Individuum und Gesellschaft: Sozialisationstheorien und Sozialisationsforschung [Reprint 2015 ed.] 9783486794908, 9783486244366

Das Studienbuch greift drängende Probleme auf. Erziehungsfragen werden zunehmend brisant, Schulprobleme wachsen, die Sit

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German Pages 328 Year 2000

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Table of contents :
Vorwort
Gliederung
1. Einleitung
1.1 Was ist überhaupt „Sozialisation“?
1.2 Theoretische Ansätze zur Erklärung von Sozialisation
1.3 Aufbau des Studienbuches
2. Individuum und Gesellschaft als Pole von Sozialisationsprozessen
2.1 Individuum
2.1.1 Von Person zu Persönlichkeit
2.1.2 Individualisierung als Projekt der Moderne
2.1.3 Persönlichkeitspsychologische Ansätze: Identität und Selbstkonzept
2.1.4 Studienpraktische Hinweise
2.2 Gesellschaft
2.2.1 Gesellschaftstheorien
2.2.2 Die feinen Unterschiede - soziale Milieus und Lebensführung
2.2.3 Studienpraktische Hinweise
3. Sozialisation zwischen Individuum und Gesellschaft
3.1 Lerntheorien: Vom Behaviorismus zum subjektwissenschaftlichen Ansatz
3.1.1 Klassisches Konditionieren
3.1.2 Operantes Konditionieren
3.1.3 Lernen am Modell
3.1.4 Holzkamps subjektwissenschaftliche Grundlegung von Lernen
3.1.5 Sozialisation von Geschlecht in lerntheoretischer Sicht
3.1.6 Zusammenfassende Einschätzung der Lemtheorien als Sozialisationstheorien
3.1.7 Studienpraktische Hinweise
3.2 Vom Strukturfunktionalismus zur Systemtheorie
3.2.1 Talcott Parsons Strukturfunktionalismus
3.2.2 Systemtheorie von Niklas Luhmann
3.2.3 Zusammenfassende Einschätzung der system-theoretischen Sozialisationstheorien
3.2.4 Studienpraktische Hinweise
3.3 Interaktionstheorien 13
3.3.1 George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft
3.3.2 Jürgen Habermas: Kommunikatives Handeln und Ich-Identität
3.3.3 Zusammenfassende Einschätzung der Interaktionstheorien als Sozialisationstheorien
3.3.4 Studienpraktische Hinweise
4. Lebensführung als Sozialisationskonzept
4.1 Tätigkeit und Persönlichkeit
4.1.1 Tätigkeitspsychologie
4.1.2 Kritische Psychologie
4.1.3 Studienpraktische Hinweise
4.2 Ökologische Sozialisationsforschung
4.2.1 Der Lebensraum des Großstadtkindes
4.2.2 Ökologie menschlicher Entwicklung
4.2.3 Sozialisation in ökologischer Perspektive
4.2.4 Studienpraktische Hinweise
4.3 Habitus und Lebensführung
4.3.1 Sozialisation und Kapital
4.3.2 Männliche Herrschaft - Bourdieus Analyse des Geschlechterverhältnisses
4.3.3 Studienpraktische Hinweise
4.4 Sozialisation in alltäglicher Lebensführung
5. Empirische Sozialisationsforschung
5.1 Längsschnittstudien als empirische Erfassung von Sozialisation
5.1.1 Entwicklungspsychologie der Adoleszenz in der Moderne
5.1.2 Studienpraktische Hinweise
5.2. Biographieforschung als Zugang zu Sozialisationsprozessen
5.2.1 „Vielleicht bin ich heute noch ein Nazi“
5.2.2 Schulerfahrungen in autobiographischen Materialien
5.2.3 Studienpraktische Hinweise
5.3 Lebensführung - Milieubiographien
5.3.1 Habitus-Metamorphose
5.3.2 Studienpraktische Hinweise
6. Gewalt an Schulen - wie weit helfen sozialisationstheoretische Erkenntnisse bei der Lösung von Praxisproblemen?
6.1 Soziale Milieus und Gewalt - Beitrag der Schule
6.2 Geschlecht und Gewalt - eine klare Täter-Opfer-Beziehung?
6.3 Verträge als geeignetes Sozialisationsmittel zur Prävention von Gewalt?
6.4 Studienpraktische Hinweise
Literatur
Verzeichnis der Abbildungen
Sach- und Personenregister
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Individuum und Gesellschaft: Sozialisationstheorien und Sozialisationsforschung [Reprint 2015 ed.]
 9783486794908, 9783486244366

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Individuum und Gesellschaft Sozialisationstheorien und Soziaüsationsforschung

Von

Prof. Dr. Hannelore Faulstich-Wieland Universität Hamburg

R. Oldenbourg Verlag München Wien

Für Peter, Michael und Stefan

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Faulstich-Wieland, Hannelore: Individuum und Gesellschaft : Sozialisationstheorien und Sozialisationsforschung / Hannelore Faulstich-Wieland. - München ; Wien : Oldenbourg, 2000 (Hand- und Lehrbücher der Pädagogik) ISBN 3-486-24436-1

© 2000 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0, Internet: http://www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Druck: Grafik + Druck, München Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe Binderei GmbH ISBN 3-486-24436-1

Vorwort

3

Vorwort Sozialisationsforschung erlebt derzeit einen neuen Aufschwung Erziehungsfragen werden zunehmend brisant, Schulprobleme wachsen, die Situation der Jugend wird problematisch. Die Suche nach den Ursachen wird drängender. Insofern kommt dieses Studienbuch zur rechten Zeit heraus, weil es versucht, diese Probleme aufzugreifen und Hinweise für Antworten zu geben. Ob dieses gelungen ist, wird sich zeigen. Eine erste Fassung des Manuskriptes habe ich mit einem Seminar am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg im Sommersemester 1999 bearbeitet. Mit den Studierenden habe ich auch die Frage besprochen, wie man studienpraktische Hinweise anlegen sollte. Ihre einheitliche Ablehnung von „didaktischen Fragen" am Ende eines Kapitels - die einem nur „ein schlechtes Gewissen" machen würden - und ihr Wunsch, lieber weiterführende Literaturangaben zu erhalten, habe ich aufgegriffen und die jeweiligen Kapitel in dieser Form gestaltet. Ich hoffe, vor allem den Studierenden der Erziehungswissenschaft angehenden Lehrerinnen und Lehrern wie den „Hauptfachstudierenden" der Bildungswissenschaft, aber auch der Psychologie und Soziologie - einen Einblick in wissenschaftliche Entwicklungen beim Verständnis des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft zu geben. Es werden also alte Probleme in neuer Perspektive aufgegriffen. Absicht ist gleichzeitig zu zeigen, in welchem Verhältnis wissenschaftliche Theorie und praktisches Handeln im Bildungswesen stehen.

Gliederung

5

Gliederung Vorwort

IV

Gliederung

V

1.

Einleitung

8

1.1 1.2 1.3

Was ist überhaupt „Sozialisation"? Theoretische Ansätze zur Erklärung von Sozialisation Aufbau des Studienbuches

10 15 21

2.

Individuum und Gesellschaft als Pole von Sozialisationsprozessen

23

2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3

2.2.3

Individuum Von Person zu Persönlichkeit Individualisierung als Projekt der Moderne Persönlichkeitspsychologische Ansätze: Identität und Selbstkonzept Studienpraktische Hinweise Gesellschaft Gesellschaftstheorien Die feinen Unterschiede - soziale Milieus und Lebensführung Studienpraktische Hinweise

3.

Sozialisation zwischen Individuum und Gesellschaft

3.1

Lerntheorien: Vom Behaviorismus zum subjektwissenschaftlichen Ansatz 74 Klassisches Konditionieren 75 Operantes Konditionieren 82 Lernen am Modell 87 Holzkamps subjektwissenschaftliche Grundlegung von Lernen 92 Sozialisation von Geschlecht in lern theoretischer Sicht 110 Zusammenfassende Einschätzung der Lerntheorien als Sozialisationstheorien 111 Studienpraktische Hinweise 113

2.1.4 2.2 2.2.1 2.2.2

3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7

23 24 34 38 50 51 55 59 72

74

6

Gliederung

3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3

Vom Strukturfunktionalismus zur Systemtheorie 115 Talcott Parsons Strukturfunktionalismus 116 Systemtheorie von Niklas Luhmann 127 Zusammenfassende Einschätzung der system-theoretischen Sozialisationstheorien 135 Studienpraktische Hinweise 136 Interaktionstheorien 138 George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft 138 Jürgen Habermas: Kommunikatives Handeln und IchIdentität 147 Zusammenfassende Einschätzung der Interaktionstheorien als Sozialisationstheorien 152 Studienpraktische Hinweise 153

3.2.4 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 4. 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4

Lebensführung als Sozialisationskonzept Tätigkeit und Persönlichkeit Tätigkeitspsychologie Kritische Psychologie Studienpraktische Hinweise Ökologische Sozialisationsforschung Der Lebensraum des Großstadtkindes Ökologie menschlicher Entwicklung Sozialisation in ökologischer Perspektive Studienpraktische Hinweise Habitus und Lebensführung Sozialisation und Kapital Männliche Herrschaft - Bourdieus Analyse des Geschlechterverhältnisses Studienpraktische Hinweise Sozialisation in alltäglicher Lebensführung

157 167 167 170 178 180 181 187 192 202 204 207 213 221 223

Gliederung

5. 5.1 5.1.1 5.1.2 5.2. 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.3 5.3.1 5.3.2 6.

6.1 6.2 6.3 6.4

Empirische Sozialisationsforschung Längsschnittstudien als empirische Erfassung von Sozialisation Entwicklungspsychologie der Adoleszenz in der Moderne Studienpraktische Hinweise Biographieforschung als Zugang zu Sozialisationsprozessen „Vielleicht bin ich heute noch ein Nazi" Schulerfahrungen in autobiographischen Materialien Studienpraktische Hinweise Lebensführung - Milieubiographien Habitus-Metamorphose Studienpraktische Hinweise

7

227 230 230 248 249 251 255 266 267 267 274

Gewalt an Schulen - wie weit helfen sozialisationstheoretische Erkenntnisse bei der Lösung von Praxisproblemen? 275 Soziale Milieus und Gewalt - Beitrag der Schule 276 Geschlecht und Gewalt - eine klare Täter-OpferBeziehung? 281 Verträge als geeignetes Sozialisationsmittel zur Prävention von Gewalt? 287 Studienpraktische Hinweise 290

Literatur

294

Verzeichnis der Abbildungen

319

Sach- und Personenregister

321

8

1.

Einleitung

Einleitung

In diesem Studienbuch soll der Versuch gemacht werden, sowohl relevante „Basistheorien" vorzustellen als auch ein dem heutigen Stand der Sozialisationsdebatte entsprechendes Konzept zu entwickeln. Dazu muss zunächst einmal erörtert werden, was unter Sozialisation überhaupt zu verstehen ist und welche theoretischen Ansätze es gibt. Der Begriff „Sozialisation" ist keineswegs neu: Dieter Geulen verweist auf seine erstmalige Erwähnung im Oxford Dictionary for the English Language aus dem Jahr 1828, wo er erläutert wird mit „to render social, to make fit for living in society" (Geulen 1991, S. 21). Als eigenes „gesellschaftswissenschaftliches" Thema wurde Sozialisation um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert bedeutsam. In der Bundesrepublik Deutschland finden wir erste ausführlichere Bearbeitungen von „Sozialisationsfragen" in den 60er Jahren. Die sich etablierende Soziologie, repräsentiert durch die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, richtete 1961 einen Fachausschuss für Familien- und Jugendsoziologie ein, der sich des Themas Sozialisation annahm, zum einen, „weil der Vorgang der Sozialisation eine zentrale Bedeutung für die Familien- wie die Jugendforschung besitzt, und zum anderen, weil beim Vergleich der zahlreichen Wissenschaften, die sich mit Familien- und Jugendforschung befassen, die Notwendigkeit der Klärung und gegenseitiger Abstimmung grundlegender Begriffe sich als besonders dringlich erwies" (Wurzbacher 1963, S. V). Der bis dahin mehrfach - z.B. von Ralf Dahrendorf (1967) oder von Peter Hofstätter (19673)- verwendete Terminus „Sozialisierung" hatte bereits zu Irritationen und Missverständnissen geführt (Wurzbacher 1963, S. 30). Der Arbeitskreis bemühte sich deshalb mit Tagungen und Veröffentlichungen um Klärung der Begriffe: 1963 erschien der von Gerhard Wurzbacher Professor für Soziologie und Sozialanthropologie, damals an der Universität Kiel - herausgegebene Band „Der Mensch als soziales und personales Wesen. Beiträge zu Begriff und Theorie der Sozialisation". 1966 folgte als Band II „Schule und Beruf als Sozialisati-

Einleitung

9

onsfaktoren" mit Theodor Scharmann als Herausgeber. Die Bezeichnung „Der Mensch als soziales und personales Wesen" war nun zum Reihentitel geworden. 1968 schließlich gab wiederum Gerhard Wurzbacher - nunmehr Professor an der Universität ErlangenNürnberg - den dritten Band „Die Familie als Sozialisationsfaktor" heraus 1 . Dieter Geulen ordnet diese Anfänge als Versuche, „den Topos Sozialisation als solchen einzuführen und seine Relevanz und seinen wissenschaftlichen Status zu demonstrieren" (Geulen 1991, S. 36). Sie bildeten eine erste Phase der Rezeption und Entwicklung der Sozialisationsforschung, seien jedoch kaum mit einem einheitlichen theoretischen Bezugsrahmen versehen. Als zweite Phase - beginnend etwa ab 1965 - lässt sich die Entwicklung einer „schichtenspezifischen Sozialisation" charakterisieren, vor allem durch systematisches Sammeln und Strukturieren von empirischem Material. Die Phase drei stellt für Geulen die - vor allem im Zusammenhang mit der Studentenbewegung - entstandene „praktische" Anwendung dar, die mit erheblichen Vereinfachungen einher geht. Allerdings scheint es verkürzt, dies nur als Ansatz der Studentenbewegung zu sehen. Es lässt sich vielmehr ein sehr klarer Zusammenhang zwischen der Entwicklung und Nutzung von Sozialisationstheorien und der Begründung und Realisierung von Bildungsreformen aufweisen (vgl. Faulstich/Faulstich-Wieland 1975). Phase vier ist in Geulens Darstellung der Versuch einer „Reszientifizierung" 2 , die auch einhergeht mit einer eigenständigen empirischen Entwicklung und einem Boom an Veröffentlichungen. Die Herausgabe des „Handbuchs der Sozialisationsforschung" von Klaus Hurrelmann und Dieter Ulich 1980 - mit zweiter Auflage 1982 und Stu-

1 Trotz der sehr systematischen Aufarbeitungen der theoretischen und empirischen Erkenntnisse setzten sich diese Bände nicht als Grundlagen der Sozialisationsdebatten durch. So wird der von Scharmann herausgegebene Band z.B. im „Neuen Handbuch der Sozialisationsforschung" gar nicht erwähnt. 2 D.h. einer Wiedergewinnung von Wissenschaftlichkeit.

10

Einleitung

dienausgabe 1985 - mag einen gewissen Abschluss dieser Entwicklung darstellen. Dies zeigt sich einerseits an einer gewissen Stagnation bei den Publikationen bzw. an neuen Ansätzen, zum anderen an „Krisendiskussionen", die Sozialisationstheorien als nicht mehr weiter entwickelbar ansehen (vgl. Bilden 1991). Vor allem die unter dem Begriff „Kindheitsforschung" entstandene Gründung einer Arbeitsgruppe in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie setzte sich ausdrücklich von der sozialisationstheoretischen Perspektive ab (vgl. die kritische Darstellung dieser Debatte bei Zinnecker 1996). Neben der Kritik an der Anpassungslastigkeit von Sozialisationstheorien wurde auch bemängelt, dass Kinder nur im Blick auf ihr späteres Erwachsensein, nicht aber bereits als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft gesehen würden (vgl. Kelle/ Breidenstein 1996). Michael-Sebastian Honig, Hans Rudolf Leu und Ursula Nissen sehen allerdings die Verbindung zwischen beiden theoretischen Ansätzen in der „Alterszugehörigkeit als sozialem Sachverhalt" (Honig/Leu/Nissen 1996, S. 21). Insofern bildet sich - als fünfte Phase - ein neuer Ansatz für die Erarbeitung von Sozialisationsprozessen und -bedingungen heraus. Es wird nicht mehr die Absage an den Sozialisationsbegriff, sondern quasi eine Neubelebung der Sozialisationsdiskussion versucht, in die sich auch die vorliegende Einführung einreiht.

1.1

Was ist überhaupt „Sozialisation"?

Was versteht man überhaupt unter Sozialisation? In der allgemeinsten Bestimmung geht es dabei um den Prozess des Menschwerdens. Allerdings ist in einer solchen Definition bereits eine bestimmte Sichtweise vom Menschen impliziert, nämlich ihn als Individuum und als Persönlichkeit, d.h. als soziales und gesellschaftliches Wesen zu begreifen. Menschwerden interessiert hier nicht als Ausdifferenzierung von Zellen, nicht als Wachstum des Körpers, sondern wie Klaus Hurrelmann und Dieter Ulich im „Neuen Handbuch der Sozialisationsforschung" schreiben, geht es um das „Mitglied-Werden in einer Gesellschaft" (Hurrelmann/ Ulich 1991, S. 6). Oder anders

Einleitung

11

formuliert: „Die Problematisierung des Mitgliedwerdens konstituiert sozialisationstheoretische Fragestellungen" (ebd.). Damit ist die ganze Spannbreite des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft aufgeworfen. Was jedoch in einer solchen Formel so einfach scheint, ist in Wirklichkeit hochkomplex: Schon auf der Seite des Individuums finden sich unterschiedliche Möglichkeiten der Definition, Beschreibung und theoretischen Bestimmung. So charakterisiert Gordon Allport 50 Ansätze zur Fassung von Persönlichkeit. Aber auch auf der Seite der Gesellschaft haben wir es keineswegs mit einem einfachen Block zu tun. Je nachdem ob man von einer Klassengesellschaft ausgeht oder gesellschaftliche Schichten unterscheidet, ob man von Kulturen oder Subkulturen spricht, oder ob man postmodern nur noch Agglomerate1 von Individuen sieht, bietet sich uns jeweils ein anderes Bild. Schließlich ist auch der Prozess mit der Klärung der beiden Pole noch nicht zugleich mit bestimmt. Wird das Individuum geprägt, lernt es, passt es sich an, eignet es sich Gesellschaft an? Noch komplizierter: Ab wann ist es Mitglied und wie verhält es sich dann zu Noch-Nicht-Mitgliedern? Sozialisationstheorien sollten in der Lage sein, solche Zusammenhänge zu klären - oder andere Definitionen anzubieten. Barbara Dippelhofer-Stiem charakterisiert als Minimalkonsens sozialisationstheoretischer Überlegungen, dass sie sich „im weitesten Sinne auf jene Bedingungen und Prozesse (beziehen), durch die der Mensch zu einem gesellschaftsfähigen Subjekt wird" (DippelhoferStiem 1995, S. 58). Die Transaktionalität (vgl. Kap. 4.2) ist dabei das entscheidende Problem, das sich der theoretischen Bearbeitung stellt. Sie grenzt Sozialisation deshalb sowohl von Erziehung wie auch von Entwicklung ab: Erziehung ist intentional, planvoll, Entwicklungsprozesse unterstützend und insofern Teil des Sozialisationsgeschehens. Dieses ist aber „übergreifender und umfasst alle Formen des Austauschs zwischen Mensch und Umwelt, also auch jene jenseits der interakti' Lateinisch „Zusammengeballtes"

12

Einleitung

ven Verhältnisse zu anderen Menschen, Transaktionen mit räumlichen Gegebenheiten etwa" (ebd., S. 61). Entwicklung bezieht sich nach Dippelhofer-Stiem mehr auf das Individuum, indem nach den interindividuellen Gesetzmäßigkeiten von Entwicklungsabläufen gefragt wird. Sozialisation richtet das Augenmerk dagegen auf die „Schnittstelle von Person und Gesellschaft" (ebd.). Hans Rudolf Leu bestimmt als sozialisationstheoretische Kernfrage: Wie ist es möglich, „dass Individuen im Laufe ihres Lebens ihre Besonderheit und Eigenständigkeit entfalten und sich dabei zugleich auch an gesellschaftlichen Gegebenheiten und Vorgaben orientieren" {Leu 1997, S. 6)? Die Beantwortung dieser Frage kommt nicht „ohne normative Vorstellungen von Grundstrukturen einer gelungenen Vermittlung von Eigenständigkeit und Integration" aus (ebd.). Berücksichtigt man die genannten Bestimmungsversuche von Sozialisation, so lassen sich als Anforderungen an Sozialisationstheorien folgende festhalten: • Klärung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, • Berücksichtigung der Tatsache von Freiheit menschlichen Handelns, • Unterschiede in der Entwicklung der Individuen zu erklären, • den historischen Aspekt von Individualität zu berücksichtigen, • die biographischen Prozesse hinter den Persönlichkeiten zu verstehen, • Entfaltungsmöglichkeiten von Persönlichkeit in Gesellschaft zu klären, • Möglichkeiten von Bildung auszuloten. In den einzelnen Kapiteln dieses Studienbuchs soll entsprechend dieser Kriterien aufgezeigt werden, welche Antworten die unterschiedlichen Theorien gefunden haben. Vorab wird an zwei Gedichten aus unterschiedlichen historischen Epochen verdeutlicht, wie sich das Mitglied-Werden und Mitglied-Sein historisch verändert:

Einleitung

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Anna Louisa Karsch (1722-1791) 1

Belloisens Lebenslauf Ich ward geboren ohne feierliche Bitte Des Kirchspiels ohne Priesterflehn Hab ich in strohbedeckter Hütte Das erste Tageslicht gesehn, Wuchs unter Lämmerchen und Tauben Und Ziegen bis ins fünfte Jahr, Und lernt' an einen Schöpfer glauben, Weil's Morgenroth so lieblich war, So grün der Wald, so bunt die Wiesen, So klar und silberschön der Bach. Die Lerche sang für Belloisen, Und Belloise sang ihr nach. Die Nachtigall in Elsensträuchen Erhub ihr süßes Lied, und ich Wünscht' ihr im Tone schon zu gleichen. Hier fand ein alter Vetter mich Und sagte: du sollst mit mir gehen. Ich ging und lernte bald bei ihm Die Bücher lesen und verstehen, Die unsern Sinn zum Himmel ziehn. Vier Sommer und vier Winter flogen Zu sehr beflügelt uns vorbei; Des Vetters Arm ward ich entzogen Zu einer Bruderwiege neu. Als ich den Bruder groß getragen, Trieb ich drei Rinder auf die Flur, Und pries in meinen Hirtentagen Vergnügt die Schönheit der Natur, Ward früh ins Ehejoch gespannet, Trugs zweimal nach einander schwer, und hätte mich wol nichts ermannet, Wenn's nicht den Musen eigen wär, Im Unglück und in bittern Stunden Dem beizustehn, der ihre Huld Vor der Geburt schon hat empfunden. Sie gaben mir Muth und Geduld, Und lehreten mich Lieder dichten, 1

aus: Hildegard Borchers (Hg.): Deutsche Gedichte. Von Hildegard von Bingen bis Ingeborg Bachmann. Suhrkamp Verlag Frankfurt/Main 1987, S. 58f.

