurkielande“. Damit wird er mit Leonhard in dessen Fremdheit gleichgestellt. Vgl. BA 7, S. 207. 234 Vgl. Wilhelm Oberdieck: Wilhelm Raabes Begegnung mit dem Absurden, S. 99. 235 BA 7, S. 74.

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Leonhards erneute Isolation ist deshalb notwendig, da das Individuum zu unangepasst ist, um bürgerlich zu sein, andererseits ist es, wie es Gabriele Varo ausdrückt, noch nicht so weit, „sich dem Kampf mit der Gesellschaft [zu] stellen“.236 Dieser Kampf mit der Gesellschaft bezieht sich letztendlich auf die Behauptung der eigenen inneren Freiheit. Derartig von der Welt zurückgezogen, gilt Leonhard zunächst Frau Klaudine in der Katzenmühle als Vorbild und Ratgeberin. Hier lernt er die Geduld, die es braucht, „um nicht mitten im alten Europa das Tumurkieland recht sehr zu vermissen“.237 Gleichzeitig versucht er, unter der Anleitung des Vetters Wassertreter, nach seiner langen Abwesenheit von der europäischen Welt, „wieder Anschluß […] an das Wissen seiner Zeit“238 zu finden. Ein „Kursus allermodernster Weltweisheit“239 bringt ihm die politischen und literarischen Ereignisse während seines Aufenthalts in Afrika näher.240 Hier fügt sich Leonhard aber nicht bloß „[n]ach halbherzigem Widerstand [der] Erwartung“ 241 nach Anpassung. Im Gegenteil: Er erfährt gerade durch Klaudines und des Vetters Hilfe eine Stärkung seiner Bestrebungen seine innere Freiheit zu bewahren. Durch sein Studium bekommt er ein grundlegendes Verständnis seiner Zeitgeschichte, was allerdings als „unermeßliche[r] Nutzen“242 ironisch gebrochen wird. Leonhard verschiebt den „Kampf“ um seine Selbstbewahrung243 und beginnt, sich äußerlich anzupassen. Das „europäische Abc-Buch“244 führt ihn an die, durch seine afrikanische Gefangenschaft verpasste und verlernte Zivilisation heran: Diese letzten Sommertage waren, nicht ohne eine merkliche Veränderung hervorzubringen, an dem Afrikaner vorübergegangen. Die Klausur und die moralische und physische Diät, welche er unter dem Regime des Vetters Wassertreter einzuhalten hatte, schienen bis jetzt trefflich bei ihm anzuschlagen und von großem zivilisatorischen Einfluß auf ihn zu sein. (BA 7, S. 122)

|| 236 Gabriele Varo: Feindlichkeit, S. 43. 237 BA 7, S. 73. 238 Walter Hirsch: Das Drama des Bewusstseins, S. 90. 239 BA 7, S. 125. 240 Hermann Helmers verweist darauf, dass Leonhard erst den Anschluss an seine Zeit nachholen muss, um Zeitgenosse zu werden. Vgl. Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 30. 241 Elias Onwuatudo Dunu: Entwürfe einer humanen Entwicklung, S. 98. 242 BA 7, S. 125. Die ironische Deutung zeigt sich später in Leonhards Rede vor dem Major Wildberg. Vgl. BA 7, S. 156–158. 243 Vgl. hierzu Gabriele Varo: Feindlichkeit, S. 69–72. 244 BA 7, S. 125.

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Leonhard wird unter dem Einfluss dieses „Häutungsprozeß[es]“245 „europäischer“. Seine Bildung hat ihn den europäischen Sitten und dem Habitus des Bürgertums nähergebracht. Das sieht man besonders ein Jahr nach seiner Heimkehr, wenn er in der Residenzstadt eine Arbeit bei Professor Reihenschlager, einem alten Studienfreund des Vetters Wassertreter, annimmt. Hier hat er sich vor allem äußerlich der bürgerlichen Norm angepasst: Herr Leonhard Hagebucher trug nicht mehr einen Turban oder Fes, sondern einen sehr schönen, schwarzen, glänzenden Zylinderhut; er trug einen glänzenden schwarzen Frack, eine schwarze Sammetweste und schwarze Beinkleider […]. (BA 7, S. 136–137)

Diese äußerliche Abstimmung wird jedoch sogleich gebrochen, hat Leonhard doch noch „viel von dem [Affen] in den Augen“.246 Er trägt das europäische Gewand wie eine Verkleidung „mit einer wilden Munterkeit, einer Ironie“.247 Innerlich bleibt er fremd: Obwohl er sich äußerlich anpasst, kann er sich immer noch nicht mit den gesellschaftlichen Werten identifizieren. Im Gegenteil: Seine Exklusion hat ihn innerlich in seiner Distanzierung von der Gesellschaft bestärkt. Sein in der Isolation erlerntes Wissen um die vergangenen Ereignisse hat es ihm ermöglicht, diese kritisch zu beurteilen, was ihn noch gesellschaftskritischer gemacht hat.248 Das verstärkt allerdings auch seinen Widerstand gegen die Gesellschaft: Hat er sich direkt nach seiner Rückkehr in die Heimat noch vor den Anfeindungen der Gesellschaft weggeduckt,249 geht er nun „niemandem mehr aus Verlegenheit, sondern höchstens nur aus Höflichkeit aus dem Wege“.250 Jetzt, wo er sich „Sein und Wesen und den Begriff der Welt klar[gemacht]“251 hat und „auf der Höhe seiner Zeit“252 ist, reagiert Leonhard auf seine Isolation mit Aggression. Diese entsteht allerdings nicht aus seiner gesellschaftlichen Außenseiterposition und etwaigen, damit verbundenen Schmähungen, sondern aus seiner gesellschaftskritischen Distanzierung. Die Erkennt-

|| 245 BA 7, S. 122. 246 BA 7, S. 137. 247 BA 7, S. 137. 248 Vgl. BA 7, S. 137: „Er sah jetzt jeglicher Art seiner Landsleute scharf ins Gesicht, und wenn die frühere Blödigkeit bei Gelegenheit in ihr Gegenteil umschlug, so hatte sich keiner darüber zu wundern.“ 249 Vgl. BA 7, S. 50–51: „In dem Augenblicke, in welchem die Tante Schnödler und mit ihr sämtliche Verwandtschaft rauschend und entrüstet emporfuhr, hatte er sich geduckt, war hinter dem Rücken der Lieben an der Wand dahingeschlichen.“ 250 BA 7, S. 137. 251 BA 7, S. 156. 252 BA 7, S. 158.

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nisse, die er in seiner Isolation gewonnen hat, haben ihn dabei noch mehr von der Gesellschaft entfernt. Leonhard ist der Gesellschaft gegenüber kritisch eingestellt, seine Aggression äußert sich in „Wust und Ekel“.253 Jegliche offene Aggression überwindet er allerdings auf Anraten der Madam Klaudine und des Vetters Wassertreter weiterhin vor allem durch Geduld.254 Leonhards äußerliche Anpassung an die europäische Kleidungsnorm und die Fähigkeit, sein politisches, philosophisches und literarisches Wissen anzuwenden, bedeuten, dass er in der Residenzstadt ein den gesellschaftlichen Normen entsprechendes Verhalten zeigt, dies macht ihn aber noch lange nicht zum Mitglied der Gesellschaft. Vielmehr ist es das Interesse an seinen exotischen Erfahrungen, die ihn in den adligen Kreisen willkommen heißt.255 Sozusagen als gezähmter „Wilder“ wird hier sein Wille zur Zivilisierung gewürdigt. Die Neugierde, die dem „Afrikaner“ in der Residenzstadt entgegenschlägt, ist dabei nur der Reiz des Fremdartigen, der immer mit der abwertenden Einstellung der sich überlegen fühlenden Kulturform einhergeht. Denn um von der Gesellschaft als Zugehöriger anerkannt zu werden, braucht es zudem eine gesellschaftliche Lebensführung, etwa einen bürgerlichen Beruf, der es ermöglicht, selbstständig zu leben. Als bloßer Gehilfe des Professors Reihenschlager und Verkehrer in den niederen und exotischen Kreisen – nämlich als Mitbewohner Täubrichs im Türkenviertel256 – ist das allerdings unmöglich. Die mangelnde Anpassungsfähigkeit des Individuums liegt aber auch in seinem Inneren: So hat sich Leonhards Identitätskrise noch verschärft. Er muss erfahren, dass ihn das Wissen seiner Zeit nur noch mehr verwirrt. Er weiß nun „mehr über [die Gegenwart] als [die], die […] in der Zeit leb[t]en“,257 kann sich selbst aber nicht in ihr einordnen. Nikola fasst seine Krise folgendermaßen zusammen: Armer Freund, Sie stehen da, wo Sie mich fanden, als Sie aus der Wüste heimkehrten. Sie wollen Ihr zerstörtes Leben durch wilde Ironie zusammenfassen und zusammenhalten und glauben sich in dem Lachen retten zu können, mit welchem Sie sich in alle Gegensätze stürzen. (BA 7, S. 159)

Leonhards Existenz ist immer noch ein „zerstörtes Leben“, wie es Nikola treffend ausdrückt. Dirk Göttsche weist darauf hin, dass Leonhards Konflikt zwi-

|| 253 BA 7, S. 156. 254 Vgl. BA 7, S. 157–158. 255 Beispielsweise steht Leonhard in der Residenzstadt mit Major Wildberg, Emmas Ehemann, in engem Kontakt. Vgl. BA 7, S. 138. 256 Vgl. BA 7, S. 140. 257 BA 7, S. 159.

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schen „gesellschaftlichem Erfolgswillen und Freiheitsanspruch“258 durch seine Bemühungen um zivilisatorisches Wissen nicht gelöst wurde. Sein anfängliches Streben, Zivilisation zu erlernen, weicht einer Verzweiflung, die sich in der Rede von seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen manifestiert: „Es ist keine Kleinigkeit, inmitten der Errungenschaften eurer Zivilisation auf dem Rücken zu liegen und eure Taten und Siege nachzulesen“.259 Leonhard gehört als Fremder nicht zu dieser Zivilisation, in der er lebt und so weiß er weniger als zuvor, welche Stellung er in der Gesellschaft einnehmen kann. Vorerst kann er sich nur mit dem wissenschaftlichen Studium begnügen: „[D]ie Konsequenzen sollen [s]einen jetzigen Schritten erst folgen“.260

2.3.2 Möglichkeit einer öffentlich gelebten Individualität Madam Klaudines Rat auf Leonhards Frage, was er mit seinem Dasein anfangen solle, ist, seine Erlebnisse in Afrika „dem Volke zu zeigen und zu deuten“.261 Der Grund für diesen Rat ist, dass Leonhard so seine Entfremdung von der Heimat überwinden und zudem aus seinen in Afrika gemachten Erfahrungen und erlernten Fähigkeiten eine bürgerlich anerkannte Tätigkeit machen kann. Deshalb setzt Leonhard diesen Vorschlag von Madam Klaudine in der Residenzstadt in die Tat um und hält eine Vorlesung „über das innere Afrika und das Verhältnis des europäischen Menschen zu demselben“.262 Diese Vorlesung ist der vom Erzähler erklärte Mittelpunkt des Romans, da Leonhard „seine schöne Seele aufknöpft und mit dem besten Willen sein Erbauliches und Beschauliches der Residenz preisgibt“.263 Sie ist zugleich aber auch eine Prüfung für Leonhard, da die Vorlesung – nach dem Familienrat – die erneute Beurteilung Leonhards durch die Gesellschaft bedeutet. Seine Seele, mit anderen Worten seine Individualität, wird der Gesellschaft der Residenz öffentlich präsentiert und von dieser anschließend hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit bewertet. Leonhard will so „den Grundstein zu einer […] selbstständigen bürgerlichen Existenz“264 legen, aber eben unter Einbezug seiner individuellen Freiheit. Er kämpft nicht bloß um

|| 258 Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 67. 259 BA 7, S. 156. 260 BA 7, S. 160. 261 BA 7, S. 77. 262 BA 7, S. 174–175. 263 BA 7, S. 184. 264 Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 66.

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seine soziale Stellung, sondern will sich vor allem selbst behaupten.265 Die Vorlesung kann also als Versuch Leonhards gewertet werden, innerhalb der Gesellschaft und mit deren Anerkennung seine Individualität öffentlich zu leben. Dirk Göttsche bezeichnet dies als Leonhards „Projekt der Selbstbehauptung durch gesellschaftlichen Erfolg“.266 Die Erwartungen der Gesellschaft bezüglich Leonhards Vorlesung gestalten sich aber grundlegend anders: In der Residenzstadt eines nicht näher benannten Großherzogtums267 begegnet Leonhard nicht, wie in Bumsdorf und Nippenburg, den Vertretern des ländlichen Bürgertums, sondern der gehobenen Bürgerlichkeit und der Hofgesellschaft.268 Die Gefahr eines Scheiterns, wie es Leonhard schon im Familienrat widerfahren ist, ist hier noch einmal größer.269 Als afrikanischer „Fremdling“ ist sein Status in der Gesellschaft, welche für sich den Anspruch auf Überlegenheit gegenüber der primitiven Fremdkultur erhebt, ohnehin schon niedrig genug. Durch seinen öffentlichen Auftritt, läuft er zudem Gefahr, seine Fremdheit sichtbar zu machen und sich direkt mit der gesellschaftlichen Kulturposition zu messen, da so der Vergleich zwischen Eigenem und Fremden öffentlich thematisiert wird. Der Vortrag stellt somit eine Herausforderung für die Stabilität der Gesellschaft dar, da er diese nicht nur in ihrer Homogenität – Leonhard verkörpert immerhin fremde Eigenschaften und darf öffentlich zur Gesellschaft sprechen –, sondern auch in ihrer Allgemeingültigkeit fragwürdig macht. Dies meint auch Täubrich, wenn er sagt, es sei „für einen armen Teufel in [s]einer Stellung nicht ungefährlich“,270 seine Meinung über höher gestellte Personen zu äußern. Man rechnet, wie es der Major Wildberg Leonhard verrät, mit „afrikanischen Indiskretionen“.271 Die Warnungen des Majors, „sich in seinen Ausdrücken, Scherzen und Gleichnissen“272 zurückzuhalten und sich „stets an das Herz als an die Vernunft der Leute zu wenden“,273 || 265 Vgl. Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 15. 266 Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 68. 267 Wolfram Siemann versucht dieses allerdings auf das Großherzogtum Sachsen-Weimar zu lokalisieren. Vgl. Wolfram Siemann: Bilder der Polizei, S. 93. 268 Vgl. BA 7, S. 129. 269 So ist es auch nicht erstaunlich, dass die endgültige Bewertung von Leonhards Vorlesung in beiden Kreisen unterschiedlich ausfällt. Während Leonhard nach seiner Vorlesung für die Gesellschaft der Residenz mehr denn je ein Außenseiter ist, bedeutet es einen Erfolg für die Bumsdorfer und Nippenburger Gesellschaft und bietet ihm die Chance zur Wiedereingliederung. Vgl. BA 7, S. 243. 270 BA 7, S. 148. 271 BA 7, S. 182. 272 BA 7, S. 182. 273 BA 7, S. 182.

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enthält die Befürchtungen der Gesellschaft, die einen Verstoß gegen gesellschaftliche Regeln wittert. Ein gemäß diesen Regeln konformer Vortrag würde hingegen die Anerkennung und Einhaltung der kulturellen Vormachtstellung der für überlegen geglaubten europäischen Zivilisation durch Leonhard bedeuten. Leonhard wird deshalb von seinen Freunden darum gebeten, sich an die Konventionen und nicht zuletzt an die Gesetze zu halten.274 Die Gesellschaft und besonders die Repräsentanten der Staatsgewalt, vertreten durch den Polizeidirektor von Betzendorff, erwarten bereits eine gegen sie gerichtete Kritik, die sich in Leonhards Vortrag letztendlich auch wiederfindet. Die Gefahr einer Gesellschaftskritik durch Leonhards öffentliche Vorlesung wird schon im Vorfeld als Bedrohung für die Sicherheit der gesellschaftlichen Ordnung gewertet.275 So gibt es etwa auch Bemühungen, die Veranstaltung zu verbieten.276 Die Sorgen der Gesellschaft in der Residenz werden, allen Warnungen zum Trotz, durch Leonhards Vortrag erfüllt. Welche Regeln Leonhard aber genau bricht, wird genauso ausgespart, wie der tatsächliche Inhalt der Vorlesung. Daraus kann geschlossen werden, dass es hier um eine Kritik allgemeinerer Art geht. Man erfährt nur, dass Leonhard, obwohl er sehr zum Wohlwollen der anwesenden Zuhörer und der Obrigkeit bescheiden beginnt,277 im Laufe seines Vortrags die heimischen philisterhaften Verhältnisse seiner Gefangenschaft in Abu Telfan gegenüber stellt: Er machte in der Tat Vergleichungen, und zwar solche, welche nur einen ungewöhnlich verworfenen deutschen Staatsbürger und Untertan angenehm berühren konnten. Er erlaubte sich, von den Verhältnissen des Tumurkielandes wie von denen der eigenen süßen Heimat zu reden und Politik und Religion, Staats- und bürgerliche Gesetzgebung, Gerechtigkeitspflege, Abgaben, Handel und Wandel, Überlieferungen und Dogmen, Unwissenheit und Vorurteile auf eine Art und Weise in seinem Vortrage zu verarbeiten, daß man als ein staunender Horcher durchaus nichts Erstaunliches drin gefunden hätte, wenn Seine Höchstselige bronzene Hoheit, der Großfürst […] in den Saal gerückt wäre, um […] der Schande Allergnädigst ein Ende zu machen und den verruchten Spötter Allerhöchst eigenhändigst beim Ohr zu nehmen und abzuführen. (BA 7, S. 186–187)

Leonhard nutzt seine Vorlesung für eine öffentliche Gesellschaftskritik. Er vergleicht speziell seine Erfahrungen mit gesellschaftlicher Unterdrückung und

|| 274 Die politische Zensur der Zeit wird hier besonders aufgegriffen. Vgl. hierzu Wolfram Siemann: Bilder der Polizei, S. 93–94 und Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 11. 275 Vgl. Günther Matschke: Isolation, S. 61. 276 Vgl. BA 7, S. 182. 277 Damit stellt er sich, entsprechend den Vorstellungen der Gesellschaft, klar in seiner so wahrgenommenen niedrigeren Stellung als „Afrikaner“ gegenüber den höheren Kreisen dar.

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Unfreiheit im unzivilisierten Afrika mit den Verhältnissen in der Heimat. Er macht die eigene Kulturform beliebig, indem er sie mit der Fremdkultur austauschbar erscheinen lässt. Der Vergleich zwischen Eigenem und Fremden beunruhigt somit das gesellschaftliche Selbstverständnis, da die eigene Lebensform nicht fest, bedeutend und überlegen ist, sondern eben selbst barbarisch. Nach Uwe Paßmann wird das Fremde insbesondere dann zum Problem, wenn es selbst eine „ausdifferenzierte soziokulturelle Lebensweise oder als eine Kultur, die ihre eigenen Gesetze hat, erfahren wird“.278 Die Erkenntnis, dass Eigenes und Fremdes austauschbar – ja sogar bisweilen identisch – sei, relativiert die eigene Kulturposition. Die moralischen Bewertungskriterien, die die Gesellschaft für ihre eigene Überlegenheit gegenüber der Fremdkultur verwendet, werden durch Leonhards Vorlesung somit auf die eigene Kultur gespiegelt. Deren „Anspruch auf Höherentwicklung und moralisch-kulturellen Fortschritt […] wird mit der tatsächlich praktizierten Moral konfrontiert“279 und verliert somit ihre Legitimation. Leonhards Vortrag stellt also die Selbstverständlichkeit der Gesellschaft an sich infrage. Um zu funktionieren, ist es für diese jedoch wichtig, dass ihre einheitliche Lebensform ihre Gültigkeit behält. Dies erreicht sie einerseits durch gemeinsame, strukturbildende Normen und Werte, andererseits durch die Stiftung einer gesellschaftlichen Identität, etwa über die positive Abgrenzung gegenüber jeglicher Andersartigkeit. Indem Leonhard hingegen die Gleichheit der eigenen und fremden Kulturform andeutet, macht er die Gesellschaft auf ihre vertraute und für selbstverständlich empfundene Lebensform aufmerksam280 und zeigt zudem, dass das Eigene in sich selbst barbarisch ist. Für Günther Matschke ist diese öffentliche Kritik ein Zeichen von Leonhards „Aggression“ gegen die Gesellschaft.281 Leonhard (und auch der Erzähler) empfindet seine Ausführungen gegen die Gesellschaft als wahr. Seine Distanzierung von der Gesellschaft hat in ihm eine durchaus kritisch-oppositionelle Haltung ihr gegenüber geweckt und seine Ausführungen enthalten „die tiefe Bitterkeit“,282 die sich seit seiner Rückkehr in die europäische Welt in ihm aufgetan hat. Dennoch ist Leonhards Kritik nicht bewusst offensiv gegen die Gesellschaft gerichtet, zumal sie nicht von vornherein geplant ist.283 Zudem geht Leonhard

|| 278 Uwe Paßmann: Orte fern, S. 51. 279 Winfried Weißhaupt: Europa sieht sich mit fremden Blick (Bd. 1), S. 288. 280 Vgl. Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“, S. 407. 281 Vgl. Günther Matschke: Isolation, S. 61–62. 282 BA 7, S. 188. 283 Vgl. BA 7, S. 188: „Professor Reihenschlager rieb sich ein Mal über das andere die Stirne und murmelte: ‚Wo hat er denn sein Konzept‘.“

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davon aus, dass seine Vergleiche von seiner Zuhörerschaft positiv aufgefasst werden: Nie war eine polizeiliche Erlaubnis in Gegenwart eines verehrungswürdigen Adels und gebildeten Publikums schmählicher mißbraucht worden; und der Gipfel der Abscheulichkeit war, daß der Sünder nicht einmal ahnte, wie schlecht er sei und wie mangelhaft er sich aufführe, sondern der festen Überzeugung sich hingab, er mache jedermann ein unendliches Vergnügen und es befinde sich niemand im Saal, der nicht fühle, hier werde der Wahrheit die angenehmste Form und die höchste Politur gegeben. (BA 7, S. 187)

Durch seine Angleichung zwischen Fremden und Eigenen und die vermeintliche Zustimmung des Publikums glaubt Leonhard seine eigene Entfremdung von der Gesellschaft überwunden zu haben. Tatsächlich hält er seine Vorlesung aus der Position des Fremden heraus, der seine Erkenntnisse über die Wertunterschiede der eigenen und fremden Kulturform reflektiert. Schon vor der Vorlesung muss Leonhard zugeben, dass ihm „das Individuum […] mehr als je ein Rätsel“284 sei. Bei all der Theorie über die Fortschritte der Gesellschaft, die er sich in seiner Isolation beim Vetter Wassertreter angeeignet hat, fehlt ihm das Verständnis für gesellschaftliche Normen. Er ist immer noch ein Fremder, orientierungslos gegenüber den Regelungen und Gesetzmäßigkeiten der Gesellschaft, und zeigt sich in Bezug auf diese vollkommen naiv. So liest er etwa in dem „immer süßer, süßer“285 werdenden Lächeln des Polizeidirektors nicht das, wovor er von Major Wildberg gewarnt wurde, sondern ein grundlegendes Verständnis für seine Ausführungen. Es scheint ihm, als ob eine positive Bewertung seiner Individualität durch die Gesellschaft und damit seine Inklusion geglückt sei – die Vorlesung wird diesbezüglich als Erfolg gewertet. Während er also in seinem Vortrag die Unterschiede zwischen Eigenem und Fremdem – und damit zwischen ihm und der Gesellschaft – einander annähert,286 bestätigt er dadurch eigentlich nur seine eigene Fremdheit. Leonhard exkludiert sich selbst: Er schiebt während seines Vortrags „die Felsen des Tumurkielandes glücklich zwischen sich und die Zivilisation“.287 Da Afrika aber für seine Fremdheit steht, bedeutet dies nur die weitere Entfernung und somit die Entfremdung von der Gesellschaft.

|| 284 BA 7, S. 167. 285 BA 7, S. 187. 286 Vgl. BA 7, S. 186: „In diesem Stadium seiner Rede fühlte sich der Redner so eins mit seiner Zuhörerschaft, daß es eine wahre Freude war.“ 287 BA 7, S. 186.

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Die Reaktion der Gesellschaft auf die Vorlesung zeigt sich dagegen ambivalent: Ein Teil der Gesellschaft, vordergründig die Vertreter der Führungsschicht, sehen den Vortrag als Provokation, insbesondere deswegen, weil der zeitgenössische Afrikadiskurs nicht von der Angleichung, sondern von der positiven Abhebung von den afrikanischen Verhältnissen geprägt ist. Leonhard, der „Barbar“, derjenige, der der Heimat erst seine eigene Kultivierung beweisen muss, zeigt, dass die europäische Kultur mit der afrikanischen Barbarei identisch ist. Damit verstößt er gegen die gesellschaftlichen Verhaltenskonventionen, da er nicht gemäß seinem Status in der Gesellschaft handelt. Die bürgerliche Gesellschaft und ganz besonders die Hofgesellschaft der Residenz stützen sich auf ihren inneren hierarchischen Aufbau und darauf basierende Verhaltensregeln. Darin findet sich die Legitimation zur gesellschaftlichen Macht, die vor allem bei höherrangigen Mitgliedern der Gesellschaft liegt. Leonhard missachtet seinen Status als exkludierter „Barbar“, der in den gesellschaftlichen Kreisen zu wenig angesehen ist, um gesellschaftliche Macht auszuüben, indem er seine Vorlesung wider Erwarten nicht zur Unterhaltung der Zuhörer,288 sondern zur Kritik nutzt. Damit stellt sich Leonhard über die gesellschaftlichen Vertreter, denn die These, das innere Afrika und die heimatliche Gesellschaft seien vergleichbar, stellt die Abgrenzung der Gesellschaft von den als weniger zivilisiert verstandenen gesellschaftlichen Ordnungen infrage. Darin liegen der Eklat und Leonhards Vergehen gegen gesellschaftliche Konventionen. Dies bedeutet für die Gesellschaft eine Bedrohung ihres Selbstverständnisses, da er insbesondere als exkludiertes, in den gesellschaftlichen Rängen weit unten stehendes Individuum die Hierarchie und Machtausübung in der gesellschaftlichen Ordnung herausfordert. So ist es kein Wunder, dass sich die Vertreter der Gesellschaft im Roman wundern, „daß ‚so etwas‘ von den betreffenden Behörden gestattet werden könne“.289 Sein Verstoß gegen diese Konventionen ist aber nicht allein der Grund, weshalb weitere Vorträge durch Leonhard verboten werden. So verstößt Leonhard auch gegen die rechtliche Seite der Gesellschaft – verkörpert durch den Polizeidirektor von Betzendorff. Was Leonhard nämlich vorwiegend in seinem Vergleich kritisiert, ist die Unfreiheit durch die „politische[...] Anpassung, der sich das Bürgertum im Nachmärz unterworfen hat“.290 Die Erfahrungen, die

|| 288 Raabe spielt hier mit den Erwartungen des Publikums, die durch den populären, zeitgenössischen Afrikadiskurs beeinflusst einen unterhaltsamen Reisebericht erwarten. Vgl. Daniela Gretz: Das „innere Afrika“, S. 212–213. 289 BA 7, S. 188. 290 Dirk Göttsche: Der koloniale „Zusammenhang der Dinge“, S. 60.

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Leonhard besonders hinsichtlich seiner Freiheit in der Fremde wie in der Heimat gemacht hat, sind miteinander vergleichbar. Mit dieser Kritik zielt Leonhard vor allem auf die politischen Verhältnisse ab und bedroht damit die Stabilität der Gesellschaft. Dies sieht man auch an den Reaktionen eines Teils der Zuhörer: Es rüttelte etwas an diesen wohldressierten Beamten- und Bankiersseelen und wies hinaus über den Polizeidiener an der Tür des Saales und den Polizeidirektor in der ersten Sitzreihe der Zuhörer. Hier hatte sich jemand durch viel Dreck und Blut, durch sehr unsolide und ungeordnete Verhältnisse unter Türken, Mohren und Heiden aller Schattierungen wacker durchgeschlagen und brachte aus der grimmigsten Sklaverei, der heillosesten Erniedrigung einen solchen Hauch der Freiheit in diese so rationell geordnete Gewöhnlichkeit mit, daß das philisterhafteste Selbstgefühl darob mit bangem Ekel und Überdruß und bei den edleren Naturen mit einem dunklen Schmerz in Widerstreit geriet. (BA 7, S. 189)

Leonhard kommt aus der schlimmsten Unterdrückung – Verhältnisse, die denen der Heimat aber nicht ganz unähnlich sind – und hat trotz allem seine Freiheit bewahrt. Dadurch, dass er Afrika mit der Heimat vergleicht, prangert er in seiner Rede die Unterdrückung des Einzelnen durch die im Politischen wie im Sozialen erstarrte Gesellschaft an. Seine Geschichte wird beispielhaft für die Überwindung der herrschenden Unfreiheit. Göttsche verweist auf die Frage, nämlich wie die „Freiheit sich angesichts der gegebenen politischgesellschaftlichen Verhältnisse und der philiströsen Erstarrung bürgerlichen Denkens individuell und sozial Raum schaffen kann“.291 Dies lässt sich auch am Vetter Wassertreter beobachten, der in seiner Jugend in seinen revolutionären Ideen enttäuscht wurde und diese Unterdrückung am eigenen Leib erfahren hat. Er begrüßt Leonhards Ausführungen mit den Worten: Recht so, recht so, mein Sohn! […] Herunter mit dem Immergrün unserer Gefühle von dem alten Gemäuer! Nieder mit dem Efeu! Zeige dem Pack, wie das Ding ohne grüne Behängsel aussieht! (BA 7, S. 189)

Gerade der Teil der Gesellschaft, der vom Erzähler immer wieder für seinen Untertanengeist kritisiert wird, wird für einen Augenblick von Leonhard aus ihren erstarrten Verhältnissen wachgerüttelt. Leonhard „erinnert seine Zuhörer an die Verlustseite ihrer Existenz“,292 denn der Sicherheit der gesellschaftlichen

|| 291 Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 60. 292 Christian Müller: Subjektkonstituierung, S. 107.

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Ordnung wird die individuelle Freiheit geopfert.293 Diese folgen seinen Worten mit Behagen und „stets steigender Spannung“.294 So zeigen insbesondere deren Gedanken, „daß es mit dem Wohlbehagen an und in einer engen, wenn auch noch so reinlich und schmuck gehaltenen Umgebung doch nicht völlig getan sei“,295 den politischen Bezug der Kritik Leonhards. Auf der anderen Seite wird sein Vortrag von der Führungsschicht, der es um politische und gesellschaftliche Machterhaltung geht, als bedrohlich empfunden. Leonhard schadet nämlich ihrem Interesse an der Erhaltung der erstarrten Formen der politischen und gesellschaftlichen Ordnung:296 Die Reaktionen der Untertanen rechtfertigen „alle späteren Vorsichtsmaßregeln durch ihr Gebaren auf das glänzendste“.297 Sie denken nämlich daran, „bei der nächsten Begegnung mit dem Vorgesetzten diesen zuerst grüßen zu lassen“.298 Durch die in diesem Zitat enthaltene Ironie des Erzählers wird die Angst der Führungsschicht vor gesellschaftlicher Destabilisierung und politischem Machtverlust lächerlich gemacht. Im darauf folgenden polizeilichen Verbot kritisiert Raabe noch einmal „die Bevormundung des Menschen durch den Staat und die von diesem eingerichtete polizeiliche Willkür“.299 Der Polizeidirektor Betzendorff bereitet der Vorlesung ein Ende, weil sie dem Wohlergehen des Publikums schade.300 Leonhards Aufruf zur Freiheit wird als destabilisierender Akt empfunden, der aus politischen Machterhaltungsgründen beendet werden muss. Dass diese vom Erzähler ironisch dargestellt werden, akzentuiert noch einmal die Kritik des Romans an der Führungsschicht. Leonhards Hoffnungen, seine Entfremdung zu überwinden, sind gescheitert. In der Gunst der höheren Kreise der Residenz ist er gesunken und es gibt „keinen zweiten Menschen, der so tief in der Achtung und Neigung der dirigierenden Kreise steht“.301 Daran sieht man die gesellschaftliche Macht der Führungsschicht. Leonhards Prüfung vor dieser endet nicht nur im Verbot seiner Vorlesung – und damit Ende seiner Bestrebungen auf diese Weise eine bürgerliche Tätigkeit auszuüben –, sondern auch in der sozialen Ächtung der Residenzstadt.

|| 293 Vgl. Christian Müller: Subjektkonstituierung, S. 107. 294 BA 7, S. 188. 295 BA 7, S. 189. 296 Vgl. hierzu Heinz Reif: Adel im 19. Jahrhundert, S. 32, 36–37. 297 BA 7, S. 188. 298 BA 7, S. 189. 299 Vgl. Günther Matschke: Isolation, S. 63. 300 BA 7, S. 201–202. 301 BA 7, S. 200.

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2.3.3 Individualität im Privaten Die Erlebnisse rund um Leonhards Vorlesung bewirken, dass er sich danach sehnt, sich zur Ruhe zu setzen. Leonhard ist innerlich zwischen seinem Freiheitsanspruch und seinem gesellschaftlichen Zugehörigkeitswunsch hin- und hergerissen. Aus einem „Ermüdungszustand“302 heraus, der sich aus diesem „fieberhaften Suchen nach dem Rechten“303 entwickelt, wünscht er sich ein philisterhaftes Leben, was sich in seinem Traum „von einem warmen Schlafrocke, einem Paar wunderschöner weicher Pantoffeln, einer langen Pfeife und einer singenden Teemaschine“304 äußert. Leonhard nimmt zunehmend bürgerliche Werte an. So zeigt er sich unzufrieden mit seiner Stellung in der Gesellschaft, was sich in seinem Unbehagen gegenüber seiner Unterkunft in der Residenz zeigt: Er blickte ergrimmt in dem Gemach umher. Der Schneider hatte ein Feuer im Ofen angezündet und die brennende Lampe auf den Tisch gestellt – zum erstenmal seit seiner Erlösung aus den Lehmhütten von Abu Telfan achtete Leonhard Hagebucher auf die schmutzigen Wände, die niedrige Decke seines jetzigen Aufenthaltsortes und verzog den Mund darob. Er fühlte sich alt, durchgefröstelt, mißlaunig und voll Verlangen nach Licht, Ruhe und Reinlichkeit. (BA 7, S. 272)

Er beginnt, sich mit den bürgerlichen Werten der Ordnung und Behaglichkeit zu identifizieren. Dies zeigt sich auch darin, dass er – ganz wie sein Vater – Rechnungen aufstellt, „um den Gewinn und Verlust der letzten Wochen gleich einem ordentlichen Haushalter in die betreffenden Schiebladen seines Daseins zu verteilen“.305 All diese Werte, nach denen sich Leonhard plötzlich sehnt, werden von Serena, der verständigen Tochter des Professors Reihenschlager, verkörpert. Serena steht hier im Gegensatz zu Nikola. Beide Frauen repräsentieren einen wichtigen Teil von Leonhards Entwicklung und Individualität. Während Nikola für Leonhards Ideal seiner Werte Freiheit und Individualität steht,306 verkörpert Serena Leonhards Verlangen nach einer bürgerlichen Existenz. Dass Leonhard nun eine Heirat mit Serena, die ihm die ideale Möglichkeit bietet, ein bürgerliches Leben zu führen, ins Auge fasst, zeigt, dass er sich immer mehr an den bürgerlichen Werten orientiert. Hinzu kommt, dass Leonhard nach dem Tod

|| 302 Vgl. Margrit Bröhan: Die Darstellung der Frau, S. 143. 303 BA 7, S. 275. 304 BA 7, S. 276. 305 BA 7, S. 273. 306 Vgl. BA 7, S. 124.

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seines Vaters dessen Hausstand erbt und somit eine weitere Möglichkeit zur Selbstständigkeit und damit einem bürgerlichen Leben erhält. Dies erwirkt ihm auch die gesellschaftliche Anerkennung in Bumsdorf und Nippenburg: Übrigens erschien seit dem Tode von Hagebucher senior Hagebucher junior doch in einem viel günstigeren Lichte vor den Augen Nippenburgs, und es gab bereits viele Leute, welche anfingen, ihm den Ärger, die Unruhe und die Aufregung, die er durch sein unvermutetes Wiederauftreten auf der Bühne über das Gemeinwesen brachte, zu verzeihen, und schwache Versuche machten, ihn als einen, wenn auch „eigentümlichen“, so doch ganz respektablen Mann in der öffentlichen Meinung zu heben. (BA 7, S. 273)

Das alles ist Leonhard aber „grenzenlos gleichgültig“,307 sucht er doch nicht nur den Sprung in die Bürgerlichkeit: Bei Serena Reihenschlager findet Leonhard einerseits Ruhe und Behaglichkeit, in der er „seine eigentliche verwirrte Existenz vergessen“308 kann. Sie würden ein „stilles, solides Ehepaar darstellen“309 und es „ebenso gut haben […] wie andere Leute“.310 Leonhards Wunsch nach einem solchen bürgerlichen Leben leitet sich von seiner Suche nach einer sinnhaften Stellung innerhalb der Gesellschaft ab, welche mittlerweile von ihm als „vergebliche[s] Abquälen“311 eingestuft wird. Auf der anderen Seite würde ihm Serena, neben dieser ersehnten Ruhe abseits seiner Sinnsuche, auch privates Glück312 bieten. Sie gäbe ihm nämlich die Möglichkeit zur Bewahrung seiner Individualität, hat sie doch „in ihres Vaters Hause Gelegenheit genug gehabt, mit Narren umgehen zu lernen“.313 Ihr Vater, der Professor Reihenschlager, ist ein aus der Welt zurückgezogener Individualist, der sich ganz der Erforschung der koptischen Grammatik verschrieben hat. Sein Interesse für die fremde Sprache, sein Umgang mit den „Fremdlingen“ Leonhard und Täubrich Pascha sowie sein weltfremdes Wesen rücken ihn in den Zusammenhang mit den Fremden des Romans. Serena besorgt dem Professor Reihenschlager den Haushalt und sorgt dafür, dass das gesellschaftliche Leben nicht zu sehr unter seiner privaten Individualität leidet.314 Auch Leonhard hätte somit durch eine Heirat mit ihr die

|| 307 BA 7, S. 273. 308 BA 7, S. 272. 309 BA 7, S. 290. 310 BA 7, BA 7, S. 315. 311 BA 7, S. 275. 312 Zur Bedeutung und Definition von Glück in Raabes Romanen vgl. Alan Corkhill: Konstruktionen des Glücks bei Raabe. Exemplifiziert am Werk der mittleren Periode. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 52 (2011), S. 71–85. 313 BA 7, S. 290. 314 Vgl. BA 7, S. 163–166.

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Möglichkeit beides, private Individualität und bürgerliche Inklusion, zu vereinen, denn Serena vertritt die Meinung, Individualität solle man nur im Privaten ausleben. So legt sie nach Leonhards Vorlesung ihre Ansicht folgendermaßen dar: Summend und singend umschritt sie ihre Kaffeemaschine und behauptete, der Herr Polizeidirektor sei ein Mann ganz nach ihrem Herzen, der wisse, was sich schicke, und der Papa und der Herr Hagebucher sollten sich von Rechts wegen schönstens bei ihm bedanken, weil er so schnell solcher „Parade“ ein Ende gemacht habe. Fräulein Serena Reihenschlager ging so weit zu behaupten, daß es sich eigentlich für einen gescheiten und ordentlichen Mann gar nicht schicke, sich so öffentlich zum Narren zu machen. (BA 7, S. 202–203)

Leonhards Heiratspläne scheitern allerdings, da Serena sich bereits mit einem anderen verlobt hat. Das bürgerliche Idyll, das durch Serenas Stube aufgebaut wird,315 wird hier in Serenas Wünschen nach einem anderen Leben problematisiert:316 Saß und sitze ich etwa nicht tiefer in aller Mohrenwirtschaft wie jemals ein anderes Frauenzimmer auf Gottes weitem Erdboden? Hat jemals ein anderes Frauenzimmer auf Erden wohl mehr Langeweile und Überdruß ausstehen müssen als ich? […] Ach, Herr Jesus, bin ich nur darum in die Welt gesetzt, um erst Ordnung zu stiften und dann einen Ekel an dieser Ordnung zu bekommen? […] O Täubrich, Täubrich, da ist ein Zug, welcher bald nach Mitternacht abgeht und mich sehr häufig noch wach findet, der bringt mich noch einmal zur Verzweiflung oder zum Durchbrennen. (BA 7, S. 262–263)

Da Leonhards Faszination für Serena von deren behaglicher Ausstrahlung und seiner so geweckten Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung stammt, Serena dies aber ablehnt, stellt sich das Idyll ihrer Stube als trügerisch heraus. Und so kommt Leonhard auch zur Erkenntnis, dass es auf diese Weise kein bürgerliches Leben für ihn geben kann.317 Für einen kurzen Moment träumt er von Ruhe und Behaglichkeit in einem Philisterleben, hat dabei aber seinen „Bürgerbrief von Abu Telfan“318 vergessen. In dieser Entwicklung wird jegliches Streben nach der Überwindung seiner Fremdheit durch ein vollständig bürgerliches Leben als

|| 315 Vgl. BA 7, S. 258–259. 316 Vgl. Karin Kluger: Problematisierung der Idylle, S. 16–18, 67–68. 317 Einer Inklusion ins Bürgertum Bumsdorfs und Nippenburgs steht dennoch nichts im Wege, was sich am Ende des Romans zeigt. 318 BA 7, S. 315.

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„heillose Lüge“319 entlarvt und Leonhard kann nun seine Position als Fremder endgültig annehmen.

2.3.4 Gesellschaftlichkeit als Bedingung gelebter Individualität Noch vor dem offiziellen Verbot von Leonhards Vorlesung hat sich dieser bereits von seinen eigenen Erwartungen an seinen Vortrag distanziert. Deshalb beendet er den „Versuch, im Rekurs auf seine Afrikaerfahrung eine selbstständige bürgerliche Existenz aufzubauen“.320 Das unerwartete Auftauchen seines Befreiers, Kornelius van der Mook, gegen Ende seiner Vorlesung und die darauffolgende Auseinandersetzung mit dem Leutnant Kind, der die Intrige Friedrichs von Glimmern aufdecken will, bringen Leonhard zudem zur Überwindung seines Konflikts mit der Gesellschaft:321 Den beiden Gesellen gegenüber, welche er soeben verließ, durfte er es sich wohl aussprechen, daß er trotz allem doch ein ordentlicher Kerl geblieben sei, der sich seines Daseins weder zu schämen noch dasselbe für abgeschlossen zu halten habe. (BA 7, S. 226)

Alle bisherigen Versuche, seine Individualität in der Gesellschaft durch deren Anerkennung zu behaupten, werden vor der Gefahr für Nikolas Glück unbedeutend. Leonhard tritt für Nikola ein, was seine abschließende Entwicklung innerhalb der Gesellschaft vorbereitet. Die Rachepläne des Leutnants Kind kulminieren in seiner umfassenden Wut gegen die Gesellschaft. Er nimmt sein „Recht, den Schuldigen zu Boden zu schlagen“322 wahr, seine rationale Suche nach Gerechtigkeit vernichtet aber zugleich mit Nikola auch eine Unschuldige.323 Der von Leonhard in seiner Vorlesung, wenn auch abgeschwächt angewandte Weg des „Krieges“324 gegen die Gesellschaft, findet im Leutnant Kind ein negatives Ende, was in dessen fieberhaftem Wahn nach der Anklage Glimmerns325 und seiner Jagd auf diesen bis || 319 BA 7, S. 314. 320 Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 69. 321 Dagegen: Radcliffes These, Leonhards Überwindung des Konflikts mit der Gesellschaft komme aus dessen Erkenntnis, dass der Hauptgrund dafür Selbstmitleid gewesen sei. Vgl. Stanley Radcliffe: Der Sonderling, S. 63. 322 Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 326. 323 Die Bedeutung des Leutnants Kind für die Vernichtung Nikolas wird in ihrer durch Kind hervorgerufenen „Gespensterfurcht“ deutlich. Vgl. BA 7, S. 355. 324 BA 7, S. 326. 325 Vgl. BA 7, S. 326.

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zum Tode326 verdeutlicht wird. Auch Leonhard erkennt in seiner Auseinandersetzung mit dem Leutnant Kind, dass diese Aggression gegen die Welt nicht sein eigener Weg in der Gesellschaft sein kann: Ich habe viel gelernt, alter Mann, und die Hand hätt ich mir eher abgehauen als Sie auf Ihrem Wege aufgehalten, die Zunge mir eher abgebissen als Ihnen ein Wort entgegengesprochen. Nun lassen Sie mich meinen Weg fortsetzen. (BA 7, S. 327)

Leonhard tritt vor der Bedrohung durch den Leutnant Kind für Nikola ein. Dirk Göttsche spricht von Leonhards „Wendung ins Soziale, durch die [er] die zentrale Mittlerfigur zwischen Individuen und gesellschaftlichen Welten“327 wird. Leonhard zeigt sich in der Tat angesichts Nikolas vernichteter Existenz als Verfechter wahrer Menschlichkeit. So verhandelt er mit dem Leutnant Kind zunächst einen Aufschub der Rache, um „zu retten, was zu retten ist“,328 und bringt Nikola, nachdem Kind Glimmern öffentlich angeklagt hat, zur Katzenmühle. Fortan fungiert Leonhard als Wächter über Nikolas Unglück. In seiner Position als „der einzige, welchem aus dem weiten vielgestaltigen Kreise, der einst seine Wirbel um die Frau Nikola zog, jetzt die Tür der Katzenmühle offenblieb“,329 verteidigt er zusammen mit dem Vetter Wassertreter die Katzenmühle vor der Bumsdorfer und Nippenburger Sensationslust hinsichtlich Nikolas Schicksal.330 Seine Suche nach einer sinnhaften Stellung innerhalb der Gesellschaft erfüllt sich somit in seiner Position als Wächter über Nikolas Unglück: Ich habe vieles probiert seit meiner Heimkehr nach Europa; ich habe ein tausendjähriges Gestein zusammengeschleppt, ich habe gespielt und habe heiraten und Kinder zeugen wollen, doch nun bin ich nur zu einem Wächter vor einem kleinen Unglück in einer großen See von Plagen geworden und habe für jetzt mein volles Genügen daran. (BA 7, S. 381)

Leonhard weiß um die Inhumanität der Gesellschaft, hat er sie doch am eigenen Leib und auch als Beobachter von Nikolas Unheil erfahren müssen. Er weiß ebenso um die Endgültigkeit von Nikolas Vernichtung und ihres unwiderruflichen Ausschlusses aus der gesellschaftlichen Ordnung. Als Vermittler zwischen

|| 326 Vgl. BA 7, S. 328: „Er ist hinaus; aber die Toten und ich fahren ihm nach, und wir werden ihn erreichen und Abrechnung mit ihm halten, der ganzen falschen, feilen, heuchlerischen Welt zum Trotz.“ 327 Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 68. 328 BA 7, S. 224. 329 BA 7, S. 356. 330 Vgl. BA 7, S. 358–359.

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diesem individuellen Unglück und der Gesellschaft entscheidet er sich für ein Leben nach seinen eigenen, humanen Werten. Leonhard selbst sitzt nun, da er sich für Nikola verantwortlich fühlt und zum Wächter über ihr Unglück wird, ebenfalls in Bumsdorf fest. Seine Aussichten auf einen Platz in der heimatlichen Gesellschaft stehen allerdings gut, wie es der Vetter Wassertreter ausdrückt: Ojemine, auch Nippenburg hat seine unaussprechlichen Verdienste, und du, mein Junge, kannst immer noch Ratsschreiber zu Nippenburg werden; und wenn dein Ehrgeiz noch immer nicht zufrieden wäre, so verschaffen wir dir den Titel Stadtsekretär, worauf du […] allmählich groß und ehrwürdig wirst, sowohl im Kreise deiner Neffen und Nichten wie auch im Goldenen Pfau, allwo deines Vaters Stuhl mit offenen Armen auf dich wartet. Ich glaube, selbst Luzifer würde sich nach den gemachten Erfahrungen keinen Augenblick besinnen, wenn man ein Auge zudrückte und ihm eine ähnliche Stellung und Existenz dort oben in den himmlischen Regionen anböte. (BA 7, S. 359)

Leonhard versteht den in dieser Aussage liegenden „tief philosophischen Grundgedanken“:331 Seine Wegbegleiter, die allesamt in einer ähnlichen Situation wie er waren, sind in ihrer Auflehnung gegen die Gesellschaft gescheitert: Madam Klaudine und Nikola sind individuell wie gesellschaftlich vernichtet, der Leutnant Kind ist im Wahn Friedrich von Glimmern gefolgt, beide sind durch die jeweils andere Hand gestorben, und Viktor Fehleysen ist nach seiner erneuten Flucht aus der Heimat in der Schlacht bei Richmond gefallen. Während sie alle durch die gesellschaftliche Wirklichkeit vernichtet wurden, hat Leonhard, allen seine innere Freiheit und Individualität gefährdenden Umständen zum Trotz, diese bewahrt und: Es waren nicht die schwächsten Charaktere, welche dieses konnten, und die Wahrscheinlichkeit, noch einmal aus der Gefahr gerettet zu werden, war für sie vielleicht größer als für alle jene, die in solchen Momenten nichts als ein verzweiflungsvolles Händeringen oder ein stumpfsinniges Hinstarren auf die graue tödliche Wüste übrig hatten. (BA 7, S. 362)

Gleichwohl ist Leonhards Sehnsucht nach einer „behaglichere[n], ruhige[n] Zukunft“332 angesichts seiner Verantwortung für Nikola, seine Mutter und seine Schwester, die nach dem Tod des Vaters allein sind, groß. Seine Erfahrungen, den Normierungsbemühungen der Gesellschaft erfolgreich getrotzt zu haben, werden auch in Aussicht auf die Zukunft positiv bewertet: Eine gemütliche Exis-

|| 331 BA 7, S. 360. 332 BA 7, S. 360.

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tenz innerhalb des Bürgertums stellt nun keine Gefahr mehr für seine innere Freiheit dar. So entscheidet sich Leonhard am Ende des Romans für ein behagliches, philisterhaftes Dasein im Haus seines Vaters, das er nach dessen Tod geerbt hat. Er sieht äußerlich „seinem seligen Vater nach Statur, Gesichtsbildung, Haltung merkwürdig ähnlich“.333 Diese Veränderung Leonhards wird in der Forschung unterschiedlich bewertet: Uwe Heldt sieht Leonhards Anpassung als Beweis für die kompromisslose Erstarrung der Gesellschaft, die keine Lösung des Konflikts zwischen Individualität und Gesellschaft zulasse. Beides, Nikolas „Totsein“ und Leonhards Angleichung werden als identisch aufgefasst.334 Hierzu muss allerdings bemerkt werden, dass Leonhard durch seine Entscheidung für ein Leben innerhalb der Gesellschaft, im Gegensatz zu Nikola, am Ende des Romans zu den „Lebendigen“335 gehört. Er wird klar von den „Toten“ in der Katzenmühle abgegrenzt. Zudem wird der negative Einfluss des Philistertums auf die individuelle Freiheit des Einzelnen durch den Erzähler abgeschwächt: Ist es nicht ein wunderlich Ding, daß der Mann aus dem Tumurkielande […] nie ohne den Onkel und die Tante Schnödler in die Erscheinung tritt? Wohin wir blicken, zieht stets und überall der germanische Genius ein Drittel seiner Kraft aus dem Philistertum und wird von dem alten Riesen, dem Gedanken, mit welchem er ringt, in den Lüften schwebend erdrückt, wenn es ihm nicht gelingt, zur rechten Zeit wieder den Boden, aus dem er erwuchs, zu berühren. (BA 7, S. 357)

Gesellschaftlichkeit wird gleichzeitig zur Bedingung und zur Lösung des Konflikts zwischen Individuum und Gesellschaft: Nur indem Leonhard sie annimmt, kann er sich selbst ihr gegenüber behaupten – tut er dies nicht, droht ihm die individuelle Vernichtung. So legen auch Dirk Göttsche und Christian Müller Leonhards Anpassung aus: Sie sehen im philisterhaften Äußeren Leonhards eine „Maske“ – in seinem Inneren hat er sein kritisches Bewusstsein gegenüber der Gesellschaft und seine soziale Moralität bewahrt.336 Dass dies – wie

|| 333 BA 7, S. 375. 334 Vgl. Uwe Heldt: Isolation und Identität, S. 62. Dieser Standpunkt tritt in der Forschung immer wieder auf. Vgl. hierzu Renate Heuer: Individualität, S. 42. Auch Leonhards Annäherungen an die bürgerlichen Werte, wie sie in der Episode um Serena beschrieben werden, werden in diesen Thesen ausgespart 335 BA 7, S. 382. 336 Vgl. Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 70–73; Müller, Christian: Subjektkonstituierung, S. 109–110. Günther Matschke sieht zwar auch „äußerliche Anpassung [und] innerlichen Abstand“ (Günther Matschke: Isolation, S. 48), missversteht aber Leonhards Position am Ende weiterhin als reine Isolation. Vgl. Günther Matschke: Isolation, S. 66–67.

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schon für den Vetter Wassertreter – seine Zugehörigkeit zur bürgerlichen Gesellschaft nicht beeinträchtigt, zeigt wiederum, dass, trotz aller Gesellschaftskritik im Roman, das Bürgertum doch weniger exklusiv ist, als postuliert.337 Denn Individualität, innere Freiheit und sogar individuelle Humanität ist – im Rahmen der äußerlichen Erfüllung der bürgerlichen Bedingungen – möglich. Dies liegt größtenteils daran, dass der „äußere[...] Wert als bürgerliches Subjekt […] leicht zu taxieren“338 ist. Sobald Leonhard diese Werte und Normen – als selbstständiger Erbe seines Vaters und in Zukunft als Ratsschreiber zu Nippenburg – im Sinne der Gesellschaft erfüllt, wird ihm die Zugehörigkeit zum Bürgertum nicht mehr verwehrt.339 Seine individuellen Eigenschaften werden dabei von Leonhard aber nicht vernachlässigt. Gerade das am Ende oftmals wiederholte Motto des Romans – „[w]enn ihr wüßtet, was ich weiß, so würdet ihr viel weinen und wenig lachen“340 – zeigt Leonhards bestehende kritische Reflexion über die Gesellschaft. Vor allem in Bezug auf die Katzenmühle erweist er sich frei von allen Illusionen, die er jemals bezüglich der Gesellschaft gehabt hat.341 Dass sich die Katzenmühle dem Betrachter Leonhard als derart tot präsentiert, sieht Günther Matschke überwiegend als ein Sinnbild dafür, dass Leonhards eigene Hoffnungen enttäuscht wurden.342 Sie ist ein Zeichen für Leonhards Desillusion, da er die Notwendigkeit, aber auch Ausweglosigkeit von Nikolas Flucht vor den Demütigungen der Gesellschaft, erkennt. Die Katzenmühle ist „tot“, weil es ihre Bewohner auch sind und dies eben ein endgültiger Zustand ist. Das Motto des Romans ist Sinnbild für den Kampf um den „Gegensatz der Welt“,343 den Leonhard als einziger überlebt, indem er seine Suche, „das Leben zu überwältigen und zu [seinem] Willen zu zwingen“,344 aufgibt. Hinsichtlich der Vernichtung seiner Mitstreiter stellt sich bei Leonhard Resignation ein: Die Tragik, || 337 Zwar wird Leonhard in den Augen der Gesellschaft immer ein weniger angesehenes Mitglied sein – dies sieht man beispielsweise an den Parallelen zwischen Leonhard und dem Vetter Wassertreter – die Steigerung seines Rufs durch soziale Anerkennung ist aber nicht Leonhards gesellschaftliches Ziel. Hierbei unterscheidet er sich von seinem Vater, dem er am Ende des Romans äußerlich so ähnlichsieht. Vgl. BA 7, S. 273. 338 Christian Müller: Subjektkonstituierung, S. 102. 339 Auch hier ergeben sich wieder Parallelen zur afrikanischen Fremdkultur, da auch dort die Zugehörigkeit zur Gesellschaft über äußerliche Bedingungen, nämlich den Status als Handelsartikel, definiert wird. 340 BA 7, S. 382. 341 Christian Müller spricht von „einem von sozialer Moralität getragenen Lebensrealismus“. Christian Müller: Subjektkonstituierung, S. 110. 342 Vgl. Günther Matschke: Isolation, S. 94. 343 BA 7, S. 190. 344 BA 7, S. 380.

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über welche man „viel weinen und wenig lachen“ soll, ist die Unausweichlichkeit des Verlierens. Leonhard hat zwar seinen kritischen Geist, seine innere Freiheit gegenüber der Gesellschaft behauptet, aber eben nur, weil er sich mit der Realität abfindet und sich in seine eigene Behaglichkeit zurückzieht. So erweist sich auch die von ihm gesuchte Überwindung seiner Entfremdungserfahrung, als unerreichbar. Der für Leonhard in der Gefangenschaft in Abu Telfan entstandene Gegensatz zwischen Eigenem und Fremden dauert fort: Er bleibt fremd.345 Leonhard erkennt dies und zeigt sich so am Ende auch frei von allen Illusionen. Er hat, gleich dem Vetter Wassertreter, „was [ihm] gehört, gerettet“346 und einen Kompromiss zwischen seiner Individualität und der gesellschaftlichen Realität geschlossen. Entgegen dem von Christian Müller postulierten fehlenden Glück347 scheint Leonhard mit diesem Kompromiss allerdings zumindest zufrieden zu sein. Die einzige Selbstaussage Leonhards nach der Übernahme seiner Wächterposition über Nikolas Unglück beschränkt sich auf das weiter oben zitierte Resümee seines Weges in der Gesellschaft seit seiner Rückkehr aus Afrika. Das Fazit fällt dabei positiv aus: Er hat „für jetzt [s]ein volles Genügen daran“.348

2.4 Die Vernichtung weiblicher Individualität durch die militärische Erfüllung gesellschaftlicher Konventionen Nikola von Einstein befindet sich der Gesellschaft gegenüber in einem ähnlichen Zustand wie Leonhard: Obwohl sie zwar nicht die gesellschaftlichen Kriterien des Fremden erfüllt, ist ihr die gesellschaftliche Wirklichkeit fremd. So sagt sie, dass ihr „die Ketten des Tumurkielandes noch um Hand- und Fußgelenke klirren“349 und beneidet Leonhard um seine „vom Schicksal angewiesene magische Ausnahmestellung“.350 Für Nikola ist das Leben als Hoffräulein, das aus einem verarmten Adelshaus stammt, nur „erbärmliche, langweilige Routine des

|| 345 Peter Brenner deutet dies so, dass Leonhards Heimat „schließlich ganz aus dem Bereich räumlicher Erfahrungsmöglichkeiten heraus[rückt]“ (Peter J. Brenner: Die Einheit der Welt, S. 61). Walter Hirsch spricht davon, dass sich die Welt in einem Zustand der Auflösung befinde. Das Motto deutet er als Leonhards Akzeptanz, dass Abu Telfan überall sei, woraus seine Resignation und Wächterexistenz entstehe. Vgl. Walter Hirsch: Drama des Bewusstseins, S. 94. 346 BA 7, S. 62. 347 Vgl. Christian Müller: Subjektkonstituierung, S. 110. 348 BA 7, S. 381. 349 BA 7, S. 32. 350 BA 7, S. 31.

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europäischen Alltags“.351 Die Zugehörigkeit zur feudalen, adeligen Gesellschaft bedeutet für sie in zweierlei Hinsicht komplette Erstarrung: Zum einen bietet das Leben, das von der adeligen Etikette geregelt wird, kaum Abwechslung: O Gott, o Gott, und man sieht es Frühling werden, Sommer und Winter, und man wird immer älter – immer älter und immer sublimer und zarter, und das ganze Universum wird immer mehr zu einem ehrfurchtsvollen Geflüster. Und die Menage, die Naturalverpflegung […] bleibt immer tadellos; ein Ballkleid oder ein neues Armband fällt auch von Zeit zu Zeit für uns ab, und die Etikette sorgt mit unleidlichem Nachdruck dafür, daß wir auf unsern Redouten nicht als Immobilien die Wände zieren. Und immer wird’s wieder Frühjahr und immer wieder Sommer und immer wieder Winter; aber kein Herr van der Mook will an unserm Horizonte aufgehen, um uns von diesem sanften, mit Sammet ausgeschlagenen Elend zu befreien! (BA 7, S. 36)

Die adeligen Konventionen bestimmen Nikolas Rolle innerhalb der adeligen Gesellschaft. Ihr Leben ist reduziert auf die schon fast militärische Erfüllung ihrer „erhabenen Rechte und Pflichten“.352 Zum anderen ist der Adel als feudale Organisation schon an sich ein veraltetes, erstarrtes Gefüge, das sich allein auf die Sicherung ihrer Macht und ihres Reichtums beschränkt.353 Die Welt des Adels schließt sich hinter ihren Gittern vom Fortschritt der übrigen Welt ab. So bezweifelt Nikola etwa, dass „die Herren Herder, Wieland, Goethe und Schiller an [ihren] Hof berufen oder sie daselbst geduldet“354 wären. Auch bei Hofe, wie schon in der bürgerlichen Gesellschaft, herrschen „Philisterhaftigkeit, geistige Unfreiheit und menschliche Verkümmerung“.355 Dies kollidiert mit Nikolas Streben nach Freiheit und Selbstbestimmung und ihren „fortschrittlichen jungdeutschen Ideen zu weiblicher Glückserfüllung“.356 Als Frau ist ihre Rolle in der Gesellschaft auf Passivität reduziert.357 Sie selbst träumt aber davon, frei und selbstbestimmt zu leben – etwas, das ihr nur aufgrund ihres Geschlechts verweigert wird:

|| 351 BA 7, S. 31. 352 BA 7, S. 34. 353 Zum Verhältnis von Adel und Bürgertum siehe: Andreas Schulz: Lebenswelt, S. 70–71. 354 BA 7, S. 34. 355 Margrit Bröhan: Die Darstellung der Frau, S. 124. 356 Alan Corkhill: Konstruktionen des Glücks, S. 78. 357 Dass sich diese Passivität der Frau in der adeligen Gesellschaft auch auf Vertreterinnen anderer Gesellschaftsschichten anwenden lässt, sieht man beispielsweise an Leonhards Mutter und Schwester, welche sich bedingungslos den Entscheidungen des Vaters fügen. Vgl. BA 7, S. 101–102. Hermann Helmers weist darauf hin, dass Leonhards Mutter selbst noch nach dem Tod des Vaters von ihrem Sohn gebildet wird, was deren passive Stellung unterstreicht. Vgl. Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 19.

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Wenn ich ein Mann wäre, so würde ich mir einen noblen Krieg irgendwo in der Welt aufsuchen und darin etwas tun, was mir Freude machte oder nur Ruhe gäbe oder auch nur die Gelegenheit, mit Gleichmut zu verbluten. (BA 7, S. 56)

Die von Leonhard als Unfreiheit empfundene Erwartung, sich als nützliches Mitglied der Gemeinschaft zu erweisen und das Amt des Ratsschreibers anzunehmen, würde für Nikola bereits Freiheit bedeuten, da es ihr ermöglichen würde, selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu leben.358 Nikolas Entwicklung stellt somit ein Kontrapunkt zu Leonhard dar.359 Während Leonhard allerdings seinem Konflikt mit der Gesellschaft aktiv begegnet, erweist sich Nikolas Leben als durchgehend fremdbestimmt, in dem ihr eigener Wille nichts zu sagen hat: Was sind das für Leute […], was kümmern sie mich, was habe ich mit ihnen zu schaffen? Vor einer Stunde, in der Katzenmühle, auf dem Schemelchen zu den Füßen der Frau Klaudine hatten sie freilich keine Bedeutung für mich; aber sie zwingen mich schon, an ihre Wirklichkeit zu glauben! Sie haben ebenso starke Hände wie die Geister, die mich durch den Wald zur Mühle ziehen; ach aber wenig von meinem eigenen Willen ist bei diesen Mächten, welche auch kein Widerstreben dulden und hart, zornig und spottend mich aus dem geheimsten Versteck hervorzerren. Wie haben sie diese Herrschaft über mich erlangt? (BA 7, S. 109)

Nikola versucht „in Waffen gegen die Welt aufzustehen“,360 nämlich sich gegen die Erwartungen, die an sie gestellt werden, zu wehren, scheitert aber bei diesem Versuch. Sie erlebt die eigene Fremdbestimmung durch die Gesellschaft als unveränderlichen Status quo. Letztendlich muss sie sich den Konventionen beugen und der für sie arrangierten Ehe mit Friedrich von Glimmern zustimmen. Ihre Rebellion gegen die Konventionen ist aussichtslos und Nikola bleibt nichts anderes übrig, als sich passiv ihrer Fremdbestimmtheit zu ergeben. In einem Brief an ihre Freundin Emma beschreibt sie ihre Situation folgendermaßen: Was habe ich heute getan, Emma? Mein Herz habe ich begraben und die Welt angenommen, wie sie ist; ich habe das Buch meiner Hoffnungen und Träume abgeschlossen und mich in das Unabänderliche ergeben! (BA 7, S. 106)

Nikola fügt sich den an sie herangetragenen Erwartungen, weil sie erfährt, dass sie als Frau abhängig von der Gesellschaft ist. Sie kann nicht, wie ein Mann,

|| 358 BA 7, S. 74. 359 Vgl. hierzu ebenfalls Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 24. 360 BA 7, S. 35.

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aktiv und nach ihren eigenen Vorstellungen leben. Mit 27 Jahren droht ihr, eine „alte Jungfer“ zu werden361 und als solche würde sie ihrer verarmten Familie nur zur Last fallen. Selbstständig und selbstbestimmt zu leben, ist für sie demnach unmöglich. Die Einwilligung in die Ehe bedeutet für Nikola aber gleichsam die Aufgabe ihrer eigenen Individualität: Die Ehe ist nur eine weitere Pflichterfüllung, welche sie leisten muss – ein Vertrag, der sie an die Gesellschaft bindet. So wird sie, als Frau und als Individuum, gleich einem „Schuldschein“ von dieser eingefordert.362 Die adelige Gesellschaft nimmt keine Rücksicht auf Nikolas Willen: Ihre individuelle Freiheit wird der Sicherung der Macht und des Reichtums untergestellt.363 Den eigenen Willen aufzugeben, bedeutet aber für Nikola, „sich ‚totzustellen‘ in der Hand des Fatums“:364 Also, Frau Emma, ich heirate, da man es so haben will, und traue mir zu, als Frau von Glimmern meine Rolle mit allem Anstand durchführen zu können. O sie sollen schon nichts merken von der wirklichen Nikola von Einstein! Die ist tot und tief begraben für alle, welche auf ihrer Hochzeit tanzen; ganz still liegt sie in der dunkeln sichern Tiefe, blickt nur durch halbgeschlossene Augenlider unter dem schweren Stein schläfrig hervor und denkt: Nur schlau muß der Mensch sein und so tot wie möglich, dann läßt sich das Leben schon tragen. (BA 7, S. 113)

Sich selbst aufgeben zu müssen, weil man mit „Leib und Seele“365 eingefordert wird, beschreibt nichts anderes als die völlige Vernichtung der Individualität und ist Ausdruck von Nikolas Unfreiheit.366 „Sich totstellen“ bedeutet aber auch den Versuch, die Differenz zwischen Individuum und Gesellschaft zu überwinden, aber eben einen, bei dem sich das Individuum uneingeschränkt der Gesellschaft unterwirft und die eigene Individualität dabei aufgibt. Dass dies nur noch mehr zum Unglück führt, zeigt, wie sich Nikola nach der Hochzeit verändert hat:

|| 361 Vgl. BA 7, S. 106–107. 362 Vgl. BA 7, S. 121. 363 Für die aus verarmtem Adel stammende Nikola wird die Heirat mit dem reichen Friedrich von Glimmern von der Gesellschaft als „gute Partie“ (BA 7, S. 138) gewertet, von Glimmern ist an der Ehe vor allem wegen Nikolas Verbindungen zum Hof interessiert. Vgl. BA 7, S. 222–223. 364 BA 7, S. 113. 365 BA 7, S. 106. 366 Auch hier liegt ein Vergleich mit dem Tumurkieland nahe, da Nikola gleich Leonhard wie ein Handelsartikel in die Ehe gegeben wird. Dies meint Nikola auch, wenn sie sagt, dass ihr „die Ketten des Tumurkielandes noch um Hand- und Fußgelenke klirren“. Vgl. BA 7, S. 32.

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Sie lacht noch wie sonst; aber es ist doch nicht mehr das alte Lachen. Ich glaube, wenn sie manchmal ein wenig weinen würde, so brächte das doch etwas Heiterkeit in unsere Zustände. […] Sie hat sich lange genug gewehrt und zuletzt einen ehrenvollen Vertrag abgeschlossen; aber was kann solch ein armes, gequältes Frauenzimmer beginnen, wenn man ihr die traktatmäßigen Bedingungen nicht hält? Sie kann nicht durchbrennen wie Sie, Herr Leonhard […]. Sie steht immer da, Gewehr bei Fuß, und hat sich vom Kommando Grobheiten und Anzüglichkeiten vortragen zu lassen. (BA 7, S. 283)

Nikola ist unfreiwillig in einer Ehe gefangen, in der über sie zweckmäßig bestimmt wird und sie nicht gut behandelt wird, obwohl ihr Glück damit verbunden ist.367 Ihr Leben als Frau beschränkt sich darauf, passiv alles zu erdulden. Sie ist abhängig von den Handlungen ihres Mannes und so fällt sein Ehrverlust, nachdem er in der Öffentlichkeit des Betrugs bezichtigt wird, auch auf sie zurück. Der Skandal trifft Nikola in ihrer gesellschaftlichen Existenz und sie ist fortan von der Gesellschaft geächtet. Ihr bleibt nur die Flucht aus der Welt – in die Katzenmühle.

2.5 Die Katzenmühle: Totstellen und gesellschaftliches Totsein Die Katzenmühle ist der Ort, an den sich Klaudine Fehleysen, nach dem Tod ihres Mannes, der einer Intrige zum Opfer gefallen ist, vor der gesellschaftlichen Schmähung zurückgezogen hat. Ihr einziger Sohn, Viktor, dem Leonhard in seiner afrikanischen Gefangenschaft als Kornelius van der Mook begegnet, ist, weil die familiäre Ehre verloren gegangen ist, aus dem Land geflohen und gilt seither als verschollen. Nikola zieht sich ebenfalls nach ihrem gesellschaftlichen Fall in die Katzenmühle zu Madam Klaudine zurück. Beide Frauen sind unschuldige Opfer der gesellschaftlichen Intrigen – der damit einhergehende Reputationsverlust ihrer

|| 367 Ein Gegenbeispiel zu Nikola ist ihre Freundin Emma. An dieser wird gezeigt, dass individuelles Glück für Frauen nicht nur außerhalb der Erfüllung der gesellschaftlichen Konventionen existiert. Ihr Glück beruht allerdings auf der guten Behandlung durch ihren Ehemann und individueller Freiheit. Vgl. BA 7, S. 334: „Dich rief man nicht von allen Seiten, wenn du auf deinem eigenen Schemel stillsitzen wolltest, und zerrte dich nicht an den Flügeln herbei, wenn du den schrillen Ruf überhörtest. Du konntest ruhig deines Weges gehen, gute Leute haben dich zurechtgewiesen, und gute Leute begleiteten dich“ [Hervorhebung durch den Verfasser]. Zur Glücksthematik sei nochmals verwiesen auf Alan Corkhill: Konstruktionen des Glücks.

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Ehemänner bedeutet aber auch für sie die gesellschaftliche Vernichtung.368 Während Viktor Fehleysen aus dem Land flieht und somit die Möglichkeit hat, in der Ferne seine Ehre wiederherzustellen, bleibt ihnen als Frauen nichts übrig, als sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen und geduldig auf eine Veränderung ihrer Lage zu warten.369 Dieses Warten bedeutet zugleich aber auch die vollständige Aufgabe der eigenen Existenz, da dies der einzige Lebensinhalt der Frauen ist: So sitze ich hier in der Katzenmühle und horche bei Tag und Nacht. Es muß einst in dem Wind eine Stimme zu mir herüberbringen, ein Stein muß anfangen zu reden, und während ich darauf harre, lasse ich keinen, der aus der weiten Welt kommt und über meine Schwelle tritt los, ohne daß er mir Rechenschaft gab über seine Wege und alle, welche ihm auf denselben begegneten. […] ich lebe nur mit angehaltenem Atem zu horchen; o und es ist oft sehr schrecklich, so allein zu wohnen und nichts zu hören als das Niederfallen der Tropfen dort vor dem Fenster! (BA 7, S. 81–82)

Hier wird das Motiv des „Sich Totstellens“, wie es auch Nikola macht, wieder aufgegriffen. Klaudine stellt sich tot, sie entledigt sich ihrer Individualität und ihrer Zugehörigkeit zur Gesellschaft. So antwortet sie Leonhard auf die Frage hin, was er mit seinem Dasein anfangen solle: „Ich habe mich unter bittern Schmerzen, in hartem Kampfe dessen entledigt, was Sie mit allen Kräften wiedergewinnen möchten“.370 Sie hat ihr eigenes Dasein aufgegeben – ihre einzige Hoffnung diesbezüglich ist die Rückkehr ihres Sohnes, auf die sie wartet. Zu der Zeit, als Klaudine noch allein in der Katzenmühle lebt, besucht auch Leonhard sie zum ersten Mal. Die Katzenmühle präsentiert sich ihm, in ihrer Weltabgeschiedenheit, als idyllischer Ort: Von diesem Felsen herab stürzte sich früher der lustige Bach auf das Rad, aber, wie gesagt, die großen Fabriken droben im Lande hatten längst den Hauptfluß des Wassers für sich in Anspruch genommen und dem demütigen Schwesterchen in der Tiefe nur grade so viel gelassen, als nötig war, um rund um das alte Gemäuer, Gestein und Gebälk und das zerbrochene Radwerk eine Vegetation hervorzubringen und zu erhalten, wie kein Maler sie sich anmutiger, üppiger, frischer und grüner vorstellen konnte. Ein wildes Gärtchen zog sich vor dem Hause her, und es war kaum zu erkennen, wo die lebendige Hecke in das Gebüsch des Waldes überging. (BA 7, S. 70–71)

|| 368 Dieser Zustand wird von Nikola als Verlust sämtlicher Rechte empfunden. Vgl. BA 7, S. 334: „Es ist auch dumm, zu weinen, wenn man kein Recht dazu hat.“ 369 Bezeichnend ist auch Klaudines Spitzname „Frau Geduld“, der versinnbildlicht, dass sie ihr „Elend mit solchem Anstand“ (BA 7, S. 69) trägt. 370 BA 7, S. 74.

Die Katzenmühle: Totstellen und gesellschaftliches Totsein | 93

Leonhard findet in der Katzenmühle Sicherheit und Ruhe.371 Hier kann er Kraft tanken, um „nicht mitten im alten Europa das Tumurkieland recht sehr zu vermissen“.372 Die Katzenmühle steht dabei in Kontrast zur Außenwelt: Sie ist Flucht- und Schutzraum, in dem Stille, Ruhe und Zeitlosigkeit abseits einer „korrupten und friedlosen, feindlichen Welt“373 herrschen. Hierher ziehen sich diejenigen, wie Leonhard, Nikola oder später auch Viktor Fehleysen, zurück, die, auf welche Weise auch immer, in ihrer Beziehung zur Gesellschaft zu Fremden geworden sind. Die Funktion des Fluchtraums fasst Karin Kluger stellvertretend für Raabes Gesamtwerk zusammen: Zunächst ist er ein Ort der Ruhe, in dem sich eine alternative Gemeinschaft von seelenverwandten Menschen zurückzieht. Der Fluchtraum ist geprägt von einer Ausrichtung auf das Vergangene und den Rückzug ins Unwirkliche. Durch den damit fehlenden Bezug zur Zukunft kann der Rückzug in den Fluchtraum allerdings nur passiver Natur sein.374 Die Katzenmühle ist also nicht der Ort, der durch das „Miteinander von Natur und Kultur […] ein wünschenswertes Bild der Zukunft“375 zeigt, sondern einer, der sich durch kulturelle und gesellschaftliche Stagnation auszeichnet. Die Katzenmühle ist ein vorzeitliches Relikt,376 das zum Opfer der Industrialisierung geworden ist – wurde der frühere Eigentümer nicht zuletzt durch diese in

|| 371 Vgl. BA 7, S. 91: „[D]ie letzten Worte der Greisin erhielten jetzt erst ihr volles Gewicht: […] eine Ruhe und Sicherheit, die er lange nicht mehr gekannt hatte, erfüllten sein Herz und machten seine Seele still.“ 372 BA 7, S. 73. 373 Günther Matschke: Isolation, S. 94. 374 Vgl. Karin Kluger: Problematisierung der Idylle, S. 39–40. Diese Meinung über die Katzenmühle ist weit verbreitet: So verweisen Gabriele Varo und Hermann Helmers auf deren Verzicht, der sich durch die Stellung „abseits vom Leben“ (Gabriele Varo: Feindlichkeit des Lebens, S. 30, vgl. auch Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 26) ergibt. Dirk Göttsche erkennt die illusionäre Bedeutung der „Vorstellung eines außergeschichtlichen Refugiums der Natur“ (Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 65). Diese These vertritt auch Brenner, wenn er die Katzenmühle aufgrund ihrer Prägung durch die Außenwelt als „trügerisch“ entlarvt (vgl. Peter J. Brenner: Die Einheit der Welt, S. 58). Sandra Illmer hingegen sieht in der Beziehung zur Natur als „Rückgang auf eine vorausliegende zivilisatorische Stufe zugleich eine Möglichkeit der Korrektur jener gesellschaftlichen Fehlentwicklungen […], die ihr Schicksal verursacht haben“ (Sandra Illmer: „Wilde Schwächlinge“, S. 147). Dies wird aber gerade im Hinblick auf das Schicksal der Bewohner der Katzenmühle am Ende des Romans zurückgewiesen. 375 Elias Onwuatudo Dunu: Entwürfe einer humanen Entwicklung, S. 108. 376 Hier sei ebenfalls auf Elias Onwuatudo Dunu verwiesen, der die Katzenmühle als einen „Ort der Ungleichzeitigkeit“ (Elias Onwuatudo Dunu: Entwürfe einer humanen Entwicklung, S. 105) beschreibt. Solche Orte sind „ausgesparte Orte; Orte die vom Fortschrittsstrom umgangen werden oder von Vernichtung bedroht werden“ (Elias Onwuatudo Dunu: Entwürfe einer humanen Entwicklung, S. 105).