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Einleitung Mit kleinen Kindern auf dem Schooß. Bei Weib- und Magd- und Mutterpflichten, Bei manchem Kummer, schwer und groß, Sang ich den König und die Schlachten, Die Ihm und seiner Heldenschaar Unsterblichgrüne Kränze brachten, Und hatte noch manch saures Jahr, Eh frei von andrer Pflichten Drang Mir Tage wurden zu Gesang! Marie Luise Kaschnitz1 Interview Wenn er kommt, der Besucher, Der Neugierige und dich fragt, Dann bekenne ihm, dass du keine Briefmarken sammelst, Keine farbigen Aufnahmen machst, Keine Kakteen züchtest. Dass du kein Haus hast, Keinen Fernsehapparat, Keine Zimmerlinde. Dass du nicht weißt, Warum du dich hinsetzt und schreibst, Dass du den Sinn deines Lebens immer noch nicht Herausgefunden hast, obwohl du schon alt bist. Dass du geliebt hast, aber unzureichend, Dass du gekämpft hast, aber mit zaghaften Armen. Dass du an vielen Orten zuhause warst, Aber ein Heimatrecht hast an keinem. Dass du dich nach dem Tode sehnst und ihn fürchtest. Dass du kein Beispiel geben kannst als dieses: Immer noch offen.

Anna Louisa Karsch beschreibt die Einschränkungen, denen Frauen - insbesondere jenen aus niedrigeren sozialen Schichten - im 18. Jahrhundert unterlagen. Ohne eigene Entscheidungsmöglichkeiten konnten sie Bildung nur erwerben, wenn z.B. ein männlicher Unterstützer dies ermöglichte. Ihre Arbeiten waren durch die Zuständig1

Aus: Marie Luise Kaschnitz: Dein Schweigen - meine Stimme. Gedichte 1958-1961. Düsseldorf: Ciaassen 1962, S. 53

Einleitung

15

keit für Haus, Hof, Geschwister, dann Mann und Kinder bestimmt. Dennoch bleibt ihnen die Möglichkeit der eigenständigen Wahrnehmung von Welt. Marie Luise Kaschnitz dagegen beschreibt die moderne Offenheit. Normalitätsvorstellungen muss man nicht genügen, die Suche nach der eigenen Lebensgestaltung ist möglich, zugleich ist sie jedoch schwierig und nicht notwendigerweise erfolgreich.

1.2

Theoretische Ansätze zur Erklärung von Sozialisation

Theorien unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Erkenntnisinteressen, der Komplexität und Reichweite ihrer Gegenstandskonstitution und hinsichtlich ihrer Methoden wissenschaftlicher Durchdringung. Kathy Davis hat - anlässlich der Einschätzung der Debatte um eine weibliche Moral - drei Merkmale benannt, die eine Theorie erfolgreich sein lassen ( D a v i s 1991): • Sie muss interessant sein - das bedeutet, sie muss dem widersprechen, was wir für gewöhnlich annehmen, und stattdessen neuartige, überraschende, schockierende Erklärungen anbieten. • Sie muss Reaktionen herausfordern. Dazu muss sie vielschichtig sein, d.h. einerseits so einfach, dass sich ein paar eingängige Konzepte gut merken lassen, andererseits so komplex, dass Spezialistinnen und Spezialisten darauf eingehen und im einzelnen widersprechen können. • Schließlich muss eine erfolgreiche Theorie unvollständig sein, um nicht nur Kritik, sondern auch eine weitere Ausarbeitung herauszufordern. Bezogen auf eine Sozialisationstheorie nennt Dieter Geulen als zentrales Problem, dass eine „Theorie der gesellschaftlichen Genese des Menschen ..., ausgehend von einem geklärten Begriff vom vergesellschafteten Subjekt, die gesamte Struktur der realen Sozialisationsbedingungen innerhalb des historisch gegebenen Systems darstellen (muss), angefangen von der unmittelbaren physikalischen und kulturellen

16

Einleitung

Umwelt, den relevanten Personen und ihrem Verhalten sowie den Interaktions- und Kommunikationsmustern, über die Institutionen der Sozialisation (...) bis hin zu deren Bedingungen im Zusammenhang des ganzen gesellschaftlichen Systems" (Geulen, 1989, S. 498). Dabei gelte es, die konkreten Sozialisationsmechanismen mit der makrostrukturellen Ebene theoretisch zu verknüpfen. „Insbesondere müssen die Begriffe, in denen konkrete Sozialisationsbedingungen formuliert werden, so beschaffen sein, dass sie gleichzeitig auch gesellschaftliche Erscheinungen in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang bezeichnen" (ebd., S. 499). Hans Rudolf Leu geht allerdings acht Jahre später davon aus, dass Sozialisationstheorie nicht „'in einem Zug' die Reproduktion von Kultur und Gesellschaft, von sozialer Handlungsfähigkeit und Identität und von Persönlichkeitsstruktur und psychischer Organisation" erklären könne (Leu 1997, S. 6). Stattdessen geht es seiner Meinung nach darum, die Transaktionen zwischen Individuum und Umwelt zu erschließen - also den Prozess zu erfassen. Inwieweit dies nicht doch zumindest mit einem einheitlichen Vokabular möglich ist, d.h. mit Begriffen, die eine Verbindung zwischen Persönlichkeit und Gesellschaft herstellen und dadurch die Entwicklung analysierbar machen, soll im folgenden geprüft werden. Für die Pädagogik erweitert sich das Erkenntnisinteresse darüber hinaus auf die Frage, welche Handlungsmöglichkeiten im Feld von Lehren und Lernen bestehen, um Bildung zu ermöglichen. Dies meint zum einen Themen und Resultate kultureller Akkumulation zu vermitteln, zum anderen den Aneignungsmöglichkeiten der Individuen Raum zu geben. Damit verliert der Begriff Sozialisation seinen deskriptiven Charakter, und es stellt sich die Frage nach Sozialisation hinsichtlich der Chancen von Bildung. Sozialisationstheorie wird in diesem Sinne dann reflexive Theorie. Man kann drei Ebenen von Wissen in Prozessen von Erziehung und Bildung unterscheiden: • Wissen im unmittelbaren Umgang des Alltags;

Einleitung

17



Wissen als systematisiertes Berufswissen von Lehrenden im Sinne von Technologien; • Wissen als Reflexion der Grenzen von Instrumentalität und der Beschränktheit von Konzepten aufgrund der Vielfalt und Unbestimmtheit des Gegenstandes. Reflexive Theorie ist in diesem Sinne Theorie, welche Technologien kritisiert und relativiert. In dieser Einführung soll es darum gehen, die vorhandenen Ansätze von Sozialisationstheorien vorzustellen, sie jeweils auf ihre Erkenntnisinteressen, ihr Menschbild, ihr Gesellschaftsverständnis sowie letztlich auf ihre Bestimmung des „Prozesses des Mitglied-Werdens" hin zu befragen. Dabei bleibt festzuhalten, dass es sich jeweils um Modellvorstellungen handelt, nicht um Aussagen darüber, wie etwas wirklich sei 1 . Die erste Schwierigkeit, die sich dabei ergibt, ist die Frage, welche Ansätze überhaupt als „Sozialisationstheorien" charakterisierbar sind. Sichtet man die verschiedenen Handbücher und Einführungen, die bereits auf dem Markt sind, dann stimmen diese durchaus nicht überein in der Nennung der jeweiligen Theorieansätze. So unterscheidet das bereits erwähnte „Neue Handbuch der Sozialisationsforschung" ( H u r r e l m a n n / Ulich 1991) „klassische Theorieansätze" einerseits - und nennt als solche verhaltenstheoretische Lernkonzepte, psychoanalytische Theorien, strukturgenetische Sichtweisen, funktionalistische und systemtheoretische Ansätze, Rollen- und Interaktionstheorien und schließlich Gesellschaftstheorien - und „neuere integrative Forschungsansätze" andererseits. Hinter letzteren verbergen sich gesundheitswissenschaftliche, kulturvergleichende, historische, sozialstrukturelle, geschlechtsspezifische und schließlich lebenslauftheoretische Ansätze. Damit allerdings erschöpft sich die Komplexität noch keineswegs: Neben diese Theorien und Ansätze werden dann „zentrale Instanzen der Sozialisation" gesetzt wie Familie, Kindergarten, Schule usw. und schließlich noch „zentrale Di-

' Eine in diesem Sinne unkritische Darstellung von Sozialisation findet sich bei Maier 1997, der unter Bezugnahme auf Theorien von Piaget, Mead und Freud Prozesse und Bedingungen beschreibt, als seien sie so und nicht anders.

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Einleitung

mensionen" behandelt, zu denen kognitive, sprachliche, emotionale Sozialisation, kulturelle Identität und „politische Sozialisation und Geschlechterdifferenz" gehören. Hermann Veith (1996) ordnet in seinem fast 600 Seiten starken Band „Theorien der Sozialisation" die sich mit der „Grunderfahrung" der sozialen und psychischen Konstituiertheit durch Handlung befassenden Ansätze vom 15. Jahrhundert bis heute nach ihrer Sozialisationsbedeutung. Der 1997 von Franzjörg Baumgart herausgegebene Band zu „Theorien der Sozialisation" (Baumgart 1997) unterscheidet fünf verschiedene Ansätze: • Emile Dürkheim - Erziehung als soziale Tatsache • Talcott Parsons - Handeln in gesellschaftlichen Systemen • George Herbert Mead - Soziales Handeln durch Sprache • Jürgen Habermas - Kommunikatives Handeln und Ich-Identität • Pierre Bourdieu - Die verborgenen Mechanismen der Macht. In einer zweisemestrigen Einführung habe ich eine historisch orientierte Darstellung gewählt, in der die „Grundlinien" sozialisationstheoretischer „Basisansätze" vorgestellt wurden, um an ihnen aufzuzeigen, welchen Erklärungsgehalt sie beanspruchten und welchen sie noch haben, d.h. inwieweit sie sich einfügen lassen in die neuen Ansätze. Als „Basisansätze" (vgl. Abbildung 1) mit Relevanz für die pädagogische Debatte wurden dabei folgende „Theorielinien" behandelt: • Lern theoretische Ansätze vom Behaviorismus bis zur subjektwissenschaftlichen Betrachtung (John Broadus Watson, 18781958; Burrhus F. Skinner, 1904-1990; Albert Bandura, geb. 1925; Klaus Holzkamp, 1927-1995). • Psychoanalytische Ansätze vom klassischen Freudianismus bis zu objektbeziehungstheoretischen Beiträgen (Sigmund Freud, 1856-1939; Erik H. Erikson, 1902-1994; Jessica Benjamin). • Entwicklungstheoretische Ansätze zur kognitiven und moralischen Sozialisation (Jean Piaget, 1896-1980; Lawrence Kohlberg, 1927-1987; Carol Gilligan, geb. 1936).

Einleitung



19

Strukturfunktionalistische Arbeiten systemtheoretischer Provenienz (Talcott Parsons, 1902-1979; Niklas Luhmann, 19271998). • Interaktionistische Theorien (George Herbert Mead, 1863-1931; Erving Goffman, 1922-1982; Jürgen Habermas, geb. 1929). • Tätigkeitstheorien (Alexejew N. Leontjew, 1903-1975). Ein allgemeinverbindliches Auswahlkriterium gibt es also nicht und kann es wohl auch nicht geben.

20

Einleitung

Abbildung 1:

Übersicht über „Sozialisationstheoretiker" und ihre wichtigsten Werke 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990

Lerntheoretische Ansätze Watson, J. B. (1878-1958) 1913 Psychology as the behaviorist views it Skinner, B. F. (1904-1990) 1970 Futurum Zwei Bandura, Albert, (1925-) 1986 Social foundations of thought and action Holzkamp, K. (1927-1995) 1993 Lernen

Psychoanalytische Ansätze Freud, S. (1856-1939) 1892/1939 Abriss der Psychoanalyse Erikson, E.H. (1902-1994) 1959/1966 Identität und Lebenszyklus Benjamin, J. 1988/ 1993 Die Fesseln der Liebe

Entwicklungstheoretische Ansätze Piaget, J. (1896-1980) 1923/1924 Sprechen und Denken des Kindes/ Urteil und Denkprozess beim Kind; 1932 Das moralische Urteil beim Kinde Kohlberg, L. (1927-1987) 1966 A cognitivedevelopmental analysis of children's sex-role concepts and attitudes; 1971 Stages of moral development as a basis for moral education Gilligan, C. (1936-) 1982 Die andere Stimme

Strukturfunktionalistische Arbeiten Parsons, T. (1902-1979) 1964 Social Structure and Personality Luhmann, N. (1927-1998) 1981 Interpénétration - Zum Verhältnis personaler und sozialer Systeme

Interaktionistische Theorien Mead, G.H. (1863-1931) 1934 Mind, self and society Goffman, E. (1922-1982) 1959 The presentation of self in every day life Habermas, J. (1929-) 1981 Theorie des kommunikativen Handelns

Tätigkeitstheorien Leontjew, A.N. (1903-1975) 1973 Probleme der Entwicklung des Psychischen

1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990

Einleitung

1.3

21

Aufbau des Studienbuches

Dieses Studienbuch versucht, den Weg zu gehen, die drei Komponenten von Sozialisation - nämlich Individuum, Gesellschaft und den Prozess des Mitgliedwerdens - miteinander zu verbinden. Dazu wird im zweiten Kapitel zunächst auf die beiden „Pole" von Sozialisationsprozessen eingegangen, nämlich auf die vorliegenden Ansätze von Individuum und Persönlichkeit einerseits und auf die Formen, wie Gesellschaft gefasst werden kann, andererseits. Nur wenn man ein Verständnis davon hat, was Persönlichkeit überhaupt sein kann, lässt sich fragen, wie sie dazu wird. Das nicht nur in der Psychologie vorherrschende Konzept des „Selbst" scheint hierfür angemessen zu sein. Zugleich braucht man Beschreibungsmöglichkeiten von Gesellschaft, die der Komplexität der sozialen Gegebenheiten gerecht zu werden vermögen. Neuere Ansätze zur Beschreibung von sozialen Milieus bieten für diese Seite adäquate Instrumente. Kapitel 3 wendet sich der Frage zu, wie Gesellschaft und Persönlichkeit zusammen kommen - wie sich der Prozess der Persönlichkeitsentwicklung als Sozialisation beschreiben lässt. Dazu werden drei theoretische Ansätze genauer betrachtet. Ihre Selektion ergibt sich aus folgenden Kriterien: • Zum einen sollen solche Theorieansätze behandelt werden, die für pädagogisches Handeln besondere Relevanz hatten oder haben, weil sie beispielsweise als Grundlegung für Lehren oder als pädagogische Technologien dienten. • Zum anderen soll es darauf ankommen, die Komplexität der Erklärungsansätze zu steigern und zu einem zumindest befriedigenden Beitrag zur Erklärung des „Prozesses des MitgliedWerdens" zu kommen. Vorgestellt werden sollen deshalb als erstes lerntheoretische Ansätze vom Behaviorismus bis zur subjektwissenschaftlichen Grundlegung. Als zweites geht es um die Entwicklung der Ansätze des Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons zur Systemtheorie von Niklas Luhmann. Drittens schließlich werden interaktionistische Theorien

22

Einleitung

erörtert, und zwar die Arbeiten von George Herbert Mead und der Ansatz von Jürgen Habermas. Jeweils wird eine abschließende Einschätzung dieser Ansätze im Blick auf ihre „Brauchbarkeit" als Sozialisationstheorien vorgenommen. In allen Fällen zeigt es sich, dass diese Theorien eher von einem der beiden Pole ausgehen und die Erfassung des jeweils anderen zu kurz greift. Kapitel 4 wendet sich schließlich jenen Theorien zu, die bereits von ihrer Anlage her eine deutliche Verbindung von Gesellschaft und Persönlichkeit vornehmen. Auch wenn sie jeweils als eigenständige Ansätze theoretischen Erklärungswert besitzen, soll doch der Aufbau zu einer Komplexitätssteigerung führen. Zunächst geht es um den Zusammenhang von Tätigkeit und Persönlichkeit. Als zweites werden ökologische Sozialisationsforschungen vorgestellt. Schließlich mündet das Kapitel in ein Konzept von „Habitus und Lebensführung". Im Kapitel 5 stehen nicht die Theorien und ihre Erklärungsformen im Mittelpunkt, sondern die Methoden, mit denen überhaupt Sozialisationsprozesse fassbar sind. Exemplarisch wird auf Längsschnittstudien und auf Biographieforschung eingegangen. Kapitel 6 schließlich wählt noch einmal einen anderen Ausgangspunkt: Im Mittelpunkt stehen hier Praxisprobleme bzw. praktische Vorschläge, für deren Lösung bzw. Bewertung Sozialisationstheorien auf ihre Brauchbarkeit hin befragt werden sollen. Konzentrieren wird sich dieses Kapitel auf die Frage von Gewalt in der Schule. Da es sich um ein Studienbuch handelt, wird Wert darauf gelegt, einzelne Theorien bzw. einzelne Studien detaillierter vorzustellen und nicht die für Handbücher übliche Form des Verweises auf eine Vielzahl von Publikationen zum jeweiligen Thema vorzunehmen. Als studienpraktische Hinweise sollen jedoch vor allem Literaturangaben gemacht werden, die einer Vertiefung und Weiterarbeit dienen können. Da der Versuch gemacht wird, innerhalb der einzelnen Theorien die Entwicklung nach zu zeichnen und insgesamt von „einfacheren" zu komplexeren Ansätzen aufzusteigen, empfiehlt es sich, den Band komplett zu lesen und erst gegebenenfalls nochmals einzelne Kapitel herauszugreifen.

Individuum und Gesellschaft

2.

23

Individuum und Gesellschaft als Pole von Sozialisationsprozessen

Wenn man Sozialisationsprozesse als Verbindung von Individuum und Gesellschaft - als Prozess des Mitgliedwerdens - erfassen will, so muss man vorab klären, ob es überhaupt ein einheitliches Verständnis von Individuum und von Gesellschaft gibt. Dabei stößt man auf die Erkenntnis, dass beide Begriffe keine Universalien sind, die in ihrer Bedeutung „immer schon" existierten. Vielmehr ist es notwendig, sich die historischen Veränderungen zu vergegenwärtigen oder zumindest sich darüber klar zu werden, dass historische Wandlungen auch BedeutungsVeränderungen implizieren. Gerade für eine aktuelle Fassung von Sozialisationstheorie spielt die historische Gewordenheit eine zentrale Rolle. Entsprechend soll in diesem Kapitel der Frage nachgegangen werden, welche Auffassungen von Individualität sowie von Gesellschaft entstanden sind und welche nutzbar sind, um für die Beschreibung der heutigen Situation angewandt zu werden.

2.1

Individuum

Sichtet man die relevante Literatur aus Psychologie, Soziologie und Pädagogik, so tauchen in unterschiedlichen Varianten die Begriffe Person, Persönlichkeit, Individuum, Individualität, Individualisierung, Selbst, Subjekt und Identität auf. Insofern besteht die Notwendigkeit, zu klären, was mit diesen Begriffen gemeint ist und worin sie sich - wenn überhaupt - unterscheiden. Eine interessante Zusammenstellung der Verwendungsweisen der Begriffe Person und Persönlichkeit von Cicero bis heute findet sich in dem Psychologielehrbuch von Gordon Allport von 1937 bzw. (deutsch) von 1949. Dieser Nachzeichnung soll zunächst gefolgt werden, weil sie die Vielfalt der Bedeutungen aufzuzeigen vermag. Allerdings bleibt sie durch die Mischung aus chronologischer und systematischer Zusammenstellung letztlich zwar anregend, aber doch für sozialisationstheoretische Fragestellungen unbefriedigend.

24

Individuum und

Gesellschaft

Es sollen deshalb zwei weitere Systematisierungsversuche angeschlossen werden, die für Sozialisationsprozesse relevante Linien aufzeigen: Zum einen verdeutlicht ein historischer Blick, dass man von Individualität, von Subjekt oder Identität erst seit der Neuzeit sprechen kann. Mit diesen Begriffen sind zugleich gesellschaftliche Veränderungen markiert. Zum anderen lassen sich die Begriffe auf die Betrachtung des einzelnen Menschen und seine Entwicklung beziehen.

2.1.1 Von Person zu Persönlichkeit Gordon Allport hat in den Jahren 1922-1924 in Europa, schwerpunktmäßig in Berlin und Hamburg, studiert. Er wurde Professor für Psychologie an der Harvard University, Cambridge, Mass. In den dreißiger Jahren hat er versucht, dem amerikanischen Behaviorismus eine neue, wieder am Menschen orientierte Psychologie entgegenzusetzen. Sein Buch „Personality, a psychological interpretation" erschien 1937 in den USA, wurde dort rund 25.000 mal verkauft. 1949 kam eine deutsche Übersetzung heraus. Ein Kapitel dieses Lehrbuchs beschäftigt sich mit der „Definition der Persönlichkeit", in dem es den unterschiedlichen Bedeutungen und Verwendungen des Begriffs Persönlichkeit nachgeht (vgl. zum folgenden Allport 1949, S. 26-49). Die Verbindungslinien in dem von Allport aufgebauten Diagramm (vgl. Abbildung 37) stellen dabei nicht unbedingt historische Einflüsse dar, sondern sollen „die Aufmerksamkeit auf Ähnlichkeiten oder Erweiterungen der Bedeutung lenken" (ebd., S. 35). Als Ursprung des Wortes Persönlichkeit vermutet Allport die etwa 100 Jahre vor unserer Zeitrechnung von römischen Schauspielern übernommene Bezeichnung Persona für die Theatermaske. Möglich ist, dass der Begriff von dem griechischen Wort für Maske, nämlich prosöpon, herkam, obwohl die Ähnlichkeit der Bezeichnungen nicht sehr groß ist. Andere Sprachforscher leiten es deshalb eher von inhaltlichen Beschreibungen ab, etwa von peri söma (rings um den

Individuum und Gesellschaft

25

Körper), vom etruskischen persum (Kopf oder Gesicht), vom lateinischen per se una (durch sich selbst) oder vom lateinischen personare (hindurchtönen). Der letzte Begriff wird von dem großen Mund der Maske oder auch einem Schilfrohrinstrument, das zur Verstärkung der Stimme des Schauspielers diente, hergeleitet. Unbestritten ist bei all diesen Ableitungen nur die Gleichsetzung von Persona und Theatermaske, und dies hat Auswirkungen auf das Verständnis von Persönlichkeit. Schon bei Cicero1 finden sich mindestens vier verschiedene Bedeutungen von Persona. Eine erste bezieht sich auf die „äußere Erscheinung" (nicht das wahre Selbst) (l 2 ). Eine zweite Bedeutung bezeichnet den „Charakter oder die Rolle, die der Schauspieler im Drama annimmt" (2). Da man sagen kann, jemand habe „seine Person gut gespielt", ist es auch möglich, die Bezeichnung auf den Schauspieler selbst anzuwenden. Hieraus ergibt sich eine dritte Bedeutung als „ein Mensch mit besonderen persönlichen Eigenschaften" (3). Eine vierte Ableitung bei Cicero bezieht sich auf den Stil, auf „Gewicht und Würde" (4). Von hier - so Allport - ergab sich im römischen Kastenwesen die Bezugnahme auf Personen mit Rechten und Pflichten, nämlich die „freigeborenen Bürger (im Unterschied zu den Sklaven)" (5). Im klassischen Latein wurde diese Bezeichnung erweitert auf den Sinn von „Stellvertreter" (für eine Gruppe oder Institution) (6) und schließlich auf die Vertreter der Kirche, die „Parson" (7) genannt wurden. Bedeutende Persönlichkeiten wurden als „Personages" (8) bekannt. Als einen Seitenweg in diesen Herleitungen sieht Allport die vom lateinischen Grammatiker Varro3 benutzte Form von den „Personen der Grammatik" (9).

' Cicero, Markus Tullius, römischer Staatsmann, Schriftsteller und Redner (106-43 [ermordet] v.Chr.); vereitelte als Konsul die Verschwörung des Catilina, war Gegner der Alleinherrschaft Caesars. In seinen Schriften, Reden und Briefen, die Form und Ausdruck der lateinischen Sprache zu vorbildlicher Vollendung brachten, wurde er den Römern zum großen Mittler griechischer Bildung (Kompakt Brockhaus Multimedial 1996). 2 Die Ziffern in Klammern verweisen auf die Definitionskästchen in der Abbildung 37. 3 Varro, Marcus Terentius, römischer Gelehrter (116-27 v.Chr.); Anhänger Pompeius', Verfasser mehrerer Enzyklopädien (Kompakt Brockhaus Multimedial 1996).

26

Individuum und Gesellschaft

Das Besondere all dieser Definitionen liegt darin, dass ihre Bedeutung einem Kontinuum folgt, das vom äußerlichen (falschen, maskenartigen) Gehabe zum innerlichen (echten) Eigenwesen reicht. Allport schreibt: „Diese doppelte und widerspruchsvolle Beziehung ist der hervorstechende Zug des Wortes persona ebenso wie des zeitgenössischen personality. Persönlichkeit bedeutet das Angenommene, Nichtwesenseigene, Falsche ebenso wie das Lebenswahre, Innere, Wesentliche" (ebd., S. 31). Der theologischen Verwendung des Begriffes zur Bezeichnung der „Glieder der Dreieinigkeit", d.h. der im Christentum angenommenen Dreiheit der Personen Vater, Sohn und Heiliger Geist in Gott (10) verdankt der Begriff seine stärkere Anlehnung an die Bedeutung des wahren Inneren - also der von Cicero benutzen dritten Variante. Allerdings war diese Entwicklung nicht ohne Widersprüche vonstatten gegangen: „Etwa im 3. Jahrhundert n. Chr. wurden die Glieder der Dreieinigkeit als personae bezeichnet. Zunächst schien hier die Gefahr eines ketzerischen Irrtums zu drohen; denn bedeutete nicht persona wandelbare Erscheinung, maskenartige Pose? Würde nicht eine Gottheit, die drei wechselnde Rollen annimmt, zwei von ihnen aufgeben müssen, solange sie die dritte darstellt? Dass eine solche Ketzerei vermieden wurde, beruht ohne Zweifel auf dem elastischen Begriff des Wortes selbst, der es ermöglichte, an Substanz zu denken, während man von Masken sprach; die Gottheit verblieb in der Tat in drei 'Personen', aber jede hatte am gleichen Wesen Anteil. Obwohl nun die Sache zur Zufriedenheit der Kirchenväter geregelt war, haben doch spätere Theologen noch lange die Paradoxie einer verschiedenartigen Erscheinung und einzigen Substanz erörtert" (ebd.). Vor allem in der Philosophie erfuhr der Begriff eine vielfältige Verwendung, die primär in der Linie der Bedeutung von Person als wahrem Selbst (3) entwickelt wurden, aber auch Verbindungen zur Bedeutung als Stil, Gewicht und Würde (4) erhielten. So definierte A-

Individuum

and Gesellschaft

27

nicius Boethius1 im 6. Jahrhundert „Persona est substantia individua rationalis naturae" (11), womit „er die wesentliche Natur der Person als gegeben" annahm und das Attribut der Rationalität einführte. Dies gilt nach Allport als Grundstein für die Unantastbarkeit und den Wert des Individuums als sich durchsetzende Werte vor allem in der späteren Romantik und in der personalistischen Ethik. Christian Woljf charakterisierte Personen durch „Selbstbewusstsein und Gedächtnis" (12), Gottfried Wilhelm Leibniz3 (1646-1716) definierte sie als „mit Verstand begabte Substanz" (13). Für John Locke4 ist die Person „ein denkendes, intelligenzbegabtes Wesen, das Vernunft und Reflexion besitzt und sich selbst denken kann" (14). Wilhelm Windelband5 schließt hier an, wenn er Persönlichkeit versteht als „Individualität, welche für sich selbst objektiv geworden ist" (15). Bei Heinrich Rickert6 steht die metaphysische Auffassung im Vordergrund. Hier ist die echte Persönlichkeit „das unteilbare Zentrum, und die Veränderungsvorgänge spielen sich nur in der Peripherie ab"

' Boethius, Anicius, röm. Staatsmann, Philosoph, (um 480 - um 524); Konsul und Palastminister unter Theoderich dem Großen, von diesem, des Hochverrats beschuldigt, hingerichtet. Schrieb im Kerker „Trost der Philosophie" (Kompakt Brockhaus Multimedial 1996). 2 Woljf, Christian Freiherr von, deutscher Philosoph (1679-1754); bildete ein System des Rationalismus aus; hielt als erster mathematische Fachvorlesungen in deutscher Sprache (Kompakt Brockhaus Multimedial 1996). 3 Leibniz, Gottfried Wilhelm Freiherr von, deutscher Universalgelehrter (1646-1716); seit 1700 Präsident der von ihm gegründeten Akademie der Wissenschaften in Berlin; bedeutend als Mathematiker, Rechtsgelehrter, Geschichtsforscher, Staatsmann, Sprachforscher und Philosoph. Er entwarf ein rationalistisch-idealistisches Denkgebäude, das die mechanistische Naturerklärung Descartes' mit dem religiösen Glauben zu versöhnen suchte. An die Stelle der toten Atome setzte Leibniz Monaden, d.h. lebendige, einfache Einheiten, aus denen das Weltganze aufgebaut ist. Gott ist die Urmonade; er hat alle Monaden zu einem harmonisch geordneten Kosmos abgestimmt (prästabilisierte Harmonie); daher ist nach Leibniz unsere Welt die beste aller möglichen (Kompakt Brockhaus Multimedial 1996). 4 Locke, John, englischer Philosoph (1632-1704), Begründer des englischen Empirismus; in seiner Staatslehre entwickelte er die Gedanken der Gewaltenteilung (Kompakt Brockhaus Multimedial 1996). 5 Windelband, Wilhelm, deutscher Philosoph (1848-1915); Neukantianer; „Geschichte der Philosophie" (1892) wurde Standardwerk (Kompakt Brockhaus Multimedial 1996). 6 Rickert, Heinrich, deutscher Philosoph (1863-1936); Mitbegründer der südwestdeutschen (badischen) Schule des Neukantianismus (Kompakt Brockhaus Multimedial 1996).

28

Individuum

und

Gesellschaft

(16). In der Zusammenfassung dieser verschiedenen Definitionen einigen sich eine Reihe von Autoren darauf, Persönlichkeit mit „Selbstheit" (17) gleichzusetzen, so z.B. von Samuel Taylor Coleridgex im 19. Jahrhundert. Eine andere philosophische Linie hebt auf die ethische Bestimmung von Persönlichkeit ab. Für Lotze2 z.B. ist sie „das Ideal der Vollkommenheit" (18). Einig sind sich dabei diese Vertreter darüber, dass dieses Ideal quasi nie erreicht wird, insofern die Besonderheit des Menschen im dauernden Wachsen und Sich-Entwickeln aller persönlichen Merkmale liegt. Dies spiegelt sich in William Sterns Auffassung: „Die Persönlichkeit wird geformt durch unerreichte Ideale" (19) oder auch schon bei Johann Wolfgang Goethe4, der in der Persönlichkeit „den höchsten Wert" (20) sah. Von Immanuel Kant5 stammt die Idee einer Persönlichkeit, „welche uns die Erhabenheit unserer Natur (ihrer Bestimmung nach) vor Augen stellt" (21).

1

Coleridge, Samuel Taylor, englischer Dichter (1772-1834); Romantiker, befreundet mit W. Wordsworth; Gedichte, Balladen (Kompakt Brockhaus Multimedial 1996). 2 Lotze, Rudolf Hermann, Philosoph und Physiologe, * 21.5.1817 Bautzen, t 1.7.1881 Berlin; entwickelte ein philosophisches System („Mikrokosmos. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit", 1856-64), das die mechanistische Naturauffassung mit einer idealistisch-spekulativen Metaphysik (Monadenlehre; Gott als höchste Monade) verbindet. Einflußreich, besonders auf den Neukantianismus, waren seine Theorie der Geltung, seine Wertlehre und sein Psychologie („Medizinische Psychologie", 1852). (Der Knaur Bd. 9, S. 3123). 3 Stern, William, deutscher Psychologe und Philosoph (1871-1938); prägte den Begriff Intelligenzquotient; Begründer der differentiellen Psychologie (Kompakt Brockhaus Multimedial 1996). 4 Goethe, Johann Wolfgang von (geadelt 1782), deutscher Dichter (1749 Frankfurt/Main 1832 Weimar), über den man wohl weiter keine Angaben zu machen braucht. 5 Kant, Immanuel, deutscher Philosoph (1724-1804); Professor in Königsberg (Preußen); begründete die kritische oder Transzendentalphilosophie. Er untersuchte die in den menschlichen Erkenntniskräften liegenden Voraussetzungen und Grenzen der Erkenntnis. Die meisten metaphysischen Fragen seien für die menschliche Vernunft unlösbar. Die Erkenntnis müsse sich auf „Erscheinungen" beschränken. Nur als sittliche Wesen könnten wir die Schranken unseres an die Sinnenwelt gebundenen Erkenntnisvermögens überwinden (Lehre vom „Primär der praktischen Vernunft", kategorischer Imperativ, Kategorie). Schriften: „Kritik der reinen Vernunft" (1781/87), „Kritik der praktischen Vernunft" (1788); „Kritik der Urteilskraft" (1790) (Kompakt Brockhaus Multimedial 1996).

Individuum und Gesellschaft

29

Aus einer solchen Bestimmung lässt sich eine Ethik der Selbstverwirklichung begründen, wie sie in der folgenden Definition von M.F. Adler zum Ausdruck kommt: „Persönlichkeit ist jenes Besondere in jedem Menschen, das ihm Wert verleiht, wenn man absieht von dem Gebrauch, den die Mitwelt etwa von ihm macht" (22). In personalistischen Lehren wie dem Voluntarismus wird der Wille des Menschen zur Charakterisierung der Persönlichkeit herangezogen. Hetherington und Muirhead2 definieren Persönlichkeit als „jene Form von Individualität... die möglich wurde durch den Besitz von Verstand und Willen. Eine Person sein, heißt eins und unteilbar sein, doch ist sie eine Einheit, die zur Vollendung gelangt nicht durch Unterdrückung der natürlichen Instinkte, des Temperaments und der Fähigkeiten, sondern durch ihre Durchdringung mit einem gemeinsamen Geiste - der Kraft, die Freiheit zu finden, nicht von ihnen, sondern in ihnen" (23). Allport betont, dass die personalistischen Konzepte darin übereinstimmen, den Wert der Persönlichkeit hoch zu schätzen, die Personen als von den Dingen unterschieden zu sehen, und die subjektive Erfahrung als letzte psychologische Instanz anzusehen. Entsprechend wird Persönlichkeit bei Bowne3 wiederum zur „Selbstheit, Selbstbewusstsein, Selbstkontrolle und ... Kraft zum Wissen. Diese Elemente haben keine körperliche Bedeutung" (24). Diese letzte Auffassung allerdings ist durchaus umstritten. So spricht William Stern z.B. der Persönlichkeit die körperliche Bedeutung nicht ab, erklärt aber die Person als „psychophysisch neutral", als „eine vielfältige dynamische Einheit" (25). Anknüpfend an die religiösen Sichtweisen lässt sich Person auch als Überindividuelles begreifen: „Eine Person ist ein vernünftiges Wesen mit Rechten; wenn es auch Pflichten hat, so ist es ein Mensch; wenn nicht, ein Gott" (26). 1 Adler, M.F.: Essays in Honor of John Dewey 1929, S. 8 - keine biographischen Angaben zu finden. 2 Hetherington, H.I.W./ Muirhead, J.H.; Social Purpose, 1918, S. 104 - keine biographischen Angaben zu finden. 3 Bowne, B.P.: Personalism, 1908, S. 264 - keine biographischen Angaben zu finden.

30

Individuum und Gesellschaft

Die juristische Entwicklung der Bedeutung von Persönlichkeit sieht Allport beginnend im römischen Recht. Personen waren zunächst allerdings - in Fortführung des von Justinian1 dekretierten „freien Bürgers" - jene Menschen, die im Genus gesetzlicher Rechte waren (27). Die Entwicklung in den „Kulturländern" (ebd., S. 37) hat allen Individuen Anspruch auf den Schutz des Gesetzes verschafft, so dass die heutige juristische Definition Person gleichsetzt mit „dem lebenden Menschenwesen in seiner Ganzheit" (28). Darüber hinaus gilt im Recht sogar eine „körperliche Gruppe von Leuten" als Person, nämlich eine Körperschaft (29). Unklar ist dabei allerdings, ob es sich wirklich um reale oder nur um künstliche Personen handelt. In der Philosophie spiegelt sich diese Gruppenidee in den Gemeinschaftsgeist-Lehren. Da findet man dann Definitionen wie die folgende: „Eine echt und treu verbundene Gemeinschaft, die ein zusammenhängendes Leben führt, ist im vollen Sinne des Wortes eine Person" (30). Allport sieht solche über das Individuum hinausgehende Betrachtungen vor allem auch in soziologischen Bedeutungen. Dabei lassen sich zunächst einmal zwei eher als Merkwürdigkeiten benennbare Nutzungen des Wortes Person feststellen: Im Französischen meint das Wort nämlich auch „niemand" (31). Wird der physische Teil gemeint wie in der Aussage „seine Person einer Gefahr aussetzen", dann ist „das leibliche Selbst" (32) bezeichnet. Als seltsame Mischung zwischen der Bedeutung aus der Definition 28 - dem Individuum - und der Umkehrung der Definition 4 - Gewicht und Würde folgt die Bezeichnung Person, wenn damit Verachtung ausgedrückt werden soll (33), wie z.B. in der Phrase „diese Person!". Verächtlichmachend ist auch die Verwendung, die häufig in der englischen Literatur des 18. Jahrhunderts vorkommt, bei der „anderer Leute Eigenschaften unter Verletzung des guten Geschmacks offenbart 1 Justinian /., der Große, byzantinischer Kaiser (527-565); (482-565); gewann durch seine Feldherren Beiisar und Narses, die das Wandalen- und Ostgotenreich zerstörten, den größten Teil des Weströmischen Reichs zurück, erbaute die Hagia Sophia in Konstantinopel, ließ das römische Recht im Corpus Iuris Civilis aufzeichnen (Kompakt Brockhaus Multimedial 1996).

Individuum und Gesellschaft

31

werden" (34). Explizit soziologisch ist nach Allport, wenn Personen nicht als Einzelwesen, sondern im Blick auf die Gesellschaft als „die letzte Zelle der menschlichen Gruppe" oder als soziale Einheit (35) betrachtet werden. Meint Person die „subjektive Seite der Kultur" (36), dann wird sie in einem funktionalen Zusammenhang mit dem sozialen Hintergrund gesehen. Nach Allport spricht man damit der Person das Sich-Selbst-Genügen ab und vernachlässigt zugleich biologische Determinanten. Als bessere Definition, die aber „synthetisch verwickelt" ist, zieht Allport E.W. Burges1 Bestimmung heran, der Persönlichkeit definiert als „Wirksamkeit auf die Gesellschaft" (37). Eine andere Gruppe von Definitionen bezieht sich auf die äußere Erscheinung. Die Ciceroschc Ursprungsbedeutung von Maske als falsche Erscheinung wird dabei aufgegriffen, wenn die „auf Täuschung berechnete Maskerade oder Mimikry" (38) gemeint ist. Täuschung muss dabei gar nicht als böswilliges Manöver gemeint sein, man kann auch konstatieren, dass ein Verhalten, das in Übereinstimmung mit den Konventionen der Herkunft bzw. mit denen des Milieus, in dem man sich bewegt, steht, zu einer „Maskierung des wahren Selbst" führen müsse. Dies jedenfalls unterstellte C.G. Jung in seiner Tiefenpsychologie, nach ihm ist persona „eine Maske des Kollektivgeistes, eine Maske zum Verdecken der Individualität ... eine vom Kollektivgeist gesprochene Bühnenrolle" (39). Vom Volksmund - so Allport - ist dieses Verständnis aufgenommen worden, wenn Persönlichkeit mit Charme, mit „oberflächlicher Anziehungskraft" (40) gleichgesetzt wird. In der Werbung wird diese Sicht verbreitet, so etwa, wenn die Benutzung eines Kosmetikprodukts „zu Persönlichkeit" verhelfe. Allport kritisiert hieran zum einen die Verkürzung der Definition auf Teilaspekte, zum anderen die Orientierung der Sicht auf die Wirkung von Personen auf andere. 1 Enthalten in: Proceedings of the Second Colloquium on Personality Investigation (John Hopkins University Press) 1930, S. 149 - keine biographischen Angaben zu finden. 2 Jung, Carl Gustav, Schweizer Psychologe (1875-1961); Professor in Basel, schuf eine psychologische Typenlehre, unterschied zwischen dem individuellen und kollektiven Unbewussten des Menschen (Kompakt Brockhaus Multimedial 1996).