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den finanziellen Ruin getrieben.377 Sie hat keine Bedeutung für eine zukunftsweisende Teilnahme an der Außenwelt, sondern ist vollständig von dieser isoliert. Die Existenz in der Katzenmühle ist deshalb durchaus lebensfremd. Ein Aufenthalt dort kann somit auch keine andere Bedeutung für das aktive Leben der Außenwelt haben, als für einen kurzen Moment neuen Lebensmut zu fassen, wie es etwa Leonhard macht: Ich kann Sie nicht einladen, Herr Hagebucher, in den Wald zu kommen und bei den sieben Zwergen zu leben; denn es wäre nicht gut und nützlich. Sie haben lange genug nur mit sich allein hausgehalten; deshalb lassen Sie sich nicht verführen von augenblicklicher Abspannung und Ermüdung. […] Was für einen andern Rat könnte ich Ihnen geben, als daß Sie wieder hinausgehen müssen auf den Markt […]. (BA 7, S. 75)

Die Katzenmühle ist Idylle und Lebensfremde zugleich und deshalb in der Tat trügerisch.378 Dauerhaft dort zu wohnen, bedeutet letztendlich die vollständige individuelle und gesellschaftliche Vernichtung. Dies sieht man an Nikolas Willenlosigkeit, die nach ihrem gesellschaftlichen Fall als „armes, geschlagenes Weib“379 ihren endgültigen Rückzug in die Katzenmühle antritt. Dort angekommen hat sie ihren Willen, den sie vormals noch „totstellen“ musste, gänzlich verloren: Es war keine Krankheit, von der Nikola ergriffen wurde, es war nur diese unendliche Müdigkeit und Schlummersucht, während welcher ein jegliches dem Menschen gleichgültig wird, nur nicht das Knarren der Tür, das Zurückschieben eines Stuhles oder Tisches, der Lärm der Gasse und die Besuche selbst der besten Freunde. Vor alle diesem aber war die Müde in dem winterlichen Walde, in der verzauberten Mühle ganz sicher. (BA 7, S. 356)

Auch für Madam Klaudine wird die Katzenmühle zum Ort ihrer Vernichtung: Ihre Hoffnung beruht allein darauf, dass ihr Sohn Viktor Fehleysen in der Ferne

|| 377 Vgl. BA 7, S. 64: „Im Jahre einundfünfzig waren Bach, Müller, Müllerin und Müllertochter noch im lustigsten Flor; um Weihnachten zweiundfünfzig aber, als Madam Klaudine ankam, ging es zu Ende mit allem: […] die beiden Alten rüsteten sich zu ihrer Fahrt über die See, und oben im Lande war bereits der Grund zu den Fabriken gelegt, welche den Bach fraßen.“ 378 Über die Doppeldeutigkeit der Idylle in Abu Telfan siehe auch: Uwe Heldt: Isolation und Identität, S. 62–64. Für eine diesbezügliche Auseinandersetzung in Raabes Werk sei auf Karin Kluger: Problematisierung der Idylle verwiesen. 379 BA 7, S. 333.

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die Mittel findet, um seine gesellschaftliche Position wiederzuerlangen.380 Als er allerdings als Fremder, nämlich als der Abenteurer Kornelius van der Mook,381 zurückkehrt, zeigt er in seiner Verbitterung, dass er sich noch weiter von der Gesellschaft entfernt hat: „Habe ich Ihnen einen Dienst geleistet? Glauben Sie heute, in dieser Stunde wirklich noch, mir für meinen zufälligen Besuch der Hütten von Abu Telfan dankbar sein zu müssen? […] So habe ich Ihnen wirklich einen Gefallen getan, als ich Sie jener schwarzen Hexe abkaufte? So haben Sie mich nicht seitdem tausendmal in den tiefsten Abgrund für mein zudringliches Eingreifen in Ihr Geschick verwünscht? Sie segneten mich, während ich mir häufig in stillen Stunden Gewissensbisse wegen meiner Handlung machte; das ist wunderlich, sehr wunderlich, und ich könnte fast Ihnen nun meinen Glückwunsch abstatten, wenn es mir nicht immer noch unglaublich erschiene“. (BA 7, S. 206–207)

Mook ist vor der Gesellschaft weggelaufen, anstatt sich ihr, wie Leonhard, der Leutnant Kind oder Nikola zu stellen. Mit seinem „wilden Lachen“382 bildet er zudem einen Kontrast zu Leonhards befreiendem Lachen nach dem Familienrat.383 Mooks Auftritt in der Gesellschaft verläuft passiv. Es sind die anderen handelnden Charaktere, die ihm seinen Weg weisen: So ist der Leutnant Kind derjenige, der seine wilde Anklage gegen die Gesellschaft vorbringt – Mook soll ihm dabei zwar helfen, ist letztendlich aber doch entbehrlich. Es ist auch Leonhard, der ihn zur Katzenmühle bringt384 und dort steht er ebenfalls passiv allein unter dem Einfluss seiner Mutter.385 Auf diese Weise kann Mook sich aber auch nicht vor der Gesellschaft behaupten und von den Ketten des Tumurkielandes386 befreien: Er verbleibt sinnbildlich „ein erbärmlicher Sklav[e], ein Hund, den || 380 Diese Mittel sind den Anforderungen und Erwartungen der Gesellschaft an Leonhard nach dessen Rückkehr ähnlich. So wären eine Einkommensquelle oder eine ehrbare, in der Gesellschaft angesehene Tätigkeit Möglichkeiten, um den Ruf der Fehleysens wiederherzustellen. 381 Auch die Übernahme eines anderen Namens und einer fremden Identität zeigt seine Fremdheit. Vgl. BA 7, S. 220. 382 BA 7, S. 206. 383 Vgl. BA 7, S. 52. Das Lachen steht an mehreren exponierten Stellen im Roman, an denen der Konflikt des Individuums mit der Gesellschaft zutage tritt, beispielsweise in Kinds tierischem Lachen (vgl. BA 7, S. 326), Nikolas verändertem bzw. fehlendem Lachen nach ihrem Rückzug in die Katzenmühle (vgl. BA 7, S. 283, 352) oder im immer wieder zitierten Motto Abu Telfans. 384 Vgl. BA 7, S. 229: „Fieberschauend stand der Herr van der Mook auf der Landstraße und hielt den Arm seines Begleiters oder vielmehr Führers wie ein Kind die Schürze der Mutter.“ 385 Vgl. BA 7, S. 253: „Ich habe überhaupt keine Stimme mehr im Rat und will gehen und stehen, wie du es befiehlst.“ 386 Immer wieder wird auf Mooks und Leonhards ähnliche Erfahrungen mit der Gesellschaft verwiesen. Vgl. beispielsweise BA 7, S. 251.

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man an die Kette schließt“.387 Der einzige Ausweg ist die erneute Flucht in die Ferne, sein gesellschaftliches Scheitern388 wird in seinem erneuten – diesmal tatsächlichen Tod – deutlich.389 So erweist sich Klaudines Hoffnung auf gesellschaftliche Wiedereingliederung tatsächlich als „tückisch-falsch“.390 Ihr Warten auf Veränderung – und damit der eigentliche Zweck ihres Rückzugs in die Katzenmühle – ist gescheitert und der Aufenthalt dort in der Isolation ist nun dauerhaft. Beide, Nikola und Klaudine, gehören fortan zu den „Toten“.391 Die vollständige Isolation von der Außenwelt bedeutet also auch den kompletten Verlust des eigenen Daseins. Nikola und Klaudine stellen sich nicht mehr nur tot, sie sind nun auch tot: Das ist die Katzenmühle, Täubrich! Alle jene, welche wir dort an der andern Seite der Straße im Walde an den Bergen ließen, kennen den Ort so gut wie ich; doch niemand von ihnen geht mehr hierher. Das ist halb eine Verabredung, doch nicht ganz. Was zuerst Scheu und Ehrfurcht vor dem Unglück war, das ist bald zu einer bequemen Gewohnheit geworden, und es ist das beste so. O Täubrich, es schlägt keine Welle mehr bis zu jener Schwelle dort […]. Sie weinen nicht mehr dort hinter den Blumen, dort unter dem morschen Dache. Sie sitzen still, und still ist es um sie her, sie verlangen nicht mehr. (BA 7, S. 381–382)

Zu diesem Totsein passt auch das abschließende Bild der Katzenmühle, das sich dem Betrachter Leonhard präsentiert. Hier zeichnet sich die Katzenmühle vor allem durch die Abwesenheit ihrer Bewohner aus – die Natur ist im Begriff, die Kontrolle über diesen Ort wiederzuerlangen: Der kleine, halbwilde Garten vor der Mühle blühte in voller Pracht des Sommers. Die Fenster des untern Gestocks und die Tür der verfallenden Wohnung standen geöffnet, doch kein Leben regte sich dort bei allem zierlichen Anschein des Lebens. Nur die Bienen, Fliegen und Schmetterlinge hatten ihr Wesen über den Blumen und in den Sonnenstrahlen […]. (BA 7, S. 382)

|| 387 BA 7, S. 250. 388 In seinem Brief an Leonhard unterzeichnet Viktor Fehleysen den Nachtrag als „Kornelius van der Mook“. Dieser erneute Identitätswechsel bezeichnet auch die endgültige Aufgabe seiner Identifikation mit seiner Heimat. Vgl. BA 7, S. 368. 389 Nach seinem ersten Verschwinden wurde er schon zu den „Toten“ gerechnet. Vgl. BA 7, S. 121. 390 BA 7, S. 214. 391 Leonhard spricht beispielsweise am Ende des Romans, als er sich von der Katzenmühle abwendet: „Jetzt wollen wir wieder zu den Lebendigen gehen.“ Vgl. BA 7, S. 382.

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Margrit Bröhan macht es Nikola zum Vorwurf, dass sie vor den Schmähungen der Gesellschaft flieht, sich der Passivität in der Katzenmühle hingibt und ihre „Chance zu Verantwortung und persönlicher Freiheit“392 nicht nutzt. Dazu muss allerdings bemerkt werden – wie Günther Matschke richtig beschreibt –, „daß die geschlechtsspezifische Einstellung des 19. Jahrhunderts es nicht zuließ, den Frauenfiguren […] eine aktiv kritische Rolle im Geschehen zu geben“.393 Es ist eben Nikolas Dilemma, dass sie von individueller Freiheit träumt, diese aber gerade für sie als Frau in der zeitgenössischen Gesellschaft nicht verwirklichbar ist, noch weniger als beispielsweise für Leonhard.394 Nikolas Passivität ist nicht selbsterwählt, sondern Ausdruck ihrer durch die gesellschaftlichen Konventionen vorgeschriebene Fremdbestimmtheit. Die an Nikolas Beispiel vorgeführte Gesellschaftskritik ist umso eindrucksvoller, da sie wehrlos den gesellschaftlichen Kräften ausgeliefert ist. Was ihr wiederfährt, geschieht ausdrücklich gegen ihren Willen – sie muss es jedoch als Frau erdulden. Beide Frauen, Nikola und Klaudine, sind abhängig von der Gesellschaft und dem wohlwollenden Handeln derjenigen, die durch die gesellschaftlichen Normen direkt für sie verantwortlich sind. Nachdem ihre Hoffnungen diesbezüglich jedoch gescheitert sind, fallen sie auch aus der gesellschaftlichen Ordnung. Die Weltabgeschiedenheit der Katzenmühle ist Ausdruck ihrer isolierten Situation. Das Bild der von der Natur zurückeroberten Katzenmühle wiederum steht als Sinnbild für die individuelle und gesellschaftliche Vernichtung ihrer beiden Bewohnerinnen.

|| 392 Margrit Bröhan: Die Darstellung der Frau, S. 144. 393 Günther Matschke: Isolation, S. 57. 394 Auch Bröhans Vergleich mit Serena hinkt, da ihre Entwicklung zwar im Gegensatz zu Nikolas steht, diese aber keine Alternative für Nikola darstellt. Serena begehrt eben nicht wie Nikola gegen die Konventionen und Normen einer erstarrten Gesellschaft auf und strebt ein Leben unabhängig von diesen an, sondern nutzt diese aus, um aus ihrer Passivität und Langeweile zu entkommen. Im Grunde ist dieser Weg zwar – im Gegensatz zu Nikolas Ehe – freiwillig gewählt, Serenas Glück beruht aber, wie bei allen Frauen im Roman, auf ihrem Ehemann. Serena zeichnet sich also tatsächlich durch ihre „lebenspraktische Haltung aus“ (Margrit Bröhan: Die Darstellung der Frau, S. 150), wodurch sie die ihr gestellten Normen nutzt, um innerhalb diesen individuelles Glück zu erlangen. Daraus ergibt sich allerdings nicht der „sichere[...] Grund zur Selbstentscheidung“ (Margrit Bröhan: Die Darstellung der Frau, S. 150), sondern Serena hatte ungleich Nikola schlicht eine Wahl. Hierbei sei nochmals auf die unterschiedliche Bewertung des Adels und des Bürgertums verwiesen. Die bürgerlichen Konventionen erweisen sich in Bezug auf die Rolle der Frau wiederum freier, als die des Adels.

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2.6 Das Leben im Traum als individuelles Glück Ein weiterer Fremder und Weggefährte Leonhards ist der Schneider Täubrich, genannt Täubrich-Pascha. Dieser hat viele Jahre im Orient verbracht und wurde, gleich Leonhard, „lange Zeit zu den Verschollenen gerechnet“.395 Von seiner Heimkehr hat er selbst nichts mitbekommen, da er bewusstlos von Jerusalem nach Hause befördert wurde. Hier begegnet ihm das gleiche Schicksal wie Leonhard: Auf die Tage des Erstaunens und der Verwunderung war die Zeit der Gleichgültigkeit und der Verachtung gefolgt. Der verrückte Schneider war bald aus der Mode gekommen […]. Über seine Kunst war die Mode ebenfalls hinweggeschritten, und so fristete er kümmerlich sein Dasein, halb als ein elendiger Flickschneider, halb als ein arg gehänselter Botenläufer und Lohndiener, und fühlte sich unendlich glücklich. (BA 7, S. 146)

Täubrich ist für die Gesellschaft nur ein lächerlicher Narr, der „nichts taugt, als daß man seinen Witz dran auslasse“.396 Seine Armut und alberne Bedeutungslosigkeit befördern ihn an den untersten Rand der Gesellschaft. Für Leonhard ist er allerdings einer der wenigen mit „wahre[m] Weltverstand“,397 da er in Täubrich aufgrund dessen Erfahrungen in der Ferne und Heimat einen Gleichgesinnten findet. Im Gegensatz zu Leonhard ist Täubrich allerdings rundum mit seiner Situation zufrieden – „auf drei Meilen in der Runde, [gibt] es keinen zweiten Menschen, der sich so leicht und so wohl fühlt[...]“,398 wie ihn. Diese Zufriedenheit liegt wohl vor allem an Täubrichs Unfähigkeit, Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Die plötzliche und unbewusste Rückkehr hat ihn orientierungslos für die heimatliche Realität werden lassen: [S]o bin ich nach dem himmlischen Orient, nach Jerusalem und weit durch die Wüste bis tief in die Palmenländer gekommen […]. Und dann bin ich auf einmal hier wieder im Land und vor meiner Mutter Tür gewesen, die Leute sagen: auf dem Schub, mir aber ist es wie eine Zauberei, und davon bin ich nie wieder zurechtgeworden, sondern bin im Traum geblieben und werd wohl drin bleiben. (BA 7, S. 257–258)

Täubrich kann „nicht loskommen von Damaskus und Jerusalem“399 und flüchtet sich vor der „schlechte[n] Wirklichkeit“400 in seine eigene Fantasie. Damit || 395 BA 7, S. 142. 396 BA 7, S. 256. 397 BA 7, S. 227. 398 BA 7, S. 146–147. 399 BA 7, S. 257. 400 BA 7, S. 147.

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kommt das Problem der Fremdheit des eigenen Daseins gar nicht erst auf. Sein Leben, das nur manchmal „durch einen Riß in [s]einem blauen Nebel in das freie Land“401 blicken lässt, blockt, weil er der grausamen Realität der Heimat nicht gewachsen ist, jegliche Wirklichkeit ab. Leonhard versteht dies als individuelles Glück: Während er selbst sich im „fieberhaften Suchen nach dem Rechten“402 abquält, erscheint ihm Täubrich, der sich „vollständig in den Traum gerettet“403 hat, als der „Glücklichste, der Schuldloseste“.404 Täubrichs „träumerische Naivität [lässt] die im Wissen um den ‚Gegensatz der Welt‘ chiffrierte Sinnproblematik gar nicht erst aufkommen“.405 Er lebt vollkommen abgetrennt von der wirklichen Welt und zeigt sich gleichgültig gegenüber den dort gültigen Normen.406 Für die Gesellschaft ist er zwar ein Fremder – er müsste also gleich Leonhard das gesellschaftliche Selbstverständnis stören – wird jedoch zum lächerlichen Außenseiter abgestempelt. Als solcher nimmt er genau die Rolle ein, die der abwertenden Einstellung gegenüber der Fremdkultur entspricht. Seine Fremdheit ist deshalb für die Gesellschaft harmlos, ja sogar förderlich, da er als Beispiel für die moralisch-kulturelle Abhebung der Gesellschaft gegenüber dem Fremden fungiert. Täubrich selbst ist sich zudem dieses Unterschieds zwischen Eigenem und Fremden nicht bewusst, weshalb er auch den gesellschaftlichen Normierungsdruck nicht spürt. Dies zeigt sich auch daran, dass Täubrich sich immer noch fremdländisch kleidet.407 Zwar wird Täubrichs Leben im Traum in seiner Passivität und Freiheit von gesellschaftlichen Konventionen mit Klaudines Existenz in der Katzenmühle in Verbindung gebracht,408 das Ergebnis ist jedoch nicht dasselbe. Täubrich entgeht der individuellen und gesellschaftlichen Vernichtung, denn er ist vom Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft ausgenommen. Spannungen zwischen diesen beiden Polen scheinen nur dort zu entstehen, wo das Individuum in Relation zur Gesellschaft steht. Klaudine ist, wie bereits erwähnt, abhängig von der Gesellschaft – sie entgeht durch ihren Rückzug in die Katzen-

|| 401 BA 7, S. 257. 402 BA 7, S. 275. 403 BA 7, S. 275. 404 BA 7, S. 275. 405 Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 65. 406 Der Roman verdeutlicht dies auch in der immer wieder kehrenden Thematik des Lachens. Während die anderen mit der Gesellschaft im Konflikt stehenden Individuen darauf mit Lachen reagieren, wird auf Täubrich das Lachen von außen auf ihn herangetragen. Man lacht in der Gesellschaft über ihn – ihn selbst scheint dies aber nicht zu berühren. Vgl. BA 7, S. 149. 407 Vgl. BA 7, S. 147. 408 Vgl. BA 7, S. 276: „Da sitzt auch Ihr in den Traum gerettet, Frau Klaudine.“

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mühle zwar deren Schmähungen, die Vernichtung ihrer individuellen und gesellschaftlichen Existenz am Ende des Romans ist aber durchweg fremdbestimmt. Täubrich hingegen ist für die Gesellschaft bedeutungslos, weil er von dieser nur als armer, halbverrückter Narr gesehen wird.409 Er selbst stellt der von „Armseligkeiten, Mühen und Entbehrungen“410 vollen Wirklichkeit seinen eigenen, individuellen Traum gegenüber und zieht sich darin zurück. Hier und nur hier ist es ihm möglich, in einer als unbezwingbar erfahrenen Welt seine individuelle Freiheit und damit seine eigene Existenz zu bewahren. Leonhard versteht, dass dies, angesichts Nikolas und Klaudines vernichteter Existenz, ein erstrebenswertes Glück ist. Das zeigt sich auch im Schlussbild Täubrichs, der, nicht wissend „ob’s auch wahr ist und kein Traum“,411 „es so gut [hat], wie [er] es [sich] niemals im Wachen und im Schlaf erträumte“.412 An ihm zeigt sich am klarsten, dass es letztendlich nicht um die Herausforderung und Veränderung der gesellschaftlichen Normen geht, darum den Gegensatz zwischen Eigenem und Fremden, zwischen Individuum und Gesellschaft zu überwinden, sondern um die individuelle Zufriedenheit mit seinem Leben. Dies gelingt Täubrich und auch Leonhard jeweils auf ihre Weise.

|| 409 Vgl. BA 7, S. 258: „Die Leute sagen nun, grad vor der Tür des Narrenhauses sei ich abgesetzt worden, und die meisten von ihnen mögen auch wohl das Recht dazu haben, aber nicht alle.“ 410 BA 7, S. 147. 411 BA 7, S. 380. 412 BA 7, S. 379.

3 Das Individuum zwischen Isolation und Selbstdarstellung: Stopfkuchen In Wilhelm Raabes 1891 veröffentlichtem Roman Stopfkuchen1 erzählt Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen, seinem Freund Eduard, der zu Besuch aus Afrika in der Heimat war, seine Lebensgeschichte. Zu Eduards Erstaunen hat Stopfkuchen seinen Kindheitstraum wahrgemacht und lebt nun auf der Roten Schanze, dem früheren Bauernhof des unter Mordverdacht stehenden Bauern Andreas Quakatz. Im Gegensatz zu Abu Telfan ist in diesem Roman keine eindeutige Trennung zwischen gesellschaftlichen Faktoren und ihren individuellen Konsequenzen mehr zu erkennen. Dies liegt einerseits an der Erzählsituation, die von Stopfkuchen dominiert wird und so nur eine eingeschränkte Sichtweise auf gesellschaftliche Zusammenhänge zulässt, andererseits an der historischen Perspektive auf individuelle und gesellschaftliche Begebenheiten. Durch die Spiegelung gegenwärtiger Ereignisse an der Vergangenheit wird im Roman das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft relativiert und insbesondere auf eine individuelle Sichtweise reduziert. Einzig anhand kleinerer Erwähnungen der gesellschaftlichen Zusammensetzung der Stadt oder den Verhältnissen in der Schule können Rückschlüsse auf die allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnisse gezogen werden. Die Lage des Erzählers Eduard, der Mordfall Kienbaum und Stopfkuchens Lebensgeschichte, sind mit den individuellen Auswirkungen sozialer Ausgrenzung sowie der Frage nach dem Bestehen des Individuums in der Gesellschaft verbunden, sodass eine von den gesellschaftlichen Begebenheiten separate Analyse dieser Fälle ihren Zweck verfehlen würde. Ausgehend von einer Analyse der Bedeutung der Vergangenheit für das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, wird im Folgenden zunächst anhand der im Roman enthaltenen Philisterkritik die Konkurrenz zwischen den individuellen Lebensentwürfen und dem bürgerlichen Selbstverständnis Eduards behandelt. Anschließend wird der Mordfall Kienbaum und seine juristische und gesellschaftliche Bedeutung beschrieben, bevor, basierend auf Stopfkuchens Rolle und Intentionen hinsichtlich der Mordaufklärung, die gesellschaftlichen und moralischen Hintergründe des Mörders Störzer betrachtet werden.

|| 1 Wilhelm Raabe: Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte. In: Ders.: Sämtliche Werke. Im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft hg. von Karl Hoppe. Bd. 18: Stopfkuchen. Gutmanns Reisen. Bearbeitet von Karl Hoppe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1963 [=BA 18]. https://doi.org/10.1515/9783110670684-003

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Im Schlusskapitel wird dann Stopfkuchens Devianz und Bildungskritik sowie die Problematik seiner Selbstdarstellung als ein von der Gesellschaft unabhängiges Individuum genauer analysiert.

3.1 Individuelle Historie zur Relativierung des Gegensatzes zwischen Individuum und Gesellschaft Waren in Abu Telfan noch Eigenes und Fremdes bestimmend für den Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft, wird dieser in Stopfkuchen historisiert. Sowohl Stopfkuchen als auch Eduard sehen ihre Lebensgeschichte historisch begründet – Eduard in den Kindheitserinnerungen an seinen Freund Störzer sowie Le Vaillants Weltgeschichte2 und Stopfkuchen in seinem Studium der Roten Schanze: Und wenn auch du die halbe neue Weltgeschichte miterlebt und in Afrika selber miterlebt hast, Eduard, das musst du doch auch noch wissen, dass in meines Vaters Hausgiebel eine Kanonenkugel stak und heute noch steckt, die er – der Xaverl – damals im Siebenjährigen Krieg zu uns in die Stadt hineingeschossen hat! […] Na, ich habe um alles andere in der Schule Prügel gekriegt, nur um den Siebenjährigen Krieg nicht; und daran ist die Geschützkugel des Prinzen Xaver an unserer Hauswand, die Kugel, die von der Roten Schanze hergekommen war, schuld gewesen, und sie hat mir dann auch so im Laufe der Zeiten zum Tinchen Quakatz und zu der Roten Schanze verholfen. (BA 18, S. 68)

Die Vergangenheit wird somit identitätsbestimmend.3 Das Individuum schöpft aus seiner Vergangenheit seine Sonderstellung – sein individuelles „Schicksal“.4 So stellt sich auch der größere geschichtliche Zusammenhang dar. Die „[e]rinnerte Geschichte […] ist in der Gegenwart akut präsent, geschichtliche Energien werden als aktiv bedingende Faktoren im Zustandekommen der zeitgenössischen Wirklichkeit erkannt“.5 Sowohl die Lokalgeschichte über den Siebenjährigen Krieg als auch die urzeitliche Historie dienen als Spiegelbilder || 2 Katharina Grätz sieht Eduards Begründung seiner Lebensgeschichte nur in räumlichgeografischer Perspektive, übersieht dabei aber die Bedeutung, die die Erinnerung für ihn hat. Vgl. Katharina Grätz: Alte und neue Knochen in Wilhelm Raabes Stopfkuchen. Zum Problem historischer Relativität und seiner narrativen Bewältigung. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 42 (1998), S. 248. Vgl. hierzu auch Brian Tucker: Wilhelm Raabe’s Stopfkuchen and the ground of memory. In: Monatshefte 95/4 (2003), S. 570. 3 Vgl. Brian Tucker: Stopfkuchen and the ground of memory, S. 568. 4 Vgl. BA 18, S. 62. 5 Nicholas Saul: Raabes Geschichte(n). Realismus, Erzählen, Historie, Prähistorie. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 49 (2009), S. 23.

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für die gegenwärtigen Geschehnisse des Romans. Dabei prallen immer wieder zwei Erklärungsmodelle für die Stellung des Menschen zu seiner Umwelt aufeinander: Der historisierende Ansatz von Geologie und Paläontologie und der biblische Diskurs. So wird beispielsweise die Rote Schanze vom Bauern Quakatz in seinem individuellen Streit mit der Gesellschaft als Überrest der Sintflut,6 als Arche gegen die „schlimme Welt“,7 gesehen. Demgegenüber steht ihre neuere Historie des Siebenjährigen Krieges, deren „Rechtsnachfolger“8 immer noch in der Stadt leben, und der Kanonenkugel in Stopfkuchens Elternhaus,9 die diesen nicht nur zu seiner Eroberung des alten Bauernhofs, sondern auch zur Bombardierung des Philistertums inspiriert.10 Auch Valentine begreift diese Konkurrenz biblischer und paläontologischer Ansichten: [W]enn ich mich jetzt als erwachsene, alte Frau in meinen Zustand als Quakatzens Mädchen von der Roten Schanze zurückdenke und es mir überlege, wie es gekommen ist und wie es die Vorsehung angefangen hat, daß ich durch Heinrichs Bekanntschaft aus einem verwilderten Tier zur Ruhe und ins Menschliche hineinkam, so soll mir keiner meinen Glauben an den lieben Gott aus der Bibel und dem Gesangbuche streichen: auch selbst der, mein Alter, nicht mit seinen Knochen und Versteinerungen und seinen Briefen und Drucksachen von seinen gelehrten Gesellschaften. (BA 18, S. 113)

Katharina Brundiek legt dar, dass „die Konfrontation paläontologischer oder geologischer Erklärungsmodelle mit der Bibel […] im 19. Jahrhundert nahe[liegt]“.11 Während die Bibel den Menschen dabei zur heilsgeschichtlichen Sonderposition aufwertet, wird die Menschheitsgeschichte durch die „Petrefaktenkunde“12 auf ihre Überreste – Knochen und Koprolithen13 – reduziert und somit relativiert.14 In Stopfkuchen selbst potenzieren sich schließlich diese Gegensätze: Als gescheiterter Theologe mit Nähe zum biblischen Noah15 spielt er immer wieder auf biblische Diskurse an.16 Dabei verwendet er das Bibelzitat außerhalb seiner herkömmlichen Lesart, insbesondere indem er es kritisch|| 6 BA 18, S. 99. 7 BA 18, S. 23. 8 BA 18, S. 99. 9 Vgl. BA 18, S. 68. 10 Vgl. BA 18, S. 38. 11 Katharina Brundiek: Raabes Antworten auf Darwin. Beobachtungen an der Schnittstelle von Diskursen. Göttingen: Universitätsverlag 2005, S. 139. 12 BA 18, S. 100. 13 Vgl. BA 18, S. 78. 14 Vgl. Katharina Grätz: Alte und neue Knochen, S. 253. 15 Vgl. Heinrich Detering: Theodizee und Erzählverfahren, S. 203–205. 16 Vgl. BA 18, S. 172–174.

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ironisch kommentiert.17 Die Bibel steht dabei für den naiven Glauben an herkömmlich Tradiertes, die „Gleichsetzung von tatsächlich ereigneter und literarisch erzählter Geschichte“.18 An ihr wird das konventionelle und anthropozentrische Weltbild der übrigen Gesellschaft hinterfragt.19 Demgegenüber steht Stopfkuchens Rolle als erfolgreicher und in Fachkreisen anerkannter Paläontologe mit „historische[m] Sinn“,20 der nicht nur die Knochen seines urzeitlichen Konterfeis – einem Riesenfaultier21 – ausgräbt, sondern auch den eigentlichen Mörder des Viehhändlers Kienbaum entdeckt. Quakatz’ „biblische[r] Weltdeutung“,22 die Rote Schanze wäre eine „Anschwemmung von der Sündflut her“,23 stellt er so seine paläontologische Sichtweise entgegen.24 Und auch dem Mörder Störzer, der seine Tat geradezu mit den biblischen Bildern von Schuld und Sühne umdeutet, begegnet Stopfkuchen mit der eigenen Aussprache mit seinem „Olimsfaultier“:25 Diesmal ging ich zuerst hinten in die Kammer zu meinem Riesenfaultier, besah mir dessen saubere Reste noch einmal und sagte: „Alter Gesell, was hätte es denn dir gemacht, wenn Stopfkuchen ein paar Wochen oder Jahre dich später aufgedeckt hätte?“ Und nachdem das gute Tier mir die genügende Antwort gegeben hatte, ging ich wieder zum Tinchen und besah auch das mir wieder einmal genau […]. (BA 18, S. 180)

Paläontologie und Geschichte stehen dabei für den objektiven Erklärungsversuch des Zusammenhangs zwischen Gegenwart und Vergangenheit, der „nicht der Absicherung und Fortschreibung dient“.26 Stopfkuchens „Petrefaktenkunde“ zeigt den Menschen als Teil der Entwicklung der Erdgeschichte, die immer

|| 17 Das beste Beispiel hierfür ist Stopfkuchens Leitspruch über seiner Tür und die verschiedenen Verwendungen des „Kastens“ im Roman. Vgl. BA 18, S. 75, 96, 135, 165. 18 Mark Lehrer: Der ausgegrabene Heinrich Schliemann und der begrabene Theodor Storm. Anspielungen auf Zeitgenossen in Raabes Stopfkuchen. In: Jahrbuch der Raabe Gesellschaft 30 (1989), S. 76. 19 Vgl. Mark Lehrer: Der ausgegrabene Heinrich Schliemann, S. 77. 20 BA 18, S. 70. 21 Vgl. BA 18, S. 111. 22 Katharina Brundiek : Raabes Antworten auf Darwin, S. 139. 23 BA 18, S. 99. 24 Vgl. BA 18, S. 100: „Zwischen der Trias und der Kreide nichts als Wasser, und die erste nächste Insel dort der blaue Berg im Süden! Wenn das Feuchte sich in der Eozänzeit etwas zurückzog, in der Miozänzeit es, was man jetzt nennt, trocken wurde und wenn es in der Pliozänzeit sogar dann und wann hier über der Roten Schanze schon staubte, so war das dem Bauer auf derselben ganz einerlei.“ 25 BA 18, S. 169. 26 Katharina Brundiek: Raabes Antworten auf Darwin, S. 138.

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noch andauert. Statt Krone der Schöpfung zu sein, wird der Mensch „in einen größeren Zusammenhang [eingerückt], so dass eine erdzeitliche Betrachtung den Menschen marginalisiert und einer anthropozentrischen Sichtweise widerspricht“.27 Dadurch kann die Historie allerdings keine allgemeine Erklärung bieten, sondern wird auf das Individuelle reduziert.28 Indem das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft historisiert wird, wird es in Stopfkuchen gleichzeitig aufgehoben: Gegenwart und Vergangenheit werden miteinander in Beziehung gesetzt und zeigen so die Bedingtheit gegenwärtigen Daseins, „indem sie auf die vormalige Existenz anderer Welten bzw. die aktuelle Existenz von anderen Schichten verweisen“.29 Mit dieser Sichtweise erscheinen überindividuelle, gesellschaftliche Zusammenhänge unbedeutend, da „Lebensformen, Werte, Gesetze, ja Wahrheiten […] als zeitgebunden erkannt“30 werden. Auch räumliche Entfernungen werden von der Aufhebung dieser Gegensätze nicht ausgenommen. So zeigt Stopfkuchen die Übereinstimmung räumlicher und zeitlicher Ferne, indem er darauf verweist, dass in vormaliger Zeit auf der Roten Schanze gleiche Bedingungen wie in Afrika herrschten.31 Auch sein Haus zeugt von diesem „Zauber des Gegensatzes“,32 wenn er den „Koprolithenschrank“ in der Küche aufbewahrt.33 Die Vergangenheit bedeutet einerseits eine Relativierung der Gegensätze zwischen Individuum und Gesellschaft, andererseits wirkt sie identitätsstiftend für das Individuum. Während Eduard sich selbst und seinen individuellen Lebensweg über seine Kindheitserlebnisse und Le Vaillants Weltgeschichte zeitlich in die Vergangenheit einzugliedern sucht, nimmt sich Stopfkuchen durch seine historisch-relativierende Perspektive davon aus. Statt sich seiner Identität durch Integration in die Vergangenheit zu versichern, nutzt er die Vergangenheit, um sich von der gesellschaftlichen Gegenwart abzugrenzen und sich dagegen zu behaupten.34 Das Motiv des „überlegenen Mensch[en]“,35 der mithilfe der Geschichtswissenschaften „eine ganze Stadt, ein ganzes Gemeinwesen wissen-

|| 27 Katharina Brundiek: Raabes Antworten auf Darwin, S. 137. 28 Vgl. Katharina Grätz: Alte und neue Knochen, S. 246. 29 Katharina Brundiek: Raabes Antworten auf Darwin, S. 142. 30 Katharina Grätz: Alte und neue Knochen, S. 254. 31 Vgl. BA 18, S. 100: „O Eduard, in der Tertiärzeit soll es hier noch so heiß gewesen sein wie heute bei dir zu Hause im heißesten Afrika.“ Vgl. auch Katharina Brundiek: Raabes Antworten auf Darwin, S. 135. 32 BA 18, S. 77. 33 Vgl. BA 18, S. 78. 34 Vgl. Katharina Grätz: Alte und neue Knochen, S. 246. 35 BA 18, S. 71.

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schaftlich in die Tasche“36 steckt, wird immer wieder mit Stopfkuchens Gabe einer Geschichtsperspektive, die unabhängig vom zeitlichen Standpunkt sein soll, in Verbindung gebracht.37 Tatsächlich bedient sich Stopfkuchen dieser Sichtweise, er ist sich der eigenen zeitlichen Bedingtheit bewusst und nimmt sich so aus den überindividuellen Zusammenhängen aus.38 Dies dient ihm aber vielmehr der Versicherung seiner eigenen Identität, deren zentraler Bestandteil eben die eigene Überlegenheit ist.39 Die Vergangenheit ist nicht Ausdruck, sondern Mittel, um das Individuum zu verorten. Da durch die überzeitliche Perspektive das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft relativiert wird, ist sie eben nur individueller Spiegelpunkt zur eigenen Wirklichkeit. Aus einer bestimmten Sichtweise auf die Vergangenheit, wird das individuelle Schicksal begründet – Stopfkuchen gelingt es, sich dadurch über seine Umgebung zu erheben, und Eduard verschlägt es schließlich nach Afrika. Daraus ergibt sich aber auch eine persönliche Sichtweise auf die Bedeutung gegenwärtiger Existenz und individueller Wahrheit. Ralf Simon beschreibt Stopfkuchens historische Aufarbeitung der Mordgeschichte und weist darauf hin, dass er damit nicht auf eine allgemeine Wahrheit, sondern eine individuelle Interpretation historischer Ereignisse abzielt.40 Überzeugt von der Relativität zeitgebundener Bedingungen, kommt Stopfkuchen zur Einsicht, dass auch Wahrheiten individuell und damit letztendlich unbedeutend sind. Hieraus ergibt sich auch die besondere Sichtweise, die der Roman auf das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft bietet: Durch die historische Perspektive werden überindividuelle Verhältnisse als zeitgebunden dargestellt und somit in ihrer Bedeutung relativiert. Sowohl gesellschaftliche Faktoren, wie Normen und Werte, als auch die Wahrheit werden hinsichtlich ihrer zeitlichen Bedingtheit bedeutungslos. Die Vergangenheit bietet dabei für das Individuum immer nur einen persönli|| 36 BA 18, S. 71. 37 Vgl. Katharina Grätz: Alte und neue Knochen, S. 256–259; Katharina Brundiek: Raabes Antworten auf Darwin, S. 141. 38 Das Bild der Knochen ist hierfür sinnbildlich. Vgl. BA 18, S. 170: „Das andere Gerippe, unseren Freund Hein, hielt ich freilich nicht dadurch von der Roten Schanze ab. Das fraß den Bauer Quakatz, wie es den Prinzen Xaver von Sachsen gefressen hatte, von Kienbaum gar nicht mehr zu reden.“ Stopfkuchen nimmt sich selbst hiervon nicht aus. Vgl. BA 18, S. 100: „Die Vorstellung, in einer spätern Schicht auch mal unter den merkwürdigen Versteinerungen gefunden zu werden, hat für den gemütlich angelegten, denkenden Menschen so viel Anregendes, daß sie ihn, und noch dazu, wenn er Zeit dafür hat, unbedingt in die Petrefaktenkunde, in die Paläontologie, führt.“ 39 So nennt sich Stopfkuchen selbst einen überlegenen Menschen. Vgl. BA 18, S. 96. 40 Vgl. Ralf Simon: Raabes literarische Historik. In: Jahrbuch der Raabe Gesellschaft 50 (2009), S. 18–21.

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chen Bezugspunkt für die Gegenwart und liefert keine allgemeingültigen Aussagen. Dadurch wird aber auch das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft brüchig. Durch die Existenz multipler Schichten, Vergangenheiten und bisweilen Wahrheiten, ist das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft nicht mehr allgemein-eindeutig, sondern wird individuell interpretierbar. Aus dieser Begründung der individuellen Lebenswege in der Vergangenheit ergeben sich auch die individuellen Sichtweisen Stopfkuchens und Eduards, aber auch Störzers, auf ihre Beziehung zur Gesellschaft.

3.2 Das bürgerliche Selbstverständnis 3.2.1 Der „Spießbürger in seiner Kneipe“: Philisterkritik Ein zentraler zeitkritischer Aspekt in Stopfkuchen ist die im Roman enthaltene Kritik an der philiströsen Gesellschaft. Im Gegensatz zu Abu Telfan wird hier zwar die Gesellschaft nach wie vor kritisch betrachtet, jetzt aber vom Geschehen „ferngehalten und nicht unmittelbar erfahren“.41 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Sozialkritik eine geringere Rolle im Roman einnimmt42 – im Gegenteil – ist sie ja beständiges Ziel der Bemerkungen Stopfkuchens, da dieser der „Philisterweltanschauung den Fuß auf den Kopf setzen“43 will: „Ja von uns dreien alleine weiß ich auch nur was. Ich bin niemals auf einer Insel im Meere gewesen, aber wie ich das mir vorstelle, so waren wir drei zusammen wie eine Insel im Meere.“ „Aber ein sauberer Brei, dickflüssig, graugelb, mit grünen Schimmelflecken qualmte statt der blauen karibischen See drum herum und roch nach Pech, Schwefel und noch viel Schlimmern!“ (BA 18, S. 104)

Auch das von Stopfkuchen verwendete Motto – „[d]a redete Gott mit Noah und sprach: Gehe aus dem Kasten“44 – bedeutet letztendlich die Abwendung von der „streng normierte[n] Lebensvorstellung der deutschen spießbürgerlichen Gesellschaft“.45 Repräsentiert wird diese im Besonderen durch den „richtige[n] deutsche[n] Spießbürger in seiner Kneipe“,46 der dabei wiederholt ironisiert und dadurch deutlich kritisiert wird. Der Typus des Philisters prägt spätestens seit || 41 Stanley Radcliffe: Der Sonderling, S. 51. 42 Vgl. Stanley Radcliffe: Der Sonderling, S. 51. 43 BA 18, S. 197. 44 BA 18, S. 75. 45 Michel Kokora: Die Ferne in der Nähe, S. 65. 46 BA 18, S. 12.

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der Romantik den kulturkritischen Diskurs.47 Als Abhebung einer „jungen Generation […] vom älteren Bürger und seinen Alltagspflichten“48 wird der Philister folgendermaßen charakterisiert: Der Bürger wählt die Enge kleinbürgerlicher Bescheidenheit, die Bindung an Amt und Familie, Rückzug in das Gehäuse des Gewöhnlichen und Mittelmäßigen. Seine Seele vertrocknet in Dürftigkeit, sein geistiger Schwung erlahmt in Beschränktheit.49

Raabe stellt sich mit seiner Kritik am Spießbürger bzw. Philister in die Tradition der Romantik und problematisiert „den ununterdrückbaren Abgrenzungszwang und die ebenso unverkennbare Schwierigkeit der Abgrenzung zum Philister“.50 So fällt die Unterscheidung zwischen Spießbürger und der allgemeinen, bürgerlichen Gesellschaft schwer. Erhält in Abu Telfan noch „der germanische Genius ein Drittel seiner Kraft aus dem Philistertum“,51 ist in Stopfkuchen keine Trennung mehr spürbar: Man nimmt „stets den unrichtigen für den richtigen“.52 Als soziologischer Nebeneffekt dieser Verschmelzung der kleingeistigen PhilisterKreise mit dem Bürgerlichen übernimmt das Philistertum hier sozusagen „institutionell noch unstrukturiert[...]“53 die gesellschaftliche Funktion der sozialen Kontrolle. Harald Neumeyer setzt sich mit den in Stopfkuchen dargestellten Kommunikationsprozessen der Gasthäuser auseinander und zeigt auf, dass die || 47 Für einen Überblick sei auf Dieter Arendt: Brentanos Philister-Rede, S. 81–102 sowie Gerd Stein: Philister – Kleinbürger – Spießer, S. 9–18 verwiesen. 48 Dieter Arendt: Brentanos Philister-Rede, S. 83. 49 Siegfried Hajek: Der Wanderer, der Philister, der Scheiternde. Grundfiguren bei Eichendorff. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 16 (1975), S. 49. 50 Jeong-Hee Bae: Erfahrung der Moderne und Formen des realistischen Romans: Eine Untersuchung zu soziologischen und romanpoetologischen Aspekten in den späten Romanen von Raabe, Fontane und Keller. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 58. Vgl. hierzu auch Dieter Arendt: Brentanos Philister-Rede, S. 87–89. 51 BA 7, S. 357. In Abu Telfan zeigen sich die Philister damit einer unabhängigen Entwicklung bisweilen sogar dienlich und erscheinen beispielsweise, wenn Hugo an die verschlafenen Philister denkt, harmlos und liebenswürdig, gerade im Gegensatz zu den Intrigen der Residenz. 52 BA 18, S. 12. Vgl. hierzu auch Jeong-Hee Bae: Erfahrung der Moderne, S. 58–61: Jeong-Hee Bae untersucht die Darstellung der Philister in Stopfkuchen und zeigt auf, dass die „fließende Grenze zwischen dem Philister und dem Nicht-Philister […] der innergesellschaftliche Aspekt der mentalen kulturellen Gesamtsituation einer nach Übersee expandierenden bürgerlichen kapitalistischen Kultur [ist]“ (Jeong-Hee Bae: Erfahrung der Moderne, S. 60). Herman Meyer sieht hingegen in Abu Telfan einen radikalen Gegensatz zwischen Philistertum und „wesentliche[m] Menschentum“ – die Kraft, die der germanische Genius aus dem Philistertum ziehe, sei dabei nur eine Vorausdeutung auf Stopfkuchen. Vgl. Herman Meyer: Raum und Zeit in Wilhelm Raabes Erzählkunst. In: DVjs 27 (1953), S. 252. 53 Jeong-Hee Bae: Erfahrung der Moderne, S. 54.

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„gute[...] Gesellschaft“54 des Brummersumms und Goldenen Arms letztendlich über soziale In- und Exklusion des Einzelnen entscheidet.55 Dabei beschränkt sie sich in ihren Kneipengesprächen aber auf bloßen Tratsch: das „so wichtig genommene[...] Umweltgeschehen[...]“.56 Ähnlich dem Goldenen Pfau im Roman Abu Telfan zeigt sich hier eine Gesellschaft, die durch ihre angesehenen Mitglieder soziale Macht innehat. Nur die Spießigsten der Philister versammeln sich im Brummersumm und Goldenen Arm – eine Tatsache, die gerade durch die Abwesenheit Stopfkuchens57 unterstrichen wird. Die dort vertretenen Persönlichkeiten – allesamt „wohlverdiente[...] und wohlverdienende[...] brave[...] Philister und gute[...] Leute[...] und Staatsbürger[...]“,58 vom Beamten der Kaiserlichen Reichspost59 bis hin zum Staatsanwalt60 – wissen, „was im bürgerlichen Leben das Richtige ist“.61 Dabei beschränken sich ihre Ansichten aber in philiströser Weise auf das bloße Alltagsleben:62 Wo in aller Welt als wie so im Brummersumm läßt sich denn der Spieß leichter umdrehen, auf daß man die langweilige, die dumme, die abgeschmackte, die boshafte, die neidische Welt drauflaufen lasse? Und wo kann man kräftiger nachstoßen, um das überleidige Untier völlig zu Boden zu bringen? (BA 18, S. 12)

Die Gesellschaft zeigt sich in ihrem Philistertum erstarrt: Anstatt des „Volkes Stimme“63 zu sein, für das sie sich hält, ergötzt sie sich lediglich an kleingeistigem Tratsch. Allerhöchstes Ziel und bürgerliche Pflicht64 ist es dabei, auf die

|| 54 BA 18, S. 9. 55 Vgl. hierzu: Harald Neumeyer: Rederaum Gasthaus. Zur Konstruktion von Wirklichkeit in Theodor Storms Der Schimmelreiter und Wilhelm Raabes Stopfkuchen. In: Jahrbuch der RaabeGesellschaft 52 (2011), S. 93. Harald Neumeyer zeigt dies anhand der Funktion des Gasthauses als Schwellenraum auf, der das Fremde sowohl als Ort der Ortlosen inkludiert, als auch ausschließt, indem sie weiterziehen. 56 Günther Matschke: Isolation, S. 103. 57 Vgl. BA 18, S. 13. 58 BA 18, S. 136. 59 Vgl. BA 18, S. 13. 60 Vgl. BA 18, S. 194. 61 BA 18, S. 136. 62 Bereits in der Romantik bestimmt die Gegenüberstellung von Student und Philister den kulturkritischen Philister-Diskurs. Während die Studenten geistige Unbegrenztheit und Fantasie auszeichnen, strebt der Philister Austerität, Häuslichkeit und Alltäglichkeit – ein Leben wie jeder – an. Vgl. hierzu Dieter Arendt: Brentanos Philister-Rede, S. 83–86. 63 BA 18, S. 136. 64 Vgl. BA 18, S. 38: „Habe ich nicht die Verpflichtung, wenigstens einmal durchs Examen zu fallen meinen guten Eltern zuliebe.“

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Erlangung „alle[r] bürgerlichen Ehrenhaftigkeiten“65 und die Aufrechterhaltung des guten Rufs66 zu achten. Alltäglichkeit, häusliche und geistige Beschränktheit sowie das Bestreben nach „Gleichmaß, Sicherheit, Ruhe und Ordnung“67 bestimmen das bürgerlich-philiströse Leben. So zeichnet sich auch die Stadt als Sinnbild dieses Philistertums aus: Tiefer Friede in der Natur und die Stadt still und reinlich! Es war immer ein Gemeinwesen gewesen, das auf Reinlichkeit, Ordnung, grüne Bäume auf den Marktplätzen und in den breitern Straßen, auf sprudelnde Brunnen, und was sonst hierzu gehört, viel gehalten hatte. Auch die Weltgeschichte, das heißt in diesem Falle der Prinz Xaver von Sachsen mit seinem Bombardement und nach ihm mehrere Brände hatten das Ihrige getan, die Stadt dem laufenden Tage hübsch und wohlerhalten zu überliefern, indem sie manch altes Gerümpel aus dem Wege geräumt hatten. Es war, alles in allem, ein Gemeinwesen, in das man gern abends vom Felde und aus dem Walde nach Hause kam und in welchem man dreist die Fenster öffnen durfte, ohne sie sofort wieder schließen zu müssen mit dem Ächzwort: „Pfui Deubel, stinkt das heute mal wieder!“ (BA 18, S. 156)

Dass Stopfkuchen davon träumt, „ein Menschenalter durch spuken [zu] gehen und einer respektablen Nachbarschaft zum Überdruß [zu] werden“,68 bricht das hier aufgebaute Stadtidyll. Was nämlich aus dem Rahmen der „nach einer strengen Hierarchie organisierten Ordnung“69 fällt, erfährt die Macht der konformen Öffentlichkeit, die diese in sozialen Ausgrenzungspraktiken verübt. So ergeht es auch Stopfkuchen, der nach seinem Rauswurf durch den Vater Opfer der „trostlosesten Philister der Stadt“70 wird, die über sein Unglück wie „ein gefundenes Fressen“71 herfallen. Für die Gesellschaft erhält das Gasthaus hier als „diskursiver Ort“72 die Funktion der sozialen Ein- bzw. Ausgrenzung, indem sie Stopfkuchen zum Gegenstand des Gesprächs und vor allem ihres Spotts macht: Selbstverständlich kam sofort bei meinem Eintritt in das alte, wohlbekannte Eckzimmer die Rede auf mich. Man war so freundlich, sich zu freuen, mich noch zu sehen: je später

|| 65 BA 18, S. 83. 66 Vgl. BA 18, S. 46. 67 Dieter Arendt: Brentanos Philister-Rede, S. 85. Dass dies insbesondere Begriffe, die mit der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts verbunden werden, sind, sei hier nochmal herausgestellt. Vgl. Hermann Bausinger: Bürgerlichkeit und Kultur, S. 122. 68 BA 18, S. 155. 69 Karin Kluger: Problematisierung der Idylle, S. 41. 70 BA 18, S. 133. 71 BA 18, S. 133. 72 Harald Neumeyer: Rederaum Gasthaus, S. 94.

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der Abend, desto schöner die Leute! Aber daß man bereits ziemlich genau wußte, wie es mit mir daheim im Vaterhause stand, war klar und quoll rundum auf in jedem lautern Wort und leisen Geflüster. Wenn sie auch um alles in der Welt nicht gern in meiner Haut gesteckt hätten, so hätten sie doch allesamt unmenschlich gern gewusst, wie ich mich bei so bewandter Lebenslage in mir fühle. (BA 18, S. 134)

Nach öffentlicher Meinung hat Stopfkuchen gesellschaftlich versagt – er hat die bürgerlichen Anforderungen nach Leistung und Ehre, kurz nach einem Alltagsleben, wie es jeder in der Kneipe führt, nicht erfüllt – und als Konsequenz wird er aus ihren Kreisen ausgestoßen: Sie kamen auch zu mir. Sie schickten auch mir eine Deputation, eine Abordnung, wenn nicht mit der Aufforderung, so doch mit der Bitte: „Gehe uns aus dem Kasten!“ Wer hätte so herzlichem Anflehen widerstehen können, zumal da auch von Hause ein ähnliches Rufen kam. (BA 18, S. 135)

Auch Quakatz erfährt Ähnliches, da sich seine vermeintliche Tat in den Gasthäusern verbreitet und er dadurch dort in einer Art „juristische[m] Prozess“73 sozial stigmatisiert wird.74 Das Gasthaus wird hier zum sozialen Ort, an dem Entscheidungen über die Zugehörigkeit zur Gesellschaft getroffen werden. Damit erhält es auch in seiner Zusammensetzung durch den Stammtisch mit festen Mitgliedern familiäre Züge. Zwar außerhalb des familiären Bereichs angesiedelt, übernimmt das Gasthaus die Funktion der gesellschaftlichen Institution Familie, indem die Stammtischmitglieder über soziale In- und Exklusion entscheiden. Dabei basiert die öffentliche Meinungsbildung aber allein auf subjektiven Kriterien, die sich aus dem „kleinbürgerlichen Erwerbs- und Alltagsleben“75 ergeben. Durch Stopfkuchens Gegenüberstellung dieser Entscheidungskriterien der Philister mit den existenziell-menschlichen Problemen von Quakatz, Tine und ihm selbst, erscheinen sie somit geradezu banal: Ich stand plötzlich mit sehr beunruhigtem Gewissen und mit einem herzlichen Mitleid mit dem alten Mann draußen in der Straße im wehenden Sturm und treibenden Schnee und konnte dreist von neuem die bittere Frage an das ewige Dunkel und die gegenwärtige Finsternis stellen: Wer hatte eigentlich das Recht, dich so als geistigen und körperlichen Kretin so hier hinzustellen: so! – ? – Glücklicherweise war im Goldenen Arm Licht und da ich doch in der Straße nicht stehenbleiben konnte, ging ich hinüber […]. Juchhe, lauter gute alte Bekannte, die sich zwischen Schoppen und Schoppen immer das Beste wünschten und mir natürlich auch, - an diesem Abend sogar in ausgiebigster Fülle! Ich kam

|| 73 Harald Neumeyer: Rederaum Gasthaus, S. 95. 74 Vgl. BA 18, S. 191. 75 Jeong-Hee Bae: Erfahrung der Moderne, S. 57.

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ihnen grade zur rechten Zeit, bei sinkender Unterhaltung und epidemischer Maulfäule wahrhaftig als ein gefundenes Fressen; und ich hatte bloß hinzuhorchen, um von ihnen die Antwort auf jenes große fragende Warum hinzunehmen. (BA 18, S. 133)

Die „gymnastische Affenrepublik“,76 die den Wert oder gar die Nöte Anderer nicht wahrhaben will und trotzdem darüber bestimmt, ist in ihrer alltäglichphiliströsen Beschränktheit erstarrt. Als Ausschließungsmechanismus bedient sich das Philistertum dabei der Zerstörung des Rufs, indem sie diejenigen, die aus ihrem gewöhnlichen Rahmen fallen, verspottet oder sozial verfemt. Dies wird durch Stopfkuchens ironische Kommentare immer wieder kritisiert. Dabei wird der „Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung teils irrationalisiert […], teils als Spießbürgertum entpolitisiert“.77 Die Gesellschaft, die als reines Philistertum dargestellt wird, erweist sich solcher Entscheidungsprozesse unwürdig, da sie sich allein auf eine subjektive Art der Meinungsbildung beschränkt. Der „Spießbürger in seiner Kneipe“ wird somit als Sinnbild der Irrationalität sozialer In- und Exklusion dargestellt, da sich seine Interessen und damit seine Entscheidungskriterien nur auf die Erfüllung der philiströs-gewöhnlichen Normen beschränken und nicht den allgemeinen Wert eines Menschen einschließen.

3.2.2 Verlust der bürgerlichen Selbstsicherheit Eduard ist der eigentliche Erzähler des Romans. Er berichtet auf seiner Heimreise auf dem Schiff nach Afrika von seinem Aufenthalt in der deutschen Heimat und vor allem von seinem letzten Tag, den er auf der Roten Schanze bei Stopfkuchen verbracht hat. Er wird aber „aus der Position des Erzählers langsam herausmanövriert und zum Zuhörer umfunktioniert“,78 da im Laufe des Romans Stopfkuchens Erzählung in den Vordergrund rückt. Dies wird häufig als Beweis gesehen, Eduard sei nur ein „passende[r] Resonanzboden für die endlosen Monologe seines Freundes und ein nützliches Werkzeug für die unmittelbare Ausführung seiner Rache an den Kleinstädtern“.79 Jeffrey Sammons empfindet Eduard dagegen als „the more difficult character to grasp“:80

|| 76 BA 18, S. 89. 77 Jeong-Hee Bae: Erfahrung der Moderne, S. 57. 78 Gabriele Varo: Feindlichkeit, S. 109. 79 William T. Webster: Idealisierung oder Ironie? Verstehen und Mißverstehen in Wilhelm Raabes Stopfkuchen. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 19 (1978), S. 151. Diese Meinung vertreten beispielsweise: Herman Meyer: Raum und Zeit, S. 250; Roy Pascal: Die Erinnerungstechnik bei Raabe. In: Raabe in neuer Sicht. Hg. von Hermann Helmers. Stuttgart: Kohlhammer

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This is because, like so much in Raabe, he is located in an area of transition between traditional and modern narration. On the one hand, he is a first-person version of the nineteenth-century omniscient narrator […], with a supernatural memory, especially for conversation, and a reliably realistic apprehension of phenomena. […] On the other hand, he is an unreliable narrator, not so much in what he recounts, as in his own response to his experience. He registers what has happened, but he does not seem able fully to comprehend it.81

Stopfkuchens Übernahme der Erzählung zeigt so den bedeutsamen Einfluss, den er auf Eduard gewinnt.82 Eduards Schreiben ist „eine innerlich motivierte Handlung“,83 um das Geschehene zu verarbeiten und die Wirkung, die Stopfkuchen auf ihn hat, zu verstehen.84 Der eigentliche Grund für die „Erschütterung seiner Weltordnung“85 ist, dass Eduard bis zu seinem Besuch bei Stopfkuchen seine Heimat, sich selbst und seine Kindheit „nie irgendeiner kritischen Betrachtung unterworfen“86 hat. Webster verweist hierbei auf den Beginn des Romans, nämlich Eduards „unbewußt naive Selbstdarstellung“:87 Es liegt mir daran, gleich in den ersten Zeilen dieser Niederschrift zu beweisen oder darzutun, daß ich noch zu den Gebildeten mich zählen darf. Nämlich ich habe es in Südafrika zu einem Vermögen gebracht, und das bringen Leute ohne tote Sprachen, Literatur, Kunstgeschichte und Philosophie eigentlich am leichtesten und besten zustande. Und so ist es im Grunde auch das Richtige und Dienlichste zur Ausbreitung der Kultur; denn man kann doch nicht von jedem deutschen Professor verlangen, daß er auch nach Afrika gehe und sein Wissen an den Mann, das heißt an den Buschmann bringe oder es im Busche sitzenlasse, bloß – um ein Vermögen zu machen. (BA 18, S. 7)

|| 1968, S. 136. Ausschlaggebend für diese Meinung könnte auch Stopfkuchens Einschätzung Eduards als „bloße[r] Chorus in der Tragödie“ (BA 18, S. 167) sein. 80 Jeffrey L. Sammons: Wilhelm Raabe’s Stopfkuchen pro and contra. In: Wilhelm Raabe. Studien zu seinem Leben und Werk. Hg. von Leo A. Lensing und Hans-Werner Peter. Braunschweig: pp-Verlag 1981, S. 282. 81 Jeffrey L. Sammons: Wilhelm Raabe’s Stopfkuchen, S. 282. 82 Vgl. BA 18, S. 62: „Als Geschichtsforscher und Philosoph der Roten Schanze erwies er sich von Augenblick zu Augenblick größer – bedeutender.“ 83 Jeong-Hee Bae: Erfahrung der Moderne, S. 68. 84 Hubert Ohl zeigt auf, dass Stopfkuchen Eduards Lebensweg negativ bewertet und sein Erzählstil allein auf Eduard abzielt, indem er eine Lebenslehre vermitteln will, die zeigt, „daß es eine menschliche Lebensform gibt, die nicht darauf aus ist, ‚etwas Großes‘ zu werden, welcher aber Einsichten in Zusammenhänge zuwachsen können, die den tüchtigen ‚Schnellfüßen‘ verborgen bleiben“. Vgl. Hubert Ohl: Eduards Heimkehr, S. 257–259 (hier S. 259). 85 Hubert Ohl: Eduards Heimkehr, S. 264. 86 William T. Webster: Wirklichkeit und Illusion in den Romanen Wilhelm Raabes. Braunschweig: pp-Verlag 1982, S. 234. 87 William T. Webster: Wirklichkeit und Illusion, S. 234.

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Gleich mit diesen einleitenden Worten, den Andeutungen bezüglich Besitz und Bildung und dem Weitergeben „manch ein[es] Kulturmoment[s]“88 unter den „Buren, Kaffern und Hottentotten“,89 zeigt sich Eduard den bürgerlichen Werten, Ansichten und Allgemeinheitsansprüchen90 verpflichtet. Er beweist einen „nicht allzu kleinen Schuß von Bildungsphilisterei“.91 So erfüllt der „feine, wohlgesittete, mit dem besten Schul-Abgangszeugnis versehene Eduard“92 auch „alle Anforderungen von Schule, Elternhaus und Gesellschaft pünktlich“93 und hält sich an die bürgerlichen Werte – so ist auch Eduard „Stammgast des Brummersumms von Kindsbeinen an“.94 Sein weiterer Lebensweg sowie seine Ansichten sind geprägt von dieser Spießbürgerlichkeit. Er erfüllt die gesellschaftlichen Erwartungen hinsichtlich seiner Bildung – er soll der Stadt „einmal ebenfalls Ehre mach[en] und ihren guten Ruf bei den Leuten aufrechterh[alten]“95 – indem er Schiffsarzt wird96 und muss selbst nach jahrelanger Abwesenheit die heimischen Beamten wie „Bürgermeister, Magistrat und Stadtverwaltung loben“.97 Eduard selbst ist sich seines eigenen Philistertums98 jedoch nicht bewusst. Für ihn sind sein Interesse an Le Vaillants Reiseerzählungen sowie seine „exotischen Errungenschaften“99 in Afrika ausschlaggebend für eine von den heimischen Normen vermeintlich divergierende Entwicklung.

|| 88 BA 18, S. 12. Vgl. hierzu auch den bereits erwähnten Afrikadiskurs in Abu Telfan sowie Philip J. Brewester: Onkel Ketschwayo in Neuteutoburg. Zeitgeschichtliche Anspielungen in Raabes Stopfkuchen. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 24 (1983), S. 113–114. Brewester zeigt die kolonialkritische Perspektive des Romans auf und weist darauf hin, dass Eduard „das Schablonendenken und die gesellschaftlichen Konventionen seiner zweiten Heimat wohl ebenso fraglos verinnerlicht [hat] wie die seiner ersten“ (Philip J. Brewester: Onkel Ketschwayo, S. 114). 89 BA 18, S. 12. 90 Vgl. Jürgen Kocka: Bürgertum, S. 33. 91 Herman Meyer: Raum und Zeit, S. 252. 92 BA 18, S. 47. 93 Hubert Ohl: Eduards Heimkehr, S. 253. 94 BA 18, S. 12. Zur weiteren Vorbildfunktion des Vaters für Eduard, einem Beamten der deutschen Reichspost und selbst einer der „Spießbürger in seiner Kneipe“ vgl. BA 18, S. 12–13, 15– 16. 95 BA 18, S. 46. 96 Vgl. BA 18, S. 132. 97 BA 18, S. 156. 98 Vgl. hierzu auch Jeffrey L. Sammons: Wilhelm Raabe’s Stopfkuchen, S. 283: „It is true that he is a bit of a philistine, as is shown by his assertive claim to Bildung in the very first sentences, not to speak of his allusion to Platen, of all people, as evidence of it, and the juxtaposition of a Spitzweg painting with a lionskin in his South African home is really quite comic.“ 99 BA 18, S. 104.

Das bürgerliche Selbstverständnis | 115

Eduard weist in der Tat auch andere Züge auf, so rückt er beispielsweise bei seinen Wanderungen mit dem Landbriefträger Störzer und ihren gemeinsamen Schwärmereien über Geografie von der Bildungskonformität ab: Campes Reisebeschreibungen sind mir lieber. Und du bist mir auch lieber, Störzer. Mysien, Lydien, Karien, bringe du das da unten in dem dumpfigen Schulstall mal in deinen Kopf und sehne dich mal nicht nach dem Le Vaillant seinem Afrika und seinen Hottentotten, Giraffen, Löwen und Elefanten. Stopfkuchen haben sie auch mit mir eine Stunde über den Unsinn dabehalten. Der frägt aber nichts nach Afrika. Dem seine tägliche Sehnsucht ist dort die Rote Schanze; na, das weißt du ja. (BA 18, S. 22; Hervorhebung durch den Verfasser)

Eduard ist durchaus kritisch gegen die bürgerlichen Normen eingestellt, wie man hier und an seiner Ablehnung der zeitgenössischen orthografischen Reform,100 durch die er sich von seinen Mitbürgern abhebt, sieht. Seine Begeisterung für Le Vaillant und die Sehnsucht nach der Ferne bedeuten zweifellos „die Bereitschaft, sich der Begegnung mit dem Fremden zu stellen“101 und die „Entscheidung gegen ein bürgerliches Leben in der heimatlichen Enge und für ein unternehmend-ausgreifendes Dasein“.102 Bei aller entschiedenen Bürgerlichkeit, begreift Eduard die Problematik der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich die zugunsten von Sicherheit und Stabilität in Kauf genommene und durch Konformität des Einzelnen sich äußernde Beschränktheit.103 Er selbst glaubt aber durch sein neues Leben als weitgereister „Weltwanderer“104 einen anderen Standpunkt als die Zuhausegebliebenen gewonnen zu haben. So grenzt er sich auch immer wieder mit seinen Verweisen auf seine in der Ferne neu gewonnene Perspektive von den heimischen Philistern ab: Zu Hause, in Neuteutoburg, weiß ich nur zu gut, daß die Welt oder in diesem Falle der Erdball durchaus nicht unabmeßlich ist, sondern daß dieser im Äther schwimmende Kloß gar nicht so dick ist, wie er sich einbildet. Aber wenn ich wenigstens bis zu den Kaffern und Buren und zu einem anständigen Vermögen gekommen bin: wem anders verdanke ich das als dem Landbriefträger Störzer und seinem Lieblingsbuch Le Vaillants „Reisen in das Innere von Afrika“, aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen von Johann Reinhold Forster? (BA 18, S. 20–21)

|| 100 Vgl. BA 18, S. 8; sowie Jeffrey L. Sammons: Wilhelm Raabe’s Stopfkuchen, S. 283. 101 Hubert Ohl: Eduards Heimkehr, S. 270. 102 Hubert Ohl: Eduards Heimkehr, S. 270 103 Vgl. hierzu auch Hubert Ohl: Eduards Heimkehr, S. 274–275. 104 BA 18, S. 61.

116 | Individualität zwischen Isolation und Selbstdarstellung: Stopfkuchen

[…] jetzt könnte ich jeden fragen, ob’s nicht merkwürdig sei, auf einem Schiffe, auf dem sogenannten hohen Meer, auf der Rückreise in das ödeste, langgedehnteste, wenn auch nahrhafteste Fremdenleben so von den sogenannten heimischen, vaterländischen Philisterleben zu schreiben… (BA 18, S. 81)

Für Eduard bedeutet Afrika nicht allein eine Entfernung von der Konventionalität der Philister, sondern zugleich eine Horizonterweiterung gegenüber ihren eingeschränkten Wertvorstellungen. Im Gegensatz zu ihm, dem „unternehmenden Auswanderer[s] und weitgereisten, welterfahrenen ehemaligen Schiffarzt[es]“,105 wirkt die in sentimentaler Erinnerung behaltende Heimat eng und gewöhnlich.106 Eduard nimmt seine Heimat aus der Perspektive der Vergangenheit wahr. Somit wird diese von ihm selbst verklärend umgedeutet. Seine Illusion von der eigenen Überwindung dieser bürgerlichen Begrenztheit führt bei ihm zu einer regelrechten Idealisierung der Heimat, die er nur in den „idyllischen Kategorien […] behaglich, gemütlich und idyllisch“107 sieht.108 Eduard will „ein idyllisches Deutschland wieder[…]finden“,109 von dem er glaubt, sich entfernt zu haben. So lässt sich auch sein Vergleich der Heimat mit Arkadien110 und seine schwärmerisch-naive Einstellung zu den heimischen Philistern111 deuten.112 Dass seine naive Idyllisierung des Philistertums nicht der Wirklichkeit

|| 105 Hubert Ohl: Eduards Heimkehr, S. 265. 106 Vgl. BA 18, S. 72: „Und nun, wie als ob ich aus meinem Leben und aus Afrika nicht das geringste Neue und für ihn vielleicht auch Merkwürdige zu erzählen gehabt hätte, zog er mich an den Rand seines Burgwalls und deutete mir mit dem Finger dieses so grenzenlos unbedeutende Stück Welthistorie.“ 107 Karin Kluger: Problematisierung der Idylle, S. 71 [Hervorhebung im Original]. 108 Brewester beschreibt Eduard sogar als „in mancher Hinsicht idyllensüchtig[...]“. (Philip J. Brewester: Onkel Ketschwayo, S. 111.) Vgl. zu Eduards Idyllisierung der Heimat auch: Monica D. Clyde: Stopfkuchen. Raabe’s idyllic sloth. In: Pacific Coast Philology 9 (1974), S. 26–27. 109 Julia Hell: Der ungleichzeitige Bürger S. 170. Vgl. hierzu auch Michael Stoffels: Phantasie und Wirklichkeit im Spätwerk Wilhelm Raabes. Zur Erzählproblematik im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert. Diss. 1974, S. 119–120. 110 Vgl. BA 18, S. 7. Zur Bedeutung Arkadiens in der Literatur sei verwiesen auf: Klaus Garber: Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literatur. München: Fink 2009. 111 Vgl. BA 18, S. 10: „Aber es freut einen doch, grade bei der Hitze und unter dem exotischen, heidnischen Niggerpack, daß man in kühlerer Zeit mal mit dem heimatländischen, germanischen Christen zu tun gehabt hat und von ihm mit der Nase drauf gestoßen worden ist, wie treuherzig es in der Welt und unter den Leuten zugeht.“ 112 Weitere Beispiele für Eduards Idyllisierung der Heimat sind das Spitzweg-Gemälde in seinem Haus in Afrika und seine Reaktion auf die Rote Schanze sowie die Ökonomisierung ihrer Umgebung. Vgl. BA 18, S. 33, 49–51.

Das bürgerliche Selbstverständnis | 117

entspricht, zeigt sich aber schon darin, dass Eduard diesbezüglich bisher nur „Enttäuschungen der Heimkehr“113 erlebt hat: Ich hatte weder in der Stadt noch im Brummersumm alle wieder beieinander angetroffen. Den einen hatte der Tod, den andern das Leben daraus weggeholt. Und was den Brummersumm im Besondern anbetraf, so war der eine zu gut verheiratet und der andere zu schlecht, als daß sie noch die gehörige Stimmung für die abendliche, ja manchmal auch nächtliche Gesellschaft und Geselligkeit dort aus ihrem Eheleben hätten herausschlagen können. (BA 18, S. 11)

Sinnbildlich hierfür ist auch Eduards Reaktion auf die ökonomische Entwicklung der Zeit. So stellt er die Veränderung der Umgebung zur Steigerung der Ertragsfähigkeit in Kontrast mit seinen idyllischen Kindheitserinnerungen: Es ist dieselbe Höhe, auf welcher ich im nächtlichen Halb- und Ganztraum anhielt zum Briefsortieren unter der alten Hainbuche gegenüber dem Dammwege, der – heute auch noch – über den Graben zu dem Eingangstore von Quakatzenhof führt. Die Hainbuche hatte ich nun zu vermissen. Auch sie war wie der Lurkenteich der Melioration, der Feldverbesserung zum Opfer gefallen. Sie hatte wahrscheinlich für das Bedürfnis der hungrigen Gegenwart zu viel Schatten über das Ackerland geworfen oder zu sehr ihre Wurzeln im Grund und Boden ausgebreitet. (BA 18, S. 33)

Für Eduard bedeutet diese „Melioration“ der einst idyllischen und „erziehlicher[en]“114 Natur ein „Verlust“.115 Dies unterstreicht einerseits die Brüchigkeit seiner Idylle, andererseits die Unsicherheit, die für das Individuum durch den Übergang von den „traditionellen übersichtlichen Strukturen des Bauernstaates in die konfliktreichen modernen Verhältnisse“116 entsteht. Die Steigerung der Ertragsfähigkeit und dass es „ihnen aber doch darauf angekommen“117 ist, zeigt die Profitgier und Unpersönlichkeit der Fabriken,118 die im Kontrast zur persönlichen Besitznahme und Werthaltung des Eigentums stehen.119 Für Eduard steht dies zudem für eine Fehlentwicklung des „Bürgertums von der humanen Wert-

|| 113 BA 18, S. 56. 114 BA 18, S. 32. 115 BA 18, S. 32. 116 Julia Hell: Der ungleichzeitige Bürger, S. 191–192. 117 BA 18, S. 32. 118 Stopfkuchen hat sein „ganzes Ackerland der Zuckerfabrik Maiholzen als Rübenboden“ (BA 18, S. 77) gegeben. 119 Vgl. Peter Sprengel: Interieur und Eigentum. Zur Soziologie bürgerlicher Subjektivität bei Wilhelm Raabe. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 9 (1974), S. 138–147; sowie Jeong-Hee Bae: Erfahrung der Moderne, S. 42–44.

118 | Individualität zwischen Isolation und Selbstdarstellung: Stopfkuchen

gemeinschaft zu einem ökonomischen Zweckverband“120 und kontrastiert seine eigenen Erwartungen hinsichtlich einer idyllisch belassenen Heimat. Eduards Idyllisierung der alten Heimat beruht auf seinen nostalgischbehaglichen Erinnerungen daran.121 Die Heimkehr ist somit „ständig durch Gegenüberstellung der Reflexion im erwachsenen und der Reflexion im heranwachsenden Menschen aufgespalten und somit desillusioniert“.122 Die Idylle entsteht durch Eduards „binäre[...] Denkstruktur […], die säuberlich zwischen den Bereichen Heimat und Fremde trennt“123 und ermöglicht ihm, den Bruch zwischen seiner Idyllisierung der überkommen geglaubten Heimat und den eigenen philiströsen Eigenschaften zu übersehen. Dies zeigt jedoch deutlich Eduards zerrissene Beziehung zur gesellschaftlichen Gegenwart. Julia Hell weist ebenfalls auf diese Spaltung hin: [S]ein Insistieren auf geographische Entfernung als Zeichen geistiger Distanz vom deutschen Philistertum und die Betonung von Vermögen und Ansehen geraten in einen unlösbaren Widerspruch: Gerade dadurch, daß er seinen sozialen Status immer wieder hervorhebt, widerlegt er, was er durch ironische Distanzierung beweisen wollte – den geistigen Unterschied zwischen sich und den ‚Philistern‘ zu Hause, dem wilhelminischen Reich und seinen Kolonien. Ebenso verdecken seine ständigen Hinweise auf seine „Kreuzund Querzüge rund um den Erdball“, die sein ‚Anderssein‘ unterstreichen sollen, nur den entscheidenden Bruch in seinem Leben, den Wechsel vom „Weltwanderer“ zum „Grundbesitzer […].“124

Das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum – und erscheint es noch so den gesellschaftlichen Normen verpflichtet wie Eduard – ist in Stopfkuchen nicht mehr so problemlos lösbar, wie noch im Romanschluss von Abu Telfan angedeutet. Kann sich Leonhard hier in der vollen Kenntnis der Beschränktheit der bürgerlichen Lebensweise äußerlich in die Gesellschaft eingliedern, während er seine innere Freiheit bewahrt, ist sich Eduard seiner eigenen philiströsen Lebensweise und Einstellungen nicht mehr bewusst.125 Es entsteht ein Problem der eigenen Verortung innerhalb der Gesellschaft. Zwar weist bereits || 120 Sabrina Becker: Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter. 1848–1900. Tübingen: Francke 2003, S. 232. 121 Zur Rolle der Erinnerung für Eduard siehe: Brian Tucker: Stopfkuchen, S. 572–573. 122 Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 59. 123 Karin Kluger: Problematisierung der Idylle, S. 74. 124 Julia Hell: Der ungleichzeitige Bürger, S. 171. 125 Leonhard bietet sich hier als Vergleichspunkt zu Eduard an, da er ähnliche Erfahrungen bezüglich der Idealisierung von Heimat und Ferne gemacht hat. Auch der Roman bietet die semantische Nähe dieser beiden Figuren an, da Eduard auf dem Schiff „Leonhard Hagebucher“ nach Afrika zurückreist. Vgl. BA 18, S. 8.

Das bürgerliche Selbstverständnis | 119

Eduards frühe Sehnsucht nach der Ferne und einem anderen Leben126 darauf hin, dass er die Enge der bürgerlichen Lebensweise begreift, trotzdem entscheidet er sich unbewusst für ein Leben, das genau innerhalb der heimatlichbürgerlichen Kategorien verläuft. Selbst Eduards Tätigkeit als Schafzüchter127 zeigt, dass er bei aller Idyllisierung der Heimat, deren eigentlicher Zweck ja die Abhebung von der philiströsen Konformität ist, genau nach diesem Idyll lebt.128 Eduards Verhältnis zur Gesellschaft erweist sich daher als zutiefst gespalten, wird aber bis zu seinem Besuch bei Stopfkuchen nicht problematisiert. Ist Eduard bis zu seinem letzten Tag in der alten Heimat noch naiv auf der Suche nach „einem rechten, echten, wahrhaftigen, wirklichen Heimat[...]behagen“,129 wird ihm dies von Stopfkuchen mit voller Absicht genommen.130 Stopfkuchen enthüllt, dass Eduard „keine Ausnahme“131 von den anderen Philistern sei: [Tine] hat dich ja auch damals mit den andern vor ihres Vaters Burgwall gehabt. Hast du nicht mit den Wölfen geheult, so hast du mit den Eseln geiahet, und jedenfalls bist auch du mit den andern gelaufen und hast Stopfkuchen mit seiner unverstandenen Seele gleichwie mit einem auf die gute Seite gefallenen Butterbrod auf der Haustürtreppe, auf der faulen Bank in der Schule und am Feldrain vor der Roten Schanze sitzenlassen. Jawohl hast du dich schön nach mir umgesehen, wenn du nicht etwa etwas Besseres, sondern wenn du etwas Vergnüglicheres wußtest. (BA 18, S. 66)

Mit solchen Verweisen auf Eduards Beteiligung an der sozialen Ausgrenzung des „guten, […] lieben, […] braven Freunde[s]“132 Stopfkuchen sowie der Eröffnung, dass Eduards Jugendfreund Störzer und derjenige, den Eduard eigentlich für sein Leben in der Ferne verantwortlich macht,133 der tatsächliche Mörder

|| 126 Vgl. BA 18, 17–22. 127 Vgl. BA 18, S. 25. 128 Hier sei auf Salomon Geßner: Idyllen. In: Ders.: Sämtliche Werke in drei Bänden. Band 2. Hg. von Martin Bircher. Zürich: Füssli 1972; sowie Karin Kluger: Problematisierung der Idylle, S. 3 und Klaus Garber: Arkadien, S. 17–32 verwiesen. 129 BA 18, S. 56. 130 Die diesbezüglich abzielende Erzählstrategie Stopfkuchens hat Hubert Ohl eingehend nachgewiesen. Vgl. hierzu Hubert Ohl: Eduards Heimkehr; sowie Michael Stoffels: Phantasie, S. 123. Vgl. ebenfalls BA 18, S. 151: „Dem glücklichen Kerl will ich frisch diesen Duft der Heimat von der Lagerstelle aus mit auf die Reise geben“ und BA 18, S. 167: „[D]a habe ich dem guten alten Kerl doch noch eine nette Erinnerung an die alte gemütliche Heimat mit aufs Schiff gegeben.“ 131 BA 18, S. 66. 132 BA 18, S. 29. 133 Vgl. BA 18, S. 162: „Ich aber bin mit ihm gegangen, gelaufen, habe mit ihm seinen trefflichen Tröster, den Le Vaillant, studiert! Und wenn mich ein Mensch von seinen Wegen auf die

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Kienbaums ist, zeigt Stopfkuchen ihm seine Illusion auf. Gerade letztere Enthüllung muss Eduard „am tiefsten treffen und ihn am meisten aus seiner bürgerlichen Sicherheit aufschrecken“,134 da er seinen Lebensweg eben auf Störzer gegründet sieht. Eduard wird allmählich klar, dass er auf der Roten Schanze nicht die erhoffte Idylle wiederfindet. Stattdessen erfährt er durch Stopfkuchen, dass seine Entfernung von der Gesellschaft nicht die Garantie für ein Leben unabhängig der philiströs-konventionellen Weltanschauung ist. So erweisen sich auch Eduards Vorbilder für seine Weltreisen allesamt als Philister: Du persönlich, Eduard, liefest höchstens mit deinem Freunde Störzer und bereitetest dich durch des alten Le Vaillants Geschichte von wilden Eseln, Giraffen, Elefanten, Nashörnern, saubern Namaquamädchen und aus der Historie vom Bravsten der Braven aller Hottentotten Swanepoel auf dein Kaffern-Eldorado vor. Den biedern Buren Klaas Baster wirst du wahrscheinlich allmählich auch gefunden haben und ihn in sentimentalen afrikanischen Stimmungen an den Busen schließen […]. (BA 18, S. 116)

Derart desillusioniert wird Eduards Verhältnis zur Gesellschaft und sein Selbstverständnis problematisiert. Er erfährt Stopfkuchens treffende Bemerkungen als „Welteinsturz“,135 denn die erhoffte Idylle beginnt ihm unheimlich zu werden: Wer von den beiden war mir nun der Unbegreiflichste, der Unheimlichste geworden? O dieser Störzer! O dieser Schaumann! – mein alter, ältester Kinderfreund und Spielkamerad Kienbaums Mörder! Er, der mich im Grunde doch ganz allein auf die See und in die Wüste durch seinen Le Vaillant gebracht hatte, dem ich mein „Rittergut“ am Kap der Guten Hoffnung einzig und allein durch seine Unterhaltungen auf seinen Weltwanderungen, auf seinen Landstraßen und Feldwegen zu danken hatte. Es war nicht auszudenken, jedenfalls jetzt – augenblicklich nicht weiter darüber zu reden. (BA 18, S. 195–196)

Sowohl Eduards Hoffnung auf ein Heimatidyll, das ihm zuletzt allein die Rote Schanze und Stopfkuchens behaglich-friedliches Eheleben gewähren konnte, als auch der Punkt, auf den sich sein ganzes Leben und die eigene Weltanschauung gründet, stellen sich als falsch heraus. Seine Lebensentscheidungen beruhen auf einer Selbsttäuschung des bürgerlichen Individuums, das zwar die Enge der Bürgerlichkeit begreift, ihr aber nicht entkommt. Idylle und Selbstillusion sind dabei allein Mittel, um sich der Wirklichkeit dieser Begrenzung zu

|| meinigen hingeschoben und mich nach Afrika befördert hat, so ist es dieser hier, mein alter, guter Freund, mein ältester Freund, Friedrich Störzer, es gewesen.“ 134 Hubert Ohl: Eduards Heimkehr, S. 260. Vgl. im Gegensatz dazu die „angenehmunheimliche Aufregung“ (BA 18, S. 199), welche der Rest der Stadt auf die Entdeckung des Mörders erfährt. 135 BA 18, S. 164.