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Individuum

und

Gesellschaft

Dies bezeichnet er als biosoziale Herangehensweise - im Gegensatz zur biophysischen, die daran festhalte, „dass Persönlichkeit das ist, was jemand wirklich ist, ohne Rücksicht auf die Art, in der andere die Eigenschaften des betreffenden Menschen wahrnehmen oder werten" (ebd., S. 42). Biosoziale Auffassungen lassen sich am kürzesten auf die Formel bringen, Persönlichkeit sei ein „sozialer Reizwert (social-stimulus value)" (41). Die Bedeutung, der Wert eines Menschen werde hierbei gleichgesetzt mit so etwas wie Leumund. Zugleich ließe - so Allports Kritik - ein solches Verständnis keine Differenzierung mehr zwischen Dingen, Tieren und Menschen zu soziale Reizwerte werden auch bei Fischen, Bäumen oder Sternen gesetzt. Allport scheint hier sozialen Reizwert mit erkenntnistheoretischen Fragen zu koppeln, denn er argumentiert, dass unsere einzige Basis zum Erkennen Reizeigenschaften seien, dennoch ginge man davon aus, dass andere und anderes außerhalb unseres Geistes existiere. Nach all den Kritiken vor allem an den soziologischen bzw. den biosozialen Definitionen wendet sich Allport den psychologischen Bedeutungen von Persönlichkeit zu - als den eigentlich angemessenen. Er unterscheidet hier zunächst einmal fünf verschiedene Arten von Bestimmung. Die erste sind Sammeldefinitionen, die Persönlichkeit als „Gesamtsumme von ..." begreifen. Exemplarisch dafür zitiert er eine Definition von Prince „Persönlichkeit ist die Gesamtsumme aller biologischen Anlagen, Impulse, Tendenzen, Neigungen und Instinkte des Einzelnen sowie der erworbenen Dispositionen und der Tendenzen, die er durch Erfahrung erworben hat" (ebd., S. 45) (42). Solchen Persönlichkeitsbestimmungen fehlt allerdings eine Ordnung, das Sammelsurium bleibt reine Aufzählung, über Zusammenhänge erfährt man nichts. Auf eine solche Ordnung zielen dagegen Definitionen der zweiten Klasse psychologischer Bestimmungen, nämlich ganzheitliche Sichtweisen. Dazu gehören Formeln wie die 1

Prince, Morton: The Unconscious, 2. Aufl. 1924, S. 532) - keine biographischen Angaben zu finden.

Individuum

und Gesellschaft

33

folgende: Persönlichkeit ist „die gesamte Ordnung eines Menschen in jedem Stadium seiner Entwicklung" (43). Oder auch die etwas kompliziertere Formulierung: Personen sind „eine Zusammenfassung von Gefügen (Interessen), welche dem Verhalten des Organismus einen besonderen individuellen Zug verleiht" (44). Eine weitere Definitionsart nennt Allport hierarchische Definitionen. Solche sehen Persönlichkeit zusammengesetzt aus „Stufen oder Schichten von Dispositionen, gewöhnlich mit einem vereinheitlichenden oder ganzheitlichen Prinzip als Spitze" (45). Anpassungsdefinitionen kommen vor allem von Behavioristen wie folgende: „Die Ganzheit derjenigen Systeme von Gewohnheiten, welche die charakteristischen Anpassungen (adjustments) eines Menschen an seine Umwelt darstellen" (46). Eine fünfte Gruppe besteht aus Definitionen auf Grund der Unterschiedlichkeit. Hier kommt es auf die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe an, von der sich jedoch der Einzelne deutlich unterscheidet - was gerade seine Persönlichkeit dann ausmacht. Als Beispiel führt Allport eine Definition von Schoen1 ein: „Persönlichkeit ist das geordnete System, das funktionierende Ganze oder die Einheit der Gewohnheiten, Anlagen und Gefühle, welche jedes Glied einer Gruppe als verschieden von jedem anderen Gliede der gleichen Gruppe erkennen lässt" (47). Als eine andere Variante dieses Typs sieht Allport die Verwendung von Persönlichkeit als adverbiale Bestimmung: „Persönlichkeit betrifft nicht irgendeine besondere Aktivität wie etwa Sprechen, Erinnern, Denken oder Lieben, sondern ein Mensch keine seine Persönlichkeit offenbaren in der Art, wie er dies alles tut" (ebd., S. 48/49) (48). Im Grunde gesteht Allport allen vorgebrachten Definitionen eine gewisse Berechtigung zu, hält einige jedoch für brauchbarer als andere. Als unverwendbar sieht er die Definitionen 40, 41 und 42, als letztlich richtige Bestimmung meint er, Persönlichkeit sei, was ein Mensch wirklich ist (49). Diese seiner Meinung nach zwar zutref' Schoen, M.: Human Nature 1930, S. 397 - keine biographischen Angaben zu finden.

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Individuum und

Gesellschaft

fende, aber zugleich zu knappe und verschwommene Definition überführt er in die 50. Bestimmung, die - wie könnte es anders sein seine eigene ist: „Persönlichkeit ist die dynamische Ordnung derjenigen psychophysischen Systeme im Individuum, die seine einzigartigen Anpassungen (adjustments) an seine Umwelt bestimmen" (ebd., S. 49).

2.1.2 Individualisierung als Projekt der Moderne Die Zusammenstellung von Gordon Allport hat deutlich gemacht, dass erst in der Neuzeit Individualität einen Stellenwert erhielt, sich nunmehr Philosophen und Dichter mit der Bedeutung von Person auseinander setzten. Allerdings lässt sich nicht ein eindeutiger Anfang für die Entstehung von Individualität festmachen: Der Entwicklung der christlichen Kirchen kam entscheidender Einfluss auf die Individualitätsvorstellungen zu, dennoch blieben ihre Identitätsentwürfe „von jenseitigen Vorstellungen geleitet. Nicht aus sich bezogen sie ihre Identität, sondern aus ihrer Nähe zu Gott" (Dülmen 1997, S. 25). Mit der Renaissance begann dann eine „profane" Selbstthematisierung, die sich als Prozess der Individualisierung beschreiben lässt. Richard van Dülmen beschreibt den relevanten Wandel in fünf Themenfeldem: • Es vollzog sich eine Entwicklung vom Gemeinwohl zum Eigennutz, deren Beginn mit der Entstehung des Wirtschaftsindividualismus in England zusammenfällt und damit gesamtgesellschaftliche Relevanz erhielt. • Die Auffassung von der Ehe wandelte sich von einer Zweckgemeinschaft zu einer Liebesangelegenheit. Zunächst war sie eine „Institution, in der individuelle Vorstellungen und Wünsche nur soweit berücksichtigt werden konnten, als sie die Lebensgemeinschaft, den Arbeitsprozess, den Besitz und die Familienstrategie nicht gefährdeten" (ebd., S. 114). Die Säkularisierung des Eherechts im 18. Jahrhundert ermöglichte die Durchsetzung der von

Individuum und Gesellschaft

35

der Aufklärung vertretenen Position, wonach Übereinstimmung der Gemütsart oder anders gesagt Liebe zur Grundlage von Ehe gehöre. Konsequenterweise mussten Konflikte dann auch über Scheidung geregelt werden können. • Die bürgerliche Kernfamilie sieht van Dülmen als „Geburtsstätte moderner Individualität" (ebd., S. 118) an, denn sie ermöglichte eine Kindererziehung, die auf Individualität ebenso wie auf Konkurrenz orientiert war. Die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit als zentrales Kriterium der Moderne hat ebenfalls hier ihre Ursache. • Ein viertes Themenfeld betrifft die Individualisierung der Lebensstile, die er festmacht an einem vermehrten Umgang mit Büchern, an der Nutzung von Kleidung zur Inszenierung von Individualität, an der Herausbildung von individuellen Wohnformen und schließlich an der Ablösung des selbstverständlichen „Kirchgangs" durch „private" Zirkel zur Befriedigung kultureller Bedürfnisse. • Das fünfte Themenfeld schließlich kennzeichnet die Entstehung des frühneuzeitlichen Individualismus, und zwar in der Form, dass der Staat nunmehr eine andere Rolle erhielt, er als „eine Schöpfung und ein Werkzeug des Individuums" gesehen wurde (ebd., S. 127). Hermann Veith hebt hierauf ab, wenn er davon ausgeht, dass die sozialwissenschaftlichen Debatten der letzten Jahrhunderte alle auf die Frage zuliefen, „was mit den Menschen in einer Welt, die sie handelnd gestalten, geschieht, wenn ihr eigenes Erzeugnis - die Gesellschaft - im selben Akt zu einer objektiven, eigenständigen Form gerinnt und sich der intentionalen Kontrolle durch ihre Urheber entzieht" (Veith 1996, S. 9). Er unterstreicht damit, dass Handeln als menschliche Praxisform erst mit den Veränderungen der Französischen Revolution entstehen konnte, sie die Voraussetzung für die Möglichkeit eines autonomen Subjekts war. Dies wiederum war Folge der kapitalistischen Transformation der agrarischen Gesell-

36

Individuum

und

Gesellschaft

schaftsordnung, die Vergesellschaftung zu einer ubiquitären 1 Erfahrung werden ließ. Richard von Dülmen fasst den Prozess so zusammen: „Individualität bzw. das Bewusstsein von der eigenen Person ist keine Naturanlage, sondern das Produkt einer sozialen .Erziehung', wobei die zunächst äußerlichen Normen in einem längeren Prozess, der nicht auf die frühe Neuzeit beschränkt blieb, alle sozialen Schichten erfasste und nicht ohne Brüche verlief, ,verinnerlicht' wurden. Was viele ursprünglich unterließen, weil es verboten war, mieden sie später mehr oder weniger aus freien Stücken. Die anerzogene Einsicht in das richtige gesellschaftliche Verhalten steuerte das eigene Leben. Der Disziplinierungsprozess nahm keine Rücksicht auf die alte Autonomie des Menschen, schuf aber Voraussetzungen für die Idee der neuen Autonomie (Menschenwürde), eine reflexive Autonomie, die allerdings ebenso wie die alte gesellschaftlich vermittelt blieb" (Dülmen 1997, S. 62).

Mit dieser Entwicklung ging einher, was als Sozialisationsproblem zu fassen ist: Jeder einzelne Mensch muss sich über den Sinn des Lebens klar werden, was heißt, er muss ein Verständnis von sich Selbst als Teil einer Gemeinschaft entwickeln - da dieses Verständnis über Sprache hergestellt wird und Sprache immer schon ein Gemeinschaftsprodukt ist, so ist auch das Individuum nicht ohne Bezug auf andere zu denken (Taylor 1996, S. 69) - und er muss sein Handeln auf die (moralischen) Anforderungen der Gemeinschaft orientieren - sich sozialisieren. Thema aller sozialisationstheoretisch relevanten Konzepte sind entsprechend - so Hermann Veith - „die facettenreichen Auswirkungen der modernisierungsbedingten Transformation der sozialen Handlungsmodalitäten" (Veith 1996, S. 94). Zu diesen Transformationen gehört auch die „Krise der Moderne", die zu einer „Suche nach der verlorenen Identität" geführt hat

' Ubiquität - lat. Allgegenwart, im Abendmahlsstreit zwischen Reformierten und Lutheranern von Martin Luther entwickelte Lehre von der Allgegenwart Christi im Abendmahl (DerKnaurBd. 14, S. 5246).

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(Keupp 1997, S. 11). War die Entwicklung der Moderne im wesentlichen ein Emanzipationsprozess der Männer aus feudalen Abhängigkeiten, so hat die Veränderung des Geschlechterverhältnisses einerseits, die Naturzerstörung andererseits eine Erosion der Grundauffassungen vom autonomen Individuum bewirkt. Obsolet sind heute zweifellos jene Auffassungen vom Individuum, von Identität oder vom Subjekt, die diesen eine wesenhafte Substanz, eben jene Autonomie unterstellten. Dennoch heißt dies nicht, postmoderne Gesellschaften beinhalteten keine Identitätsprobleme mehr. Nach wie vor kann man davon ausgehen, „dass Identität die zentrale integrative Verknüpfung von individueller und gesellschaftlicher Ebene darstellt" (ebd., S. 28). Der „Risikogesellschaft" auf der einen Seite entspricht heutzutage eine „Patchworkidentität" auf der anderen Seite. Lothar Krappmann verlangt von heutigen Theorien von Entwicklung und Identitätsbildung die Berücksichtigung von mindestens folgenden fünf Punkten: • Die „Verschiedenheit der Lebenserfahrungen" könnte für postmoderne Identität bedeuten, „als zugehörig auch das auszuhalten, was seiner Art nach eigentlich nicht zu vereinigen ist" (Krappmann 1997, S. 88). • „Kritik an der linearen Finalität vieler Entwicklungsvorstellungen", die bisher davon ausging, Entwicklung bedeute immer frühere Kompetenzen durch höhere Stufen zu ersetzen (ebd.). • „Die Mannigfaltigkeit der Identitätsbalancen" zeigt sich, sobald empirisch Entwicklungsprozesse konkreter Menschen untersucht werden (ebd., S. 89). • „Das Problem der vom Scheitern bedrohten Konsensfindung" ergibt sich durch die Tatsache, dass Diskurs nicht notwendig Einigung bedeuten muss - Subjekte zwar ohne Kommunikation nicht denkbar sind, aber die jeweiligen Positionen nicht immer von den Interaktionspartnern vermittelbar sein müssen. • Schließlich erhalten Zeichen, Bilder und Worte andere Bedeutungen, was zugleich heißt, Identität wird „Resultat einer Aus-

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handlung von Differenz und Widerspruch" und ist keineswegs vorab gegeben (ebd., S. 90). Krappmann bezieht diese Einschätzungen aus seiner empirischen Arbeit mit Schulkindern: „Diese Heranwachsenden ringen in ihren Interaktionen und Beziehungen miteinander darum, als Personen, die sich in ihren Eigenarten und Anliegen verstehen, respektiert zu werden. Das vollzieht sich in vielen kritischen Situationen, in denen es Streit und Verletzungen gibt, aber auch vergnügliches und befriedigendes Einvernehmen" (ebd.). Die heutige Individualisierung als Folge der „Risikogesellschaft" (Beck 1986) lässt die stärker psychologisch ausgerichtete Betrachtung des Menschen für Sozialisationsfragen zentral werden. Sie soll im folgenden genauer betrachtet werden.

2.1.3 Persönlichkeitspsychologische Ansätze: Identität und Selbstkonzept In der Entwicklung der Persönlichkeitspsychologie herrschten lange zwei konträre Positionen vor - die Traitisten einerseits, die Situationisten andererseits. Traitisten - hergeleitet von trait = Eigenschaft gingen davon aus, dass Persönlichkeit etwas ist, das bereits fertig angelegt ist und sich nur entfalten muss (vgl. Abbildung 2). Situationisten betrachteten nur die Umwelt - die Person setzt sich aus den jeweils gerade vorhandenen Puzzlestückchen zusammen (vgl. Abbildung 3). Neuere Modellvorstellungen versuchen, beide Positionen miteinander zu verbinden, indem sie eine Wechselwirkung von Person und Situation annehmen (vgl. Abbildung 4).

Individuum und Gesellschaft

Abbildung 2:

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Persönlichkeitsentfaltung nach Erik Liebermann

Gordon Allport kann bereits als ein Vertreter des Interaktionismus gelten, weil er von der Annahme eines „intentional handelnden Individuums, das aktiv Situationen aufsucht, in denen es sich eigenschaftskongruent verhalten kann" ausging (Laux/ Weber 1985, S. 243). Menschliches Handeln ist bei ihm durch Stabilität und Konsistenz gekennzeichnet, wobei Eigenschaften nach dem Prinzip der Äquivalenz strukturiert werden: Ein höflicher Mensch beispielsweise bewertet unterschiedliche soziale Gegebenheiten als höflichkeitsrelevant und reagiert mit einer Vielzahl von Verhaltensweisen auf sie, die jedoch alle als „höflich" klassifizierbar sind. Persönliche Dispositionen kennzeichnen nach Allport die Einzigartigkeit eines Individuums. Sie stehen in Abhängigkeit zueinander und bilden den Kern oder den Fokus einer Person.

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Individuum

und

Gesellschaft

Abbildung 3:

Persönlichkeitsentwicklung nach Erik Liebermann

Abbildung 4:

Modellvorstellungen in der Persönlichkeitspsychologie und ihre Annahmen

Modell Eigenschaftsmodell

situationistisches Modell

interaktionistisches Modell

Annahmen/ Generalisierung über Annahme: Verhalten wird dominiert von Persönlichkeitseigenschaften. Generalisierung: Personen (P), Zeitpunkte bzw. Situation (t) Annahme: Verhalten wird dominiert durch situative Einflüsse Generalisierung: Personen (P) in Abhängigkeit von t, Annahme: Die Wechselwirkung von Person und Situation dominiert das Verhalten.

Jäger (1985), S. 226 Als prominenter deutscher Vertreter einer ähnlichen Position gilt Hans Thomae (geb. 1915 in Winkl), der Vertreter eines „dynamisch

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genetischen Modells der Persönlichkeit" (Wahl 1985, S. 256) ist. Zentral dafür ist die Betonung des Entwicklungsaspektes, was für die Klärung von Sozialisationsfragen natürlich ein wesentlicher Punkt ist. In Thomaes frühen Worten konstatierte er, „dass fast alles, was Form und geronnene Struktur am Charakter ist, einmal Geschehen war und dass vieles, was jetzt Geschehen ist, einmal Form, Haltung, Bereitschaft, Triebkraft werden kann" (Thomae 1951b, S. 1, zit. nach Wahl 1985, S. 256f.). Variabilität ergibt sich durch den Prozess der Persönlichkeitsbildung, Stabilität zeigt sich in der entstandenen Struktur. Beides muss ein inneres Gleichgewicht ergeben. Thomae nimmt dabei explizit auf den Sozialisationsprozess Bezug, wenn er sagt, der Mensch schaffe sich durch „kontinuierliche Sozialisation" sowohl eine Sicht der Welt, „die einer Gruppe, einem Verband, einer Kultur gemeinsam ist, wie eine für die individuellen Erfahrungen des einzelnen spezifische, 'private' oder 'individuelle' Welt" (Thomae 1971, S. 100, zit. nach Wahl 1985, S. 257). Der Zusammenhang zwischen Individuum und Gesellschaft wird durch ein homöostatisches Grundprinzip geregelt, wobei allerdings den kognitiven Repräsentationen der eigenen Situation eine wesentliche Rolle zukommt - eine größere als der „objektiven" Situation selbst. Dies kennzeichnet die „aktive Potenz" im Prozess der Persönlichkeitsformung. „Die Art, wie man die Welt deutet, die Art, wie man aktiv oder duldend reagiert, lösen oder verschärfen nicht nur das je gegenwärtige Problem. Sie ändern auch merklich oder unmerklich etwas an der eigenen Struktur" (Thomae 1967, S. 339, zit. nach Wahl 1985, S. 258). Dieser Strukturwandel der Persönlichkeit vollzieht sich im allgemeinen graduell, weist in der Regel unmerkliche Änderungen und Übergänge auf und nicht abrupte Veränderungen. Erforschbar sind diese Entwicklungen in der individuellen Biographie - womit man Thomae als einen frühen Biographieforscher bezeichnen könnte. Thomae unterscheidet in seinem Werk „Das Individuum und seine Welt" in der psychologischen Biographik Daseinsthemen und Daseinstechniken.