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entziehen, stellen letztendlich aber auch nur eine Form der Selbsttäuschung dar. Solange das Individuum seine eigene Verortung in der Gesellschaft derart illusioniert, wird sein Verhältnis zur Gesellschaft aber nicht problematisiert. Erst durch Stopfkuchen, der Eduards Blindheit aufdeckt, wird Eduard die Unentrinnbarkeit der bürgerlichen Beschränktheit bewusst. Hat Eduard versucht sich durch seine Auswanderung der Unzufriedenheit mit der konformen Enge zu entziehen, muss er nun feststellen, dass ihm diese bis in die Ferne gefolgt ist und es auf diese Weise kein Leben unabhängig des bürgerlichen Philistertums gibt. Dies erklärt auch Eduards überstürzte Flucht nach Stopfkuchens öffentlicher Aufdeckung des Mordes und die anschließende Schreibsituation. Eduard ist sich selbst „fragwürdig“136 geworden, die Sicherheit, mit der er noch bis zuletzt von seinen Lebensentscheidungen gesprochen hat,137 wird restlos zerstört. Noch auf dem Schiff versucht er schreibend die „verlorene Heimatidylle zu rekonstruieren“.138 Dies gelingt aber nicht, da Eduard „nur erzählen [kann], indem er den Daheimgebliebenen zu Wort kommen und eine ganz andere Geschichte erzählen läßt“139 und sein „sorgfältig niedergeschriebenes Manuskript […] schließlich fast ins Leere hinaus[läuft]“.140 Deshalb ist die Aussage, das „verdauliche Fazit“141 Eduards sei als Annahme der „Bodenlosigkeit des bürgerlich-

|| 136 Hubert Ohl: Eduards Heimkehr, S. 165. 137 Vgl. beispielsweise seine Rede am Sarg von Störzer: BA 18, S. 162. 138 Julia Hell: Der ungleichzeitige Bürger, S. 172. Hell zeigt auf, dass Eduard dabei versucht, Stopfkuchens Beziehung zu Tine und vor allem Tine selbst, welche er immer wieder emotional aufgeladen als „behaglich“ (vgl. beispielsweise BA 18, S. 155) bezeichnet, zu idyllisieren. Dieser Versuch missglückt allerdings, da Eduard „Schaumanns Zerstörungsarbeit nichts entgegenzusetzen“ (Julia Hell: Der ungleichzeitige Bürger, S. 173) hat. Vgl. hierzu auch Brian Tucker: Stopfkuchen, S. 276–278. 139 Wolfgang Struck: See- und Mordgeschichten. Zur Konstruktion exotischer Räume in realistischen Erzähltexten. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 40 (1999), S. 62. 140 William T. Webster: „Hinhocker“ und „Weltwanderer“, S. 37. Webster verweist auf die Leerstelle, mit der der Roman endet. Auf die Frage seiner Kinder, was er denn von der alten Heimat nach Hause gebracht habe, hat Eduard keine Antwort. Vgl. BA 18, S. 207. Julia Hell erwähnt in diesem Zusammenhang den Kontrast, den der holländische Schlusssatz zum „Erzählerdiskurs, der von der Idee eines idyllischen Deutschlands besessen ist“ (Julia Hell: Der ungleichzeitige Bürger, S. 174), aufwirft. Ulf Eisele weist des Weiteren auf den Schreibprozess Eduards hin, der zur Selbstentfremdung wird, da er bis in die Diktion Stopfkuchens Erzählung reproduziere. Vgl. Ulf Eisele: Der Dichter und sein Detektiv. Raabes Stopfkuchen und die Frage des Realismus. Tübingen: Niemeyer 1979, S. 15–17. 141 Jeong-Hee Bae: Erfahrung der Moderne, S. 69. Jeong-Hee Bae schließt sich Paul Derks’ Meinung an und sieht in Eduards Schreibsituation vielmehr ein „‚Hinauflügen‘ des Zerstörers Schaumann selbst ‚bis zur übermenschlichen Göttlichkeit‘“, (Jeong-Hee Bae: Erfahrung der Moderne, S. 70) wodurch er „in die neue Idylle“ (Jeong-Hee Bae: Erfahrung der Moderne, S. 70)

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philiströsen Lebensprinzips“142 zu deuten, nicht schlüssig. Eduard versucht gewiss, die Gültigkeit seiner Lebensentscheidungen zurückzugewinnen: Und mehr und mehr kam mir wieder zum vollen Bewußtsein der alte ganz richtige Satz vom zureichenden Grunde, wie ihn der alte Wolff hat: ‚Nihil est sine ratione, cur potius sit quam non sit‘, und wie es der Frankfurter Buddha übersetzt. ‚Nichts ist ohne Grund, warum es sey.‘ – Wie mich der Le Vaillant, übersetzt von Johann Reinhold Forster, in der Bibliothek des Landbriefträgers Störzer zu den Buren in Prätoria gebracht hatte, so hatte der Steinwurf aus Störzers Hand nach Kienbaums Kopfe den Freund zu Tinchen Quakatz geführt und ihn zum Herrn der Roten Schanze gemacht. Und so, wenn Kienbaum nicht Kienbaum, wenn Störzer nicht Störzer, wenn Stopfkuchen nicht Stopfkuchen und Tinchen nicht Tinchen gewesen wären, so wäre auch ich nicht ich gewesen und hätte gegen Morgen über dieser Mordgeschichte in den ruhigsten Schlaf versinken und daraus erwachen können mit den beruhigenden Gedanken an das ‚afrikanische Rittergut‘ und an mein Weib und meine Kinder daheim: ‚Nun, die Sache hat sich ja noch ganz erträglich gemacht.‘ (BA 18, S. 197–198)

Diese Aussage ist jedoch besonders im Hinblick auf die folgende Passage – „[f]ertig war ich freilich noch nicht mit ihr, der Sache nämlich“143 – wegen ihrer „allgemeinen, ja metaphysischen Kategorien […] suspekt“.144 Der Grund für Eduards Flucht ist daher nicht allein das Ausweichen der von Stopfkuchen an ihn gestellten Vermittlerrolle,145 sondern ganz allgemein der erneute Entzug aus der bürgerlichen Wirklichkeit. Erst auf dem Schiff kann er sich, vermeintlich unabhängig von Stopfkuchens Einfluss,146 der Rekonstruktion seiner bürgerlichen Sicherheit widmen. Während des Schreibens verbindet er dies jedoch immer wieder mit „Assoziationen des ‚wissenden‘ Rückreisenden“,147 die das Gelingen seines Versuchs, sich der Gültigkeit seiner Lebensentscheidungen zu vergewissern und sein Heimatidyll zu retten, von vornherein fragwürdig machen.148 In der Tat lassen viele Stellen seines Manuskripts auf ein „Gefühl völli|| gerät. Es zeigt sich aber vielmehr, dass Eduard am Versuch, seine bedrohte bürgerliche Sicherheit durch eine Re-Idyllisierung zu retten, scheitert. Vgl. auch Paul Derks: Raabe Studien. Beiträge zur Anwendung psychoanalytischer Interpretationsmodelle. Stopfkuchen und Das Odfeld. Bonn: Bouvier 1976, S. 66. 142 Jeong-Hee Bae: Erfahrung der Moderne, S. 70. 143 BA 18, S. 198. 144 Philip J. Brewester: Onkel Ketschwayo, S. 107. 145 Vgl. Jeong-Hee Bae: Erfahrung der Moderne, S. 70–72. 146 Dass Stopfkuchens Wirkung auf Eduard ihn dennoch wieder einholt, sieht man an dessen Übernahme der Erzählung. 147 Julia Hell: Der ungleichzeitige Bürger, S. 172. 148 Verwiesen sie hierbei auf Eduards Beschreibung Arkadiens in Bezug auf August von Platens Die verhängnisvolle Gabel, wodurch Eduards auf Störzer verweisende Eingangsfrage,

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ger Sinn- und Haltlosigkeit schließen […], deren Ursache im Verlust der Heimat zu suchen ist“.149 So entstehen während des Schreibens unzählige Leerstellen, denen man Eduards Spaltung zwischen bürgerlicher und nicht-bürgerlicher Existenz entnehmen kann. Einerseits entzieht er sich immer wieder den für ihn kritischen Stellen in Stopfkuchens Geschichte, indem er zur „Seegeschichte“ zurückkehrt,150 andererseits ist der Text gefüllt von Exklamationen der Verwunderung über die Blindheit der „anderen […] Narren“,151 zu denen Eduard sich nun zählt: Und diesen Menschen hatten wir nicht nur für den Dicksten, Faulsten und Gefräßigsten unter uns, sondern auch überhaupt für einen Dummkopf gehalten, o wir Esel! (BA 18, S. 47) Frau Valentine hatte natürlich nicht im geringsten eine Ahnung davon, welch ein wunderbar Zeugnis und Lob sie jetzt meinem Freunde ausstellte und wie sehr sie mich zu den ganz Gewöhnlichen, den ganz Gemeinen, an jedem Wege Wachsenden warf: zu denen, die nur dreist in die Welt hinaus und nach Afrika laufen mochten, um ihre trivialen Abenteurerhistorien zu erleben. (BA 18, S. 109; Hervorhebung durch den Verfasser)

Solche Andeutungen zeigen, dass Eduard durch die Erschütterung seiner Lebenssicherheit beginnt, seine Lebensentscheidungen zu hinterfragen. Auch bezüglich seiner Idyllisierung der Heimat und seiner Freundschaft zu Stopfkuchen zeigt sich Eduard zunehmend desillusioniert. War er am Anfang noch von sich als „gute[n] Schulkameraden“152 überzeugt, stehen bei seiner Abreise die Worte „sein ‚guter Freund Eduard‘“ nur noch in Anführungszeichen.153 Dies || wie die „Menschen dahin [kommen], wo sie sich, sich besinnend, zu eigener Verwunderung dann und wann finden“ (BA 18, S. 7), bereits auf Störzers Schuld hinweist. Johannes Graf und Gunnar Kwisinski sehen in Eduards Zitat ein „mangelndes Reflexionsvermögen“ und damit ein Missverständnis August von Platens. Vgl. Johannes Graf und Gunnar Kwisinski: Heinrich Schaumann, ein Lügenbaron? Zur Erzählstruktur in Raabes Stopfkuchen. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 33 (1992), S. 196–198, (hier S. 197). Dagegen spricht, dass Eduard sich des „illusionären Charakter[s] seines Heimatbildes“ bewusst ist. Vgl. Julia Hell: Der ungleichzeitige Bürger, S. 172–173, hier S. 172. Die durch die Auslassungen entstehenden Assoziationen hinsichtlich Fremde, Mord und Schuld sind also „im Zitat durchaus präsent und Eduard insofern bewusst, als er sie durch Re-Idyllisierung […] zu umgehen sucht“. Philip J. Brewester: Onkel Ketschwayo, S. 109. Vgl. auch August von Platen: Die verhängnisvolle Gabel. In: Ders.: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 3. Hg. von Karl Goedeke. Stuttgart: Cotta 1893. 149 Julia Hell: Der ungleichzeitige Bürger, S. 172. 150 Vgl. Hubert Ohl: Eduards Heimkehr, S. 272. 151 BA 18, S. 153. 152 BA 18, S. 30. 153 Vgl. hierzu auch Eckhardt Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund, S. 269–270.

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zeigt seine Unsicherheit bezüglich der eigenen Verortung in der Gesellschaft und wird oft als „Veränderung“154 Eduards durch Stopfkuchen gedeutet. Peter Detroy beschreibt die der Gesellschaft gegensätzliche Verfassung Eduards nach der Aufklärung des Mordes und zeigt damit auf, dass nur Eduard „[d]ie satirische Funktion dieser Entlarvung, ihre sozialkritische Aufgabe“155 erkennt. Er versteht das aber als Zeichen, dass dieser nun kein Repräsentant der bürgerlichen Gesellschaft mehr sei, sondern wie Stopfkuchen zum „Sonderling“156 werde. Hinsichtlich der bereits vor Eduards Besuch erkennbaren Gespaltenheit seiner bürgerlichen Existenz erscheint dies jedoch falsch. Auch Deutungen, die Eduard als menschlichen Versager demaskiert sehen,157 der im Antlitz des „überragende[n] Ausnahmenmensch[en]“158 Stopfkuchen scheitert, verkennen die tiefer liegende Aussage des Romans. Hubert Ohl und Philip Brewester weisen darauf hin, dass Eduards „Lebensentscheidung als solche […] eine gewisse Gültigkeit“159 behält, nur eben in ihrer Sicherheit zutiefst erschüttert wurde.160 Als Konsequenz wird das Verhältnis des bürgerlichen Individuums zur Gesellschaft problematisiert, kann aber eben nicht endgültig geklärt werden.161 So ist auch Eduards Abhebung von der Reisegesellschaft auf dem Schiff kein Ausdruck der vollständigen Übernahme der Ansichten Stopfkuchens:162 Wir haben Deutsche, Niederländer, Engländer, Norweger, Dänen und Schweden, die ganze germanische Vetternschaft, an Bord des „Leonhard Hagebucher“; aber sie würden mich alle mehr für einen Narren als einen mit ein wenig Weltverschönerungssinn begabten Teutonen nehmen, wenn ich heute abend im Rauchsalon ihnen einige Seiten aus mei-

|| 154 Von einer Veränderung Eduards aufgrund der Übernahme der Perspektive Stopfkuchens spricht z.B. Dieter Kafitz: Figurenkonstellationen, S. 219–220. 155 Peter Detroy: Wilhelm Raabe. Der Humor als Gestaltungsprinzip im Stopfkuchen. Bonn: Bouvier 1970, S. 115. 156 Vgl. Peter Detroy: Wilhelm Raabe, S. 91. 157 Vgl. Regina Schmid-Stotz: Von Finkenrode nach Altershausen. Das Motiv der Heimkehr im Werk Wilhelm Raabes als Ausdruck einer sich wandelnden Lebenseinstellung, dargestellt an fünf Romanen aus fünf Lebensabschnitten. Bern: Lang 1984, S. 99. 158 Herman Meyer: Raum und Zeit, S. 250. 159 Philip J. Brewester: Onkel Ketschwayo, S. 111. 160 Vgl. Hubert Ohl: Eduards Heimkehr, S. 271. Sammons meint zudem, Eduard „regains much of his equilibrium“ (Jeffrey L. Sammons: Wilhelm Raabe’s Stopfkuchen, S. 293). 161 An dieser Stelle sei noch einmal auf die Diskrepanz des letzten Satzes des Romans verwiesen. 162 Michael Limlei spricht sogar davon, Eduard sei zum „Stopfkuchen-Jünger“ geworden. Vgl. Michael Limlei: Die Romanschlüsse in Wilhelm Raabes Romanen Stopfkuchen und Die Akten des Vogelsangs. In: Wilhelm Raabe. Studien zu seinem Leben und Werk. Hg. von Leo A. Lensing und Hans-Werner Peter. Braunschweig: pp-Verlag 1981, S. 347.

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nem diesmaligen Logbuch und Reisemanuskript, aus der Kriminalgeschichte Stopfkuchen vorlesen würde. Ich lasse das wohl bleiben; aber ich bleibe auch bei meinem Manuskript, wenn das Wetter und der Wogengang es erlauben. Ich bin eben oft genug im Leben zu Schiffe gewesen, um zu wissen, was das Behaglichere ist auf einer längern Fahrt. Es ist eine große Täuschung, zu meinen, daß auf den großen Wassern alle Augenblicke etwas Merkwürdiges vorkomme und daß eine germanische Reiseverwandtschaft immer ungemein humoristisch, gemütvoll, feinfühlig und – interessant sei… (BA 18, S. 60; Hervorhebung im Original)

Hier entsteht eine Diskrepanz zwischen Eduard und der Gesellschaft – nicht umsonst ist es die gesamte „germanische Vetternschaft“, die ihn auf dem Schiff begleitet – die zwar schon früher angedeutet wurde,163 ihm jetzt aber bewusst wird: Eduard bleibt nämlich willentlich bei seinem Manuskript. So ergibt sich tatsächlich eine Parallele im „Verhalten Eduards und Stopfkuchens“,164 die sich auch in der entsprechenden Erzähl- bzw. Schreibsituation niederschlägt.165 Daraus lässt sich aber nicht eine neu aufgekommene, radikale Ablehnung der bürgerlichen Lebens- und Denkweise durch Eduard ableiten, sonst wäre die noch während des Schreibens andauernde Erschütterung nicht derart präsent. Die eigentliche Problematik Eduards ist also nicht seine Isolation, die ihn zum andersdenkenden gesellschaftlichen Außenseiter machen würde, sondern die Unlösbarkeit seines Standpunktes in der Gesellschaft. Die Einsicht, die er in der Heimat gewonnen hat, nämlich die Wirklichkeit der philiströsen Begrenztheit, setzt ihn von den anderen Mitreisenden ab. Eduard sitzt jetzt unter „[s]einer Hecke“166 fest – sowohl er als auch Stopfkuchen wissen vom Konflikt zwischen bürgerlicher und nicht-bürgerlicher Existenz und der nichtüberwindbaren Konventionalität. Die bürgerliche Sicherheit, so hat Eduard erfahren müssen, ist nur in der Illusion möglich – und das ist das wahrhaft Unheimliche, das Erschüt-

|| 163 Vgl. BA 18, S. 13: „Sie hatten im Brummersumm gemeint, ich sei doch recht schweigsam aus dem Kaffernlande auf Besuch nach Hause gekommen, und sie bedachten wie gewöhnlich nicht, daß man den Mund halten und doch die lebendigste Unterhaltung mit einem, mit mehreren, mit vielen führen kann. Dazu hatte ich wirklich das meiste vernommen, was an diesem Abend um mich her gesprochen worden war, und ein im Vorübergehen rasch und leicht hingesprochenes Gesprächsthema hatte mich in der Tat länger und eingehender beschäftigt und nachdenklicher bei sich festgehalten als die andern um den alten Tisch herum.“ 164 Michael Limlei: Romanschlüsse, S. 347. So isoliert sich Eduard auf dem Schiff von den Mitreisenden, worüber sich der Kapitän „kopfschüttelnd und vor sich hinbrummend“ (BA 18, S. 195) wundert. 165 Vgl. Philip J. Brewester: Onkel Ketschwayo, S. 116. 166 BA 18, S. 196 [Hervorhebung im Original]. Die Betonung verdeutlicht hier noch einmal die Abgrenzung zu Stopfkuchen, dessen Problematik sich von Eduards unterscheidet und eben keine Übereinstimmung der Lebensansichten zulässt.

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ternde. Dass selbst Stopfkuchen, der Eduards Blindheit diesbezüglich aufgedeckt und scheinbar jenseits der heimatlich-bürgerlichen Kategorien denkt, ebenso ein philiströs-behagliches Leben führt, macht das Ganze nur umso paradoxer. So kann Eduards Manuskript nur in einer Leerstelle enden. Was er vom Vaterland mitbringt, ist allein die tiefe Erschütterung über den Verlust der Grundlage der eigenen bürgerlichen Lebenssicherheit.

3.3 Der Fall Kienbaum 3.3.1 Das Scheitern der Justiz und soziale Sanktionen Stopfkuchen trägt den Untertitel Eine See- und Mordgeschichte. Dieser im Titel angegebene Mord am Viehhändler Kienbaum spielt im Roman allerdings eine vergleichsweise untergeordnete Rolle. Seine Aufklärung stellt in Stopfkuchens Erzählung, deren eigentliches Ziel die Erschütterung des bürgerlichen Selbstverständnisses Eduards ist, nur das große Finale dar. Auch in kriminalistischer Hinsicht ist der Mord an Kienbaum wenig bedeutend: Er geschah als beide, Stopfkuchen und Eduard, noch Kinder waren und liegt somit bereits lange zurück. Der vermeintliche Täter, der Bauer der Roten Schanze und Stopfkuchens Schwiegervater Andreas Quakatz, ist ebenfalls bereits tot. Auch die Verfolgung des Falles durch die Justiz wird nur knapp erwähnt.167 So gestaltet sich der Mordfall auf den ersten Blick als relativ unbedeutend, seine Konsequenzen, vor allem für den Verdächtigen Quakatz und seine Tochter Valentine, sind jedoch durch den ganzen Roman spürbar.168

|| 167 Auf Raabes Spiel mit den Lesererwartungen bezüglich des Krimigenres, das mit dem Untertitel einer „Mordgeschichte“ impliziert wird, weisen Michael Stoffels und Volkmar Sander hin. Vgl. Michael Stoffels: Phantasie, S. 124–125 und Volkmar Sander: Illusionszerstörung und Wirklichkeitserfassung im Roman Raabes. In: Deutsche Romantheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Romans in Deutschland. Hg. und eingeleitet von Reinhold Grimm. Frankfurt a. M.: Athenäum 1968, S. 225. 168 Auch in kriminalliterarischer Hinsicht liefert die Mordgeschichte Ansätze: Stopfkuchen reiht sich in den zeitgenössischen Diskurs der Gattung der Kriminalgeschichte ein. Stefanie Stockhorst weist darauf hin, dass sich der Roman nach dem typischen Krimimuster, nämlich auf die Frage hin, wer der Täter sei, aufbaue. Außerdem greift Stopfkuchen den gattungsgeschichtlichen Hintergrund auf: So spielen Hainbuche und Birnbaum eine Rolle, die auf Annette von Droste-Hülshoffs Judenbuche und Theodor Fontanes Unterm Birnbaum verweisen. Auch die zeitgenössische Zeitschrift Gartenlaube, in der unter anderem Kriminalgeschichten veröffentlicht wurden, und der Pitaval, eine Sammlung authentischer Fälle, finden Erwähnung. Vgl. Stefanie Stockhorst: Zwischen Mimesis und magischem Realismus. Dimensionen der Wirklich-

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Der eigentliche Tathergang und der Indizienprozess gegen Quakatz werden erst gegen Ende durch den eigentlichen Täter, den Briefträger Störzer, beschrieben: Störzer wird seit Kindesbeinen von Kienbaum gehänselt. Weil Störzer arm und von „einer langsamen Besinnlichkeit“169 ist, nützt Kienbaum seine materielle und intellektuelle Überlegenheit gegenüber dem sozial Schwächeren aus, indem er ihn tagtäglich verspottet.170 Als Störzer ihn dann im Affekt und versehentlich tötet, schweigt er, um seine Tat171 nicht aufdecken zu müssen, für die ein anderer, der Bauer Quakatz, verantwortlich gemacht wird. Der Verdacht der Justiz und der Gesellschaft gegen Quakatz stützt sich vor allem auf einen Streit, den dieser mit Kienbaum hatte und dient als Grundlage für den nachfolgenden Prozess: [Kienbaum] hat mal ausnahmsweise einen noch Schlauern als wie er gefunden. Wie sich nachher ausgewiesen hat, Ihren Herrn Schwiegervater, den Bauer von der Roten Schanze, Herr Schaumann. Der Ochsenhandel ist nachher vor Gericht breit genug getreten worden als Indizium gegen den Bauer Quakatz von der Roten Schanze. Dass der Herr Schwiegervater nach dem Geschäft am Morgen am späten Abend auf dem Wege nach Gleimeckendorf gesehen worden ist, das war das zweite Indizium, wie Sie wissen, Herr Schaumann. Es hatten zu viele in der Stadt, im Blauen Engel, vernommen, wie sie sich um Mittag einen Schuft, Halunken, und Spitzbuben um den andern an die Köpfe geworfen haben […]. (BA 18, S. 191)

Weitere Details über die rechtliche Verfolgung des Mordfalls durch den Staat werden nicht erwähnt. Man weiß aber, dass Quakatz freigesprochen wird, da man ihm trotz der Indizien nichts beweisen kann.172 Der gesetzliche Weg, den Mörder durch die gegebenen Strafverfolgungsinstanzen zu bestrafen, scheitert || keitsdarstellung in Kriminalnovellen von Droste-Hülshoff, Fontane und Raabe. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 43 (2002), S. 8, 69–70. Zur zeitgenössischen Bedeutung von Kriminalliteratur sei außerdem verwiesen auf: Jörg Schönert: Kriminalgeschichten in der deutschen Literatur zwischen 1770 und 1890. Zur Entwicklung des Genres in sozialgeschichtlicher Perspektive. In: Ders.: Perspektiven zur Sozialgeschichte der Literatur. Tübingen: Niemeyer 2007, S. 63–82. 169 BA 18, S. 187. 170 Vgl. BA 18, S. 189–190. 171 Karl Höse beschäftigt sich eingehend mit dem Tatbestand und den zeitgenössischen rechtlichen Bestimmungen und kommt zum Schluss, dass Störzer nicht mit Tötungsabsicht und aus Notwehr gehandelt hat und man deshalb juristisch nicht von Mord, sondern höchstens von Totschlag sprechen kann. Vgl. Karl Höse: Juristische Bemerkungen zu Raabes Stopfkuchen. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 3 (1962), S. 135–141. Der Einfachheit halber wird im Folgenden dennoch der Begriff „Mord“ verwendet, da dies v.a. auch der Auffassung des Romans und der im Roman geschilderten Gesellschaft entspricht. 172 Vgl. BA 18, S. 185: „[S]ie konnten ihm ja auch niemals viel anhaben von Gerichts wegen.“

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somit. Dies muss aber von der Gesellschaft als ungenügend empfunden werden, ist sie ja von Quakatz’ Schuld überzeugt: Gesetze als Form der sozialen Kontrolle durch die Gesellschaft werden „von den Individuen als Bedingung ihres vergesellschafteten Handels anerkannt“173 und formulieren die Pflichten der Mitglieder der Gesellschaft.174 Der Mordfall Kienbaum ist daher als Gesetzesbruch schon an sich eine Bedrohung für die Stabilität der Gesellschaft, da diese abhängig von der Integrität und Gesetzeskonformität des Einzelnen ist. Durch seinen Mord hält sich der Täter nicht an die allgemeinen Regeln und stellt somit ihre Wirksamkeit infrage. Die Einhaltung von Rechtsnormen durch das Individuum sichert das Gemeinwohl der Gesellschaft. Wird eine solche Norm allerdings nicht erfüllt, also ein Gesetzesbruch begangen, schützt das Recht diejenigen, die ein normengemäßes Verhalten erwarten, indem es Mittel zur Bestrafung festlegt. Hier scheitert die Justiz aber im Sinne der Gesellschaft: Sie schafft es nicht, den bereits sozial überführten Täter zu bestrafen. Dass man nämlich dem Bauern Quakatz, der der Tat verdächtigt wird, nichts nachweisen kann, verschärft die dadurch entstandene Bedrohung der Stabilität und eröffnet ein Problem der Moral. Nach Hegel175 geht die „Existenz von Rechtsverhältnissen der Sache nach dem moralischen Standpunkt [vorher]“.176 Das Recht ist abstrakt, während die Individuen ihren eigenen Standpunkt in ihm suchen: Indem das Recht für das Individuum fremd ist, d.i. indem es nicht imstande ist, seinen Willen im Recht zu erkennen, strebt es danach, „sich selbst an sich zu wiederfinden.“ Das heißt, dass das Individuum das Recht in seinem eigenen Willen (im Gewissen, im Herzen, in seinen Ansichten) suchen wird.177

Durch diesen Übergang vom Recht zur Moralität findet das Individuum seinen Willen im Recht.178 Daraus folgt die Problematik des moralischen Standpunktes, nämlich dass „der moralische Wille, der sich einbildet, das Recht sei für seine Interessenverfolgung zweckmäßig, im Alltag in vielerlei Hinsicht die Erfahrung

|| 173 Dieter Hüning: Das Elend des moralischen Standpunktes: Moralität als vergesellschaftete Praxis bürgerlicher Subjekte. In: Hegel-Jahrbuch 2014, S. 151. 174 Vgl. Dieter Hüning: Das Elend des moralischen Standpunktes, S. 150. 175 Dass Raabe sich mit Hegel beschäftigt hat, wurde bereits nachgewiesen. Vgl. beispielsweise Gerhart Mayer: Die geistige Entwicklung, S. 14–15. 176 Dieter Hüning: Elend des moralischen Standpunktes, S. 150. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rechtsphilosophie, §104. 177 Karol Bal: Der Weg von der Moralität zur Sittlichkeit. In: Hegel-Jahrbuch 2006, S. 293. 178 Vgl. Karol Bal: Der Weg von der Moralität zur Sittlichkeit, S. 293 sowie Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rechtsphilosophie, §104.

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macht, daß es auf seine Interessen nicht ankommt“.179 Über die Moralität entsteht eine Identifikation mit dem Recht, da das Individuum durch seinen moralischen Standpunkt gute Gründe findet, dem Recht zuzustimmen.180 Da das Recht aber insbesondere abstrakt ist und objektive Gründe für die Formulierung der Gesetze bestehen, entsteht ein Widerspruch zwischen den Interessen der moralischen Subjekte und dem Recht an sich. Da das Recht den Bedürfnissen der Gesellschaft im Mordfall Kienbaum nicht nachkommt, nimmt diese von da an aus „falsch verstandene[m] Gerechtigkeitsgefühl, das mit gutem Gewissen die Unschuldigen verfolgt und bedrängt“,181 die Bestrafung des Bauern Quakatz in ihre eigene Hand. Da die rechtliche Bestrafung des Mörders gescheitert ist, schafft die Gesellschaft nun ihr eigenes Recht und greift zur Selbstjustiz. Dabei nutzt sie auch die ihr möglichen juristischen Wege aus: Dreimal hatten sie den damaligen Herrn der Roten Schanze, den Bauer Andreas Quakatz, gefänglich eingezogen, weil sich neue „Indizien“ in Sachen Kienbaum ergeben hatten. Und dreimal hatten sie ihn wieder ungeköpft loslassen müssen, den Bauer Quakatz, weil diese neuen Anzeichen und Vermutungsgründe sich doch abermals als das auswiesen, was sie waren, nämlich mehr oder weniger leichtfertige und einige Male auch heimtückisch und boshaft aufgebrachte Verdachtserregungen. (BA 18, S. 33)

Was sich aber dahinter vor allem verbirgt, sind soziale Sanktionen im Sinne gesellschaftlicher Ausgrenzung. Als Legitimation für die Verfolgung des Täters beruft sich die Gesellschaft auf ihre moralische Überlegenheit: Die gesamte „edle, christliche Menschheit auf fünf Meilen im Umkreis“182 hält sich in ihrer Gesetzestreue und Werthaltung183 für besser als der „Mordbauer von der Roten Schanze“184 und versucht ihn nun durch soziale Exklusion zu einem Geständnis zu bewegen oder ihn auf diese Weise zumindest zu bestrafen. Die Mitglieder der Gesellschaft werden zu „Fanatikern der moralischen Beurteilung“.185 Die Über|| 179 Dieter Hüning: Elend des moralischen Standpunktes, S. 154. Hegel legt dar, dass nicht durch den moralischen Standpunkt, sondern allein durch das Recht die Pflichten eines Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft definiert werden. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rechtsphilosophie, §135. 180 Vgl. Dieter Hüning: Elend des moralischen Standpunktes, S. 151. 181 Claude David: Über Wilhelm Raabes Stopfkuchen. In: Lebendige Form. Interpretationen zur Deutschen Literatur. Festschrift für Heinrich E.K. Henel. Hg. von Jeffrey L. Sammons und Ernst Schürer. München: Fink 1970, S. 260. 182 BA 18, S. 36. 183 Vgl. auch die gegen Quakatz gerichtete Abhebung der Umgebung als „rechtlich“ und „ordentlich“. Vgl. BA 18, S. 40. 184 BA 18, S. 85. 185 Dieter Hüning: Elend des moralischen Standpunktes, S. 155.

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zeugung selbst moralisch gut zu sein, insbesondere, dass ihr normgemäßes Handeln auf moralischen Kriterien beruht, wird für die Gesellschaft als Legitimation gesehen, den für unmoralisch gehaltenen Beschuldigten sozial zu bestrafen. Die sozialen Sanktionen werden so gemäß dem moralischen Selbstverständnis der Gesellschaft als ihr Recht empfunden.186 Nach Hegel ist diese „Rechtfertigungstechnik der moralischen Subjekte, ihre Interessenverfolgung als mit den allgemein anerkannten Werten übereinstimmend zu behaupten, […] Ausgangspunkt der Heuchelei“.187 Dies ermöglicht es der Gesellschaft zwar, ihr Selbstinteresse wiederherzustellen, indem sie sich selbst vor einem Mitglied, das vermeintlich ihre Regeln missachtet, durch Ausgrenzung schützt, aber „ihre konventionelle Moralität [wird] als heuchlerisch entlarvt“.188 Als Konsequenz der sozialen Ächtung ergibt sich für den Bauern Quakatz zunächst eine Bedrohung seiner Existenz, was durch das Gesinde auf der Roten Schanze „dem Abhub und Bodensatz der Gegend“189 deutlich wird: Es tat für einen rechtlichen Menschen, für ein ordentlich Mädchen nicht gut, auf der Roten Schanze zu dienen und da ehrlich nach der Ordnung zu sehen. […] Jeder Groschen den der Bauer Quakatz hergab, hatte ja einen Blutgeruch an sich. Wer von der Roten Schanze kam und einen andern Dienst suchte, der brachte denselben Geruch in den Kleidern mit, und man ließ es mit verzogner Nase ihm merken und schickte ihn um ein Haus weiter. Bis der Bauer Andreas Quakatz endlich eingestand, daß er Kienbaum totgeschlagen habe, oder bis der Hof der Roten Schanze im ganzen unter den Hammer gebracht oder […] im einzelnen ausgeschlachtet worden war, konnte sich hieran nichts, gar nichts ändern. (BA 18, S. 40)

Die Gesellschaft nimmt Quakatz nicht nur die soziale Stellung, die er in ihr genoss, sondern versucht ihn zudem durch rufschädigende Sanktionen, finanziell zu ruinieren. Dieser Versuch gelingt ihr allerdings nicht, da Quakatz materiell abgesichert ist.190 Demgegenüber wiegt die gesellschaftliche Ausgrenzung für Quakatz jedoch schwer:

|| 186 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rechtsphilosophie, §140: „Indem das Selbstbewusstsein an seinem Zwecke eine positive Seite […] herauszubringen weiß, so vermag es um solcher, als einer Pflicht und vortrefflichen Absicht willen, die Handlung, deren negativer wesentlicher Inhalt zugleich in ihm, als auch in sich Reflektierten, somit des Allgemeinen des Willens sich Bewußten, in der Vergleichung mit diesem steht, für andere und sich selbst als gut zu behaupten […].“ 187 Dieter Hüning: Elend des moralischen Standpunktes, S. 154. Vgl. auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rechtsphilosophie, §140. 188 Stephanie Bird: Scham, Beschämung und Gesellschaftskritik, S. 64. 189 BA 18, S. 40. 190 Vgl. BA 18, S. 147.

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Da die Welt von ihm, dem Schanzenbauer, nichts mehr wissen wollte, weil sie nicht genug von ihm herausgekriegt hatte, so suchte er nach seinem angeborenen Menschenrecht ohne sie auszukommen, so gut es ging. Eigentlich ging es schlecht […]. Er war viel zu dürr und viel zu lebendig und viel zu gesellig dafür angelegt. (BA 18, S. 98)

Es stellt sich heraus, dass durch den Ausschluss aus der Gesellschaft die Bestrafung des Verdächtigen gelingt. Die Gesellschaft stellt seine Zugehörigkeit und damit seine gesellschaftliche Existenz infrage. Stephanie Bird weist darauf hin, dass die Gesellschaft eine Form von Gewalt gegenüber dem Einzelnen anwendet. Quakatz wird durch die Verleumdungen und Anfeindungen systematisch beschämt. Ein derartiges Beschämen ist „an sich schon eine Form der Gewalttätigkeit, nur eine, die oft mit dem schönen Schein der Moralität entweder gerechtfertigt oder verschleiert wird“.191 Aufgrund der Tatsache, dass sich die Gesellschaft im Recht glaubt, übt sie Gewalt gegen den Einzelnen aus und bedrängt ihn auch noch in seiner persönlichen Lebensgrundlage. Im Fall Quakatz heißt das, dass er aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen, in sein eigenes Schicksal zurückgedrängt und dieses sein einziger Lebensinhalt wird: An der Schanze des Siebenjährigen Krieges ist selbst die neueste Weltgeschichte vorbeigezogen, ohne ein Zeichen hinterlassen zu haben. […] Was ging die Weltgeschichte den Bauer von der Roten Schanze an? Er hatte seinen Kienbaum; er hatte viel zu schwer an seinem eigenen Dasein auf dieser Erde zu tragen, um sich viel um das anderer Leute kümmern zu können, und wenn es die Ersten dieser Welt waren! Ihm hatte diese Welt überall in seinem Hause, wo er auf eine Wand sah, Kienbaumen dran gehängt, […] er sah den Mann jederzeit, und selbst bei geschlossenen Augen, so genau und deutlich vor sich, wie kein Maler, und wenn es der allerbeste gewesen wäre, ihn ihm hätte malen können. (BA 18, S. 41)

Der gesellschaftliche Ausschluss und der Druck, der damit einhergeht, werden von Quakatz als repressiv empfunden. Es stellt sich heraus, dass die Stadt, die äußerlich „auf Reinlichkeit, Ordnung“192 etc. wert legt, nicht nur materiell

|| 191 Stephanie Bird: Scham, Beschämung und Gesellschaftskritik, S. 56–57. Stephanie Bird beschreibt die Bedeutung eines derartigen Verhaltens der Gesellschaft folgendermaßen: „Eine Gesellschaft, die an der Oberfläche um Ordnung und Sauberkeit bemüht ist, enthüllt sich als ignorant und kleinlich. Es ist eine Gesellschaft, die sich durch Akte der Beschämung einen Außenseiter schafft und ihre Aggression auf diese Figur lenkt, um sich ihrer moralischen Werte und ihrer harmonischen Geschlossenheit zu versichern“ (Stephanie Bird: Scham, Beschämung und Gesellschaftskritik, S. 55). 192 BA 18, S. 156.

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„manch altes Gerümpel aus dem Wege“193 räumt. So wird auch der Mensch Quakatz, weil er eine Bedrohung für die gesellschaftliche Stabilität darstellt, „allein unter der Hecke sitzen [ge]lassen“.194 Die Ausübung sozialer Selbstjustiz der bürgerlichen Gesellschaft erweist sich für Quakatz als bedrohlich, da sie, um ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten, einen Außenseiter schafft und dabei nicht zurückschreckt, diesen durch permanente Schikane existenziell zu bedrängen. Ein weiteres Opfer dieser Ausschlussmechanismen der Gesellschaft ist Quakatz’ Tochter Valentine. Stopfkuchens spätere Ehefrau hat ebenfalls „ihr bitter Teil an der bösen Verfemung mitzutragen“.195 Der „Kienbaums-Geruch“196 geht hier generationenübergreifend vom Vater auf die Tochter über und macht sie ebenfalls zu einer Ausgestoßenen. Auch sie empfindet den Ausschluss aus der Gesellschaft als existenziell: Die „bösen Blicke und bösen Worte und das Geflüster und Gucken“197 sind für Valentine wie „wenn man einem einen Strick um den Hals legt oder nach einem Schlachtochsen mit dem Beile ausholt“.198 Dies zeigt deutlich, wie bedrohlich der gesellschaftliche Druck auf Valentine einwirkt. Die „Isolation, zu der Quakatz und seine Tochter durch den kollektiven Tatverdacht gegen sie […] verurteilt“199 werden, trifft in Valentine noch mehr als in Quakatz eine Unschuldige. Die Tochter, die nichts mit dem Mord an Kienbaum zu tun hat, wird gleich ihrem Vater von der Gesellschaft ausgestoßen und muss von da an ebenfalls die Bedrohung und Schmähung mittragen. Allein der Verdacht, gegen das Gesetz verstoßen zu haben, bringt die Gesellschaft dazu, einen Einzelnen aus ihrer Gemeinschaft auszuschließen. Und sie geht noch weiter: Da den Gerichten, die als Organ der Rechtsprechung die Funktion der Regulierung normativ-rechtlicher Erwartungen innehaben, die Hände gebunden sind, übernimmt es die Gesellschaft selbst, ihrer eigenen Gerechtigkeit Genüge zu tun. Da die eigentlich sozial legitimierte Institution der Rechtsprechung den Bedürfnissen nach gesellschaftlicher Sicherheit nicht nachkommt, bemächtigt sie sich einer eigenen Form der Rechtsausübung. Als Legitimation hierfür bedient sie sich moralischer Kriterien. So schafft sich die Gesellschaft einen Schuldigen, da ihr eigenes Sicherheitsgefühl durch den Ge|| 193 BA 18, S. 156. 194 BA 18, S. 82. 195 BA 18, S. 40. 196 BA 18, S. 88. 197 BA 18, S. 105. 198 BA 18, S. 105. 199 Ulrike Landfester: Das Genuß-Verbrechen. Spätrealistische Bildungskritik in Wilhelm Raabes Roman Stopfkuchen (1891). In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 46 (2005), S. 49.

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setzesbruch – dem Mord an Kienbaum – gefährdet ist. Dabei missachtet sie aber die geltenden rechtlichen Regelungen – man kann Quakatz nichts beweisen und somit nicht verurteilen – und greift zur Selbstjustiz. Der Roman kritisiert diese für überlegen gehaltene Moralität der Gesellschaft am Beispiel Quakatz’, der in diesem Fall unschuldig ist, und seiner noch unschuldigeren Tochter, die mit verstoßen wird.

3.3.2 Der Naturzustand als Bedrohung für individuelle Selbstbestimmung Durch falsche Verdachtsmomente, Verleumdungen und dem Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben wird Quakatz in die Opposition zur Gesellschaft getrieben. Er ist nicht nur kein Teil der Gesellschaft mehr, er muss sich sogar gegen ihre Akte der Ausgrenzung wehren: Die Gesellschaft übt einen derart starken Druck auf Quakatz aus, dass er dazu übergehen muss, sich aktiv dagegen zu verteidigen. Dabei setzt er auch juristische Mittel ein: Er hat’s ja wieder mit dem Schulzen von Maiholzen da gehabt und ihm die Faust vors dumme Gesicht gehalten und ihn in der Sache wegen Kienbaum von neuem einen Verleumder geheißen. Da ist er denn von neuem verklagt worden. (BA 18, S. 37)

Quakatz versucht in diesen „Beleidigungsund EhrensachenKränkungsgeschäften“,200 seine soziale Reputation wiederherzustellen oder, nachdem die Anfeindungen durch die Gesellschaft dadurch nicht eingestellt werden, sich zumindest in legalem Rahmen dagegen zu wehren. Das zwingt Quakatz zudem dazu, sich eingehend mit dem Gesetz zu beschäftigen. Das Gesetzbuch wird für ihn ein Mittel, das Recht selbst in die Hand zu nehmen, um herauszufinden, „wer recht hat, die Welt oder der Bauer auf der Roten Schanze“.201 Da er aber selbst kein Latein kann und er deshalb das Gesetz nicht verstehen kann, ist er auf die juristische Prüfung seiner Angelegenheiten durch Anwälte angewiesen. Mehrmals werden Verbindungen des Bauern Quakatz mit verschiedenen Anwälten erwähnt, wobei sich aber zunehmend ein Verlust des Vertrauens gegenüber der Justiz ergibt.202 So ist ihm gerade Stopfkuchen, der zwar auf die Lateinschule geht, aber immerhin ein Kind ist, recht, um ihm das Gesetzbuch zu übersetzen:

|| 200 BA 18, S. 40. 201 BA 18, S. 92. 202 Vgl. z.B. BA 18, S. 92–93, 108.

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Hier Lateiner! Mache du das mir mal auf deine Art deutsch klar – ein Wort, nach dem andern. Es ist das Korpusjuris, das Korpusjuris, das Korpusjuris, und ich will es mal von einem auf Deutsch vernehmen, der noch nichts von dem Korpusjuris, von dem Korpusjuris weiß! (BA 18, S. 91)

Die fünfmalige Erwähnung des „Korpusjuris“ in dieser Aussage zeigt Quakatz’ Besessenheit von der Auslegung des Rechts. Sein Ziel dieser Auslegungsversuche scheint aber vor allem die gesellschaftlichen Anfeindungen zu sein. Damit lässt sich auch sein Vertrauensverlust in das Gesetz erklären. Das Recht soll in seiner Funktion der Stabilisierung und Regulierung von Normen normgemäßes Verhalten schützen und Zuwiderhandlungen bestrafen. Quakatz wird jedoch, trotz der Nichtbeweisbarkeit seiner Täterschaft und insbesondere trotz seiner Unschuld – wenn auch von sozialer Seite – bestraft, und kann dies somit nicht als gerecht empfinden. Da es jedoch das Ziel von Quakatz’ juristischen Bemühungen ist, seine auf moralischen Kriterien beruhenden sozialen Angelegenheiten zu klären, muss hier die Justiz scheitern. Es gibt keine rechtliche Garantie auf soziale Inklusion. Zumal dies jedoch Quakatz’ einzige Möglichkeit ist, sich gegen die sozialen Ausgrenzungen zu wehren, muss er das Vertrauen in das Gesetz und seine staatlichen Vertreter verlieren. Dies wird schließlich in seiner Ablehnung von allem, was schriftlich ist, deutlich: Ich will nichts Schriftliches. Was von Schriftlichem hierher kommet, das nimmt auch mein Vater nur, wenn es ihm auf die Mistgabel gelegt und zugereicht wird. Nachher fasst er es an wie eine glühe Kohle. Und du, du – noch besser wär’s, wenn gar kein Mensch eine Zunge hätte zum Sprechen, zum Lügen, zum Sticheln – du auch! (BA 18, S. 42)

Resultat dieser Entfremdung von Gesetz und Gesellschaft ist, dass das Leben auf der Roten Schanze von einer Aggression gegen die umgebende Welt geprägt ist. So erzählt Valentine über ihren Vater: Ich weiß es von allen im Dorfe und auch unten in der Stadt, daß er Kienbaum totgeschlagen hat, und ich glaube es nicht. […] aber das weiß ich auch, daß er die ganze Welt und dich auch, Stadtjunge, vergiften könnte. Das glaube ich fest! Er sagt es, daß er alle unsere Hausmäuse und unsere Feldmäuse und die Hamäuse auch gern frei laufen und Schaden tun läßt, weil er euch nicht an den Hals kann. (BA 18, S. 88)

Valentine selbst zeigt ebenfalls ihre Aggression, wenn sie verwildert und feindselig den Hof gegen Eindringlinge bewacht und verteidigt. Schon jung ist sie zur Überzeugung gekommen, dass die ganze Welt schlecht sei203 und man sich ge-

|| 203 Vgl. BA 18, S. 37.

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gen sie verteidigen müsse. Das Schütteln ihrer Faust „gegen die lachende, freundliche Sommerlandschaft“204 als Zeichen für die Hunde, den Hof zu bewachen, wird zum Symbol für ihre aggressive Stellung zur Welt. Die Attacken und Anfeindungen zwingen die Bewohner der Roten Schanze dazu, sich ständig dagegen zu verteidigen. Sie befinden sich in einem Krieg gegen die Welt, der sie zusehends verwildern lässt. Dies entspricht dem Naturzustand außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nach Thomas Hobbes.205 In Abwesenheit eines Staates bzw. der bürgerlichen Gesellschaft und damit eines abstrakten Rechts, befindet sich die vorbürgerliche Gesellschaft in einem Kriegszustand, in der durch gegenseitiges Misstrauen jeder bereit ist, gegeneinander zu kämpfen.206 In diesem Naturzustand ist das Leben aber geprägt von Kulturlosigkeit und ist für den Einzelnen „solitary, poor, nasty, brutish, and short“.207 Quakatz und Valentine wurden durch den Verdacht des Mordes aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Weil nicht, wie im Sinne der Gesellschaft, Recht bzw. Gerechtigkeit für den vermeintlichen Mörder erfolgt ist, befinden sich alle folgenden sozialen Sanktionen im außergesellschaftlichen Bereich, dem Naturzustand. Dieser dient als Legitimation für den Kriegszustand, der zwischen den Verdächtigen und den sozial Sanktionierenden ausbricht. Die Konsequenz für die Bewohner der Roten Schanze, die sich in diesem Naturzustand befinden, ist der Verlust des Menschlichen, der sich im verwilderten Äußeren der Roten Schanze und den Assoziationen der Bewohner mit Tieren zeigt. Auch Valentines Auftreten als Wächterin der Roten Schanze ist ein Zeichen für diese Rohheit: Auch so was wie von einer wilden Katze hatte sie an sich, die im Notfall keiner künstlichen Waffe bedurfte, sondern nur jedem mit den echtgewachsenen Krallen ins Gesicht zu fahren brauchte und sich mit den Zähnen festzubeißen, um in jedem Kampfe für sich und um ihres Vaters Haus, Hof und Herd die Oberhand zu behalten. (BA 18, S. 35–36)

|| 204 BA 18, S. 39. 205 Dieser wird v.a. im 13. Kapitel des Leviathans behandelt. Vgl. Thomas Hobbes: Leviathan. Hg. von Richard Tuck. Cambridge 1996. Für einen philosophiegeschichtlichen Überblick über den Naturzustand und das Naturrecht, siehe den Hegel-Schüler Eduard Gans: Naturrecht und Universalgeschichte. Hg. von Johann Braun. Tübingen: Mohr Siebeck 2005, insbesondere S. 35–49. 206 Vgl. auch Julian Nida-Rümelin: Bellum omnium contra omnes. Konflikttheorie und Naturzustandskonzeption im 13. Kapitel des Leviathans. In: Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Hg. von Wolfgang Kersting. Berlin: Akademie Verlag 2008, S. 91; Andreas Hüttemann: Naturzustand und Staatsvertrag bei Hobbes. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 58 (2004), S. 29–30. 207 Thomas Hobbes: Leviathan, S. 89.

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Valentine präsentiert sich hier in einem verwilderten Urzustand,208 der sich nur auf die Verteidigung gegen die Welt beschränkt. Auch im Spiel der Kinder, das durch den Schlachtruf „Kopfab, kopfab! Kienbaum! Kienbaum! Tine Quakatz, kopfab, kopfab!“209 begleitet wird und bei dem die anderen Kinder zu „Feinden“210 erklärt werden, wird dieser Kriegszustand deutlich. Diese Reduktion des Einzelnen auf den einzigen Zweck der Selbstverteidigung bedeutet, dass keine freie Persönlichkeitsentfaltung mehr möglich ist. Dies wird umso deutlicher, als dass dieser Zustand den Bewohnern der Roten Schanze von außen aufgedrängt wird. Quakatz ist nämlich „erst durch Schikane und Terror der Bevölkerung und der Gerichte zu dem geworden […], der offensichtlich auf alles bösartigaggressiv reagiert“.211 Das weiß auch Quakatz, wenn er zu Stopfkuchen sagt: „die Welt hat mich ja so gewollt“.212 Die Rohheit und Verwilderung, die Quakatz und Valentine zum Ausdruck bringen, ist nur ein Zeichen dafür, dass, unter dem Druck der Gesellschaft und dem Ausschluss vom sozialen Leben, weder zivilisiertes Leben noch individuelle Selbstbestimmung möglich sind. Die gesellschaftliche Ächtung hat die Bewohner der Roten Schanze geformt, verändert und, indem sie ihre Existenz infrage stellt, zu ihrer gewalttätigen Einstellung gegen die Welt gezwungen. Die Welt macht sie zu dem, was sie sind. Durch die Vernichtung der gesellschaftlichen Identität wird auch die persönliche Selbstbehauptung bedroht, da die Bewohner der Roten Schanze in eine statische, von außen fremdbestimmte Persönlichkeit gezwungen werden. Die gesellschaftliche Schmähung bewirkt somit die Vernichtung der Individualität, da sie die freie Selbstbestimmung vollständig behindert. Deutlicher wird der bedrohliche Zustand der gesellschaftlichen Ausgrenzung für Andreas und Valentine Quakatz, wenn man sich die Rote Schanze unter der Führung des Bauern Quakatz betrachtet. Die Rote Schanze ist schon durch ihre ursprüngliche Funktion in der Vergangenheit ein Symbol für Quakatz’ Kriegszustand gegen die Welt: Sie hat als „Kriegs- und Belagerungs-

|| 208 Auch Quakatz wird Eduard als „greulicher Kerl, dem keiner [s]einer bösartigsten, schlimmsten Kaffern das Wasser reichen“ (BA 18, S. 119) kann, beschrieben. Durch den Vergleich mit Afrikanern, die im damaligen kulturellen Verständnis als barbarisch und unzivilisiert gelten, wird sein verwilderter Zustand deutlich. Hierzu sei nochmals auf den zeitgenössischen Afrikadiskurs in Abu Telfan verwiesen. 209 BA 18, S. 84. 210 BA 18, S. 84. 211 Paul Derks: Raabe-Studien, S. 19 [Hervorhebung im Original]. Eine ähnliche Ansicht findet man in Romano Guardini: Über Wilhelm Raabes Stopfkuchen. In: Raabe in neuer Sicht. Hg. von Hermann Helmers. Stuttgart: Kohlhammer 1968, S. 16. 212 BA 18, S. 91.

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Aufwurf des Prinzen Xaverius von Sachsen“213 im Siebenjährigen Krieg gedient, von dem aus die Stadt beschossen wurde und auf dem „die Kapitulation [des] Nestes drunten entgegen[genommen]“214 wurde. Die Rote Schanze gleicht auch mehr einem kriegerischen „Bollwerk“215 als einem Bauernhof: Da stieg sie auf im wohlerhaltenen Viereck. Nur durch einen Dammweg über den tiefen Graben mit der übrigen Welt in Verbindung! Mit allem, was sie der Knabenphantasie zu einem Entzücken und Geheimnis gemacht hatte: mit den Kanonen und Mörsern des Prinzen Xaver und mit der undurchdringlichen Dornenhecke, die der böse Bauer Andreas Quakatz auf ihrer Höhe um sich, sein Tinchen, sein Haus, seine Ställe und Scheunen und alles, was sonst sein war, zum Abschluß gegen die schlimme Welt gezogen hatte! (BA 18, S. 23)

Alles auf der Roten Schanze ist im Kriegszustand gegen die Umgebung und hat den einzigen Zweck, „die schlimme Welt“ draußen zu halten. Für die Bewohner der Roten Schanze – Andreas und Valentine Quakatz – hat sie zunächst die Bedeutung eines Schutzraumes, innerhalb dessen die Anfeindungen der Stadt sie nicht erreichen können: War es nicht schlimm, daß ich selber als so junges Kind die Hunde habe mit bösartig gegen die armen Menschen machen müssen? Aber war es nicht gut, nach der Schule in Sicherheit da auf dem Walle zu sitzen und das Dorf und die Stadt und die bösen Blicke und bösen Worte und das Geflüster und Gucken auch der Besten und Vernünftigsten unter sich zu haben? (BA 18, S. 105)

Nur hier auf der Roten Schanze sind sie in Sicherheit vor der gesellschaftlichen Ächtung. Sie dient jedoch mehr der Verteidigung gegen die Welt als der aktiven Belagerung, wie noch zu Zeiten des Siebenjährigen Krieges. Sie wird zur „rettende[n] Arche gegen die aufgebrachte Stadt und die bürgerliche Justiz“.216 Allerdings ist dieser Schutzraum kein Garant für eine beständige Sicherheit vor den Anfeindungen, denn auch von innen droht Gefahr. Dies zeigt sich speziell an der Bedrohung, die von den Dienstboten ausgeht, die nach Quakatz’ Schlaganfall gegen Valentine rebellieren und sogar gewaltbereit werden: Ach ja, und der Knecht hatte mir an dem ganz besondern Nachmittage wieder mal die Faust unter die Nase gehalten und die Magd mir den Kochlöffel vor die Füße geworfen. Einen von den Hunden wenigstens hatte ich ja immer bei mir, um mich mit ihm im letzten

|| 213 BA 18, S. 23. 214 BA 18, S. 138. 215 BA 18, S. 39. 216 Heinrich Detering: Theodizee, S. 201.

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Notfall zu wehren; aber an dem Sonntage hatten sie mir auch gedroht, sie mir alle zu vergiften. Ei freilich, wenn sie dieses ausgeführt hätten, ehe Heinrich kam, so wäre ich freilich bis dahin ganz verraten und verkauft in ihren Händen gewesen (BA 18, S. 126)

Der isolierende Aufbau der Roten Schanze wird demnach für die Bewohner notwendig, da er die ständigen Angriffe auf die Person abschirmt. Dabei kann die Rote Schanze aber die Bedrohung für die Individualität, die durch die gesellschaftliche und von außen aufgezwungene Isolierung entsteht, nicht ausgleichen. Sie wird zu einer eigenen Welt abseits des sozialen Gefüges, in der jedoch ein die Menschen verrohender Kriegszustand herrscht und den die Hunde als „Kriegsvolk“217 aufrechterhalten.218 Resultat dieser gesellschaftlichen Ausgrenzung ist, wie bereits erwähnt, die Unmöglichkeit einer freien Selbstbestimmung, was sich im verwilderten und verwahrlosten Zustand der Schanze219 niederschlägt. Somit droht von beiden Seiten – von außen durch die gesellschaftliche Ausgrenzung und von innen durch den Kriegszustand der Roten Schanze – eine Gefahr für die selbstbestimmte Lebensausführung. Unter diesen Umständen ist individuelle Selbstbehauptung unmöglich.

3.3.3 Die Mordaufklärung als individuelle Rache an den Mechanismen der Gesellschaft Der größte Teil der im Roman enthaltenen Gesellschaftskritik zeigt sich in Stopfkuchens Aufklärung des Mordes. Hier tritt Stopfkuchen als Vermittler von Recht auf. Dabei nimmt er auch verschiedene Rollen ein – er ist „Ankläger, Zeuge und Richter in einer Person“.220 Heinrich Detering bringt Stopfkuchen in Verbindung mit dem biblischen Noah,221 die durch den Leitspruch über Stopfkuchens Haustür222 und die Beziehung der Roten Schanze zur Sintflut223 gekennzeichnet ist. Stopfkuchens Gang in die Stadt, in die er Eduard nach dessen Besuch begleitet, werde zum „säkularisierten oder travestierten – || 217 BA 18, S. 24. 218 Zur Bedeutung der Hunde auf der Roten Schanze, siehe: Roland Borgards: Katze, Hund und Bradypus. Raabes Stopfkuchen als Tiergeschichte. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 48 (2007), S. 4–12. 219 Vgl. BA 18, S. 39. 220 Johannes Graf u.a.: Heinrich Schaumann, ein Lügenbaron?, S. 199. 221 Vgl. Heinrich Detering: Theodizee, S. 203–205. 222 Vgl. BA 18, S. 75: „Da redete Gott mit Noah und sprach: Gehe aus dem Kasten.“ 223 Vgl. BA 18, S. 99: „[E]s liegt wohl noch mehr da; denn diese Schanze ist wohl so eine Anschwemmung von der Sündflut her.“

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heilsgeschichtlichen Vorgang“.224 Stopfkuchen erhalte gleich Noah einen „göttlichen Auftrag“,225 nämlich „Unrecht auf[zuklären] und Recht [zu] schaff[en]“.226 So trete er als Richter auf – einerseits im individuellen Mordfall, den er aufklärt, und zum anderen, indem er „die unrecht Handelnden […] beschämt“.227 In der Forschung wird Stopfkuchens selbstbestimmte Mordaufdeckung oft als Beweis seiner eigenen, von der Gesellschaft unabhängigen Werte und der Fähigkeit zur Reflexion gesehen.228 Daneben gibt es Studien, die Stopfkuchens Handeln bezüglich der Mordaufklärung und den Wahrheitsgehalt seiner Entdeckung hinterfragen.229 Wie bereits dargelegt, geht es Stopfkuchen in seinen Ausführungen nicht primär um die Enthüllung des wahren Mörders, sondern vor allem um eine Anklage der Gesellschaft. Die Entdeckung des wahren Täters nimmt in seiner Erzählung die entscheidende Rolle in der Demontage des bürgerlichen Selbstverständnisses Eduards ein. Störzer ist nämlich nach Ansicht der Gesellschaft das „Muster eines ordentlichen Beamten“.230 Da Eduard ihn zudem als Vorbild für seine eigene Lebensgeschichte sieht, „potenziert sich [in ihm] das positive Urteil der Gesellschaft über Störzer“231 und trägt erheblich zu seiner Erschütterung bei. Allerdings wird durch die Enthüllung des Täters als einer der

|| 224 Heinrich Detering: Theodizee, S. 204. Detering übersieht dabei allerdings den im Roman gegensätzlich angelegten Diskurs zwischen Bibel und historisierenden Erklärungsmodellen. Zwar stellt sich Stopfkuchen in Beziehung mit dem biblischen Noah, nutzt die biblischen Zitate allerdings auf ironische Weise, die darauf abzielt, die Gesellschaft zu hinterfragen. 225 Heinrich Detering: Theodizee, S. 204. 226 Heinrich Detering: Theodizee, S. 202. 227 Heinrich Detering: Theodizee, S. 203. 228 Vgl. beispielsweise Gabriele Varo: Feindlichkeit, S. 46–47; Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 82; Günther Matschke: Isolation, S. 84. 229 Vgl. Johannes Graf u.a.: Heinrich Schaumann, ein Lügenbaron?, S. 201: „Bei Schaumanns Aufklärung ist unerheblich, ob Störzer wirklich der Mörder ist. Schwerer wiegt, dass dieser sich als Toter nicht verbal verteidigen kann. Schaumann dreht damit Valentines Aussage auf den Kopf: Wenn es einerlei ist, wer Kienbaum totgeschlagen hat, kann man jeden beschuldigen, der sich nicht verteidigen kann. Schaumann nutzt die Undurchschaubarkeit der Vorgänge und arrangiert einen möglichen Kontext, in den er Störzer als Mörder und sich als Zeugen einsetzt. Keiner der Beteiligten kann den Mörder belasten oder entlasten, weil sie alle tot sind. Der einzige, der davon spricht, ist Schaumann. So bringt er alle anderen zum Schweigen.“ In diesem Kontext sei zudem auf Claudia Liebrand: Wohltätige Gewalttaten? Zu einem Paradigma in Raabes Stopfkuchen. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 38 (1997), S. 89–91 und Ralf Simon: Raabes literarische Historik, S. 18–21 verwiesen. Während diese Studien alles in Allem viele ansprechende Akzente liefern, würde eine eingehendere Beschäftigung mit dem Wahrheitsgehalt der Aussagen Stopfkuchens den Rahmen und den Anspruch dieser Arbeit sprengen. 230 Hubert Ohl: Eduards Heimkehr, S. 260. 231 Hubert Ohl: Eduards Heimkehr, S. 260.

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Philister die Gesellschaft an sich angegriffen und die „Schuld […] damit symbolisch dem Spießbürgertum aufgebürdet“.232 Mit dieser Schuld meint Stopfkuchen vor allem die Verfolgung und Verurteilung des unschuldigen Quakatz und seiner Tochter. Bei seiner Hochzeitsfeier greift Stopfkuchen bereits implizit die falsche öffentliche Meinung von der eigenen moralischen Überlegenheit an. Hier zeigt sich Stopfkuchen für die Wiederherstellung der sozialen Reputation der Roten Schanze und seiner Bewohner verantwortlich. Diese vollzieht sich aber nicht durch die Auflösung des Mordes und die Entdeckung des wahren Mörders, obwohl der Tatverdacht schließlich der Grund für die soziale Ausgrenzung Quakatz’ und Valentines ist, sondern durch Stopfkuchens Heirat mit Valentine. Hierzu ist die ganze Umgebung, „so weit das Gerücht von Kienbaum und Kienbaums Mörder gereicht hatte“,233 eingeladen. Allein durch die neue, von Stopfkuchen übernommene Herrschaft über die Rote Schanze, wird diese wieder sozial präsentabel und auch Quakatz, der zwar nicht des Mordverdachts entledigt wird, kommt wieder „annähernd […] unter [die] Menschen“:234 Ja, ja, ja, da sie mich zu grüßen hatten, so grüßten sie auch ihn wieder und der Mensch ist so, Eduard, es machte dem greisen Sünder wirklich Spaß, es machte ihm das höchste Vergnügen, noch einmal seine Zipfelkappe vor der albernen Welt freundlich zum Gegengruß lupfen zu dürfen. Er ist hinübergegangen in der vollen Überzeugung, unter der Menschheit in integrum restituiert worden zu sein. (BA 18, S. 148–149)

Stopfkuchen entlarvt auf diese Weise gerade die früheren sozialen Ausgrenzungen, die unter dem Mantel der moralischen Gerechtigkeit geführt wurden, als Fehlverhalten. Wenn es ihm allein mit einem sozialen Fest wie der Hochzeitsfeier gelingt, dass ein verdächtigter Mörder wieder in die Sozialität aufgenommen wird, so zeigt er, dass dieses Verhalten nichts mehr mit Recht zu tun hat. Dies scheint auch Stopfkuchens Motiv zu sein, wenn er die ganze Umgebung, von der „keiner das um [sie] verdient“235 hat, zu seiner und Valentines Hochzeit einlädt. Indem sie alle kommen und damit der Wiederherstellung der sozialen Reputation der Roten Schanze den Weg ebnen, wird ihre eigene Moralität, die sie jahrelang dazu veranlasst hat unter dem Mantel der Gerechtigkeit einen

|| 232 Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 82. 233 BA 18, S. 143. 234 BA 18, S. 146. 235 BA 18, S. 142.

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Einzelnen auszugrenzen,236 als heuchlerisch entlarvt.237 Dies zeigt sich nochmal, wenn Stopfkuchen die Geschäfte seines Schwiegervaters übernimmt: Du lieber Himmel, wie waren sie mit dem Andres Quakatz, mit Kienbaums Mörder, trotzdem, daß sie gar nichts von ihm wissen wollten, in Geldangelegenheiten intim umgegangen! Was alles hatte sich vertraulich, Zutrauen gegen Zutrauen setzend, an ihn gemacht mit schlechten und guten Aktien, mit Pfandscheinen, Hypotheken, Bürgschaften und was sonst im wechselnden Verkehrsleben vorkommt. Bei drei Feuerversicherungsagenten hatte der alte Herr die Rote Schanze versichert, weil sie ihm versichert hatten, daß sie fest überzeugt seien, er habe Kienbaum nicht totgeschlagen. (BA 18, S. 147)

Dass Stopfkuchen, der diese Schulden anschließend bei der Umgebung eintreiben will, von der Gesellschaft, um sich selbst „eine ethische Haltung zu geben“,238 dafür als „Schlaueste[r], aber auch Gewissenloseste[r] aus [ihrer] Mitte“239 bezeichnet wird, verweist auf die Dialektik des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft. Durch dieses Verhalten wird ausgerechnet Stopfkuchen, der von der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen wird, zur Mitte der Gesellschaft gezählt. Auf diese Weise unterstreicht Stopfkuchen seine Kritik an der bürgerlichen Moral. Nachdem Stopfkuchen so implizit die bürgerliche Moralität kritisiert hat, geht er bei Quakatz’ Beerdigung zur aktiven Anklage gegen die gesellschaftliche Moralauffassung über. Die von Stopfkuchen formulierte Grabrede prangert mit Bezügen zur christlichen Symbolik das Fehlverhalten der Gesellschaft gegenüber Quakatz an: Tot ist er, und ihr lebt. Er ist so tot wie Kienbaum, den er, nach der Meinung der Mehrzahl von uns, totgeschlagen haben soll. Er steht nun vor dem Richter, der das letzte Wort in dieser dunkeln Sache sprechen wird: sollten wir jetzt wenigstens nicht doch ein wenig mehr, hier am Ort, in uns gehen und uns fragen: haben wir dem stillen Mann hier vor uns nicht doch vielleicht zu viele Steine des Ärgernisses in den Weg geworfen? Christliche Gemeinde, meine lieben Brüder und Schwestern, haben wir nicht doch vielleicht etwas zu lauthalsig Racha über ihn geschrieen? Wenn er nun da an den schwarzen Deckel pochte

|| 236 Es wird auch darauf verwiesen, dass gerade diejenigen zur Feier kommen, die am Schlimmsten zur Verfemung Quakatz’ beigetragen haben. Vgl. BA 18, S. 144: „[D]enn das hatte ich mir auch nicht nehmen lassen: ich hatte ihm auch die eingeladen, welche ihn niemals aufgegeben hatten.“ 237 Auch das Verhalten der Gesellschaft gegenüber Stopfkuchen, die ihn jahrelang wegen seiner Fettleibigkeit verspottet hat, wird hier bewusst durch Stopfkuchen aufgegriffen, da die Hochzeitsfeier vor allem durch ein reiches Essensangebot gekennzeichnet ist. Vgl. BA 18, S. 150: „[D]er Fleischtopf rief, und alle, alle kamen.“ 238 BA 18, S. 147. 239 BA 18, S. 147.

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und noch einmal wenigstens für einen Augenblick herausverlangte, um sein Verdikt von da oben her schriftlich uns zuzureichen, was würden wir da tun? Wer würde die Hand ohne Bangnis nach dem Blatt ausstrecken? […] Christliche Gemeinde, wenn er Kienbaum nun doch nicht totgeschlagen hätt?... Hätte er da nicht vor dem letzten Richter sein Wort sprechen dürfen? Ich glaube, er hat die Erlaubnis erhalten; und wie ich ihn kennengelernt habe […], hat er geächzt: „Herr, Herre, was ich sonsten gesündigt haben mag, das haben sie da unten mich schon reichlich büßen lassen durch Mißachtung, scheele Blicke, Fingerdeuten, Abrücken im Kruge und Alleinlassen bei jeder Haushaltsnot. Wenn ich nun als ein vergrellter, in seinen Erdengrimm verbissener Mann zu Dir komme, Herr des Himmels und der Erden, so zieh von meiner Strafe im ewigen Leben meine tagtägliche und allnächtliche Büßung da unten in der Sterblichkeit ab, grundgütiger Gott. Und vergib ihnen in Maiholzen und der Umgebung auch, was sie nach unserer armen Menschenweise an mir zuviel getan haben.“ (BA 18, S. 172–173)240

Stopfkuchen weist hier noch einmal darauf hin, dass niemand Quakatz’ Schuld gerichtlich beweisen konnte und deshalb die sozialen Sanktionen ungerecht waren. Er verweist auch auf das im christlichen Glauben enthaltene Rechtsverständnis, das den Ausgleich von Schuld durch Buße lehrt. Da Stopfkuchen aber nicht an Gott glaubt,241 ist dieser Hinweis wohl mehr ein rhetorisches Mittel, um zu zeigen, dass die jahrelangen sozialen Anfeindungen der Gesellschaft gegen Quakatz eine Verbiegung der christlichen Moral darstellen. Dass ausgerechnet Stopfkuchen, der nicht diesem Glauben angehört, das versteht, während die ausdrücklich erwähnte „christliche Menschheit“242 es sich zur Aufgabe macht, den Verdächtigen zu verurteilen, zeigt, wie falsch die gesellschaftliche Moralauffassung ist. Mit seiner „religiöse[n] Redeweise entmächtigt er die Religion (und bemächtigt sich ihrer)“.243 Stopfkuchen konfrontiert die Gesellschaft in seiner Predigt mit ihrem Denken und es gelingt ihm, die „öffentliche Meinung als falsche Meinung zu entlarven“244 – nicht zuletzt durch das der Grabrede direkt folgende Aufdecken des wahren Mörders. Das Falsche an dieser Meinung

|| 240 Hubert Ohl verweist auch auf die Parallelität der Grabrede mit der eigentlichen Aufklärung im Gasthaus. Während am Grab jeder davon überzeugt ist, dass Quakatz Kienbaums Mörder sei, geht im Gasthaus niemand davon aus, dass der redliche Störzer der Täter sein könnte. Auch das Urteil der Gesellschaft über die Täter sowie ihre Reaktion auf die beiden Reden verlaufen entsprechend. Das Ziel beider Situationen ist somit die Herausforderung der gesellschaftlichen Ansichten und deren Widerspruch. Vgl. Hubert Ohl: Eduards Heimkehr, S. 262–263. 241 Vgl. BA 18, S. 113: „Und wenn er tausendmal nicht mehr an ein Wunder glaubt und an eine höhere Regierung.“ 242 BA 18, S. 36. 243 Heinrich Detering: Theodizee, S. 207. 244 Jeong-Hee Bae: Erfahrung der Moderne, S. 52.

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liegt in ihrer „sozialethische[n] Begründung“:245 In ihrem Verdacht und der anschließenden Verurteilung stützt sich die Gesellschaft nämlich auf ihre konventionellen Normen und klassenbezogenen Vorurteile. Das Bild, das die Gesellschaft von Quakatz und Störzer hat, ist auf ihren sozialen Stand reduziert: Zwar wird Störzer wegen seiner Dummheit und seinem niedrigen Stand wohlwollend als harmlos belächelt,246 er wird aber von der Gesellschaft in seiner Konformität als „brave[r] alte[r] Biedermann“247 angesehen und in seinen Qualitäten als fleißiger Landbriefträger sogar Eduard als „Muster aufgestellt“.248 So etwas Grausames wie ein Mord kann ihrer Meinung nach „nichts mit der eigenen ordentlichen bürgerlichen Welt zu tun“249 haben. Während es dem armen, bürgerlich-braven Störzer also nicht zugetraut wird, einen Mord zu begehen, hält man den reichen und in der Streitsache um den Viehhandel wehrhaften Quakatz aber für dazu im Stande: „In [Quakatz’] Natur und Stellung zu ihm lag’s, Kienbaum totzuschlagen. In [Störzers] nicht“.250 Während sich die öffentliche Meinung somit auf die sozialen Bedingungen reduziert, basiert Stopfkuchens Aufdeckung des Mordes auf seinen Beobachtungen. Stopfkuchens öffentliche Aufklärung des Mordes im Goldenen Arm – Harald Neumeyer verweist diesbezüglich auf die kontinuierliche Vergewisserung Stopfkuchens, dass die Kellnerin Meta auch zuhört251 – bildet den Schlussakt seiner Anklage gegen die Gesellschaft, deren öffentliche Meinung von Quakatz’ Täterschaft hierdurch letztendlich falsifiziert wird. Seine Entscheidung, erst nach Störzers Tod den Mord endgültig aufzudecken, wird oft als wahre Humanität gesehen. Im Gegensatz zur Unmenschlichkeit der vorverurteilenden Gesellschaft, scheint bei ihm das Humane „in der Ausnahme individualisiert, vereinzelt, verinnerlicht und tätig – keine allgemeine Norm mehr, sondern eben der Ausnahmefall“.252 Durch seine späte Aufdeckung, zwinge Stopfkuchen die Ge-

|| 245 Jeong-Hee Bae: Erfahrung der Moderne, S. 52. 246 Vgl. BA 18, S. 15: Eduards Vater hält Störzer für „dumm, gleichgültig, stillvergnügt“. 247 BA 18, S. 176. 248 BA 18, S. 15. 249 Michael Stoffels: Phantasie, S. 128. 250 BA 18, S. 193. In diesem Zitat verbirgt sich auch ein Stück Kritik an der Justiz, welche sich in ihrem Verdacht gegen Quakatz von den gesellschaftlichen Vorurteilen beeinflussen lässt. Es ist nämlich der „Menschheit und der Juristerei […] nicht zu verdenken, daß sie in dieser Sache sich an Quakatz gehalten hat und nicht an den Landbriefträger Störzer“ (BA 18, S. 193; Hervorhebung durch den Verfasser). 251 Vgl. Harald Neumeyer: Rederaum Gasthaus, S. 96–97. 252 Fritz Martini: Weltleid und Weltversöhnung. Wilhelm Raabe in seinem Jahrhundert. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 26 (1985), S. 23.

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sellschaft zu eigener Humanität, indem er sicherstelle, dass die „ethische Irrelevanz“253 der gesellschaftlichen Inklusion Störzers nicht wieder durch seine Exklusion sozial relevant werden könne.254 Günther Matschke meint: Seine Überlegenheit und völlige Unabhängigkeit von der Gesellschaft als Resultat seiner Isolation, seine in ihr begründete Humanität beweist er damit, daß er sein Wissen von der Identität des wirklichen Mörders so lange zurückhält, bis dieser der irdischen Gerechtigkeit, vor allem aber der Brutalität der Mitmenschen, durch den Tod entzogen ist.255

Paul Derks hingegen weist darauf hin, dass Stopfkuchen dabei aber auf Störzers Familie, nämlich seine Tochter und deren Kinder, keine Rücksicht nimmt.256 Störzer wird posthum geächtet: Sein Trauerzug besteht nur aus seiner Familie, der Rest verweigert ihm das Geleit.257 Von einer Schmähung der Tochter und der Enkel durch die Gesellschaft ist allein schon wegen ihres Verhaltens gegenüber Valentine, die die genealogische Schmach ihres Vaters mittragen musste, auszugehen.258 Eduard erinnert sich zwar noch einmal ausdrücklich daran, dass Stopfkuchen versprochen hat, „hier an Kinder und Enkel zu denken“,259 dies bezieht sich aber nur auf „den Gemüsegarten, den Butter- und Eierhandel“260 der Roten Schanze. Stopfkuchen hat keine Macht über die Gesellschaft.261 Zwar gelingt es ihm, in seinen öffentlichen Anklagen die gesellschaftliche Meinung herauszufordern und die sozialen Akte der Ausgrenzung ad absurdum zu führen, damit ändert er aber die gesellschaftlichen Gegebenheiten nicht. Dies erkennt man schon daran, dass die Philister noch am Grab des Bauern Quakatz

|| 253 Renate Heuer: Individualität, S. 132. 254 Vgl. Renate Heuer: Individualität, S. 132–133. 255 Günther Matschke: Isolation, S. 84. Ähnliche Meinungen finden sich u. a. bei Jeong-Hee Bae: Erkenntnis der Moderne, S. 50–54, Dieter Kafitz: Die Appellfunktion der Außenseitergestalten: Zur näheren Bestimmung des Realismus der mittleren und späten Romane Wilhelm Raabes. In: Wilhelm Raabe. Studien zu seinem Leben und Werk. Hg. von Leo A. Lensing und Hans-Peter Werner. Braunschweig: pp-Verlag 1981, S. 60. 256 Vgl. Paul Derks: Raabe-Studien, S. 21. 257 Vgl. BA 18, S. 203. 258 Auch Störzer verweist während seines Geständnisses noch darauf, dass „Kinder und Kindeskinder [zusehen müssen], wie sie [sich], mit dem Geruch, den der alte Großvater ihnen hinterläßt, abfinden“. BA 18, S. 186. 259 BA 18, S. 203. 260 BA 18, S. 164. Dass Stopfkuchen dies überhaupt anbietet sowie seine Verweise darauf, dass „man […] sich schon durch[schlägt]“ (BA 18, S. 163), deuten darauf hin, dass selbst Stopfkuchen ein derartiges Verhalten der Gesellschaft erwartet. 261 Eine gegensätzliche Meinung findet sich bei Renate Heuer: Individualität, S. 133.

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von Reue über die eigenen Taten erfasst sind,262 bei Störzers Begräbnis sich dies jedoch schon wieder in die gewohnt-philiströse Sensationslust wandelt: Es wäre übertrieben, wenn ich sagen wollte, daß die halbe Stadt auf den Beinen war, um dem Begräbnis des Landbriefträgers Störzer mit anzuwohnen: aber ein gut Teil der Bevölkerung war doch versammelt in den Gassen und Gäßchen um seine Behausung her. Und darunter […] auch mehrere Bekannte aus dem Brummersumm. Daß man dastehe und auf den Zug warte, um dem Alten mit ein ehrenvolles Geleit zu seinem Grabe zu geben, äußerte niemand. Aber jedermann hatte gewiß das Recht, seiner Morgenbequemlichkeit oder seinen Geschäften ein paar Augenblicke abzuzwacken, um jetzt, im letzten Augenblick, einen Blick auf die schwarze Truhe zu werfen, die den augenblicklich merkwürdigsten Menschen, nicht bloß der Stadt, sondern auch der Umgegend auf weithin, barg. Sie wollten alle den guten, alten, dummen Kerl, diesen alten Störzer […] – sie wollten ihn, Kienbaums Mörder, ihn oder wenigstens seinen Sarg doch noch einmal sehen! (BA 18, S. 201– 202)

Auch wenn die Mordgeschichte geprägt ist von der Kritik an der Gesellschaft, so ist ihre Lösung demnach kein Hinweis auf eine Humanisierung durch Stopfkuchen. Dieser zieht sich nach der Auflösung sogar auf die Rote Schanze zurück und überlässt es Eduard „die Sache Störzer-Kienbaum gegen die Menschheit auszutragen“.263 Das kritische Potenzial seiner Ausführungen lässt sich daher am besten im Vergleich mit Eduard erkennen. Im Rätselhaften, das Störzer nach dessen Enthüllung als Mörder Kienbaums für die Gesellschaft darstellt, steckt etwas von der Erschütterung des bürgerlichen Selbstverständnisses, das Eduard empfindet: Wenn sich die Gesellschaft wundert, ob die Mordgeschichte durch Störzer „unheimlicher oder sozusagen ganz gemütlich wird“,264 zeigt dies, dass sie sich durch die Aufdeckung ihrer Fehlurteile selbst fragwürdig wird. Die Auswirkungen auf das bürgerliche Selbstverständnis sind hingegen unterschiedlich: Während Eduard überstürzt und zutiefst erschüttert abreist, ist die Entdeckung des wahren Mörders für die Gesellschaft bloß eine angenehme „Überraschung“.265

|| 262 Vgl. BA 18, S. 175: „Herr Schaumann, wenn es Ihnen und der Frau recht ist, so lassen wir alles nun vergessen und begraben sein. Es ist ja ganz richtig, wie der Herr Pastor sagte, zu scharf soll keiner mit dem andern ins Gericht gehen, und, alles in allem genommen, hatte der Selige doch auch seine guten Seiten, und mancher hätte sich da ein Muster nehmen können.“ 263 BA 18, S. 200. 264 BA 18, S. 202. 265 BA 18, S. 202.

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3.3.4 Klassenunterschiede und Kritik an der spießbürgerlichen Moralvorstellung Der Landbriefträger Störzer gehört schon allein wegen seiner Verbindung zu Eduard als dessen Mentor zu den Philistern. Sein Interesse an Geografie, das er Eduard mitgegeben hat, entpuppt sich im Laufe der Mordgeschichte allerdings nur als illusorischer Fluchtgedanke, geboren aus jahrelanger Verdrängung.266 Gleichzeitig rückt Störzer als ein von der Gesellschaft Verspotteter immer näher in den Symbolzusammenhang Stopfkuchens. Am Ende stellt sich heraus, dass ihn Stopfkuchen besser kennt als Eduard267 – schließlich „kristallisiert sich in Störzer die Problematik der beiden Hauptfiguren“.268 Während seines Geständnisses – seiner „Beichte“,269 die er vor Stopfkuchen ablegt, kommt Störzer zum ersten Mal längere Zeit zur Sprache. Hier deckt er die Auseinandersetzung auf, die er bereits seit Kindestagen mit dem Mordopfer Kienbaum hat. Hierfür muss jedoch zunächst Störzers Stellung in der Gesellschaft genauer beschrieben werden: Einerseits wird er, wie bereits erwähnt, als musterhaftes fleißiges und „[m]it allen Ehren“270 bedachtes Mitglied der Philister gezeichnet, andererseits erfüllt er die bürgerlichen Anforderungen nach Besitz und Bildung überhaupt nicht. So wohnt er als armer Mann im „Viertel der ‚kleinen Leute‘“271 und es wird mehrmals auf seine Dummheit hingewiesen.272 Hier offenbart sich ein Konflikt mit der Gesellschaft, der „offensichtlich grundgelegt durch Klassenunterschiede“273 ist. Die ihm gegenüber geäußerten Ehrenbezeichnungen werden nämlich immer unter dem Vorbehalt des Spottes ausgesprochen.274 Auch Kienbaum, als Vertreter der intellektuell überlegenen „besitzenden Klasse“,275 nutzt diese Eigenschaften aus, um sich über Störzer zu erheben:

|| 266 Vgl. Julia Hell: Der ungleichzeitige Bürger, S. 189. 267 Vgl. BA 18, S. 163: „[D]ieser Herr hat seinerzeit den Schwiegerpapa ganz gut gekannt, wenn auch nicht so gut wie ich.“ 268 Julia Hell: Der ungleichzeitige Bürger, S. 188. 269 Vgl. BA 18, S. 188: „Stopfkuchen mit Storzhammel im Beichtstuhl als Beichtvater und -kind.“ 270 BA 18, S. 14. 271 BA 18, S. 158. 272 Vgl. BA 18, S. 15, 176, 187. 273 Paul Derks: Raabe-Studien, S. 23. 274 Vgl. BA 18, S. 15. 275 Paul Derks: Raabe-Studien, S. 23.

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Herr, Herr, wie hat mir [Kienbaum] meine Wege schwer gemacht von Kindsbeinen an, von Schulwegen an bis auf diese königliche Landstraße hier! Er ist es gewesen, der mir auf der Schulbank den Schimpfnamen Storzhammel erfunden und für mein Leben angehängt hat. Er ist es gewesen, der mir von der Schulbank an von allen Menschen am meisten den Unterschied zwischen Armut und Wohlstand und zwischen einer langsamen Besinnlichkeit und einem hellen Kopf mit Bosheit und großem Maul zu erkennen gegeben hat. (BA 18, S. 187; Hervorhebung durch den Verfasser)

Kienbaum benutzt seine höhere soziale Stellung gegenüber dem niedriger Gestellten, um ihn tagtäglich zu verhöhnen. Aber auch von anderen Menschen erfährt Störzer den Spott der sich überlegen fühlenden Gesellschaft. Das Bürgertum, in dessen Maxime „Besitz und Bildung“ sich letztendlich das Streben nach sozialer Erhöhung und Macht verbirgt, versichert sich ihrer höheren Stellung durch Verspottung und Erniedrigung der weniger einflussreichen – weil diese Anforderungen nicht erfüllenden – Schichten. Die in Stopfkuchen beschriebene Gesellschaft wird dadurch in ihrer „inhumanen Struktur“276 kritisiert – sie beruht auf Repression.277 Wenn Kienbaum an Störzer tagtäglich vorbeifährt und ihn bis zur körperlichen Verletzung278 quält, zeigt dies die Unterdrückung der „kleinen Leute“ durch die besitzende Schicht zum Zweck der Sicherung der eigenen gesellschaftlichen Position. Dessen ungeachtet werden aber auch Störzers Ansichten in Stopfkuchen kritisiert. Seine Sicht von der unteren Schicht aus auf die Gesellschaft wird von ihm moralisch legitimiert. Störzers Geständnis enthält christliche Bezüge: So versteht er den Mord zwar als seine Schuld,279 sieht ihn aber vor allem als gerechte Strafe für das, was Kienbaum „von Kindsbeinen an [ihm] gesündigt hatte“.280 Auch seiner „bittere[n] Reue“,281 die sein Wesen sogar noch im Totenbett bestimmt, legt er mehr Gewicht bei, als der irdischen Justiz. So ist es der „liebe Herrgott“,282 der „höchste Richter“,283 dem er die Bewertung und Bestrafung seiner Sünde überlässt.284 Im Vergleich zu Kienbaum, versucht Störzer sich als

|| 276 Michael Stoffels: Phantasie, S. 129. 277 Vgl. Michael Stoffels: Phantasie, S. 129. 278 Vgl. BA 18, S. 192. 279 Vgl. BA 18, S. 186. 280 BA 18, S. 186. 281 BA 18, S. 186. 282 BA 18, S. 188. 283 BA 18, S. 188. 284 Vgl. hierzu auch Gisela Warnke: Das „Sünder“-Motiv in Wilhelm Raabes Stopfkuchen. In: DVjs 50 (1976), S. 468–470: Gisela Warnke zeigt auf, wie sich Störzer hinter diesen christlichen Analogien bis hin zum Ersatz des Subjekts durch den göttlichen Willen versteckt.

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den moralisch besseren und damit in seinem Verstecken gerechtfertigten Menschen darzustellen: Was soll man machen […], wenn man eigentlich ohne jegliche Wehr und Waffe gegen jeglichen Schlingel von Jugend auf geboren ist? O Gott, Gott, Gott, es ist ja gewißlich ein Mord gewesen, den ich an Kienbaum begangen habe; aber es gehört eben alles dazu, im kleinen und allerkleinsten wie im groben und allergröbsten, was mir der Mann als Junge und junger Mensch und Mannsmensch angetan hat. Und mir hat Kienbaum so ziemlich alles angetan, was kein Junge vom andern erträgt! Wenn seine Püffe und Knüffe beim alten Kantor Fuhrhans mir an der Haut haften geblieben wären, so wäre heute kein weißer Christenflecken mehr an mir, sondern alles blau, grün und gelb. Und wenn die Wuttränen, die ich hinter ihm drein verschluckt habe, jetzt ausbrächen, so gäb’s drei Eimer voll! Ich habe Ihnen wohl vorhin gesagt, es sei über kein Mädchen gekommen, aber dabei ist doch eines gewesen. Nämlich beim Militär. Als wir zwei beim Militär auch vom Herrgott wie aneinander genagelt waren. Ich wollte nichts von ihr, aber ich habe sie ihm, mit seinem Kind bei sich, aus dem Wasser geholt, in der ganzen Garnitur Numero zwei, und es wäre besser gewesen, ich hätte sie drin gelassen, die zwei armen Geschöpfe. Um die Alimente hat er sich nachher weggeschworen, und so ist das Kind unter der Hecke verkommen und sie ihm Zuchthause. Aber davon will ich gar nichts sagen; denn im Grunde ging das mich doch eigentlich weiter nichts an als im allgemeinen menschlichen Gefühl. (BA 18, S. 188–189)

Der alleinige Zweck dieser Geschichte aus Störzers und Kienbaums Vergangenheit ist es, Störzer als moralisch überlegen darzustellen. Als Vertreter der Unterschicht empfindet er die gesellschaftliche Position der besitzenden Klasse als unmoralisch – „daß [Kienbaum] sein Geschäft und Reichtum auf die Landstraße führen mußte, das war das Böse“.285 In Störzers Berufung auf christliche Bezüge, die er jedoch im Gegensatz zu Stopfkuchen nicht versteht,286 findet er die Legitimation für sein Schweigen: Dieser Logik ist es nämlich geschuldet, dass er sich nicht der irdischen Justiz gestellt hat, und seiner Meinung nach Quakatz in „seinem Verdruß [nicht] helfen konnte“:287 Es ist nicht Störzers ängstliche Natur, sondern der Blick eines sozial Unterprivilegierten auf die Gesellschaft, der ihn dazu veranlasst, die falschen Verdächtigungen hinsichtlich des Mordes an Kienbaum nicht aufzudecken: Er fühlt Quakatz für den ungerechtfertigten Verdacht insofern entschädigt, als dass es diesem, „trotz seinem Verdruß immer besser ergangen“288 ist, als ihm selbst. Für Störzer „kann Quakatz es sich ja

|| 285 BA 18, S. 189. 286 Hier sei erneut auf Stopfkuchens Stellung als gescheiterter Theologe und erfolgreicher Paläontologe hingewiesen. 287 BA 18, S. 185. 288 BA 18, S. 193.

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leisten, Kienbaums – seines Standesgenossen und Handelspartners – Sünden an ihm zu büßen“.289 Auf diese Weise verbiegt Störzer jedoch selbst die biblischen-moralischen Bezüge, auf die er sich bezieht, damit sie für ihn selbst nützlich werden. Das wird deutlich, wenn man seine Meinung über Quakatz’ Rolle als Verdächtiger sieht: Dass ein Unschuldiger für seine Tat büßen muss, scheint Störzer nämlich weitestgehend gleichgültig zu sein.290 Während er nur den Mord als Sünde sieht und bereut, ist Stopfkuchen klar, dass Störzers eigentliche Tat darin besteht, nichts gegen die Verdächtigungen gegen Quakatz getan zu haben. Dass der unschuldige Quakatz für die Ausgrenzungen in seinem Reichtum entlohnt wurde, wird daher schon an anderer Stelle durch Valentine negiert: Armes Volk in der Stadt und auf dem Lande muß auch wohl das Seinige ausstehen; aber wir hier auf der Schanze gehörten ja gar nicht zu dem armen Volk, und doch – wenn ich unter der Hecke geboren wäre und meiner Mutter aus der Kiepe in das öffentliche Mitleid gefallen wäre, hätte ich es besser gehabt wie als des Bauern von der Roten Schanze einziges wohlhabendes Kind und seine Tochter! (BA 18, S. 103)

Stopfkuchen führt durch seine teils ironischen Kommentare auf Störzers Geständnis dessen moralische Ansicht ad absurdum. Zwar nimmt dieser die soziale Problematik, die sich dahinter versteckt, durchaus ernst,291 empfindet es aber als falsch, sie als Vorwand für eine derartige moralische Verbiegung zu benutzen: [A]ber ein etwas zu gemütliches und jedenfalls ein sehr bequemes Gewissen ist’s doch, was Sie in Ihrer Brust tragen. Ihre Posttasche da könnte ungefähr dieselben Gefühle wie Sie für den Inhalt der Briefschaften in ihr hegen. (BA 18, S. 186)

Wie bereits die sozialen Ausgrenzungen durch die Gesellschaft, die Quakatz ertragen musste, ist auch Störzers Ansicht eine Fehlauffassung im Sinne der unter dem Mantel des Christlichen geführten bürgerlich-philiströsen Moral. Hier zeigt sich Störzer unbewusst als einer der Philister: Er macht es sich in seiner niedrigen sozialen Stellung und seiner den reicheren Schichten überlegen empfundenen Moral bequem. Dadurch wird „die geheime Inhumanität offenbar, die sich hinter der Fassade biedermännischer Gemütlichkeit verbirgt“.292 Störzer verkörpert in seinem Verstecken und dem Zulassen der Verurteilung eines Unschuldigen somit die philiströse Gesellschaft, die es sich selbst in ihrer Vorver-

|| 289 Paul Derks: Raabe-Studien, S. 23. 290 Vgl. BA 18, S. 185. 291 Vgl. BA 18, S. 196: „Hm, hm, Störzer, es lässt sich hören, was Sie da sagen.“ 292 Michael Stoffels: Phantasie, S. 129.

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urteilung des Bauern Quakatz gemütlich macht. Damit wird in Stopfkuchens ironischen Kommentaren aber wiederum das Spießbürgertum an sich kritisiert: Es ist zugleich die Gesellschaft und die philiströs-gewordene Justiz, die es Störzer erlauben, es sich derart bequem zu machen. Durch ihren Spott verharmlosen diese Störzer bis hin zur Nichtbeachtung im Mordfall: Alles steht in den Akten, ganz genau, nur ich nicht. Ich komme nur beiläufig darin vor als wie einer, den Kienbaum auch noch auf der Chaussee getroffen und mit dem er sich unterhalten hat. (BA 18, S. 191)

Die gesamte gesellschaftliche Struktur zeigt sich vom hierarchischausbeutenden Aufbau bis zur behaglich-verbogenen Moral des unterdrückten Kleinbürgers als defizitär. Sie schafft nicht nur durch die Unterdrückung der sozial niederen Schichten ihren eigenen Mörder, sondern erlaubt es auch, dass die der öffentlichen Meinung folgende Justiz aufgrund der Verharmlosung des verspotteten Mörders versagt. Mit dieser impliziten Kritik legitimiert Stopfkuchen letztendlich seine selbstständige Lösung des Falles. Die Gesellschaft hat durch ihre Struktur sowohl die soziale Problematik als auch ihre Konsequenzen verursacht. Wenn Stopfkuchen also die „irdische Gerechtigkeit als das Gleichgültigere“293 ansieht, und ihm darin von Eduard angesichts dieser Umstände Recht gegeben wird, zeigt dies die Unmöglichkeit einer gesellschaftlichen Klärung des Mordes.

3.4 Individuelle Selbstdarstellung des devianten Individuums 3.4.1 Devianz und soziale Konsequenzen Schon seit seiner Kindheit ist Stopfkuchen – eigentlich Heinrich Schaumann – ein Außenseiter: Aufgrund seiner Leibesfülle wird er von allen aber nur „Stopfkuchen“ gerufen. Weil er dick und faul294 ist, wird er von den anderen Kindern gehänselt – sie geben ihr „Bestes […], [ihm] die Tage [s]einer Kindheit und Jugend zu verekeln“.295 Der Grund für diese Außenseiterstellung ist Stopfkuchens Devianz, vor allem in bildungsbürgerlicher Hinsicht. In seiner Faulheit wird er

|| 293 BA 18, S. 197 [Hervorhebung im Original]. 294 Vgl. BA 18, S. 22: „[D]em Dicksten, dem Faulsten, dem Gefräßigsten unter uns von damals.“ 295 BA 18, S. 65.

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dem Fleiß der „Schnellfüße“296 entgegengesetzt. Weil er die Anforderungen des Bürgertums bezüglich Fleiß und Leistung, die letztendlich im Sinne des bürgerlichen Strebens nach Ansehen und Aufstieg sind,297 nicht erfüllt, reagiert die Gesellschaft mit sozialer Ausgrenzung. Wie schon bei Quakatz und Störzer, wird Stopfkuchen verspottet und beschämt. Er wird von der Welt „allein unter der Hecke sitzen [ge]lassen“,298 sein Spitzname wird zum Zeichen für seine Stellung innerhalb der Gesellschaft. Die gesellschaftlichen Hintergründe seiner sozialen Ausgrenzung sind aber nicht der Ruf nach Sicherheit und Ordnung oder Ausdruck gesellschaftlicher Hierarchie, sondern das Normierungsstreben des Bürgertums. Durch sozialen Druck bemüht sich die Gesellschaft um die Konformität ihrer Mitglieder. Stopfkuchens Eigenschaften, die dem Leistungsethos der bürgerlichen Gesellschaft nicht entsprechen, stellen die das Bürgertum definierenden Normen – Leistung und Besitz – infrage. Die Zugehörigkeit zur bürgerlichen Gesellschaft wird aber über eben diese Normen gesteuert.299 Sie bestimmen die Wertorientierungen und Verhaltensmuster, über die sich das Bürgertum gegenüber anderen Gesellschaftsgruppen klar abgrenzt und mithilfe derer sie sich Stabilität verschafft. Innerhalb der Bürgerlichkeit herrscht ein „universale[r] kulturelle[r] Normierungsanspruch“,300 durch sein Anderssein bedroht Stopfkuchen die bürgerliche Homogenität – und damit ihre Forderung nach Universalität der eigenen Normen und Werte.301 Stopfkuchen wird durch seine nicht-bürgerlichen Eigenschaften zum Gespött und Außenseiter der Gesellschaft. Als Mittel der sozialen Ausgrenzung bedient sich die Gesellschaft dabei der öffentlichen Bloßstellung Stopfkuchens – beispielsweise in der Schule oder im Gasthaus.302 Sie nimmt ihr „schändliches Menschenrecht“303 wahr und macht sich über seine nicht-bürgerlichen Eigenschaften lustig. Dies ist dabei allerdings kein Ausdruck der Akzeptanz Stopfkuchens, die seine Alterität zur Harmlosigkeit neutralisiere, um sich nicht den Konsequenzen inhomogener Verhaltensweisen für die Gesellschaft stellen zu müssen,304 sondern ein Instrument der sozialen Kontrolle. Durch den korrektiven Umgang mit Stopfkuchen werden einerseits Anreize für die Anderen zum

|| 296 BA 18, S. 89. 297 Vgl. Reinhart Koselleck u. a.: Drei bürgerliche Welten, S. 24. 298 BA 18, S. 82. 299 Hans-Ulrich Wehler: Zielutopie, S. 85–86. 300 Andreas Schulz: Lebenswelt, S. 73. 301 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Zielutopie, S. 87. 302 Vgl. BA 18, S. 133–136. 303 BA 18, S. 66. 304 Vgl. Renate Heuer: Individualität, S. 90–91.

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normgemäßen Verhalten gegeben, andererseits wird Stopfkuchen einem sozialen Normierungsversuch unterzogen. Als Verlust sozialer Belohnungen, wie etwa Ansehen, ist die Verspottung eine Mahnung an das Individuum, die die Nichtakzeptanz devianter Verhaltensweisen und die Drohung, im Falle einer Nichtanpassung aus der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden, zum Ausdruck bringt. Mit diesem sozialen Druck macht das Bürgertum zugleich seinen universellen Anspruch geltend: Um den Preis der Nivellierung aller individuellen Eigenschaften wird jeder Einzelne der bürgerlichen Konformität angepasst. Eine wichtige Rolle spielt dabei vor allem die Familie. Stopfkuchen wird wegen seiner Leibesfülle, die sein geringes bildungsbürgerliches Leistungsvermögen und die damit verbundenen mangelnden bürgerlichen Aufstiegsperspektiven repräsentiert, als Sohn „so dürrer, eingeschrumpfelter, zaunkönighaft-nervös-lebendiger Eltern“305 als „Kuckucksei“306 verlacht. Schon in diesem Vergleich wird klar, dass seine Eltern die „gymnastische Affenrepublik“,307 also die Vertreter des Philistertums, verkörpern. Der „Oberundunterrevisor[...] Schaumann und dessen Ehefrau […] mit allen bürgerlichen Ehrenhaftigkeiten“ sind schon Kraft des vom Vater ausgeführten Amtes angesehene Mitglieder der Gesellschaft.308 Auch mit Stopfkuchen haben sie ganz und gar bürgerliche Pläne: Und wie ein Zaunkönigspaar seine Freude und seinen Stolz an seinem dicken Nestling hat, so hatten Vater und Mutter Schaumann ihren Stolz und ihre Freude an ihrem „Dicken“ und wollten selbstverständlich auch noch nach einer andern Dimension hin etwas aus ihm machen, nämlich etwas Großes. Natürlich einen Pastor, Regierungsrat, Sanitätsrat oder dergleichen. (BA 18, S. 26)

Wie schon in Abu Telfan entspricht die Ausübung eines selbstständigen und angesehenen Berufs der Übernahme einer bürgerlichen Rolle und wird dementsprechend als Annahme der bürgerlichen Normen gesehen. Das „Große“, das sich Stopfkuchens Eltern davon erwarten, ist vor allem gesellschaftlicher Einfluss und Anerkennung.309 Das Einnehmen eines solchen Amtes würde für Stopfkuchen die Zugehörigkeit zur Gesellschaft und deren Achtung bedeuten. Er soll somit seine devianten Eigenschaften ablegen und sich in ein Amt „hinein || 305 BA 18, S. 26. 306 BA 18, S. 26. 307 BA 18, S. 89. 308 Ämter bzw. der Beruf bestimmen im Bürgertum den sozialen Status einer Familie und sichern deren Einfluss und Anerkennung innerhalb der Gesellschaft. Vgl. Andreas Schulz: Lebenswelt, S. 14–19. 309 Vgl. Andreas Schulz: Lebenswelt, S. 14–19.

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hungern“.310 Wenn Stopfkuchens Eltern dies also von ihm fordern, erwarten sie letztendlich, dass er sich den gesellschaftlichen Normen anpasst. Die bürgerliche Familie ist die erste Instanz der Vergesellschaftung des Individuums. Für Hegel ist die Familie Teil der Sittlichkeit.311 Hier erfahren die Individuen sich selbst als abhängig von anderen, d.h. als „bloße Momente eines Allgemeinen“,312 als Mitglieder einer Gemeinschaft.313 Auf diese Weise kommt es zu einer „aneignenden Bewegung, die dazu führt, dass das Individuum sich in der sittlichen Substantialität selbst erkennen kann“.314 Durch die Familie wird das Individuum sittlich. Hier ist der „Geburtsort der Werte bzw. der Einstellungen, die für menschliches Dasein eines Individuums und für sittliche Existenz der bürgerlichen Gesellschaft unabdingbar sind“.315 Wenn das Individuum im Erwachsenenalter schließlich die Familie verlässt, erkennt es in seiner bürgerlichen Tätigkeit und insbesondere in der Gründung einer eigenen Familie seine Abhängigkeit vom Allgemeinen an.316 In Stopfkuchen erweist sich die Familie allerdings diesbezüglich als wenig einflussreich.317 Zwar wollen Stopfkuchens Eltern dem Sohn durch ihre Erziehung318 eine bürgerliche „Lebensführung aufzwingen, zu der er weder Zuneigung noch Berufung in sich fühlt[...]“319 und ihn so zur Anpassung an die bürgerliche Lebenswelt bewegen; Stopfkuchen entzieht sich aber ihrer Lenkung und geht seinen eigenen Weg. Er bricht sein Studium ab und beweist somit seinen Eltern, tatsächlich ein Taugenichts zu sein. Da er also den äußerlichen Bedingungen eines bürgerlichen Lebens ebenso wenig nachkommt, wie seine natürlichen Eigenschaften andeuten, erwartet ihn als Konsequenz von gesellschaftlicher wie von familiärer Seite die Exklusion. Wie schon Leonhard in Abu Telfan wird Stopfkuchen als „Fazit [ihres] gegensei-

|| 310 Vgl. BA 18, S. 34. 311 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rechtsphilosophie, §158–181. 312 Eva Bockenheimer: Das Geschlechterverhältnis in Hegels Rechtsphilosophie. In: HegelJahrbuch 2008, S. 311. 313 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rechtsphilosophie, §158. 314 Eva Bockenheimer: Geschlechterverhältnis, S. 312. 315 Andrzej Przylebski: Die Sittlichkeitstheorie Hegels als politisches Modell der modernen Gesellschaft. In: Hegel-Jahrbuch 2012, S. 163. 316 Vgl. Eva Bockenheimer: Geschlechterverhältnis, S. 313. 317 Hermann Helmers sieht in Stopfkuchens Verhältnis zu seinen Eltern sogar eine „überstarke Anspannung des pädagogischen Bezuges“, die sich bis ins umgedrehte Verhältnis, wenn Stopfkuchen mitleidig auf seinen Vater herabblickt, verkehrt. Vgl. Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 72–73 (hier S. 72). 318 Die Erziehung ist eine der Funktionen der Familie. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rechtsphilosophie, §160. 319 Gabriele Varo: Feindlichkeit, S. 21.

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tigen Verhältnisses in der Welt und im Leben“320 von seinem Vater die Tür gewiesen: Er war recht grob und hatte sehr das Recht dazu. Als er mir erklärte, da die Welt nichts mit mir anzufangen wisse, so könne ich nicht verlangen, daß er zum zehnten Male den Versuch mache, mit mir was zu beginnen, war mir in der Tat nichts geblieben, was ich dagegen einwenden konnte. (BA 18, S. 132)

Auch hinsichtlich seines weiteren Lebenswegs zeigt Stopfkuchen eine Abweichung von diesen gesellschaftlichen Bedingungsfaktoren. Zwar gründet er durch seine Ehe mit Valentine eine Familie, in ihrer Kinderlosigkeit wird jedoch die familiäre Funktion der sittlichen Erziehung aufgehoben. Indem Stopfkuchen keine Kinder hat, verweigert er die Weitervermittlung der bürgerlichen Werte und Einstellungen durch die Familie. Seine „Zweisiedelei“321 bedeutet zwar eine Gemeinschaft der Eheleute, beruht aber allein auf seiner willentlichen Exklusion aus der Gesellschaft.

3.4.2 Bildung als Institution sozialer Reproduktion Dass Stopfkuchen insbesondere in der Schule auf seine devianten Eigenschaften hingewiesen wird und später im Studium scheitert, ist Teil der im Roman enthaltenen Bildungskritik,322 die sich als Kulturkritik äußert: Jeder Blick in eure Gerichtsstuben, auf eure Schulkatheder und Kirchenkanzeln und in eure Landtage und vor allem in den deutschen Reichstag zeigt, was dabei herauskommt, soweit es unsere leitenden gelehrten Gesellschaftsklassen anbetrifft. (BA 18, S. 130)

Bildung wird zum kennzeichnenden Gegenstand des Konformismus, was sich in einem „Mißstand des öffentlichen Lebens“323 niederschlägt. Die gelehrten Schichten haben bis hin zur Politik die öffentlichen Ämter und damit die gesellschaftliche Handlungsgewalt inne. Damit werden sie zur herrschenden Klasse und üben über die Vermittlung einer normierten Bildung gesellschaftliche Macht aus. Als „Instrument der Gesellschaft“324 übernimmt die Bildung somit

|| 320 BA 18, S. 132. 321 Vgl. BA 18, S. 76. 322 Stopfkuchen wird bisweilen auch als „Antibildungsroman“ gesehen. Vgl. Sabrina Becker: Bürgerlicher Realismus, S. 232. 323 Jeong-Hee Bae: Erfahrung der Moderne, S. 46. 324 Hubert Ohl: Eduards Heimkehr, S. 254.

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die Funktion der Institutionalisierung von Normen und spielt dabei eine entscheidende Rolle bei der Vergesellschaftung von Individuen. Dies erkennt man schon daran, dass Stopfkuchens in der Schule und Universität erfolgreichen Mitschüler alle zu den „Schnellfüße[n]“,325 den vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft gehören. Dagegen wird Stopfkuchen selbst zur Zielscheibe der Lehrer, die ihn „zum abschreckenden Beispiel verwende[n]“326 und mit dem der Leistungsgesellschaft entgegengesetzten Faultier vergleichen.327 An Stopfkuchen zeigt die Schule den anderen Schülern, wie man nicht sein soll, d.h. welche subjektiven Eigenschaften einem erfolgreichen bürgerlichen Leben im Weg stehen. Der Zweck der Bildung besteht somit in den sozialen Ansprüchen:328 Geprägt von den gesellschaftlich einflussreichen Schichten, reproduziert sie deren Normen und Werte.329 Bildung ist somit in der Tat „selbst philiströs geworden“,330 da sie als einziges Ziel nicht die höhere Bildung, sondern die „ökonomische Verwertbarkeit […] zugeschnitten auf ein tüchtiges, welteroberndes Bürgertum“331 verfolgt. Die Vermittlung von bestehendem, normiertem Wissen führt zur Reproduktion der bürgerlichen Lebensweise, da den Schülern nur das beigebracht wird, was für die bürgerliche Gesellschaft nützlich bzw. ihrer Lebensform entsprechend ist. Diesem Zusammenhang stellt Stopfkuchen immer wieder sein eigenes Menschenbild entgegen:332 So begreift er seine individuelle Persönlichkeit als etwas Positives – „[e]r war ganz gut so, wie er war“.333 Stopfkuchen identifiziert sich nicht mit den bürgerlichen Normen und empfindet seine eigenen Eigenschaften trotzdem als wertvoll und bewahrenswert. Dadurch stellt er den gesellschaftlichen Normierungsanspruch grundlegend infrage. Auch die bürgerliche Leistungsnorm, die „sich unduldsam gegenüber Normabweichungen“334 zeigt, wird von Stopfkuchen angezweifelt. Ein derartiges Gesellschaftsbild, das nur die von || 325 BA 18, S. 89. 326 BA 18, S. 82. 327 Vgl. BA 18, S. 82. 328 Vgl. Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 84. 329 Vgl. hierzu auch Karin Wirschem: Die Suche des bürgerlichen Individuums nach seiner Bestimmung: Analyse und Begriff des Bildungsromans, erarbeitet am Beispiel von Wilhelm Raabes Hungerpastor und Gustav Freytags Soll und Haben. Frankfurt a. M.: Lang 1986, S. 52. 330 Herman Meyer: Raum und Zeit, S. 252. 331 Sabrina Becker: Bürgerlicher Realismus, S. 233. 332 Karin Wirschem spricht in diesem Zusammenhang von einem „Bildungsindividualismus“, welcher der Forderung nach Charakterbildung und Selbstentfaltung in der Erziehung nachkommt. Vgl. Karin Wirschem: Suche des bürgerlichen Individuums, S. 55–56. 333 BA 18, S. 26. 334 Andreas Schulz: Lebenswelt, S. 22.

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der Gesellschaft erwarteten Leistungen anerkennt und somit jeglichen individuellen Zug ablehnt, verstößt gegen sein Selbstbild. So empfindet er das gesamte Schulsystem als ungerecht: Jawohl, Stopfkuchen! Was konnte ich denn dafür, daß ich schwach von Beinen und stark von Magen und Verdauung war? Hatte ich mir die Kraft und Macht meiner peristaltischen Bewegungen und die Hinfälligkeit meiner Extremitäten und überhaupt meine Veranlagung zum Idiotentum anerschaffen? Hätte ich die Wahl gehabt, so wäre ich ja zehntausendmal lieber als Qualle in der bittern Salzflut denn als Schaumanns Junge, der dicke, dumme Heinrich Schaumann, in die Erscheinung getreten. (BA 18, S. 66)

Stopfkuchen weiß, dass er die von der bürgerlichen Gesellschaft eingeforderten Normen nicht erfüllt. Er weiß auch um deren Konformitätsdruck, der auf seine Individualität keine Rücksicht nimmt. Als das zentrale Merkmal bürgerlicher Identität und das wichtigste Mittel zur sozialen Integration in die Bürgerlichkeit wird Bildung zum Zeichen von Konformität.335 Sie wird „als Prozeß bedingungsloser Sozialisation verstanden, als unschöpferische Affirmation des gesellschaftlichen Status quo, als vorbehaltlose Anpassung an die Normen und Konventionen des höheren Bürgertums“.336 Stopfkuchens Kritik hieran wird in seinem Bild des „Schulkarzers“337 deutlich: [B]ei dem Bauer Quakatz und seinem verwilderten, zerzausten Kätzchen, da erklang die Zauberharfe, da griffen die Geister der Roten Schanze hinein und entlockten ihre die Töne, welche euch europäischen gezähmten Eseln, Affen und Rhinozerossen, so das Fürstliche Gymnasium alle Nachmittage um vier aus dem Kulturpferch herausließ, auf, wie ihr euch freundlich ausdrücktet, auf kompletten Blödsinn hinzudeuten schienen. (BA 18, S. 116)

Die äußerliche, auf gesellschaftliche Zwecke zugeschnittene Bildung bezieht sich nicht auf individuelle Charakterbildung, sondern auf den bürgerlichen Erfolg. Das Produkt einer solchen Bildung erscheint ihm dabei wenig erstrebenswert: Diejenigen, die sich in der Schule erfolgreich zeigen, verbleiben als „gezähmte“ Tiere im „Herdenkasten“.338 Mit der Bildung wird so das homogene, auf Besitz, Bildung und gesellschaftlichen Aufstieg reduzierte Bürgertum reproduziert. Ihr bedingungsloses Bemühen um Angleichung innerhalb des Bildungsprozesses vergisst jegliche individuelle Leistung. So jammert Stopfkuchen auch, dass bei der Versetzung in die Obertertia nicht berücksichtigt wurde, „wie || 335 Vgl. Andreas Schulz: Lebenswelt, S. 19. 336 Gerhart Mayer: Wilhelm Raabe und die Tradition des Bildungsromans. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 21 (1980), S. 105. 337 BA 18, S. 46. 338 BA 18, S. 96.

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reif [er] diesmal wenigstens war“.339 Was in der Schule gelehrt wird, ist für Stopfkuchen nur „Quark“,340 da es seine individuellen Stärken nicht anerkennt,341 trotzdem setzt diese ihre sozialen Ansprüche durch Züchtigung und Auflehnungsverbot um.342 Mittels derartigen sozialen Sanktionen bemüht sich die Gesellschaft mithilfe der Schule ihren Homogenisierungsanspruch zwanghaft durchzusetzen. Die Macht dieser Homogenisierung durch die Bildung erfährt Stopfkuchen dann noch einmal umso stärker während seines Studiums der Theologie, das er „[s]einen guten Eltern zuliebe“343 beginnt. Stopfkuchen meint zu Beginn des Studiums, „[d]ie Sache [könne ihm] schon passen“,344 denn die Grundvoraussetzungen – die Veranlagung zum Predigen – bringt er mit.345 Allerdings gestalten sich die Ansichten über die Bedeutung des Theologiestudiums von vornherein als ambivalent: Die Gesellschaft, vertreten durch seine Eltern, erwartet von Stopfkuchens Studium und dem daraus resultierenden Amt seine bedingungslose Angleichung an die bürgerlichen Werte. Stopfkuchen ist sich dessen bewusst – er ist seinen Eltern gegenüber dazu verpflichtet, „wenigstens einmal durchs Examen zu fallen“.346 Auch hier stellt er der Bildung seine eigenen Ideale entgegen: Er möchte das Theologiestudium für seine Gesellschaftskritik nutzen. Stopfkuchens Motive erwachsen somit aus seiner Alterität: […] und so dumm bist du nicht, Mädchen, daß du nicht Bescheid wüßtest, daß er über euch, die Rote Schanze, so gut Bescheid weiß wie die übrige edle, christliche Menschheit auf fünf Meilen im Umkreis. Herrgott, darum allein könnte man schon mit Wonne Theologie studieren, um einmal so recht von der Kanzel aus unter sie fahren zu dürfen, die edle Menschheit nämlich! (BA 18, S. 36)

|| 339 BA 18, S. 27. 340 BA 18, S. 25. 341 Vgl. BA 18, S. 120–121: „Und dann der Oberlehrer Blechhammer, wenn der mal wieder in meinem Kopfe mit der Stange gestört, nach der Eule der Minerva geforscht hatte und von neuem zu der Überzeugung gekommen war, daß da vielleicht eben noch eine Eule, aber freilich nicht die der Pallas Athene gesessen hatte! War der brave Mann […], war der alte ciceronianische Kochinchinaknarrhahn einer Würdigung meiner Lebensaufgabe fähig? Wahrlich nicht, im höchsten Pathos dieses aus der Erinnerung heraus gesprochen.“ 342 Vgl. BA 18, S. 26, 28. 343 BA 18, S. 38. 344 BA 18, S. 26. 345 Vgl. BA 18, S. 37: „Zum ‚Sich äußern‘ – zum ‚Worte machen‘ – zum ‚Reden halten‘, kurz zum ‚Predigen‘ war er immer sofort da.“ 346 BA 18, S. 38.

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Stopfkuchen will Theologie studieren, um den Mitmenschen ihre Ungerechtigkeit und Grausamkeit vorzuführen. Er möchte so die Gesellschaft, deren erbarmungsloses Handeln er von klein auf selbst erleben musste, verändern und das zukünftige Priesteramt dazu nutzen, die gültigen Normen, Zwänge und Konventionen der Gesellschaft anzuprangern. Während also die Gesellschaft die Bildung dazu verwendet, den Einzelnen an ihre uniforme Allgemeinheit anzugleichen, versucht Stopfkuchen über genau diesen Prozess, die Konformität der Gesellschaft, zu unterlaufen. Seine Erwartungen, das gesellschaftliche System durch Nichtanpassung herauszufordern, scheitern allerdings und so bricht er das Studium ab: Draußen im wissenschaftlichen Brodstudium hatte es mir absolut nicht gepaßt. Ich fiel dabei für meine Natur viel zu sehr vom Fleisch. Es mag der Welt unglaublich erscheinen, aber es ist dessenungeachtet doch lächerlich wahr: auch die vergnüglichste Seite des Universitätslebens war nichts für mich. (BA 18, S. 130)

Das Theologiestudium bedeutet für Stopfkuchen, sich „in das gedeihlichste Amt der Erde hineinzu-hungern“,347 was seinen individuellen Eigenschaften nicht entspricht. Maurice Haslé beschreibt die Bedeutung des Magens für Stopfkuchen, als das Organ, aus dem er seine Seelenstärke und sein Selbstvertrauen schöpft.348 Dagegen steht die gesellschaftliche und auch bildungsspezifische Auffassung des speziell dicken Stopfkuchens als faul und langsam. Darin, dass das Studium also genau diesen Bereich angreift und Stopfkuchen nicht in „die Breite ausdehnen“349 lässt, liegt der Homogenisierungsanspruch der Gesellschaft, der über die Bildung verfolgt wird. Zu beachten ist dabei, dass die Art und Weise, wie die Bildung auf Stopfkuchen normierend einwirkt, im Roman nicht explizit erwähnt wird. Stopfkuchen findet, um bei seiner „Magensprache“ zu bleiben, schlicht kein Futter für seine erhoffte Gesellschaftskritik. Während dem Studium wird nämlich nur normiertes, für das Vorankommen in der Gesellschaft nützliches Wissen vermittelt ohne Bezug zur Wirklichkeit: So eine deutsche alma mater ist doch die reine Amazone. Sie hält dir die Brust hin, und du saugst oder saufst. Sie dreht dir die andere zu, und du empfindest dich in der Tat als das bekannte Tier auf dürrer Heide. (BA 18, S. 130)

|| 347 BA 18, S. 34. 348 Vgl. Maurice Haslé: Der Verdauungspastor. Magen-Sprache und peristaltische Schreibweise in Raabes Stopfkuchen. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 37 (1996), S. 92–113. 349 BA 18, S. 74.

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Stopfkuchen spielt hier auf Goethes Faust an. Er greift die im Zitat enthaltene Kritik am theoretischen Studium auf und verwandelt sie in eigener Sache – die Bezüge hinsichtlich des Gegensatzes von normierter Bildung und Essen kommen ihm dabei zugute: Im Studium wird er gleich dem „Tier auf dürrer Heide von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt, und rings umher liegt schöne grüne Weide“.350 Damit äußert er seine Kritik an den Homogenisierungstendenzen der Bildung. Das Studium hält ihn davon ab, sich anders zu entwickeln als die übrigen verhungerten Mitglieder der Gesellschaft. Als abstrakte regulierende Macht nivelliert die „deutsche alma mater“351 die individuellen Bildungstendenzen Stopfkuchens und versucht ihn anzugleichen. Stopfkuchen selbst hat keine Möglichkeiten, sich gegen diese uniformierende Wirkung zu behaupten und kann nur passiv kapitulieren: Er fällt vom Fleisch. Dadurch muss er erkennen, dass er das Bildungssystem und somit die Regelungen der Gesellschaft nicht einfach unterlaufen und verändern kann, sie erweisen sich als zu bedeutend. Durch die Bildung wird der Habitus der sozial mächtigen Schichten reproduziert. Die durch sie vermittelte Gleichmachung und Anpassung jedes Einzelnen an die bürgerliche Lebenswelt zeigt sich als überlegene Kraft, die durch ihren Konformismus jegliche Individualität zunichtemacht. „Was dabei herauskommt“,352 ist immer das Gleiche. Als Konsequenz seiner ohnehin nichtkonformen Bildungsabsichten muss Stopfkuchen, um sich der Homogenisierung zu entziehen, das Studium abbrechen. Dies zeigt nochmal die gesellschaftliche Macht der Bildung. Sie ist hinsichtlich der Normierung des Einzelnen derart einflussreich, dass eine individuelle Entwicklung in ihr nicht möglich ist. Allein durch die Verweigerung der Teilnahme am Bildungssystem, ist das Individuum fähig, sich dem Normierungsdruck zu entziehen. Wer allerdings der Anforderung des Bürgertums nach Bildung und Anpassung nicht nachkommt, wird sozial ausgegrenzt. Bildung und Bürgertum gehen somit Hand in Hand – der Ausstieg aus dem einen bedeutet zugleich den Ausschluss aus dem anderen.

|| 350 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Faust I. Der Tragödie Erster Teil. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Band 7/1: Faust. Texte. Hg. von Albrecht Schöne. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1994, Stuttgart: Reclam 2000, S. 8052. 351 BA 18, S. 130. 352 BA 18, S. 130.

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3.4.3 Stopfkuchen als unabhängiges Individuum? Gerade wegen Stopfkuchens kritischem Potenzial gegenüber der Gesellschaft, wird ihm gerne eine vom Bürgertum unabhängige Entwicklung nachgesagt. In ihm versammle sich ein überlegener Durchblick und wahres Menschentum.353 Zwar wird auch das durchaus Philiströse seiner Lebensführung erkannt, aber in gleichem Maße als Teil seiner überlegenen Darstellung relativiert.354 Das Ironische des „philiströsen Antiphilister[s]“355 Stopfkuchen bringe letztendlich seine kritische Bedeutung erst zur Geltung.356 Für die Bewertung Stopfkuchens als „Held“357 scheint es durchweg gute Gründe zu geben. So stellt er der bereits erwähnten Bildungskritik sein eigenes Bildungsideal, sein ideales Selbst, gegenüber und auch in der von der öffentlichen Meinung abweichenden Auflösung des Mordfalles zeigt sich sein Triumph über die Gesellschaft. Doch auch seine Entwicklung will Stopfkuchen als Selbstbehauptung gegen die ungerechte Welt verstanden wissen.358 So präsentiert er Eduard und dem Leser eine durch keine Widerrede infrage gestellte Argumentation hinsichtlich seiner der Gesellschaft gegenläufigen Entwicklung. Auf diese Weise ist es Stopfkuchen möglich, sich selbst zu definieren und den „Anspruch einer nicht-bürgerlichen, unentfremdeten Existenz“359 zu konstruieren, was besonders in seinen Ausführungen über die Ungerechtigkeit der Gesellschaft, die Idealität seiner isolierten Lebensweise und seiner Menschlichkeit sichtbar wird. 3.4.3.1 Motiv der Individualität und Ungerechtigkeit der Ausgrenzung Zunächst setzt Stopfkuchen seine eigene Individualität bereits als Kind als etwas „Natürliches“ – ein Grundzustand, der unverfälscht die Persönlichkeit bestimmt und sich durch die Abweichung von den Normen der Gesellschaft auszeichnet – gegen die gesellschaftlichen Bedingungen. Dieses Motiv der Indi|| 353 Vgl. beispielsweise Hermann Meyer: Sonderling, S. 276–278; Fritz Martini: Weltleid und Weltversöhnung, S. 22–23; Günther Matschke: Isolation, S. 67–69, 74–76, 84; Ulf Eisele: Der Dichter und sein Detektiv, S. 3–8; Wilhelm Oberdieck: Begegnung mit dem Absurden, S. 102. 354 So meint Hubert Ohl, Stopfkuchen verberge „sich hinter dem […], wofür die anderen ihn halten“. Hubert Ohl: Eduards Heimkehr, S. 255. 355 Peter Detroy: Wilhelm Raabe, S. 107. 356 Vgl. Dieter Kafitz: Figurenkonstellation, S. 217. 357 Vgl. Derks’ umfassende einleitende Fußnote zur diesbezüglichen Stopfkuchen-Literatur in Paul Derks: Raabe-Studien, S. 5–6. 358 Dass Stopfkuchen Hintergedanken bei seiner Erzählung verfolgt, hat bereits Ohl nachgewiesen. Vgl. Hubert Ohl: Eduards Heimkehr. 359 Julia Hell: Der ungleichzeitige Bürger, S. 177.

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vidualität durchzieht den Roman und weist die sozialen Ausgrenzungen als erdrückende Ungerechtigkeit aus. Während Stopfkuchens Eigenschaften in der Gesellschaft als deviant und anpassungsbedürftig wahrgenommen werden, deutet er sie als etwas Unveränderliches:360 Da war zum Exempel Heinrich Schaumann, den ihr Stopfkuchen nanntet. Er hat wenigstens mal ganz und gar nach seiner Natur gelebt, hat getan und hat gelassen, was er tun oder was er lassen mußte; – ist es dann am Ende nachher seine Schuld, wenn in irgendeiner Wiese doch etwas Vernünftiges dabei herauskommt? Gar nicht. (BA 18, S. 96; Hervorhebung durch den Verfasser)

Stopfkuchen legt seine Überzeugung, dass man seine eigene Natur nicht ändern kann, dar. Dagegen steht seine Außenseiterstellung, die er aufgrund dieser in der Gesellschaft erfährt und die er als ungerecht empfindet. Von klein auf wird er der Gesellschaft gegenübergestellt. In einem Gespräch mit Eduard sagt er: „Du bist auch so einer von denen, die sich stündlich gratulieren, daß sie nicht der Mörderbauer von der Roten Schanze oder Heinrich Schaumann sind.“ „Da verkennst du mich aber riesig, Heinrich.“ „Gar nicht, Eduard; ich kenne euch nur. – Alle kenne ich euch, in- und auswendig.“ (BA 18, S. 28)

Die Gesellschaft, deren Ziel die Homogenität ihrer Mitglieder ist, stellt durch ihre ständigen Attacken gegen die natürlich empfundene Individualität eine Einschränkung für seine eigene freie Persönlichkeitsentfaltung dar. Seit seiner Kindheit wird Stopfkuchen wegen seiner individuellen Eigenschaften, insbesondere weil er dick ist und in der Schule nicht die erwarteten Leistungen bringt, gedemütigt. Das „Gefühl, ein vollwertiges Glied der Gesellschaft zu sein, [ist ihm] von Jugend an versagt“,361 denn Stopfkuchens individuelle Wesenszüge erfüllen nicht die gültigen Normen. Als Konsequenz wird Stopfkuchen wegen seiner individuellen Besonderheiten in eine Außenseiterposition gedrängt. Der Spott der Gesellschaft wird von ihm als ungerecht und bedrängend empfunden und bedeutet zunächst eine tiefe Einsamkeit: […] und jedenfalls bist auch du mit den andern gelaufen und hast Stopfkuchen mit seiner unverstandenen Seele gleichwie mit einem auf die gute Seite gefallenen Butterbrod auf der Haustürtreppe, auf der faulen Bank in der Schule und am Feldrain vor der Roten Schanze sitzenlassen. Jawohl hast du dich schön nach mir umgesehen, wenn du nicht et-

|| 360 Dieser Ansicht folgt auch Stanley Radcliffe, wenn er von Stopfkuchens „Unfähigkeit“ zur Anpassung spricht. Vgl. Stanley Radcliffe: Der Sonderling, S. 92. 361 Günther Matschke: Isolation, S. 70.

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wa etwas Besseres, sondern wenn du etwas Vergnüglicheres wußtest. […] Habe ich euch – dich nicht laufen lassen, und habe ich nicht etwa mein Butterbrod aus dem Erdenstaube aufgehoben und es gefressen – mit einem Viertel Wehmut und drei Vierteln Hochgenuß in meiner – Einsamkeit? (BA 18, S. 66)

Stopfkuchen fühlt sich von seinen Mitmenschen unverstanden, die ihn nur wegen seiner als natürlich und unveränderlich postulierten Eigenschaften ausschließen. Die Ablehnung, die die Gesellschaft ihm entgegenbringt, wird daher als umso ungerechter empfunden. In dieser Gegenüberstellung werden die gesellschaftlichen Zusammenhänge als inhuman dargestellt. Als Kind kann er sich gegen die übermächtige Gesellschaft nicht wehren. Die Gesellschaft verwehrt ihm, so wie er ist, die Zugehörigkeit zu ihr und so träumt Stopfkuchen in seiner Hilflosigkeit vom eigenen Rückzug aus der Gesellschaft. Dabei wird die Rote Schanze in ihrer Funktion als Isolations- und Schutzraum aber auch als Kriegsschauplatz zu seinem Ideal: Ne, da soll man wohl zum Eremiten werden und sich hinter seine Kanonen zurückziehen. Da hilft mir nichts als wie die Rote Schanze und die Idee, daß ich ihr Herr wäre! […] ich denke mich, mit der ganzen Welt und Schule hinter mir, in sie hinein […]. Hier – sieh mal her, Eduard! Daß mich Tinchen Quakatz gestern hier in die Hand gebissen hat, die bissige Katze, das paßt mir ganz. Da soll wohl einer nicht beißen, wenn ihm keiner seine Ruhe lassen will? (BA 18, S. 28)

Stopfkuchen reagiert, wie auch schon Andreas und Valentine Quakatz, auf seine Einsamkeit und die von außen aufgezwungene Isolation mit eigener Wut auf die Gesellschaft.362 Dabei liefert ihm die Kanonenkugel, die aus dem Siebenjährigen Krieg stammend noch immer im Giebel seines Vaterhauses feststeckt, ein „Vorbild […] für die eigenen Aggressionen der Umwelt gegenüber“.363 Dass die Gesellschaft ihn so, wie er ist, nicht wertschätzt und von Beginn an anzweifelt, er könne der Gesellschaft sinnvoll von Nutzen sein, macht ihn wütend. Diese Aggression wird hinsichtlich der Wehrlosigkeit Stopfkuchens gegen die unfairen Angriffe der Gesellschaft – er sieht sich schließlich unfähig, seine Individualität zu ändern – als einziger Ausweg gesehen und somit gerechtfertigt. Und nicht nur das: Dieses Argument wird besonders durch seinen Kontakt zu den Bewohnern der Roten Schanze unterstützt, da hiermit die Ungerechtigkeit der Welt und die Notwendigkeit, sich dagegen zu verteidigen, betont wird.

|| 362 Vgl. hierzu auch Günther Matschke: Isolation, S. 72; sowie Renate Heuer: Individualität, S. 90–91. 363 Katharina Grätz: Kuriose Kulturhistorie. Raabes unzeitgemäßer Umgang mit einem zeitgenössischen Geschichtskonzept. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 48 (2007), S. 57.

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Stopfkuchens in seiner natürlichen Individualität begründete Handeln364 steht dabei im Gegensatz zur Umwelt: Aus „Gerechtigkeitsgefühl“365 hilft Stopfkuchen Valentine gegen die Kinder aus dem Dorf, die sie angreifen. Diese als Kinderspiel verkleideten Anfeindungen werden erneut im Sinne der Naturzustandstheorie von Stopfkuchen mit Krieg in Verbindung gebracht, in dem die Welt außerhalb der Roten Schanze zum angreifenden Feind wird.366 Für Stopfkuchen ist „die Gesellschaft [...] die eigentliche Ursache dieses Zustandes“.367 Er selbst hingegen verurteilt Quakatz nicht – „bewiesen ist ihm ja von keinem Gerichte was“368 – bestätigt aber auch die aussichtslose Lage der sozial Geächteten gegenüber ihrem Widersacher, der Gesellschaft. Deshalb stoßen Quakatz’ Bemühungen, die Anfeindungen aktiv zu bekämpfen, bei Stopfkuchen auf Zustimmung: Quakatz auf der Roten Schanze hat ganz recht, wenn er am liebsten seinen Wall vom Prinzen Xaver her auch lieber mit Kanonen als bloß mit seinen Dornbüschen bespicken möchte gegen die ganze Welt, die ganze Menschheit. Hu, wenn ich mal von der Roten Schanze aus drunterpfeffern dürfte – unter die ganze Menschheit nämlich, und nachher noch die Hunde loslassen! (BA 18, S. 27)

Indem er immer wieder auf seine natürliche Individualität hinweist, zeigt Stopfkuchen die Ungerechtigkeit der Gesellschaft, die ihn ausgrenzt und somit in eine Verteidigungshaltung gegen die Gesellschaft zwingt, die von einer Wut auf diese geprägt ist. Der Traum vom eigenen Rückzug aus der Gesellschaft, den Stopfkuchen anstrebt, ist das Resultat der Übergriffe sowie der von außen aufgedrängten Isolation und präsentiert sich somit dem Zuhörer als verständliche Alternative. Weil die Gesellschaft Stopfkuchen so, wie er ist, keinen Platz bietet, muss er sich einen anderen Ort suchen, um von den gesellschaftlichen Anfeindungen unversehrt seine Individualität leben zu können. Dass ihm dazu die Rote Schanze dient, wird anhand der folgenden Passage deutlich: Übrigens hat die Kröte die Maulschelle, die ich ihr darauf versetzt habe, auch gespürt; und als der Alte dazugekommen ist, hat er jedem von uns recht geben müssen. Spuckt euer Gift aus, hat er gesagt. Es ist besser, als es in sich hineinzufressen, hat er gesagt. Und

|| 364 Vgl. BA 18, S. 119: „Es gehörte eben eine Natur, oder, wenn du lieber willst, ein Gemüt wie das meinige dazu, um so einem mißglückten Ebenbilde Gottes an den Kern zu kommen.“ 365 BA 18, S. 92. 366 Vgl. BA 18, S. 84: „Dann mit einem Male der Graben des Prinzen Xaver und die Wallhecke des Bauern Quakatz zwischen uns und dem Feinde.“ 367 Günther Matschke: Isolation, S. 72. 368 BA 18, S. 27.

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wenn einer weiß, wie recht er da gehabt hat, so bin ich das. Auf der untersten Bank zu sitzen und zu all [des Lehrers] Redensarten keinen Muck sagen zu dürfen, das ist zehntausendmal schlimmer, als Kienbaum nicht totgeschlagen zu haben und doch dafür angesehen zu werden. (BA 18, S. 28)

Nur hier auf der Roten Schanze, die sich gerade durch ihre Gesellschaftslosigkeit auszeichnet, ist es möglich, seine Individualität zu leben – sein eigenes „Gift auszuspucken“. Sie wird ihm zum „individuelle[n] Refugium, das vom Druck der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihren uniformierten Zwängen entlastet“.369 Die Rote Schanze bekommt dabei nicht nur die Bedeutung eines Isolations- und Schutzraumes für die gesellschaftlich Geächteten, sondern auch die eines Identitätsraumes.370 Sie wird der Stadt – den Mitgliedern des Bürgertums, die Konformität fordern, gegenübergestellt: Hier ist für den Einzelnen die Ausführung seiner Individualität möglich, während dort alle Andersartigen ausgegrenzt und der Gesellschaft verwiesen werden. Die Gesellschaft ist nicht im Stande, Stopfkuchens individuellen Nutzen zu würdigen,371 für die Rote Schanze und seine Bewohner ist er hingegen „genügend mit allen Kenntnissen ausgestattet“.372 Für alles, mit welchem ich meinerseits da unten in der Stadt und in eurer Schule nicht aus mir herauskommen durfte, hatte ich hier oben freiesten Spielraum. Da entwickelte sich, was ich an Lyrischem und Epischem in dem hatte, was ihr da unten als mein gemütliches Fett zu bezeichnen pflegtet. […] bei dem Bauer Quakatz und seinem verwilderten, zerzausten Kätzchen, da erklang die Zauberharfe, da griffen die Geister der Roten Schanze hinein und entlockten ihr die Töne, welche euch europäischen gezähmten Eseln, Affen und Rhinozerossen, so das Fürstliche Gymnasium alle Nachmittage um vier aus dem Kulturpferch herausließ, auf, wie ihr euch freundlich ausdrücktet, auf kompletten Blödsinn hinzudeuten schienen. (BA 18, S. 115–116)

Auf der Roten Schanze behindert Stopfkuchens natürliche Individualität nicht seine Zugehörigkeit zu den dort lebenden Menschen, er wird vielmehr mit all seinen individuellen Eigenschaften angenommen und sogar gebraucht. So bezeichnet er seine Besuche auf der Roten Schanze als seine „einzigen guten Stunden in diesem Jammertal“.373 Er, der mit seiner natürlichen Individualität die gesellschaftlichen Normen infrage stellt und somit nicht Teil von ihr sein kann, findet auf der Roten Schanze einen Ort, an dem seine Individualität aner|| 369 Katharina Grätz: Kuriose Kulturhistorie, S. 57. 370 Vgl. Uwe Heldt: Isolation und Identität, S. 82–83. 371 Vgl. BA 18, S. 121. 372 BA 18, S. 108. 373 BA 18, S. 42.

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kannt wird. Sie bietet ihm, was ihm die Gesellschaft ungerechterweise verwehrt – die Anerkennung und Wertschätzung seiner individuellen Fähigkeiten. 3.4.3.2 Motiv der Idealität der Isolation Aus den gesellschaftlichen Ausgrenzungen ergibt sich Stopfkuchens Rückzug aus der Gesellschaft. Diese isolierte Entwicklung wird dabei von Stopfkuchen als Ideal dargestellt. Die Erlebnisse im Studium, der Rauswurf aus seinem Vaterhaus, aber vor allem die Begegnung mit den Gästen im Goldenen Arm, bringen Stopfkuchen dazu, sich von der Gesellschaft endgültig zu distanzieren. Im Goldenen Arm wird er von den „Philistern und guten Leuten und Staatsbürgern“,374 wie schon von seinem Vater, aus der Gesellschaft verstoßen. Stopfkuchens Heimkehr und der Rauswurf aus dem Vaterhaus ist im Gasthaus bereits Gegenstand des Gesprächs. Für die Gesellschaft ist Stopfkuchen als Versager375 zurückgekehrt und, da er „[s]ämtliche[n] Studierende[n] sämtlicher Brodwissenschaften“376 nun als gesellschaftlich wert- und nutzlos gegenüber steht, muss er auch deren vernichtendes Urteil über sich ergehen lassen. Die Botschaft der Philister ist eindeutig – wie Stopfkuchen ironisch kommentiert, wissen sie ja immerhin, „was im bürgerlichen Leben das Richtige ist“:377 […] und alle verlangten ein und dasselbe vom Profax, nämlich meine schleunige Abreise […]. Sie schickten auch mir eine Deputation, eine Abordnung, wenn nicht mit der Aufforderung, so doch mit der Bitte ‚Gehe uns aus dem Kasten!‘ Wer hätte so herzlichem Anflehen widerstehen können, zumal da auch von Hause ein ähnliches Rufen kam. Ich ging ihnen aus dem Kasten […]. (BA 18, S. 135)

Stopfkuchens Studienabbruch wird von der Gesellschaft als endgültige Ablehnung ihrer Normen gewertet. Seine Angleichung an ihre Lebensweise ist nun offiziell gescheitert und so ist er auch nicht mehr im Gasthaus, in dem sich die Vertreter des Spießbürgertums aufhalten, willkommen. Das kommt Stopfkuchen allerdings gerade recht. So sagt er zu Eduard: Gottlob haben es mir die Götter, die mir so vieles versagten, gegeben, mich betreffende Reden und Redensarten an mich herankommen zu lassen, das dazu passende Gesicht dabei zu machen und nötigenfalls mit den darauf passenden Gegenbemerkungen aufzuwar-

|| 374 BA 18, S. 136. 375 Die Erwartungen des Bürgertums gegenüber der Bildung und Leistung des Einzelnen waren im 19. Jahrhundert enorm. Wer diese nicht erfüllt, wird zum Versager. Vgl. Andreas Schulz: Lebenswelt, S. 21. 376 BA 18, S. 135. 377 BA 18, S. 136.

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ten. […] Nun, für ein paar Schoppen reichte es an jenem historischen Abend auch noch, und bei denen vernahm ich denn das Meinige, überlegte mir das Meinige und fand das Richtige. (BA 18, S. 134)

Stopfkuchen nimmt seine eigene Außenseiterrolle an. Mit dem gesellschaftlichen Ausschluss gehen seine Anerkennung und auch die Wertschätzung seiner eigenen Nichtzugehörigkeit einher.378 Sein Fortgang aus dem Gasthaus ist zugleich ein Fortgang aus der Gesellschaft und wird als das einzig Richtige präsentiert: Noch nie hat Stopfkuchen sich „so fest auf den Beinen gefühlt wie an jenem Abend“.379 Stopfkuchens Isolation wird nun nicht mehr als etwas Aufgezwungenes verstanden, auf das er aggressiv reagiert, sondern „als Grundlage einer eigenwilligen Existenzform bejaht“.380 Aus dieser Erkenntnis schöpft Stopfkuchen Selbstvertrauen. Auf dem Gegensatz zur als heuchlerisch und oberflächlich empfundenen Gesellschaft begründet er seine eigene Überlegenheit.381 Dadurch, dass er die sozialen Bedingungen für sich als belanglos postuliert, kann er erst den Wert seiner eigenen Existenz und seine Individualität wirklich schätzen.382 Da ihm nun auch von sozialer Seite die Möglichkeit dazu gegeben wird, zieht er sich bewusst von der Gesellschaft zurück, die ihn verstoßen hat und lebt von da an auf der Roten Schanze, ohne sich um die Umgebung zu kümmern.383 Diese Isolation bedeutet für ihn die Möglichkeit zur idealen Entwicklung, denn das „Leben in Weltabgeschiedenheit kommt der Entfaltung [Stopfkuchens] zugute“.384 Er nutzt seine Isolation, um seine Individualität voll auszureifen – und wird zu dem, was er sein Ideal nennt: „Ihr andern, als ihr hier noch auf Schulen ginget, glaubtet vielleicht, eure Ideale zu haben. Ich hatte das meinige fest.“

|| 378 Webster versteht Stopfkuchens Entwicklung als „schmerzliche Auseinandersetzung mit sich selbst“, welche zur innerlichen, geistigen Unabhängigkeit führe. Vgl. William T. Webster: „Hinhocker“ und „Weltwanderer“, S. 30. 379 BA 18, S. 136. 380 Günther Matschke: Isolation, S. 81. 381 Vgl. BA 18, S. 96: „Siehst du, Eduard, so zahlt der überlegene Mensch nach Jahren ruhigen Wartens geduldig ertragene Verspottung und Zurücksetzung heim“ [Hervorhebung durch den Verfasser]. 382 Vgl. Maurice Haslé: Der Verdauungspastor, S. 111. 383 Vgl. BA 18, S. 61: „Was geht mich die hiesige Gegend und Umgegend an? Die schöne Aussicht von Quakatzenburg aus natürlich abgerechnet.“ Dieser Ansicht des freiwilligen, von Stopfkuchen herbeigeführten Rückzugs aus der Gesellschaft schließen sich u. a. auch Stanley Radcliffe und Hermann Helmers an. Vgl. Stanley Radcliffe: Der Sonderling, S. 92; Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 72. 384 Maurice Haslé: Der Verdauungspastor, S. 112.

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„Das weiß ich zur Genüge; du hast es mir heute schon öfter gesagt: die Rote Schanze.“ „Nein, durchaus nicht.“ „Nun, dann soll es mich doch wundern, was denn!“ „Mich!“ sprach Stopfkuchen mit unerschütterlicher Gelassenheit. (BA 18, S. 81–82)

Indem Stopfkuchen sich selbst zum Ideal erhebt, wird dieses zum Synonym für die vollständige Erfüllung dessen, was seine Individualität ausmacht. Die Rote Schanze scheint ihm, „jene Lebensart und jene Handlungsweise […], die seinen körperlichen und geistigen Bedürfnissen angemessen sind“,385 zu bieten, denn seine isolierte Lebensführung bringt die Entfaltung seiner natürlichen Eigenschaften mit sich – bis hin zur körperlichen Ausdehnung in die Breite.386 Dabei sieht Stopfkuchen in seiner Haltung zur Welt und der daraus folgenden Selbstbehauptung eine lineare Fortsetzung seines persönlichen „Schicksals“, das sich auf seiner natürlichen Individualität gründet: Ja, Eduard, ich bin immer etwas schwach, nicht nur von Begriffen, sondern auch auf den Füßen gewesen, und das ist der besagte Punkt! Ich habe mich wahrhaftig nicht weiter in die Welt bringen können als bis in den Schatten der Roten Schanze. Ich kann wirklich nichts dafür. Hier war mein schwacher oder, wenn du willst, starker Punkt. Hier faßte mich das Schicksal. Ich habe mich gewehrt, aber ich habe mich fügen müssen, und ich habe mich seufzend gefügt. […] Eduard, das Schicksal benutzt meistens doch unsere schwachen Punkte, um uns auf das uns Dienliche aufmerksam zu machen. (BA 18, S. 62– 63)

Indem Stopfkuchen es als sein Schicksal präsentiert, zu dem geworden zu sein, was er ist, erklärt er zugleich den gesellschaftlichen Einfluss als störend für seine Entwicklung. Durch die Idealität und Überlegenheit seiner Persönlichkeit, auf die er immer wieder verweist und die nur durch die Absenz der Gesellschaft möglich wurde, bezeugt er die Unvollkommenheit der bürgerlichen Normen und Werte und verschafft seiner Individualität eine notwendige Bedeutung. Dies beschreibt Stanley Radcliffe, wenn er meint, dass Stopfkuchen „ohne dieses Vertrauen auf die Gesetze seiner eigenen Natur […] sicher vernichtet worden“387 wäre: Schaumann steht […] in einer beherrschenden Lage der Welt gegenüber. Sein Verständnis dessen, was er erreicht hat, zusammen mit der umfassenden Aussicht, die ihm gehört,

|| 385 Stanley Radcliffe: Der Sonderling, S. 92. 386 Vgl. BA 18, S. 53: „[D]er Mann legte beide fleischigen Hände auf beide Lehnen seines Gartenarmstuhls, wand sich langsam in die Höhe, in seiner gediegenen Breite nun noch mehr zur Erscheinung kommend.“ 387 Stanley Radcliffe: Der Sonderling, S. 94.

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haben in ihm die Eigenschaft des „Humors“ entwickelt. […] Mit ironischer Absonderung überschaut er alles um sich; und gerade seine Erzählweise ist eigensinnig und selbstbehauptend. Dieser „Humor“ sichert ihn vor der Philisterwelt, er belebt sein „Lebensbehagen“, er ist das Fundament seiner eigenen Selbstgenügsamkeit und zertrümmert die Anmaßung anderer.388

Indem Stopfkuchen also dem „Philistersumpf, der die Schanze umbrodelt, […] sein eigenes Ideal gegenüber[stellt]“389 und sich davon abhebt, stellt er seine Individualität sicher. Seine Selbstbehauptung stammt aus der Überzeugung, sich nach seinen eigenen Anlagen und damit einem übergestellten Schicksal gemäß entwickelt zu haben. Nach seinem gesellschaftlichen Ausschluss isoliert er sich gewollt von der Gesellschaft – das zeigt sich vor allem darin, dass er kaum noch in die Stadt geht.390 Wolfgang Struck meint, dass die „erzählte wie die gelebte individuelle Autonomie nur unter der Voraussetzung einer bewußt hergestellten und aufrechterhaltenen innerlichen wie äußerlichen Isolation“391 möglich erscheine. Diese bewusste Isolation zeigt sich ausschlaggebend für Stopfkuchens Idealität und bringt es mit sich, dass er sich selbst über seine Umwelt erhebt. Die sozialen Ausgrenzungen, die seine Isolation bewirken, werden für belanglos erklärt. Wichtig sind nur seine eigenen individuellen Werte und die eigene bewusste Abgrenzung – kurz alles innerhalb der Roten Schanze. Der Rückzug aus der Gesellschaft bedeutet aber für Stopfkuchen nicht nur die vollkommene Individuation, sondern auch ideales Lebensglück.392 Als Grund hierfür wird wieder der bewusste Abschluss Stopfkuchens und der Bewohner der Roten Schanze von der Außenwelt genannt. Stopfkuchen zieht sich und seine Frau aus dem gesellschaftlichen Leben zurück und schafft eine familiäre Umgebung, in der nur die private Zufriedenheit von Bedeutung ist. Die Rote Schanze wird der „Wall, der [sein] junges Glück um[schließt]“.393 Diese aktive innerliche Isolation von der Welt bewirkt also privates Glück. Alan Corkhill weist allerdings darauf hin, dass die Figuren in Wilhelm Raabes Werk Glück „nicht besonders hoch ansetzen, sondern vielmehr einen konkreteren Zustand

|| 388 Stanley Radcliffe: Der Sonderling, S. 94. 389 Julia Hell: Der ungleichzeitige Bürger, S. 174. 390 Vgl. BA 18, S. 149: „Er hat seit unserer Verheiratung keine sechs Male den Fuß über unser Besitztum und seine Knochensucherei in der nächsten Nähe hinausgesetzt.“ 391 Wolfgang Struck: See- und Mordgeschichten, S. 61. 392 Diese Ansicht verfolgt beispielsweise Wolfgang Struck. Vgl. Struck, Wolfgang: See- und Mordgeschichten, S. 61. 393 BA 18, S. 146.

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der Behaglichkeit anstreben“.394 Das „Wohl des Individuums in Relation zum Allgemeinwohl der Vielen“395 steht im Vordergrund. Durch den äußerlichen – die Rote Schanze als Schutzraum – und den innerlichen Rückzug von der Gesellschaft, mit seinem Fokus allein auf das Private, gelingt für die Bewohner der Schanze eine „ideale Zweiergemeinschaft“.396 Die Rote Schanze bedeutet für Stopfkuchen jenen Rückzugsraum abseits der Gesellschaft, der ihn und seine Frau nach ihrer Individualität gemäß leben lässt. Die Welt außerhalb ist dabei gleichgültig – es zählt allein die eigene, individuelle Zufriedenheit: Sicherlich hatte seine Frau ihren Arm in den seinigen geschoben, und wenn sie nun endlich auch wußte, wer Kienbaum totgeschlagen habe, so wartete sie doch im vollen Verlaß auf ihren Heinrich das Anspülen jener Welt draußen ab, die gestern abend ebenfalls erfahren hatte, wer Kienbaum totgeschlagen habe. Sie genossen trotz allem, was ihnen aus der letztern Tatsache aufwuchs, den schönen Morgen. Es lagen da jetzt zwei, die man vordem hatte abseits liegenlassen, unter der Hecke und blieben nun ruhig liegen, was auch die Welt, die Welt da draußen, zu ihrer unbegreiflichen Indolenz sagen mochte. (BA 18, S. 205)

Innerhalb der Abgeschiedenheit präsentiert sich das Leben auf der Roten Schanze dem Besucher Eduard als Harmonie: Das zurückgezogene Leben von Stopfkuchen und Valentine ist geprägt von idealer Behaglichkeit und Liebe. Nicht ohne Wahrheit scherzt Stopfkuchen, er sei „nur dazu da, auf der Roten Schanze […] die Behaglichkeit des Daseins in [s]einer feisten Person zur Darstellung zu bringen“.397 Dies sind die Werte, auf die er besonderen Wert legt und nach denen er dank seiner Isolation leben kann. Auch bei der Aufdeckung des wahren Mörders an Kienbaum zeigt Stopfkuchen seine Gleichgültigkeit gegenüber den Belangen der äußeren Umwelt. Diese sind ihm nämlich unwichtiger, als das häusliche Glück: [S]o unsägliche Mühe hatte es mich gekostet, dies behagliche, reinliche, zierliche Rom aufzuerbauen, – und nun sollte das alles umsonst sein? Und warum? […] Der ewigen und der menschlichen Gerechtigkeit wegen? Ich sah mir mein Weib an, sah mir die Zeitgenossenschaft an und nahm jeden aus der letztern, soweit sie um die Rote Schanze herum wohnte, vor. Um nachher von der Gesamtheit keinen Vorwurf zu verdienen, nahm ich es mit jedem einzelnen ernst; und – ich fand nicht einen darunter, dem ich persönlich ver-

|| 394 Alan Corkhill: Konstruktionen des Glücks bei Raabe. Exemplifiziert am Werk der mittleren Periode. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 52 (2011), S. 73. 395 Alan Corkhill: Konstruktionen des Glücks, S. 75. 396 Wolfgang Struck: See- und Mordgeschichten, S. 61. 397 BA 18, S. 61.

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pflichtet gewesen wäre, ihm sofort bekanntzumachen, wer in der Tat Kienbaum totgeschlagen hatte. (BA 18, S. 180; Hervorhebung im Original)

Seine Frau will Stopfkuchen „so lange, als gar nicht anders [geht], in Ruhe und Frieden lassen“.398 Bei der Aufklärung des Mordes stellt er Eduard sein eigenes individuelles und privates Glück als das Wichtigere dar.399 Auf diese Weise überzeugt er Eduard von seiner sozialen Unabhängigkeit. Als – wie er sich selbst darstellt – selbstbestimmtes, freies Individuum400 entscheidet er selbst den für sich günstigsten Moment, die Wahrheit aufzulösen. Die Entscheidung, so bezeugt Stopfkuchen, beruht aber nicht auf den sozialen Kriterien, die er bereits als ungerecht entlarvt hat, sondern auf seinen idealen Ansprüchen hinsichtlich seines Lebensglücks. Die Isolation, die zunächst aus den ungerechten Ausgrenzungen der Gesellschaft entstanden ist, führt somit in einen von Stopfkuchen so dargestellten Idealzustand: Sie ermöglicht nicht nur die freie Persönlichkeitsentfaltung Stopfkuchens, sondern auch seine unabhängige Überlegenheit, die ihn aus den richtigen Gründen, der Bewahrung dieses Glückszustandes, individuell relevante Entscheidungen treffen lässt. 3.4.3.3 Motiv der Humanität Ein weiterer Aspekt, in dem Stopfkuchen als der Umwelt gegensätzlich dargestellt wird, ist seine Humanität. So erweisen sich seine von den sozialen Normen abweichenden Eigenschaften in ihrem wesentlichen Kern als menschlich: Stopfkuchen stellt etwa das veräußerlichte Leistungsdenken, den Kult des Eigentums oder das neuhumanistisch geprägte Bildungsideal prinzipiell in Frage. Umgekehrt wertet er humane Verhaltensweisen auf, die in seinem „schnellfüßigen“ Jahrhundert nicht hoch im Kurse stehen: die ruhevolle Stille der Seele, die distanzierte Gelassenheit, die geduldige Lebenstapferkeit, mitmenschliches Verstehen und helfende Güte, nicht zuletzt auch den individualistischen Eigen-Sinn.401

Stopfkuchen verkörpert Eigenschaften, die in einer vom Fortschritt und ökonomischen Orientierungspunkten geprägten Gesellschaft zu fehlen scheinen. Deshalb wird seine Devianz oft als wahre Humanität gesehen:402 In seiner Person sei „der Wert einer humanistischen Gesellschaft und einer nach humanitären Prin|| 398 BA 18, S. 181. 399 Vgl. BA 18, S. 197. 400 Dies ist aufgrund Stopfkuchens Exklusion aus der Gesellschaft jedoch fragwürdig, denn seine Isolation und Abgeschiedenheit sind schließlich durch die Gesellschaft bedingt. 401 Gerhart Mayer: Tradition des Bildungsromans, S. 117. 402 Vgl. auch Fritz Martini: Weltleid, S. 22–23.