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Individuum und

Gesellschaft

„Daseinsthemen agieren als relative Konstanten menschlichen Verhaltens und richten als vergegenständlichte Bedürfnisse das Geschehen in bestimmter Weise auf einen Schwerpunkt von Äußerungen, zu dem die Mannigfaltigkeit des Geschehens immer wieder zurückkehrt. Daseinstechniken sind instrumentelle Einheiten der Verwirklichung von Themen des Daseins" {Wahl 1985, S. 259). Empirisch gewonnene Beispiele für Daseinsthemen sind z.B. regulative Thematik, sensorisch-exploratorische Thematik, Daseinssteigerung, soziale Integration oder Abhebung, kreative Thematik u.ä. Als Daseinstechniken finden sich z.B. leistungsbezogene Techniken, Anpassungsvarianten, defensive oder aggressive Techniken u.a. Hans Thomae will das Verhältnis von intraindividueller Variabilität und Konstanz durch die Untersuchung „thematischer Strukturierungen" erfassen, die sich auf den „psychologischen Lebensraum" als Inbegriff von durch Einstellungen, Erkenntnisse und Befindlichkeiten beschreibbare individuelle Lebenswelten beziehen. Anhand von zwei Beispielen aus Biographien soll im folgenden verdeutlicht werden, wie sich Daseinsthemen und -techniken als thematische Strukturierungen darstellen lassen: Einer der ersten (auto-)biographischen Romane war der in den Jahren 1785-1790 erschienene Band „Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz. Margret Kraul arbeitet daran heraus, was als Daseinsthema die gesamte psychologische Studie durchzieht: „Die Versuche des Anton Reiser, in .Richtigkeit' mit sich selbst zu gelangen" (Kraul 1997, S. 95). Diese Sinnsuche beschreibt Moritz explizit: „Nun war es sonderbar; wenn er im Anfang etwas niederschreiben wollte, so kamen ihm immer die Worte in die Feder: Was ist mein Dasein, was ist mein Leben? (...) Endlich arbeitete sich denn doch der Ausdruck durch die Gedanken durch - und das erste, was ihm in ziemlich passende Worte einzukleiden gelang, war etwas Metaphysisches über Ichheit und Selbstbewusstsein" (Anton Reiser S. 250f. - zitiert nach ebd.). Reisers Technik war der Rückzug in die Phantasie - wofür ja nicht zuletzt der Roman selber steht. Kraul zeigt auf, wie Moritz seinen

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Anton Reiser an den Themen Arbeit, Bildung und Theater diese Strategie durchspielen lässt: „Vervollkommnung über Arbeit geht mit frühkapitalistischer und religiös überhöhter Ausbeutung einher; Bildung erfüllt Wissbegier und facht die Auseinandersetzung mit Literatur und Philosophie an, macht aber auch die Erkenntnisgrenzen deutlich; Schreiben ist Selbstverwirklichung, aber auch Flucht; Phantasie und Theater sind Wege zu höchster Wonne, zielen aber bei Reiser weniger auf Realität und Realitätsveränderung als vielmehr auf Selbstauflösung" (ebd., S. 112). Das zweite Beispiel stammt aus jüngerer Zeit: Hans Eysenck, der vor allem bekannt wurde durch seine Intelligenztest-Trainings, seine Vererbungslehre und die englische Version der Verhaltenstherapie, hat 1990 seine Autobiographie veröffentlicht und sie im Alter von 80 Jahren 1996 noch einmal für eine Neuausgabe erweitert. Der Titel dieser Autobiographie - „Rebel with a Cause" steht für Eysencks Daseinsthema wie für seine Daseinstechnik: Wissenschaftler zu sein, der für seine Überzeugungen kämpft und damit gegen den Unverstand rebelliert. Im Vorwort zur Neuauflage schreibt er, er hätte immer Wissenschaftler sein wollen: „I always wanted to be a scientist, and that to me meant physics and astronomy; I shall tell how I got sidetracked into psychology, a science in the making" (Eysenck 1997, S. X). 1 In der 1990 geschriebenen Einleitung heißt es entsprechend: „I have never pulled my punches, and I will not do so here. When I found a theory, an experiment, or a method of treatment, floccinaucinihilipilificationistic, I have always said so, and I will not depart from that habit. It does not make for popularity, but I think the scientist owes the public one thing above all, and that is honesty in telling the truth as he sees it. That I shall try to do; whether the truth is even approximately as I see it is of course another

1

Ich wollte schon immer Wissenschaftler werden, aber ich dachte dabei an Physik oder Astronomie; ich sollte erzählen, wie ich in die Psychologie abglitt, einer Wissenschaft im Werden (Übersetzung HFW).

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matter; that readers will have to judge for themselves. Many readers will already know that in many ways I am a rebel - this book will make it clear why I think I have a cause" (ebd., S. 4), 1 Die Kampfthematik greift er im 1996 angefügten Kapitel „Does Age bring Wisdom?" (Bringt Alter Weisheit?) noch einmal auf: „I have always been a fighter so I shall fight as hard as I can to stay in the race, continue my research, and try to resolve some of the problems that remain in my particular field - personality, intelligence, behaviour therapy, smoking and disease, politics and social attitudes, and perhaps, if fate is kind, experimental aesthetics, the love of my life fifty years ago! This may be the end of my autobiography, but not, I hope and trust, of my scientific career - there is still a lot more to come!" (ebd., S. 306). 2 Beide Biographien lassen sich als Beispiele für „Selbstdarstellungen" von „Identität" lesen. Mit diesen Begriffen lässt sich die neuere Persönlichkeitspsychologie charakterisieren. Hans Dieter Mummendey nimmt zunächst eine Abgrenzung der verschiedenen Begrifflichkeiten vor: „Individuum" dient ihm zur Differenzierung eines Menschen von anderen „in bezug auf seinen Körper, sein Verhalten und Erleben" (Mummendey 1990, S. 78). Umgangssprachlich trifft dies auch auf „Person" zu.

1 Ich habe niemals mit Kritik hinterm Berg gehalten und ich werde es auch jetzt nicht tun. Wenn ich eine Theorie gefunden habe, ein Experiment oder eine Behandlungsmethode, habe ich dies ohne Rücksicht auf Verluste bekannt gemacht, und ich werde dies auch weiterhin tun. Es trägt nicht unbedingt zur Popularität bei, aber ich glaube, ein Wissenschaftler schuldet der Öffentlichkeit vor allem eins, und das ist, die Wahrheit zu sagen, wie er sie sieht. Das versuche ich immer; ob die Wahrheit annähernd so ist, wie ich sie sehe, ist natürlich eine andere Frage - das müssen die Leser selber entscheiden. Viele Leser wissen bereits, dass ich in vieler Hinsicht ein Rebell bin - und dieses Buch wird deutlich machen, warum ich glaube, gute Gründe dafür zu haben. 2 Ich bin immer ein Kämpfer gewesen und ich werde so hart kämpfen wie ich kann, um im Rennen zu bleiben, ich setze meine Forschungen fort, und versuche einige der Probleme zu lösen, die in meinem speziellen Feld noch offen sind - Persönlichkeit, Intelligenz, Verhaltenstherapie, Rauchen und Gesundheit, Politik und soziale Einstellungen, und vielleicht, wenn das Schicksal gnädig ist, experimentelle Ästhetik, mein Lieblingsthema von vor fünfzig Jahren! Dies mag das Ende meiner Autobiographie sein, aber ich hoffe und glaube, nicht das Ende meiner wissenschaftlichen Karriere - da ist noch viel zu erwarten!

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„Ein Individuum oder eine Person, das sind Einzelne, die man von anderen Einzelnen, von Gruppen oder Kollektiven abgrenzt oder aus ihnen heraushebt" (ebd.). Mit „Persönlichkeit" charakterisiert man dagegen „das Gesamt der individuellen Ausprägungen von Merkmalen oder Eigenschaften (sozusagen von der Schuhgröße bis zum Grad sozialer Angepasstheit)" (ebd.) - dies zugleich als „objektive" Darstellung eines Individuums. „Selbst" kennzeichnet die subjektive Sicht: „Eine Person ,besitzt' nach ihrer eigenen Auffassung alle möglichen Eigenschaften oder Merkmale, mit anderen Worten, sie fasst sich selbst als Persönlichkeit auf. Der Begriff ,Merkmal' oder .Eigenschaft' muss hierbei ganz weit ausgedehnt werden, d.h., er muss auch noch das Erleben der Einzigartigkeit, der Kohärenz usw. der Person umfassen" (ebd.). „Selbst" ist damit identisch mit dem Konzept, das man von sich hat. Mummendey spricht deshalb auch vom „Selbstkonzept". „Unter dem Selbstkonzept kann man demnach die Gesamtheit der auf die eigene Person bezogenen Beurteilungen verstehen" (ebd., S. 79). Er setzt dieses Konzept gleich mit dem Identitätsbegriff: „Der Identitätsbegriff scheint, von einigen fachspezifischen Traditionen abgesehen, nichts wesentlich anderes auszudrücken als die Begriffe .Selbst' und ,Selbstkonzept'. Ein Mensch stellt verschiedene soziale und situative Identitäten dar, und er ist doch stets mit sich selbst identisch. Er präsentiert verschiedene .Selbste' und verfügt doch - möglicherweise - über ein relativ stabiles Selbstkonzept" (ebd., S. 81). Dabei ist es insgesamt ja überhaupt nicht selbstverständlich, dass Menschen von sich und von anderen ein stabiles Bild entwickeln, worauf schon Piaton aufmerksam machte: „Denn auch von jedem einzelnen Lebenden sagt man ja, dass es lebe und dasselbe sei, wie einer von Kindesbeinen an immer derselbe genannt wird, wenn er auch ein Greis geworden ist: und heißt immer noch derselbe, ungeachtet er nie dasselbe an sich behält, sondern immer ein neuer wird und altes verliert an Haaren,

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Fleisch, Knochen, Blut und dem ganzen Leibe: und nicht nur an dem Leibe allein, sondern auch an der Seele, die Gewöhnungen, Sitten, Meinungen, Begierden, Lust, Unlust, Furcht, hiervon behält nie jeder dasselbe an sich, sondern eins entsteht und das andere vergeht" (Piaton: Symposion 207 c-e). Die sozialisationstheoretisch relevante Frage ist also, wie ein solches Selbstkonzept entsteht, wie Wissen über einen selbst erworben und so verarbeitet wird, dass Kontinuität erkennbar ist. In Gordon Allports Entwicklungstheorie bildet das Kind zunächst einen Sinn seines körperlichen Selbst aus, entwickelt dann eine Selbst-Identität, in der Erfahrung von Fähigkeiten und Fertigkeiten entsteht eine Selbstachtung und schließlich das Selbstbild als eines rational Handelnden. Allport ging sehr wohl davon aus, dass nicht allein die Eigenschaften zur Verhaltenskonsistenz beitragen, sondern dass Eigenschaften sich verändern infolge von Rückmeldeprozessen. Als Quellen von selbstbezogenem Wissen lassen sich nach SigrunHeide Filipp vor allem drei ausmachen: Am bedeutendsten ist die soziale Umwelt. „Andere Menschen stellen kontinuierlich informationelles Rohmaterial über die eigene Person bereit in Form verbaler Zuschreibungen wie auch über interaktive Verhaltensweisen, aus denen selbstbezogene Informationen erschlossen werden" (Filipp 1985, S. 349). Eine zentrale Steuerung für die Entwicklung des Selbstkonzeptes kommt dabei Vergleichen innerhalb von Gruppen bzw. zwischen Gruppen zu. Eine zweite wichtige Quelle ist die Beobachtung des eigenen Verhaltens, die entsprechend der entwickelten Selbst-Schemata organisiert wird - womit wiederum die aktive Rolle des Individuums in der Konstruktion seiner selbst angesprochen ist. Schließlich sind Prozesse des Memorierens und der Selbstreflexion wichtig - sie erlauben auch Veränderungen der Persönlichkeit. Hans Dieter Mummendey nennt in Anlehnung an einen Aufsatz von Annelie Mummendey als zentrale Begriffe für eine Theorie Identität „soziale Kategorisierung", „soziale Identität", „sozialer Vergleich" und „soziale Distinktheit":

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„Über den Prozess der sozialen Kategorisierung segmentieren Individuen ihre Umwelt hinsichtlich unterschiedlicher Merkmalsdimensionen in unterscheidbare soziale Kategorien oder Gruppen... Aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und aus der Beschaffenheit der Beziehungen dieser zu anderen Gruppen wird die soziale Identität eines Individuums bestimmt. Informationen über die Charakteristika dieser sozialen Identität gewinnt das Individuum über Ergebnisse von sozialen Vergleichen zwischen der eigenen und anderen Gruppen auf unterschiedlichen Verhaltensdimensionen. Jedes Individuum ist bestrebt, eine positive soziale Identität zu besitzen; sie ist aber dann positiv, wenn die sozialen Vergleiche zwischen eigener und anderen Gruppen für die eigene Gruppe positiv ausfallen, wenn damit eine gewisse positive Eigenart oder Distinktheit zu anderen Gruppen hergestellt wird" (A. Mummendey, 1985, S. 195)" {Mummendey 1990, S. 124). Die Verarbeitung des selbstbezogenen Wissens geschieht keineswegs notwendig als Prozess der Selbstwerterhöhung - wie man eine Zeitlang dachte. Entscheidender scheint die Aufrechterhaltung von Konsistenz zu sein, d.h. die Interpretation und Verarbeitung von Informationen in einer Weise, die kognitive Dissonanzen vermeidet. Hanns Martin Trautner und Arnold Lohaus haben die Entwicklung des Selbstkonzepts als prozessuale Verarbeitung von selbstbezogenen Informationen graphisch dargestellt (vgl. Abbildung 5).

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Abbildung 5:

Graphische Darstellung eines prozessual orien tierten Konzepts der Persönlichkeitsentwick lung als Verarbeitung von selbstbezogener In formation

Bewusstwerden der Trennung der eigenen Person von der Umgebung

Aufbau des Selbstkonzepts durch die Verarbeitung selbstbezogener Information

1

Vorläufige Festlegung des Selbstkonzepts

Informationen aus eigenem Verhalten Informationen aus der sozialen Umgebung über die eigene Person

Verhalten des Individuums

t

Biogenetische Faktoren Psychosoziale Faktoren

Zunehmende Festlegung des Selbstkonzepts Zunahme crosssituationaler Verhaltenskonsistenz

Quelle: Trautner/Lohaus

Zunahme interindividueller Verhaltensunterschiede

1985, S. 390.

Man muss allerdings nicht davon ausgehen, dass es ein einheitliches globales, d.h. über alle Persönlichkeitsbereiche gleiches Selbstkonzept gäbe. Vielmehr lassen sich bereichsspezifische Facetten identi-

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fizieren, die dann mit jeweils relevanten Verhaltensausschnitten in Beziehung gesetzt werden können. Man kann das Selbstkonzept als ein System von miteinander mehr oder weniger eng verbundenen Teilkonzepten begreifen. Leichter veränderbar sind dann die subjektiv als weniger bedeutsam empfundenen Konzeptbestandteile. Ein wesentlicher Motor für Veränderungen sind ganz offensichtlich kritische Lebensereignisse. Filipp definiert als solche Lebensereignisse • mehr oder minder abrupte Veränderungen in der Lebenssituation einer Person, • als subjektiv bedeutsam erlebte Ereignisse, vor allem emotional bedeutsame, • Ereignisse, die zu einem Ungleichgewicht im bisher aufgebauten Passungsgefüge von Person und Umwelt führen. Die Qualifizierung eines Ereignisses als „kritisch" ist dabei nur von der individuellen Ereigniswahrnehmung und -bewertung her bestimmbar. Forschungsmäßig ist bisher vor allem die Selbstkonzeptveränderung als Folge der Auseinandersetzung mit kritischen Ereignissen untersucht worden. Vernachlässigt wurde dagegen - so Trautneri Lohaus - die umgekehrte Sichtweise, „wonach Selbstkonzeptvariablen bzw. Persönlichkeitsmerkmale Antezedenzien der Konfrontation und Auseinandersetzung mit kritischen Lebensereignissen sind" (Trautneri Lohaus 1985, S. 393). Dies hieße, zu untersuchen, ob beim Vorliegen bestimmter Selbstkonzepte bestimmte Ereignisse überhaupt eintreten bzw. wie sie verarbeitet und bewältigt werden. Dies käme dann der Auffassung von Selbst - oder von Identität - nahe, die sich bei Charles Taylor findet: „Ich definiere, wer ich bin, indem ich den Ort bestimme, von dem aus ich spreche: meinen Ort im Stammbaum, im gesellschaftlichen Raum, in der Geographie der sozialen Stellungen und Funktionen, in meinen Beziehungen zu den mir Nahestehenden und ganz entschieden auch im Raum der moralischen und spirituellen Orientierung..." (Taylor 1996, S. 69).

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Mit einer solchen Definition findet sich ein neuer Anschluss an die Individualisierungsthese, die nahe legte, die je spezifischen Bedingungen der individuellen Entwicklung in den Blick zu nehmen und nicht mehr von einheitlichen Mustern auszugehen. Inwiefern dies jedoch eine Überzeichnung der gesellschaftlichen Realität ist, soll im folgenden betrachtet werden.

2.1.4 Studienpraktische Hinweise Die im Kapitel 2.1.2 nur sehr kurz skizzierte Entwicklung von Individualität als gesellschaftlichem Strukturierungsprozess lässt sich außer in dem zitierten Buch von Richard van Dülmen auch detailreich und theoretisch spannend bei Norbert Elias vertiefen. Seine beiden Bände „Über den Prozess der Zivilisation" beschreiben die Vergesellschaftung des Menschen als eine zunehmende Zurückdrängung von Affekten, ihrer Kontrolle durch zunehmende Selbstdisziplinierung, indem sich die Scham- und Peinlichkeitsgrenzen verschoben. Zur Person von Norbert Elias: Elias, Norbert: Norbert Elias Über sich selbst. Frankfurt/Main 1990. Zur Zivilisationstheorie: Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. (Band I: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Band II: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation.) Frankfurt/Main 1976. Zu einem Gegenmodell: Duerr, Hans Peter: Obszönität und Gewalt. Der Mythos vom Zivilisationsprozess. Frankfurt/Main 1995. Zur kritischen Würdigung: Ludwig-Mayerhof er, Wolfgang: Disziplin oder Distinktion? Zur Interpretation der Theorie des Zivilisationsprozesses von Norbert Elias. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50 (1998)H. 1, S. 217-237. Für einen weiterführenden Einblick in die im Kapitel 2.1.3 vorgestellten Ansätze zum Selbstkonzept, vor allem im Hinblick auf die

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Selbstdarstellung als grundlegender Form sozialen Verhaltens empfehle ich den Band von Hans Dieter Mummendey „Psychologie der Selbstdarstellung", Göttingen 1990. Er enthält neben einer Einführung in methodische Fragen auch eine Reihe von empirischen Ergebnissen zu Selbstdarstellungsstrategien. Eine Übersicht über Methoden der Persönlichkeitsforschung bietet der Aufsatz von Wolfgang Conrad „Erhebungsmethoden" in dem von Theo Herrmann und Ernst-Dieter Lantermann herausgegebenen Band „Persönlichkeitspsychologie", München 1985.

2.2

Gesellschaft

Theodor W. Adorno schreibt in seinen soziologischen Exkursen, „was Gesellschaft ... heißt, scheint zunächst selbstverständlich genug: die Menschheit samt den Gruppen verschiedenster Größenordnung und verschiedenster Bedeutung, aus denen sie sich zusammensetzt" (Adorno 1968, S. 22). Zugleich konstatiert er, dass diese Definition wenig aussagekräftig sei und präzisiert sie folgendermaßen: „Mit Gesellschaft im prägnanten Sinn meint man eine Art Gefüge zwischen Menschen, in dem alles und alle von allen abhängen; in dem das Ganze sich erhält nur durch die Einheit der von sämtlichen Mitgliedern erfüllten Funktionen, und in dem jedem Einzelnen grundsätzlich eine solche Funktion zufällt, während zugleich jeder Einzelne durch seine Zugehörigkeit zu dem totalen Gefüge in weitem Maße bestimmt wird" (ebd.). Ebenso wie schon für den Begriff des Individuums lässt sich auch für den der Gesellschaft eine historische Entwicklung ausmachen: Einerseits hat es bereits bei Piaton ein Verständnis dessen gegeben, was in diesem Sinne Gesellschaft ausmacht. Bei Piaton kam es zur Entstehung von Städten bzw. Staaten, „weil jeder einzelne nur sich selbst nicht genügt, sondern vieler bedarf' (Piaton: Symposion, 369b). Indem die einzelnen sowohl ihre Bedürfnisse wie ihre Fähigkeiten zu einem funktionalen Ganzen zusammenbrachten, konnte es

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zu einem arbeitsteiligen Gemeinwesen kommen. Ebenso wie schon für das Individuum erhielt der Gesellschaftsbegriff andererseits erst seine eigentliche Bedeutung in der Entstehung des Bürgertums gegen den Feudalismus. Während vorher dem Staat als Institution eindeutig bestimmende Funktion zukam, entstand nun eine Neubestimmung des Verhältnisses von Institutionen und Gruppen. Grundlage dafür war die Regelung des Privateigentums, für dessen Erhaltung der Staat Sorge tragen sollte. Norbert Elias verweist auf die Schwierigkeit, einen angemessenen Gesellschaftsbegriff zu entwickeln, der nicht bei der gedanklichen Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft stehen bleibt: „Die Gesellschaft, die man so oft gedanklich dem .Individuum' gegenüberstellt, wird ganz und gar von Individuen gebildet, und eines dieser Individuen ist man selbst" (Elias 1970, S. 9). Dabei unterscheidet er zwei mögliche Schemata zur Verortung von Individuen und Gesellschaft. Das weit verbreitete, aber unangemessene Modell ist das eines egozentrischen Gesellschaftsbildes, bei dem das Individuum als Mittelpunkt gesehen wird, um das sich in konzentrischen Kreisen „soziale Gebilde" legen (vgl. Abbildung 6). Adäquater ist ein Modell, bei dem Gesellschaft verstanden wird als Figuration interdependenter Individuen, bei dem die Figurationen dann variieren können, und „Familie", „Staat", „Gruppe" oder „Gesellschaft" versinnbildlichen. Frank Thieme benutzt den Begriff der Figuration zur Beschreibung von sozialen Ungleichheiten in der Gesellschaft. Er schreibt: „Unter Figuration soll verstanden werden, eine mehr oder weniger große Anzahl von zusammenlebenden Menschen, deren Form des Zusammenlebens zeit- und kulturspezifisch und darüber hinaus der kontinuierlichen Veränderung unterworfen ist" (Thieme 1998, S. 128/ 129).