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zipien lebenden Gemeinschaft als Kontrastfolie stets präsent“.403 Bereits seine „Heldentat“,404 die Rettung Valentines vor den angreifenden Kindern, stelle Stopfkuchen in den Kontrast zu seinen Mitmenschen. Während sich die anderen der ausgrenzenden Übergriffe anschließen, wird Stopfkuchens Handeln als Mitgefühl, wodurch er seine Unabhängigkeit von der öffentlichen Meinung beweise, gedeutet. So stellt sich auch Stopfkuchen selbst dar: Seine Humanität und Überlegenheit zeigt er besonders im weiteren Kontakt mit Andreas und Valentine Quakatz. Mit ihm startet sozusagen ein „Rekultivierungsprogramm“405 für die Bewohner der Roten Schanze, durch das beispielsweise Quakatz „ruhigere Stunden“406 erfährt: Und da kam mein Vater zu der Überzeugung, daß kein Hahn mehr nach dem hochberühmten Herrn Prinzen von Sachsen und seinem Mordkriege krähe und daß auch einmal nach […] uns andern und – und – und Kienbaum auch kein Hahn mehr krähen, kein Hund mehr bellen und kein Mensch mehr die Nase verziehen werde und daß es bei allem auf der Erde nur ankomme auf ein gutes Gewissen und Genügsamkeit – (BA 18, S. 112)

Stopfkuchen hilft Quakatz, seinen Ausschluss aus der Gesellschaft als weniger bedrohlich zu empfinden und rät ihm zum Rückzug ins Private. Dabei gelingt es ihm zwar, dem alten Bauern etwas Trost zu spenden,407 endgültige Zufriedenheit herrscht aber erst auf der Roten Schanze, sobald Stopfkuchen selbst ihr Herr ist. Dann erst hat auch Valentine den „wilden, manchmal halb irren Blick ihrer Kindheit […], der aus ihrer trostlosen Verfemung damals stammte, verloren“.408 An ihr, der das größte Unrecht von Seiten der Gesellschaft geschehen ist, erscheint Stopfkuchens „humane Hilfe“409 am deutlichsten. Er hilft ihr, sich bewusst von der Außenwelt abzugrenzen und zeigt ihr, wie ein individuelles Leben abseits der Gesellschaft möglich ist. So bewertet er ihre Entwicklung auch als positiv:

|| 403 Sabrina Becker: Bürgerlicher Realismus, S. 237. 404 Vgl. BA 18, S. 86: „Wieviel mehr Heroentum unter Umständen in mir als wie in euch steckte, davon hattet ihr natürlich keine Ahnung.“ 405 Vgl. Roland Borgards: Katze, Hund und Bradypus, S. 13–14. 406 BA 18, S. 108. 407 Die an Quakatz ausgeübte Ungerechtigkeit der Gesellschaft wird für ihn persönlich in seinem Tod entschärft. Er stirbt „in der vollen Überzeugung, unter der Menschheit in integrum restituiert worden zu sein“, (BA 18, S. 149) was ihm zumindest „ein bißchen von seinem Recht an der Lebenssonne“ (BA 18, S. 148) zurückgibt. 408 BA 18, S. 56. 409 Günther Matschke: Isolation, S. 79.

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Ich glaube, ich habe dich schon einige Male aufgefordert, Eduard, meine Frau dir anzusehen; aber jetzt bitte ich dich von neuem: guck sie dir noch einmal an. Wie sie da so niedlich sitzt! Kannst du es heute noch für möglich halten, daß sie einmal wie eine in eine Wildkatze verzauberte Jungfer, die auf ihren Erlösungsritter wartet, dagesessen hat? (BA 18, S. 97)

Valentine hat im Gegensatz zu ihrer Kindheit jegliche Wut gegenüber der Welt abgelegt. Das Resultat wird häufig als eine humane Persönlichkeitsentfaltung gewertet.410 Als Beweis dient Valentines Äußeres: Ihr rohes, verwildertes Auftreten hat sich rundum verändert und sie ist von der „wilden Katze“411 zu einem „wohlgebaute[n], behagliche[n] Persönchen“412 gereift. Unter Stopfkuchens Führung wird zudem die Rote Schanze zu einem friedlichen Ort. Nichts weist mehr auf ihre einst offensiv aggressive Stellung zur Welt hin. Das zeigt sich schon am Eingang, an dem das „Kriegsvolk“,413 die Hunde, durch einen Kater ersetzt werden, der Besucher willkommen heißt, anstatt sie zu bedrohen.414 Im Bild dieses Katers manifestieren sich Stopfkuchens Ideale von Ruhe und Behaglichkeit.415 Die Rote Schanze wird zum „gelobten Lande“416 und präsentiert sich Eduard als durch und durch idyllischer Ort: Ich hatte es damit vollständig heraus, daß ich hier am Ort in der Heimat den Fuß zuerst auf einen verzauberten Boden gesetzt hatte, auf welchem die Enttäuschungen der Heimkehr doch vielleicht noch einem rechten, echten, wahrhaftigen, wirklichen Heimatsbehagen Raum geben konnten. (BA 18, S. 56)

Die Rote Schanze, ursprünglich ein Ort sozialer Ausgrenzung, wird von Stopfkuchen „durch Feuer von ihrer Krankheit geheilt“.417 Sogar die Wachhunde werden zum Zeichen des Friedens, indem sie bezeugen, dass Stopfkuchen weiß, „was das Beste für [sie] hier auf der Roten Schanze ist“.418 Unter seiner Herrschaft erweist sich der Hof als viel humaner und toleranter als die Gesellschaft

|| 410 Dieser Ansicht ist beispielsweise Romano Guardini, wenn er meint, Stopfkuchen wecke Valentines „Menschentum“. Vgl. Romano Guardini: Über Wilhelm Raabes Stopfkuchen, S. 19. Vgl. hierzu auch Hermann Meyer: Sonderling, S. 277. 411 BA 18, S. 19. 412 BA 18, S. 55. Mit diesen Eigenschaften werden bereits diejenigen philiströsen Werte angesprochen, die die Deutung Stopfkuchens als sozial unabhängig brüchig erscheinen lassen. 413 BA 18, S. 24. 414 Vgl. BA 18, S. 51–52. 415 Auch hier sei nochmals auf das Philiströse dieser Eigenschaften hingewiesen. 416 BA 18, S. 57. 417 BA 18, S. 78. 418 BA 18, S. 145.

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selbst. Hier darf das Individuum seiner natürlichen Veranlagung gemäß leben und sich selbst verwirklichen. Dabei präsentiert Stopfkuchen die Rote Schanze erneut als Gegensatz zur Gesellschaft. Sie grenzt niemanden aus – im Gegenteil: Selbst jene, die sich den Bewohnern der Roten Schanze als ungerecht und unmenschlich erwiesen haben, sind, wenn es auch selten dazu kommt, willkommen und dürfen wie Eduard am behaglichen Lebensglück teilhaben.

3.5 Problematik der Selbstdarstellung Stopfkuchen stellt sich im Laufe seiner Erzählung Eduard gegenüber als „überlegene[r] Mensch“419 dar. Darin liegt aber auch die Problematik dieser Betrachtung, denn alles, was er berichtet, wird unreflektiert von Eduard wiedergegeben.420 Stopfkuchens kritische Stellung erwächst aus seiner Außenseiterposition – er kritisiert letztendlich jene Bedingungen, die er selbst nicht erfüllt und postuliert sich selbst als überlegenes, humanes Gegenbeispiel. Diese Selbstdarstellung lässt die Gesellschaftskritik durch das Ausschließen sämtlicher Widerreden421 jedoch einseitig erscheinen, da sich selbst Stopfkuchens Triumph über die Gesellschaft, der sich durch seine Aufklärung des Mordes ergibt, als reines Kalkül herausstellt. Denn indem jeder, der etwas mit der Mordgeschichte zu tun hat, bereits tot ist und er Valentine, die am meisten ein Anrecht auf ihre Lösung hätte, das Beisein versagt, sorgt Stopfkuchen dafür, dass seine Version der Geschichte Recht behalten muss. Wie bereits erwähnt, verfolgt Stopfkuchen mit seiner Geschichte gerade Eduard betreffend durchaus eigene Interessen. Da Eduard, der zudem von Stopfkuchens Enthüllungen derart erschüttert ist, der Einzige ist, der dessen Reden wiedergibt bzw. der Gesellschaft gegenüber bestätigt – selbst Störzers Geständnis stammt letztendlich aus Stopfkuchens Mund – kann Stopfkuchen erst zu dem überlegenen Menschen werden, den er so offensiv darstellt. Bei genauerer Betrachtung allerdings erscheinen seine Argumente als unabhängiger, durchschauender und „selbstseiender Mensch“422 durchaus brüchig.

|| 419 BA 18, S. 96. 420 Vgl. hierzu Johannes Graf u. a.: Heinrich Schaumann, ein Lügenbaron?, S. 196–197. 421 Vgl. BA 18, S. 167: „Nun bitte ich dich aber dringend, Eduard, daß du dich auch fernerhin als bloßen Chorus in der Tragödie betrachtest. Fahre du dreist morgen wieder ab nach deinem Kaffernlande und singe mir da meinetwegen so viele Begleitstrophen und Begleitgegenstrophen zu der Geschichte, wie du willst.“ 422 Herman Meyer: Sonderling, S. 278.

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Das Philiströse seines Aussehens und seiner behaglichen Lebensform wird selbst von jenen Autoren erkannt, die Stopfkuchens Lebensweg als individuelle Selbstbehauptung lesen.423 Stopfkuchens Gestalt und sein eigener Anspruch einer nicht-bürgerlichen Existenz widersprechen sich gegenseitig. Stopfkuchen lebt, obwohl er die Normen der Bürgerlichkeit augenscheinlich ablehnt, völlig philiströse Werte – nämlich das „kleine Glück, jenes […] zutiefst bürgerlich charakterisierte Dasein, auf das sich einzulassen, Sicherheit und Ruhe des Lebens, also akzentuiert bürgerliche Grundwerte, verspricht“.424 Stopfkuchen sieht sich selbst „durchaus nicht als Angehöriger der Welt des Spießbürgertums“425 – er will sogar „von der Roten Schanze aus aller Philisterweltanschauung den Fuß auf den Kopf setzen“.426 Gleichzeitig beschränkt sich sein Lebenswandel darauf, mit seiner „Philisterpfeife“427 in behaglich-gemütlicher Atmosphäre zu speisen und auch seine Selbstgefälligkeit spricht von bürgerlicher Erfolgsorientierung.428 Das Bild, das Stopfkuchen abgibt, ist also durchaus ambivalent und könnte leicht im Hinblick darauf, dass man „stets den unrichtigen [Spießbürger] für den richtigen nimmt“,429 als Maske, die dem Gesellschaftskritischen seiner Person dienlich ist, abgetan werden. Wenn man jedoch die Eroberung der Roten Schanze genauer betrachtet, stellt diese sich jenseits von Stopfkuchens Selbstdarstellung einer idealen, Individuation bedingenden Isolation als Fortführung der bürgerlichen Eigentums- und Bildungsthematik heraus.430 Schon von Beginn an ist das Ziel von Stopfkuchens Eroberung der Roten Schanze, sie zu besitzen: Im Bette habe ich sie am festesten am Wickel, Eduard […]. Wenn ich mal träume, dann träume ich von ihr, und wer dann Herr auf ihr ist und keinen Schulrat, Oberlehrer und Kollaborator über den Graben läßt, das ist nicht der Bauer Quakatz, sondern das bin ich. Ich, sage ich dir, Eduard. (BA 18, S. 22–23)

|| 423 Vgl. beispielsweise Peter Detroy: Wilhelm Raabe, S. 90–91; Sabrina Becker: Bürgerlicher Realismus, S. 236–238; Katharina Grätz: Alte und neue Knochen, S. 255. 424 Wolfgang Frühwald: Philisterliebe? Zum Alterswerk Wilhelm Raabes. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 41 (2000), S. 3 [Hervorhebung im Original]. 425 Michel Kokora: Die Ferne in der Nähe, S. 67. 426 BA 18, S. 197. 427 BA 18, S. 205. 428 Vgl. Sabrina Becker: Bürgerlicher Realismus, S. 238; William T. Webster: Wirklichkeit und Illusion, S. 242. 429 BA 18, S. 12. 430 Gegensätzliche Meinungen lassen sich u. a. bei Sabrina Becker: Bürgerlicher Realismus, S. 236; Michael Stoffels: Phantasie, S. 135 finden.

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Zwar versucht Stopfkuchen die Rote Schanze als Symbol seiner antibürgerlichen Identität aufzuladen,431 kann aber nicht über die „Reproduktion bürgerlicher Herrschaftsformen“432 seiner Besitznahme hinwegtäuschen. Den geschichtlichen Hintergrund der Roten Schanze eignet er sich durch seine Identifikation mit den historischen Persönlichkeiten und ehemaligen Eigentümern der Belagerungsstätte an.433 Durch die als Liebesgeschichte dargestellte Rettung der, ohne ihn gegen das Gesinde wehrlosen Tine, wird er bereits vor ihrer Hochzeit zum „Herr und Meister und […] Haupt der Roten Schanze“.434 Den wirtschaftlichen Teil des Hofes macht er sich schließlich durch Arbeit zu eigen: Die „Befähigung, eine Landwirtschaft zu führen“,435 bringt er mit sich und entwickelt dabei „zum erstenmal nicht bloß Geschmack, sondern auch Geschick“.436 Nach der Heirat bietet die Rote Schanze seiner neu gegründeten „Zweisiedelei“ die Grundlage zur ökonomischen wie geistigen Tätigkeit. Dabei erweist sich der Hof auch als wirtschaftlich profitabel: Durch die Verpachtung des Ackerlands an die Fabriken, kann Stopfkuchen als „Mitbegründer und Aktieninhaber einer Zuckerfabrik“437 ein behagliches, selbstständiges Leben führen. Ein derartiges, auf ökonomischen Gewinn gegründetes Dasein entspricht dem besitzbürgerlichen Denken und erfüllt letztendlich ihre Forderungen nach selbstständiger, eigentumsorientierter Tätigkeit. Zudem beinhaltet die Rote Schanze geologisch wertvolle Artefakte, die Stopfkuchen bildungsbürgerliches Ansehen verschaffen.438 Ein weiterer Aspekt, der die bürgerliche Eigentums- und Bildungsthematik aufgreift, ist die Veränderung Valentines durch Stopfkuchen. Jeong-Hee Bae verweist darauf, dass die Beschreibungen Valentines auf den „Sachverhalt der

|| 431 Uwe Heldt bezeichnet sie als Stopfkuchens „Identitätsraum“. Vgl. Uwe Heldt: Isolation und Identität, S. 104. Bae spricht vom „Lebenswerkcharakter der Roten Schanze“, wodurch das Subjekt mit dem von ihm geschaffenen Werk verschmolzen werde. Vgl. Jeong-Hee Bae: Erfahrung der Moderne, S. 31 [Hervorhebung im Original]. 432 Peter Detroy: Wilhelm Raabe, S. 90. 433 Vgl. hierzu auch Julia Hell: Der ungleichzeitige Bürger, S. 180–181. 434 BA 18, S. 129. Den Herrschaftsaspekt dieser Beziehung sprechen bereits Julia Hell und Claudia Liebrand an. Vgl. Julia Hell: Der ungleichzeitige Bürger, S. 184; Claudia Liebrand: Wohltätige Gewalttaten, S. 94–97. 435 BA 18, S. 140. 436 BA 18, S. 141. 437 BA 18, S. 182. 438 Vgl. BA 18, S. 100, 178. William Webster fasst die größtenteils positive Sichtweise der Forschung hinsichtlich Stopfkuchens Beschäftigung mit Paläontologie zusammen, weist aber auf die negative Seite, dass nämlich seine Forschungsgegenstände tot sind und daher wenig allgemeingültige Aussagekraft besitzen, hin. Vgl. William T. Webster: Wirklichkeit und Illusion, S. 244–246.

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Frau als Bearbeitungsobjekt in Analogie zum Eigentum“439 abzielt. Indem ihre Liebesbeziehung in dieser Weise zum Besitzverhältnis wird, weist diese Herrschaftsausübung über seine Frau Stopfkuchen letztendlich als „extremen Bürger“440 aus. Die humane Entwicklung441 „vom verwilderten Tier zur Ruhe und ins Menschliche“442 zeigt zudem eine Ähnlichkeit zum bildungskritischen Diskurs des Romans: Valentine wird zur zahmen „Mietze“443 und gleicht darin den gezähmten Tieren aus dem „Kulturpferch“444 der Schule. Nur anstatt bildungsbürgerlichen Themen bringt Stopfkuchen ihr das Kochbuch bei445 – seine Bildung beschränkt sich auf seinen eigenen „Zweck und Nutzen, orientiert auf die eigenen Bedürfnisse hin – nicht auf die ihren“.446 Stopfkuchen verwendet seinen Einfluss auf Valentine, um es sich selbst gemütlich zu machen. Er hat sich „eine Welt errichtet, deren Gesetzmäßigkeiten nur er bestimmt“,447 über die Bildung seiner Frau stellt er die Beibehaltung seines Lebensstils sicher. Genauso wie die institutionalisierte bürgerliche Bildung, die in ihren sozialen Ansprüchen verhaftet ist, erweist sich Valentines Bildung durch Stopfkuchen als philiströs.448 Gleich den erfolgreichen Abgängern der Schule, bedeutet Valentines Bildung ebenso den „Verlust ihrer Autonomie“,449 Stopfkuchen lässt sie nicht einmal ausreden.450 Hinzu kommt die Verweigerung jeglichen eigenen Eigentums: „Genügsamkeit hat sie von mir.“ „Natürlich! Alles habe ich von dir!“ rief Frau Valentine jetzt wirklich etwas zitterig, aufgeregt, ärgerlich. „Nun, da ist es ja noch ein Trost, daß du mir wenigstens das gute Gewissen als mein eigenstes Eigentum läßt! Und wenn ich denn einmal die Genügsamkeit auch von dir haben soll, so hat doch gewiß wenigstens etwas davon auch schon in mir gelegen, und du hast mir nur –“ „Das Verständnis aufgeknöpft.“ (BA 18, S. 112)

|| 439 Jeong-Hee Bae: Erfahrung der Moderne, S. 35. 440 Michael Stoffels: Phantasie, S. 136. 441 Vgl. beispielsweise Romano Guardini: Über Wilhelm Raabes Stopfkuchen, S. 19. 442 BA 18, S. 113. 443 BA 18, S. 55. 444 BA 18, S. 116. 445 Vgl. BA 18, S. 56. 446 Claudia Liebrand: Wohltätige Gewalttaten, S. 95. 447 Gabriele Varo: Feindlichkeit, S. 45. 448 Vgl. Claudia Liebrand: Wohltätige Gewalttaten, S. 95; Hermann Meyer: Raum und Zeit, S. 252. 449 Claudia Liebrand: Wohltätige Gewalttaten, S. 97. Claudia Liebrand sieht allerdings in Valentines ursprünglichen, verwilderten Wesen gerade ihre Autarkie und übersieht, dass dies letztendlich Resultat der von außen auf sie einwirkenden, bedrängenden, sozialen Ausgrenzungen ist. 450 Vgl. Jeffrey L. Sammons: Wilhelm Raabe’s Stopfkuchen, S. 288.

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Während Stopfkuchen in seinen Ausführungen immer wieder auf seine eigene, unveränderliche Natur hinweist, enthält sein Verhältnis zu Valentine den Anspruch auf Kultivierung und Zivilisierung.451 Damit widerspricht er aber letztendlich seinen eigenen Bezügen zur Roten Schanze als gesellschaftsferner Ort, an dem natürliche Individualität gelebt werden kann. Des Weiteren bietet die Rote Schanze ihm schließlich die Möglichkeit des gesellschaftlichen Ansehens, und zwar nicht, wie er es darstellt, als nicht-bürgerliches nicht entfremdetes Individuum, sondern eben als Bürger. Durch die Vereinbarung von sowohl besitz- als auch bildungsbürgerlichen Aspekten in seiner als „Identitätsraum“ ausgewiesenen Roten Schanze, erfüllt er die Kriterien der bürgerlichen Lebensform. Dieser soziale Erfolg452 findet auch gesellschaftliche Anerkennung, beispielsweise durch die Leute, die zur Roten Schanze kommen, um sich von seiner bäuerlichen Tätigkeit zu überzeugen453 oder durch Stopfkuchens Versöhnung mit seinem philiströsen Vater: Dort, hinter uns, unter den Linden hat auch er noch manchmal sich seinen Nachmittagskaffee von meiner Frau einschenken lassen. Und er hat sich sogar auch noch für meine und Tinchens Knochen – unsere Urweltsknochen meine ich – interessiert. Er stieg nämlich nach seiner Pensionierung mit Vorliebe, weniger der schönen Natur wegen als um ihrer selbst willen, um die Rote Schanze herum und hat mir mehr als einmal von seinen Spazierwegen einen ausgepflügten Kalbsschädel oder ein Schinkenbein mitgebracht und es meiner Sammlung einverleiben wollen mit der Überzeugung, einen Fund für mich getan und alte Sünden durch ihn an mir wiedergutgemacht zu haben. (BA 18, S. 132–133)

Die Eroberung der Roten Schanze und seiner Bewohner zeigt sich letztendlich als bürgerliche Besitznahme von Eigentum.454 Es ist nicht die Idealität seiner Isolation, die Stopfkuchens Leben auf der Roten Schanze ermöglicht, sondern die durch ihre Gewinnorientierung ermöglichte wirtschaftliche Unabhängigkeit. Damit erweist sich jedoch auch Stopfkuchens Darstellung einer dezidiert nichtbürgerlichen eigenen Existenz als imaginär.455 Seine „Behauptung, die Schanze stehe außerhalb der bürgerlichen Ordnung, [wird] widerlegt, weil hier die den Alltag regulierenden Verhältnisse als Reproduktion bürgerlicher Herrschafts-

|| 451 Claudia Liebrand stellt dabei den Bezug zum literarischen Motiv der dämonischen Frau her, deren elementare Eigenschaften im „Prozess der Zivilisation“ gebändigt werden. Vgl. Claudia Liebrand: Wohltätige Gewalttaten, S. 97. 452 Vgl. Sabrina Becker: Bürgerlicher Realismus, S. 238. 453 Vgl. BA 18, S. 141. 454 Vgl. auch Julia Hell: Der ungleichzeitige Bürger, S. 176. 455 Vgl. Julia Hell: Der ungleichzeitige Bürger, S. 188.

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formen kenntlich werden“.456 Die Rote Schanze steht für diesen Widerspruch seines Lebens, das „sich nicht den Konventionen des Bürgertums unterwerfen will, über das Bürgerliche selbst aber nicht hinauskann“.457 Stopfkuchens der Welt entgegengesetzte Selbstbehauptung, die er so stark an die Rote Schanze knüpft, stellt sich damit aber ebenso als falsch heraus. Julia Hell stellt die enge Verbindung Stopfkuchens mit der Roten Schanze hinsichtlich seiner Identität infrage und weist darauf hin, dass sie als „erstarrter, toter Raum“458 nicht Identität beherbergen könne. In der Tat ist Stopfkuchens als Ideal ausgewiesene Lebensform nicht von Selbstständigkeit geprägt. Stopfkuchens Entfernung von der Gesellschaft wird oft als bewusste, von ihm herbeigeführte Trennung verstanden.459 Die von Stopfkuchen so dargestellte, nur durch diese bewusste Isolation vollendbare Individuation ist allerdings nicht das Produkt einer inneren Veranlagung Stopfkuchens oder gar des Schicksals, sondern von außen fremdbestimmt: Immer wieder weist Stopfkuchen darauf hin, dass eigentlich Eduard und die Mitschüler Schuld daran hätten, dass sein Leben so ist, wie es ist.460 Das Prinzip vom „unter der Hecke liegen“461 und „unter der Hecke liegen gelassen werden“462 steht für diesen Widerspruch, auf den sich Stopfkuchen im Laufe seiner Erzählung von der eigenen Selbstverwirklichung immer wieder bezieht. So ist auch die Isolation der Roten Schanze überall zu spüren. Hierhin hat sich Stopfkuchen vor der „streng normierte[n] Lebensvorstellung der deutschen spießbürgerlichen Gesellschaft“463 zurückgezogen. Eduard muss die „durch Sitte und Gewohnheit festgesetzten groß-, mittel- und kleinstädtischen Besuchsstunden“464 nicht einhalten, wenn er ihn „weit draußen im Felde“465 besucht. Es herrscht kein reger Verkehr mehr auf der Roten Schanze – Stopfkuchen hat die landwirtschaftliche Arbeit aufgegeben und das Ackerland an eine Zuckerfabrik verpachtet.466 Er selbst verlässt die Rote Schanze

|| 456 Julia Hell: Der ungleichzeitige Bürger, S. 187. 457 Uwe Heldt: Isolation und Identität, S. 108. 458 Julia Hell: Der ungleichzeitige Bürger, S. 177. 459 Vgl. Stanley Radcliffe: Der Sonderling, S. 92; Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 72. 460 Vgl. BA 18, S. 85: „Im Grunde war es doch eigentlich nur eure Schuld, Eduard, daß ich seine Bekanntschaft so zuerst machte und nachher sie mehr und mehr suchte.“ 461 Vgl. BA 18, S. 122. 462 Vgl. BA 18, S. 82. 463 Michel Kokora: Die Ferne in der Nähe, S. 65. 464 BA 18, S. 31. 465 BA 18, S. 31. 466 Vgl. BA 18, S. 77.

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nur selten und es gibt auch kaum Besucher, wovon ein nur wenig benutzter, zugewachsener Fußpfad als einziger Zugang zum Hof zeugt.467 Die Rote Schanze ist dadurch abgeschnitten vom öffentlichen Leben. Es ist also nicht so, dass die Schanze „gastlich offen[...]“468 wäre und die Umgebung einfach „nicht mehr den Weg zu demjenigen, der die Werte liberaler Humanität, die einst Ideale des aufsteigenden Bürgertums waren, hütet“,469 findet. Im Gegenteil: Die Rote Schanze dient mehr denn je der Verteidigung gegen die Umwelt, selbst dann noch, wenn der Mord an Kienbaum letztendlich aufgeklärt wird. Dann zieht sich nämlich Stopfkuchen wieder auf die Rote Schanze zurück und lässt Eduard mit den Folgen der Mordaufklärung allein: Und nun kannst auch du mit ausbaden, was der Dicke hinter aufgezogener Zugbrücke der Welt so lange als möglich so schnöde als möglich vorenthalten hat! Und der Feistling ist auch jetzt noch imstande, seine Schanze um sich und sein Weib herum noch mehr in Verteidigungszustand zu setzen, die Bulldoggen, Fleischer- und Schäferhunde, die giftigen Spitze, kurz, alle die bissigen Wächter seines seligen Schwiegervaters wieder aus der Gruft zu beschwören und dir, Eduard, es ganz allein zu überlassen, die Sache Störzer-Kienbaum gegen die Menschheit auszutragen! (BA 18, S. 199–200; Hervorhebung im Original)

Auch Stopfkuchens sogenannte Humanität ist letztlich auf diese Isolation begrenzt. Uwe Heldt ist davon überzeugt, dass Stopfkuchen in seiner Isolation auf der Roten Schanze zwar Menschlichkeit erlangt, diese aber „nur in der Isolation, nicht unter der ‚Menschheit‘ im Ganzen“470 durchführen kann. Kann man bereits Stopfkuchens Humanisierung Valentines infrage stellen, erweckt jedoch gerade seine Auflösung des Mordes, die wohl die soziale Ächtung von Störzers Familie zur Folge hat, doch Zweifel an seinem humanen Handeln. Stopfkuchens Selbstbezogenheit471 auf alles, was innerhalb der Roten Schanze liegt, versagt ihm, jenseits dieses isolierten Raums zu agieren, geschweige denn, human zu handeln. Stopfkuchen ist sein eigenes individuelles und privates Glück das Wichtigste. Ruhe, Behaglichkeit, Gemütlichkeit und Zufriedenheit sind die Werte, auf die er sich besinnt. So überlegt er auch beim Aufdecken des Mordes an Kienbaum nur von seinem eigenen und Valentines Standpunkt ausgehend, was zu tun sei und entscheidet sich dafür, seine private Behaglichkeit erst einmal nicht zu beunruhigen:

|| 467 Vgl. BA 18, S. 50. 468 Dieter Kafitz: Figurenkonstellationen, S. 218. 469 Dieter Kafitz: Figurenkonstellationen, S. 219. 470 Uwe Heldt: Isolation und Identität, S. 111. 471 Vgl. Paul Derks: Raabe-Studien, S. 21.

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Mein Herz, mein Kind, mein Trost und Segen, es ist so ein alberner, alter, abgestunkener Unrat, den ich aufzuwühlen habe, weil es am Ende wohl nicht anders geht. Wie gern hielte ich den letzten, öden, faden Geruch, der davon aufsteigen wird, ganz fern von unserer Verschanzung […]. Das kann ich nicht; aber – ich kann dir davon erzählen in dieser Nacht, so nach Mitternacht, wenn wir beide die Nachtmützen übergezogen haben, – ich kann dir dann auch besser, wenn alles still ist über Quakatzenburg […] die dazugehörigen Bemerkungen machen. (BA 18, S. 151)

Stopfkuchen denkt nicht an die Folgen seiner Aufdeckung jenseits der Roten Schanze. Seine isolierte Stellung hindert ihn am gesellschaftlichen Handeln – seine Humanität ist letztendlich reine Privatheit.472 Dass „es am Ende wohl nicht anders geht“,473 bedeutet, dass Stopfkuchen Valentine und damit die Rote Schanze mit der Auflösung des Mordes auch vom „Kienbaums-Geruch“ säubert. Gleichzeitig kann er aber auch seine isolierte Stellung, seinen Rückzug ins Private, der Roten Schanze und damit seinen nicht-bürgerlichen Lebensentwurf, wahren.474 Gerade letzteren wertet er mit der gleichzeitigen Zerstörung von Eduards Illusionen durch die Mordaufklärung auf und sichert damit den äußerlichen Triumph seiner Lebensgeschichte.475 Julia Hell weist darauf hin, dass Stopfkuchen nach diesem einmaligen Ausflug von der Roten Schanze ins öffentliche Leben wieder in seine Isolation zurück muss.476 Zwar gehört die Rote Schanze durch ihren sozialen und ökonomischen Erfolg zur bürgerlichen Ordnung, Stopfkuchens nicht-bürgerliche Selbstentwürfe können aber nur innerhalb ihrer Mauern existieren. Seine Lebensentscheidung ist daher in der Tat

|| 472 Sabrina Becker vergleicht Stopfkuchens Isolation mit dem bürgerlichen Rückzug ins Private. Vgl. Sabrina Becker: Bürgerlicher Realismus, S. 239. 473 BA 18, S. 151. 474 Dass Stopfkuchen gerade den von ihm erwählten Abend für den günstigen Moment zur Aufklärung hält, wird oft Störzers Tod zugeschrieben, da dieser ja nun der irdischen Gerechtigkeit und damit der Unmenschlichkeit der Gesellschaft entkommen kann (Vgl. beispielsweise Gabriele Varo: Feindlichkeit des Lebens, S. 46). Störzers Tod ist aber nicht der alleinige Grund: Auch Eduards Besuch auf der Roten Schanze spielt eine Rolle – gibt er Stopfkuchen immerhin die Möglichkeit, die Aufdeckung der Angelegenheit teils in Eduards Hände zu legen und sich von den Folgen seiner Entdeckung zurückzuziehen. So muss dieser am nächsten Morgen „die Sache Störzer-Kienbaum gegen die Menschheit aus[…]tragen“ (BA 18, S. 200). 475 Dieser wird in Eduards Verbreitung der Geschichte zudem gefestigt. Indem Stopfkuchen sich selbst als gegengesellschaftlichen, die öffentliche Meinung falsifizierenden Übermenschen präsentiert, während er Eduards trügerisches Idyll erschüttert, sorgt er dafür, dass seine Sichtweise auf seine postulierte nicht-bürgerliche und nicht-entfremdete Existenz Recht behält. 476 Vgl. Julia Hell: Der ungleichzeitige Bürger, S. 188.

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„provisorisch“477 und muss „immer wieder von neuem getroffen werden“.478 Stopfkuchens Isolation ist Ausdruck seines Scheiterns,479 sie versagt ihm jegliche öffentliche Tätigkeit und bewirkt den Stillstand, der in Stopfkuchens geologischem Museum seinen Ausdruck findet.480 Stopfkuchens Existenz stellt sich damit als zutiefst bürgerlich heraus. In seiner Eroberung der Roten Schanze befolgt er die bürgerlichen Regeln: Er fügt sich der gesellschaftlichen Konvention der Ehe481 und erfüllt die gesellschaftlichen Normen hinsichtlich Besitz, Bildung, Selbstständigkeit und Ordnung.482 Die Bewahrung der inneren Werte, gestaltet sich hingegen komplizierter als in Abu Telfan. Während Leonhard neben der Erfüllung der äußeren gesellschaftlichen Normen seine innere Freiheit bewahrt hat, kann Stopfkuchen in seiner Isolation nicht mehr danach handeln. Zwar zeugt seine kritische Haltung gegenüber dem Bürgertum davon, dass er dieses durchaus infrage stellt, seine gelebten Werte beschränken sich allerdings auf bürgerliche Behaglichkeit, Sicherheit, Ruhe und Privatheit. Selbst Stopfkuchens privates Glück, das er immer wieder demonstriert, ist Teil von Eduards idyllischer Illusion der Heimat. Gerade, weil Eduards Idylle aber eine defekte ist, muss dieses Glück fragwürdig erscheinen. Gleich Eduard, zeigt sich Stopfkuchens Bild von der eigenen Entwicklung damit als illusorisch. Ob bewusst oder unbewusst – um seine Lebenssicherheit aufrechtzuerhalten, muss Stopfkuchen diese offensiv verteidigen. Seine Isolation wird deshalb notwendig, um die Illusion von gesellschaftsferner Identität zu wahren. Wie Eduard ist auch dem Bürger Stopfkuchen das Bürgerliche fraglich, denn die soziale Ausgrenzung und Kritik an der gesellschaftlichen Ordnung sind immerhin tatsächlich Teil seiner Person, sein bürgerliches Leben ist jedoch zugleich eine Kapitulation vor der Alternativlosigkeit der bürgerlichen Gesellschaft. In seiner Gestalt offenbart sich die Ausweglosigkeit philiströser Existenz: Indem sogar Stopfkuchen, der Eduard so eindrucksvoll besiegt, letztendlich in seiner Leibesfülle ein bis zur Maßlosigkeit verzerrter Philister ist,

|| 477 William T. Webster: Wirklichkeit und Illusion, S. 242. 478 William T. Webster: Wirklichkeit und Illusion, S. 243. 479 Vgl. Julia Hell: Der ungleichzeitige Bürger, S. 187–188. 480 Vgl. hierzu auch Julia Hell: Der ungleichzeitige Bürger, S. 186. 481 Vgl. BA 18, S. 138: „‚Aber sage mal Heinrich, geht denn dieses so? Und schickt es sich so für mich und für uns mit dem ganzen Dorf und der ganzen Stadt mit allen Augen und Brillen auf uns?‘ Im Grunde genommen war dieses nur eine andere, das heißt den Umständen angemessene Wendung für das schämige Wort: ‚Sprechen Sie mit meiner Mutter!‘“ 482 Vgl. die Veränderung der Roten Schanze von der Verwahrlosung zum ordentlichen Hof. Vgl. BA 18, S. 74–75.

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bezeugt er die universelle Gültigkeit gesellschaftlicher Normen.483 Dass es keine Möglichkeit – weder durch Isolation noch durch geografische Entfernung – zu einer nicht-bürgerlichen Existenz gibt, bedeutet die Problematik des bürgerlichen Individuums, das sich selbst in seiner Bürgerlichkeit fragwürdig wird. Stopfkuchens Überlegenheit und Selbstbehauptung gegenüber der Gesellschaft sind daher nur Teil seiner eigenen Selbstvergewisserung, deren Gelingen notwendig für die Aufrechterhaltung seiner illusorischen Identität ist.

|| 483 Vgl. hierzu Eckhardt Meyer-Krentler: Bürger als Freund, S. 273.

4 Das Individuum zwischen Fremddeutung und Auflösung: Die Akten des Vogelsangs In Wilhelm Raabes letztem, zu seinen Lebenszeiten erschienenem Roman Die Akten des Vogelsangs1 erinnert sich der bürgerliche Erzähler Karl Krumhardt nach dem Tod seines Jugendfreundes Velten Andres an dessen Lebensgeschichte. Velten, der an einer bürgerlichen Lebensführung nicht interessiert war, gelang es nicht, seine Jugendliebe Helene Trotzendorff für sich zu gewinnen und ist nun in seiner ehemaligen Studentenbude in Berlin eigentumslos und allein gestorben. Im Laufe seiner Erinnerungsarbeit verfällt Karl zusehends der Faszination für seinen Freund und stellt damit immer mehr das eigene bürgerliche Selbstverständnis und seine Lebensweise infrage. Im Gegensatz zu Abu Telfan und Stopfkuchen wird dieser Roman ausschließlich aus der bürgerlichen Perspektive erzählt. Die nicht-bürgerliche Lebensweise Veltens wird dadurch allein vom bürgerlichen Standpunkt Karls aus beschrieben und dient als Kontrast- und Sehnsuchtspunkt der bürgerlichen Lebensweise. Kernthematik ist daher die Problematisierung des bürgerlichen Selbstverständnisses durch das aus dem Bürgertum Ausgeschlossene, das allein durch seine Existenz bürgerliche Normen, Werte und Lebensformen infrage stellt und somit die bürgerliche Sicherheit bedroht. Die individuelle, nichtbürgerliche Existenz Veltens, die Karl aus seiner bürgerlichen Perspektive zu fassen versucht, ist dadurch nur von außen zugänglich und untrennbar mit Karls Darstellung verbunden. Im Folgenden werden, ausgehend von der Bedeutung der Eigentumsthematik und des Untergangs der kleinbürgerlichen Nachbarschaft des Vogelsangs für das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, zunächst der bürgerliche Weg Karls und die Problematik bürgerlicher Sicherheit im Erzählkontext nachgezeichnet. Anschließend wird auf die nichtbürgerliche Existenz Veltens sowie dessen Frage nach individueller Selbstbehauptung, angesichts des gesellschaftlichen und ökonomischen Fortschritts, eingegangen. Je nach Kontext werden noch die Nebenfiguren wie Helene oder Anna und die damit verknüpfte Bedeutung für die dargestellte Problematik behandelt.

|| 1 Wilhelm Raabe: Die Akten des Vogelsangs. In: Ders.: Sämtliche Werke. Im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft hg. von Karl Hoppe. Bd. 19: Kloster Lugau. Die Akten des Vogelsangs. Bearbeitet von Hans Finck und Hans Jürgen Meinerts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1970 [=BA 19]. https://doi.org/10.1515/9783110670684-004

184 | Individualität zwischen Fremddeutung und Auflösung: Die Akten des Vogelsangs

4.1 Der Untergang des Vogelsangs: Zur Eigentumsthematik des Romans Der Vogelsang, das kleinbürgerliche Nachbarschaftsidyll und Vorort einer deutschen Residenzstadt, in dem Karl, Velten und Helene aufwachsen, ist nicht nur Gegenstand der Kindheitserinnerungen Karls, sondern bezeichnet auch eine spezifische Form gesellschaftlichen Zusammenlebens, das zum Zeitpunkt der Anlegung der „Akten“ durch Karl der Vergangenheit angehört: Die Nachbarschaft! Ein Wort, das leider Gottes immer mehr Menschen zu einem Begriff wird, in den sie sich nur mühsam und mit Aufbietung von Nachdenken und Überdenken von allerlei behaglicher Lektüre hineinzufinden wissen. Unsereinem, der noch eine Nachbarschaft hatte, geht immer ein Schauder über, wenn er hört oder liest, daß wieder eine Stadt im deutschen Volk das erste Hunderttausend ihrer Einwohnerzahl überschritten habe, somit eine Großstadt und aller Ehren und Vorzüge einer solchen teilhaftig geworden sei, um das Nachbarschaftsgefühl dafür hinzugeben. Wir zu unserer Kinderzeit hatten es noch, dieses Gefühl des nachbarschaftlichen Zusammenwohnens und Anteilnehmens. Wir kannten einander noch im „Vogelsang“ und wußten voneinander, und wenn wir uns auch sehr häufig sehr übereinander ärgerten, so nahmen wir doch zu anderen Zeiten auch wieder sehr Anteil im guten Sinne an des Nachbars und der Nachbarin Wohl und Wehe. (BA 19, S. 218–219)

Diese auf fast familiäre Beziehungsstrukturen angelegte Nachbarschaft ergänzt nicht nur verwandtschaftliche Verhältnisse,2 sondern beruht insbesondere auf gegenseitiger Solidarität und lebenslanger Teilnahme.3 Auch die Natur des Vogelsangs, die „Gärten, die aneinandergrenzten und ihre Obstbaumzweige einander zureichten und ihre Zwetschgen, Kirschen, Pflaumen, Äpfel und Birnen über lebendige Hecken“4 verteilen, spiegeln das „nachbarschaftliche“,5 auf personale Bindung beruhende Verhältnis, wider. Der Vogelsang erweist sich als „locus amoenus, an dem geschildert wird, wie im Idealfall eine erfüllte menschliche Gemeinschaft zustandekommen kann“.6 Die Nachbarschaft an sich ist ein

|| 2 Karl sieht in der Nachbarschaft den Ersatz für fehlende Geschwister. Vgl. BA 19, S. 218. 3 Vgl. BA 19, S. 221. Auf dieses Merkmal der Nachbarschaft bei Raabe verweist auch Patrick Eiden-Offe: Nachbarschaft als Lebensform in Wilhelm Raabes Chronik der Sperlingsgasse. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 85 (2011), S. 235. 4 BA 19, S. 219. 5 Auf die mehrmalige Wiederholung des Wortes „nachbarschaftlich“, in Bezug auf das Zusammenleben im Vogelsang, sei hierbei verwiesen. Vgl. BA 19, S. 219, 221. 6 Karin Kluger: Problematisierung der Idylle, S. 30 [Hervorhebung im Original].

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soziale Ordnung, die über den bloßen familiär-privaten Raum hinausgeht7 und eine gesellschaftliche Funktion einnimmt, aber eben eine, die auf persönlichen Bindungen und gegenseitiger Supplementierung beruht. Der Vogelsang wird zu „einem Lebensprinzip oder zu einer Instanz“8 erhoben. Er ist der Verbindungsort von privatem, individuell-familiärem Leben und der Öffentlichkeit und erhebt dadurch einen Anspruch auf Idealität.9 So erscheint der nun zerstörte Vogelsang Karl rückblickend auch als „wirkliche Idealität von Zeit und Raum“,10 als ein „raum- und zeitlos[es] Jugendphantasiereich“.11 Mit diesem persönlich-familiären Zusammenleben verbindet sich auch ein spezifischer Eigentumsbegriff. Nach Hegel hebt sich im Eigentum die „bloße Subjektivität der Persönlichkeit“12 auf: „Erst im Eigentume ist die Person als Vernunft.“13 Durch dieses gibt sich die „Person […] eine äußere Sphäre ihrer Freiheit […], um als Idee zu sein“.14 Auch die Familie hat „ihre äußere Realität in einem Eigentum, in dem sie das Dasein ihrer substantiellen Persönlichkeit nur

|| 7 Nach Hegel ist die Familie „ein für sich Selbstständiges gegen die Stämme oder Häuser […], von denen sie ausgegangen ist“. (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rechtsphilosophie, §172). Sie wird von der bürgerlichen Gesellschaft als „Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rechtsphilosophie, § 182) unterschieden: „Die Familie tritt auf natürliche Weise und wesentlich durch das Prinzip der Persönlichkeit in eine Vielheit von Familien auseinander, welche sich überhaupt als selbstständige konkrete Personen und daher äußerlich zueinander verhalten. Oder die in der Einheit der Familie als der sittlichen Idee, als die noch in ihrem Begriffe ist, gebundenen Momente müssen von ihm zur selbstständigen Realität entlassen werden; – die Stufe der Differenz“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rechtsphilosophie, §181). 8 Irmgard Roebling: Berliner Luft. Oder: Von Vögeln, Frauen, Philobaten in Raabes poetischem Universum. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 28 (1987), S. 221. 9 Gegensätzlicher Meinung ist Gernot Folkerts, der im Vogelsang eine reine Welt der Privatheit sieht. Zwar ist der Vogelsang tatsächlich durch die zerstörerische Macht des Kapitals fremdbestimmt, was sich letztendlich auch in der Abwesenheit einer Sphäre wirtschaftlicher Tätigkeit zeigt, im nachbarschaftlichen Zusammenleben kein gesellschaftliches Handeln zu sehen, führt hingegen am Ziel vorbei. Insbesondere rechtliche und soziale Regelungen, wie beispielsweise die Vormundschaft des alten Krumhardt über Velten Andres, sowie gesellschaftliche Werte, wie sie im immer wiederholten Wort „nachbarschaftlich“ angedeutet werden, prägen das Leben im Vogelsang und weisen damit in der Tat auf einen gesellschaftlichen Zusammenhang hin. Vgl. Gernot Folkerts: Besitz und Sicherheit. Über Entstehung und Zerfall einer bürgerlichen Illusion am Beispiel Goethes und Raabes. Kronberg: Scriptor 1976, S. 99–102. 10 BA 19, S. 254. 11 BA 19, S. 254. 12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rechtsphilosophie, §41 (Zusatz). 13 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rechtsphilosophie, §41 (Zusatz). 14 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rechtsphilosophie, §41.

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als in einem Vermögen hat“.15 Das Eigentum ist also zunächst ein rechtlicher Begriff, der das Individuum in seiner reinen Subjektivität mit der äußeren objektiven Wirklichkeit in Beziehung setzt. Auch in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts hat das Eigentum bzw. der Besitz16 einen speziellen Platz innerhalb des bürgerlichen Wertekanons, da die Zugehörigkeit zum Bürgertum über „materielle oder intellektuelle ‚Selbstständigkeit‘“17 geregelt ist. Besitz ist hier Zeichen der Erfüllung einer bürgerlichen Lebensweise und weist zudem auf die Stellung der Mitglieder innerhalb des Bürgertums hin, da er ebenso als Abgrenzung gegen untere Schichten wie als Statussymbol für bürgerliche Aufstiegschancen verstanden wird.18 Im Gegensatz hierzu gründet sich das Verhältnis zum Eigentum im nachbarschaftlichen Gefüge des Vogelsangs auf eine enge, persönliche Bindung, die nicht von der Person zu trennen ist.19 Der Besitz hat einen individuellen, emotionalen Wert und ist Ausdruck des ganzen, des vergangenen wie gegenwärtig individuellen und familiären Lebens. So verweist das „Herzensmuseum“20 von Amalie Andres auf die familiäre Vergangenheit, indem es alles enthält, „was je dem Gatten und dem Sohn lieb gewesen“21 ist. Die Person ist als ganzer Mensch an das Eigentum gebunden. Dabei hat das Eigentum nicht nur die äußerliche Bedeutung im Sinne einer bürgerlichen Norm, sondern einen inneren, identitätsbedingenden Bezug zur Person. Es entsteht eine ideale Verbindung zwischen Mensch und Eigentum, so dass der Mensch als Ganzes über den Besitz fest im Leben verwurzelt wird und dadurch auch Lebenssicherheit erhält. Vom Eigentum als Bestandteil der Person spricht auch Marianne Wünsch: Die Objekte, über die jemand […] verfügt, werden also in eine doppelte Beziehung zu dieser Person gesetzt: einerseits repräsentieren diese Objekte gewissermaßen diese Person, d.h. sie tendieren dazu, Teil der Person dessen zu sein, der über sie verfügt, und das heißt wiederum, daß die Person ihre Grenzen bis auf ihr Eigentum inklusive ausdehnt, wodurch

|| 15 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rechtsphilosophie, § 169. 16 Hegel unterscheidet zwischen Eigentum und Besitz. Während Besitz den bloßen Gebrauch einer Sache beschreibt, bedeutet Eigentum, sich selbst „im Besitze gegenständlich und hiermit auch erst wirklicher Wille“ zu sein. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rechtsphilosophie, §45. 17 Hans-Ulrich Wehler: Zielutopie, S. 86. 18 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Zielutopie, S. 87. 19 Vgl. BA 19, S. 316: „aber habe ich ja heute auch von einem Eigentum Abschied genommen, das mir mein ganzes Leben durch ans Herz gewachsen gewesen ist.“ 20 BA 19, S. 372. 21 BA 19, S. 372.

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somit der Gewinn oder Verlust von Eigentum eine Veränderung der Person zur Konsequenz hat […].22

Peter Sprengel sieht in dieser Beziehung zwischen Mensch und Eigentum ein vorbürgerliches Eigentumsverhältnis,23 das noch nicht von der Trennung des Subjekts vom Besitz betroffen ist.24 Dabei wird jedoch übersehen, dass die Nachbarschaft des Vogelsangs in ihrem Kern durchaus eine (klein-)bürgerliche ist und sich nur, wie die Gesellschaft allgemein, im Umbruch befindet. Vielmehr ist es die zeitgenössische Ökonomisierung und das zunehmende Aufkommen einer Arbeiterschicht, die die spezifische, kleinbürgerliche Lebensweise des Vogelsangs verdrängt. Zudem wird jene emotionale, innerliche Einheit mit dem Eigentum, die Karl als ideales Idyll zeichnet und die Ausdruck ganzheitlicher Existenz sein soll, im Roman bereits früh gebrochen. Ansgar Mohnkern zeigt, dass die auf „Intimität und Gemeinschaft“25 beruhende Sozialstruktur des Vogelsangs Züge einer fragilen Gemeinschaft aufweist. So sind weder das Eigentumsverhältnis der Mitglieder der Nachbarschaft noch deren Beziehungsstrukturen homogen.26 Während das Haus der Krumhardts fest in der Genealogie der Familie – Karls Vater hat es „von seinem Vater geerbt und der wieder von seinem Vater“27 – also als wirklicher Familienbesitz gesichert ist, hat Veltens Vater seine „Niederlassung in der Stadt und der Vorstadt Vogelsang käuflich an sich gebracht“.28 Zwar fühlen sich auch die Andres „ihres Besitztums sicher“,29 die Degeneration von einem „natürlichen, Generationen übergreifenden Erbe[...]“30 zum käuflichen Erwerb von Besitz ist im Vergleich zwischen den Besitztümern der Andres’ und der Krumhardts aber bereits enthalten. Diese Diskrepanz wird dann noch durch die Trotzendorffs, die sogar nur in einer „Mietwohnung“,31

|| 22 Marianne Wünsch: Eigentum und Familie. Raabes Spätwerk und der Realismus. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 31 (1987), S. 250. 23 Vgl. Peter Sprengel: Interieur und Eigentum, S. 158. 24 Vgl. Peter Sprengel: Interieur und Eigentum, S. 138–141. 25 Ansgar Mohnkern: „Die Nachbarschaft!“ – Über Raabes Soziologie des Häuslichen. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 58 (2017), S. 48. 26 Vgl. auch Stefania Sbarra: Familienbegriffe und Begriffsfamilien: Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs und Friedrich Nietzsches Kritik der Vererbung. In: Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext. Hg. von Simone Costagli und Matteo Galli. München: Fink 2010, S. 40. 27 BA 19, S. 219. 28 BA 19, S. 219–220. 29 BA 19, S. 220. 30 Ansgar Mohnkern: „Die Nachbarschaft!“, S. 48. 31 BA 19, S. 220.

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also in gänzlich fremdem Besitz wohnen, verschärft. Hier wird die Einheit von Person und Eigentum zur Gänze aufgehoben.32 Sprengel zeigt, dass „gerade die Erhebung des uneingeschränkten individuellen Erwerbs von Eigentum zum natürlichen Recht für alle für die Mehrheit nicht nur die Unmöglichkeit des Erwerbs, sondern geradezu den Verlust von Eigentum bedingt[...]“.33 Während die natürliche Weitergabe des Eigentums an die familiären Erben noch die Sicherung der Person im Eigentum bedeutet, entsteht durch die zunehmende Ökonomisierung der Besitzverhältnisse ein Bruch, der sogar die Möglichkeit des personalen Eigentums negiert. Auch in der Beziehung zwischen den Nachbarn ist dieser Bruch angedeutet: Obwohl Karl sich bemüht zu zeigen, dass die Mitglieder des nachbarschaftlichen Zusammenwohnens „wahrlich zueinandergehörten“,34 entsteht durch die Vormundschaft des alten Krumhardt über Velten eine Hierarchisierung der Beziehungsstrukturen,35 die sich in den Eigentumsverhältnissen spiegelt. So stellt auch Karls Mutter, die in allem „der Ansicht und Meinung [des] Vaters“36 ist, ihre Solidarität zur Familie über die zur Nachbarschaft und zur Freundin Amalie Andres. Die Nachbarschaft ist also kein idyllisch-familiäres Ganzes, sondern schon im Inneren in unterschiedliche und ungleiche Einheiten aufgespalten, die sich „schwer mit der Idee einer reinen, in sich geschlossenen und auf Gemeinschaftlichkeit ruhenden Einheit von Nachbarschaft verbinden“37 lassen. Ist diese Tendenz zur Ökonomisierung der Lebensverhältnisse bereits in den Kindheitserinnerungen Karls vorgezeichnet, so wird sie in der weiteren Entwicklung in der Zerstörung des nachbarschaftlichen Zusammenlebens durch die Großstadt Realität. Karl beschreibt den Übergang von einem traditionellen, älteren Gesellschaftssystem, das „durch den Druck schneller Industrialisierung“,38 also durch heterogene Elemente, aufgelöst wird, hin zu einer modernen, hinsichtlich Werten und Lebensweise verschiedenen, neuen gesellschaftlichen Ordnung. So wird das Grün und die „lebendige Hecke“39 des idyllischen Vororts zu „Backsteinmauern und Zement-Kunsthandwerk“40 verbaut, der Blick

|| 32 Zur Bedeutung des Mietshauses in der Eigentumsdebatte siehe Peter Sprengel: Interieur und Eigentum, S. 143–144. 33 Peter Sprengel: Interieur und Eigentum, S. 143. 34 BA 19, S. 221. 35 Vgl. BA 19, S. 222. 36 BA 19, S. 221. 37 Ansgar Mohnkern: „Die Nachbarschaft!“, S. 51. 38 William T. Webster: Wirklichkeit und Illusion, S. 44. 39 BA 19, S. 240. 40 BA 19, S. 240.

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auf den Osterberg, der nun mit planierten Wegen und einem „Asyl für Nervenkranke“41 zur Erholung der Stadtbewohner dient, von einer Konservenfabrik versperrt:42 „Aus Büschen werden Bäume, aus Bäumen Hausmauern, aus Grün Grau“43 und die Nachbarschaft wird durch Mietshäuser und Tanzlokale ersetzt.44 Die Zerstörung des Vogelsangs durch die Erweiterung der Stadt in der Gründerzeit hat „den Verlust alles Lebendigen“45 zur Folge, das nun nur noch symbolisch im Namen der Vorstadt „Zum Vogelsang“46 vorhanden ist. Für die alten Bewohner des Vogelsangs sind diese Veränderungen gleichbedeutend mit dem Verlust des Eigentums: Was gibt es denn eigentlich noch, was uns hier festhalten könnte? Schon der Schatten allein, den mir da hinten die neue Feuermauer auf meine Rosenplantage wirft, verdirbt mir das ganze Pläsier an der Liebhaberei. Mit dem Kaffeetisch im Garten unter diesen Fabrikgerüchen ist’s auch nichts mehr. Unsere Plätze im letzten Grün des Vogelsangs haben wir sicher auf dem Papier bei der Friedhofverwaltung. (BA 19, S. 321)

Als Karl schließlich vom derart veränderten Vogelsang wegzieht, kann jedoch die Blumenzucht in der Fensterbank [seinem] Vater seinen Vorstadtgarten nicht ersetzen und noch viel weniger die vornehme Stadtgegend [s]einer armen Mutter den Verkehr über die lebendige Hecke und die von einem blühenden Apfelbaum zum andern auf eigenem, sicherm Grund und Boden ausgespannte Waschlinie und, was sich an behaglichem Verdruß und verdrießlichem Wohlbehagen daran knüpfte. (BA 19, S. 335)

Mit der Zerstörung des Vogelsang-Idylls verlieren die Bewohner nicht nur ihre auf der Bindung von Eigentum und Mensch beruhende Sicherheit, sondern auch ihre alte Identität.47 So sterben Karls Eltern kurz nach ihrem Wegzug vom Vogelsang, weil sie sich an die neuen Lebensverhältnisse nicht gewöhnen können.48 Die Trennung vom Eigentum bedeutet demnach einen persönlich empfundenen Verlust, aber auch das Ende einer spezifischen „nachbarschaftlichen“

|| 41 BA 19, S. 253. 42 Vgl. BA 19, S. 320–321. 43 BA 19, S. 328. 44 Vgl. BA 19, S. 336 45 Karin Kluger: Problematisierung der Idylle, S. 25. 46 BA 19, S. 219. 47 Vgl. Karin Kluger: Problematisierung der Idylle, S. 28. 48 Vgl. BA 19, S. 335.

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Lebensweise49 und Eigentumsauffassung. Denn an die Stelle personaler Bindung an das Eigentum tritt „ein an genuin ökonomischen Kriterien orientiertes Leben“,50 mit der Entwertung des Eigentums zur rein materiellen Lebensgrundlage. Peter Sprengel sieht hierin eine Dialektik zwischen der „Innerlichkeit des auf sich selbst zurückgeworfenen Individuums und der zunehmenden Verdinglichung der bürgerlichen Gesellschaft als einer Warengesellschaft“.51 Die ansteigende Ökonomisierung der Lebensbereiche bewirkt zudem ein neues Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Umgebung, so dass nicht mehr der Mensch als Ganzes in Beziehung zu seiner Umwelt gesetzt wird, sondern nur noch in seiner Funktion und Rolle in der Gesellschaft. Auf die gleiche Weise verändert sich auch die ursprüngliche einheitliche Lebensweise des Vogelsangs: „[D]ie Wirklichkeit zerfällt in einen Produktions- und einen Reproduktionsbereich, Vergnügen und Arbeit werden säuberlich getrennt, eine ursprünglich bzw. erst in der Retrospektive als Einheit erfahrene Lebenspraxis wird kanalisiert“.52 Christian Stadler beschreibt die Auswirkungen ökonomischer Veränderungen auf „das individuelle Denken und Agieren des Menschen“,53 die sich „[u]nabhängig vom Tätigkeitsbereich [...] nach den universellen, ökonomischen Maßstäben richten“54 müssen. Er zeigt zudem auf, dass, im Zuge der Ökonomisierung der Lebensbereiche, eine Verschiebung gesellschaftlicher Werte von klassisch-romantischen Begriffen, worunter auch die Fantasie fällt,55 hin zu rechnend bestimmbaren Werten auftritt.56 Der „Homo Oeconomicus“ zielt dem|| 49 Dirk Göttsche sieht im Untergang des Vogelsangs das Ende einer „Kultur sozialer Moralität“ und deutet den Modernisierungsprozess um zur „abgründigen Kritik bürgerlicher Wertvorstellungen“. Auch Heinrich Detering sieht in den Veränderungen eine Degeneration. Dabei übersehen sie allerdings, dass der Vogelsang selbst bürgerliche Werte miteinschließt und im Roman auch den ökonomischen Veränderungen Gültigkeit eingeräumt wird. Vgl. Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 89–94 (hier S. 91 und S. 89); Heinrich Detering: Theodizee, S. 219. 50 Christian Stadler: Darwinistische Konkurrenz und ökonomisches Kalkül. Wilhelm Raabes Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Gesellschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 160. 51 Peter Sprengel: Interieur und Eigentum, Anmerkung S. 127. 52 Eberhard Geisler: Abschied vom Herzensmuseum. Die Auflösung des Poetischen Realismus in Wilhelm Raabes Akten des Vogelsangs. In: Wilhelm Raabe. Studien zu seinem Leben und Werk. Hg. von Leo. A. Lensing und Hans-Peter Werner. Braunschweig: pp-Verlag 1981, S. 375. 53 Christian Stadler: Darwinistische Konkurrenz, S. 171. 54 Christian Stadler: Darwinistische Konkurrenz, S. 170. 55 Vgl. hierzu Christian Stadler: Darwinistische Konkurrenz, S. 210–214. 56 Dies stellt zudem einen literarischen Diskurs dar: In den Akten des Vogelsangs stehen sich der romantische, fantasievolle und der ökonomische Heldentypus gegenüber. Auch die Liebesgeschichte zwischen Helene und Velten wird unter diesem Vorzeichen gesehen. So versteht Christoph Zeller diese als „Streit des Geldes mit der Literatur“. Christoph Zeller: Veltens Erbe.

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nach auf den größtmöglichen Gewinn – sei er materiell oder gesellschaftlich, etwa im Sinne höheren Prestiges – ab.57 Besitz erhält einen abstrakten, funktionalen Wert – er wird zur gesellschaftlichen Aufstiegsmöglichkeit – die persönliche, identitätsstiftende Bindung an die Gegenstände weicht dem wirtschaftlichen Gewinn. Damit einher geht auch eine gesellschaftliche Bewertung von Eigentum und insbesondere Eigentumslosigkeit: Da Besitz und die damit verbundene materielle und ökonomische Selbstständigkeit sowohl als Zeichen bürgerlicher Zugehörigkeit als auch als Ausdruck einer bestimmten gesellschaftlichen und mitunter prestigeträchtigen Position verstanden wird, bedeutet Eigentumslosigkeit deren Nichtzugehörigkeit sowie eine niedrige Stelle im hierarchischen Gefüge der bürgerlichen Ordnung. In der Forschung wird diese Eigentumsauffassung des Bürgertums, deren äußere, gesellschaftliche Existenz auf Besitz gegründet ist, immer wieder negativ bewertet und als „Ersatzform[...] des Lebens“58 gesehen, die „nur noch als Weise eines resignativen Rückzugs aus der Wirklichkeit“59 erscheine. Das Sicherheitsbedürfnis, das diese Beziehung zum Eigentum bedingt, sei dabei nur Absicherung und Schutz „vor dem, was das Leben gemäß eigenen unterdrückten Wunschvorstellungen wirklich ist, jenseits von Besitz und Karriere“.60 Auch für Folkerts ist zentrales Thema des Romans, ob aus jeglicher Art bürgerlicher Besitzauffassung Sicherheit erwachsen könne und dass diese ausschließlich illusorisch sei, da das Leben dadurch im Besitz und nicht in sich selbst begründet sei.61 Dabei wird allerdings übersehen, dass bereits das Leben im Vogelsang auf Eigentum gegründet ist und das Bürgertum mit der Wertverschiebung hin zu einer äußerlichen funktional-materiellen Sichtweise nur auf die zeitgemäßen Umstände reagiert. Eigentum wird so zur Kategorie, über die das Individuum in der Gesellschaft verortet wird: Es erhält über das Eigentum seine Stellung in der Gesellschaft, die sowohl mit materieller Unabhängigkeit als auch gesellschaftlichem Ansehen verbunden ist und Stabilität und Sicherheit bewirkt. Demgegenüber steht das individuelle Eigentumsverständnis der alten Vogelsang-

|| Geist und Geld in Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs. In: Jahrbuch der RaabeGesellschaft 54 (2013), S. 110. 57 Vgl. Christian Stadler: Darwinistische Konkurrenz, S. 170–173 sowie Christian Stadler: Das ökonomische Heldenkonzept. Der Aufstieg des Homo Oeconomicus im frühen Realismus. In: Das 19. Jahrhundert und seine Helden: Literarische Figurationen des (Post-)Heroischen. Hg. von Jesko Reiling. Bielefeld: Aisthesis 2011, S. 201–205. 58 Michael Stoffels: Phantasie und Wirklichkeit, S. 107. 59 Michael Stoffels: Phantasie und Wirklichkeit, S. 107. 60 Michael Stoffels: Phantasie und Wirklichkeit, S. 108. 61 Vgl. Gernot Folkerts: Besitz und Sicherheit, S. 99, 118.

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Nachbarschaft, bei dem das Eigentum Bedeutung für das individuelle Leben, insbesondere für die persönliche Identität, erhält. Diese Lebensform des Vogelsangs ist aber eine historische. Sie gehört bereits der Vergangenheit an und ist nicht – wie Karl auf sie reflektiert – eine ideale, zeitlose Existenz, sondern schlicht abgelebt. Diese beiden unterschiedlichen Eigentumsauffassungen stehen sich im Roman konkurrierend gegenüber, behalten aber – trotz der Historizität des Vogelsangs – beide für sich ihre Gültigkeit, obwohl die zeitgenössischen Ökonomisierungstendenzen aller Lebensbereiche die Zerstörung der engen Bindung zwischen Mensch und Eigentum zugunsten materiellfunktionaler Sichtweisen bewirken. Hierfür steht der Untergang der Nachbarschaft des Vogelsangs durch die ökonomischen und baulichen Veränderungen als Symbol. Des Weiteren wird der Begriff des Eigentums im Roman auch um den Ausdruck gesellschaftlicher und individueller Beziehungsstrukturen erweitert, was die Dialektik zwischen „Eigentum […] in der Welt und an der Welt“62 andeutet. Sowohl Karl und Anna als auch Velten und Helene sprechen über sich oder ihre Familie als ihr „Eigentum“.63 Eigentum bedeutet hier nicht nur die äußere Verortung des Individuums in der Gesellschaft, sondern erhält einen inneren, immateriellen Wert. Dass somit Besitzverhältnisse auf der menschlichen Beziehungsebene angedeutet werden, ließe sich als Ausbreitung der Versachlichung aller menschlichen Lebensbereiche selbst auf persönliche, romantische oder familiäre Beziehungen deuten.64 Bei genauerer Betrachtung, insbesondere der Funktion des Eigentums, das die Stabilität und Sicherheit menschlicher Lebensweisen garantiert, stellt sich dies jedoch als falsch heraus. Auch die Familie hat die Funktion der „Verortung des Individuums innerhalb [des sozialen] Raums und knüpft dessen singuläre Existenz in der Gegenwart an die historische Kontinuität der Generationenabfolge“.65 Bereits im Vogelsang sind Familienverhältnisse eng mit dem Eigentum verbunden. Sowohl Amalie Andres’ Herzensmuseum als auch Karls Familienerbe weisen auf die immaterielle Bedeutung der Eigentumsthematik hin:

|| 62 BA 19, S. 348. Das Eigentum an der Welt bezieht sich dabei mehr auf immaterielle Werte, wie persönliche Beziehungen. Vgl. BA 19, S. 383–384: „Oh mein armes kleines, liebes Kind zu Hause! Bitte, komm, ich muß zu meinem Kinde. – Das laß ich mir nicht nehmen, wenn er auch dich verwirrt. Ich halte mein Eigentum an der Welt fest!“ 63 Vgl. BA 19, S. 343, 345–346, 401, 405. 64 Vgl. z.B. Gernot Folkerts: Besitz und Sicherheit, S. 124–125. 65 Britta Herrmann: Papiergebilde. Familie, Roman und Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs. In: Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext. Hg. von Simone Castagli und Matteo Galli. München: Fink 2010, S. 47.

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Das Bild meines seligen Vaters aber, mit dem zu dem Landesorden hinzugestifteten Verdienstkreuz Erster Klasse auf der Brust, habe ich in Lebensgröße (nach seinem Tode nach einer guten Photographie gefertigt) über meinem Schreibtische hängen und hole mir auch von ihm heute noch Aufklärung und Rat, und nicht bloß in meinen Geschäften, sondern im Leben überhaupt. (BA 19, S. 217)

Wie sich in der Vorbildfunktion des Vaters für Karl zeigt, erfolgt über das Erbe nicht nur die Weiterreichung von materiellem Besitz, sondern auch die Fortführung sozialer Lebensformen und Wertesysteme über Generationen hinweg. In ihrer genealogischen Konstanz erhalten die Mitglieder der Familie so die gleiche soziale Stellung und eine einheitliche, Generationen übergreifende, ständespezifische Lebensweise und -praxis. Dies drückt sich im Roman darin aus, dass die Eltern für ihre Kinder und durch ihre Kinder leben: Und du hast recht, Krumhardt, die Eltern sind dazu da, daß sie ihre Kinder in die Höhe bringen und in immer bessere Gesellschaft, bis in die beste, wenn’s möglich […]. Ich habe mich in so vieles im Leben finden müssen und wird mich auch hierein finden. Das Kind wird es ja auch, und vielleicht auch mit seinen Kindern, einsehen, was Vater und Mutter an ihm getan haben, und es ihnen noch in ihrem Grabe gedenken. (BA 19, S. 322)

Auch Helene erweist sich als „[ihres] Vaters und [ihrer] Mutter Kind“66 und Velten zieht letztendlich auch für seine Mutter und ihrer beider Lebensglück los, um Helene aus Amerika zurückzuholen.67 Die Kinder leben das weiter, was ihre Eltern für sie begonnen haben und verlängern so durch die generationenübergreifende Vererbung materieller und immaterieller Güter – wie Werte, Talente, Wünsche und Ziele – in der Familie die Person der Eltern. Derjenige, „der rechtlich, qua Erbe, das Eigentum eines anderen übernimmt, [setzt] dessen Person fort, d.h. derjenige, der etwas vererbt, perpetuiert seine Person über den Tod hinaus“.68 Dadurch wird einerseits gesellschaftliche Stabilität und Konstanz vermittelt, andererseits aber auch individuelle Sicherheit und soziale wie personale Identität an das Innere der Familie gebunden. Wie die „Tradierung von Besitz durch Generationen Konstanz und Kontinuität der Welt repräsentiert“,69 so bedeutet die Darstellung des Ehepartners und der Kinder als Eigentum gesellschaftliche Sicherheit und Zusammengehören. Hat Anna „dem Herrn Gene|| 66 BA 19, S. 256–257. 67 Vgl. BA 19, S. 314: „Mein Gott, sind wir Mütter schuld daran, wenn wir unsern Kindern unser Bestes mit auf den Weg geben und sie elend dadurch machen? Wenn wir uns getäuscht hätten! Es wäre zu trostlos, wenn er seinen Willen durchsetzte und den meinigen mit und es doch nichts weiter als ein Märchengespinst […] wäre.“ 68 Marianne Wünsch: Eigentum und Familie, S. 250. 69 Marianne Wünsch: Eigentum und Familie, S. 255.

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ralsuperintendenten versprochen, [Karl] für Gut und Böse zu gehören“,70 drückt das nichts anderes aus, als die Einheit der Familie als Person. Wenn sich also Anna immer wieder versichert, dass Karl in ihr und ihren Kindern noch ein Eigentum hat,71 versichert sie sich letztendlich ihrer gesellschaftlichen Sicherheit und sozialen wie personalen Identität. Die Familie präsentiert sich als eine Einheit, die in sich die Ganzheit der Beziehung zwischen Eigentum und Mensch auf Beziehungsebene privatisiert. Dies geht so weit, dass die individuelle Persönlichkeit des Individuums, wie im Falle Karls und Annas, generationenübergreifend in der Familie festgeschrieben ist – im Falle Veltens unabhängig von einer sozialen Verortung, sogar auf eine andere Person übertragen wird. Velten begreift Helene als „ein ‚Stück‘ von ihm, sein Eigentum und damit unverzichtbarer Bestandteil seines Selbst“:72 Wäre dieser ganze Quark des Erzählens wert, wenn die nicht auch bei uns zu meiner Mutter Kinde geworden wäre? Wie hätte man vor Lust kreischen können, wenn man nicht selber mit an dem Wurm erzogen hätte! Jetzt offen gesagt, ich ganz besonders sehr, Krumhardt! Karlos, sie gehörte doch zu uns, und so lasse ich sie auch noch nicht fahren. Sie weiß es auch selber, was für ein gut Stück von uns sie mit in die neue Herrlichkeit, drüben jenseits des Ozeans, nimmt. Krumhardt, ich nehme gar nichts dafür, mich auch vor dir bodenlos lächerlich zu machen: es steht geschrieben, daß ich dem Geschöpfchen bis an der Welt Ende nachlaufen soll. (BA 19, S. 276)

Durch Helenes Beziehung zum Vogelsang und Veltens Mutter, deren Erziehung sie genossen und somit auch deren Werte und Lebensweise geerbt hat, empfindet Velten Helene als zu ihm gehörend. Sie wird als Teil seiner Identität verstanden und bildet so mit ihm die Einheit seines Selbst. Wie Velten den Vogelsang als sein „Familienerbe“73 sieht, so ist auch die Eigentumsthematik in Beziehung auf Helene diejenige des Vogelsangs, mit der die enge, ganzheitliche Bindung von Mensch und Eigentum und noch nicht deren soziale Verortung verbunden wird. Diese Bindung an die andere Person ist so unbedingt, dass ihr Verlust die Zerstörung der eigenen Person bedeutet – „ihr Besitz eine Frage der Selbsterhaltung im wahrsten Sinne des Wortes“.74 Dies gilt aber nicht exklusiv für Velten: Auch Anna ist sich der Gefahr des Existenzverlusts – wenn auch in

|| 70 BA 19, S. 384. 71 Vgl. BA 19, S. 373–374. 72 Beate Hansel: Die Liebesbeziehungen des Helden im deutschen Bildungsroman und ihr Zusammenhang mit der bürgerlichen Konzeption von Individualität. Frankfurt a. M.: Lang 1986, S. 160 73 BA 19, S. 346. 74 Beate Hansel: Die Liebesbeziehungen des Helden, S. 160.

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seiner sozialen Ausweitung – bewusst, die so eng an die familiäre Eigentumsbeziehung gebunden ist: […] o Karl, bitte, bitte, werde mir nicht so wie der! Bitte, denke immer an uns, an das Herze da in der Wiege und auch ein bißchen an mich, wen du deinen Freund nicht lassen willst, nicht lassen kannst! Er hat ja freilich keine Familie wie du; aber ich habe doch noch erst die letzte Nacht geträumt, auch du habest mich mit unserm Jungen – ich meine unsere letzte Photographie – verbrannt wie er die Bilder seiner Eltern und seiner als ganz kleines Kind gestorbenen Schwester! O bitte, da nimm uns, Ferdi und mich, doch lieber jetzt gleich mit und schieb uns in euren Ofen in deinem Vogelsang! (BA 19, S. 371) Wie kann ich mich beruhigen, wenn solch ein Unhold dich mir unter den Händen austauscht und allmählich zu einem andern macht? Oder ist das etwa nicht so? Glaubst du, ich merkte es nicht, wie dir jetzt von Tag zu Tag mehr so manches überdrüssig, einerlei und zur Last wird, was doch zum Leben gehört? Oh, mein bester Karl, wenn wir, Ferdi und ich, dir auf einmal zur Last würden, wie deinem entsetzlichen Freunde sein Hausrat und sein Haus in eurem unheimlichen, schrecklichen Vogelsang! (BA 19, S. 373–374)

Über das Eigentum wird das Individuum auf äußerlicher, materieller Ebene sozial verortet. Es dient als materielle Lebensgrundlage der gesellschaftlichen und ökonomischen Stabilität und Sicherheit, vermittelt aber auch im Inneren der Familie die Sicherheit der Person. Dabei bedeutet die Gleichsetzung von Familienstrukturen mit Eigentum die Sicherung personaler Identität in der Familie. Indem die Familie über das immaterielle Erbe – die Weitergabe der gesellschaftlichen Stellung, Werte, Denk- und Lebensweisen – die Fortführung der Sozialität garantiert, wird die individuelle Identität insbesondere auch an äußere, soziale Gegebenheiten gebunden. Die ganzheitliche Bindung von Mensch und Eigentum, die das Leben im Vogelsang repräsentiert, zeigt sich dabei bereits in ihren Auflösungserscheinungen als brüchig. In der neuen, ökonomisierten Gesellschaftsordnung tritt der Mensch zwar nicht mehr als Ganzes in Beziehung zu seiner Umwelt, was sich am hier vorherrschenden funktionalen Eigentumsverhältnis zeigt, das Eigentum behält aber seine sicherheits- und identitätsstiftende Funktion – auch wenn diese nun in der Familie privatisiert wird und somit das Überleben der Sozialität gewährleistet.

4.2 Gesellschaftliche Anpassung und soziale Karriere 4.2.1 Väterliche Erziehung im Sinne der Gesellschaft In den Akten des Vogelsangs begegnet man, wie in Stopfkuchen, einem Erzähler, der der bürgerlichen Welt zuzuordnen ist. So sind auch deren Schreibsituatio-

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nen vergleichbar: Beide, Karl und Eduard, berichten aus der Retrospektive sowohl vom verlorenen Kindheitsidyll als auch von der Erschütterung des eigenen Selbstverständnisses durch den Jugendfreund. Karls bedeutendstes Merkmal ist dabei die – im Gegensatz zu Eduard – bewusste Übernahme der bürgerlichen Werte.75 Bereits zu Beginn seiner Niederschrift, stellt sich Karl über seine gesellschaftliche Position als „Leutnant der Reserve“76 und „Oberregierungsrat Dr. jur. K. Krumhardt“77 vor. In der Forschung wird er deshalb größtenteils als beschränkter „Durchschnittsmensch“,78 der seine „bürgerliche Karriere […] mit dem Verlust der Individualität“79 erkauft habe, gesehen. Karls Existenz ist komplexer als seine Vorstellung zunächst ersichtlich macht – nicht umsonst ist er neben Velten einer der Hauptcharaktere des Romans, die „im Sinne der Dichtung als gegenseitige Ergänzung zusammengehören“.80 Tatsächlich wird Karl vor allem in seiner bürgerlichen Rolle, die das Resultat der väterlichen Erziehung ist, gezeigt. An ihm wird die Thematik des Erbes am deutlichsten, denn Karls Leben orientiert sich am Vorbild des Vaters – die Mutter zeichnet sich vor allem im „vollständigen Aufgehen in den Ansichten, Meinungen, Worten und Werken des Gatten“81 aus. Karls Eltern „prägen die Modalität seiner Lebensbewältigung, indem er, ohne Widerstand zu leisten, den von ihnen vorgezeichneten Lebensweg einschlägt“.82 Karl übernimmt das bürgerliche Erbe seines Vaters, ohne dies zunächst zu hinterfragen.83 Dennoch weiß er um die Existenz anderer, vom Bürgerlichen abweichenden Lebensweisen, empfindet diese aber

|| 75 Karls Leben ist geprägt von den bürgerlichen Normen Besitz, Bildung, Selbstständigkeit und Leistung sowie dem durch die Erfüllung dieser Normen gewonnenen sozialen Ansehen. Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Zielutopie, S. 87; Manfred Hettling: Die persönliche Selbstständigkeit, S. 59. 76 BA 19, S. 213. 77 BA 19, S. 213. 78 Vgl. Hermann Pongs: Wilhelm Raabe. Leben und Werk. Heidelberg: Quelle & Meyer 1958, S. 607. 79 Beate Hansel: Die Liebesbeziehungen des Helden, S. 153. Ähnliche Meinungen finden sich bei: Stefania Sbarra: Familienbegriffes, S. 46; Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 70. 80 Felix M. Wassermann: Problem der bürgerlichen, S. 428. 81 BA 19, S. 218. 82 Gabriele Varo: Feindlichkeit, S. 25. 83 Frauke Berndt sieht in Karls Verhältnis zum Vater und der bürgerlichen Sphäre eine Aggression. Dem muss aber widersprochen werden. Karl begreift seine eigene bürgerliche Karriere nicht als Überwindung des Vaters, sondern nimmt sie dankbar als Resultat von dessen Erziehungsmethoden an. Vgl. Frauke Berndt: Anamnesis. Studien zur Topik der Erinnerung in der erzählenden Literatur zwischen 1800 und 1900 (Moritz – Keller – Raabe). Tübingen: Niemeyer 1999, S. 351–352.

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hinsichtlich der „schwankenden Erdenwelt“84 für „sehr wohl berechtigt[...]“.85 Ausgangspunkt für seine Entwicklung ist dabei die Kindheit im Vogelsang, die sowohl vom Umgang mit den Nachbarn und dabei vor allem Velten als auch von der Erziehung durch seinen Vater gekennzeichnet ist. Auch die Stellung seines Vaters in der Gesellschaft wird an seinem Beruf gemessen: Daß mein Vater nur auf das zu dem Landesorden hinzugestiftete Verdienstkreuz Erster Klasse und den Titel Rat die Anwartschaft besaß, sagt alles über unsere gesellschaftliche Stellung im deutschen Volk um die Zeit herum, da ich jung wurde in der Welt. In welchem juristischen Sonderfach er ein Beamteter war, ist wohl gleichgültig, daß er aber ein sehr tüchtiger Beamter war, haben alle seine Vorgesetzten anerkannt und viel häufiger von seinem Verständnis in den Geschäften Gebrauch gemacht, als sie ihren Vorgesetzten gegenüber laut werden ließen. Es handelte sich in seinem Amt viel um Zahlen, und er hatte einen hervorragenden Zahlensinn, womit, beiläufig gesagt, meistens auch ein entsprechender Ordnungssinn verbunden ist. Beides gab ihm eine Stellung in unserer heimischen Bürokratie, die für unser häusliches Behagen nicht immer von dem besten Einfluß war; denn die Vorstellung, nicht studiert und es dadurch zu etwas Besserm gebracht zu haben, verbitterte nur zu häufig nicht nur ihm, sondern auch uns, das heißt meiner Mutter und mir, das Leben. (BA 19, S. 217)

Obwohl er die bürgerlichen Vorstellungen von Fleiß und Ordnung86 erfüllt, ist dem Vater ein Aufstieg in höhere Gesellschaftskreise und damit ein höheres Ansehen – ersichtlich an den Verdienstorden und Titeln – verwehrt. Deshalb strebt er gerade für seinen Sohn die Aussichten auf eine bessere Bildung und den damit verbundenen sozialen Aufstieg an: Sein Wunsch für den Sohn ist es, die kleinbürgerlichen Lebensverhältnisse zu verlassen und „das, was [der Vater] zu protokollieren und in die Registratur zu nehmen hatte, durch [Karl] zu Protokoll und in die Registratur geben zu sehen“87 – also eine bessere berufliche wie soziale Stellung. Die Eltern richten ihr Leben auf den Sohn aus, was „als Fortsetzung der elterlichen Persönlichkeiten in die Zukunft erfahren wird“.88 Als Vertreter des Bürgertums wird Karls Vater zwar im philiströsen „Schlafrock und Hauskäppchen mit der langen Pfeife“89 gezeichnet – er selbst sieht aber die bürgerliche Welt nicht als beschränkt an. Mit den Träumen vom Reichtum und

|| 84 BA 19, S. 226. 85 BA 19, S. 226. 86 Vgl. Hermann Bausinger: Bürgerlichkeit und Kultur, S. 122. 87 BA 19, S. 268. 88 Manfred Kindermann: Subjektkonstitution als Entfremdung. Implizites psychologisches Wissen in Raabes Roman Die Akten des Vogelsangs. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 41 (2000), S. 106. 89 BA 19, S. 356.

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schnellem Geld der Agathe Trotzendorff konfrontiert, verweist er ironisch auf die eigene Sichtweise durch die „hiesigen Philisteraugen“.90 Das Bürgertum und die damit verbundenen Werte, die auf Fleiß, Ordnung und im Gegensatz zur Schwindelei Charles Trotzendorffs auf rechtschaffener Arbeit und dem damit verbundenen Ansehen beruhen, sind für den Vater die einzig erstrebenswerte Lebensform. So versucht er, seine normerfüllte Haltung auch auf seine Mitmenschen zu übertragen und erzieht unter diesen Maximen daraufhin auch seinen Sohn.91 Seine Anstrengungen richten sich vor allem auf die Abwehr der Einflüsse Veltens, auf dessen Erziehung er trotz Vormundschaft keinen Einfluss hat, da für Amalie Andres gilt: „Lieber sterben als dem zum Richtigen redenden Nachbar und Familienfreund seine Verantwortlichkeit durch Zustimmung zu erleichtern“.92 Karl hingegen wird zur Einhaltung gesellschaftlicher Normen und Regeln angehalten, was mit Disziplin und notfalls auch mit einem Gang zur Polizeibehörde durchgesetzt wird.93 Junge, Junge, ich rate dir, daß du bei den Grundsätzen deiner Eltern wie bei deinen Büchern bleibst und dich exakt hältst. Dich wenigstens kann ich windelweich hauen, wenn du mir bloß noch ein kleines mehr in dem Affenspiel rundum die Purzelbäume mitschlägst und nicht deine bürgerlichen, gesunden, nüchternen fünf Sinne beieinanderbehälst! (BA 19, S. 26)

Karl wird durch seinen Vater zu einem normgerechten Verhalten erzogen. Dass dies der Fortführung der gesellschaftlichen Ordnung dient, wird an der Orientierung der Krumhardts an der Generationenfolge deutlich. Die Erziehung zum „richtigen Wege“,94 also zur bürgerlichen Lebensweise, garantiert, dass „die Welt bestehe und ordnungsgemäß an nachfolgende Geschlechter weitergegeben werde“.95 Auch Karl und seine Frau Anna bedenken immer wieder ihre Kinder und die damit verbundene Weitergabe ihres Erbes, das von Karl deutlich auf

|| 90 BA 19, S. 225. 91 Seine Erziehung wird in der Forschung weitgehend negativ betrachtet. Vgl. Hartwig Schulz: Werk- und Autorintention in Raabes Alten Nestern und Akten des Vogelsangs. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 20 (1979), S. 144; Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 63; Gabriele Varo: Feindlichkeit, S. 25; Horst Wischniewski: Die Akten des Vogelsangs. Zwang und Freiheit in Wilhelm Raabes Roman. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 15 (1974), S. 99. 92 BA 19, S. 224. 93 Vgl. BA 19, S. 225. 94 BA 19, S. 239. 95 BA 19, S. 239.

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seinen Vater zurückgeführt wird.96 Erziehung bezieht sich also vor allem auf die Vermittlung sozialer Zugehörigkeit. Karl soll es zu einer „soliden Existenz“97 bringen, d.h. die väterlichen, bürgerlichen Werte einhalten und insbesondere gesellschaftlich erfolgreich sein. Dies erfolgt im weiteren Verlauf vor allem über den vorgegebenen Bildungsweg. In den Akten des Vogelsangs hat die Schule, wie schon in Stopfkuchen, eine gesellschaftliche Funktion. Bildung fungiert als „Erziehung gemäß bürgerlicher Norm und [als] Berufsausbildung“,98 die es Karl ermöglicht, seine „bürgerliche Karriere adäquat vor[zu]bereiten“.99 Als juristischer Beamter mit vorzüglichem „Zahlensinn“100 sind es vor allem mathematische und vernunftbasierte Fächer, auf die Karls Vater Wert legt. So zeigt er sich insbesondere der Literaturwissenschaft gegenüber misstrauisch – dem „saubere[n] Exempel“101 der Griechen und Römer, noch mehr aber den neueren Poeten, wie etwa Alexandre Dumas, Heinrich Heine oder Ferdinand Freiligrath, mit denen Karl durch Velten in Kontakt kommt.102 Diese sind nicht im Sinne der Schulgelehrsamkeit, also „moralisch, ethisch und politisch gereinigte Anthologien“,103 sondern werden vom bürgerlichen Standpunkt als „‚Unsinn‘, […] ‚frivole[r] Ungeschmack‘ [und] ‚Blödsinn‘“104 verworfen. So hält auch Karls Vater den Sohn dazu an, sich von diesen Poeten fernzuhalten: Und übrigens scheinst du mir auch seit längerer Zeit schon dich einer recht überflüssigen, wenn nicht schädlichen Leserei zu ergeben. Bleib bei deinen wirklichen Büchern und meinetwegen auch älteren Poeten; aber laß mir diese dummen Romane und sogenannten neueren Dichter aus dem Hause, mein Sohn. Nebenan da zur Vernunft zu reden, hilft ja nicht; da laß ich den Narreteien allmählich ihren Weg; aber hier in meinen vier Pfählen bleibt Verstand Verstand, Sinn Sinn, Unsinn Unsinn und Schund Schund. (BA 19, S. 243– 244)

|| 96 Vgl. BA 19, S. 239–240: „Nach besten, treuesten, sorglichsten Kräften haben [die Eltern] so an mir getan, und – gottlob, ich weiß, daß meine Frau und meine Kinder mit ihren Erziehungsresultaten zufrieden sind. Sie sehen alle mit Respekt zu dem alten Herrn Rat, dem ‚Großpapa‘, über meinem Schreibtische auf.“ 97 BA 19, S. 226. 98 Manfred Kindermann: Subjektkonstitution, S. 103. 99 Manfred Kindermann: Subjektkonstitution, S. 103. 100 BA 19, S. 217. 101 BA 19, S. 224. 102 Vgl. BA 19, S. 240–243. 103 BA 19, S. 241. 104 BA 19, S. 241.

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Karl weicht hier allerdings von der väterlichen Maxime ab: Obwohl er einräumt, ein „wohlgeratener Sohn“105 zu sein, also die Wünsche des Vaters hinsichtlich seiner bürgerlichen Karriere erfüllt zu haben, hat er sich doch viel mehr an eine lebendigere Bildung gehalten: Was erzieht alles an dem Menschen! Und wie werden mit allen anderen Hoffnungen und Befürchtungen Eltern-Sorgen und -Glücksträume zunichte und erweisen sich als überflüssig oder besser als mehr oder weniger angenehmer Zeitvertreib im Erdendasein! Als wohlgeratener Sohn, als ein älterer, verständiger Mann, als wohlgestellter Familienvater, als „angesehener“, höherer Staatsbeamter erzähle ich heute weiter vom Vogelsang und teile zuerst mit, daß wir, wenn nicht die besten Lateiner und Griechen auf unserm illustren Gymnasium, so doch die besten Engländer waren. Der für diesen Unterrichtszweig vom Staate besoldete Oberlehrer und Doktor war, obgleich er ein ganzes halbes Jahr „in London gewesen war“, durchaus nicht schuld daran. Wir hatten das einzig und allein dieser „kleinen amerikanischen Krabbe“ zu verdanken, die zuerst uns in den Vogelsang die verblüffende Offenbarung brachte, daß allerhand nichtsnutzige Sprachen nicht nur tot zu unserm Elend in den Grammatiken und in Büchern ständen, sondern wirklich und wahrhaftig lebendig seien […]. (BA 19, S. 244–245; Hervorhebung im Original)

Wenn er auch in Literatur letztendlich die schlechteste Abschlussnote hat, ist diese nicht der Schulnorm gemäße Bildung genauso ein Teil von Karls Entwicklung, wie die Ermahnungen des Vaters, den „richtigen Weg[...]“106 einzuschlagen. Sie hat nichts daran geändert, dass Karl sich trotzdem „als der rechte Sohn [s]eines Vaters“107 erweist. In seinen Kindheitserinnerungen zeigt sich Karl zwar immer wieder hin- und hergerissen zwischen den väterlichen Ermahnungen zu einem normgerechten Leben und dem, vor dem er gewarnt wird. Die Übernahme des väterlichen Wertsystems erfolgt jedoch vorbehaltlos: Er gibt dem Vater in seinen Ansichten und Erziehungszielen recht108 und übernimmt sie auch für seine Familie. Am Grab des Vaters zählt Karl die Kutschen, um zu sehen, wer dem Vater „die gebührende Ehre [gibt] und wer nicht“109 und auch die Wünsche des Vaters, bezüglich Karls sozialem Aufstieg, werden in aller Hinsicht erfüllt: Voll Stolz blickt der alte Krumhardt auf den „ihm Freude machenden Sohne“,110 als dieser dank seiner Karriere nicht mehr zu „den kleinen Leuten“111 gehört. Die bürgerliche Erziehung des Vaters und die damit verbundene Übernahme der

|| 105 BA 19, S. 244. 106 BA 19, S. 239. 107 BA 19, S. 339. 108 Vgl. BA 19, S. 239. 109 BA 19, S. 239. 110 BA 19, S. 321. 111 BA 19, S. 321.

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väterlichen, bürgerlichen Werte, garantieren den Fortbestand der bürgerlichen Gesellschaft. Bildung und Erziehung verfolgen den Zweck der Sozialisation.112 Über die Eltern erhalten die Kinder nicht nur ihre Stellung in der Gesellschaft, sondern übernehmen auch deren Ansichten, Vorstellungen, Werte und Lebensweise. Auf diese Weise wird die bürgerliche Lebensform in ihrer Dauer und Stabilität gesichert. Karls Vater ist jedoch nicht so eindimensional, wie seine patriarchalische Erziehung zur Anpassung und Unterordnung unter gesellschaftliche Begebenheiten113 erscheinen lässt. Auch er ist ein Bewohner des Vogelsangs und damit ein Vertreter jener alten Gesellschaftsordnung, die die Nachbarschaft symbolisiert. Obwohl er durch seine Tätigkeiten als Vormund und den differierenden Ansichten immer wieder in Konflikt mit Amalie Andres gerät, unterhält er doch ein gutes Verhältnis zu ihr, das auf Respekt basiert.114 Nach seinem Umzug vom Vogelsang hängt er weiterhin an der alten Lebensweise, die nun nicht mehr erfüllbar ist, und stirbt kurz darauf: Und nun war es kaum acht Tage her, daß er zum letztenmal in dem kleinen hartnäckigen Häuslein gewesen war, um sich in der altgewohnten, treufreundschaftlichnachbarschaftlichen Weise zu ärgern und sich wieder zu vertragen mit der Frau „Exnachbarin.“ Nun stammte der werteste Kranz auf seinem Sarge aus dem letzten Hausgarten des Vogelsangs, und Veltens Mutter hatte ihn selbst gebracht und mit mir […] neben dem schwarzen Schrein gesessen und mir mehrfach die Hand aufs Knie gelegt und geseufzt […]. (BA 19, S. 337)

Im Gegensatz zu Karl bleiben seine Eltern der kleinbürgerlichen Lebensweise zugehörig und können sich nicht an die neuen Lebensumstände gewöhnen. Trotz seiner Aufstiegsträume, die er auf Karl überträgt, hat der Vater nach deren Erfüllung sein letztes Eigentum auf dem Friedhof des Vogelsangs, wo die „frühere Freundschaft auch jetzt noch gute Nachbarschaft hielt und ihren Grundbesitz im Grundbuche […] fest zusammen hatte schreiben lassen“.115 Der ökonomische Fortschritt der Zeit geht Hand in Hand mit dem sozialen Aufstiegsdenken. Karls Vater zeigt sich in seinen Ermahnungen zur sozialen Anpassung als ein Vertreter des Bürgertums, der in seinen sozialen Aufstiegswün-

|| 112 Vgl. Manfred Kindermann: Subjektkonstitution, S. 103. 113 Vgl. Horst Wischniewski: Zwang und Freiheit, S. 99. 114 Vgl. BA 19, S. 250–251: „Im Grunde ist sie doch die einzige von allen, vor der auch mein Vater Respekt hat und auf die er hört, wenn er das Wort genommen hat und sie es nach ihm nimmt, trotzdem er als „Familienfreund“ auch ihr gegenüber das Wort: ‚Unzurechnungsfähiges Frauenzimmervolk‘ oft genug hinter den Zähnen brummt.“ 115 BA 19, S. 340.

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schen die aufkommenden kapitalistischen Strukturen spiegelt. Obwohl seine Erwartungen durch den Sohn ganz und gar erfüllt werden, bleibt er aber der alten Gesellschaftsordnung der Nachbarschaft verbunden und zwar insofern, dass er stirbt, sobald er von seiner alten Lebensweise getrennt wird. Damit zeigt sich das Bild des Vaters ambivalent und die bedingungslose Anpassung an den sozialen Forstschritt und neuere gesellschaftliche Umstände erscheint brüchig: Während der Sohn ohne größere Probleme für seine Identität in höhere Gesellschaftskreise aufsteigt, verlieren die Eltern mit ihrem Vogelsang-Eigentum ihre Lebensform und damit auch ihre Existenz. Die Generationenfolge schreitet fort, der soziale Aufstieg ist geglückt – Karls Ehefrau Anna weiß nichts mehr vom Vogelsang116 – der patriarchalische Vater aber, der seine Lebensenergie ganz und gar auf das soziale Weiterkommen des Sohnes gesetzt hat,117 stirbt, sobald er dieses Erbe an Karl weitergegeben hat. Dass seine letzten Lebenstage aber sowohl von Stolz auf das Erreichte als auch von der Sehnsucht nach dem alten Leben geprägt sind, zeigt, dass auch die bürgerliche Normerfüllung heterogene Elemente enthält. Dies zeichnet bereits den Konflikt, den Karl mit seiner Faszination Velten gegenüber austrägt, vor.

4.2.2 Sozialer Aufstieg: Bürgerliche Musterbiografie Bildung und Erziehung haben im Roman den Zweck der Sozialisation und vermitteln insbesondere die Normen und Werte der Gesellschaft. Gerade die erfolgreiche Absolvierung des Bildungswegs fördert auch gesellschaftliche Aufstiegschancen. Karls Vater ist es nur wegen eines fehlenden Studiums verwehrt in die „beste[...] Gesellschaft“118 aufzusteigen – Karl hingegen erreicht dank seinem Jurastudium, das, was dem Vater verwehrt war. So gelingt Karl ein sehr guter Schulabschluss, der als „Familienerfolg“119 gefeiert wird. Auch die Noten spiegeln die bürgerlichen Werte wider: Mathematik als Kernkompetenz für ein bürgerlich erfolgreiches Leben120 wird mit Bestnote absolviert, während die hierfür

|| 116 Vgl. BA 19, S. 337. 117 Vgl. auch BA 19, S. 335: „daß ich allen ihren Erwartungen entsprochen habe und mich auch fernerhin aller hohen und höchsten Ehren und Genugtuungen unserer Welt im kleinsten würdig erweisen werde und also aller durch zwei ganze treusorgliche Elternleben aufgewendeten Ängste, Mühen, Kümmernisse und Entsagungen wert.“ 118 BA 19, S. 269. 119 BA 19, S. 262. 120 Vgl. BA 19, S. 262–263.

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unwichtigere „deutsche Sprache und Literatur genügend“121 bleibt. Nach dem erfolgreichen Schulabschluss zieht Karl aus, um „nach dem Wunsche und Willen [s]eines Vaters“122 Jura zu studieren. Von hier an geht es für ihn gesellschaftlich bergauf: Als Mitglied „einer vornehmen Verbindung […], der schon die höchsten Spitzen der maßgebenden Kreise [der] heimatlichen Residenz angehört haben“,123 verkehrt Karl nun in den höheren Gesellschaftsschichten und sieht „in der vollen Hahnenhaftigkeit [s]eines vornehmen Verbindungsbewusstseins“124 auf die kleinbürgerliche Lebensweise des Vogelsangs hinab.125 Seine Mitgliedschaft in einer Burschenschaft wird insbesondere vor dem Hintergrund der Fechtmeisterin Feucht, bei der Velten während seiner Berliner Studentenzeit wohnt, problematisiert. Die Wohnung der Fechtmeisterin, die ursprünglich aus Jena stammt, ist voll von diesem „Teil an den deutschen Geschichten“:126 Die ganze Welt kam hier gar nicht in Betracht; aber in ganz Deutschland gab es kein Witwenstübchen, das diesem glich. Mitten in diesem Berlin diese ganze deutsche Jugend, soweit sie sich in Jena und auf ihren Verbindungsbildern zusammengefunden hatte! Alle Wände damit bedeckt; – dazwischen, wo nur ein Räumchen, alles voll von Schattenrissen mit allen Couleuren an Mütze und Band. Waffentrophäen statt des Spiegels, Schläger und Stulpen und was sonst dazu gehört, wo nur noch was aufzuhängen war. (BA 19, S. 281)

Anne-Katrin Hillebrand verweist auf die gegensätzliche Darstellung von Berlin und Jena in Bezug auf die Geschichte der Studentenverbindungen im Roman.127 Während Jena deren ursprünglichen Stellenwert zu Beginn des 19. Jahrhunderts als „Reformbewegung, deren zentrales Anliegen die staatliche Einigung Deutschlands war“128 und die von „freiheitlichen Ideen und dem Gleichheitsgedanken“129 geprägt wurde, repräsentiert, drückt sich in Berlin die Entfernung von diesen anfänglichen Idealen aus. Für Karl und seine Zeitgenossen hingegen ist die Studentenverbindung im Gegenteil, zu einer „wichtige[n] Stufe der Karri-

|| 121 BA 19, S. 263. 122 BA 19, S. 263. 123 BA 19, S. 269. 124 BA 19, S. 270. 125 Vgl. BA 19, S. 269. 126 BA 19, S. 282. 127 Zur Bedeutung Jenas in der Geschichte der Studentenverbindungen, siehe: Lisa Fetheringill Zwicker: The Burschenschaft and German Political Culture, 1890–1914. In: Central European History 42 (2009), S. 399–401. 128 Anne-Katrin Hillebrand: Erinnerung und Raum. Friedhöfe und Museen in der Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 196. 129 Anne-Katrin Hillebrand: Erinnerung und Raum, S. 197.

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ereleiter für den staatstreuen Untertan“130 geworden. Durch seine Mitgliedschaft in dieser „vornehmen Verbindung“131 steigt Karls Ansehen bei den gesellschaftlich einflussreichen Schichten. Dadurch werden ihm wiederum die Türen für vielversprechende Ämter geöffnet. Nach dem „ehrenvoll[en]“132 Bestehen des ersten juristischen Examens tritt Karl seine Karriere als Staatsbeamter an, wo er gänzlich „den Anforderungen [s]einer Vorgesetzten“133 gerecht wird. Seine Karriere geht weiter „aufwärts in der Rangordnung des Staatskalenders und der bürgerlichen Gesellschaft“134 und ist geprägt vom Sammeln Ansehen steigernder Titel: Als „Assessor a[m] heimatlichen Stadtgericht“135 passt das ursprünglich kleinbürgerliche und das, jetzt durch die baulichen Veränderungen entstandene proletarische Milieu des Vogelsangs, nicht mehr zu seinen Verhältnissen,136 die ihn nun „in immer bessere Gesellschaft, bis in die beste“,137 führen. So hat er auch noch als Oberregierungsrat alle „amtlichen Aussichten auf die Zukunft und darin den Titel Exzellenz“.138 Mit seiner Karriere als Beamter verkörpert Karl „den Typus des treuen Staatsdieners“.139 Die Bürokratie trägt als „staatstragende[s] Element“140 im 19. Jahrhundert zur politischen Stabilisierung bei.141 Als erfolgreicher, hochrangiger Jurist und Beamter, der gänzlich der Erhaltung des Staates verpflichtet ist, vertritt er die gesellschaftlich einflussreichsten Klassen. Diese erhalten aber dadurch eine rein staatsdienende Funktion, denn wer durch politische Konformität zur Stabilisierung beiträgt, erhält das meiste Ansehen und damit den größtmöglichen gesellschaftlichen Einfluss. Damit trägt der Staatsapparat aber nicht nur zur Kontinuität, sondern auch zur Erstarrung der Gesellschaft bei,142 da sich die gesellschaftliche Ordnung und das politische System gegenseitig voraussetzen. So erhält die einflussreiche Honoratiorenschicht die gesellschaftliche Macht: Sie gibt die sozial anerkannten, normgerechten Lebensweisen und Wertesysteme vor; gleichzeitig garantiert sie aber

|| 130 Anne-Katrin Hillebrand: Erinnerung und Raum, S. 197. 131 BA 19, S. 269. 132 BA 19, S. 296. 133 BA 19, S. 297. 134 BA 19, S. 335. 135 BA 19, S. 304. 136 Vgl. BA 19, S. 322. 137 BA 19, S. 322. 138 BA 19, S. 387–388. 139 Anne-Katrin Hillebrand: Erinnerung und Raum, S. 197. 140 Anne-Katrin Hillebrand: Erinnerung und Raum, S. 197. 141 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3, S. 857. 142 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3, S. 858–859.

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auch politische wie soziale Sicherheit und Stabilität. Auch in dieser Hinsicht wird Karl als Gegensatz zu den politisch-revolutionären Idealen des frühen 19. Jahrhunderts, die die Fechtmeisterin Feucht vertritt, dargestellt.143 So wird Karls Anwesenheit in der Fechtstube ironisch mit dem Verweis, dass diese Gesellschaft ihm „daheim bei [seinen] Leuten am grünen Tisch“144 schaden würde, kommentiert. Die Bürokratie erhält eine staatssichernde Funktion. Sie wirkt den staatlichen und sozialen Veränderungen entgegen, indem sie als gesellschaftliche Oberschicht die Kontinuität sozialer Bedingungen erhält und dafür mit gesellschaftlicher Macht und Einfluss belohnt wird. Karls bürgerliche Laufbahn gleicht somit einer gesellschaftlichen Musterbiografie. Sein Leben ist geprägt von der Erfüllung gesellschaftlicher Erwartungen und normgerechtem Verhalten. Von den kleinbürgerlichen Anfängen im Vogelsang gelingt es ihm, die Aufstiegswünsche seines Vaters, der es nur zum Obergerichtssekretär gebracht hat,145 zu erfüllen. Die Titel und Auszeichnungen als Teil der heimischen Honoratioren repräsentieren seine gute Reputation und damit seine angesehene Stellung im Bürgertum. Sein gesellschaftlicher Erfolg öffnet ihm dabei nicht nur die Türen für hochrangige Ämter, sondern ermöglicht ihm die Zugehörigkeit zur obersten Schicht des Bürgertums, dem Großbürgertum. Für Karl ist seine gesellschaftliche Biografie identitätsbildend – er definiert sich über seinen Beruf und seine soziale Stellung. Bezeichnend hierfür ist, dass er sich fast ausschließlich in seinem Arbeitszimmer bei seinen „Aktenhaufen“146 aufhält. Auch bei der Beerdigung des Vaters ist es der „amtlich dem Hause Krumhardt Vorgesetzte“,147 der Obergerichtspräsident, der Karl in der Kutsche zum Friedhof begleitet. Erfolg und Aufstieg sind die Werte, die er verinnerlicht hat und die er zur Maxime seiner Lebensform erhebt. Schon als Kind wünscht er sich von den Sternschnuppen zu allererst ein gutes Examen148 und auch später, wenn er auf sein Leben zurückblickt, wird ihm deutlich, dass er nichts an seinem Weg ändern würde.149 Karl hat sich durch seine Anpassung und Verinnerlichung sozialer Normen und Regeln in das Bürgertum integriert. Dabei sind Karls Ansehen und seine Titel nicht nur Ausdruck seiner Zugehörigkeit zum Bürgertum und dessen, was ihn für die Gesellschaft ausmacht, sondern auch, worüber er sein bürgerliches Selbst identifiziert. Das Individuum || 143 Vgl. auch Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3, S. 858–859. 144 BA 19, S. 307. 145 Vgl. BA 19, S. 341. 146 BA 19, S. 215. 147 BA 19, S. 341. 148 Vgl. BA 19, S. 259. 149 Vgl. BA 19, S. 287–288.

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orientiert sich an seiner sozialen Funktion und den äußeren gesellschaftlichen Bedingungsfaktoren. Dadurch übernimmt die soziale Rolle aber auch die individuelle Identität. Indem Karl sich überwiegend in seiner gesellschaftlichen Funktion präsentiert, bringt er damit die Bedeutung dieser äußerlichen sozialen Begebenheiten für die eigene Identität zum Ausdruck, die für ihn bewusst und nach seinen Ansichten auch berechtigterweise, im Kern durch und durch bürgerlich sind.

4.2.3 Deutsches Großbürgertum und amerikanische Spekulanten Karl selbst definiert sich deutlich über seinen Beruf und seine soziale Stellung. Mit hochrangigen Ehren und Titeln versehen, verkehrt er in den höchsten Gesellschaftskreisen. Sein sozialer Aufstieg verschafft ihm dabei die Möglichkeit, in eine „zur maßgebendsten Gesellschaftsschicht [der] Landeshauptstadt“150 gehörende Familie einzuheiraten.151 Wie man an Karls Schwager Schlappe, dem „jüngsten Regierungsrat des Landes“,152 sehen kann, ist Annas Familie eine der angesehensten und damit einflussreichsten Honoratioren in der Residenzstadt.153 Annas Vater unterhält sogar enge Beziehungen zum Hof der Residenz.154 Durch Bildung, seine Karriere als Staatsbeamter und Heirat, steigt Karl vom kleinbürgerlichen Vogelsang ins Großbürgertum auf, das als oberste Schicht der bürgerlichen Gesellschaft sich vor allem durch seine am Adel angelehnte Lebensweise auszeichnet.155 Wegen seines sozialen Aufstiegsstrebens wird Karl Krumhardt auch mit seinem Namensvetter Charles Trotzendorff verglichen. Charles Trotzendorff, der Vater Helenes, ist als „Auswanderungsagent“156 selbst nach Amerika ausgewandert. Als er dort wegen mehrerer Schwindeleien „an einem längeren Aufenthalt in Sing-Sing vorbeigeglitten“157 ist und seine Frau und Tochter zurück in den Vogelsang schicken muss, kehrt er viele Jahre später als „zehnfacher Dollarmillionär“158 zurück und erfüllt damit die Hoffnungen

|| 150 BA 19, S. 266. 151 Zur Bedeutung der Heirat als soziales Aufstiegsmittel, siehe Christian Stadler: Darwinistische Konkurrenz, S. 170. 152 BA 19, S. 342. 153 Vgl. BA 19, S. 377. 154 Vgl. BA 19, S. 266–267. 155 Vgl. Hermann Bausinger: Bürgerlichkeit und Kultur, S. 131–132. 156 BA 19, S. 229. 157 BA 19, S. 229. 158 BA 19, S. 270.

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seiner Familie auf den unermesslichen Reichtum, der sie aus dem bescheidenen Vogelsang-Leben befreit. Auch hier ist der soziale Aufstieg geglückt. Es wäre jedoch falsch, wie Christoph Zeller zu behaupten, Karls Aufstiegsstreben sei „den auf Gewinnmaximierung gerichteten Zielen Trotzendorffs nur der Menge, nicht der Art nach verschieden“.159 Während Charles Trotzendorff seinen Aufstieg über das Geschäft, die Ansammlung von Geld und Gütern erreicht, handelt die bürgerliche Welt mit der Währung des Ansehens. Karls bürgerliche Reputation, also sein gesellschaftlicher Erfolg sowie die Einhaltung bürgerlicher Regeln, ist es, die ihn in die höchsten Gesellschaftskreise bringt. Trotzendorffs Weg hingegen wird als Bedrohung für das Bürgerliche verstanden: Gib acht, Adolfine, und erinnere mich seinerzeit an mein heutiges Wort: demnächst hören wir gar nichts mehr von ihm. Wir und die Stadt haben die Frau und das Mädchen allein auf dem Halse. Von Heimatberechtigung kann ja wohl nicht die Rede sein; aber wohin sollte die Kommune sie abschieben, wenn der Gauner seinen Verpflichtungen gegen seine Familie genügend nachgekommen zu sein glaubt oder, was mir wahrscheinlicher ist, wenn sie ihn irgendwo da drüben an einem Strick an einem Baume in die Höhe gezogen haben werden. Nach oben strebte er ja auch schon hierzulande; aber hier hatte er doch nur mit den ordentlichen Behörden, Gerichten und nicht mit dem Lynchsystem zu tun. (BA 19, S. 234–235)

Charles Trotzendorff wird von Karls Vater als Schwindler und Gauner verrufen: Seine Art des Geschäfts ist allein auf den Profit ausgelegt, der legale Rahmen scheint ihn hierfür nicht zu interessieren. Auch die angedeuteten Verbindungen Trotzendorffs zur New Yorker Tammany Hall, mit ihrem System aus Begünstigungen für politische Unterstützer und Korruption,160 widersprechen der sowohl politisch als auch gesellschaftlich stabilisierenden, heimatlichen Bürokratie. Für den alten Krumhardt, der sein Leben lang auf seine Reputation als rechtschaffener Staatsbeamter stolz war, stellt dies darüber hinaus eine Bedrohung dar, da es das bürgerliche Streben nach sozialem Aufstieg über die Vermehrung des Ansehens übergeht und somit infrage stellt. Es ist also nicht verwunderlich, dass das heimische Bürgertum Charles Trotzendorff moralische Mängel vorwirft.161 So wird diesem, als er als Multimillionär zurückkehrt, auch die Verbindung zu den höchsten Gesellschaftskreisen versagt:

|| 159 Christoph Zeller: Veltens Erbe, S. 108. 160 Vgl. BA 19, S. 230. 161 Vgl. auch BA 19, S. 229: „Soviel ich mich erinnere, war weder stilistisch noch ethisch das geringste daran verloren.“

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Wie der Glanz, den der Vater der Familie mit sich brachte, seine Wirkung nicht bloß auf den Vogelsang, sondern auch auf die ganze Stadt ausübte. Es mochte wiederum nur ein trügerisches „bengalisches“ Licht sein; aber das Meteor stand doch lang genug am Himmel über dem Osterberge, um das Volk, das seiner Meinung nach wahrlich nicht in Finsternis saß und sich durchschnittlich für sehr helle hielt, zum staunenden Aufsehen zu bringen. […] Kein anderer Ortseingeborener hatte in so kurzer Zeit so oft in den öffentlichen Blättern der Stadt gestanden als Mr. Charles Trotzendorff. Seit Menschengedenken hatte kein anderer wie er es so verstanden, sich binnen kürzester Frist so sehr loben zu lassen. Daß es vom fürstlichen Residenzschloß an bis in den Vogelsang hinein zu feine Nasen gab, denen er zu gut roch, ließ sich freilich nicht leugnen und also auch nicht ändern. Seine Durchlaucht verweigerte eine nachgesuchte Audienz. Mein Vater brummte: „Schwindel!“ (BA 19, S. 277)

Die Reaktion der Residenzstadt auf Trotzendorffs Rückkehr fällt gemischt aus. Während sich das Interesse vor allem auf seinen Reichtum und die daraus zu ziehenden Vorteile für Wohltätigkeitsvereine bezieht,162 zeigt seine Ablehnung am Hof, dass ihm trotz des ökonomischen Erfolgs, die Zugehörigkeit zur heimischen Gesellschaft verwehrt bleibt. Seinem auf Profit ausgerichteten Spekulantentum fehlt, nach Meinung der einflussreichsten Honoratioren, jegliche moralische Integrität: Nicht umsonst ist Charles Trotzendorff schon vor seiner Auswanderung mit den heimischen Behörden in Konflikt geraten. Im Gegensatz zu Karl besitzt Charles eine schlechte Reputation und ein geringes Ansehen in der Gesellschaft, da er die bürgerlichen Regeln nicht einhält. Obwohl beide ihr Lebensziel erreichen, vom kleinbürgerlichen Vogelsang sozial emporzukommen, ist die Art und Weise des Aufstiegs, und damit auch die Anerkennung in der Gesellschaft, verschieden. Karl, der sich streng an die bürgerliche Laufbahn hält, wird mit Ansehen und Einfluss in der heimatlichen Gesellschaft belohnt. Charles hingegen repräsentiert vom bürgerlichen Standpunkt aus die ökonomische Pervertierung des sozialen Gewinnstrebens.163 Als Konsequenz öffnet ihm der amerikanische Reichtum auch in der Heimat keine Türen – für seine Familie und seine Lebensweise bleibt daher bezeichnenderweise auch nur Platz im fernen Amerika. Raabes Darstellung Amerikas wird immer wieder als kritische Sichtweise auf die kapitalistischen Tendenzen seiner Zeit gedeutet. Zwar wirkt für seine Figuren, insbesondere Charles Trotzendorff als „Klischee des habgierigen, vul-

|| 162 Vgl. BA 19, S. 277. 163 In gleichem Maße negativ wird Trotzendorffs Weg bei Franz Zwilgmeyer: Archetypische Bewusstseinsstufen in Raabes Werken, insbesondere in den Akten des Vogelsangs. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 25 (1984), S. 110–112 gesehen.

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gären amerikanischen Kapitalisten“,164 die „amerikanische Erfahrung nicht immer veredelnd“,165 dies ist aber keine Kritik an Amerika selbst.166 Im Gegenteil wirkt Amerika im Roman als Kontrastbild zum deutschen Aufstiegsstreben und zwar „nur insoweit es für Deutschland relevant ist“.167 In Amerika gelingt, frei von gesellschaftlichen Bedingungen, die milieuunabhängige Gerechtigkeit, während in Deutschland „es nur bestimmten Gesellschaftsschichten [erlaubt ist], sich im Alltag durchzusetzen“.168 Dass Charles Trotzendorffs sozialer Aufstieg, im Gegensatz zu Karls, in materialistischer Hinsicht gesteigert ist und bisweilen moralisch korrumpiert, macht nur den Blick auf die heimischen Verhältnisse frei. Wie schon in Abu Telfan, bringt hier der Blick auf das Fremde das Interesse am Eigenen zum Ausdruck.169 Die Gesellschaftskritik, wie sie noch in Abu Telfan durch den Vergleich mit Afrika dargestellt wurde, fällt in den Akten des Vogelsangs jedoch gemildert aus.170 Dies liegt zum einen daran, dass der Erzähler vom bürgerlichen Standpunkt aus berichtet, zum anderen daran, dass Karls Welt nicht als defizitär, sondern in der ihr eigenen bürgerlichen Problematik gezeigt wird. Die Steigerung sozialen und ökonomischen Aufstiegsstrebens, wie es im Roman durch Amerika repräsentiert wird, erhält, gerade im Hinblick auf den zerstörten Vogelsang und Karls bürgerliche Krise, Brisanz. Wenn die „Firma Trotzendorff […] ihr Recht [behält]“,171 drückt dies letztendlich nur die Unausweichlichkeit des gesellschaftlichen Fortschritts aus. Für das Individuum bedeutet dies hingegen einen Konflikt zwischen der Anpassung an diese Neuerungen um des Fortschritts willen und etwaigen eigenen, diesem Ziel nicht dienlichen Werten.

|| 164 Jeffrey L. Sammons: Die Darstellung Amerikas unbesehen: vergleichende Betrachtungen zu Spielhagen, Raabe und Fontane. In: Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848: Migration – kultureller Austausch – frühe Globalisierung. Bielefeld: Transcript 2008, S. 167. 165 Jeffrey L. Sammons: Die Darstellung Amerikas, S. 167. 166 Frühe Studien sehen darin sogar Raabes eigene Meinung von Amerika als Ort des Bösen. Vgl. F. E. Coenen: Wilhelm Raabe’s treatment of the emigrant. In: Studies in philology 34 (1937), S. 624–626; Anne Marie Sauerlander: Wilhelm Raabe’s interest in America. In: The German Quarterly 4/1 (1931), S. 25–26. 167 Vgl. Jeffrey L. Sammons: Die Darstellung Amerikas, S. 169. 168 Christian Stadler: Darwinistische Konkurrenz, S. 90. 169 Vgl. auch Jeffrey L. Sammons: Die Darstellung Amerikas, S. 169. 170 Eine gegenteilige Meinung findet sich beispielsweise bei Günther Matschke: Isolation, S. 115. 171 BA 19, S. 302.

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4.3 Krise des bürgerlichen Individuums 4.3.1 Bürgerliche Identitätskrise durch Auseinandersetzung mit dem „Anderen“ 4.3.1.1 Der Widerspruch zwischen Anpassung und Faszination für das „Andere“ Karls Aufzeichnungen, die durch Veltens Tod ausgelöst werden, sind ihrem ursprünglichen Sinn nach als Akte angelegt. Für Karl, für den Akten berufsmäßig Bedeutung besitzen,172 sind sie ein Versuch den Freund möglichst nüchtern und sachlich zu fassen. Mit seiner Entscheidung für eine Akte soll möglichst die „Distanz zum erzählten Geschehen“173 gewahrt werden, durch seine Inszenierung als „Protokollist“174 versucht er die objektive Beziehung zwischen sich und dem Erzählgegenstand, dem Freund, aufrechtzuerhalten:175 Ich werde mir die möglichste Mühe geben, nur als Protokollist des Falls aufzutreten. Wenn ich dann und wann an dem Federhalter nage, meiner Privatgefühle, Stimmungen und Meinungen und so weiter wegen, so bitte ich die geehrten Herren und Damen auf dem Richterstuhle des Erdenlebens, hier, in Sachen Trotzendorff gegen Andres, oder Velten Andres contra Witwe Mungo, nicht darauf zu achten. (BA 19, S. 220)

Die Andeutung von Gefühlen und Meinungen als Teil der angestrebten Akte, lassen diesen Versuch jedoch schon von Beginn an fragwürdig werden. Karl ist sich dessen bewusst, dass es sich nicht um eine „Personalakte in der wirklichsten Bedeutung“176 handelt. Für ihn bedeutet sie jedoch die Möglichkeit zur „Seelenerleichterung“.177 Der Grund, weshalb Karl nach Veltens Tod beginnt, dessen Leben für sich aufzuarbeiten, ist, dass er sich seit seiner Kindheit von der nicht angepassten Lebensweise des Freundes fasziniert zeigt. Sowohl das Bürgerliche als auch Veltens Negation des Bürgerlichen sind Teil seiner Identität. Diesen Einfluss Veltens über sich will Karl ein für alle Mal loswerden: Das Ziel der Akte ist die völlige Restitution der bürgerlichen Identität. Konnte er im Leben den Freund nicht begreifen – Karl ist in „seinem Leben über nichts im Dunkeln ge-

|| 172 Vgl. BA 19, S. 215. 173 Walter L. Hahn: Zum Erzählvorgang in Raabes Akten des Vogelsangs. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 13 (1972), S. 67. 174 BA 19, S. 220. 175 Vgl. Nancy A. Kaiser: Reading Raabe’s realism. Die Akten des Vogelsangs. In: Germanic Review 59 (1984), S. 4; Günther Matschke: Isolation, S. 117. 176 BA 19, S. 218. 177 BA 19, S. 218.

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blieben als – über ihn selber“178 – unternimmt er nun nach Veltens Tod den Versuch seiner Deutung: Schreibe ich übrigens denn nicht auch jetzt nur deshalb diese Blätter voll, weil ich doch mein möglichstes tun möchte, um mir über diesen Menschen, einen der mir bekanntesten meiner Daseinsgenossen, klarzuwerden? (BA 19, S. 318)

Seit seiner Kindheit ist Karl hin- und hergerissen zwischen den Ermahnungen des Vaters zur bürgerlichen Normerfüllung und den abweichenden Tendenzen Veltens. Die zwei unterschiedlichen Lebenswelten der Freunde stehen sich unvereinbar gegenüber und Karl muss sich immer wieder für die eine oder andere Seite entscheiden: Als willentlicher Mittäter bei den Kinderstreichen Veltens gerät er in Konflikt mit dem schlechten Gewissen seinem Vater gegenüber und dem Gefühl, „lieber bei der Mutter Veltens zu den Sündern als bei [s]einen eigenen Eltern zu den Gerechten [ge]zähl[t]“179 zu werden. Obwohl er „der wortlosen Überredungskraft“180 Veltens immer wieder verfällt, bleibt er aber als „Randalmacher im Vogelsang […], dem [man] noch nicht mit einer Tracht Prügel habe drohen oder aufwarten müssen“,181 immer auf dem Weg seines Vaters. Dabei bleibt jedoch für ihn das Haus von Amalie Andres bis zum Schluss ein Sehnsuchtsort, dessen „lebendige Hecke“182 in ihm immer noch „schauderndwehmütige[...] Heimwehgefühle[...]“183 hervorruft. Karl wird sein Leben lang den „Griff“184 des Freundes nicht los. Durch ihn lernt Karl „ein Stück Erde oder Welt kennen, von dem er nichts gewußt hatte, von dem er ohne Velten Andres auch wohl nie etwas erfahren haben würde“.185 Während sich seine „Lebensgenossen“,186 d.h. diejenigen, die wie Karl zum bürgerlichen Stand gehören, von Veltens Lebensweise fernhalten, erhält Karl Einblick in eine andere, vom Bürgertum ausgeschlossene Lebenswelt. Diese wirkt sich vor allem als Irritation auf Karls bürgerliche Identität aus, da sie seine Anpassung an gesellschaftliche Erwartungen, wenn nicht negiert, so doch immerhin infrage stellt. Der Griff des Freundes lastet wie derjenige des Vaters auf Karl und beide üben als Bestandtei-

|| 178 BA 19, S. 318. 179 BA 19, S. 234. 180 BA 19, S. 312. 181 BA 19, S. 238. 182 BA 19, S. 240. 183 BA 19, S. 333. 184 Vgl. BA 19, S. 254, 257. 185 BA 19, S. 286. 186 BA 19, S. 186.

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le seiner Identität Macht auf ihn aus.187 Karls weiteres Leben ist geprägt vom Hin und Her zwischen der bürgerlichen Ablehnung des Freundes und dessen Anziehungskraft. Als Karl Velten während des Studiums in Berlin besucht und eigentlich vorhat, ihm mit seiner „deutschen Burschenherrlichkeit zu imponieren“,188 verfällt er sofort wieder der Faszination, die von Velten ausgeht: Ich war natürlich auch nach Berlin bloß des Studierens wegen gekommen. Damit wurde es diesmal gar nichts. Die schlimmsten Befürchtungen meines armen Vaters trafen ein; ich verfiel für die nächste Zeit wieder vollständig dem Verderben, das nach der Meinung aller Verständigen in der Heimat von dem Freunde ausging. Ich hatte ihn wieder, und er hatte mich wieder am Kragen, und wie sich die Vögel mit demselben Gefieder sofort wieder um ihn zusammengefunden hatten, das mußte ein Wunder sein auch für den, der an keine Wunder in dieser nüchternen Welt glaubte. (BA 19, S. 280)

Karls bürgerliche Identität wird von der Existenz Veltens bedroht, eben weil sich die bürgerliche Lebensform Karls und seine Faszination für Velten derart ausschließen und Karl sie dennoch seit seiner Kindheit in sich vereint.189 Existiert diese Faszination lange Zeit vor allem in Form einer Irritation, die der Einfluss Veltens auf Karl auslöst, verstärkt sich mit zunehmender Einbindung in die bürgerliche Welt diese Bedrohung. Die Konsequenz dieser Gegensätzlichkeit ist, dass Karls bürgerliche Identität zunehmend fragiler wird. Besonders gefährlich wirkt Veltens antibürgerliche Anziehungskraft auf Karl in dem Moment, als dieser beginnt, den Hausrat seiner Mutter zu verbrennen, denn Karl nimmt „von Tag zu Tage mehr [Interesse] an dem seltsamen Zerstörungswerk“.190 Der „Zauber“,191 der für Karl hiervon ausgeht, ist für seine Identität deshalb so gefährlich, da er „letztendlich zum Zerfall der Identität [Veltens] führt“.192 Weil Karl diese

|| 187 Vgl. BA 19, S. 254: „Ich verzichte drauf; aber seinen Griff verspüre ich heute noch am Oberarm, wie ich mich […] in jene doch so unschuldige, glückselige, sonnedurchleuchtete Zeit zurückdenke. Dann aber sehe ich auch zu dem Bilde des alten Herrn über meinem Schreibtisch unter einigen Gewissensbissen auf und – möchte das Nachgefühl seiner grimmigen, aber treuen Faust an meinem Arm wahrlich nicht missen, auch durch mein ganzes ferneres Leben.“ 188 BA 19, S. 273. 189 Vgl. hierzu auch: Nathali Jückstock-Kießling: Ich-Erzählen. Anmerkungen zu Wilhelm Raabes Realismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, S. 249; Herman Meyer: Sonderling, S. 282. 190 BA 19, S. 371. 191 BA 19, S. 371. 192 Sandra Krebs: „Das Weiße zwischen den Worten“. Die Erzählbarkeit des Ich zwischen Realismus und Moderne am Beispiel von Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs und Max Frischs Stiller. In: Signaturen realistischen Erzählens im Werk Wilhelm Raabes. Hg. von Dirk Göttsche und Ulf-Michael Schneider. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 250.

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Handlung, die so vehement gegen das bürgerliche Besitzstreben verstößt, nicht ablehnt, sondern sogar dem Freund dabei hilft, gerät seine bürgerliche Existenz in eine kritische Situation. Karl beginnt selbst, die eigenen bürgerlichen Wertvorstellungen infrage zu stellen, die durch die Zerstörung des Besitzes, der so wichtig für die bürgerliche Identität ist, hinterfragt werden. Als Staatsbeamter, der täglich über „Eigentumsfragen“193 entscheiden muss, spürt er angesichts der Zerstörung des Erbes durch den Freund die Nichtigkeit menschlichen Eigentumsstrebens. Das Eigentum, „des Menschentums Anhängsel“,194 das für die bürgerliche Lebensform so identitätsstiftend ist, wird ihm zunehmend zur aufdringlichen Last und Veltens Verbrennung erscheint ihm als Befreiung „nicht von den Sachen, sondern von dem, was in der Menschen Seele sich den Sachen anhängt und […] zu dem macht, was wir anderen im Leben ein Glück oder ein Unglück zu nennen pflegen“.195 Dass das Bürgertum sein Leben auf Besitz gründet, beginnt Karl fragwürdig zu werden196 und er überdenkt die eigenen Bindungen an das Eigentum und das Erbe, auf die sein gesamter Lebensweg gründet. Karl, der selbst äußerlich fest in die gesellschaftliche Umgebung eingebunden ist, beneidet den Freund dafür, dass dieser sich vom Eigentum, das die äußere Bindung an die Welt, die „fundamentale Voraussetzung bürgerlicher Daseinssicherung“197 repräsentiert, frei machen kann. Die Unvereinbarkeit bürgerlicher Normerfüllung und dem Teil seiner Identität, der von Velten beeinflusst wird, manifestiert sich in einer bürgerlichen Krise. Fasziniert vom Freund und hingezogen zu dessen radikaler Loslösung von den äußerlichen Bestimmungsfaktoren gesellschaftlicher Zugehörigkeit, kennt seine „Besitzfreudigkeit […] keine Abwehr gegen [Veltens] Eigentumsmüdigkeit“.198 Karls Identitätskrise zeigt sich in einer Eigentumskrise. Die Gefahr, die für sein bürgerliches Leben hiervon ausgeht, wird in Annas Reaktion auf die Begeisterung ihres Mannes für das Vernichtungswerk Veltens deutlich. Annas Angst, Karl könne auch sie und ihr Kind, stellvertretend durch den Besitz, eine Fotographie, mit in den Ofen werfen,199 zeigt die Radikalität einer derartigen Befreiung vom Eigentum. Die Eigentumsbeziehung, die im bürgerlichen Familienverhältnis

|| 193 BA 19, S. 369. 194 BA 19, S. 369. 195 BA 19, S. 370. 196 Vgl. auch Wilhelm Emrich: Personalität und Zivilisation in Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 23 (1982), S. 10–11. 197 Hubert Ohl: Der Bürger und das Unbedingte bei Wilhelm Raabe. In: Jahrbuch der RaabeGesellschaft 20 (1979), S. 23. 198 BA 19, S. 373 [Hervorhebung im Original]. 199 Vgl. BA 19, S. 371.

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festgeschrieben ist, begründet auch deren sichere Existenz. Die Abwendung von jeglichem Eigentum würde nicht nur die gesellschaftliche Existenz stören, sondern auch das Individuum wegen seiner identitätsbestimmenden sozialen Einbindung vernichten. Karl entkommt allerdings noch einmal dem Griff des Freundes, indem er sich für seine Frau, die aus Angst vor den Konsequenzen seiner Faszination weggelaufen ist, entschließt. Hier entscheidet sich Karl ausdrücklich für die Seite des Bürgertums und seine Verantwortung für seine Familie, deren Bedeutung immer wieder durch Anna betont wird.200 Nachdem Velten sein gesamtes Erbe verbrannt und verschenkt hat, verschwindet er aus dem Vogelsang und der Stadt und Karl wendet sich erneut seinem bürgerlichen Leben zu. 4.3.1.2 Scheitern der Sinnzuschreibung bürgerlicher Identität Erst einige Jahre später nach Veltens Tod beginnt für Karl dann die Aufarbeitung dieser Geschichte. Hier gestaltet sich jedoch auch der Erinnerungs- und Aufzeichnungsprozess in derselben Weise als identitätsbedrohend, da er immer wieder durch Episoden unterbrochen wird, in denen Karl die Wirkung seiner Erinnerung an Velten hinterfragt. Der Erinnerungsprozess erhält mehr und mehr eine Eigendynamik, sodass die ursprüngliche Absicht, Veltens Einfluss loszuwerden, „gegenläufig zu einer nochmaligen Zuspitzung der Herausforderung“201 führt. Schreibend beginnt Karl den Versuch, den Freund zu verstehen. Seine Aufzeichnungen über Velten dienen hierbei auch dessen Festlegung. Almut Drummer sieht Veltens Vernichtungswerk als Versuch, sich selbst jeglicher Gegenständlichkeit zu entziehen. Da Karl die Erinnerung an Veltens Existenz verschriftet, unternimmt er jedoch das Gegenteil mit dem Ziel, den Freund festzuschreiben und damit für sich greifbar zu machen.202 Das dem Roman vorangestellte Zitat Chamissos203 greift diese Unternehmung auf: Velten, der „stolz-

|| 200 Vgl. BA 19, S. 384. 201 Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 96. 202 Vgl. Almut Drummer: Verstellte Sicht. Erinnerndes Erzählen als Konstruktion von Ablenkung in späten Schriften Wilhelm Raabes. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 76– 77. Vgl hierzu außerdem: Jan-Oliver Decker: Erinnern und Erzählen. Konservieren, Transformieren und Simulieren von Realität in männlichen Erinnerungen des Realismus. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 46 (2005), S. 119–121; Sandra Krebs: Die Erzählbarkeit des Ich, S. 240. 203 Vgl. Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. In: Ders.: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Hg. von Jost Perfahl. Bd. 1: Gedichte. Dramatisches. München: Winkler 1975, S. 13–14.

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ruhige[...] Schatten“204 in Karls Leben, soll über das Schreiben vergegenständlicht, also für Karl wieder zum Wesen, werden. Dabei stellen Chamissos Verse jedoch die Dialektik zwischen „der aktiven Bedeutungszuweisung (Wesen verleihen) [und dem] Verlust an Bedeutungen (als Schatten verziehen)“205 dar. Karls Erzählakt steht unter dem Zeichen dieser Ambivalenzen: Einerseits erweist sich Veltens Tod als Möglichkeit den im Leben Rätsel Gebliebenen endgültig im Geschriebenen zu fixieren und sich so durch das strukturierende Erinnern über dessen Existenz, dessen „Geheimnis der Person“,206 klar zu werden. Andererseits wirkt es sich erschwerend auf den Erkenntnisprozess aus, dass Velten „per se jeder Definition entzogen“207 ist. Karls Erzählakt ist durchzogen von widersprüchlichen Deutungen Veltens.208 Ob Helenes Darstellung als tragische Liebesgeschichte209 oder die des Vaters, der in Velten vor allem einen „unzurechnungsfähige[n] Narr[en]“210 sieht, die Wahrheit über Velten wird durch diese Antinomien problematisiert. Dazu kommt, dass Velten selbst diese Ambivalenzen zeigt – seine „Personalität […] scheint sich ins Ungreifbare, Unfaßliche aufzulösen“.211 Dies überträgt sich auch auf Karls Schreibstil, denn er mischt während des Erzählaktes gegensätzliche Gattungen. Diese Kombination der bürokratischen Akte und eines literarischen Textes gelingt nicht. Karl kann sich so nicht über den Freund klarwerden: Einerseits wegen der widersprüchlichen Deutungsangebote, andererseits, weil Karl selbst in seiner bürgerlichen Sicht|| 204 BA 19, S. 345. 205 Christoph Zeller: Veltens Erbe, S. 115. Für Zeller legt das vorangestellte Zitat allerdings nahe, dass es sich bei den Akten des Vogelsangs um eine „Allegorie für die Gefahren ökonomischer Vernunft, wonach der Profit die Moral aussticht“ (Christoph Zeller: Veltens Erbe, S. 116), handle. Vor dem Hintergrund der bürgerlichen Krise Karls, ist jedoch unter anderem Wilhelm Emrichs These, das Zitat zeige die Unauflösbarkeit der Ambivalenzen der Personalität, plausibler. Vgl. Wilhelm Emrich: Personalität und Zivilisation, S. 15–16; Moritz Baßler: Figurationen der Entsagung. Zur Verfahrenslogik des Spätrealismus bei Wilhelm Raabe. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 51 (2010), S. 76–77. 206 Wilhelm Emrich: Personalität und Zivilisation, S. 13. 207 Wilhelm Emrich: Personalität und Zivilisation, S. 13. 208 Kindermanns These, Velten würde durch eine pluralistische Erzählweise problematisiert, indem sich zahlreiche widersprüchliche Stimmen gegenüberstehen und somit aufheben, ist fragwürdig. Vielmehr mischt Karl in seiner Erzählung Textsorten. Vgl. Manfred Kindermann: Subjektkonstitution, S. 108. Auf eine Dialogizität und wechselseitige Perspektivierung des Erzählaktes in den Akten des Vogelsangs hat auch Wolfgang Preisendanz hingewiesen. Vgl.: Wolfgang Preisendanz: Die Erzählstruktur als Bedeutungskomplex der Akten des Vogelsangs. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 22 (1981), S. 212–218. 209 Vgl. BA 19, S. 399–404. 210 BA 19, S. 274. 211 Wilhelm Emrich: Personalität und Zivilisation, S. 20.

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weise auf den Freund eingeschränkt ist. Immer wieder wird der Erzählakt durch Einschübe zur Selbstreflexion unterbrochen, in denen sich Karl der Legitimität seiner eigenen Lebensweise versichern will.212 Da die gewählte Form der Akte aber für Karl selbstdefinierend ist, kann die Deutung des Freundes, der in der bürgerlichen Welt keine Anerkennung findet, auf diese Weise nur misslingen.213 Karls Projekt, über das Schreiben sich der Verwirrung seiner bürgerlichen Identität durch den vom Bürgerlichen abweichenden Velten zu entledigen und „sich [seiner] selbst im Schreiben zu versichern, […] gar zu einer Identität zu finden“,214 wird „in seiner Erkenntnisfunktion am Ende auf die Probe gestellt“.215 Dies zeigt sich schon darin, dass Karls Versuch, eine nüchterne Akte über Veltens Leben anzulegen, scheitert. Denn während er die Akte verfasst, gerät er wieder immer mehr unter den Einfluss des Freundes: Mein ganzes Leben lang habe ich mit diesem Velten Andres unter einem Dache wohnen müssen, und der war in Herz und Hirn ein Hausgenosse nicht immer von der bequemsten Arte – ein Stubenkamerad, der Ansprüche machte, die mit der Lebensgewohnheit des andern nicht immer leicht in Einklang zu bringen waren, ein Kumpan mit Zumutungen, die oft den ganzen Seelenhausrat des soliden Erdenbürgers verschoben, daß kein Ding anscheinend mehr an der rechten Stelle stand. Ich hatte es versucht – wer weiß wie oft! –, während er draußen sich umtrieb und ich zu Hause geblieben war, ihn auf die Gasse zu setzen. Das war vergeblich, und nun – da er für immer gegangen ist, will er sein Hausrecht fester denn je halten: ich aber kann nicht länger mit ihm allein unter einem Dache wohnen. So schreibe ich weiter. (BA 19, S. 358; Hervorhebung im Original)

Nach Veltens Tod will Karl sich eigentlich endlich dessen Einflusses entledigen. Stattdessen ergreift ihn die Faszination für Veltens Existenz, die das Bürgerliche negiert, erneut. Immer wieder muss er sich selbst ermahnen, „bei der Sache“216 zu bleiben, d.h. das ursprüngliche Vorhaben, sich den eigenen Standpunkt möglichst nüchtern klarzumachen, einzuhalten. Die Akten haben schon allein wegen ihrer beruflichen Bedeutung für Karl identitätsstiftende Funktion. Von ihrem Gelingen hängt auch Karls bürgerliche Identität ab. In seiner erinnernden Auseinandersetzung mit dem Freund ist es aber gerade das aktenmäßige, ein

|| 212 Vgl. Nathali Jückstock-Kießling: Ich-Erzählen, S. 251. 213 Vgl. Nathali Jückstock-Kießling: Ich-Erzählen, S. 271–272. 214 Sandra Krebs: Die Erzählbarkeit des Ich, S. 245. 215 Sandra Krebs: Die Erzählbarkeit des Ich, S. 245. 216 BA 19, S. 219. Vgl. auch BA 19, S. 227: „Aber pragmatisch, pragmatisch, Karl Krumhardt! Das heißt, referiere dir selber so werkmäßig als möglich, Oberregierungsrat Doctor juris Krumhardt, um dir selber wenigstens deinen Standpunkt in Sachen Andres contra Trotzendorff oder umgekehrt klarzuhalten.“

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„von Vorgesetzten und Untergebenen anerkannter guter Geschäftsstil“,217 der ihm abhandenkommt: Wie habe ich dieses Manuskript begonnen, in der festen Meinung, von einer Erinnerung zu andern, wie aus dem Terminkalender heraus, nüchtern, wahr und ehrlich farblos es fortzusetzen und es zu einem mehr oder weniger verständig-logischen Abschluß zu bringen! Und was ist nun daraus geworden, was wird durch Tag und Nacht, wie ich die Feder von neuem wieder aufnehme, weiterhin daraus werden? Wie hat dies alles mich aus mir selber herausgehoben, mich mit sich fortgenommen und mich aus meinem Lebenskreise in die Welt des toten Freundes hineingestellt, nein geworfen! Ich fühle seine feste Hand auf meiner Schulter, und sein weltüberwindend Lachen klingt mir fortwährend im Ohr. Ach, könnte ich das nur auch zu Papiere bringen, wie es sich gehörte; aber das vermag ich eben nicht, und so wird mir die selbstauferlegte Last oft zu einer sehr peinlichen, und alles, was ich über den Fall Velten Andres tatsächlich in den Akten habe und durch Dokumente oder Zeugen beweisen kann, reicht nicht über die Unzulänglichkeit weg, sowohl der Form wie auch der Farbe nach. (BA 19, S. 304)

Um den Freund zu beschreiben, wird gerade die Form der Akte unzulänglich, denn der Einfluss, den Velten auf Karl ausübt, lässt sich nicht mit bürokratischer Beobachtung beschreiben: Karl ist von seiner Existenz zu sehr selbst betroffen.218 Ihm entgleitet die Kontrolle über den Erzählakt, seine Krise ist auch eine „Krise der Sprachbeherrschung“.219 Das bürgerliche Individuum, das sich über den bürokratischen Schreibstil der Akten definiert, wird bei der Auseinandersetzung mit dem vom Bürgerlichen abweichenden Individuum problematisch. „[J]e klarer und deutlicher [Karl sich] das zu Sinnen und Gedanken bring[t], was [er] dem Papier über[gibt]“,220 umso unklarer wird er sich über sich selbst.221 Anstatt den Freund für sich zu begreifen und festzulegen, muss Karl zunehmend seine eigene bürgerliche Identität gegen ihn behaupten.222 Und wie Karl schon zu Lebzeiten des Freundes durch dessen Eigentumsmüdigkeit verwirrt wurde, wirkt das erinnernde Schreiben nun gleichermaßen bedrohlich.223 || 217 BA 19, S. 270. 218 Siehe hierzu auch Eckhardt Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund, S. 280; Nathali Jückstock-Kießling: Ich-Erzählen, S. 275–276. 219 Britta Herrmann: Papiergebilde, S. 53. Stoffels spricht sogar von einer Enteignung des Erzählers. Vgl. Michael Stoffels: Phantasie und Wirklichkeit, S. 111. 220 BA 19, S. 270. 221 Vgl. BA 19, S. 304: „Es ist kein größeres Wunder, als wenn der Mensch sich über sich selbst verwundert.“ 222 Vgl. Hubert Ohl: Bild und Wirklichkeit. Studien zur Romankunst Wilhelm Raabes. Heidelberg: Stiehm 1968, S. 113. 223 Es sind auch die eigentumslosen Umstände, die den Schreibakt überhaupt initiieren. Vgl. BA 19, S. 213.

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Das Schreiben über Velten läuft letztendlich auf eine „Auseinandersetzung mit sich selbst und seiner eigenen (bürgerlichen) Biografie“224 hinaus. Das geht so weit, dass ihm die Akten selbst unheimlich werden: Was bis jetzt das Nüchternste war, wird jetzt zum Gespenstischsten. Sie wackeln, die Aktenhaufen, sie werden unruhig und unruhiger um mich her in ihren Fächern an den Wänden und machen mehr und mehr Miene, auf mich einzustürzen. Ich kann nichts dagegen: zum erstenmal will an diesem Schreibtisch, jawohl an diesem Schreibtisch, die Feder in meiner Hand nicht so wie ich; und Velten Andres ist wieder schuld daran. Was meinem armen Vater seinerzeit so oft Verdruß und Sorgen machte, das Übergewicht dieses „Menschen“ über mich, das ist heute noch ebenso sehr da wie in jenen Tagen, wo er mich durch die Hecke und über die Zäune des Vogelsangs zu jedem Flug ins Blaue aus dem Schul-, Haus- und Familienwerkeltag wegholte und wir Helene Trotzendorff mit uns nahmen, wenn sie uns nicht gar voranflog. (BA 19, S. 270)

Karl spürt durch die erneute Beschäftigung mit Velten die bürgerliche Enge. Da sich Karl derart über seinen Beruf und die damit verbundene gesellschaftliche Karriere definiert, sind die Aktenhaufen, die ausgerechnet an seinem Schreibtisch bedrohlich werden, Ausdruck der tiefen Krise seiner bürgerlichen Identität. Obwohl Karl „alles erreicht [hat], was [er] erreichen konnte“225 und Velten nichts, verspürt er doch Neid für dessen Lebensweise und spricht sogar von Veltens „siegreiche[m] Prozeß gegen meine, gegen unsere Welt“.226 Indem er daran scheitert, den Einfluss Veltens auf sich nüchtern zu erklären, „deckt er die Schemata und Begrenzungen seiner Weltsicht auf“.227 Webster sieht hierin ein mangelndes Verständnis für Velten, da Karls Urteilsbildung durch seine bürgerliche Weltanschauung eingeschränkt sei. Fehlende „Phantasie und unabhängiges Denken“228 würden zudem von einer „Mangelhaftigkeit seiner Lebensweise“229 zeugen. Dazu muss ergänzt werden, dass die bürgerliche Lebensform im Roman nicht als defizitär beschrieben wird – sie bietet die Möglichkeit einer erfüllten Existenz –, sondern hinsichtlich ihrer Enge, die Karl angesichts der einzustürzen drohenden Aktenhaufen verspürt, problematisiert wird. Der Kontakt einer das Bürgerliche negierenden Existenz wirkt sich krisenhaft auf das bürgerliche Individuum aus. Trotz allem sind diese ausgeschlossenen Be-

|| 224 Sabrina Becker: Bürgerlicher Realismus, S. 268. 225 BA 19, S. 295. 226 BA 19, S. 195. 227 Manfred Kindermann: Subjektkonstitution, S. 109. 228 William T. Webster: Wirklichkeit und Illusion, S. 60. 229 William T. Webster: Wirklichkeit und Illusion, S. 60.

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reiche allerdings allein nicht lebensfähig. Die Leere230 und das Unerklärliche, die Velten erzeugt, gehen auch ein Stück weit von seinem eigenen Scheitern aus.231 Wollte Karl noch über sein Erzählen Sicherheit hinsichtlich der eigenen Existenz erlangen, wird ihm die Erinnerung an den Freund jetzt selbst bedrohlich.232 Wolfgang Preisendanz weist darauf hin, dass „das erinnerte Geschehen […] dem Erzähler eine Perspektive auf seine problematische Situation, auf seine prekäre Identität“233 eröffnet. Je mehr Karl sich mit dem toten Freund befasst, umso mehr scheinen die Ambivalenzen Veltens unauflösbar und umso unmöglicher gestaltet sich das Herstellen eines Sinnzusammenhangs für seine eigene Identität. Hat Karl seine Existenz auf gesellschaftliche Sinnzuweisungen gegründet, werden ihm diese zunehmend fragwürdiger und so entfremdet er sich durch das Schreiben immer mehr vom Bürgerlichen. Velten und sein Einfluss auf Karl können nicht endgültig geklärt werden – der Freund verbleibt als Leerstelle, quasi als Schatten, in Karls Leben.

4.3.2 Überwindung der Krise: Auflösung des Widerspruchs im „Ganzen“ Im Leben wie im Tod stellt Velten eine Bedrohung für Karls bürgerliche Identität dar. Während sich Karl auf dem Höhepunkt seiner Eigentumskrise, nämlich als Velten seinen gesamten Besitz verbrannt und verschenkt hat, doch noch einmal für „[s]ein Eigentum“234 und damit die familiäre Verantwortung entscheidet und so seine bürgerliche Identität bewahren kann, erhält seine Schreibkrise eine Eigendynamik, die Karl kaum zu kontrollieren vermag. Seine eigene fragile bürgerliche Identität gründet sich auf das Eigentum, wird aber angesichts der Unmöglichkeit, Velten ins Gegenständliche zu versetzen, problematisiert. Denn anstatt Velten für sich festzuhalten und damit die bürgerliche Identität zu festigen, entgleitet ihm der Sinnzuweisungsprozess zunehmend. Das Ende seiner Eigentumskrise im Leben des Freundes schließt auch den Schreibprozess für

|| 230 Vgl. hierzu Christoph Zeller: Zeichen des Bösen. Raabes Die Akten des Vogelsangs und Jean Pauls Titan. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 40 (1999), S. 117: „Krumhardts Versuch, sich gegen die beständigen narrativen Wechsel, gegen die Verschachtelung erzählerischer Ebenen, zur Wehr zu setzen, um einen im Moment des Fabulierens erzeugten Sinn sicherzustellen, ist von Anfang an dem Scheitern ausgesetzt. Er verfällt, den Tod Veltens dichterisch umkreisend, der Faszination absoluter Leere.“ 231 Vgl. Eckhardt Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund, S. 280. 232 Vgl. auch Nathali Jückstock-Kießling: Ich-Erzählen, S. 276. 233 Wolfgang Preisendanz: Die Erzählstruktur, S. 214. 234 BA 19, S. 384 [Hervorhebung im Original].

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einige Zeit ab. In Sorge um den kranken Sohn lässt Karl von seiner Auseinandersetzung mit Velten ab. Für den Sohn nimmt er dann nach dessen Genesung „die Feder zum Besten seines Hausarchivs von neuem“235 auf. Dass Karl hier schon weitgehend mit Velten abgeschlossen hat – er hat „wenig mehr zu der Sache beizubringen“236 – erkennt man daran, dass er bedauert, die Vollendung der Akte nicht in andere Hände, etwa Helenes oder Leonies, legen zu können.237 So ist der abschließende Abschnitt über die letzten Lebensjahre Veltens und die Ereignisse nach dessen Tod auch vor allem von fremder Rede der Fechtmeisterin Feucht und Helenes geprägt. Hier erfährt man auch den ursprünglichen Anreiz zur Anlegung der Akte, nämlich Helenes Bitte „in recht nüchterner Prosa“238 Veltens Lebensgeschichte zu verfassen. Karl weigert sich aber, gegen ihr Gebot, die Akte in seinem „Hausarchiv – ein wenig abseits von [s]einen eigensten Familienpapieren“239 zu platzieren: Diese Blätter beweisen es, daß ich – diesmal ein wenn auch treuer, doch wunderlicher Protokollführer – nach ihrem Willen getan habe, doch abseits von meinen und der Meinigen Lebensdokumenten werden sie nicht zu liegen kommen. Die Akten des Vogelsangs bilden ein Ganzes, von dem ich und mein Haus ebensowenig zu trennen sind wie die eiserne Bettstelle bei der Frau Fechtmeisterin Feucht und die Reichtümer der armen Mistreß Mungo. (BA 19, S. 404)

Immer wieder reflektiert Karl darüber, die Akten „[s]einer Kinder wegen“240 zu verfassen, die in diesem Zusammenhang als Teil des Familienerbes gesehen werden. Karl hält „[s]einer Kinder Erbteil“241 in den Händen und fühlt sich „ihnen gegenüber dafür noch verantwortlich“.242 Als Adressaten der Akten wird ihnen damit nicht nur die Anpassung an die Lebensweise der Väter, sondern auch Veltens Irritation des Bürgerlichen als Erbe mitgegeben.243 Dass hier jedoch Velten als besseres Vorbild für Karls Kinder angeboten wird, wie Stefania Sbarra meint, ist fraglich.244 Im Gegenteil wird die Leerstelle, die Velten in Karls Leben beschreibt, als Teil des Ganzen zum Hausarchiv der Krumhardts hinzuge-

|| 235 BA 19, S. 385. 236 BA 19, S. 404. 237 Vgl. BA 19, S. 385, 387. 238 BA 19, S. 403. 239 BA 19, S. 404. 240 BA 19, S. 227. 241 BA 19, S. 345. 242 BA 19, S. 345. 243 Vgl. hierzu auch Eckhardt Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund, S. 282. 244 Vgl. Stefania Sbarra: Familienbegriffe, S. 46.

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fügt. Der Widerspruch, den die das Bürgerliche negierende Existenz Veltens und Karls bürgerliche Anpassungsbereitschaft auslösen, wird im Erbe zu einer Einheit zusammengefügt. Auf diese Weise gelingt es Karl, der den Freund weder im Leben noch im Tod greifen oder von sich stoßen konnte, das Gegensätzliche seiner Existenz anzunehmen und den nichtbürgerlichen Einfluss des Freundes zu seinem „Eigentum“ zu machen, das als Teil des Erbes seiner Kinder in die Zukunft verweist. Auch Anna beschwört die Kinder als Sinnangebot für die bürgerliche Krise herauf: Als Karl am Ende des Romans am Wert von Helenes Besitz zweifelt, füllt Anna diese Leere mit dem für ihre Kinder bedeutenden Erbe: „Mein Gott, und sie weiß gar nichts mit ihren ungezählten Millionen anzufangen?“ „O doch! Sie hat Land und Meer um den Erdball zur Verfügung. Sie baut Paläste, Krankenhäuser, kauft Bücher, Bilder, Bildsäulen, unterstützt –“ „Aber das ist doch gar nichts! Das ändert an ihre und an der Welt nichts. Ach, ich sollte an ihrer Stelle sein!“ „Du?“, fragte ich gespannt. „Was wolltest du denn mit ihrem vielen Gelde beginnen?“ „Nun – ich habe doch meine Kinder?!“

Die Lösung der Identitäts- und Eigentumskrise durch die Kinder wird immer wieder als Ausrede gesehen, die aufgrund einer „Mangelhaftigkeit eines Wertangebotes“245 im Bürgertum notwendig werde. Für Dirk Göttsche bedeutet dies zudem eine „Verschiebung der ungelösten Problemstellung bürgerlicher Identität in die Zukunft im Sinne der Notwendigkeit ihrer Wiederaufnahme in der nächsten Generation“.246 Zwar ist die Problematik, die Karl angesichts der Herausforderung bürgerlicher Lebensweisen durch die Andersartigkeit Veltens verspürt, keineswegs vollständig gelöst; indem er sie aber als Eigentum in die bürgerliche Begrifflichkeit überführt, macht er sie zumindest für das Bürgertum wieder verfügbar. Karls Identität ist demnach sowohl bürgerlich als auch nichtbürgerlich. Für seine weitere bürgerliche Existenz ist dies jedoch unproblematisch, da es hierbei allein darauf ankommt, welche Seite seiner Identität er mehr in der Öffentlichkeit lebt. Dadurch wird die bürgerliche Identität in sich selbst widersprüchlich dargestellt. Als Bestandteil des Ganzen wird die Irritation in die bürgerliche Identität aufgenommen und somit auch angenommen. Karl kehrt nicht einfach so zurück in sein altes bürgerliches Leben, das zur „Lebenslüge“

|| 245 Ingeborg Hampl: „Grenzfälle“. Familien- und Sozialstrukturen im Erzählwerk Wilhelm Raabes. Passau: Rothe 1995, S. 226. Eine ähnliche Meinung findet sich bei Michael Stoffels: Phantasie und Wirklichkeit, S. 108–109. 246 Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 99.

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geworden sein soll.247 Im Gegenteil hat sich Karl mit der Ambivalenz gesellschaftlichen Eigentumsstrebens, das zwischen der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Lebenssicherheit und deren Relevanz schwankt, auseinandergesetzt. So zeigt sich Karl am Ende deutlich von der übrigen Gesellschaft distanziert: Nun schritten wir durch die menschenvollen Gassen der Stadt, die Witwe Mungo und ich. Um uns her schienen sie wirklich noch ein anderes, heftiges, leidenschaftliches Interesse an dem Besitz und Eigentum der Erde zu nehmen. Ich weiß es in der Tat nicht, um was für ein staatliches, politisches, soziales Problem es sich unter den Leuten handelte, welche Menschenversammlung einberufen oder auseinandergetrieben worden war und über welche Fragen man wieder mal nicht einig hatte werden können. Namen von Führern im Gezerr klangen um uns her – sehr berühmt für den Tag, sehr zeitungsgerecht – mit Wut, Hohn, Spott oder jubelndem Beifall ausgesprochen oder herausgeschrieen. Es handelte sich sicherlich um hohe Dinge; aber wie viele Leute gab es da im Gedränge, die der Witwe Mungo höflich Platz gemacht haben würden, wenn sie gewußt hätten, wer die Frau in Trauerkleidung an meinem Arm war und über welche Mittel sie verfügte, den Neid der Menschheit zu erregen und Menschen glücklich zu machen! (BA 19, S. 406)

Die Beschäftigung mit Velten trägt „zur kritischen Reflexion der Bedingungen und Grenzen seines Daseins bei“,248 eröffnet aber auch den Weg zur Reflexion über den Freund. Joachim Müller untersucht die im Roman vorkommenden Variationen des Goethe-Verses und weist darauf hin, dass sich für Karl, angesichts seiner Bindungen an Frau und Familie, die „Interpretation der Verse als allgemeingültige Lebensregel […] als subjektiv willkürlich“249 erweist und deswegen für ihn kein Sinnangebot liefert. Die Kinder und das an sie übertragbare Erbe, das nun auch Veltens Nichtbürgerlichkeit enthält, werden „als Gegenpol zu Veltens Lösung vom Besitz beschworen“250 und fungieren darüber hinaus als „Verankerung der Eltern im Leben“.251 Das „Ganze“, das Karl hinsichtlich seiner Lebensakten heraufbeschwört, umschließt sowohl die bürgerliche Seite des Eigentums und des gesellschaftlichen Fortschreitens als auch die Möglichkeit einer uneingeschränkten, nichtbürgerlichen Existenz – kurz die „Ganzheit des

|| 247 Dieser Meinung findet sich bei Jeffrey L. Sammons: Wilhelm Raabe. The fiction of the alternative community. Philadelphia: University Press 1987, S. 312; Wolfgang Preisendanz: Die Erzählstruktur, S. 223. 248 Dieter Kafitz: Appellfunktion, S. 69. Dieser Meinung ist auch Franz Zwilgmeyer: Archetypische Bewusstseinsstufen, S. 116–118. 249 Joachim Müller: Das Zitat im epischen Gefüge. Die Goethe-Verse in Raabes Erzählung Die Akten des Vogelsangs. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 5 (1964), S. 17. 250 Manfred Kindermann: Subjektkonstitution, S. 111. 251 Manfred Kindermann: Subjektkonstitution, S. 111–112.

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Lebens“.252 Der im Titel des Romans evozierte Widerspruch zwischen den beruflichen „Akten“ und der durch den ökonomischen Fortschritt untergegangenen Welt des „Vogelsangs“ nimmt diese Ganzheit auf und verdeutlicht deren Zusammengehören. Indem Karl sie durch die Aufnahme in seine Lebensakten zum Besitz macht, zeigt dies aber auch, dass eine solche Zusammenführung nur innerhalb bürgerlicher Kategorien, nämlich des Eigentums, möglich ist. Dies ist auch der wesentliche Unterschied zu seinem Freund Velten, der durch die Negation des Bürgerlichen als Teil seiner Identität letztendlich an den eigenen Widersprüchen scheitert. Weil Karl den gegenbürgerlichen Teil seiner Identität mit dem Bürgerlichen vereint und dabei die Gültigkeit der bürgerlichen Lebensweise anerkennt, überwindet er seine Krise. Dieses Gelingen ist aber abhängig davon, auf welchem Bereich der Identität das Individuum seinen Fokus legt.