Individuum und Gesellschaft

Abbildung 6:

5 3

Grundschema des

Norbert Elias veranschaulicht auch dieses Modell in einer Abbildung (vgl. Abbildung 7), wobei er auf die Vereinfachung hinweist, die durch die Beschränkung auf die „elementaren Typen der Ausgerichtetheit von Menschen aufeinander und der entsprechenden Bindungen aneinander" eingezeichnet sind, nämlich „die affektiven Valenzen. Andere Typen der Ausgerichtetheit und der Bindung von Menschen, etwa diejenigen, die auf Funktionsteilung, auf beruflicher Identifizierung, auf Ich- und Wir-Idealen, auf der Gegnerschaft gegen andere oder auf Sprech- und Denktraditionen beruhen, haben die gleiche Funktion" (ebd., S. 11). Die Absicht der Abbildung ist es, eine Modellvorstellung zu erleichtern, nach der man

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Gesellschaft

„Menschen und nicht zuletzt auch sich selbst, also alle Personen, die von sich ,Ich' oder ,Wir' sagen können, als semiautonome Einheiten unter anderen, nicht als absolut autonome Einheiten wahrnimmt und sich vergegenwärtigt, dass labile Machtbalancen ... und die entsprechenden Machtproben zu den Grundeigentümlichkeiten aller menschlichen Bindungen gehören, ob es sich um Bindungen zwischen zwei Menschen handelt oder um vielgliedrige Figurationen von Menschen" (ebd.). Abbildung 7;

Eine Figuration interdependenter Individuen

Legende:

Individuum Symbol einer mehr oder weniger „EGO", „ich" labilen Machtbalance •

Offene ungesättigte Valenz Quelle: nach Elias 1970, S. 11 Für die Erfassung von Sozialisationsprozessen wird es mit einem solchen Gesellschaftsverständnis wichtig, aufzuspüren, welche Figu-

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rationen von Bedeutung sind, wie in ihnen die Rolle der einzelnen Individuen angelegt ist und welche Machtbalancen bestehen.

2.2.1 Gesellschaftstheorien Lange Zeit herrschten zwei unterschiedliche Auffassungen der Beschreibung von Gesellschaft vor: Marxistisch orientierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sprachen von der Klassengesellschaft, in der bestimmt durch Besitzverhältnisse der Kapitalistenklasse die Arbeiterklasse gegenüber stand. Wenngleich dieses Modell primär darauf gerichtet war, Bewusstseinsentwicklungen und politisches Handeln zu erklären, so wurde es doch auch benutzt, um Sozialisationsprozesse zu verorten. In erster Linie interessierten dabei allerdings nur die Entwicklungen, die Arbeiterkinder durchliefen. Innerhalb der westlichen Soziologie war das vorherrschende Modell der Gesellschaft die Schichtentheorie. Auf der Basis von Berufen unterschied man Unterschicht, Mittelschicht und Oberschicht, differenzierte teilweise darüber hinaus zwischen unteren, mittleren und oberen Unter-, Mittel- und Oberschichten, so dass man auf maximal neun Schichten kam. Angewandt auf Sozialisationsfragen wurde unterstellt, dass die Berufszugehörigkeit des Vaters die Lebenssituation der Kinder determinierte. Sie tat dies einerseits über die mit ihr verbundenen Werthaltungen, andererseits über die durch sie konstituierte Familiensituation. Diese wiederum nahm Einfluss ebenfalls auf die Werthaltungen, zudem auf den Erziehungsstil der Eltern und das den Kindern vermittelte Leistungsmotiv. Alle drei Faktoren wirkten sich auf das Sprachverhalten aus und entschieden so über den Schulerfolg der Kinder, womit erneut die Bedingung für den Arbeitsplatz der künftigen Generation gegeben war (vgl. Abbildung 8).

Am konsequentesten wurde dieses Modell von Melvin L. Kohn in empirischen Untersuchungen umgesetzt. Er entwickelte ein verhältnismäßig konsistentes Modell von ökonomischen Grundlagen, Werthaltungen und Erziehungsverhalten. Seine These lautete:

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„That social class is significantly for human behavior because it embodies systematically differentiated conditions for life that profoundly affect men's views of social reality" (Kohn 1969, S. 180)1. Abbildung 8:

Sicht von Sozialisationsbedingungen in den 70er Jahren

Werthal4 tungen i

r

Arbeitsplatzsituation AI II I

V I Sprachverhalten

- 1 Familiensituation

Leistungsmotiv

Quelle: Faulstich/Faulstich-Wieland

Schul'erfolg

f

1975, S. 106

Kohn sieht als Hauptunterschied zwischen der Mittel- und der Unterschicht die Art der Orientierung: Unterschichteltern befürworten Konformität, während Mittelschichteltern Selbstbestimmung hochschätzen. Die Grundlage für die unterschiedliche Werthaltung findet Kohn in der Arbeitssituation. So erfordere die Arbeit mit Dingen als typische Situation der Arbeiterschicht - die wenigste Initiative, während Arbeit mit Symbolen (dates) - als typische Situation von Angestellten, also Angehörigen der Mittelschicht - die größte Eigeninitiative verlange. Entsprechend unterscheiden sich nach Kohns 1 Soziale Klassen sind bedeutsam für menschliches Verhalten, weil sie systematisch unterschiedliche Lebensbedingungen verkörpern, die grundlegenden Einfluß auf die Wahrnehmung der sozialen Welt nehmen (Übersetzung: HFW).

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Untersuchungen die Werthaltungen (Konformität bzw. Selbstbestimmung), die allerdings auch noch von der Zeit, die auf die verschiedenen Arbeiten mit Dingen und Symbolen verwandt wird, ebenso wie durch die Komplexität der Arbeit insgesamt beeinflusst werden. Arbeiter oder Angestellte, die ihre Arbeit als „an invisible flow" (ebd., S. 161) wahrnehmen, und deren Arbeit eine Vielzahl verschiedener Tätigkeiten enthält, wertschätzten Selbstbestimmung, während Arbeiter, deren Aufgaben einfach und ständig sich wiederholend sind, Konformität bevorzugten. Allerdings bestimmt nicht allein die Art der Tätigkeit und deren Wahrnehmung die Haltung der Arbeitenden, sondern auch die Stellung im Produktionsprozess, freies Arbeiten oder Aufsicht und Sicherheit oder Unsicherheit des Arbeitsplatzes. Die Situation der Mittelschicht erlaube ihren Mitgliedern einige Freiheit in ihren Handlungen und „some reason to feel in control of fate" (ebd., S. 189), Bedingungen, die nötig sind, um überhaupt eigene Standards und damit Selbstbestimmung zu entwickeln. Die Situation der Unterschicht dagegen erlaube kaum freies Handeln und „little reason to feel in control of fate" (ebd.). Ulrich Oevermann hat in seinem Gutachten für den Bildungsrat 1969 - das zentrale Dokument für die Bildungsreform (Roth 1969), mit dem ein Wandel von einer statischen Sicht auf Begabung hin zu einer Berücksichtigung von Sozialisationsbedingungen eingeleitet wurde - diese Sichtweise übernommen, wenn er konstatiert, der Arbeiter „trifft also am Arbeitsplatz auf ein streng vorgegebenes, quasi ritualisiertes Beziehungsmuster, das ihm keinen Spielraum und nur wenig Handlungsalternativen belässt" (Oevermann 1969, S. 304). Angenommen wird dann, dass der Zwang zur Konformität dadurch geradezu herausgefordert würde. Die Perpetuierung dieses Zustands geschieht über Sozialisation bzw. über Bildung als zentralem Element von Sozialisation. Und hieran etwas zu ändern, war Bestreben der Bildungsreformen der 60er/70er Jahre. In den 80er Jahren gab es nach dem vorherigen Streit zwischen den Klassen- und den Schichtenvertretern Versuche, alternative Gesellschaftsbeschreibungen zu finden. Modernisierungsprozesse, Werte-

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wandel, Konsummöglichkeiten usw. führten zur Rede von der neuen Unübersichtlichkeit (Habermas 1985), der Risikogesellschaft (Beck 1986) oder der pluraldifferenzierten Wohlstandsgesellschaft (Karl Martin Bolte). Rainer Geißler skizziert diese Entwicklung als durchaus problematisch, weil sie nach wie vor existierende Ungleichheiten aus dem Blick verliere: „Mit der unkritischen Fokussierung auf die dynamische Vielfalt der Lagen, Milieus und Lebensstile wird der kritische Blick für weiterhin bestehende vertikale Ungleichheitsstrukturen getrübt. Es besteht die Tendenz, dass vertikale Strukturen wegdifferenziert, wegpluralisiert, wegindividualisiert und wegdynamisiert werden. Sie werden mit einem Schleier von Prozessen der Individualisierung, Pluralisierung, Differenzierung und Dynamisierung verhüllt und unkenntlich gemacht" (Geißler 1996, S. 323). Auch Geißler allerdings bestreitet nicht, dass eine differenzierte Beschreibung der Gesellschaft notwendig ist, man von Pluralisierung und Dynamisierung der bisherigen Schichten sprechen kann. Als Kennzeichen der modernen Schicht- und Klassenstruktur nennt er fünf Merkmale (ebd., S. 332ff): • Multidimensionalität: Die Ungleichheitsstruktur hat viele Dimensionen, von denen eine die vertikale Gliederung in Schichten und Klassen ist. Daneben aber bilden Geschlecht, Nationalität, Alter, Generation, Region, Familienstand usw. ebenfalls ungleiche Gefüge. • Dominanz der vertikalen Ungleichheit: Lebenschancen werden nach wie vor primär durch die Unterschiede in Berufspositionen und Qualifikationsniveaus bestimmt und weniger durch die anderen Kriterien. • Überlappung von Klassen und Schichten: Die Zusammenhänge von Beruf, Qualifikationsniveau, Ressourcenausstattung, Habitus und Lebenschancen sind nicht deterministisch, es gibt keine klaren Grenzen.

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Latenz der modernen Schichtstruktur: In den Alltagsbeobachtungen sind Unterschiede - z.B. an der Marke des Autos - nicht mehr so klar erkennbar. • Staffelung der Sozialstruktur: Nicht alle Ressourcen, Habitusstrukturen und Lebenschancen sind schichtspezifisch verteilt, es gibt vermutlich ein Kontinuum von stark schichtspezifischen zu schichtunspezifischen Segmenten. Wie lassen sich nun aber die sozialen Gruppierungen der Gesellschaft genauer beschreiben?

2.2.2 Die feinen Unterschiede - soziale Milieus und Lebensführung Das Sinus-Institut in Heidelberg hat bereits 1979 angefangen, eine Milieu-Analyse zu entwickeln, die eine Kombination aus sozialer Lage - d.h. Schichtzuordnungen - und Werthaltungen darstellt. Aus 1.500 qualitativen Interviews wurden Milieutypologien entwickelt, die schließlich durch 45 Statements als Indikatoren für Milieus an mehr als 60.000 Fällen standardisiert repräsentativ erprobt wurden (Vester u.a. 1993, S. 39). Unterschieden wurden zunächst acht Milieus, Anfang der 90er Jahre dann neun. Michael Vester u.a. - die in einer großangelegten empirischen Studie mit diesem Instrument gearbeitet haben - ordnen die SINUS-Milieus für Westdeutschland nach Bourdieus Konzept des sozialen Raums und des Habitus der Klassenfraktionen an (vgl. Abbildung 9; vgl. auch Kap. 4.3). Vertikal angeordnet werden also die mit den bisherigen Schichtzuordnungen vergleichbaren Einteilungen, horizontal kommt als Unterscheidung im wesentlichen die Werthaltung gegenüber Veränderungen hinzu. Die beiden Prozentangaben in den einzelnen Zellen markieren die Veränderungen zwischen der Erhebung 1982 und 1992.

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Abbildung 9: Habitus Oberklassenhabitus 2 2 % ff

19%

Milieus in Westdeutschland traditionell

teilmodernisiert

4 6 % fl 3 5 %

3 8 % fl 4 5 %

1 4 % ff 2 0 %

Konservatives gehobenes Milieu

Technokratischliberales Milieu 9% ft 9%

Alternatives Milieu

Hedonistisches Milieu

9 % ff 8 %

modernisiert

4 % ff 2 %

Mittelklassenhabitus

Kleinbürgerliches Milieu

Aufstiegsorientiertes Milieu

5 8 % fr 5 9 %

28%

ff 2 2 % Traditionelles Arbeitermilieu

2 0 % ff 2 4 %

1 0 % ff 1 3 %

Traditionsloses Arbeitermilieu

N e u e s Arbeitnehmermilieu

9 % ff 5 %

9 % ff 1 2 %

0 % ff 5 %

Arbeiterhabitus 18%

ft 2 2 %

nach: Vesteru.a. 1993, S. 16 Um eine genauere Vorstellung davon zu haben, was diese einzelnen Milieus ausmacht, sollen sie im folgenden beschrieben werden. Neben der Kurzbeschreibung, die durch Becker u.a. vom SINUSInstitut hinsichtlich sozialer Lage, Lebenszielen und Lebensstilen gegeben wird, sollen aus einer im Auftrag der Zeitschrift „Das Haus" seit 1985 gemeinsam mit dem Sinus-Institut durchgeführten Studie zu „Wohnwelten in Deutschland" Charakterisierungen der Alltagsästhetik hinsichtlich der ästhetischen Grundmotive und der Vorstellungen von Schönem und Hässlichem herangezogen werden. Darüber hinaus definiert diese Studie neun Geschmacksdimensionen, die schwerpunktmäßig einigen Milieus zuordenbar sind. Die folgenden Beschreibungen gelten zunächst einmal nur für die alten Bundesländer. Fangen wir mit den bei Vester u.a. als traditionell charakterisierten Milieus an 1 :

1

Die Beschreibung von sozialer Lage, Lebenszielen und Lebensstil ist wörtlich übernommen von Beciter/Becker/Ruhland 1992, S. 90-98, zitiert nach Vester u.a. 1993, S. 22-24. Die Beschreibung der Alltagsästhetik wird zitiert aus Becker/ Flaig 1991, S. 28-31 bzw. den jeweils noch angegebenen Seiten.

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Konservativ gehobenes Milieu Soziale Lage: Die Menschen verfügen über eine überdurchschnittliche hohe Formalbildung, man findet häufig Akademiker, die vielfach als leitende Angestellte und Beamte, als Selbständige und Freiberufler den hohen und höchsten Einkommensklassen angehören. Deutlich unterrepräsentiert sind die jüngeren Generationen, überdurchschnittlich häufig vertreten sind Rentner und Pensionäre. Lebensziele: Charakteristisch ist die Bewahrung gewachsener Strukturen und .humanistischer' Tradition. Aufgrund ihres ausgeprägten Elitebewusstseins legen sie großen Wert auf anerkannte gesellschaftliche Stellung. Materieller Erfolg gilt als selbstverständlich, wird aber nicht zur Schau gestellt. Vielmehr bevorzugt man einen distinguierten Lebensrahmen, der es ermöglicht, ein harmonisches Familienleben und ein auch individuell erfülltes Privatleben zu führen. Lebensstil: Das Milieu ist an Traditionen orientiert, die kenntnisreich und stilsicher gepflegt werden. In allen Lebensbereichen werden hohe Qualitätsansprüche angelegt. Was sich mit diesem Lebensstil nicht vereinbart, lehnt man als oberflächlich und übertrieben ab. Alltagsästhetik: Grundmotive • Harmonie und Ausgewogenheit: nichts Übertriebenes, Protziges, Schreiendes • Hohe Qualitätsansprüche, Stilsicherheit, Kennerschaft: das Echte, Dezente • Abgrenzung durch Traditionsbezug, Dinge mit biografischen Bezügen, Erbstücke, „Ahnengalerie" • Bevorzugung natürlicher Materialien: Holz, Leder, Seide, Wolle Schönes - Milieutypische Vorstellungen: • Venus von Milo/ Musik von Mozart • Lebenslustige junge Menschen/ Gesunde Kinder • Schwarzwald-Landschaft/ Verschneiter Wald Hässliches - Milieutypische Vorstellungen: • Schlampige Kleidung/ Ungepflegte Menschen • Barbie-Puppen/ Nachgemachte Stilmöbel • Verlotterte Häuser/ Verwahrloste Neubausiedlungen Die vorherrschenden Geschmacksdimensionen bei der Wohnstilrichtung sind die der bürgerlichen Tradition einerseits, der Nostalgie andererseits (Becker/ Flaig 1991, S. 72, 76). Kleinbürgerliches Milieu Soziale Lage: In diesem Milieu finden sich überwiegend Menschen, die nach der Hauptschule eine berufliche Ausbildung absolviert haben. Zumeist sind es kleine und mittlere Angestellte und Beamte sowie kleine Selbständige und Landwirte, die entsprechend geringe bis mittlere Einkommen erwirtschaften. Auch in diesem Milieu sind Rentner und Pensionäre deutlich überrepräsentiert.

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Individuum und Gesellschaft

Lebensziele: Sie möchten vornehmlich an traditionellen Werten wie Disziplin und Ordnung, Pflichterfüllung und Verlässlichkeit festhalten. Auch in materieller Hinsicht werden „bleibende Werte" hochgeschätzt: Man möchte seinen Besitz mehren, wirtschaftliche Sicherheit erlangen und, falls möglich, den Lebensstandard erhöhen. Dies allerdings ohne Risiko und sozialen Ehrgeiz: Im Zweifelsfall, erst recht in Krisenzeiten, orientiert man sich am Status quo und versucht, den erreichten bescheidenen Wohlstand abzusichern und weiterhin in geordneten Verhältnissen zu leben. Lebensstil: Die Menschen des Kleinbürgerlichen Milieus sind an Selbstbeschränkung gewöhnt und notfalls zum Verzicht bereit. Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit werden hochgeschätzt. Man bevorzugt zeitlos-gediegene Produkte, lebt unauffällig und passt sich soweit als möglich den Konventionen und Gegebenheiten an. Alltagsästhetik: Grundmotive • Nicht unangenehm auffallen, keine Extravaganzen; Anpassung an die Geschmackskultur der Mehrheit • Gemütlichkeit, Geborgenheit; Sehnsucht nach der Idylle • Sauberkeit und Ordnung, alles an seinem Platz, alles aus einem Guss (blitzende Küchen, akkurat gemachte Betten) • Nicht nur schön, sondern auch praktisch: Knitterfrei, schmutzabweisend, langlebig, zeitlos, gediegen Schönes - Milieutypische Vorstellungen: • Gemütlich eingerichtete Wohnung/ Rustikales Bauernzimmer • Dekorative Kerzenleuchter/ Handgearbeiteter Wandbehang • Satte grüne Wiesen/ Liebliches Tal/ Verspielter junger Hund/ Graziles Reh Hässliches - Milieutypische Vorstellungen: • Flaschen, Plastiktüten, Unrat in der Natur • Unordentliche Menschen/ Frauen, die Zigarette rauchen • Pornografie/ Abstrakte Kunst Die vorherrschenden Geschmacksdimensionen bei der Wohnstilrichtung sind die der Rustikalität einerseits, sowie ebenfalls der Nostalgie andererseits {ebd., 1991, S. 70, 76). Traditionelles Arbeitermilieu Soziale Lage: Angehörige dieses Milieus haben mehrheitlich nach der Hauptschule eine Berufsausbildung erhalten. Sie sind hauptsächlich in industriellen Branchen als Facharbeiter, an- oder ungelernte Arbeiter beschäftigt. In der Regel erzielen sie kleine bis mittlere Einkommen. Das Milieu weist einen überdurchschnittlich hohen Anteil von Rentnern auf. Lebensziele: Sein gutes Auskommen zu haben und einen befriedigenden Lebensstandard zu erreichen, gilt als wesentliches Ziel. Man strebt einen sicheren und

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und Gesellschaß

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dauerhaften Arbeitsplatz an, nicht zuletzt auch mit Blick auf materielle Absicherung im Alter. Die Menschen dieses Milieus sind bescheiden und passen sich Notwendigkeiten an. Traditionelle Arbeiterkultur wird hier noch geschätzt und gelebt: Man möchte bei Freunden, Kollegen und Nachbarn anerkannt und in eine überschaubare Gemeinschaft integriert sein. Lebensstil: Die Angehörigen dieses Milieus sind an Sparsamkeit und einfache Lebensweise gewöhnt. Aufgrund ihrer pragmatischen Sicht der eigenen sozialen Lage erheben sie nur bescheidene Konsumansprüche. Sie lassen sich weder von Prestigedenken noch von Trends oder Moden leiten; vielmehr werden solide und haltbare Produkte bevorzugt. Alltagsästhetik: Grundmotive • Bequemlichkeit, sich wohl fühlen, Erholung, Geselligkeit. Prototypisch: die Wohnküche • Keine übertriebenen Stilansprüche: Bevorzugung solider, handfester und haltbarer Produkte • Stolz auf den erreichten Lebensstandard (z.B.: das „Vorzeige-Wohnzimmer") • Dekorieren, ausschmücken: „Etwas für's Auge haben" Schönes - Milieutypische Vorstellungen: • Echte Teppiche/ Marmortisch/ Schrankwand in Eiche • Kristallgläser/ Topfpflanzen/ Stickarbeiten • Romantischer Sonnenuntergang Hässliches - Milieutypische Vorstellungen: • Abstrakte Bilder von modernen Malern • Frauen mit dicken Beinen • Altmodische Möbel/ Rostige Autos Die vorherrschenden Geschmacksdimensionen bei der Wohnstilrichtung sind die der Rustikalität, ebenfalls der Nostalgie, sowie außerdem der konventionellen Gemütlichkeit (ebd., 1991, S. 70, 76, 82).