4.3.3 Krise des Bürgerlichen als Teil der Gesellschaft In den Akten des Vogelsangs hat die bürgerliche Identitätskrise weite Teile der Gesellschaft erreicht.253 Die Faszination, die Karl gegenüber Velten verspürt, wird auch von anderen Vertretern des Bürgertums zum Ausdruck gebracht. Stellvertretend hierfür können insbesondere zwei Figuren des Romans – Karls Ehefrau Anna und Leon des Beaux – herangezogen werden. 4.3.3.1 Neid und Ablehnung des „Anderen“ Karls Ehefrau Anna tritt, zusammen mit ihrem Bruder Schlappe, als Vertreterin der Gesellschaft im Roman auf. Als „Honoratiorentöchterlein“254 ist sie Teil der höheren Gesellschaftsschichten und ist als solche auch von der bürgerlichen Überlegenheit überzeugt.255 Während ihr Bruder, insbesondere durch Velten, etwas lächerlich als „Optimatensimpel“256 beschrieben wird, übernimmt Anna im Roman als Stimme der Gesellschaft den Gegenpol zu Karls Identitätskrise, indem sie immer wieder auf ihr „Eigentum an der Welt“,257 ihre Kinder, verweist. Anna erfüllt die Rolle der bürgerlichen Ehefrau solide. So hat Karl sie „in alle

|| 252 Hubert Ohl: Der Bürger und das Unbedingte, S. 26. 253 Vgl. Ingeborg Hampl: „Grenzfälle“, S. 226. 254 BA 19, S. 377. 255 Vgl. Eckhardt Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund, S. 276. 256 BA 19, S. 264. 257 BA 19, S. 384.

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möglichen Ansichten über Gott und die Welt hinein- und für [s]ich zurechtgezogen“.258 Diese Eigenschaften erfüllt auch Karls Mutter259 – das „Modell für Karls Ehe ist die seiner Eltern“.260 Durch ihren Mann erhält Anna allerdings Zugang zur nichtbürgerlichen Existenz Veltens, die ihr sonst verschlossen geblieben wäre – „wie hätte ich in meinen Kreisen je erfahren können, daß es so etwas in der Welt geben kann“.261 Obwohl sie selbst nie von der bürgerlichen Identitätskrise ihres Mannes betroffen ist, verspürt auch sie die rätselhafte Anziehungskraft des Freundes.262 Nachdem sie Velten kennengelernt hat, bemerkt sie, dass sie ihr „Recht an ihn nicht so leicht hingegeben“263 hätte wie Helene. Diese Faszination für Velten gilt jedoch nicht für sie exklusiv, sondern wird als Eigenschaft der gesamten Gesellschaft verstanden: „Ja es ist mir ganz einerlei, ob du lachst oder brummig siehst: dein Freund Velten Andres gefällt mir ausnehmend, und ich kann das um so ruhiger sagen, als ich hier gar nicht für mich spreche.“ „Und für wen?“ „Für uns alle. Jawohl! Und da meine ich etwa nicht bloß, wie du mir natürlich abzusehen glaubst, uns arme, in die Konvenienz gebannte Frauenzimmer, denen da mal was Neues aufgeht, sondern euch mit, ja, euch Männer vor allem! Wir nehmen doch höchstens ein etwas tieferes Interesse an solch einem neuen Phänomen an unserem beschränkten Horizont; aber ich glaube, wäre ich ein Mann, und noch dazu einer aus der hiesigen Stadt und Gesellschaft, so müßte ich dann und wann neidisch auf solch ein übrigens im Grunde gräßlichen Menschen werden.“ (BA 19, S. 349)

Anna zeigt sich nach ihrer ersten Begegnung mit Velten irritiert über dessen Andersartigkeit. Sie ist hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Furcht, die sie angesichts der Widersprüchlichkeit des Freundes verspürt. Einerseits empfindet sie es als ein „Glück, so unverwundbar auf seinem Wege durchs Leben zu werden wie dieser“,264 andererseits ist sie verunsichert, dass es jemanden gibt, der „über das Leben und den Tod, über alles, was uns anderen wichtig, süß oder bitter ist, so ruhig werden“265 kann. Webster sieht in Annas Reaktion auf ihre erste Begegnung mit Velten einen Mangel an Verständnis, da

|| 258 BA 19, S. 343. 259 Vgl. BA 19, S. 218. 260 Irene S. Di Maio: Nochmals zu den Akten: Sphinx, Indianerprinzessin, Nilschlange. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 28 (1987), S. 238. 261 BA 19, S. 348. 262 Beate Hansel übersieht diesen wichtigen Punkt, wenn sie meint, dass Anna wie der Rest der Gesellschaft allein eine Ablehnung für Velten verspüre. Vgl. Beate Hansel: Die Liebesbeziehungen des Helden, S. 156. 263 BA 19, S. 349. 264 BA 19, S. 348. 265 BA 19, S. 348.

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sie sich „ausschließlich auf die äußerlichen Unterschiede zwischen Velten und sich selbst konzentrier[e]“266 und seine Hintergründe nicht hinterfrage. Für Anna scheint Velten allerdings ein Rätsel zu sein, das sie sich – auch wegen ihrer bürgerlichen Perspektive – nicht vollständig erklären kann. Ihre Verwirrung drückt sich in ihren widersprüchlichen Beschreibungen Veltens aus: So ist er für sie zugleich ein „lieber und unheimlicher Mensch“,267 „ein sehr gefährlicher Mensch“,268 jemand, den man gleichzeitig beneidet und grässlich findet. Anna schwankt zudem zwischen Begreifen und Unverständnis für Velten. Dass sie sich immer wieder unterbricht, da sie nicht „so recht sagen kann“,269 was sie von Velten hält, zeigt ihre tiefe Verunsicherung darüber, ob sie den Freund ihres Mannes fürchten oder bewundern soll. Auch für die übrige Gesellschaft ist Velten in seiner Unbegreiflichkeit ein „Rätsel der hiesigen Menschheit“,270 da er für die Gesellschaft verschwindet, sobald er in den Vogelsang zurückkehrt: Velten, verantworten kannst du’s beinahe nicht, wie du die ortsangehörige Alltagswelt, soweit sie noch zu dir hinreicht, intrigierst. Man sieht dich nicht, man hört dich nicht, du könntest allgemach die Wohlwollendsten dahin bringen, sich bei der Polizeidirektion nach dir zu erkundigen oder sogar das edle Institut auf dich aufmerksam machen. (BA 19, S. 354)

Die Gesellschaft ist hinsichtlich ihrer Meinung über Velten in zwei Teile gespalten: Während Karls Schwager Schlappe belustigt auf Velten herabsieht, besteht in anderen Teilen der Residenz reges Interesse an seiner Person.271 Die Gesellschaft ist genauso wie Anna hin- und hergerissen zwischen Unverständnis und Bewunderung für Velten. Als dieser nach dem Tod seiner Mutter beginnt, deren Erbe zu verbrennen, schwanken schließlich die Meinungen in der Residenz – ähnlich wie die Reaktionen der Gesellschaft auf Leonhards Vorlesung in Abu Telfan – zwischen Ablehnung und Faszination: Daß er sich wie Herostrat für das Pantheon der Weltgeschichte vorbereitete, behaupteten gegen das Ende des damaligen Winters nur die alten guten geistreichen Bekannten vom Schlage Schwager Schlappe und Genossen und hatten ihren souveränen Spaß daran. Die Mehrzahl des Teiles der Stadtbevölkerung, der von ihm wußte, blieb dabei, er sei einfach für das Landesirrenhaus reif; und doch schlug die Stimmung mehr und mehr für ihn um.

|| 266 William T. Webster: Wirklichkeit und Illusion, S. 63. 267 BA 19, S. 347. 268 BA 19, S. 348. 269 BA 19, S. 348. 270 BA 19, S. 354. 271 Vgl. BA 19, S. 342: „Es würde wirklich auch mich ein wenig interessieren, zu erfahren, was jetzt eigentlich aus ihm geworden ist.“

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[…] Als mir ein hoher Chef sagte: „Ein drolliger Patron; aber unter Umständen eigentlich zu beneiden und nachahmenswert!“, wußte ich, daß nicht nur völlige Billigung, sondern auch der Neid aus ihm redete und jedenfalls längere nachdenkliche Beschäftigung mit diesem Menschen, [...]. (BA 19, S. 374)

Der Großteil der Gesellschaft reagiert mit Ablehnung des Anderen: Die Befreiung vom Eigentum wird als Bedrohung für die bürgerliche Lebensweise begriffen, da sie das Fundament der gesellschaftlichen Ordnung negiert. Als Konsequenz wird dieses nicht der Norm entsprechende Handeln mit sozialen Sanktionen belegt und ausgeschlossen: Indem diese Teile des Bürgertums sich über Velten lustig machen, ihn für verrückt erklären und so seine Andersartigkeit ins Pathologische verbannen, entziehen sie seiner Existenz die Legitimation. Dasjenige, das nicht der Norm entspricht, wird für krankhaft erklärt – es werden sogar Rufe danach, Velten für unmündig zu erklären, laut272 – und so vom Bürgertum ausgeschlossen. Gleichzeitig wird die eigene Lebensform aufgewertet und die bürgerliche Identität gefestigt, indem sich die Gesellschaft so der Rechtmäßigkeit ihrer eigenen Normen und des bürgerlichen Überlegenheitsanspruches versichert. Im Gegensatz dazu begegnen viele Personen der Gesellschaft, wie auch schon Karl, dem Freimachen vom Eigentum mit Neid. Auch sie sind von Karls Eigentumskrise betroffen. Da das Eigentum letztendlich die Bindung an gesellschaftliche Bedingungen repräsentiert, zeigt dies, wie tief verwurzelt die Krise des Bürgerlichen bereits in der Gesellschaft ist. Velten negiert das Bürgerliche und zeigt durch seine Unbegreiflichkeit die Leerstellen der bürgerlichen Lebensweise, nämlich diejenigen Bereiche des Lebens, die vom Bürgertum nicht erfasst werden, auf. Dass hierbei ausdrücklich einflussreiche und gesellschaftlich erfolgreiche Mitglieder der Gesellschaft die bürgerliche Enge auf diese Weise spüren, verschärft die bürgerliche Problematik zusätzlich: Denn indem gerade die erfolgreichen, von der gesellschaftlichen Ordnung belohnten Vertreter – und nicht etwa ausgeschlossene, nicht die Norm erfüllende Einzelne wie in Abu Telfan oder Stopfkuchen – die bürgerliche Existenz infrage stellen, wird, angesichts Veltens Negation äußerlich-funktionaler Faktoren, die Unzulänglichkeit der eigenen, auf eben diesen Bedingungen gegründeten Lebensform problematisiert. In den Akten des Vogelsangs ist die Problematik des Bürgertums subtiler als in den anderen Romanen, wo von den gesellschaftlichen Normen abweichende Individuen Kritik an der Gesellschaft äußern. Hier ist das Bewusstsein über die Möglichkeit einer andersartigen Existenz als Teil des kollektiven

|| 272 Vgl. BA 19, S. 369.

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Selbstverständnisses im Bürgertum angekommen. Zwar ruft Veltens Negation des Bürgerlichen Irritation hervor und wird bisweilen nicht ernst genommen, die Konsequenzen für das Bürgertum sind jedoch gravierender, was die Reaktion Annas auf die Identitätskrise ihres Ehemannes begreifbar macht: Schon früh wendet sich Anna von ihrer ursprünglichen Faszination für Velten ab. Für ihre Kinder empfindet sie ihn nicht als geeigneten Taufpaten, da sie seine Nichtbürgerlichkeit als schlechtes Vorbild für den weiteren Lebensweg des Sohnes, den sie „doch hier bei uns […], in unserm gewöhnlichen, gewohnten Leben“273 behalten will, sieht. Als Velten beginnt, sein Eigentum zu vernichten, lässt sich Karl von seiner Faszination für den Freund mitreißen und beteiligt sich sogar an dessen Zerstörungsaktion: Es war ein Zurück- und Wiederdurchleben vergangener Tage sondergleichen. Die Woche, in der wir uns mit der Entleerung der Boden-Rumpelkammer des Hauses beschäftigten, vergesse ich in meinem ganzen Leben nicht, und ich schreibe nicht ohne Grund: wir! […] Wie kam mir mit dem Schaukelpferd, das ich unter dem Dachwinkel hervorzog, jener Weihnachtsabend zurück, an welchem wir es zuerst ritten und Velten meinte: „Ich hatte mir ein Tier mit Rädern und wirklichem Fell auf den Wunschzettel geschrieben; aber sage nur nichts davon.“ Er hat es damals auch bald mir allein überlassen, es war nichts für ihn; ich aber hätte ihn auch nun noch gern gefragt: „Auch das in den Ofen?“ und ihn gebeten: „Laß es mir für meinen Jungen!“ Es wäre eine psychologisch-philosophische Abhandlung darüber zu schreiben, weshalb ich weder die Frage noch die Bitte tat, sondern selbst es mir auf die Schulter lud und es ihm die Treppe hinunter zum Küchenherd trug. Ja – er hatte mich auch jetzt wieder unter sich, es war von meiner Besitzfreudigkeit aus keine Abwehr gegen seine Eigentumsmüdigkeit: ich habe ihm geholfen, sein Haus zu leeren und sich frei zu machen von seinem Besitz auf Erden! (BA 19, S. 373; Hervorhebung im Original)

Bei Anna hingegen schlägt gerade diese Faszination ihres Mannes für die Vernichtung des Eigentums in Furcht um. Velten wird von ihr als bedrohliches Element für ihre und ihres Mannes bürgerliche Existenz verstanden, da, angesichts Veltens Vernichtungsaktion, „das gewohnte Werte- und Denksystem der Honoratiorentochter nicht mehr“274 gilt, ja sogar ins Gegensätzliche verkehrt wird. So fürchtet Anna sich ausdrücklich vor den Konsequenzen, die die Faszination Karls für Veltens Verbrennung für ihn und seine Familie haben könnte:

|| 273 BA 19, S. 359. 274 Son-Hyoung Kwon: Wilhelm Raabe als Schriftsteller des Grotesken. Zum Hochzeitsfest in Christoph Pechlin und dem Plünderungsfest in Die Akten des Vogelsangs. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 40 (1999), S. 87.

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„Karl, Karl“, jammerte meine arme, gute Kleine, „o Karl, bitte, bitte, werde mir nicht so wie der! Bitte denke immer an uns, an das Herz da in der Wiege und auch ein bißchen an mich, wenn du deinen Freund nicht lassen willst, nicht lassen kannst! Er hat ja freilich keine Familie wie du; aber ich habe doch noch erst die letzte Nacht geträumt, auch du habest mich mit unserem Jungen – ich meine unsere Photographie – verbrannt wie er […]. O bitte, da nimm uns […] doch lieber jetzt gleich mit und schieb uns in euren Ofen in deinem Vogelsang!“ (BA 19, S. 371)

Die Zerstörung des Eigentums wird hier nicht mehr allein Velten zugesprochen, sondern auch Karl. Er selbst ist so sehr von Veltens Zerstörungswerk fasziniert, dass es aus der bürgerlichen Sichtweise nicht unwahrscheinlich ist, dass Karl das „menschenfeindliche[n] Aufräumen“275 mit seinem eigenen Besitz fortfährt. Anna repräsentiert die Existenzangst als bürgerliche Frau, deren Stellung für den Fall, dass Karl sie verließe, prekär wäre. Je bedrohlicher der Einfluss der Aufräumaktion auf die bürgerliche Identität Karls wirkt, desto mehr vertritt Anna die Rechte des Bürgertums, und desto mehr klammert sie sich auch an ihr Eigentum, um ihren Mann an seine Verantwortung zu erinnern. Nur durch „Abwehr des Fremdartigen“276 kann sie ihre eigene Existenz behaupten,277 da sie selbst von den bürgerlichen Lebensverhältnissen Karls abhängig ist. Dies geht schließlich so weit, dass sie diese Abwehr gegen den eigenen Ehemann wendet: „Komm du mit nach Hause!“ flüsterte sie. „Ich halte dieses nicht länger aus! Oh, mein armes kleines, liebes Kind zu Hause! Bitte, komm, ich muß zu meinem Kinde. – Das laß ich mir nicht nehmen, wenn er auch dich verwirrt. Ich halte mein Eigentum an der Welt fest! Bleib wenn du willst – ich will nach Hause und zu meinem Kinde! Ja, bleib, bleib und steige mit ihm […] so hoch du willst aus unserm armen lieben Leben in die Höhe: ich will zu meinem Kinde und meinem Eigentum an der Welt!“ Sie ist uns fortgelaufen, mit dem Arm und Ellenbogen vor den Augen, selber wie ein Kind, das sich vor einem Schlage fürchtet. (BA 19, S. 383–384; Hervorhebung im Original)

Der Moment, in dem Veltens Vernichtungsaktion beendet ist und somit seine endgültige Nichtzugehörigkeit zum Bürgertum feststeht, markiert den größtmöglichen Gegensatz zwischen dem zum Bürgertum gehörenden Karl und Velten. Es ist deshalb auch der Moment seiner bürgerlichen Krise, in dem Karls bürgerliche Identität am meisten bedroht ist. Um ihre eigene bürgerliche Identität zu sichern, wendet sich Anna hier schließlich auch von ihrem Ehemann ab, indem sie immer wieder das Eigentum und damit seine familiäre Verantwortung als Ehemann als zentrale Berechtigungskategorien ihrer Existenz heraufbe|| 275 BA 19, S. 377. 276 Eckhardt Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund, S. 277. 277 Vgl. auch Herman Meyer: Der Sonderling, S. 288.

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schwört. Im Angesicht der bedrohlichen Negation bürgerlicher, für sie identitätsbedingender Werte durch Velten, gelingt ihr durch ihr Festhalten an der bürgerlichen Familie letztendlich die Sicherung ihrer Existenz im Eigentum. 4.3.3.2 Leon des Beaux: Vom Vertreter des „Anderen“ zum Aufstiegsrepräsentanten Leon des Beaux gehört während Veltens Berliner Studentenzeit zu dessen Freundeskreis. Berlin als Großstadt, „wo keiner […] so recht weiß, ob er dahin gehört“,278 steht in Kontrast zur nachbarschaftlichen Lebensweise des Vogelsangs.279 Trotzdem findet sich auch hier, in der Wohnung der Fechtmeisterin Feucht und dem Vorderhaus der des Beaux, eine kleine nachbarschaftliche Gemeinschaft zusammen, die derjenigen im Vogelsang in nichts nachsteht: Siehst du, Karl, man findet überall die Leute, zu denen man paßt. Wie wir hier zusammenhocken, wir vier jetzt, ist das nicht grade dasselbe, wie damals, als wir drei aus dem Vogelsang auf dem Osterberge im Wald lagen und das niedliche Residenznest unter uns hatten? (BA 19, S. 290)

Die Geschwister des Beaux werden als verwandte Seelen Veltens eingeführt, die, als Kinder des Schneiders aus dem Vorderhaus mit französischer Abstammung und dem abgelegten Titel „Vicomte“,280 ein „Sanktuarium der Phantasie abseits der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft“281 bilden. Die Familiengeschichte der des Beaux, die „nicht nur die Historie verfolgter Minderheiten wie der Hugenotten und der Albigenser umfaßt, sondern ebenso Teile der französischen Nationalkultur“,282 hat „ein gut Stück Romantik aus der Langue d’Oc in den märkischen Sand durch die Jahrhunderte hineingerettet“.283 Als französische Exilanten bewahren die des Beaux ihre eigene familiäre Identität und Kultur, fernab von der bürgerlichen Welt. Für Velten eröffnet sich hier eine Welt der Fantasie, der Vergangenheit und der Schönheit, wie es schon im Nachnamen

|| 278 BA 19, S. 281. 279 Zum Thema Berlin und Großstadt im Roman siehe auch: Charlotte Jolles: Weltstadt – Verlorene Nachbarschaft. Berlin-Bilder Raabes und Fontanes. In: Jahrbuch der RaabeGesellschaft 29 (1988), S. 63; Florian Krobb: „kurios anders“. Dekadenzmotive in Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 51 (2010), S. 114–115. 280 BA 19, S. 297. 281 Florian Krobb: Dekadenzmotive, S. 116. 282 Anne-Katrin Hillebrand: Erinnerung und Raum, S. 198. Zur Geschichte der des Beaux, siehe Anne-Katrin Hillebrand: Erinnerung und Raum, S. 198–200. Vgl. auch BA 19, S. 272. 283 BA 19, S. 273.

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„des Beaux“ angedeutet wird. Das Vorderhaus der des Beaux ist außerdem mit Erinnerungsstücken an die Ahnen angefüllt, die eine identitätsstiftende Funktion übernehmen: Man kann bei dem, was man „von den Leuten meint“, auch ein Gefühl haben von ihrer Umgebung, welches vollständig dazu gehört und nicht davon zu trennen ist. Das traf hier ganz und gar ein […]. (BA 19, S. 286)

Wie im alten Vogelsang bestimmt hier noch die Bindung an das Eigentum im Sinne eines Familienbesitzes die personale Identität. Obwohl das Haus des Beaux ein „sehr wohlhabendes Haus [ist], das auf dem besten Wege [ist], zu einem reichen zu werden“,284 fühlt sich Leon von den ökonomischen Interessen und Werten des Bürgertums nicht angesprochen. So ist es ihm unangenehm, dass in seinem Haus vor allem „von des Lebens bezahlten und unbezahlten Schneiderrechnungen“285 gesprochen wird. Mit den romantischen Werten der Vergangenheit und der Fantasie, die durch die Erinnerungsstücke der Ahnen repräsentiert werden, identifiziert er sich hingegen vollständig: Die Vorfahren „haben […] noch heute ihre Faust am Kragen [des] Monsieur Leon des Beaux aus Albi“.286 Leon ist ein weltfremder Träumer, der „nicht recht gelernt [hat], den Traum und das Leben auseinanderzuhalten“287 und sich deshalb in der Realität nicht zurechtfindet.288 Mit dieser konfrontiert, zieht er sich wochenlang im „Phantasiestübchen“,289 dem auf die Gegenstände aus der Vergangenheit ausgerichteten Vorderhaus in der Dorotheenstraße, zurück, „ehe er sich wieder zurechtgefunden hat in der Welt“.290 Der Motivkomplex des alten französischen Adelsgeschlechts, der Weltfremde und Ästhetik, der sich um Leon des Beaux aufbaut, zeigt, dass dieser als „ästhetische wie lebensuntüchtige Dekadenzgestalt aufgebaut“291 ist und in seiner Lebensferne problematisiert wird. Gerade auch das Haus der des Beaux zeugt von dieser Weltabgewandtheit, die die gesamte Familie des Beaux ergriffen hat:

|| 284 BA 19, S. 287. 285 BA 19, S. 282. 286 BA 19, S. 291. 287 BA 19, S. 289. 288 Als Beispiel kann hierfür, wie sich Velten und Leon kennenlernen, genommen werden. Vgl. BA 19, S. 284–285. 289 BA 19, S. 289. 290 BA 19, S. 289. 291 Florian Krobb: Dekadenzmotive, S. 115.

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Das Haus des Beaux hatte nicht nur seinen Salon, seinen Konzertflügel samt reichen Teppichen, Kronleuchtern, schönen Ölgemälden, Kupferstichen und dergleichen, was sonst zum laufenden Tag gehört; es hatte auch seine Bücherei, und in diesem nüchternen Berlin des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, heraus wie aus dem siebenzehnten Säkulum und in den Einzelheiten noch viel weiter zurück in den Zeiten und Historien, sein Museum. […] „Hier sitzen wir denn und denken uns zurück“, sagte Leonie. „Dann liegt auch für unsern Vater, oder grade für den erst recht, der Tag und unser Geschäft wie auf einem andern Weltball. Und hier ist an Leon und mich alles gekommen, was wir für unser Bestes halten und was den Leuten mit vollem Recht sehr komisch erscheinen muß, wenn wir damit unter sie geraten. (BA 19, S. 288–289)

In seiner Bezeichnung als „Kinderzauberreich“292 verweist das Haus der des Beaux darauf, dass der Rückzug in die Vergangenheit in seiner Funktion als Schutzraum illusionär ist. Tatsächlich ist der Umweg über die Fantasie, das Zurückträumen in die Vergangenheit zur Überwindung der Irritation durch die Wirklichkeit, nichts anderes als weltfremd: Es bietet nur Stillstand in einer Welt, die inzwischen vom Fortschritt bestimmt ist. Diese Form von Erinnerung, die versucht, durch Hinwendung an die Innerlichkeit, eine verlorene Zeit zu bewahren,293 bietet zwar den Menschen, die sich dort versammeln „Lebenssicherheit und Aufgehobenheit“,294 aber dies „ist mithin nur ein Schein, der das existenzielle Ausgeliefertsein nur temporär aussetzt, nicht aber aufhebt“.295 Die postulierte Identität von Mensch und historischer Vergangenheit wird schon allein dadurch negiert, dass sie eine allein erinnerte ist.296 Davon zeugt auch die durch den Gegensatz von musealem Rückzug in die Vergangenheit und aufstrebenden Geschäftssinn entstehende Ambivalenz des Hauses des Beaux: Während die Schneiderfirma des Vaters von wirtschaftlichem Erfolg gesegnet ist, scheint dieser doch einen weltabgewandten, fantasievollen Lebensstil zu pflegen, der mit der gesellschaftlichen Welt im Widerspruch steht. Hier scheint die Vereinbarkeit von „nüchternem, profitorientiertem Tun und dem Festhalten an einem emphatischen Sinnzusammenhang“297 gelungen zu sein. Diese „Einheit des Handelns“,298 die durch die Identität von Person und Vergangenheit, vermittelt durch die Gegenstände im Hausmuseum, evoziert wird, wird aber durch die Gegensätzlichkeit des wirtschaftlichen Aufstiegsstrebens infrage gestellt. Flori-

|| 292 BA 19, S. 289. 293 Vgl. hierzu Peter Sprengel: Interieur und Eigentum, S. 170–171. 294 Florian Krobb: Dekadenzmotive, S. 117. 295 Florian Krobb: Dekadenzmotive, S. 117. 296 Vgl. Eberhard Geisler: Abschied vom Herzensmuseum, S. 372. 297 Eberhard Geisler: Abschied vom Herzensmuseum, S. 371. 298 Eberhard Geisler: Abschied vom Herzensmuseum, S. 371.

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an Krobb verweist darauf, dass die Figurenkonstellation der Berlin-Episode derjenigen des Vogelsangs gleicht – mit Velten als jeweiligen Bezugspunkt. Karl und Leon durchlaufen dabei gegenläufige Entwicklungen.299 Wie Karl, sieht Leons Vater ihn für eine bürgerliche Karriere vor und empfindet Velten dabei als Hindernis.300 Obwohl Leon immer auf der Suche „nach Menschen, die zu ihm passen“,301 ist und glaubt, in Velten jemanden gefunden zu haben, der ihm gleich ist, wird diese Verbindung früh gebrochen. Denn Leon besitzt, trotz seiner Weltfremde und Träumerei, bürgerliche Eigenschaften. So ist er „ein recht guter Kaufmann“,302 der die geschäftlichen Bücher sehr zur Zufriedenheit des Vaters führt. Auch seine Zukunftsaussichten ergeben das Bild eines soliden bürgerlichen Lebens: Mein Junge findet sich schon noch zurecht im praktischen Leben, denn auch dazu haben wir von der Kolonie, diesmal meine ich unsere französische, die Anlage unserm Kurfürsten seinerzeit mitgebracht und zur Verfügung gestellt. Wird er nicht Kommerzienrat, so wird er doch Kommissionsrat, oder das Geschäft macht ihn dazu, ob er will oder nicht. (BA 19, S. 305)

Leon vereint die träumerisch-fantasievolle Veranlagung, die er mit Velten teilt, und ein wirtschaftliches Talent, das für den gesellschaftlichen Aufstieg bedeutend ist. Während er sich in seiner Jugend, wie Velten „wenig aus den Herrlichkeiten der Zeitlichkeit“303 macht, entwickelt er sich doch zu einem erfolgreichen Geschäftsmann. Wie Karl, legt Leon eine bürgerliche Karriere hin, die ihm den Titel „Kommerzienrat“304 einbringt und in die höchsten Gesellschaftskreise führt, wo er „zu den bedeutenderen Bankiers und Kapitalisten der Reichshauptstadt gehört“.305 Auch die Bedeutung der Vergangenheit als identitätsstiftende Instanz existiert nicht mehr. Leon hat vielmehr alles abgelegt, was an seine träumerische Bindung an die Welt der Ahnen – bis hin zum Vater – erinnert: Das väterliche Geschäft in der Dorotheenstraße besteht aber nicht mehr (aus einem Schneiderladen gelangt man ja wohl nicht zu dem Titel Kommerzienrat?), und Leon selber bringt die Rede nie darauf und sie gern auf etwas anderes, wenn sie darauf kommt. Da ich auch jetzt in seinen Geschäftsstuben nichts zu tun habe, kenne ich ihn nur in seinem Familien- und Gesellschaftskreise in seiner Villa einer vornehmen Vorstadt. Er ist auch ver-

|| 299 Vgl. Florian Krobb: Dekadenzmotive, S. 118–120. 300 Vgl. BA 19, S. 304–305. 301 BA 19, S. 289. 302 BA 19, S. 287. 303 BA 19, S. 319. 304 BA 19, S. 385. 305 BA 19, S. 385.

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heiratet und hat eine gute, für ihn passende Frau bekommen. Er ist Vater von zwei Kindern, einem Sohn und einer Tochter. Der Junge wird Friedrich gerufen, das Mädchen Viktoria: die traditionellen altfranzösischen Familientaufnamen der des Beaux aus dem Languedoc figurieren nur noch in den Taufscheinen der Kinder. Die jetzige Madame des Beaux weiß nichts mehr von dem Familien-Wunderwinkel in der Dorotheenstraße, wo Leonie und Leon des Beaux ihr, ihres Vaters und ihrer Väter Eigentum in Angestammtem und Zuerworbenem festhielten und ihren Lebensstolz darauf gründeten. Sie Frau Wera des Beaux […] ist eine tüchtige Berliner Hausfrau und zugleich eine vornehme Frau, die die Stellung ihres Gatten wohl zu wahren weiß; aber von Albi, Simon von Montfort, Raimund von Toulouse, Peter von Castelnau weiß sie nichts, die Bartholomäusnacht kennt sie nur aus den Meyerbeerschen Hugenotten und das Edikt von Nantes – (BA 19, S. 385–386)

Während es für Karl zunehmend existenziell wird, sich den Freund verständlich zu machen, scheint es Leon fast schon wie selbstverständlich zu gelingen, von ausnehmender Lebensferne wieder auf den Weg der Tüchtigkeit bürgerlichen Erwerbslebens zu gelangen.306 Wenn Karl nach Veltens Tod sich mit dem Freund auseinandersetzt, zeigt dies, wie tief verwurzelt dessen beunruhigender Einfluss auf seine Identität ist. Leon hingegen wendet sich wieder seinem „Lebensbehagen“,307 das aus „alle[n] möglichen kriegerischen Ehren der Familie bis hin zu dem Prädikat Exzellenz“308 besteht, zu. Dies streut im Nachhinein erhebliche „Zweifel an der außerbürgerlichen Lebensstellung Leon des Beaux’“.309 Hatte er in seiner Jugend Probleme, sich der Realität zu stellen, scheint diese ihm nun keine weiteren Schwierigkeiten zu bereiten – im Gegenteil zeigt er ja im bürgerlichen, sozialen wie wirtschaftlichen Alltag außerordentliches Geschick. Die französische Identität und Kultur wird der bürgerlichen Gesellschaft vollständig assimiliert. Sogar das traditionelle Schneiderhandwerk310 wird zugunsten des Kapitals geopfert. Dabei wird auch die personale Bindung an das familienhistorische Eigentum aufgegeben: Die Gegenstände aus dem „historischen Traumstübchen“311 werden „aus ihrem Kontext gelöst, ihre Anordnung wird zerstört“.312 So dient, „[w]as in der Dorotheenstraße noch pietätvoll zusammengetragen worden war, […] in der jetzigen Villa des Beaux in den Gemächern nur noch hie und da zur Zier“.313 Der personale, identitätsbedingende || 306 Vgl. Florian Krobb: Dekadenzmotive, S. 118–119. 307 BA 19, S. 407. 308 BA 19, S. 407. 309 Florian Krobb: Dekadenzmotive, S. 119. 310 Vgl. Anne-Katrin Hillebrand: Erinnerung und Raum, S. 199–200. 311 BA 19, S. 290. 312 Anne-Katrin Hillebrand: Erinnerung und Raum, S. 201. 313 BA 19, S. 386.

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Wert des Eigentums wird zur bloßen Dekoration: Es hat nur noch einen vom Familienbesitz entfernbaren „Kunstwert“314 – die Möglichkeit, dass es „wohl noch auf fremde Leute“315 übergehen wird, ist nicht ausgeschlossen. Im Gegensatz zu Karl wird bei Leon des Beaux die außerbürgerliche Vergangenheit auch vom Familienerbe ausgenommen. Für seine Kinder hat das „Eigentum ihrer Vorfahren väterlicher Seite […] kaum noch viel Bedeutung“.316 Durch Leon des Beaux wird die Auflösung des Einheitsverhältnisses zwischen dem Menschen und seiner Vergangenheit, das durch das Eigentum repräsentiert wird, im Bürgertum vorgeführt. In seiner Jugend noch ein weltfremder Träumer, erweisen sich diese Eigenschaften als instabil und werden aus der individuellen Identität ausgelagert. Der „Inbegriff abweichenden, dekadent gegenbürgerlichen Verhaltens“317 stellt sich als bürgerlicher Normalfall heraus. Leon assimiliert sich und die historische Identität seiner Familie an die wirtschaftlichen Entwicklungen, die eine nichtbürgerliche Lebensweise unmöglich machen. Die auf Funktionalität ausgelegte Lebenswirklichkeit entzieht der identitätsstiftenden Bindung an die historische Vergangenheit die Grundlage. Weltabgewandtheit, wie sie noch Leons Schwester Leonie lebt, existiert nur noch in völliger Eigentumslosigkeit im Kloster. In Bezug auf die Problematik Veltens, der sich von der historisierten Lebensweise der des Beaux angezogen fühlt, verweist die bürgerliche Entwicklung seines Studienfreundes auf die Unmöglichkeit einer weltabgewandten Künstlerexistenz. Wie der Vogelsang erweist sich das „Zauberreich“ als bereits abgelebte Lebensform. Die Instabilität der nicht-bürgerlichen Eigenschaften Leons sowie die Möglichkeit, für die Identität relevante Gegenstände schlicht zum Zeichen des gesellschaftlichen Aufstiegs zu funktionalisieren, zeigt, dass die künstlerisch-ästhetisierte Lebensweise, die auf reiner Negation gesellschaftlicher Begebenheiten beruht, hier kritisch reflektiert wird. Velten schlägt, im Gegensatz zu Leon, aber nicht den bürgerlichen Weg ein, sondern führt weiterhin eine Künstlerexistenz. Sein Scheitern wird im Weg Leons somit angedeutet. Die bloße Negation dessen, was der vom Bürgertum bestimmten Lebenswirklichkeit entspricht, ist selbst nicht identitätsstiftend. Reines Künstlertum, wie es Leon in seiner Jugend angestrebt hat und es Velten lebt, kann deshalb nicht zu einer möglichen Existenz führen.

|| 314 BA 19, S. 387. 315 BA 19, S. 387. 316 BA 19, S. 386. 317 Florian Krobb: Dekadenzmotive, S. 120.

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4.4 Das deviante Individuum als Verkörperung des „Anderen“ 4.4.1 Die Negation des Bürgerlichen 4.4.1.1 Bindung an die bürgerliche Lebensweise des Vogelsangs Die Kontrastfigur zum bürgerlichen Erzähler Karl bildet dessen Jugendfreund Velten Andres. Ein wesentlicher Unterschied zu Karl ist, dass Velten vor allem von Müttern erzogen und beeinflusst wird. So steht am Anfang und am Ende seiner Entwicklung eine zentrale Mutterfigur – seine leibliche Mutter Amalie Andres und als Ersatzmutter die Fechtmeisterin Feucht: Lieber Junge, in dieser Beziehung hat deines Vaters Gebrumm ebenfalls gar nichts genutzt: es bleibt eben für mich bei der Weibererziehung. Soll etwa Großvater Goethe den zweiten Teil seines Fausts bloß für sich und eure frech-dummen Literaturgeschichtsschreiber zusammengestolpert und –geholpert haben? Nee, nee, mein Junge! Ich habe mich von den Weibern erziehen lassen und lasse mich von den Weibern weiter erziehen. Geh du nur hin; ich bleibe bei den Müttern, bei den Frauen und bei den Mädchen. (BA 19, S. 273)318

Dem patriarchalischen, zur Anpassung an die gesellschaftliche Ordnung mahnenden Vater Karls, steht Amalie Andres’ verständnisvolles, unterstützendes und die individuelle Freiheit begünstigendes Wesen gegenüber. So wird sie gern auch als positives Gegenbeispiel zu Karls Vater gesehen.319 Während sich um sie herum die Nachbarn und der Vogelsang dem gesellschaftlichen Fortschritt ergeben, sind die Andres „anders“.320 Der Vater – zum Zeitpunkt der Kindheit Veltens und Karls längst verstorben – hat zwar als „echter und gerechter Vorstadtdoktor“321 einen bürgerlichen Beruf inne, nimmt aber an gesellschaftlichen Ehren und Aufstiegsszenarien nicht teil. Vielmehr gilt sein Interes-

|| 318 In Zusammenhang mit Goethes Faust spricht Rosemarie Haas hier auch von einer „Mutterbindung“ Veltens. Vgl. hierzu Rosemarie Haas: Einige Überlegungen zur Intertextualität in Raabes Spätwerk. Am Beispiel der Romane Das Odfeld und Die Akten des Vogelsangs. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 38 (1997), S. 117. 319 Darauf hat bereits Kindermann hingewiesen. Vgl. Manfred Kindermann: Subjektkonstitution, S. 117. Als positive Gegenfigur sehen Amalie u. a. Horst Wischniewski: Zwang und Freiheit, S. 99; Gernot Folkerts: Besitz und Sicherheit, S. 104–105; Gabriele Varo: Feindlichkeit, S. 26. 320 Vgl. Gernot Folkerts: Besitz und Sicherheit, S. 105; Hermann Helmers: Die bildenden Mächte, S. 94; Jeffrey L. Sammons: The fiction of the alternative community, S. 302; Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 95–96. 321 BA 19, S. 220.

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se seiner „Liebhaberei, [der] Insektenkunde“,322 die ihm zwar in Fachkreisen Ansehen verschafft, aber den Weg zum „Sanitätsrat“ verwehrt.323 Der Familie hinterlässt er schließlich nur das im Laufe der Generationen geschrumpfte Vermögen seines Vaters und Großvaters. So bleibt Velten sein Leben lang vor allem unter dem Einfluss seiner Mutter. Diese ist zwar unter die Vormundschaft der Krumhardts gestellt, zeichnet sich jedoch insbesondere durch die Missachtung der zur gesellschaftlichen Konformität aufrufenden Ratschläge des alten Krumhardt aus. Mit ihrem „ruhige[n], stille[n] Sonnenlächeln“324 und ihrer Art, die Welt schön zu sehen,325 erweist sich Amalie Andres gleichzeitig als liebevoll sorgende Mutter und als realitätsfern: Hätte ihr Mann sie „nicht so sehr verzogen und mit sich in die Höhe gezogen, so [wäre sie] wohl vernünftiger und verständiger in den tagtäglichen Dingen und Angelegenheiten“.326 In die Erziehung des Sohnes greift Amalie so gut wie gar nicht ein, im Gegenteil kann man sich sogar auf sie „bei jeder nachfolgenden Lebenstorheit und Nichtsnutzigkeit berufen“.327 Für Karl ist Amalie Andres das Sinnbild der Nachbarschaftlichkeit des Vogelsangs, die auch als eine Art Ersatzmutter für ihn und Helene, ihre „Vogelsangkinder[...]“,328 fungiert. Mit Velten verbindet sie in ihrer Zeitenthobenheit zudem eine Seelenverwandtschaft329 – sowohl der Sohn wie die Mutter zeichnen sich durch ihre gefühls- und fantasiebasierte Bindung an die Vergangenheit aus.330 Als „Märchenkönigin“,331 die „von der Scheußlichkeit der Menschheit […] nur sehr dunkele Begriffe“332 hat, wird Amalie immer wieder von der Realität entrückt dargestellt. Vom „wachen Leben“,333 der bürgerlichen und dem ökonomischen Fortschritt geweihten Wirklichkeit um sie herum, versteht sie nichts – ihre Welt ist eine Welt der Innerlichkeit.334 Laut Gernot Folkerts gelingt es Amalie dadurch, der Entfremdung durch die auf funktional-äußerliche Bedingungen basierten Lebensbereiche zu entkommen und zu einer „unversehrten || 322 BA 19, S. 220. 323 Vgl. BA 19, S. 221. 324 BA 19, S. 222. 325 Vgl. BA 19, S. 223. 326 BA 19, S. 351. 327 BA 19, S. 253. 328 BA 19, S. 303. 329 Vgl. Gabriele Varo: Feindlichkeit, S. 26. 330 Amalie und Velten werden immer wieder, im Gegensatz zu den Krumhardts, als vernunftlose Fantasten bezeichnet. Vgl. unter anderem BA 19, S. 274, 313. 331 BA 19, S. 256. 332 BA 19, S. 261. 333 BA 19, S. 269. 334 Vgl. Peter Sprengel: Interieur und Eigentum, S. 168–169.

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Menschlichkeit“335 zu gelangen. Tatsächlich ist ihr Leben allerdings von Passivität geprägt: Als Frau und insbesondere als Witwe bleiben ihr nur eingeschränkte Lebensmöglichkeiten, die – ohne die Erziehung durch einen Vater – auf den Sohn übertragen werden. Kindermann weist darauf hin, dass Karl, im Gegensatz zu Velten, im patriarchalischen Bürgertum deshalb erfolgreich sein kann, weil er von seinem Vater darauf vorbereitet wird. Velten, dem diese väterliche Sozialisation fehlt, scheitert dagegen in ihr.336 Während Karl durch das Vorbild des Vaters in der bürgerlichen Welt also zurechtkommt, ist Amalie direkt für Veltens fantasievolles Wesen verantwortlich: Wozu denn der Lärm, diese fürchterliche Eile in der Welt? Wie wird er darin zurechtkommen? Er hat das ja leider von mir, daß er es mit nichts, wie andere Leute, eilig hat und sich Zeit zu allem nimmt und gern allein für sich sitzt, wie seine törichte alte Mutter. […] Mein Gott, sind wir Mütter schuld daran, wenn wir unsern Kindern unser Bestes mit auf den Weg geben und sie elend dadurch machen? Wenn wir uns getäuscht hätten! Es wäre zu trostlos, wenn er seinen Willen durchsetzte und den meinigen mit und es doch nichts weiter als ein Märchengespinst, ein höhnisch-hübsches Schattenspiel an der Wand wäre! (BA 19, S. 313–314)

Wie Karls Vater, hat Amalie alles für ihren Sohn getan:337 Veltens weiterer Weg wird als Fortsetzung ihres Willens und ihrer lebensfernen Existenz verstanden. Die Bedeutung der Mutter für Veltens Identität zeigt sich darin, dass sie bis zuletzt als „einziger, wirklicher Freund“338 bezeichnet wird. Wie bereits bei Karl und seinem Vater wird hier die Generationenfolge in der Familie als Weiterführung der elterlichen Existenz und Lebensweise dargestellt. Wenn Velten sich als Amalies „Sohn und Erbe“339 betitelt, verweist er auf dieses Verständnis von Familie. Und so wie Karl, dank dem Vater, in höhere Gesellschaftskreise aufsteigt, entwickelt sich auch Velten „über ihre Lebensdimensionen hinaus, wird zum individualistischen Einzelgänger“,340 der ein bürgerliches Leben ablehnt. Das Haus der Mutter im Vogelsang bleibt dabei ständiger Bezugspunkt in seinem Leben. Irmgard Roebling sieht psychoanalytisch in Veltens Verhalten die

|| 335 Gernot Folkerts: Besitz und Sicherheit, S. 105. 336 Vgl. Manfred Kindermann: Subjektkonstitution, S. 116–118. 337 Vgl. BA 19, S. 338: „Alles für unsere Jungen! Natürlich er auf seine Weise, ich auf die meinige.“ 338 BA 19, S. 364. 339 BA 19, S. 330. 340 Gabriele Varo: Feindlichkeit, S. 26.

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Suche nach einer symbiotischen Wiedervereinigung mit der Mutter341 und Kindermann bescheinigt Velten zudem eine narzisstische Störung, die durch die Selbstspiegelung an den Mutterfiguren entstehe.342 Dies führt aber angesichts der Parallelität zu Karl und seinem Vater zu weit. Veltens Verhältnis zur Mutter zeigt sich insofern ambivalent, da er ihr kleinbürgerliches Leben für sich selbst negiert. An entscheidenden Stellen seines Lebenswegs weicht Velten von der Lebensweise seiner Mutter ab: Anstatt wie sie im Vogelsang auszuharren, zu dem er Zeit seines Lebens immer wieder zurückkehrt, reist er nach Amerika, um Helene für sich zu gewinnen, und auch später zeigt er sich als weltgewandter und gereister Individualist. Was ihn immer wieder zurückführt, ist die Gewohnheit und die Vertrautheit mit einer Lebensweise, die er eigentlich negiert. Amalie hingegen bleibt nur ihre Passivität, ihre „Träume“,343 und das Vertrauen in die siegreiche Rückkehr des Sohnes.344 Dass dies jedoch auf „Illusionen“345 gebaut ist, zeigt ihre enge Verbindung mit dem Vogelsang. Veltens Abreise nach Amerika fällt mit dem Tag zusammen, als der Nachbar Hartleben sein Grundstück an die dort entstehende Konservenfabrik verkauft.346 Als er wiederkommt, ist Amalie die letzte der ursprünglichen Nachbarschaft, die in einer veränderten Welt an ihrem alten Eigentum im Vogelsang festhält: Nun bin ich die letzte von den Alten unterm Osterberge. Manchmal in dem jetzigen Lärm dort um mich her, wenn ich so von meinem Strickzeug am Fenster aufsehe, kommt es mir doch wirklich vor, als gehöre auch ich nicht mehr dahin; aber ich habe es ihm ja versprochen, daß er mich jederzeit dort in seines Vaters und seinem eigenen alten Wesen noch vorfinden soll, und so muß ich noch etwas bleiben. Wer verdunkelt einem nun noch mit einem: „Auf ein Wort, Frau Nachbarin!“ das Fenster, um einen fester in der Gewißheit, zur Seite und gegenüber die beste, liebste Nachbarschaft zu haben, nach dem Vorgucken und Besuch wieder sich selbst zu lassen? Kommt ihr jungen Leute, so könnte man sich so vorkommen wie ein halb Jahrhundert vor der Erlösung für einen Augenblick aufgewachtes Dornröschen, das sich nicht seinem Prinzen in Mantel, Federbarett und Trikot, sondern einem durch die Hecke gedrungenen Liebhaberphotographen gegenüber findet. (BA 19, S. 337–338; Hervorhebung im Original)

|| 341 Vgl. Irmgard Roebling: Wilhelm Raabes doppelte Buchführung Paradigma einer Spaltung. Tübingen: Niemeyer 1988, S. 142–143 sowie Irmgard Roebling: Berliner Luft, S. 223–224. 342 Vgl. Manfred Kindermann: Subjektkonstitution, S. 117–118 343 Vgl. BA 19, S. 269: „Was haben wir vom wachen Leben mehr als unsere Träume?“ 344 Vgl. BA 19, S. 313. 345 Vgl. BA 19, S. 303: „Auch ich halte ja, Gott sei Dank, meine Illusionen noch immer fest.“ 346 Vgl. BA 19, S. 314.

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Der Vogelsang repräsentiert hier nicht, wie Folkerts meint, die bürgerliche Enge,347 sondern die Möglichkeit einer individuellen, zeitenthobenen Existenz. Dass Amalie Andres und ihr Haus die letzte „grüne Hecke“348 im Vogelsang bilden, bedeutet ein Festhalten an vergangenen Zeiten. Amalie ist diejenige, die bis zuletzt alleine die alte, nachbarschaftliche Lebensform lebt, die aber aufgrund der Tatsache, dass bereits alle anderen Nachbarn tot sind, der Vergangenheit angehören muss. Sie verkörpert damit einen Stillstand in einer dem Fortschritt geweihten Welt, der jedoch „seine Zeit ganz und gar überlebt hat[...] und durch sein Nochvorhandensein nur kümmerlich-lächerlich wirkt[...]“.349 Dass der Vogelsang auch hier mit der Motivik der Vergänglichkeit und der Realitätsferne des Märchens verbunden wird, zeigt, dass Amalies „so tapfer festgehaltene[s] Reiche“,350 nur die Unmöglichkeit der bereits fast vollständig zerstörten Vogelsang-Welt repräsentiert.351 Denn die Vergangenheit, die Amalie auf diese Weise fortbestehen lässt, ist zukunftslos352 – sie wird die vollständige Vernichtung der Vorstadt nicht aufhalten. Was bleibt, ist eine Welt der Erinnerung, die hier wieder lebendig wird: Im Vogelsang saß auch ich noch ein Stündchen unter der Konzertmusik aus dem Tivoligarten mit dem Freunde und seiner Mutter. […] Wie da der Schatten der hohen Brandmauer, der jetzt von meiner Eltern und meinem Heimwesen auf uns fiel, wieder sich lichtete! Wie es wieder wie Abendsonne aus unserer, Veltens und meiner, Kinderzeit und aus der Zeit, da Amalie, Agathe und Adolfine auch noch Kinder, junge Mädchen, Bräute und junge Frauen waren, durch Baumgezweig nur tanzende Schatten auf die kleinen Laube warf und den Tisch darin, auf welchem Veltens Vater noch seine Rezepte für die ganze Nachbarschaft unter dem Osterberg schrieb! […] Da gewann eine liebe Vergangenheit ihr Recht wieder und behielt es für eine gute Stunde von neuem […]. (BA 19, S. 355)353

Amalie verkörpert den Rückzug in die Vergangenheit, der aber in seinen illusionären Bezügen zu einer Märchenwelt, nicht wie Webster meint, Stabilität sowie eine „Zuflucht vor den immer wiederkehrenden Schlägen des wirklichen Lebens“354 vermittelt, sondern im Hinblick auf die bereits fast vollständig voll|| 347 Vgl. Gernot Folkerts: Besitz und Sicherheit, S. 104–105. 348 BA 19, S. 339. 349 BA 19, S. 339. 350 BA 19, S. 339. 351 Vgl. hierzu auch: Karin Kluger: Problematisierung der Idylle, S. 35–38. 352 Vgl. Gernot Folkerts: Besitz und Sicherheit, S. 105. 353 Ein weiteres Beispiel hierfür ist auch Amalies Haus, das voll von Gegenständen, die an die Vergangenheit erinnern, ist. Vgl. u. a. BA 19, S. 324: „Sie sah sich hier in ihrem Stübchen, in welchem sie unter all ihren Erinnerungen saß […] mit einem kummervollen Blicke um.“ 354 William T. Webster: Wirklichkeit und Illusion, S. 116.

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zogene Zerstörung des Vogelsangs geradezu haltlos wirkt. Wenn Velten von der „wankenden Erde“355 spricht, scheint gerade die Vogelsang-Welt, das ursprüngliche nachbarschaftliche Lebensgefühl, das sich in der Auflösung befindet, zu wanken. An Amalie, der „Heldin dort, hinter der letzten Hecke des Vogelsangs“,356 wird dieser Untergang gespiegelt. Dass sie selbst so sehr in die Vergänglichkeits-Motivik des Vogelsangs eingebunden ist, lässt ihr Festhalten umso hilfloser und vergeblicher wirken. Velten, der von seiner Amerika-Reise völlig desillusioniert zurückkehrt, spielt ihr schließlich bis zu ihrem Tod den Sieg ihrer Vergangenheits-Welt über die Wirklichkeit vor, anstatt ihr zu sagen, dass sie „vergeblich das letzte Grün aus dem Vogelsang für das Geschöpf, das auch sehr, sehr [ihr] Geschöpf ist, […] festgehalten“357 hat. Während Amalie in ihrer Passivität ihre Illusionen bewahren kann, muss Velten in aktiver Auseinandersetzung mit der Realität erleben, dass die Bewahrung der Vergangenheit, wovon sich Amalie und Velten eine siegreiche Weltüberwindung erhoffen, unmöglich ist. Amalie stirbt, immer noch in der Illusion ihres „freundlichen Daseinstraum[s]“:358 Jaja, Freund Karlos, und auch ich kann sagen, daß ich meine Rolle, dieses letzte Jahr durch, gut durchgeführt habe: sie schläft ein in der Gewißheit, mich mit einem Herzen so reich, so leichtbewegt, so fest, so siegessicher, so unverwundbar wie das ihrige zurückzulassen. (BA 19, S. 365)

Die Mutter und das kleinbürgerliche Haus des Vogelsangs repräsentieren für Velten das Bürgertum und die Bindung an diese Lebensweise, die er für seine Identität ablehnt. Dass er aber zeitlebens immer wieder zur Mutter zurückkehrt, zeigt seine eigene Abhängigkeit vom Negierten. Um seinen Selbstentwurf bewahren zu können, muss Velten aber genau diese Bindung ablehnen. Hat er der Mutter zuvor noch den Sieg ihrer Welt vorgespielt, beginnt er nach ihrem Tod den Versuch, sich von seiner Bindung loszulösen, indem er das Eigentum der Mutter verbrennt und wieder in die Welt zieht. Über seine letzten Lebensjahre wird in den Akten, bis auf Helenes eigene Deutung als tragische Liebesgeschichte, nur wenig erwähnt. Die letzten Monate vor seinem Tod verbringt Velten aber wieder in seiner alten Studentenwohnung, was darauf verweist, dass er

|| 355 Die in den Roman eingebundenen Variationen der Ode Goethes, die Velten angesichts seiner Desillusion zu seinem Lebensmotto erhebt, wird von Joachim Müller eingehend untersucht: Vgl. Joachim Müller: Das Zitat, S. 9–19. Vgl. auch BA 19, S. 352. 356 BA 19, S. 346. 357 BA 19, S. 352. 358 BA 19, S. 365.

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seine Bindungen an das Bürgertum nicht losgeworden ist. Stattdessen sucht er wieder das gewohnte, familiäre und kleinbürgerliche Umfeld, das er eigentlich negiert, auf. Was folgt, ist eine Regression in die Kindheit, denn Velten zieht sich erneut „hinter [der] Schürze“359 einer Ersatzmutter, der Fechtmeisterin Feucht, zurück.360 Hier wird „das große, schlaue Kind“361 von der Fechtmeisterin „wie ein kleinstes, dummstes, hülfslosestes Kind besorgt und zu Tode gepflegt“.362 Veltens Versuch der Loslösung ist gescheitert und er wird dadurch lebensunfähig – die Rückkehr zur Kindheit unter der mütterlichen Fürsorge ist zugleich eine Rückkehr in die Welt der Vergangenheit, die jegliche weitere Entwicklung ausschließt. Auch hier weist die Fechtmeisterin eine Parallele zu Amalie Andres auf: Sie hat gleichfalls bis zuletzt „ihr Eigentum noch vollständig beisammen“:363 Wohl ein Vierteljahrhundert war hingegangen, seit ich zum ersten Mal zwischen diesen vier Wänden gestanden und verwundert umher und von der Bewohnerin auf die Wände gestarrt hatte. Nun stand ich wieder so; – während in den langen Jahren um mich her nichts an seinem Platze geblieben war, hatte sich hier nichts verändert. Die Zeit, die mit so leiser, sanfter Hand über die Stirn der kleinen, greisen Elfin gestrichen hatte, hatte auch in ihrer Umgebung nichts von der Stelle gerückt, nichts in den Winkel geworfen, nichts unter den Auktionshammer gebracht, nichts – in den Ofen geschoben. (BA 19, S. 390–391)

Im „Witwenstübchen“364 der Fechtmeisterin findet Velten am Ende seines Lebens noch einmal eine Umgebung, die das Gewohnte, von dem er sich lösen wollte, aufgreift. Die Wohnung der Fechtmeisterin ist wie Amalies VogelsangHaus mit Erinnerungsstücken an die Vergangenheit gefüllt. Als Raum absoluter Innerlichkeit fungiert diese für ihn als Rückzugsort vor der Wirklichkeit. Unter der Pflege der Ersatzmutter durchlebt Velten noch einmal „alles, was ihm einmal gefallen hat in seiner Kindheit und Jugend“.365 Seine „gewollt-regressive Hinwendung an seine Kinder- und Jugendlektüre“366 symbolisiert Stillstand, die Negation jeglicher Entwicklung. Der fantastische Zugang zur Welt, der vom Rückzug in die Innerlichkeit geprägt ist, bedeutet daher gleichzeitig Lebensun-

|| 359 BA 19, S. 347. 360 Vgl. BA 19, S. 280: „auf ihren jetzigen jungen Herrn, auf ‚ihren Velten‘, schien sie schon jahrelang gewartet zu haben, um, ‚was sehr nötig war‘, Mutterstelle an ihm zu vertreten.“ 361 BA 19, S. 214. 362 BA 19, S. 214. 363 BA 19, S. 391. 364 BA 19, S. 281. 365 BA 19, S. 394. 366 Sandra Krebs: Die Erzählbarkeit des Ich, S. 243.

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fähigkeit und Tod. Die Regression zum Kind symbolisiert diese Passivität der Innerlichkeit, die nur noch in der Vergangenheit möglich ist. Die Mutterfigur bedeutet hierbei die einzige Möglichkeit, ein Leben in Illusion, Fantasie und Innerlichkeit zu führen, da sie die Lebensform der Kindheit, der Vergangenheit, bewahrt und gleichzeitig in ihrer Fürsorge die äußeren Bedingungen der Existenz – was am Bild des Festhaltens am Eigentum symbolisiert wird – bewahrt. Gleichzeitig ist aber auch diese Form der Existenz zukunftslos, denn die Fechtmeisterin ist am Ende des Romans neunzig Jahre alt.367 So ist es nur folgerichtig, dass Velten sich bei ihr nur zum Sterben zurückziehen kann. Ihre wohl letzte Tat in ihrem Leben ist es, das in die radikale Hinwendung zur Vergangenheit zurückgezogene Kind, zu Tode zu pflegen. Was ihn überdauert ist sein Sterbezimmer, das als Todesraum übrigbleibt.368 Am Ende ist nur noch die „Leere“369 für ihn adäquat. Dass Helene dieses leere Zimmer kauft und bewahren will, zeigt sich jedoch schon angesichts der zukunftslosen Symbolik des Raums als Selbsttäuschung.370 4.4.1.2 Ablehnung bürgerlicher Normen Im Gegensatz zu Karls Leben zeichnet sich Veltens ausgehend vom Einfluss der Mutter durch die Abweichung von einer bürgerlichen Normalbiografie aus. Seit seiner Kindheit lehnt er die funktionale Bindung des Einzelnen in der Gesellschaft ab und kümmert sich – trotz zahlreicher Talente – nicht um eine bürgerliche Existenz: Er, mein Freund, ist in seinem kurzen Leben alles gewesen: Gelehrter, Kaufmann, Luftschiffer, Soldat, Schiffsmann, Zeitungsschreiber – aber gebracht hat er es nach bürgerlichen Begriffen zu nichts […]. (BA 19, S. 318)

Velten negiert den bildungsbürgerlichen Aufstiegsprozess. Er ist zwar gebildet – allerdings vorwiegend in der Literatur – und besitzt die Möglichkeiten zu einem selbstständigen Beruf, nimmt diese jedoch nicht hinsichtlich einer bürgerlichen Karriere wahr.371 Anstatt sich, wie im Bürgertum, über die Werte Selbstständig-

|| 367 Vgl. BA 19, S. 406. 368 Nach Hotz zeichnet sich gerade der Todesraum dadurch aus, dass er durch die Aufhebung von Mensch und Räumlichen von der Wirklichkeit abgetrennt ist. Vgl. Karl Hotz: Bedeutung und Funktion des Raumes, S. 155. 369 Vgl. BA 19, S. 400. 370 Vgl. Joachim Müller: Das Zitat, S. 23; Karin Kluger: Problematisierung der Idylle, S. 39. 371 Zu den definierenden Werten des Bürgertums, siehe: Hans-Ulrich Wehler: Zielutopie, S. 87; Manfred Hettling: Die persönliche Selbstständigkeit, S. 59.

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keit, Besitz und Ansehen zu definieren, strebt er ein Leben jenseits der bürgerlichen Kategorien an. Seine Identität wird somit von der Negation des Bürgertums bestimmt. Für das Bürgertum verkörpert Velten die von dieser Schicht ausgeschlossenen und nichtbeachteten Werte, da er durch seine Negation und Nichtanpassung ihre eigenen Werte infrage stellt.372 Die Forschung neigt dazu, ihm deswegen, im Gegensatz zu den bürgerlich Angepassten, ein „humaneres Lebensprinzip“373 zu attestieren, dessen Werte bedeutender seien als die materialistischen und ehrgeizigen Ziele seiner Zeitgenossen.374 Diese moralisierende Bewertung wird dabei häufig als eigentliche Aussage des Romans verstanden.375 So sieht beispielsweise Detering Veltens Entwicklung im Sinne seiner christologischen Deutung als Passions- bzw. Apostelgeschichte.376 Dagegen stehen Meinungen, die in Velten alles andere als einen Übermenschen sehen, sondern stattdessen denjenigen, der sich eigentlich in der Welt „verklettert“ habe,377 bzw. die ihm einen narzisstischen Hang zum Weiblichen nachweisen.378 Der Roman selbst löst diese Ambivalenzen, die die Figur Veltens aufweist, nicht auf. Sven Meyer weist darauf hin, dass die vielen verschiedenen intertextuellen Bezüge des Romans bewusst gegensätzliche und widersprüchliche Stilisierungen Veltens zulassen und somit einen einzig gültigen Lebensentwurf Veltens

|| 372 Das nichtbürgerliche „Andere“ bezeichnet dabei das „elementare, ursprünglich selbst bürgerliche Bedürfnis nach Freiheit und Selbstverwirklichung, aber angesichts von dessen Nichterfüllung auch Leistungsverweigerung und Grenzüberschreitung, Ansprüche also, für die die durchstrukturierte Gesellschaft im Zeitalter der normativen Geltung von Besitz und Bildung keine Freiräume mehr besitzt“ (Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 96). 373 Horst Wischniewski: Zwang und Freiheit, S. 99. 374 Vgl. beispielsweise Jeffrey L. Sammons: The fiction of the alternative community, S. 305. Ähnliche Meinungen finden sich bei Regina Schmid-Stotz, die Velten ein Gefühl für das Leiden anderer und das Festhalten an Wertvollem, auch wenn es für die Gesellschaft nutzlos ist, bescheinigt. Auch Ohl empfindet Veltens Lebensentwurf als Möglichkeit, zu einer erfüllten Existenz zu gelangen. Für Kafitz gehört Velten zu den „großen Ausnahmemenschen“, die von der Gesellschaft verdrängt werden. Vgl. Regina Schmid-Stotz: Von Finkenrode, S. 101; Hubert Ohl: Der Bürger und das Unbedingte, S. 15; Dieter Kafitz: Appellfunktion, S. 222. 375 Vgl. Jeffrey L. Sammons: Der Sonderling, S. 39–40. 376 Vgl. Heinrich Detering: Theodizee, S. 221–226. Dieser christologischen Deutung folgt auch Zeller, weist aber darauf hin, dass dieses Motiv im Roman mit der Gleichsetzung Veltens mit dem Teufel variiert wird. Vgl. Christoph Zeller: Veltens Erbe, S. 117–119 sowie Christoph Zeller: Zeichen des Bösen, S. 114–115. 377 Vgl. beispielsweise Wolfgang Giegerich: Dumas’ Le Comte de Monte Christo und Wilhelm Raabe. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 12 (1971), S. 68; Gerhart Mayer: Die geistige Entwicklung, S. 85; Franz Zwilgmeyer: Archetypische Bewusstseinsstufen, S. 111. 378 Vgl. hierzu Irmgard Roebling: Berliner Luft, S. 223–224; Irmgard Roebling: Wilhelm Raabes doppelte Buchführung, S. 142–143.

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negieren.379 Obwohl Karl am Ende seine Irritation über diese Negation in seine Welt integrieren kann, schwankt auch seine Darstellung Veltens gleichermaßen zwischen dessen Sieg und Scheitern. Veltens Existenz ist im Bürgertum negierenden Bereich angelegt und steht somit der bürgerlichen Welt des Erzählers gegenüber. Trotzdem ist auch seine Persönlichkeit ambivalent, denn wie Karl zeit seines Lebens seine Faszination für Velten nicht loswird, so gelingt es auch Velten nicht, sich von der Bindung an die kleinbürgerliche Lebensweise seiner Mutter zu lösen. Er selbst definiert sich über die Negation des Bürgerlichen und muss somit, um diesen Selbstentwurf zu bewahren, gegen diese Bindungen ankämpfen. Das Resultat ist eine für das Bürgertum nicht begreifbare Persönlichkeit. Auf diese Weise entzieht sich Velten selbst jeglicher äußeren Bestimmung. Während er „Subjektivismus und Individualismus“380 für seine Existenz absolut setzt, zeigt er sich gleichgültig gegenüber gesellschaftlichen Aufstiegsund Erfolgsszenarien. Zentralste Eigenschaft ist seine Fantasie und die damit einhergehende Ablehnung der gängigen, bürgerlichen Wirklichkeitsauffassung, die er in seinen Widersprüchen erkennt und deshalb für seine Existenz verwirft:381 Denn die Menschen halten sich für „frei und werden an Ketten geführt“.382 Weltflucht, gesellschaftliche Unabhängigkeit und individuelle Freiheit findet er hingegen in der Fantasie und der Literatur, deren Gültigkeit für die Wirklichkeit er schon in der Kindheit erprobt.383 Nach dieser Unbedingtheit der Fantasie entwirft er auch seine Lebenswünsche, die zu denjenigen des bürgerlichen Karls, der sich ein gutes Examen wünscht, völlig konträr laufen: Dem seligen Diogenes seine Tonne wünsche ich mir […]. Den Heckepfennig, den Däumling und das Tellertuch der Rolandsknappen, den Knüppel-aus-dem-Sack, das Vergnügen, Persepolis in Brand zu stecken, und ein friedliches Ende auf Salas y Gomez. Fallet, ihr Sterne, und winket Gewährung! (BA 19, S. 260–261)

Sein weiteres Aufwachsen ist folglich geprägt von der kontinuierlichen Abweichung von den bürgerlichen Maximen. Für die Schule interessiert er sich nur wegen der Mutter und um Karls Vater „sein melancholisches Behagen an [s]einer Schande nicht zum zweitenmal zum vollen Auskosten an[zu]bieten“.384 || 379 Vgl. Sven Meyer: Narreteien ins Nichts. Intertextualität und Rollenmuster in Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 40 (1999), S. 100. 380 Sabrina Becker: Bürgerlicher Realismus, S. 268. 381 Vgl. Michael Stoffels: Phantasie und Wirklichkeit, S. 106; Herman Meyer: Sonderling, S. 283; Irmgard Roebling: Berliner Luft, S. 222–223. 382 BA 19, S. 300. 383 Vgl. BA 19, S. 223–224. 384 BA 19, S. 264.

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Einmal fällt er durchs Examen; nicht weil er den Anforderungen nicht gewachsen ist – sein Literaturwissen hat er sich beispielsweise selbst beigebracht385 –, sondern vorwiegend wegen der vom bürgerlichen Ordnungssinn so anerkannten Mathematik.386 Das Leben nach der Schule bedeutet für ihn hingegen Freiheit von den gesellschaftlichen Konventionen und Zwängen.387 Nach dem Examen geht er nach Berlin, um Philosophie zu studieren. Geld, Ehrbezeugungen und soziale Aufstiegsszenarien imponieren ihm – im Gegensatz zu Karl – nicht.388 So ist es ihm auch gleichgültig, sich lächerlich zu machen, indem er sich mit seinem Schneider bekannt macht389 und sein Studium zugunsten einer Schneiderausbildung abbricht.390 Auch letzteres ist jedoch nur Mittel zum Zweck der individuellen Selbsterfüllung, ermöglicht es ihm immerhin, Helene nach Amerika nachzufolgen. Im Laufe seines Lebens übernimmt er verschiedene Berufe. Um sich nicht in seiner Selbstbestimmung einschränken zu lassen, verweigert er jegliche Bindung „an feste, zum Selbstzweck gewordene[n] Berufspositionen […], um eine bestimmte gesellschaftliche Stellung zu erreichen“.391 Sein Unwille zur Anpassung – „die Mauern […], durch die man auf Erden vor Verdruß mit dem Kopfe rennen möchte, […] die rennt er eben ein“392 – irritiert die Gesellschaft jedoch und kollidiert mit der „auf bürgerlichem Ordnungssinn gegründeten Erdenwelt“.393 Vom Bürgertum wird er abschätzig als „sauberer Vogel“394 oder „unzurechnungsfähiger Narr und Phantast“395 betitelt. Karls Vater empfindet seine Nichtbürgerlichkeit als Verwahrlosung,396 Agathe Trotzendorff attestiert ihm einen schlechten Einfluss, da man mit „lächerlichen Anmerkungen und allem übrigen von der Art […] nicht durch die Welt“397 komme. Dabei bringt Velten eigentlich vieles mit, was er für eine bürgerliche Karriere benötigt. Zweimal gewinnt er die Achtung der gesellschaftlich Mächtigen: Als er || 385 Vgl. BA 19, S. 268. 386 Vgl. BA 19, S. 262. 387 Vgl. BA 19, S. 264. 388 Vgl. BA 19, S. 287. 389 Vgl. BA 19, S. 286. 390 Vgl. BA 19, S. 300. Mit dieser Wahl negiert Velten jegliche Aufstiegschancen im Bürgertum, das sich zum einen ökonomisch, zum anderen sozial vom Handwerkerstand abgrenzt. Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Zielutopie, S. 86. 391 Michael Stoffels: Phantasie und Wirklichkeit, S. 102. 392 BA 19, S. 316. 393 BA 19, S. 222. 394 BA 19, S. 222. 395 BA 19, S. 274. 396 Vgl. BA 19, S. 223. 397 BA 19, S. 249.

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Schlappes Leben rettet, bringt ihm dies die Gunst des Hofes und der einflussreichen Familie Schlappes ein, und als er die Förderung der inzwischen zu den „große[n], wirkliche[n] Geschäftsmänner[n]“398 zählenden des Beaux für seine Amerika-Reise erhält, gibt sogar Karls Vater zu, dass er, was Velten betrifft, „[s]ich wenigstens zur Hälfte geirrt habe“.399 Velten beweist auch hier, dass er sich „wenig aus den Herrlichkeiten der Zeit macht[...]“:400 Um die Avancen der besten Gesellschaft kümmert er sich nämlich einfach nicht: Ob ihm das Leben zu einem hölzernen Löffel einen goldenen Napf unter die Nase schob, ob es ihm einen goldenen Löffel in die Hand gab und einen irdenen Napf auf den Tisch schob (was ihm auch passiert ist), es blieb ein und dasselbe, da er auch ein und derselbe blieb, nämlich derselbe ewig unberechenbare odd fellow des Vogelsangs – who had no harm in him and who had parts if he would use them, wie man in Cambridge von einem ähnlichen Menschen sagte, der es nach der Meinung der Vernünftigen in der Welt gleichfalls zu wenig mehr als zu einem schlimmen Ende brachte. (BA 19, S. 266)

Da Velten damit aber „nur sich selber schadet[...]“,401 geht das Unverständnis der Gesellschaft über seine nichtangepasste Existenz nicht über die anfängliche Irritation hinaus. Solange er die bürgerliche Existenz nicht offen infrage stellt und angreift, wird seine Nichtbürgerlichkeit als „Phantasterei“402 belächelt und verharmlost. So wird er einfach zu den der bürgerlichen Welt Verlorengegangenen gezählt und ignoriert.403 Erst als Velten beginnt, seine eigenen Bindungen an die bürgerliche Welt in Form des Elternhauses zu zerstören und damit den bürgerlichen Wert des Besitzes angreift, gerät er in Konflikt mit der Gesellschaft und wird von Karls Schwager Schlappe sogar als „endemisch gefahrbringend“404 bezeichnet. Rufe nach Entmündigung oder der Überweisung in ein Irrenhaus bleiben aber folgenlos – Velten entfernt sich schließlich aus der Gesellschaft, die mit seiner Negation des Bürgerlichen folglich nicht mehr konfrontiert wird. Auch Velten empfindet die Reaktion der Gesellschaft nicht als unmenschlich und ungerecht, wie etwa Son-Hyoung Kwon meint,405 oder steht dem Bürgertum von klein auf isoliert gegenüber, worin Matschke seinerseits

|| 398 BA 19, S. 303. 399 BA 19, S. 303. 400 BA 19, S. 319. 401 BA 19, S. 266. 402 Vgl. BA 19, S. 223. 403 Vgl. BA 19, S. 295. 404 BA 19, S. 357. 405 Vgl. Son-Hyoung Kwon: Das Groteske in Wilhelm Raabes Spätwerk Die Akten des Vogelsangs. Frankfurt a. M.: Lang 1999, S. 95.

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eine Gesellschaftskritik vermutet.406 Genauso wenig, wie Velten sich um die Erfüllung der gesellschaftlichen Normen kümmert, sorgt er sich um seinen guten Ruf in der Gesellschaft. Tatsächlich findet er auch „überall Leute, zu denen man paßt“,407 was gegen eine Isolation spricht.408 Veltens Existenz orientiert sich allein an seinen eigenen Werten, die sich aus der Negation bürgerlicher Werte, wie der Orientierung an Ansehen und materieller Unabhängigkeit, ergeben. Diese manifestieren sich in seiner Liebe zu Helene, die er für sich und seine Lebensweise zu gewinnen sucht.

4.4.2 Der Versuch der Weltüberwindung 4.4.2.1 Der Fall „Velten Andres contra Witwe Mungo“ Helene Trotzendorff wird in der Forschung unterschiedlich bewertet. Die Meinungen reichen von Helene als bloße „Staffage“409 der Geschichte hin zur Einschätzung, Helene wäre sogar die Hauptfigur des Romans.410 Sie wird zudem immer wieder moralisierend bewertet, sei es bei Pongs, der ihr Machtgier und Egoismus, im Vergleich zur deutlich günstiger bewerteten Leonie des Beaux unterstellt,411 oder Zeller, der sie als seelenlose Gegenfigur zum teuflischanziehungskräftigen Velten sieht.412 Dagegen steht beispielsweise Hartwig Schulz’ Meinung, der Helene als diejenige, die „die Ziele verwirklicht, die Raabe seinen Helden gesetzt hat“,413 bezeichnet. Viel erfährt man nicht über Helene, ausgenommen von den äußeren Umständen ihrer Kindheit, die sie mit Velten und Karl im Vogelsang verlebt. Ihre Bedeutung für Velten und seine Entwicklung sind hingegen gut dokumentiert. Helene scheint für Velten die gleiche Funktion innezuhaben, wie Velten für Karl. Die kindliche Wette auf dem Oster-

|| 406 Vgl. Günther Matschke: Isolation, S. 115–116. 407 BA 19, S. 290. 408 Wassermann weist darauf hin, dass Velten wegen seiner Suche nach Gleichgesinnten nicht so unabhängig ist, wie er vorgibt. Vgl. Felix M. Wassermann: Problem der bürgerlichen Existenz, S. 130. 409 Vgl. Horst Wischniewski: Zwang und Freiheit, S. 99. 410 Vgl. Frauke Berndt: Anamnesis, S. 369. Berndt geht in ihrer Deutung sogar so weit, in Karl einen von Helene geschmähten Liebhaber zu sehen, nimmt aber dabei die Anspielung des Romans auf Schillers Braut von Messina etwas zu wörtlich. Vgl. Frauke Berndt: Anamnesis, S. 370–374. 411 Vgl. Hermann Pongs: Wilhelm Raabe, S. 604–607. 412 Vgl. Christoph Zeller: Veltens Erbe, S. 117. 413 Hartwig Schulz: Werk- und Autorintention, S. 151.

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berg, „wer von [ihnen] beiden den festesten Griff habe und den andern zu sich holen werde“,414 bestimmt Veltens Leben. Die Metapher des Griffs, die schon ausschlaggebend für Karls Zerrissenheit zwischen dem väterlichen Vorbild und dem nichtbürgerlichen Einfluss des Freundes ist, wird hier nochmal wiederholt. Im Gegensatz zu Karls Faszination für Velten, zeigt dieser sich zwar gegenüber Helenes Welt des Kapitals unbeeindruckt, Helene in seine Welt zu integrieren wird ihm jedoch zum existenziellen Bedürfnis, um die Gültigkeit seiner eigenen Weltsicht zu beweisen. Helene Trotzendorff wird, wie Velten, im Hinblick auf das Bürgertum als Außenseitergestalt entworfen. Auch sie ist wie dieser, nach „bürgerlichen Begriffen, verlorengegangen […] in der Welt“.415 Helene kehrt als Kind mit ihrer Mutter nach Deutschland zurück, nachdem der Vater in Amerika das Vermögen verloren hat und vor der Rechtsverfolgung fliehen muss. In ungewohnt ärmlichen Verhältnissen in einer ihr fremden Welt fühlt sie sich von vornherein nicht dazugehörig. Dies liegt einerseits daran, dass ihre neuen, ärmlichen Verhältnisse in deutlichem Kontrast zu den gewohnten Lebensumständen der Trotzendorffs, die sich von einem vornehmen Leben im Reichtum verabschieden müssen, stehen: Die englische Madam auch. Die kann Deutsch, aber sie tut manchmal, als ob sie es vergessen habe. Die Kleine kann nur Englisch, das heißt Amerikanisch: die richtige Wilde! Und sie sind schauderhaft vornehm, das heißt eigentlich gewesen. […] Die Kleine hat den Teufel in den Augen und greinte, und auf gelbe Erbsen, dicke Bohnen, Steckrüben, Mohrrüben und sonst unser Futter scheint sie noch nicht recht eingerichtet zu sein. Sie hat eine Mohrin als Amme gehabt und Mohren als Bediente […]. (BA 19, S. 232)

Andererseits wird ihrem Vater, Charles Trotzendorff, von den bürgerlichen Vertretern als „Erzschwindler“416 bezeichnet, ein moralisches Defizit unterstellt, weswegen von seiner Familie Anpassung und Dankbarkeit hinsichtlich der moralisch besseren Umstände im Vogelsang erwartet wird: So zeigt sich Karls Vater empört darüber, dass Agathe Trotzendorff sich weiterhin für etwas Besseres hält und die Einhaltung ihrer „großartigen, früheren“417 Verhältnisse einfordert. Dass „sie sich in unsere Verhältnisse zu schicken habe und wir nicht in ihre“,418 will er ihr demnach noch deutlich machen. Zudem bedeuten Deutsch|| 414 BA 19, S. 291. 415 BA 19, S. 226. Wie weit Helene vom Bürgerlichen entfernt ist, erkennt man auch daran, dass Anna sie nicht versteht. Vgl. BA 19, S. 216. 416 BA 19, S. 225. 417 BA 19, S. 231. 418 BA 19, S. 230.

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land und die bürgerliche Gesellschaft für Helene eine völlig fremde Umgebung, was weiter dazu beiträgt, dass sie sich nicht zugehörig fühlt. Mit Velten verbindet Helene hingegen nahezu gleiche Bedingungen. Wegen der Abwesenheit des Vaters wird auch sie vorwiegend von Müttern erzogen. Da sich Agathe Trotzendorff jedoch im Vogelsang durch Lebensuntüchtigkeit auszeichnet,419 wird Helene größtenteils von Amalie Andres aufgezogen und beeinflusst. Die Muttererziehung – wie schon bei Velten – bereitet jedoch nicht auf ein bürgerliches Leben vor. Ohne „bessere Zucht und strengere Obhut“420 bleibt sie der bürgerlichen Welt der „goldenen Mittelmäßigkeit“421 fern. Statt sich an die Verhältnisse des Bürgertums anzupassen, wird Helene, zugunsten der Maßstäbe ihres vornehmen Lebens, in Reichtum und Überfluss erzogen: Und dann gar die verzogene Krabbe der entmündigungsreifen Amerikanerin aus dem Vogelsang! […] Diese „kleine Affe“, die einen selbst in diesen jungen Jahren zur Verzweiflung bringen konnte mit ihren angeborenen „Allüren“ und den aus allem, was nichtsnutzig im Leben war, zugelernten; gleichviel ob es mütterliche Erziehung, Modenzeitung, Leihbibliothekslektüre oder Herumtreiberei mit allen jungen Taugenichtsen des Vogelsangs in Wald und Feld hieß! (BA 19, S. 253)

Für Velten bedeutet Helene zunächst, durch ihre Herkunft aus der für ihn fantastischen Ferne Amerikas, Abenteuer, Abwechslung und die Hoffnung auf etwas Neues. Auf Amerika, und deshalb auch auf sie, projiziert er zahlreiche Vorbilder aus der abenteuerlichen Literatur:422 Aus den beiden dummen Engländerinnen, Cora und Alice, mache ich mir gar nichts, […] aber wenn diese Neue rot, grün, gelb und blau angemalt käme, wie Junitau im Pfadfinder, dann wär doch noch was, und mal was Neues, hier bei uns in der ewigen Langweilerei aus dem Kokon gekrochen. (BA 19, S. 231)

Auch später vergleicht er Helene noch schwärmerisch mit den „zwanzig amnisiadischen Nymphen […], die sich Artemis, wie Kallimachus singt, von ihrem Vater Zeus als Begleiterinnen ausgebeten hatte“.423 An Helene wird die Bedeutung der Modelle der Literatur für Velten deutlich:424 Durch die Projektion fantastischer Legenden auf die Wirklichkeit, erprobt er deren Gültigkeit in der Rea|| 419 Vgl. BA 19, S. 226 420 BA 19, S. 252. 421 BA 19, S. 263. 422 Vgl. BA 19, S. 227–231. 423 BA 19, S. 267. 424 Für eine Analyse einiger dieser Modelle, siehe: Rosemarie Haas: Zur Intertextualität, S. 113–117; Sven Meyer: Narreteien ins Nichts, S. 105–111.

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lität. Velten versucht mit Mythen die Welt zu erklären. Seine naive Übernahme der Modelle der Literatur für seine eigene Existenz kommt dem Versuch seiner Weltüberwindung zugute: Literatur dient ihm dabei als „ideales Mittel des Selbstverständnisses und der Selbstverwirklichung“.425 Sie wird zur Projektionsfläche seines Selbst. Ritchie Robertson weist in diesem Zusammenhang auf Veltens Parallelität zu Goethes Werther hin, der „ebenfalls die eigenen Gefühle ohne kritische Distanz in die Literatur […] hineinprojiziert“.426 Velten versucht zusätzlich, der Fantasie in der Wirklichkeit Gültigkeit zu verschaffen, indem er ihr Modell für seine Existenz uneingeschränkt umsetzt. Dass die literarischen Vorbilder letztendlich aber fremde Modelle sind und als solche zudem mit der Antike einer abgelebten Welt entspringen, lassen sie als Selbstentwürfe fragwürdig erscheinen. Dadurch, dass Velten seine Beziehung zu Helene nach den Modellen der Literatur gestaltet – bis zu seinem Tod halten beide an deren Vorbild fest427 – macht er sie zum Bestandteil seiner selbst.428 Die Frage nach ihrem Besitz wird dadurch auch eine Frage nach seiner Selbstbehauptung.429 Folgerichtig beeindruckt Velten an Helene ihre Wildheit und Unabhängigkeit, was sie als seine Seelenverwandte auszeichnet: So gehen Velten und Helene schon immer ihre eigenen Wege, im Gegensatz zu Karl, der „später einem verstohlenen Wink und Zeichen Veltens folgend“430 nachkommt. Und geht es nach dem Nachbar Hartleben, so passen die beiden, Velten und Helene, zusammen.431 Dass dies jedoch

|| 425 Ritchie Robertson: Raabe und Shakespeare. Zum Spiel mit Zitaten in Kloster Lugau, Die Akten des Vogelsangs und anderen Texten. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 54 (2013), S. 20. 426 Ritchie Robertson: Raabe und Shakespeare, S. 21. Auf diese Werther-Parallele verweist auch Gabriele Varo: Feindlichkeit, S. 49–51. 427 So stilisiert sich Helene an Veltens Totenbett als Elisabeth aus Goethes Epilog zum Trauerspiel Essex, vergleicht ihre Beziehung zu Kleopatra und Mark Anton und weist darauf hin, sie habe für Velten Literaturgeschichte getrieben. Vgl. BA 19, S. 402–403. Zur Deutung der Elisabeth-Szene, siehe auch: Joachim Müller: Das Zitat, S. 20–21. 428 Di Maio beschäftigt sich ebenfalls mit der Bedeutung von Literatur in Zusammenhang mit Velten und Helenes Beziehung. Während sie Veltens Faszination für Helene richtig in das literarisch tradierte Bild des exotisch-wilden Frauentypus einordnet, meint sie, darin eine männliche Unterdrückungserfahrung mit dem Ziel der weiblichen Zähmung zu sehen, vor der Helene in ihre Ehe mit Mungo fliehen müsse, um sich zu retten. Von der Heirat mit dem Millionär Mungo als „Notlösung“ erfährt man im Roman jedoch nichts – es scheint vielmehr so, als würde Helene bewusst und im Sinne ihrer Lebensweise den Weg des Kapitals einschlagen. Vgl. Irene S. Di Maio: Nochmals zu den Akten, S. 231–233. 429 Vgl. Beate Hansel: Die Liebesbeziehungen des Helden, S. 160. 430 BA 19, S. 254. 431 Vgl. BA 19, S. 236.

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mit dem Kommentar, sie würden einen „Haushalt mit Mord und Todschlag“432 gründen, verbunden wird, zeigt die Brüchigkeit ihrer Einigkeit. Denn während sich Velten ohne Einschränkungen mit dem Vogelsang identifiziert, träumt Helene weiterhin von einem besseren Leben. Die Hoffnung und der Wunsch, der Vater möge „reicher und vornehmer und stärker als alle hier“433 zurückkehren, prägen ihr Aufwachsen. Wie bedeutend diese Hoffnung für sie ist, zeigt ihr Wunsch in der Sternschnuppenszene, in der sie darum bittet, dass es „wieder so wird, wie [sie] es drüben gehabt ha[t] in Amerika als kleines Kind, ehe [sie] hier im Vogelsang ins Elend gebracht wurde“.434 Die Erfahrungen der Armut werden von ihr direkt mit dem Wunsch nach finanzieller und materieller Unabhängigkeit verbunden. Während Velten Unabhängigkeit von äußeren Bedingungen durch Individualität und Innerlichkeit sucht, erkennt Helene die Grenzen ihres jugendlichen Daseins im Mangel an Besitz. Armut und Besitzlosigkeit konfrontieren sie nicht nur mit der Erfahrung des Elends und des sozialen Abstiegs, sondern auch mit der Abhängigkeit von anderen.435 Reichtum und Besitz werden für sie so zu Garanten ihrer Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Damit ist zudem der Wunsch nach sozialem Aufstieg verbunden – jedoch nicht im Sinne der Krumhardts: Der kapitalistische Weg der Trotzendorffs misst die persönliche Bedeutung am individuellen Reichtum. Besitz ist oberstes Ziel: Dann können die Trotzendorffs „wieder auf den Vogelsang aus [ihrer] eigenen Kutsche heruntersehen“.436 Aus Sicht des Bürgertums wird Helenes Glaube an die Rückkehr des Vaters437 als Träumerei abgetan und sie als „verzauberte Prinzessin aus dem Märchenbuch“438 aus der Lebenswirklichkeit verbannt. Diese Erziehungsversuche werden im Besonderen durch Velten geäußert – Veltens Haltung gegen Helenes Träumereien ist immer wieder Streitpunkt zwischen den beiden.439 Ihre Beziehung ist von einem beiderseitigen Machtkampf geprägt,440 || 432 BA 19, S. 237. 433 BA 19, S. 243. 434 BA 19, S. 259. 435 Vgl. BA 19, S. 248. 436 BA 19, S. 237. 437 Vgl. BA 19, S. 256: „Und ich glaube doch an meinen Vater! Ihr mögt alle sagen, was ihr wollt. Ihr könnt die Nasen verziehen und rümpfen, ihr könnt den Kopf schütteln, und ihr könnt meiner Mama Sottisen sagen, wie ihr wollt: ich glaube ihr doch, meiner Mama! Ich glaube doch an meinen armen Vater, er mag sein, wie er will.“ 438 BA 19, S. 246. 439 Vgl. beispielsweise BA 19, S. 257: „Was kann der Vogelsang, meine Mutter und dein Vater, was – kann ich noch dazu tun, um in diesem Mücken-, dem Nachtschmetterlingshirnkasten Ordnung zu stiften.“ 440 Vgl. Sandra Krebs: Die Erzählbarkeit des Ich, S. 241.

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der die Frage enthält, welche Welt nun eigentlich Helene zum Besitz hat. Der Roman zeigt sich in Hinblick auf Helenes Zugehörigkeit ambivalent: Einerseits ist sie im Vogelsang auch zu Amalies Kind geworden und hat deren Erziehung und „guten“ Einfluss genossen,441 andererseits wird klar, dass sie in „eine andere Welt […] hineingehört von Vater und Mutter wegen“.442 Helene selbst hingegen empfindet den „Aufgang der Glückssonne von ‚Papa‘“443 als Selbstverwirklichung. Als Charles Trotzendorff als „zehnfacher Dollarmillionär“444 zurückkehrt und Frau und Kind mit sich nach Amerika mitnimmt, wird deutlich, dass dies der Erfüllung ihrer Identität nahekommt: „Wenn es sich da drüben in Amerika so weiterspielt, wie hier bei uns im Vogelsang, so kann es sich, sich, sich zu was bringen in der Welt“. Die dreimalige Erwähnung des Wortes „sich“ betont die Bedeutung dieser Entwicklung für Helenes Selbstverständnis. Was Velten ihr beweisen will, wenn er ihr „bis an der Welt Ende nachlaufen“445 will, nämlich, dass sie doch zum Vogelsang und ihm gehört, zeugt deshalb schon davon, dass er sie missversteht. Nachdem Helene mit ihrer Familie nach Amerika gezogen ist, beschließt Velten, sie zurückzuholen. Ihren Lebensweg vergleicht er mit dem Bild des Verkletterns: Der Ast da oben war es, Karlos! Da hatte sie sich verklettert, hing, klammerte sich an und kreischte. Ich schlafe ziemlich traumlos, aber meine Blamage von dem Tage kommt mir doch dann und wann immer noch nachts im Schlafe. Das war der meinige – mein Ast meine ich! Was durch Nachklettern und naturhistorisch als Wickelaffe zu leisten war, glaube ich möglich gemacht zu haben. Meine erste wirklich verlorene Lebensschlacht […]. Wißt ihr, Kinder, so ist der Mensch: diesen Baum und, was dran hing und hängt, werde ich bei keiner Lebens-Haupt- und Staatsaktion mehr los: es ist das erstemal gewesen, daß ich des Menschen Unzulänglichkeit auf dieser Erde auch an mir in die Erfahrung gebracht habe. (BA 19, S. 299–300)

Auch in Amerika „verklettert [Helene] sich noch einmal“446 – so empfindet es zumindest Velten – „und [er] muß ihr wiederum nach; es ist keine Hülfe und Abwehr dagegen“.447 Helenes Leben im Besitz steht in deutlichem Kontrast zu Veltens äußerlich unabhängiger, fantasie- und vergangenheitsbetonter Exis-

|| 441 Vgl. BA 19, S. 276. 442 BA 19, S. 249. 443 BA 19, S. 268. 444 BA 19, S. 270. 445 BA 19, S. 276. 446 BA 19, S. 301. 447 BA 19, S. 301.

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tenz. Dabei reagiert Helene aber letztendlich auf die Wirklichkeit ihrer Lebensumstände, während Velten „Herr in einem Reich, das leider auch nicht sehr von dieser Welt war“,448 bleibt. Um die Gültigkeit seiner Individualität angesichts des ökonomisch-kapitalistischen Fortschritts zu beweisen, muss Velten Helene in seine Welt integrieren. Dies ist die Mission seiner Weltüberwindung. In Zusammenhang hiermit hat bereits Folkerts darauf hingewiesen, dass dieser Rettungsversuch auch dem Vogelsang, der – geradezu symbolisch – vom Kapital zerstört wird, gilt.449 Da sich Helene jedoch nicht mit dem Vogelsang identifiziert, sondern ihre Selbstverwirklichung in der materiellen Unabhängigkeit erkennt, und der Vogelsang ohnehin schon im Begriff ist, aufgelöst zu werden, muss seine Welteroberung scheitern. Velten gelingt es nicht, Helene zu verstehen – ihre Selbstbehauptung und Unabhängigkeit, die er eigentlich so sehr für sich selbst beansprucht, missversteht er als Verkletterung,450 weil sie seinem Selbst widerspricht. Da Velten Helene jedoch als Teil seines Selbst begreift – ihre Beziehung wird als „intimes, schicksalhaftes Verhältnis“451 verstanden – muss er ihre Entscheidung für die Welt ihres Vaters als Abhängigkeit von ihren Eltern sehen, um seine sie miteinschließende Identität zu bewahren. Helene zu gewinnen, bedeutet für ihn auch sich selbst zu gewinnen. Helene entscheidet sich jedoch ein zweites Mal gegen Velten und gibt ihr erworbenes „Bürgerrecht“ im Vogelsang auf.452 Die erste Entscheidung fällt bei ihrem Abschied von Amalie, den Velten mit dem Johannesevangelium parallelisiert453 und deswegen als Wahl zwischen dem Leben im Kapital und dem Reich Gottes dargestellt wird.454 Für Velten gilt dies als Beweis für Helenes Verkletterung.455 In Amerika, obgleich sich Velten „eine Stellung in der dortigen Literatur

|| 448 BA 19, S. 261. 449 Folkerts deutet allerdings Veltens Auffassung vom Vogelsang als Mangelerfahrung und Beschränkung, kann aber nicht überzeugend erklären, warum der Gewinn Helenes die mütterliche Solidarität des Vogelsangs ohne die Erfahrung der Enge ermöglichen solle. Vgl. Gernot Folkerts: Besitz und Sicherheit, S. 104–109. 450 Vgl. hierzu auch Sandra Krebs: Die Erzählbarkeit des Ich, S. 240–241; Wilhelm Emrich: Personalität und Zivilisation, S. 18; William T. Webster: Wirklichkeit und Illusion, S. 183–185; Jeffrey L. Sammons: The fiction of the alternative community, S. 311. 451 William T. Webster: Illusion und Wirklichkeit, S. 179. 452 Vgl. BA 19, S. 220. 453 Vgl. BA 19, S. 277–279. 454 Vgl. Heinrich Detering: Theodizee, S. 219–220. Detering nutzt diese Parallele, um Velten als „Herrn“ des göttlichen Reichs zu stilisieren und christologisch zu deuten. 455 Dass Helenes Bezug zur Welt falsch ist, meint auch Franz Zwilgmeyer: Archetypische Bewusstseinsstufen, S. 109–110.

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gemacht“456 und die „Achtung eines ihrer Allergrößten dorten, nämlich was das Geld anbetrifft, zugezogen hat“,457 wählt Helene die auf ökonomischen Bedingungen gegründete Ehe mit dem Millionär Mungo. Sie selbst bekräftigt dies als ihre eigene Entscheidung: Wäre ich doch wie andere, die sich damit trösten können und es auch tun, daß sie verkauft worden seien, daß es von Vater und Mutter her sei, wenn sie gleich wie andere auf dem Markte der Welt eine Ware gewesen sind! Aber das wäre eine Lüge, und gelogen habe ich nie, und feige bin ich auch nicht, und wenn er was von mir wußte, war es das. Was ich geworden bin, ist aus mir selber, nicht von meiner armen Mutter her und noch weniger von meinem Vater. (BA 19, S. 401; Hervorhebung im Original)458

Da Velten Helene als einzig erstrebenswertes Ziel seiner Weltüberwindung setzt und ihr Besitz die wesentliche Frage seines Selbstentwurfs ist, muss ihn ihr Verlust umso härter treffen. Der Versuch, Helene ins eigene Lebensprinzip zu integrieren und sie für die – bereits verlorene – Welt des Vogelsangs zu gewinnen, scheitert. Er muss erkennen, dass „Mistreß Mungo nicht in das letzte Grün des Vogelsangs hineinpaßt[...]“.459 Helene, die er als wesentlichen Bestandteil seines Selbst versteht, gehört nicht zu ihm. Ihre Entscheidung für eine völlig gegensätzliche Existenz führt ihm dies vor Augen. Für Helene bedeutet der Vogelsang eben das Gegenteil zu Veltens Auffassung. Das Vorortidyll begreift sie nicht wie er als die Freiheitserfahrung der Vergangenheit und kindlichen Fantasie, sondern als die von ihr erfahrene Wirklichkeit der Armut und Abhängigkeit. Deshalb wird auch nach seinem Tod die Rückkehr in die Heimat von ihr als hinderlich empfunden, weil der Vogelsang eben das repräsentiert, was Velten und Helene trennt.460 Velten erfährt den Verlust Helenes als Selbstverlust. Daraufhin verliert er jegliche Hoffnungen und Illusionen bezüglich der Rettbarkeit seiner eigenen Existenz: Helenes Absage bedeutet für ihn die entscheidende und zwar nicht-

|| 456 BA 19, S. 320. 457 BA 19, S. 320. 458 Zeller nennt diesen Ausspruch Helenes unglaubwürdig und spricht ihrem Materialismus die Möglichkeit ab, zur Individualität zu gelangen. Helene erhebt jedoch Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu den Maximen ihres Lebens – diese sind für ihr Lebensziel aber nur über den Besitz erreichbar. Vgl. Christoph Zeller: Veltens Erbe, S. 103, 110–111. 459 BA 19, S. 347. 460 Vgl. BA 19, S. 405: „Auch die Berge und Täler der Heimat würden sich nur zwischen uns, zwischen Velten Andres und Helene Trotzendorff drängen.“

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bauliche Veränderung des Vogelsangs461 – nämlich hinsichtlich einer Wertverschiebung hin zur Bedeutungslosigkeit. Helene hat Velten klar gemacht, „was alles zu einem elenden Gut auf der wankenden Erde werden kann“:462 Es war um das Jahr siebenzehnhundertsiebenundsechzig und der größte Egoist der Literaturgeschichte also achtzehn Jahre alt, da er seinem Freunde Behrisch den Rat zusang: Sei gefühllos! Ein leichtbewegtes Herz Ist ein elend Gut Auf der wankenden Erde; Und er hat selber sein Leben in Poesie und Prosa danach eingerichtet, und es ist ihm wohl gelungen. Es war im Salon der Mrs. Trotzendorff, als mir beim zufälligen Blättern in allen möglichen Bilderbüchern jenes Wort des frühreifen Lebenshelden in Puder, Kniehose, seidenen Strümpfen und Schnallenschuhen in dem rechten Augenblick wieder vor die Augen kam. Unser Dämonium bedient sich viel öfter, als man merkt, solcher Mittelchen, um uns unter die Arme zu greifen, sowie auch um uns davor zu behüten, uns lächerlicher zu machen, als unbedingt zum Fortbestehen der Welt durch den Verkehr von Hans und Grete notwendig ist. Man kann auch von einem achtzehnjährigen Jungen was lernen, zumal wenn der Genius dem Bengel die Stirn berührt hat. […] ich habe an jenem, der alte Goethe würde sagen: bedeutenden Abend dem Papa Trotzendorff das Blatt aus seinem Renommiertischexemplar gerissen, es fein zusammengefaltet und in die Brusttasche geschoben. Manchen Leck in meinem Lebensschiff habe ich bis zum heutigen Tage damit zugestopft […]. (BA 19, S. 352–353)

Goethes Verse,463 die Velten ab jetzt zu seinem Lebensmodell erhebt und die von da an immer wieder in Variationen in das Erzählgefüge eingebunden werden, drücken die zerstörte Illusion seines Selbstentwurfs aus. Müller weist darauf hin, dass Goethes Verse die „Folie für Veltens Untergang“464 bilden. Sie stehen am Schnittpunkt von Veltens Aufgabe der Weltüberwindung und der völligen Zerstörung des Vogelsangs. Am Ende des Romans hat sie Velten sogar über sein Sterbebett geschrieben.465 Tatsächlich versteckt sich hier aber auch eine wesentliche Wendung in Veltens Charakter. War ihm bisher gleichgültig, sich zum

|| 461 Vgl. BA 19, S. 324: „Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß sich der Vogelsang so sehr für mich verändern könnte.“ 462 BA 19, S. 353. 463 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Oden an meinen Freund. In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 1: Der junge Goethe. 1757–1775. Hg. von Gerhard Sauder. München: Hanser 1985. S. 122–125. Mit dem leitmotivischen Gegensatz zum hoffnungsvollen Lied Leonies beschäftigt sich Jean Royer. Vgl. Jean Royer: Leonie des Beaux und ihr Lied: Von Südfrankreich nach Berlin. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 28 (1987), S. 243–255. 464 Joachim Müller: Das Zitat, S. 9. 465 Vgl. BA 19, S. 393.

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Narren zu machen, behüten ihn gerade die Verse davor, sich „lächerlicher zu machen, als unbedingt […] notwendig ist“.466 Seine vorgegebene Gefühllosigkeit steht demnach in Kontrast zur Bedeutung der Situation, in der er sie an sich nimmt, und seiner „übergroße[n] Sensibilität“.467 Dass er sie folglich zur Maxime seines künftigen Lebens erhebt, zeigt das Ausmaß seiner Desillusion, wird aber im Hinblick einer weiteren Thematik, die im Roman unter dem Motiv des Rollenspiels zusammengefasst ist, problematisiert. 4.4.2.2 Das Rollenspiel im Kontext der Eigentumsthematik Der Roman entwirft auf der Ebene von Veltens Unbedingtheit das Bild des Rollenspiels.468 Die gesellschaftliche Rolle umfasst dabei die Erwartung der Gesellschaft zu sozial-zweckmäßigem Handeln. Velten wendet sich im Besonderen gegen jegliche ihm aufgezwungene gesellschaftliche Rolle. Für die Mitglieder der Gesellschaft hingegen wird ihre Identität als „völliges Aufgehen in einer vom Wertsystem vorgegebenen Rolle“469 verstanden. Identität und Rolle sind so eng verschmolzen, dass die gesellschaftliche Funktion – ausgedrückt über den Beruf, gesellschaftliche Titel oder die Rolle als Familienvater bzw. Narr470 – die Bedingungen des Einzelnen bestimmt. So erfüllt Karl seine Rollen solide, erkennt aber auch, durch seine Auseinandersetzung mit Velten, das darunter liegende Spiel: Auf der Bühne des Lebens hört man eben nicht vor jedem Szenenwechsel die Klingel des Regisseurs. Man findet sich zwischen den gewechselten Kulissen und vor dem veränderten Hintergrund und verwundert sich gar nicht. Ob man sie gut oder schlecht spielt, seine Rolle ist jedem auf den Leib gewachsen und das jedesmalige Kostüm gleichfalls. Nur in seltenen stillen Augenblicken gelangt wohl ein und der andere dazu, sich vor die Stirn zu schlagen: „Ja, wie ist denn das eigentlich? War das sonst nicht anders um dich her und in dir? Wie kommst du zu allem diesem, und gehörst du wirklich hierher, und ist das nun Ernst oder Spaß, was du jetzt hier treibst oder treiben mußt? Und wem zuliebe und zum Nutzen?“ Das sind freilich sehr kuriose Gedankenstimmungen. Wie aus deinem unbekannten schauerlichen Draußen haucht das vor den Theaterlichtern einen fremd und kalt an, meistens, wenn die Bühne einmal um einen her leer geworden ist; aber dann und wann bei gefüllter Szene im Gewühl der Edlen, Ritter, Bürger, Damen des Hofes, der Mön-

|| 466 BA 19, S. 353. 467 Wilhelm Emrich: Personalität und Zivilisation, S. 9. 468 Für eine eingehende Analyse dieser Motivik im Roman, siehe: Dieter Arendt: Auf der Bühne des Welttheaters. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 24 (1983). 469 Wolfgang Preisendanz: Die Erzählstruktur, S. 222. 470 Velten wird aufgrund seiner Abweichung von den gesellschaftlichen Maximen die Rolle als Narr zuteil. Vgl. Michael Stoffels: Phantasie und Wirklichkeit, S. 106

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che, Herren und Frauen, Herolde, Beamten, Soldaten, kurz desganzen zu dem ewig wechselnden und ewig gleichen Schauspiel gehörenden Volksspiels. Und so rasch wie möglich fort damit! Dergleichen Nachdenken stört sehr bei der Durchführung der zugeteilten Rolle, bringt nur Stockungen hervor und ein verehrliches Publikum, von der Hofloge bis zu den höchsten Galerien, zu einem ironischen Lächeln, bedauernden Achselzucken, wiehernden Hohnlachen, Pfeifen und Zischen. Und mit vollem Recht! Es ist ein schweres Eintrittsgeld, das man für die Tragikomödie des Daseins zu erlegen hat. (BA 19, S. 333–334)

Das Rollenspiel wird als „providentielles Los aller Menschen“471 entworfen. Dahinter versteckt sich die Frage, ob die Rolle den Menschen ausmacht, oder sich „hinter der wechselnden Rolle und trügerischen Maske ein sich gleich bleibendes Wesen“472 verbirgt. Velten durchschaut dieses ewige Spiel als Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Festlegung auf eine einzige Rolle lehnt er schon im Hinblick auf die Fantasie, die er zur Maxime seines Lebensentwurfs erhebt, ab. Denn er wünscht, seine Wirklichkeit „nach seiner Phantasie [zu] gestalten und aktiv sich anzueignen und sich ihr nicht als einer vorgegebenen Größe gesellschaftlicher Verhältnisse auszuliefern“.473 Eine Festlegung durch die äußeren Bedingungen würde hingegen dem Individuum die Möglichkeit nehmen, über sich selbst zu verfügen,474 und der Negation seines unbedingten Freiheitswillens und seiner Unabhängigkeit entsprechen. Denn Velten setzt sich zum Ziel, „immer über den Dingen [zu] bleiben und möglichst wenig von ihnen haben [zu] wollen“.475 Velten beginnt die „Möglichkeiten selbstbestimmter Existenz im Rollenspiel“476 auszuloten und so der Rollenfixierung zu entkommen.477 Anstatt sich seinen gesellschaftlich aufgezwungenen Rollen – wie dem Narr – zu ergeben, macht er aus dem „Spaß […] bittere[n] Ernst“478 und spielt den

|| 471 Dieter Arendt: Auf der Bühne des Welttheaters, S. 24. 472 Dieter Arendt: Auf der Bühne des Welttheaters, S. 25. Vgl. auch Heinrich Detering: Theodizee, S. 213. Berndt hingegen verwirft die Frage nach dem Subjekt. Ihr Versuch, das Motiv des Theaters in die Erinnerungsthematik einzugliedern, scheitert jedoch an ihrem Entwurf, das Textverfahren als Zitat allegorischer Rede aufzufassen. Berndt gesteht Karl die Freiheit zu, seine Figuren in jeglichen neuen Konstellationen neu zu entwerfen und auch neu zu besetzen. Dazu müsste aber Karl viel zu sehr Konstrukteur seiner eigenen Erinnerung sein – dass er diese aber nicht unter Kontrolle hat, zeigt die Eigenmächtigkeit seines Schreibprojekts. Vgl. Frauke Berndt: Anamnesis, S. 330–340. 473 Michael Stoffels: Phantasie und Wirklichkeit, S. 106. 474 Vgl. Sandra Krebs: Die Erzählbarkeit des Ich, S. 241–242. 475 BA 19, S. 290. 476 Heinrich Detering: Theodizee, S. 213. 477 Vgl. Heinrich Detering: Theodizee, S. 214. 478 BA 19, S. 360.

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Schauspieler.479 Das Komödiespielen bestimmt fortan sein Leben480 und auch sein Tod steht unter dem Zeichen eines „Komödienschluß[es]“,481 bei dem Velten bis zuletzt nicht aus seiner Rolle fällt.482 So kann Velten immer neue Rollen ausloten und sich dadurch „seine[n] unterschiedlichen (Selbst-) Entwürfe[n] an[zu]nähern“.483 Dies ist auch der Grund, weshalb er für die Vertreter des Bürgerlichen, die ihre vorgegebenen Rollen erfüllen, nicht begreifbar ist. Was für die bürgerlichen Vertreter Ausdruck der Anpassung ist, verwendet Velten als Mittel, um sich selbst zu verwirklichen.484 Die Übernahme der Rolle des Schauspielers bedeutet dabei einerseits die Freiheit und aktive Gestaltung der eigenen Rolle, andererseits aber auch ein Leben in Illusion.485 Velten konstituiert sich selbst aus der Negation des Bürgerlichen, dem er den Künstler gegenüber stellt, der sich ständig in nicht festgeschriebenen Rollen erprobt. Aus dieser auf Negation begründeten Identität entsteht aber kein individuelles Selbst. Die Rollen, die aufgrund ihres ständigen Wechsels und ihrer Ambivalenz letztendlich nur die Negation des Bürgerlichen repräsentieren, stiften keine eigene Identität. Stattdessen wird Velten abstrakt, was nicht zuletzt daran erkennbar wird, dass die bürgerliche Welt ihn nicht begreift. Seine Künstlerexistenz wird aber gerade vor dem Hintergrund seines Scheiterns kritisch reflektiert. Da Velten nur vom Negierten, der Ablehnung des bürgerlichen Lebensentwurfs lebt, und dies keinen eigenen Inhalt und damit keine eigene Identität bietet, geht er daran kaputt. Denn obwohl Velten das zugrunde liegende Spiel durchschaut und versucht, es zu beeinflussen, bleibt er doch im Rollenspiel verhaftet. Die Negation des Bürgerlichen sowie die Grenzen des Spiels bestimmen weiterhin die Grenzen seiner Existenz. Auf diese Weise kann er sich nicht der äußeren Festlegung entziehen, da die Übernahme einer weiteren Rolle nur die Unabhängigkeit vom Welttheater von vornherein negiert. Das muss auch Velten erkennen, als er sein

|| 479 Vgl. Christoph Zeller: Zeichen des Bösen, S. 131. Für Detering tritt Velten aus seiner Rolle heraus und wird zum Regisseur – was dieser als Selbstvergottung des Subjekts deutet. Deterings einseitige, christologische Analyse übersieht jedoch die vielen diversen Selbstentwürfe Veltens, die hinter der reinen Bühnenregie zurückbleiben. Vgl. Heinrich Detering: Theodizee, S. 222. 480 Vgl. BA 19, S. 320. 481 BA 19, S. 216. 482 Vgl. BA 19, S. 216. 483 Sandra Krebs: Die Erzählbarkeit des Ich, S. 247. 484 Vgl. Michael Stoffels: Phantasie und Wirklichkeit, S. 110. 485 Vgl. BA 19, S. 302: „Auch die Illusion gehört eben zu den Mitteln, die Erde grün zu machen und schön zu erhalten, und dein närrischer Schulgenoß läßt nicht von seinen Illusionen, lieber Karl.“

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Ziel – Helene – nicht erreicht. Desillusioniert kehrt er heim, nur um der Mutter seine letzte Rolle vorzuspielen – diejenige des als siegreicher Weltüberwinder heimgekehrten Sohnes:486 Ich habe oft im Leben Komödie spielen müssen, vorzüglich in den letzten Jahren, und wie der Kaiser Augustus hätte ich mich meiner Begabung dafür wohl rühmen dürfen: jetzt und hier am Platze aber, dieser alten Frau gegenüber, fällt es mir schwer, das Wort vom Schlafen, Schlafen, dem Ausschlafenmüssen wie vor den anderen als Scherzwort, und um Fliegen – wollte ich sagen Narren abzuwehren, festzuhalten. Nein, nein, die Sonne ist ihr übergenug verbaut worden; das Licht, das ihr in ihrem stilltapfern, lieben, schönen Leben von mir ausgegangen ist, soll ihr nicht ausgehen, soweit das an mir liegt! Sie soll ihre Freude an mir behalten! (BA 19, S. 352)

Der Tod der Mutter bedeutet dann auch den Tod dieser Rolle. Karl gegenüber zeigt er sich „des Spiels überdrüssig“,487 will endgültig aus der Rollenhaftigkeit aussteigen, um die „Frage nach der wahren Person, nach dem Menschen“488 zu beantworten. Karl hingegen, der sich durch den Tod seines Freundes mit der Notwendigkeit des Spiels beschäftigt, erkennt trotz aller Schwierigkeiten, die seine Rolle mit sich bringt, deren Gültigkeit an: „Nun, Alter, noch nicht des Spiels überdrüssig?“ Da habe ich denn in dieser heutigen, kalten, farblosen Winternacht, mit den ewig von neuem sich aufhäufenden Aktenstößen um mich her, mit all den Enttäuschungen, Sorgen, Ärgernissen, die nicht nur das öffentliche Leben, sondern auch das Privatleben mit sich bringt, und im grimmen Kampf mit dem Überdruß, der Enttäuschung, der Langeweile und dem Ekel an der schleichenden Stunde, doch noch einmal ein „Nein!“ gesagt, dem stolz-ruhigen Schatten gegenüber, der so wesenhaft Velten Andres in meinem Dasein hieß. (BA 19, S. 345; Hervorhebung im Original)

Dass Veltens Versuch, über die Auflösung der Rolle zu seiner wahren Identität zu kommen, letztendlich zur Selbstdestruktion führt, negiert die Möglichkeit einer Identität außerhalb jeglicher Rollenbestimmung. Diese Alternativlosigkeit der bürgerlichen Rollenfixierung erkennt Karl und nimmt sie für sein Leben an. Veltens „weltüberwindende Lehre“489 vom nichtigen, überwindungsreifen Spiel wird hier deutlich durch Karls „Nein“ negiert. Aber auch Veltens folgende Entwicklung, gerade im Hinblick auf seine Gefühllosigkeit und die Eigentumsthe-

|| 486 Müller deutet dies als Versuch, die Mutter nicht wissen zu lassen, dass er es in der bürgerlichen Welt zu nichts gebracht hat. Dies ist aber, angesichts der Werte Amalies, die sich selbst nichts aus den bürgerlichen Begriffen macht, falsch. Vgl. Joachim Müller: Das Zitat, S. 8. 487 BA 19, S. 345. 488 Dieter Arendt: Auf der Bühne des Welttheaters, S. 25. 489 Wilhelm Emrich: Personalität und Zivilisation, S. 12.

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matik, zeigt die Brüchigkeit seiner Selbstentwürfe, durch die er zur unabhängigen Individualität gelangen soll. Velten zwingt sich selbst, unter Berufung auf Goethes Ode, gefühllos zu sein. Was ein Versuch, aus der Rollenbestimmung auszutreten, sein soll, ist jedoch letztendlich wieder ein fremdes Modell für seinen Selbstentwurf – auch der muss misslingen. Sammons weist darauf hin, dass Veltens Gefühllosigkeit nur eine Maske für sein „leichtbewegtes Herz“,490 d.h. seine Bindung an das, das er eigentlich negiert, ist, was durch Veltens Todesursache – „sein Herz hat nicht mehr gewollt“491 – bestätigt wird. Auch Karl äußert sich immer wieder zweifelhaft über die Wirklichkeit der Gefühlskälte des Freundes.492 Für Velten aber ist seine postulierte Gefühllosigkeit von vornherein – seit dem Verlust Helenes – selbstdestruktiv angelegt.493 Sein „Streben nach Weltflucht äußert sich in einer großen Müdigkeit“494 – er ist schlicht „lebensmüde“. Um sich von den letzten Bindungen an die Welt loszumachen, beginnt er, nach dem Tod der Mutter, deren Eigentum zu verbrennen. Durch den Verlust Helenes, die für ihn das einzig Erstrebenswerte war, erkennt er die Bedeutungslosigkeit des Festhaltens am Besitz. Hat er noch Amalie aufgetragen, den „letzten Hausgarten des Vogelsangs“495 zu bewahren, versteht er nun seine Bindungen daran als Illusionen – nämlich, dass man insbesondere kein Eigentum an der Welt hat.496 Das Vernichtungswerk wird mit der inneren Gefühllosigkeit gleichgesetzt: Ein äußerliches Aufräumen zu dem innerlichen, liebster Freund! Ein leichtbewegtes Herz und so weiter – wozu nützen uns die weisesten Aussprüche großer Lehrer, wenn man ihnen nichts weiter entnimmt als eine Stimmung für einen Augenblick? Ein Hinweis drauf, daß der Meister selber keinen Gebrauch von seinem Diktum gemacht habe, verschlägt nichts. Hat er sein leichtbewegtes Herz durch seine achtzig Jahre mit sich geschleppt, so ist das seine Sache gewesen […]. Soll deshalb kein anderer die Fäden abschneiden dürfen, die ihn mit dem Erdenballast verknüpfen? Ja, ich heize in diesem Winter mit meinem hiesigen Eigentum an der wohlgegründeten Erde, mit meinen Habseligkeiten aus dem Vogelsang. (BA 19, S. 370–371)

|| 490 Vgl. Jeffrey L. Sammons: The fiction of the alternative community, S. 304. 491 BA 19, S. 395. 492 Vgl. BA 19, S. 356–357. 493 Die Selbstdestruktion ist demnach nicht nur „tragische Eigendynamik“ seines Lebensentwurfs, sondern die Selbstabtötung ist bereits im Versuch der Gefühlskälte und Eigentumsvernichtung angelegt. Vgl. Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 98. 494 Sven Meyer: Narreteien ins Nichts, S. 102. 495 BA 19, S. 337. 496 Vgl. BA 19, S. 348.

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Veltens Vernichtung des Eigentums wird in der Forschung unter verschiedenen Aspekten gedeutet. Angesichts der Erinnerungsthematik des Romans sieht JanOliver Decker die Befreiung vom Materiellen als Versuch, sich der Erinnerung und der Macht der Vergangenheit zu entziehen.497 Andere Deutungen sehen darin den unbedingten Willen zur Selbstbehauptung,498 eine Verzweiflungstat hinsichtlich seiner Desillusion bezüglich Helene499 oder die Loslösung von der bürgerlichen Ordnung.500 Veltens Zerstörung seines Eigentums kann tatsächlich als weitere Emanzipation vom bürgerlichen Lebensweg betrachtet werden, greift er mit seiner eigentumsnegierenden Haltung ja schließlich direkt die bürgerliche Schicht an, die ihre Identität so vollkommen auf Besitz gründet. Sein „Autodafé“501 bedeutet letztendlich die materielle Vernichtung des Zugehörigkeitsbedürfnisses des Menschen zur Gesellschaft, weshalb diese Tat auch von den Vertretern des Bürgertums als derart bedrohlich und faszinierend aufgefasst wird. Indem er sich eigentumslos macht, verwirkt er für das Bürgertum auch sein letztes Recht auf eine bürgerliche Existenz, denn in der „bürgerliche[n] Gesellschaftstheorie [werden die] Eigentumslosen aus ihrem Kreise ausgeschlossen“.502 Velten selbst begreift das Erbe der Mutter jedoch nicht als sein Eigentum. Im Gegenteil repräsentiert es für ihn die bürgerliche Lebensweise, die er sein Leben lang für sich selbst negiert hat und versucht hat, loszuwerden. Die Verbrennung des Hausrats der Mutter ist nur ein weiterer Versuch, sich von seiner eigenen Bindung an das Negierte, erkennbar an der engen Beziehung zu seiner Mutter, loszulösen. Wie Karl sowohl bürgerlich als auch nichtbürgerlich ist, so ist dieser Widerspruch auch in Velten angelegt. Die Zerstörung der Bindung zur Mutter und damit das für sich selbst Negierte, bedeutet somit auch die Vernichtung eines Teils seiner eigenen Identität. Das Gelingen des Lebensentwurfs hängt bei den beiden Freunden Velten und Karl letztendlich davon ab, wie sehr sie den bürgerlichen Teil seines Selbst annehmen. Kann Karl am Ende seine nichtbürgerliche Seite in sein Leben integrieren, so fokussiert Velten sich auf die Vernichtung des abgelehnten, bürgerlichen Teils seiner Identität. Dass

|| 497 Vgl. Jan-Oliver Decker: Erinnern und Erzählen, S. 120. Eine ähnliche Meinung findet sich bei: Katharina Grätz: Musealer Historismus. Die Gegenwart des Vergangenen bei Stifter, Keller und Raabe. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2006, S. 482. 498 Vgl. Hubert Ohl: Der Bürger und das Unbedingte, S. 25. 499 Vgl. J. P. Stern: Idylls and realities. Studies in 19th century German Literature. London: Methuen 1971, S. 158. 500 Vgl. Peter Sprengel: Interieur und Eigentum, S. 127; Hartwig Schulz: Werk- und Autorintention, S. 149–150; Katharina Brundiek: Raabes Antworten auf Darwin, S. 77. 501 BA 19, S. 371. 502 Peter Sprengel: Interieur und Eigentum, S. 157.

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er dabei auch den letzten Rest des Vogelsangs, der für den nichtbürgerlichen Teil seiner Identität steht, der kapitalistischen Fabrik übergibt, ist nur die tragisch-ironische Konsequenz seiner Zerstörung. Denn, wie bereits im Rollenspiel vorweggenommen, bleibt Velten ohne die Bindung an das Abgelehnte inhaltslos, da der nichtbürgerliche Teil seines Selbst aufgrund der Konstitution durch die reine Negation keine Identität zulässt. Mit dem Lebensraum tötet Velten auch sich selbst. Dies ist zudem ein Eingeständnis, dass außerhalb der sozialen Ordnung keine Existenz möglich ist.503 Was Velten mit seiner Vernichtung des Eigentums erreichen will, ist die vollständige Abkehr von sozialen und gefühlsmäßigen Bindungen an die Welt. Als das Vernichtungswerk vorüber ist, steht er auch vor den Trümmern seiner Existenz – „eine Wiederherstellung der Ordnung ist unmöglich“.504 Die Gefühllosigkeit und die Zerstörung des mütterlichen Eigentums nach deren Tod dienen der Selbstabtötung. Dies negiert auch die Thesen, die Veltens Ablehnung jeglicher Rollen als Sieg und wahre Weltüberwindung,505 oder sogar im Sinne eines ethischen Kontexts sehen.506 Als er vor den Trümmern des Hauses im Vogelsang steht, begegnet er Herrn German Fell, dem Affendarsteller des angrenzenden Varieté-Theaters. Dieser erklärt, er habe Anteil am Zerstörungswerk genommen und „dann und wann mit Interesse ein Stündchen mit vor [dem] Ofen gesessen“.507 Veltens radikale Negation von Eigentum vergleicht er mit der Aufgabe des Menschseins: Velten wird „einer, der aus seiner Haut steigt, während die übrigen nur daraus fahren möchten“.508 Dass er im Folgenden Veltens Handeln mit der Metapher des Verkletterns verknüpft, erstaunt Velten jedoch: „Mit einem vom nächsten Ast mein Herr. Vom nächsten Ast im Baum Yggdrasil. Man kann sich auf mehr als eine Art und Weise dran und drin verklettern, mein Herr. Mit unseren Personalbezüglichkeiten dürfen wir uns wohl gegenseitig verschonen. Auf bürgerlich festen Boden hilft wohl keiner dem anderen wieder herunter; aber reichen wir uns wenigstens die Hände von Zweig zu Zweig. Mein Herr, ich danke Ihnen.“ Wofür er dankte, sagte er weiter nicht. Meine Frau hat es nie begriffen, ich aber habe mir auch nicht die vergebli-

|| 503 Vgl. Dirk Göttsche: Zeitreflexion, S. 98. 504 Son-Hyoung Kwon: Raabe als Schriftsteller des Grotesken, S. 88. 505 Grätz bemerkt, die Zerstörung des Eigentums biete Velten die Möglichkeit, sich selbst zu bewahren, indem er sich den anderen entzieht. Dass sich Karl und Helene nach seinem Tod jedoch seiner Erinnerung bemächtigen, negiert diese These. Vgl. Katharina Grätz: Musealer Historismus, S. 483. Vgl. auch Hans Schomerus: Salas y Gomez und die Rote Schanze. Von der Einsamkeit des Menschen. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 9 (1968), S. 47. 506 Vgl. Heinrich Detering: Theodizee, S. 221–222. 507 BA 19, S. 381. 508 BA 19, S. 381.

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che Mühe gegeben, es ihr begreiflich zu machen. Sonderbarerweise reichte auch unser Velten seine Hand nur wie mechanisch und ohne eigentlich genaues Verständnis der Sache her. Herr German Fell drückte sie ihm, ließ sie fallen, sah dem verkletterten Nachbar in der Weltesche mit dem ganzen melancholischen Schimpanseernst in das verdutzte Gesicht, schnurrte, sozusagen, ganz und gar wieder in seine Kunst, das Leben zu überwinden, hinab und folgte, runden Rückens, so sehr als möglich Vierhänder, den ThéâtreVariété-Genossen, die den halben Winter durch im Tivoli hinter meines Vaters Grundstücke auf Spukmeyers „seligem Grasgarten“ meinem Jugendfreunde die verständnisvollsten Nachbarn in Stadt und Vorstadt gewesen waren. (BA 19, S. 381–382; Hervorhebung im Original)

Veltens Verbindung mit dem Affendarsteller weist letztendlich nur in variierter Weise auf die Frage des Individuums hin. Das Irritierende an seinen Worten, die Velten bis zuletzt nicht losbekommt,509 ist daher zunächst, dass sie seine bisherigen Überzeugungen bezüglich seiner Beziehung zu Helene umkehrt und so die Einseitigkeit seiner Existenz betont. Denn durch die Loslösung von der bürgerlichen Rolle, die er durch die Negation von Gefühl und Besitz erreichen will, gelangt er nicht zur Individualität, sondern verklettert sich ins Unmenschliche: „Um ein festes Herz zu kriegen, hat er sich zu einem Tier, zu einem Hund gemacht“,510 sagt später die Fechtmeisterin über ihn. Velten ist daher kein Beispiel für gelungene Individuation,511 da sich seine menschliche Existenz letztendlich im Tierischen auflöst.512 Velten wird durch den Affendarsteller klar, dass sein Aus-der-Haut-fahren, seine „Distanzierung von menschlich-bürgerlichen Lebensformen […] nicht im mindesten eine echte Befreiung von den zugehörigen Werten und Anschauungen“513 garantiert. Durch den Akt des Verbrennens versucht Velten sich von den Bindungen an das Bürgerliche zu lösen und damit jenen Teil seiner Identität abzutöten, den er für sich ablehnt. Dies stellt sich durch die Begegnung mit dem Affendarsteller als trügerisch heraus, denn auch sein gleichfalls „verkletterter“ Bruder im Weltenbaum bleibt hinter der Rolle des Affendarstellers zurück. Auch dieser muss sich dem Rollenspiel hingeben, um „das Leben zu überwinden“ – eine Existenz außerhalb einer Rolle ist nicht mög|| 509 Vgl. BA 19, S. 383: „Mich und mein zitterndes, ihre Angst und ihre Tränen hinunterschluckendes Weibchen mochte er schon loswerden aus der Erinnerung an seinen letzten Abend zu Hause; aber Herrn German Fell nicht. Der blieb ihm drin.“ 510 BA 19, S. 400. 511 So sieht Sbarra in Veltens Ablehnung des Eigentums die Chance auf eine Erneuerung des Lebens, Meyer verwirklichtes absolutes Selbstsein. Vgl. Stefania Sbarra: Familienbegriffe, S. 44; Herman Meyer: Sonderling, S. 286. 512 Vgl. Franz Zwilgmeyer: Archetypische Bewusstseinsstufen, S. 115–116. 513 Peter Sprengel: Herr German Fell und seine Brüder. Darwinismus-Phantasien von Raabe bis Canetti. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 39 (1998), S. 15.

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lich.514 Dies zeigt sich auch darin, dass sich der Affenmensch als Philosoph zu erkennen gibt, der „einige Semester in Wittenberg studiert“515 hat. Im Gegensatz zu Velten löst er sich nicht auf der Suche nach dem wahren Menschen hinter der Maske auf, sondern spielt seine Rolle mit Ironie und dem Ernst, sich in seiner Freizeit mit „transzendentaler Menschenkunde“516 zu beschäftigen.517 Der Affendarsteller ist ein vorweggenommenes Symbol von Veltens Scheitern. In ihm wird die Verwandtschaft von Affe und Mensch deutlich,518 aber auch die Unzulänglichkeit und Lebensunfähigkeit einer derart „verkletterten“ Existenz. Denn der Affenmensch verweist auf die Vorzeitigkeit von Veltens Lebensprinzip.519 Angesichts des nunmehr zerstörten Vogelsangs und den zerstörten Illusionen Veltens wird jedoch nicht das Tierische als einzige noch mögliche Lebensform proklamiert,520 sondern eben als solche negiert. Veltens soziale Emanzipation führt ins Leere und kann deshalb nur als Scheitern, nicht als Selbstbehauptung und -verwirklichung gedeutet werden. Veltens Künstlerexistenz, die sich aus der Negation des Bürgerlichen ergibt, wird am Beispiel des Affendarstellers somit problematisiert, denn diese führt nicht zum wahren Menschsein, sondern letztendlich ins Inhaltslose, in die Leere. Nach dem Verbrennen des Hausrats und einigen Jahren, in denen er in der Welt herumreist, zieht Velten sich bei der Fechtmeisterin Feucht zurück, um „[t]odmüde von seinem Wege durch sein junges Leben“,521 „eigentumslos seinen Weg über die Erde [zu] beende[n]“.522 Seine „Eigentumsmüdigkeit“523 ist daher in der Tat selbstdestruktiv, denn letztendlich stirbt Velten nicht an einer Krankheit, sondern weil sein Herz nicht mehr will.524 Das Abtöten jeglichen Gefühls

|| 514 Im Gegensatz sieht Detering den Affendarsteller als Instanz, die das Rollenspiel als Regression entlarve, wodurch die Selbstzerstörung als einziger Ausweg erkannt werde. Vgl. Heinrich Detering: Theodizee, S. 215. 515 BA 19, S. 381. 516 BA 19, S. 381. 517 Vgl. Jeffrey L. Sammons: The fiction of the alternative community, S. 310. 518 Vgl. hierzu Eberhard Rohse: „Transzendentale Menschenkunde“ im Zeichen des Affen. Raabes literarische Antworten auf die Darwinismusdebatte des 19. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 29 (1988), S. 207–209. 519 Vgl. hierzu auch Dieter Kafitz: Figurenkonstellationen, S. 222–223; William T. Webster: Wirklichkeit und Illusion, S. 189–192; Katharina Brundiek: Raabes Antworten auf Darwin, S. 79. 520 Vgl. Wilhelm Emrich: Personalität und Zivilisation, S. 24. 521 BA 19, S. 392. 522 BA 19, S. 388. 523 Vgl. BA 19, S. 373. 524 Vgl. BA 19, S. 395.

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und der Bindungen an die Welt, macht ihn lebensunfähig. Das Diktum der Verse, gefühllos zu sein, erweist sich „als nicht vollziehbar, weil dies dem innersten Wesen Veltens widerspr[icht]“.525 Velten gelingt es demnach nicht, innere Freiheit und Unabhängigkeit zu erreichen.526 Dass sein Herz die Todesursache ist, negiert diese Bedeutung der Ode Goethes und lässt diesen Lebensentwurf Veltens scheitern. Sein Versuch, durch soziale Exklusion zum wahren Menschentum zu gelangen, führt ins Leere.527 Veltens Negation des Bürgerlichen ist aber auch eine Ablehnung eines Teils seiner selbst, da er dadurch „radikal […] alle lebhaften Kompromisse“528 negiert. Weil es in der vom wirtschaftlichen Fortschritt gekennzeichneten Welt aber nichts mehr gibt, außer die bürgerliche Lebensweise Karls und Leons, den monetären Aufstieg Helenes oder den Rückzug ins Kloster Leonies,529 und Velten all das für sich ablehnt, bleibt ihm nur noch der Tod. Allen Alternativen hat Velten mit der Zerstörung seines Eigentums und der Abwendung vom Rollenspiel entsagt. Seine Eigentumsmüdigkeit ist zugleich Lebensmüdigkeit.530 Genauso wie der Vogelsang von innen durch Velten zerstört wird, stirbt auch Velten von innen symbolisch durch sein Herz. Dass in seinem Sterbezimmer der „Druck der Materie schwerer denn je auf der Seele“531 lastet, deutet jedoch an, dass Veltens Abtötung seiner Bindungen an die Welt nicht gelungen ist. Die absolute Individualität, die durch die Negation alles Materiell-Äußerlichen entstehen soll, wird hier als Irrweg entlarvt. Denn das Materielle selbst ist existenziell, genauso wie es der Realität entspricht. Ohne „Eigentum auf und an der Erde“532 – an diesem Motto hält er bis zum Ende fest533 – bleibt Velten daher alternativlos nur der einsame, besitzlose Tod. Das erstaunliche an Veltens Tod, das diesen zum „Komödienschluß“534 macht, ist, dass er am Ende genau das erreicht, was er zum Zentrum seiner Weltüberwindung gemacht hat. Denn an seinem Sterbebett erfüllt er den Selbstentwurf, den er als Kind in der Sternschnuppennacht geäußert hat:

|| 525 Joachim Müller: Das Zitat, S. 12. 526 Vgl. Joachim Müller: Das Zitat, S. 15. 527 Vgl. Hubert Ohl: Der Bürger und das Unbedingte, S. 20–21. 528 Moritz Baßler: Figurationen, S. 77. 529 Dass diese Alternative nichts für Velten ist, sagt die Fechtmeisterin. Vgl. BA 19, S. 394. 530 Vgl. auch Veltens Müdigkeit in seinen letzten Monaten. BA 19, S. 392. 531 BA 19, S. 400. 532 BA 19, S. 394. 533 So berichtet die Fechtmeisterin, dass er bis zum Schluss „nichts mehr um sich haben“ wollte. BA 19, S. 399. 534 BA 19, S. 216.

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Das ist der Osterberg, auf dem wir, da wir noch Kinder waren, die Sternschnuppen, die Tränen des heiligen Laurentius, fallen sahen und es versuchten, bei jedem fallenden Funken einen Wunsch zu haben, um ihn in Erfüllung gehen sehen zu können. Einen Tod auf Salas y Gomez, das heißt einen einsamen Tod, aber – nach dem Wege und Siege des Welteroberers wünschte sich Velten Andres damals. Sein Wunsch ist ihm erfüllt worden! Er hat die Welt überwunden und ist mit sich allein gestorben. (BA 19, S. 296)

Der einsame Tod auf „Salaz y Gomez“, den Chamisso in seinem gleichnamigen Gedicht behandelt,535 und den Velten unter der Bedingung der Welteroberung zu seinem Lebensziel erklärt, erfüllt sich in seinem einsamen und besitzlosen Sterben. Durch seine Weltflucht in die Gefühl- und Eigentumslosigkeit sowie in die Einsamkeit verwirklicht Velten dieses letzte literarische Modell. Sein „Sieg[...] des Welteroberers“, von dem Karl spricht, zeugt jedoch nicht vom Erreichen wirklicher Freiheit,536 sondern gilt insbesondere Helene. Denn dass am Ende seines Lebens gerade sie an seinem Sterbebett sitzt, parallelisiert die literarische Vorgabe Chamissos, dessen Schiffbrüchiger nach seinem lebenslangen Aufenthalt auf der Insel von einem vorbeifahrenden Schiff und dessen Besatzung entdeckt wird, aber, indem er stirbt, seiner erhofften Rettung knapp entgeht. Gerade in seinem Tod gewinnt Velten Helene für sich, die sich jetzt, obwohl sie „die ganze weite Erde zum Eigentum ha[t] und nur die mit Gold gefüllte Hand hinzuhalten brauch[t], um [ihren] Willen zu haben“,537 eigentumslos fühlt: Wie konnte sie anders, die Witwe Mungo, da er sie nicht erwürgt und sie auch nicht angespieen hatte – da der arme Komödiant das elendeste Gut auf dieser Erde, das leichtbewegte Herz, trotz aller Reime eurer Poeten und aller Sprüche eurer Weisen in seiner Brust hatte behalten müssen, so süß und so bitter wie ich, die arme Komödiantin, das meinige, trotzdem daß ich mit dem Vogelsang und dem Osterberg auch unser liebes fürstliches Residenzschloß im Tal und die ganze Stadt und das halbe Herzogtum aus meinen amerikanischen Eisenbahnen und Silberbergwerken kaufen könnte?! Sein weises, törichtes Haupt in meiner leeren Hand – meiner leeren, leeren, besitzlosen Hand […]. (BA 19, S. 403)

Durch Veltens Tod wird Helene eine im „Alltag[...] Fremdgewordene“,538 die, obgleich sie den Geschäften des Lebens nicht entgehen kann, in der Bewahrung der Erinnerung an Velten ihr einziges Eigentum anerkennt.539 Ihr früheres Stre-

|| 535 Adelbert von Chamisso: Salas y Gomez. In: Ders.: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Hg. von Jost Perfahl. Bd. 1: Gedichte, Dramatisches. München: Winkler 1975, S. 468–470. 536 Vgl. Hans Schomerus: Salas y Gomez, S. 44. 537 BA 19, S. 401. 538 BA 19, S. 405. 539 Vgl. BA 19, S. 406.

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ben nach Besitz und Reichtum erscheint ihr angesichts des Verlustes des Geliebten als wertlos. Veltens Tod bedeutet auch das Ende ihrer Existenz. Dass Helene auf die Einigkeit Veltens und ihr Selbst anspielt, sieht man darin, dass sie gerade diejenige, die in ihrer Eigentumslosigkeit eine Gemeinsamkeit mit Veltens Existenz aufweist, eifersüchtig von sich stößt:540 Leonie, die im Kloster jeglichem Eigentum entsagt, spricht Helene jegliches Wissen über diese Form von Eigentum ab: Was wußte eure weiche, fromme Leonie von ihm und mir? Deine liebe Frau zu Hause, in deinem lieben Hause, Karl, könnte da vielleicht noch mehr von uns wissen, denn die lebt nicht allein im Traum, sondern hat dich und ihre Kinder und nicht bloß die Geschichte ihrer Väter von vor Jahrhunderten und ihr Reich Gottes von heute. Was hatte diese Fromme, Milde, Sanfte sich zwischen mich und ihn zu drängen? Was wollte sie hier? Ich, ich, ich die Witwe Mungo hatte allein das Recht, in diesem leeren Raum mit ihm den Kampf bis zum Ende zu ringen. (BA 19, S. 402)

Auch Helene spielt in dieser Szene als „arme Komödiantin“541 nach dem Vorbild literarischer Muster: Sie gestaltet ihre Beziehung zu Velten nach „Paar[en] aus euren Büchern“542 und stilisiert sich zur Elisabeth, „die ihrem Liebesten den Kopf abschlagen mußte“543 – weil Helene dies jedoch nicht kann, ihm „nur die Hand drunterlegen“544 darf. Die Gemeinsamkeit dieser literarischen Modelle ist, dass sie die Zusammengehörigkeit Veltens und Helenes verdeutlichen. Indem Helene Velten zu ihrem „einzige[n] Eigentum für alle Zeit“545 erklärt und ihn von der Verfügbarkeit durch andere ausschließt,546 bemächtigt sie sich seiner und macht ihn zum Teil ihres Selbst, ihrer Identität. Dass sie sich zudem als seine „Erbnehmerin“547 ausweist, bedeutet die Einwilligung in sein Lebensprinzip, was letztendlich Veltens Gewinn Helenes im Sinne seiner Weltüberwindung darstellt. Diese Form von Eigentum und Erbe ist jedoch brüchig, weil sie zukunftslos ist, was einerseits durch das hohe Alter der Fechtmeisterin, die Veltens Sterbekammer bewachen soll,548 andererseits durch Annas Verweis auf die

|| 540 Vgl. Jean Royer: Leonie des Beaux, S. 246. 541 BA 19, S. 403. 542 BA 19, S. 403. 543 BA 19, S. 403. 544 BA 19, S. 403. 545 BA 19, S. 405. 546 Vgl. BA 19, S. 305: „So mein Eigentum, daß auch niemand mit mir nur darüber reden soll.“ 547 BA 19, S. 213. 548 Vgl. BA 19, S. 406.

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Kinderlosigkeit Helenes ausgedrückt wird.549 Helenes Eigentum, ob materiell oder immateriell, wird nicht weitergegeben, was im Kontext der Eigentumsthematik des Romans jeglichem Sinn von Eigentum widerspricht. Helenes Stilisierung zur Erbnehmerin Veltens bleibt letztendlich sinnlos – es „ändert an ihr und an der Welt nichts“.550

|| 549 Vgl. BA 19, S. 408. 550 BA 19, S. 408.

5 Das Individuum innerhalb gesellschaftlicher Grenzen Ziel dieser Arbeit war es, den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft bei Raabe anhand dreier Romane aus der mittleren und späten Schaffensperiode herauszuarbeiten. Dabei wurde insbesondere von der Konvergenz sowie der gegenseitigen Bedingung dieser Begriffe ausgegangen. So sind es zunächst die gesellschaftlich verorteten und erfolgreichen Individuen, die hinsichtlich ihrer sozial angepassten Existenz betrachtet wurden. Für die Konstitution einer spezifisch gesellschaftlichen Identität ergibt sich dabei ein ambivalentes Bild: Fällt es in Abu Telfan den gesellschaftlichen Vertretern noch vergleichsweise leicht, eine bürgerliche Identität aufzubauen, wird in den späteren Romanen der Fokus auf eine deutlich tiefer liegende Problematik bürgerlichen Selbstverständnisses gelegt. So scheinen in Abu Telfan die bürgerlichen Vertreter bisweilen als ironische Karikatur spießbürgerlicher Einstellungen und im Falle des Familienrats sogar gesamtgesellschaftlicher Institutionen. Gesellschaftskritik wird hier zwar ironisch im Vergleich der heimatlichen Philister mit den afrikanischen Bedingungen hervorgebracht, im Laufe des Romans wird die bürgerliche Gesellschaft aber harmloser, erstrebenswerter und moralisch besserungsfähiger als die adelige Führungsschicht der Residenz gedeutet. Da sich in Abu Telfan also gerade die bürgerliche Gesellschaft offener für die Bewahrung eigener, innerer Werte und Ansichten zeigt, ist es für ausgeschlossene und bisweilen gesellschaftskritische Figuren einfacher zu vergesellschafteten Individuen zu werden, als in den späteren Werken. Zwar werden hier weiterhin Teile der bürgerlichen Gesellschaft und die auf reine Normerfüllung hinweisenden Institutionen wie Erziehung oder Bildung kritisiert, dies geschieht jedoch nicht allein durch von der Gesellschaft ausgeschlossene Einzelne. Die bürgerlichen Vertreter, Eduard und Karl – sowie gerade in den Akten des Vogelsangs weite Kreise der Gesellschaft – werden den vom Bürgerlichen ausgeschlossenen Figuren entgegengesetzt. Eine bedingungslose Konstitution bürgerlichen Selbstverständnisses wird im Hinblick auf das somit in die bürgerliche Sphäre eindringende Ausgeschlossene zunehmend problematisiert. In Stopfkuchen empfindet Eduard seine eigene Existenz gegenläufig zur bürgerlichen Lebensweise. Konfrontiert mit dem von der Gesellschaft isoliert lebenden Schulfreund Stopfkuchen, wird ihm das eigene Philistertum und zudem die Unmöglichkeit einer von der bürgerlichen Sphäre unabhängigen Entwicklung deutlich gemacht. Zwar versteht Eduard die bürgerliche Lebensweise als eng, dass er aber selbst im fernen Afrika keine davon unabhängige Existenz führen kann, verdeutlicht, wie

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tief die gesellschaftlichen Denk- und Wertesysteme in den Individuen verankert sind. Eine für das Individuum unproblematische gesellschaftliche Existenz kann demnach nur existieren, solange sie in der Illusion individueller Selbstbestimmung besteht. In den Akten des Vogelsangs hingegen vereint Karl Krumhardt bereits von klein an bürgerliche und nichtbürgerliche Denkweisen. Gelingt der soziale Aufstieg nach dem Vorbild des bürgerlichen Vaters ohne Probleme, wird Karls Auseinandersetzung mit dem Einfluss des nichtbürgerlichen Freundes Velten Andres auf seine eigene Existenz zur Gefahr für seine bürgerliche Identität. Karl beginnt die Grundlagen seiner gesellschaftlichen Existenz zu hinterfragen, und zwar so weit, dass ihm die Verfügungsgewalt über die eigene Identität entgleitet – versinnbildlicht am Scheitern des Schreibprojekts. Die Problematisierung bürgerlichen Selbstverständnisses erreicht in den Akten des Vogelsangs ihren Höhepunkt. Erst indem Karl die Relevanz der nichtbürgerlichen Einflüsse für sein Leben unter dem bürgerlichen Begriff des Eigentums vereint, macht er seine eigene Biografie wieder für sich verfügbar. Diese Integration der nichtbürgerlichen Problematik in die bürgerliche Lebenssphäre weist zudem in die Zukunft, da sie explizit als Erbe der Kinder ausgewiesen wird. Sowohl für die bürgerlichen als auch die nichtbürgerlichen Figuren erweist sich die Frage nach der Möglichkeit einer gesellschaftlich unabhängigen Identität als die zentrale Problematik, wobei eine solche Entwicklung von allen drei Romanen negiert wird. Für die Synthese beider, bürgerlicher wie nichtbürgerlicher Sphären, zeigt sich dabei Abu Telfan noch am optimistischsten. So kann Leonhard nach dem Vorbild des Vetters Wassertreter seine innere Freiheit und Werte bewahren, während er äußerlich die gesellschaftlichen Normen erfüllt. Obwohl Leonhard seine individuellen Werte bewahren kann, zeigt sich seine Entwicklung doch von den äußeren gesellschaftlichen Begebenheiten beeinflusst. So entwickelt er im Laufe des Romans keine rein gesellschaftskritische Position, sondern empfindet sogar das bürgerliche Leben und seine Werte als erstrebenswert. Hier zeigt sich gerade die bürgerliche Gesellschaft im Gegensatz zur adeligen Führungsschicht freier. Sie gibt dem Einzelnen nur äußere Vorgaben zur Anpassung und gewährt ihm unter der Bedingung, dass diese erfüllt werden, individuelle Selbstbestimmung und ein – für Leonhard erstrebenswertes – Leben in Ruhe und Behaglichkeit. Dagegen stehen jedoch die weiblichen Figuren, die selbst ohne gesellschaftliche Fehltritte gleich mit ihren Männern aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Während den Männern die Möglichkeit gegeben wird vor gesellschaftlicher Ächtung und – im Falle des Barons von Glimmern – sogar vor rechtlicher Strafverfolgung zu fliehen, werden die Frauen in den gesellschaftsfreien Raum verbannt. Hier zeigt sich der Roman

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jedoch bezüglich der Konstitution einer gesellschaftlich unabhängigen Identität desillusioniert. Die auf Dauer gesellschaftlich Ausgeschlossenen werden unter dem Bild des Todes zusammengefasst, eine Existenz jenseits gesellschaftlicher Bedingungen ist unmöglich. In Stopfkuchen existiert zunehmend keine Trennung mehr zwischen gesellschaftlichen und ausgeschlossenen Sphären. Selbst Stopfkuchen, der sich als unabhängig von den sozialen Gegebenheiten zeigt, erweist sich letztendlich als von ihnen beeinflusst. So erfüllt er, zurückgezogen auf der Roten Schanze, jegliche Bedingungen sozialen Seins, die er unter dem Mantel gelungener Individuation präsentiert. Zwar beweist seine Kritik an den sozialen Begebenheiten, dass er deren Problematik erkennt, seine Isolation hiervon hat jedoch nicht allein gesellschaftskritischen Wert, sondern wird notwendig für die Aufrechterhaltung der Illusion seiner individuellen Selbstbehauptung. In den Akten des Vogelsangs begegnet man mit Velten Andres, der in seiner radikalen Abweisung sozialer Normen und Werte das aus dem bürgerlichen Ausgeschlossene repräsentiert, einem Individuum, das durch seine absolute Innerlichkeit und Subjektivität der auf funktionale Zusammenhänge ausgerichteten gesellschaftlichen Welt entgegengesetzt ist. Velten erhebt eine radikale Unabhängigkeit und Freiheit von gesellschaftlichen Bedingungen zur Maxime seiner Identität. Seine enge Bindung an die Fantasie und die Vergangenheit erweisen sich jedoch in einer vom Fortschritt bestimmten Welt als zu lebensfern. Es gelingt ihm nicht, die modernen, zunehmend ökonomisierten Werte des Fortschritts, verkörpert durch seine Jugendliebe Helene Trotzendorff, in seine Welt zu integrieren – jegliche für ihn gesetzte Selbstentwürfe scheitern an ihrer Gültigkeit in der Wirklichkeit. Was folgt, ist die radikale Abwendung vom Leben: Indem Velten sowohl seine äußere Existenz zerstört als auch seine inneren Gefühle abtötet, zerstört er sein Selbst. Dies ist zugleich eine Absage an die Möglichkeit einer von der Gesellschaft unabhängigen Existenz. Denn außerhalb sozial-funktionaler Rollen existieren keine noch lebbaren Selbstentwürfe. Zusammen mit dem Vogelsang, der Veltens Nichtbürgerlichkeit repräsentiert, geht auch der an seiner radikalen Innerlichkeit zugrunde gehende Einzelne unter. Die Alternativlosigkeit des Fortschritts wird auch an der Entwicklung der anderen Figuren, wie der des Beaux, gezeigt. Während sich der Lebensweg des weltfremden Träumers Leon als bürgerliche Normalbiografie herausstellt, bleibt seiner Schwester Leonie nur der Rückzug ins Kloster, um ihre lebensferne Existenz zu bewahren. Für die Problematik von Individuum und Gesellschaft ergibt sich somit ein ambivalentes Bild. Raabe verweist in seiner Beschreibung gesellschaftlicher Zustände auf die zeitgenössische Wirklichkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Während die Gesellschaft dabei durchaus kritisch bewertet wird, werden

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auch Kategorien ihrer Daseinsberechtigung besprochen. Gerade die vergesellschafteten Charaktere, obgleich sie die bürgerliche Enge erfahren, verweisen auf die Gültigkeit sozialer Gegebenheiten. Das Individuum ist nicht individuell, weil es sich unabhängig von der Gesellschaft entwickelt – es wird vielmehr ebenfalls durch die Realität gesellschaftlicher Wert- und Denksysteme beeinflusst. Dies gilt sowohl für die vergesellschafteten, als auch für die devianten Individuen. Diese devianten Individuen fungieren dabei als Spiegelbild sozial angepasster Persönlichkeiten. Während ihre Nichtangepasstheit durchaus gesellschaftskritische Dimension erreicht, bewegen sich ihre Möglichkeiten der Selbstbestimmung nur innerhalb der Grenzen des bürgerlich-gesellschaftlichen Seins.

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Index Abels, Heinz 15f., 29 Arendt, Dieter 43, 50f., 54, 108ff., 256f., 259 Bae, Jeong-Hee 108, 111ff., 117, 121f., 142ff., 154, 175f. Bahrdt, Hans Paul 16f. Bal, Karol 128 Baßler, Moritz 215, 265 Bausinger, Hermann 19, 47f., 51, 110, 197, 206 Becker, Howard S. 21 Becker, Sabrina 118, 154f., 171, 174, 177, 180, 218, 244 Berndt, Frauke 196, 247, 257 Beutin, Wolfgang 40 Bird, Stephanie 130f. Bitterli, Urs 25ff., 74 Bockenheimer, Eva 153 Borgards, Roland 138, 171 Brenner, Peter J. 30, 37, 65, 87, 93 Brewester, Philip J. 114, 116, 122ff. Bröhan, Margrit 40, 54, 79, 88, 97 Brundiek, Katharina 103ff., 261, 264 Budde, Gunilla-Friederike 50 Chamisso, Adelbert von 214, 266 Charlier, Robert 26, 28 Clyde, Monica D. 116 Coenen, F. E. 209 Corkhill, Alan 80, 88, 91, 168f. David, Claude 129 Decker, Jan-Oliver 214, 261 Derks, Paul 121f., 136, 144, 146, 149, 160, 179 Detering, Heinrich 103, 137ff., 142, 190, 243, 253, 257f., 262, 264 Detroy, Peter 124, 160, 174f. Di Maio, Irene S. 224, 250 Drummer, Almut 214 Dunu, Elias Onwuatudo 65, 68, 93 Eiden-Offe, Patrick 184 Eisele, Ulf 121, 160 Emrich, Wilhelm 213, 215, 253, 256, 259, 264

https://doi.org/10.1515/9783110670684-007

Folkerts, Gernot 185, 191f., 235ff., 239, 253 Frühwald, Wolfgang 174 Fuchs-Heinritz, Werner 14f., 37 Fügen, Hans Norbert 12 Gans, Eduard 135 Garber, Klaus 116, 119 Geisler, Eberhard 190, 231 Geßner, Salomon 119 Giegerich, Wolfgang 243 Gisi, Lucas Marco 41 Goethe, Johann Wolfgang von 159, 255 Göttsche, Dirk 5, 7, 28, 36f., 39ff., 47, 65, 70ff., 76f., 82f., 85, 93, 99, 190, 214, 221, 235, 243, 260, 262 Graf, Johannes 123, 138f., 173 Grätz, Katharina 102f., 105f., 162, 164, 174, 261f. Gretz, Daniela 28, 31f., 47, 76 Guardini, Romano 136, 172, 176 Haas, Rosemarie 235, 249 Hahn, Walter L. 210 Hajek, Siegfried 108 Hamann, Christof 32, 64 Hampl, Ingeborg 221, 223 Hansel, Beate 194, 196, 224, 250 Haslé, Maurice 158, 166 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 14, 128ff., 153, 185f. Heldt, Uwe 8f., 85, 94, 164, 175, 178f. Hell, Julia 116ff., 121ff., 146, 160, 168, 175, 177f., 180f. Helmers, Hermann 3f., 7f., 46, 48, 55, 57, 68, 72f., 88f., 93, 118, 139f., 153, 155, 166, 178, 196, 198, 235 Herrmann, Britta 192, 217 Hettling, Manfred 13f., 18, 20f., 28, 44, 196, 242 Heuer, Renate 6, 65, 85, 144, 151, 162 Heydebrand, Renate von 11 Hillebrand, Anne-Katrin 203f., 229, 233 Hirsch, Walter 45, 47, 68, 87 Hobbes, Thomas 135

286 | Index

Hoffmann, Stefan-Ludwig 13f. Hoppe, Else 64 Höse, Karl 127 Hotz, Karl 8, 43, 242 Huber, Martin 12 Hüning, Dieter 128ff. Hüttemann, Andreas 135 Illmer, Sandra 42, 93 Jolles, Charlotte 229 Jückstock-Kießling, Nathali 212, 216f., 219 Kafitz, Dieter 3f., 124, 144, 160, 179, 222, 243, 264 Kaiser, Nancy A. 210 Kindermann, Manfred 197, 199, 201, 215, 218, 222, 235, 237f. Kluger, Karin 8f., 81, 93f., 110, 116, 118f., 184, 189, 239, 242 Kocka, Jürgen 16, 18f., 114 Kokora, Michel 30, 32, 35f., 38, 62, 107, 174, 178 König, Alexandra 14ff., 29, 37 Koselleck, Reinhart 12f., 17ff., 51, 151 Krebs, Sandra 212, 214, 216, 241, 251, 253, 257f. Krobb, Florian 229ff. Kwisinski, Gunnar 123 Kwon, Son-Hyoung 227, 246, 262 Landfester, Ulrike 132 Lauer, Gerhard 12 Lehrer, Mark 104 Leibfried, Erwin 25 Lepsius, M. Rainer 16, 19, 47 Liebrand, Claudia 139, 175ff. Limlei, Michael 124f. Luhmann, Niklas 41f. Lukács, Georg 3f. Martini, Fritz 143, 160, 170 Matschke, Günther 6, 33, 37, 48, 52f., 60, 62, 64f., 73f., 78, 85f., 93, 97, 109, 139, 144, 160ff., 166, 171, 209f., 247 Mayer, Gerhart 2, 39, 128, 156, 170, 243 Mayer, Hans 1

Meyer, Herman 4f., 108, 112, 114, 124, 155, 160, 172f., 176, 212, 228, 244, 263 Meyer, Sven 243f., 249, 260 Meyer-Krentler, Eckhardt 8, 123, 182, 217, 219f., 223, 228 Mohnkern, Ansgar 187f. Montesquieu, Charles-Louis 25 Müller, Christian 37f., 66, 77f., 85ff. Müller, Joachim 2f., 8f., 222, 240, 242, 250, 255, 259, 265 Neumeyer, Harald 108ff., 143 Nida-Rümelin, Julian 135 Nietzsche, Friedrich 43 Nipperdey, Thomas 39 Oberdieck, Wilhelm 66f., 160 Ohl, Hubert 7f., 113ff., 119ff., 123f., 139, 142, 154, 160, 213, 217, 223, 243, 261, 265 Pascal, Roy 112 Paßmann, Uwe 25ff., 33, 47, 74 Patrut, Iulia-Karin 5 Platen, August von 123 Pongs, Hermann 196, 247 Preisendanz, Wolfgang 215, 219, 222, 256 Przylebski, Andrzej 153 Radcliffe, Stanley 4ff., 55, 82, 107, 161, 166ff., 178 Reif, Heinz 55ff., 78 Ringel, Karl Jürgen 9 Robertson, Ritchie 250 Roebling, Irmgard 185, 237f., 243f. Rohse, Eberhard 264 Rousseau, Jean-Jacques 26 Royer, Jean 255, 267 Sammons, Jeffrey L. 113ff., 124, 176, 209, 222, 235, 243, 253, 260, 264 Sander, Volkmar 126 Sauerlander, Anne Marie 209 Saul, Nicholas 102 Sbarra, Stefania 187, 196, 220, 263 Schäfers, Bernhard 16, 20, 48 Schiller, Friedrich 27 Schlich, Jutta 9

Index | 287

Schmid-Stotz, Regina 124, 243 Schomerus, Hans 262, 266 Schönert, Jörg 12, 127 Schrader, Hans-Jürgen 45 Schulz, Andreas 12, 18, 33, 51, 88, 151f., 155f., 165 Schulz, Hartwig 198, 247, 261 Siemann, Wolfram 45, 72f. Simon, Ralf 106, 139 Sprengel, Peter 117, 187f., 190, 231, 236, 261, 263 Stadler, Christian 190f., 206, 209 Stein, Gerd 50, 108 Stern, J. P. 261 Stockhorst, Stefanie 126 Stoffels, Michael 116, 119, 126, 143, 147, 149, 174, 176, 191, 217, 221, 244f., 256ff. Struck, Wolfgang 121, 168f. Tucker, Brian 102, 118, 121

Varo, Gabriele 3, 68, 93, 112, 139, 153, 176, 180, 196, 198, 235ff., 250 Voltaire 25ff. Warnke, Gisela 147 Wassermann, Felix M. 8, 196, 247 Webster, William T. 2, 5, 36f., 112f., 121, 166, 174f., 181, 188, 218, 225, 239, 253, 264 Wehler, Hans-Ulrich 12f., 17, 21, 34, 39, 51, 151, 186, 196, 204f., 242, 245 Weißhaupt, Winfried 25, 32, 34, 74 Weniger, Erich 4 Wierlacher, Alois 25 Wirschem, Karin 155 Wischniewski, Horst 198, 201, 235, 243, 247 Wünsch, Marianne 186f., 193 Zeller, Christoph 190, 207, 215, 219, 243, 247, 254, 258 Zwicker, Lisa Fetheringill 203 Zwilgmeyer, Franz 208, 222, 243, 253, 263