Die teilmodernisierten Milieus sind folgende: Technokratisch-liberales Milieu Soziale Lage: Die Menschen dieses Milieus verfügen über eine überdurchschnittlich hohe Formalbildung. Zumeist sind es Schüler und Studenten, qualifizierte und leitende Angestellte und Beamte sowie mittlere und größere Selbständige und Freiberufler. Hohe und höchste Einkommen sind im Technokratisch-liberalen Milieu überrepräsentiert. Lebensziele: Wer diesem Milieu angehört, ist von dem Wunsch nach neuen Erfahrungen, nach Wachstum und Entwicklung seiner Persönlichkeit erfüllt. Man strebt Erfolg, einen hohen Lebensstandard und - berufliche - Selbstverwirklichung an. Karriere und Leben werden zielbewusst geplant - Glück gilt als „machbar". Aber

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man möchte sich auch Freiräume schaffen und bewahren, in denen man „die schönen Dinge des Lebens" genießen kann. Lebensstil: Die Menschen dieses Milieus empfinden ein starkes Bedürfnis nach individueller Selbstdarstellung. Als Konsumenten häufig Trendsetter, pflegen sie vielfach einen avantgardistischen Stil, den sie mit Souveränität und Kennerschaft kultivieren. Ihre Alltagsbewältigung ist nicht selten auch durch spielerische Momente geprägt: man versucht, das Leben nicht allzu ernst zu nehmen, und möchte sich nicht „zu Tode schuften". Alltagsästhetik: Grundmotive •

Stilsicherheit, Souveränität, Kennerschaft, Abgrenzung gegenüber „Banausentum" • Starkes Bedürfnis nach Selbstdarstellung, Imagepflege, Understatement als Stilmittel • Stilavantgardismus, Trendsetting, Orientierung an neuen Modeströmungen • Ästhetischer Nonkonformismus, inszenierte Stilbrüche Schönes - Milieutypische Vorstellungen: • Klare geometrische Formen/ Klassisch-einfache Linienführung • Wassily-Stühle/ Bauhaus-Architektur/ Golden Gate Brücke • Altpersische Teppiche/ Renaissance-Malerei/ Japanische Gärten Hässliches - Milieutypische Vorstellungen: • Plüschsofas/ Ölbilder von röhrenden Hirschen/ Umhäkelte Klorollen • Sterbende Wälder/ Industriereviere/ Betonarchitektur der 60er Jahre • Verkniffene Gesichter/ Spießer mit Hut Die vorherrschenden Geschmacksdimensionen bei der Wohnstilrichtung sind die der klassischen Modernität, der repräsentativen Individualität, sowie außerdem der Avantgarde (ebd., 1991, S. 74, 80, 86).

Aufstiegsorientiertes Milieu Soziale Lage: Wer diesem Milieu angehört, hat häufig einen mittleren Schulabschluss oder die Hauptschule mit abgeschlossener Berufsausbildung absolviert. Es sind zumeist Facharbeiter und qualifizierte Angestellte, auch - kleinere - Selbständige und Freiberufler, die in der Regel mittlere bis hohe Einkommen erzielen. Lebensziele: Der berufliche und soziale Aufstieg bildet den zentralen Lebensinhalt der Menschen dieses Milieus. Man will sich hocharbeiten, vorzeigbare Erfolge erzielen, den Durchschnitt übertrumpfen und soziales Ansehen genießen. Entsprechend kommt dem Prestigekonsum ein hoher Stellenwert zu (Auto, Urlaub, exklusive Freizeitaktivitäten). Lebensstil: Die Menschen dieses Milieus orientieren sich an den Standards gehobener Schichten. Man möchte berufliche und soziale Rollenerwartungen erfüllen

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und pflegt prestigeträchtigen Konsumstil, bei dem Statussymbolen besondere Bedeutung zukommt. Alltagsästhetik: Grundmotive • Konformismus auf gehobenem Niveau; Orientierung an den Standards der Mittelschicht, Prestigedemonstration • Stilunsicherheit; fehlender Bildungshintergrund, mangelnde ästhetische Kompetenz • Überzogene Inszenierungen, Neigung zur Überperfektion. Sowohl moderne als auch nostalgische Stilrichtungen Schönes - Milieutypische Vorstellungen: • Wolkenkratzer in Manhattan/ Porsche Turbo • Elegantes Outfit/ Edler Schmuck/ Stilvolle Wohnungseinrichtung/ Gemälde alter Meister/ Rosenstrauß Hässliches - Milieutypische Vorstellungen: • Altmodische Kleider/ Langweilige Badezimmer • Stilbrüche/ Neugotischer Baustil • Spießige Kleinwagen/ Kitschige Bilder/ Primitive Möbel Die vorherrschenden Geschmacksdimensionen bei der Wohnstilrichtung sind cbenfalls die der klassischen Modernität, sowie der repräsentativen Individualität (ebd., ¡991, S. 74, 80). Traditionsloses Arbeitermilieu Soziale Lage: Diesem Milieu gehören überwiegend Menschen mit geringer Formalbildung an. Ungelernte und angelernte Arbeiter sind überrepräsentiert, entsprechend auch die unteren Einkommensschichten, und es herrscht hohe Arbeitslosigkeit Lebensziele: Nichts ist den Angehörigen dieses Milieus wichtiger, als den Anschluss an die breite Mittelschicht zu halten. Deren Konsumstandards (Video, Auto) werden daher hochgeschätzt; man möchte als „normal" und „bürgerlich" gelten, mithalten und als Angehörige der „breiten Mitte" anerkannt werden. Lebensstil: Aufgrund ihrer begrenzten finanziellen Möglichkeiten leben die Angehörigen des Traditionslosen Arbeitermilieus meist „von der Hand in den Mund" und häufig über ihre Verhältnisse. Ihr Konsumstil ist spontan, impulsiv greifen sie neue Trends und Moden auf. Man konzentriert sich auf das Hier und Heute und vernachlässigt Daseins- und Altersvorsorge, da man die Zukunft aus seinen Gedanken verdrängt. Alltagsästhetik: Grundmotive • •

Man will „mithalten". Wunschbild: Repräsentative Gemütlichkeit Kein ästhetisches Konzept: Sammelsurium verschiedener Stilrichtungen

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Individuum und

Gesellschaft

• Dekorieren, ausschmücken (Nippes, Kitsch) Schönes - Milieutypische Vorstellungen: • Schickes Kleid/ Tolle Frisur/ Lässiges Auftreten • Fetziger Disco-Sound/ Modern gemusterte Tapete/ Digitaluhr • Teure Bungalows mit Swimming-Pool/ Großer BMW (getuned) Hässliches - Milieutypische Vorstellungen: • Altmodisches Wohnzimmerbüfett/ Neumodische Malerei • Schmutzige Kinder/ Verwahrloste Hippies • Spießige Kleidung/ Kleinwagen Die vorherrschenden Geschmacksdimensionen bei der Wohnstilrichtung sind die der Rustikalität, sowie der konventionellen Gemütlichkeit {ebd., 1991, S. 70, 82). r

Die drei modernisierten Milieus sind: Alternatives Milieu Soziale Lage: Deutlich überrepräsentiert sind Menschen der höchsten Bildungsstufen. Zu diesem Milieu gehören viele Schüler und Studenten, qualifizierte Angestellte, Beamte im höheren Dienst und Freiberufler. Überdurchschnittlich häufig werden sowohl geringe als auch hohe Einkommen erzielt. Lebensziele: Selbstverwirklichung, Entfaltung der Persönlichkeit gelten als wichtigste Lebensziele. Man möchte intensive zwischenmenschliche Beziehungen pflegen und am kulturellen und politischen Leben teilnehmen. Die Menschen dieses Milieus sind „postmateriell" orientiert, sie lehnen äußerliche Werte ab und möchten sich - privat und gesellschaftlich - für den Aufbau einer menschengerechten Welt engagieren. Lebensstil: Die Menschen des Alternativen Milieus leben umweltbewusst. Möbel, Kleidung und Nahrung fertigt man gern selbst an; vielfach zieht man sich in „alternative Idyllen" zurück. Größte Wertschätzung genießen Stilmerkmale wie Individualität und „Authentizität". Alltagsästhetik: Grundmotive • Wertschätzung alles Lebendigen, Natürlichen, Ursprünglichen: Unverfälschte Natur, Echtheit, Kommunikation • Gegen die industrielle Konsumkultur, Orientierung am „menschlichen Maß", hohe Wertschätzung von Do-it-yourself-Produkten • Nostalgische Gemütlichkeit, Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies (z.B. alte Bilderrahmen, Zimmerpflanzen, Kohleofen) • Stilavantgardismus, Kennerschaft, sorgfältige ästhetische Inszenierungen, New-Wave-Arrangements Schönes - Milieutypische Vorstellungen: • Die unverfälschte Natur/ Das Echte, Ursprüngliche

Individuum und Gesellschaft •

Lebendig wirkende Menschen/ Kinder/ Meer/ Weite Landschaften/ Licht Hässliches - Milieutypische Vorstellungen: • Biedermeier/ Teakholzfurnier • Plastik/ Beton/ Wohnsilos/ Neubauten • Massentourismus/ Zugeparkte Straßen und Die vorherrschenden Geschmacksdimensionen der legeren Gemütlichkeit, der repräsentativen ventionalismus (ebd., J991, S. 78, 80, 84).

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Menschliche Gesichter/ Gewitter/

Plätze bei der Wohnstilrichtung sind die Individualität, sowie des Antikon-

Hedonistisches Milieu Soziale Lage: Bei einem Altersschwerpunkt zwischen 20 und 30 Jahren zählen die Angehörigen dieses Milieus zur jungen Generation. Menschen mit geringer Formalbildung - „Abbrecher" - sind überrepräsentiert. Entsprechend findet man, neben vielen Schülern und Auszubildenden, einen hohen Anteil an Arbeitslosen, unund angelernten Arbeitern sowie ausführenden Angestellten („Jobber"). Überwiegend verfügt man nur über kleine bis mittlere Einkommen. Lebensziele: demonstrativ lehnen die Menschen des hedonistischen Milieus Werte wie Sicherheit und Geborgenheit ab. Es sind radikale Individualisten, die Werte wie Freiheit, Ungebundenheit und Spontaneität favorisieren. Man möchte das Leben genießen, intensiv leben und sich von den „Spießern" unterscheiden. Lebensstil: Da die Menschen dieses Milieus bewusst im „Hier und Jetzt" leben, wird die Lebensplanung häufig vernachlässigt. Spontan ist auch der Konsumstil, eher unkontrolliert der Umgang mit Geld. Man hat Freude an einem „guten Leben", an Luxus und Komfort, wobei Originalität, Unverwechselbarkeit und „Echtheit" als wichtige Stilkriterien gelten. Alltagsästhetik: Grundmotive • Anders sein als die „Spießer", Nonkonformismus, Stilprotest, Spontaneität, Kommunikation (Lebendigkeit) • Originalität, Unverwechselbarkeit, Echtheit; starker Drang nach individueller Selbstdarstellung • Stilistisch ist alles möglich: Stilbasteleien, bunte, spielerische Inszenierungen, „Sperrmüllästhetik", Ästhetik der starken Reize: Auffallen, provozieren, schocken Schönes - Milieutypische Vorstellungen: • Herbstwald/ Meeresstrand/ Aufgehende Sonne • Schöne Menschen/ Sinnliche Körper/ Lebendigkeit/ Chrom, Neon und Plastik/ Tolle Stereoanlage/ Ford Thunderbird Hässliches - Milieutypische Vorstellungen: • Die verschandelte, zubetonierte Natur

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• Fabriken/ Autos/ Fußgängerzonen/ Beton • Gartenzwerge/ Jägerzäune/ Couchgarnituren Die vorherrschenden Geschmacksdimensionen bei der Wohnstilrichtung sind die der klassischen Modernität, der legeren Gemütlichkeit, der repräsentativen Individualität, des Antikonventionalismus, sowie schließlich noch der Avantgarde {ebd., 1991, S. 74, 78, 80, 84, 86).

Neues Arbeitnehmermilieu Soziale Lage: Bei einem Altersschwerpunkt unterhalb von 25 Jahren zählen die Angehörigen dieses Milieus überwiegend zur jungen Generation. Durchweg haben sie zumindest den Realschulabschluss erreicht, und viele von ihnen sind Auszubildende, Schüler und Studenten. Als Facharbeiter sind sie häufig in Schrittmacherindustrien beschäftigt; vielfach arbeiten sie als qualifizierte Angestellte oder als Beschäftigte im Öffentlichen Dienst. Lebensziele: Die Grundhaltung der Menschen dieses Milieus ist zugleich hedonistisch und realitätsbezogen: Das Leben möchte man sich so angenehm wie möglich gestalten, und man möchte sich leisten können, was einem gefällt. Aber die „Neuen Arbeiter" sind auch flexibel in ihren Ansprüchen, was sie davor bewahrt, über ihre Verhältnisse zu leben. Geistig und fachlich möchte man sich kontinuierlich weiterentwickeln, lebenslänglich lernen, um nicht irgendwann stehenzubleiben. Hochgeschätzt werden kreative, verantwortungsvolle Berufe, in denen man eigenständig handeln kann. Lebensstil: Die Angehörigen dieses Milieus verfügen über kein geschlossenes Weltbild und fühlen sich Traditionen nicht verpflichtet. Vielmehr sind sie aufgeschlossen für Neues, stiltolerant und mobil. Als Mainstreamer der jungen Freizeitkultur neigen sie zu „konventionellem Modernismus" im Konsum. High Tech gilt ihnen als selbstverständliche Komponente - in der Freizeit ebenso wie im Beruf. Da dieses Milieu in den Sinus-Studien von 1982 noch nicht vorhanden war, konnte es auch nicht in der Untersuchung zu den Wohnwelten berücksichtigt werden.

Betrachtet man diese Zusammenstellungen, so zeigt sich, dass die Geschmacksdimensionen primär von der Grundorientierung abhängig sind, - d.h. der eher traditionellen, der eher materiellen oder der postmateriellen Orientierung - weniger von der sozialen Stellung. Ausnahmen bilden hier das konservative gehobene Milieu einerseits, für welches die bürgerliche Tradition großen Wert hat, die Arbeitermilieus andererseits, für die konventionelle Gemütlichkeit sehr wesentlich ist.

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Interessant ist noch, dass die Studie zu den Wohnwelten auch nach Leitbildbeziehungen zwischen den Milieus gefragt hat. Das konservative gehobene Milieu stellt dabei noch deutlich im Blick auf Life Style und Konsum das Leitmilieu für das kleinbürgerliche Milieu, dieses wiederum für das traditionelle Arbeitermilieu. Das technokratisch-liberale Milieu ist orientierend für die teilmodernisierten Gruppierungen, also für das aufstiegsorientierte Milieu, das wiederum Leitmilieu für das traditionslose Arbeitermilieu ist. Weniger deutliche wechselseitige Beeinflussungen gibt es zwischen den Milieus der oberen Klassen sowie zwischen dem technokratischliberalen und dem hedonistischen Milieu {ebd., 1991, S. 93ff.). Nach der deutschen Vereinigung stellt sich natürlich die Frage, ob diese Milieubeschreibungen auch für die neuen Länder gelten oder ob wir es hier mit anderen sozialen Charakterisierungen zu tun haben. Ab Anfang 1990 hat das Sinus-Institut in der damaligen DDR zunächst mit qualitativen Instrumenten, dann auch mit quantitativen Überprüfungen eine Milieuanalyse der neuen Bundesländer vorgenommen. Gemeinsam mit der Burda GmbH wurde im April 1993 eine analoge Studie wie für Westdeutschland zu den „Wohnwelten" in Ostdeutschland vorgelegt. Die Milieus in den neuen Bundesländern lassen sich, wenn man sie in eine parallele Anordnung zu jenen in den alten Ländern bringt, durchaus vergleichen (Flaig 1993, S. 21). Direkt vergleichbar sind dabei die kleinbürgerlichen Milieus sowie die traditionslosen Arbeitermilieus. Keine Entsprechung gibt es dagegen für das rationalistisch-technokratische Milieu in Ostdeutschland und das technokratisch-liberale Milieu in Westdeutschland. Die anderen Milieus sind zumindest indirekt vergleichbar (ebd., S. 31). Als weitere Besonderheit zeigt sich die deutlich stärkere Zugehörigkeit zum Arbeitermilieu in der damaligen DDR: Das traditionsverwurzelte Arbeiter- und Bauernmilieu zusammen mit dem traditionslosen Arbeitermilieu machte mehr als ein Drittel der Wohnbevölkerung aus (35% gegenüber nur 17% in den alten Bundesländern).

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Individuum und Gesellschaft

„Die häufig vorgenommene Charakterisierung der ehemaligen DDR als Arbeitergesellschaft lässt sich lebensweltlich also durchaus nachvollziehen, wobei unser Befund nicht nur die entsprechenden sozialen Lagebedingungen reflektiert, sondern auch deren subjektive - eben milieubedingte - Ausgestaltung" (ebd.). Zur Komplettierung der Milieubeschreibungen soll im Folgenden das im Westen so nicht vorfindbare rationalistisch-technokratische Milieu beschrieben werden: Rationalistisch-technokratisches Milieu Soziale Lage: • • • • •

Höhere Bildungsabschlüsse sind überrepräsentiert Qualifizierte und leitende Angestellte, Beamte und Selbständige Häufig werden Leitungsfunktionen ausgeübt (Manager, Betriebsleiter, ehem. Kombinatsdirektoren) Mittlere und höhere Einkommen In der Vergangenheit häufig privilegierter Zugang zu Konsumgütern und Dienstleistungen

Lebensziele: • • •

Technokratisches Weltbild: Zukunftsoptimismus, Vertrauen auf Vernunft und wissenschaftliche Rationalität Rationale und effektive Lebensgestaltung: alles unter Kontrolle haben, nichts dem Zufall überlassen Leistungsgerechte materielle und gesellschaftliche Anerkennung (Elitedenken)

Lebensstil: • • • •

Perfektionsstreben, sich nicht mit Mittelmaß zufrieden geben (Erfolg haben ist Pflicht) Pragmatismus/ Konformismus: sich, wenn notwendig, anpassen, vorhandene Spielräume nicht durch falsch verstandene Prinzipientreue einengen Freude am Umgang mit Technik (im Beruf, in der Freizeit) Gehobener Konsumstil, ausgeprägtes Anspruchsniveau (Qualitätsorientierung)

Alltagsästhetik: Grundorientierungen • Funktionalistische Grundhaltung: Schön = Praktisch (die Dinge müssen funktionieren, optimale Lösungen, schlüssige Konzepte, Leistungsfähigkeit einer perfekten Technik) • Abwehr sinnlich-ästhetischer Ansprüche, wenig Sinn für rein ästhetischen Genuss; Einfachstruktur, Systematik und Multifunktionalität als ästhetisches Ideal

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Convenience-Ästhetik: Bequemlichkeit, sich wohl fühlen, Erholung, Geselligkeit (jeder wird nach seiner Fasson selig) • Häufig Reproduktion ästhetischer Normen und Klischees der Mehrheitskultur, Anerkennung von Autoritäten in Geschmacksfragen; noch kaum Bedürfnis nach stilistischer Abgrenzung Erkennbare Veränderung Beginnende Verunsicherung durch Konfrontation mit der ästhetisierten westlichen Konsumkultur Schönes - Milieutypische Vorstellungen • Gebrauchsgegenstände, die in Form und Funktion übereinstimmen (zweckmäßig von Aussehen und Gebrauch) • Junge, schlanke Menschen/ Attraktive Frauen/ Gutgekleidete Menschen (salopp, gepflegt, sportlich) • Oldies aus Rock und Jazz (z.B. Elvis Presley/ Dixieland)/ Leichte klassische Musik (z.B. Vivaldi) • Internationales Congress-Centrum (Berlin)/ Fernsehturm (Berlin)/ Olympiastadion (München) • Flugzeuge/ Computer/ Moderne Hi-Fi-Anlagen/ ICE Hässliches - Milieutypische Vorstellungen • Ungepflegte Menschen/ Schlampige Kleidung/ Jede Form von Schlamperei/ Herumlungernde Penner mit Schnapsflaschen • Auf technische Designs aufgesetzte Schnörkel • Poppig bemalte Häuser und Autos • Verfallene Häuserfassaden/ Ungepflegte Treppenhäuser/ Müll Leitbeziehungen sind wie im Westen primär nach oben gerichtet bzw. weisen eine starke West-Orientierung auf (ebd., S. 105). Sozialisationsrelevant sind nach diesen Milieubeschreibungen

vor

allem die teilmodernisierten und modernisierten M i l i e u s , während die traditionellen M i l i e u s eher aus älteren M e n s c h e n bestehen, die vermutlich keine jüngeren Kinder mehr haben. A l s Großeltern allerdings können sie durchaus noch Einfluss auf die Entwicklung der Enkelkinder nehmen. D e n n o c h scheint die Werteentwicklung insgesamt eher in Richtung auf Modernisierung zu gehen. D i e Milieubeschreibungen sind geeignet, die L e b e n s b e d i n g u n g e n der M e n s c h e n differenziert a u f z u z e i g e n und somit die unterschiedlichen S o z i a l i s a t i o n s u m w e l t e n zu charakterisieren. Zugleich bieten sie über die Beschreibung der Werthaltungen und Einstellungen auch Kate-

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Individuum und Gesellschaft

gorien, mit denen die Entwicklung von Selbstkonzepten bzw. von Identität gefasst werden kann. Im folgenden Kapitel wird es zunächst darum gehen, Theorien vorzustellen, die den Zusammenhang der beiden Pole - Individuum und Gesellschaft - und damit den Prozess der Sozialisation erklären wollen.

2.2.3 Studienpraktische Hinweise Für eine detailliertere Beschäftigung mit soziologischen Theorien zum Verständnis von Gesellschaft finden sich in dem Buch von Körte, Hermann/ Schäfers, Hermann (Hg.): Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie. Opladen 1998 sowohl einführende Artikel wie weiterführende Hinweise. Hannelore Bublitz thematisiert in ihrem Beitrag die besonderen Bedingungen der Vergesellschaftung von Frauen. Sie setzt sich dabei mit den Widersprüchen auseinander, die aus einer „Naturbestimmung" von Geschlecht und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ergeben: Bublitz, Hannelore: Geschlecht, S. 59-79. Weiterhin relevant für die angesprochenen Bereiche sind folgende Artikel: Thieme, Frank: Kaste, Stand, Klasse, S. 127-143 Hradil, Stefan: Schicht, Schichtung und Mobilität, S. 145-161 Klein, Gabriele: Evolution, Wandel, Prozess. Zur Geschichte der Begriffe und theoretischen Modelle, S. 163-178 Zapf, Wolfgang: Entwicklung und Sozialstruktur moderner Gesellschaften, S. 179-190 Zapf, Wolfgang: Entwicklung und Zukunft moderner Gesellschaften seit den 70er Jahren, S. 191-205. Von Stefan Hradil ist in 7. Auflage gerade eine Neubearbeitung seines Lehrbuchs zur Sozialen Ungleichheit herausgekommen: Hradil, Stefan: Soziale Ungleichheit in Deutschland. Opladen 19997. Die Debatte um aktuelle Gesellschaftsveränderungen und ihr Verständnis findet sich in dem Band von Beck, Ulrich/ Giddens, Anthony/ Lash, Scott: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt/Main 1996.

Individuum und Gesellschaß

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Analog zu dem Ansatz von Melvin Kohn, Sozialisationsbedingungen über die Arbeitssituation der Eltern bzw. des Vaters zu bestimmen, haben Frederik Abrahams und Ingrid Sommerkorn das Thema für die deutsche Situation bearbeitet: Abrahams, Frederick F./ Sommerkorn, Ingrid N.: Arbeitswelt, Familienstruktur und Sozialisation. In: Hurrelmann, Klaus (Hg.): Sozialisation und Lebenslauf. Reinbek 1976, 70-89. Wer sich genauer mit dem Ansatz der neuen Milieutheorien beschäftigen will, sei vor allem auf den Sammelband Mörth, Ingo/ Fröhlich, Gerhard (Hg.): Das symbolische Kapital der Lebensstile. Zur Kultursoziologie der Moderne nach Pierre Bourdieu. Frankfurt/Main 1994 verwiesen.

74

3.

Sozialisation

Sozialisation zwischen Individuum und Gesellschaft

In diesem Kapitel sollen drei einflussreiche Theoriebereiche vorgestellt werden, die zur Klärung von Sozialisationsprozessen herangezogen werden. Es handelt sich dabei um lerntheoretische, strukturfunktionalistische und interaktionstheoretische Ansätze. Innerhalb dieser Bereiche wird zum einen eine historisch orientierte Nachzeichnung vorgenommen, die auch die Entwicklung der Theorien selbst verdeutlichen soll. Zum anderen geht es darum, nur die für Sozialisationsfragen wesentlichen Aussagen zusammenzustellen, also nicht die einzelnen Theorien in ihrer Gesamtheit zu bearbeiten. Besonderes Augenmerk wird jedoch auf die in den Theorien enthaltenen Erklärungen für geschlechterbezogene Sozialisation einerseits, für schulische Sozialisation andererseits gerichtet.

3.1

Lerntheorien: Vom Behaviorismus zum subjektwissenschaftlichen Ansatz

Anfang dieses Jahrhunderts gab es zwei wissenschaftliche Gegenbewegungen zur vorherrschenden „Bewusstseinspsychologie": Eine war die psychoanalytische Betonung der Bedeutung eines Unbewussten, die andere setzte konträr dazu auf von außen zu beobachtendes Verhalten. John Broadus Watson gilt als Begründer des Behaviorismus, wie diese Richtung der Revolution in der Psychologie genannt wurde. Watson lebte von 1878 bis 1958. Seine akademische Ausbildung erhielt er an der University of Chicago, an der James Rowland Angell, William James und John Dewey als Vertreter des Funktionalismus lehrten. 1903 promovierte er, wurde dann Professor für Psychologie an der Johns-Hopkins-Universität. Watsons 20seitiger Aufsatz „Psychology as the Behaviorist Views it", der 1913 in der Zeitschrift „Psychological Review" erschien, gab der neuen Richtung den Namen. Psychologie sollte als „objektiver, experimenteller Zweig der Naturwissenschaft" verstanden werden, dessen

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„theoretisches Ziel" „die Vorhersage und Kontrolle von Verhalten" ist (Watson 1968, S. 13). Der Erfolg des Behaviorismus hatte mehrere Gründe: • Er war vorbereitet durch die russische Reflexologie und experimentelle Tierpsychologie (Iwan Pawlow, 1849-1936). • Er entsprach dem Zeitgeist, der Physik als erfolgreichste Wissenschaft betrachtete. • Er begründete einen Erziehungsoptimismus durch das Dogma der Machbarkeit des Menschen • Selbstbewusstes Auftreten seiner Vertreter und kompromisslose Thesen sorgten für Anerkennung (Pongratz 1967, S. 311). Es lassen sich drei Stadien des Behaviorismus unterscheiden: den klassischen Behaviorismus von Watson, den instrumenteilen Behaviorismus von Burrhus F. Skinner und das Lernen am Modell von Albert Bandura. Wenngleich letzterer sich noch als Behaviorist verstand, geht seine Bearbeitung schon deutlich über die einschränkenden Annahmen des Behaviorismus hinaus. Eine Neuinterpretation der Lerntheorien und die Entwicklung eines eigenen Ansatzes legte schließlich Klaus Holzkamp mit seiner subjektwissenschaftlichen Lerntheorie vor. Diese vier Ansätze sollen im folgenden vorgestellt werden. Ihnen folgt eine gesonderte Betrachtung der Nutzbarkeit von Lerntheorien für die Erklärung von Geschlechtersozialisation.

3.1.1 Klassisches Konditionieren Die Anfänge der behavioristischen Entwicklung wurden vom klassischen Behaviorismus bestimmt. Sie lassen sich etwa von 1912 bis 1930 datieren und durch drei Axiome (grundlegende Lehrsätze) beschreiben: • Physiologistisches Axiom: Äußerlich wahrnehmbare Bewegungen eines Organismus stellen das Gerüst psychologischer Theorien dar (muscle-twitch-psychology - Muskelzuckismus). • Transpositionismus: Keine Trennungslinie zwischen Mensch und Tier.

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Sozial isation

Mechanistisches Axiom: Das Verhalten des Organismus wird durch die Umwelt determiniert (bestimmt). Man bezeichnet Watsons Theorie auch als klassisches Konditionieren. „Die Theorie des klassischen Konditionierens geht davon aus, dass der Organismus immer schon bestimmte Reize mit bestimmten Reaktionen verbindet, 'assoziiert'. Solche Verbindungen können, wie der Speichelfluss bei der Fütterung, angeboren oder, wie die Furchtreaktion beim Anblick etwa von Schlangen, 'zufällig' erlernt sein. Durch die raum-zeitliche Verknüpfung eines für das Verhalten bereits wirksamen unkonditionierten Reizes mit einem anderen, zunächst 'neutralen' Reiz löst auch dieser neue Reiz die gleiche Reaktion wie der alte aus" (Baumgart 1998, S. 110). Verhalten wird also als Aggregat von Reiz und Reaktion verstanden. Pawlows Experimente mit Hunden stellten die Grundlage dieser Auffassung dar. Möglicherweise wurde das klassische Konditionieren jedoch parallel entdeckt: 1904 ging der Nobelpreis an Pawlow, die Veröffentlichung seiner Arbeiten in den USA geschah aber erst im zweiten Jahrzehnt. Man weiß deshalb nicht, ob Watson diese Experimente kannte. Nach Watson gibt es drei Reaktionsorgane (Watson 1968, S. 95): • quergestreifte oder Skelettmuskulatur • glatte Muskulatur • Drüsensystem Lernen erfolgt durch die gleichzeitige Darbietung eines unkonditionierten mit einem konditionierten Reiz, auf den schließlich die gleiche Reaktion erfolgt (vgl. Abbildung 10):

Sozialisation

Abbildung 10:

77

Klassisches Konditionieren

Normale Situation: Essen Unkonditionierter Reiz

^

Speichelfluss

führt zu

unkonditionierter Reaktion

Konditionierung: Essen X *

d

Unkonditionierter Reiz wird zeitlich gekoppelt mit

^

Inrkp

konditioniertem Reiz on

führt zu

Speichelfluss konditionierter

Reakti-

Was hat das nun mit Sozialisation zu tun? Watson ging davon aus, dass sämtliches menschliche Verhalten aus immer komplexer werdenden Konditionierungen entwickelt würde. Auch Gefühle entstünden aus der Konditionierung von drei grundlegenden ReizReaktionen, die gewöhnlich als Furcht, Wut und Liebe bezeichnet werden. Die unkonditionierte Reaktion des Atemanhaltens, Auffahren des Körpers, Schreien usw. folge den unkonditionierten Reizen „laute Geräusche" oder „Haltverlust" - dies bezeichnen wir üblicherweise als Furcht. Steifwerden des Körpers, Aussetzen der Atmung usw. seien Reaktionen auf die Behinderung der Körperbewegungen - dies wird im allgemeinen als Ausdruck von Wut angesehen. Glucksen, Gurgeln und gegebenenfalls Beendigung von Schreien erfolge durch Streicheln der Haut und der Geschlechtsorgane dies ist im üblichen Sprachgebrauch Liebe (Watson 1968, S. 168f.). Zum Nachweis einer solchen Konditionierung von Furcht hat Watson ein Experiment mit einem knapp einjährigen Kind (little Albert) durchgeführt (ebd., S. 170ff.). Albert war zunächst eine weiße Ratte gegeben worden, mit der er wochenlang gespielt hatte. Dann wurde im Augenblick, in dem er nach der Ratte greifen wollte, hinter seinem Kopf auf eine Stange geschlagen, was ein lautes Geräusch verursachte und Albert zusammenzucken ließ. Schon bald war die Furchtreaktion auf das Schlagen der Stange zu einer konditionierten Reaktion auf den Anblick der Ratte geworden. Es kam dann zu einer

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Sozialisation

Generalisierung, indem Albert auf alles Pelzige mit Furcht reagierte. Watson hatte keine Gelegenheit mehr, eine Löschung dieser Konditionierung vorzunehmen, da Alberts Mutter in eine andere Stadt zog. Dieses Experiment zeigt sehr eindrücklich das Menschenbild, das dem klassischen Behaviorismus zugrunde liegt: Watson begriff den Menschen „als eine zusammengesetzte organische Maschine" (ebd., S. 267). „Persönlichkeit ist die Summe der Aktivitäten, die mit Hilfe von wirklicher Verhaltensbeobachtung, die lange genug durchgeführt werden muss, um zuverlässige Informationen zu liefern, aufgedeckt werden können. Mit anderen Worten: Persönlichkeit ist nichts anderes als das Endprodukt unserer Gewohnheitssysteme. Unser Vorgehen beim Studium der Persönlichkeit besteht darin, dass wir einen Querschnitt durch den Aktivitätsstrom machen und diesen darstellen." (ebd., S. 270). Mit „Aktivitätsstrom" bezeichnet Watson ein Schema, das die zunehmende Komplexität menschlicher Aktionssysteme illustrieren soll. In der Abbildung 11 sind die „ungelernten" Ausgangspunkte des menschlichen Systems bei der Geburt als ausgezogene Linien dargestellt. Die meisten dieser „Systeme" werden dann durch Konditionierung immer komplexer, was mit den gestrichelten Linien ausgedrückt werden soll. Einige „Systeme" bleiben nach Watsons Vorstellung immer gleich. Watson erläutert die Abbildung folgendermaßen: „Der Aktivitätsstrom: Ein grobes Schema, das die zunehmende Komplexität bestimmter menschlicher Aktionssysteme illustrieren soll. Die ausgezogenen Linien bezeichnen den ungelernten Ausgangspunkt des Systems. Die durchbrochenen Linien zeigen, wie jedes System durch Konditionierung zu einem komplexen System wird. Einige Systeme werden offensichtlich nicht verändert. Sie sind das ganze Leben hindurch im Aktivitätsstrom vorhanden und nehmen nicht an Komplexität zu. Die Tabelle ist weder vollständig noch genau. Bevor nicht gründlichere entwicklungspsychologische Untersuchungen durchge-

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führt worden sind, kann eine Tabelle dieser Art nicht als Maßstab dafür angesehen werden, was man von Kindern in verschiedenen Altersstufen erwarten darf" (ebd., S. 152/153). Abbildung 12 zeigt einen „Querschnitt durch die Organisation im Alter von 24 Jahren" und charakterisiert damit nach Watson die Persönlichkeit: „Der zentrale Gedanke bei diesem Modell ist der, dass die Persönlichkeit aus dominanten Gewohnheitssystemen aufgebaut ist" (ebd., S. 271). Watson war überzeugt davon, dass die Erziehung ausschlaggebend für das menschliche Verhalten sei. Dabei unterstellt er - an den Stellen, an denen er sich über Entwicklung der Persönlichkeit auslässt - relativ simple Mechanismen, wie das folgende Beispiel zur Frage, ob der Sohn des Ökonomen John Smith aus „Vererbungsgründen" ebenfalls Ökonom geworden sei: „Angenommen, John Smith hätte drei Söhne gehabt, deren Körper - rein hypothetisch - anatomisch und physiologisch so ausgestattet gewesen wären, dass jeder die gleiche Organisation (Gewohnheiten) hätte annehmen können wie die beiden anderen (Fußnote: Mit dieser Feststellung meinen wir nicht, dass ihre genetische Konstitution identisch ist.). Nehmen wir weiter an, dass alle drei im Alter von 6 Jahren anfingen, auf ökonomischem Gebiet zu arbeiten. Einer wurde von seinem Vater geliebt. Er trat in die Fußstapfen seines Vaters; und durch die Unterstützung seines Vaters holte dieser Sohn seinen Vater ein und überrundete ihn schließlich. Zwei Jahre nach Wesleys Geburt wurde der zweite Sohn geboren; aber der Vater war ganz mit dem älteren Sohn beschäftigt. Der zweite Sohn wurde von der Mutter geliebt, die nun immer weniger die Zeit ihres Ehemannes in Anspruch nehmen konnte, so dass sie ihre Zeit dem zweiten Sohn widmete. Der zweite Sohn konnte dem Beispiel seines Vaters nicht so streng folgen; er war natürlich von dem beeinflusst, was seine Mutter tat. Sein Ökonomiestudium brach er frühzeitig ab, stürzte sich in das gesellschaftliche Leben und wurde schließlich ein 'Salonlöwe'. Der dritte Sohn, zwei Jahre später geboren, war ein unerwünschtes Kind. Der Vater war mit dem ältesten Sohn beschäf-

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tigt, die Mutter mit dem zweiten Sohn. Der dritte Sohn sollte sich auch mit Ökonomie beschäftigen, aber weil die Eltern sich wenig um ihn kümmerten, wanderte er zu den Dienstboten hinab. Ein skrupelloses Hausmädchen brachte ihm im Alter von drei Jahren das Masturbieren bei. Mit zwölf machte ihn ein Chauffeur zum Homosexuellen. Später stieß er in der Nachbarschaft zu einer Diebesbande und wurde Taschendieb, dann Spitzel und schließlich rauschgiftsüchtig. Er starb an Parese in der Irrenanstalt. Bei keinem dieser Söhne war etwas mit der Vererbung nicht in Ordnung. Hypothetisch hatten alle bei ihrer Geburt die gleichen Chancen. Alle hätten Vater von prachtvollen, gesunden Söhnen sein können, falls ihre jeweiligen Frauen auch von guter Herkunft gewesen wären (mit Ausnahme vielleicht des dritten Sohnes nachdem er sich die Syphilis zugezogen hatte)" (ebd., S. 118f.).

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Abbildung 11: Aktivitätsstrom ab der Geburt1 Geburt

I 60 Tage

120 Tage

180 Tage

240 Tage

360 Tage

2 Jahre

3 Jahre

4 Jahre

5 Jahre

Liebe i konditionierte Liebe Wut ! konditionierte Wut Furcht > konditionierte Furcht Niesen Schluckauf Essreaktion Konditionierte Essreaktion Rumpf- und Beinbewegungen Krabbeln (konditioniert) 'k Laufen (konditioniert) Sprachreaktionen i Sprechen (konditioniert) ^ Denken (lautloses Sprechen) Kreislauf und Atmung Kondit. Kreislauf und Atmung Greifen und Manipulation, Fertigkeiten, berufliche Tätigkeiten (kondit.) 'k Händigkeit (kondit.) Defakation und Urinieren . ^ Konditionierte^ Ausscheidungsreaktionen Schreien und andere Aktivitäten der exokrinen Drüsen Konditionierte Drüsenaktivität Erektion und andere Reaktionen der Sexualorgane L konditionierte Reaktionen der Sexualorgane Lächeln und Lachen Konditioniertes Lächeln und Lachen

Greifen

„Defensive Bewegungen" < Kämpfen, Boxen usw. (kondit.) Babinski-Reflex Zwinkern

Quelle: nach Watson 1968, S. 152

1

Im Original verlaufen die Linien nach außen hin sich auseinanderziehend.

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Abbildung 12:

Persönlichkeit mit 24 Jahren Querschnitt durch die Organisation im Alter von 24 Jahren = Persönlichkeit mit 24 Jahren 24 Jahren 2 2 / j j " Gewohnheitssystem des Schusterns " religiöses Gewohnheitssystem patriotisches Gewohnheitssystem eheliches Gewohnheitssystem elterliches Gewohnheitssystem

2 Geburt,

mathematisches Gewohnheitssystem Gewohnheitssystem des Allgemeinwissens Gewohnheitssystem der speziellen . Furcht (Aberglauben, Ängsten, usw.) Persönliches Gewohnheitssystem - (Kleidung, Tischmanieren, usw.)

L Erholungs-Gewohnheitssystem Quelle: nach Watson 1968, S. 271 Es mischt sich in Watsons Vorstellung ein Erziehungsoptimismus mit der Annahme einer Manipulationsmöglichkeit von Menschen insbesondere durch Wissenschaftler -, wie folgendes Zitat belegt: „Gebt mir ein Dutzend gesunder, wohlgebildeter Kinder und meine eigene Umwelt, in der ich sie erziehe, und ich garantiere, dass ich jedes nach dem Zufall auswähle und es zu einem Spezialisten in irgendeinem Beruf erziehe, zum Arzt, Richter, Künstler, Kaufmann oder zum Bettler und Dieb, ohne Rücksicht auf seine Begabungen, Neigungen, Fähigkeiten, Anlagen und die Herkunft seiner Vorfahren" (ebd., S. 123).

3.1.2 Operantes Konditionieren Eine Weiterentwicklung des klassischen Behaviorismus ergab sich durch die Erkenntnis, dass Reize nicht nur Verhalten auslösen, sondern dass Verhalten auch Konsequenzen hat, die in der Regel wiederum Rückwirkungen auf das Verhalten ausüben. Diese Erkenntnis

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wurde in das Konzept des operanten Konditionierens umgesetzt. Hauptvertreter war Burrhus F. Skinner (1904-1990), Sohn eines Rechtsanwaltes. Er studierte zunächst am Hamilton College in Clinton (NY) englische Literatur, Griechisch, Französisch und römische und griechische Kunst. Dann versuchte er sich als Schriftsteller, „entdeckte die traurige Tatsache, dass ich nichts zu sagen hatte und versuchte dem mit einem psychologischen Studium abzuhelfen" 1 . 1928 begann er mit dem Psychologiestudium, promovierte 1931 in Harvard und-wurde dort auch bis zu seiner Emeritierung 1974 Professor. Skinner starb 1990 an Leukämie. Vorläufer in der Theorieentwicklung des operanten Konditionierens war E.L. Thorndike (1874-1949), der den Begriff des „VersuchIrrtum-Lernens" entwarf: Er ließ hungrige Tiere in einem Käfig einen Hebel drücken, wodurch sie Futter erhielten. Die Tiere probierten also die vorhandenen Hebel aus und entdeckten durch Zufall jenen Hebel, der ihnen das Futter bescherte. Diesen Hebel merkten sie sich und drückten ihn beim nächsten Mal eher. Sie hatten also durch Versuche, die z.T. irrtümlich und nicht zum Ziel führend waren, gelernt, welcher Hebel der „zu lernende" war. Skinner arbeitete vor allem mit Tauben und Ratten. Er erklärt Verhalten als Reflex, worunter die „beobachtete Korrelation zwischen zwei Ereignissen, einem Reiz und einer Reaktion" verstanden wird. Die Reaktion ist eine Funktion des Reizes (Verstärker oder Stimulus): R = f ( S ) . Skinner entwickelte verschiedene Gesetze über den Zusammenhang von Reiz und Reaktion. Für die Umsetzung seiner Theorie in eine Lerntechnologie sind die Verstärker wesentlich. Es gibt positive und negative Verstärker sowie Bestrafungen. Positive und negative Verstärkungen erhöhen die ' Zitiert im Nachruf von Dieter Dietrich in der Frankfurter Rundschau vom 21.8.1990. In einem Beitrag von Barbara Fitzpatrick/ Wolfgang Bringmann über „Gertrude Stein, automatisches Schreiben und B.F. Skinner" wird Skinner als „gescheiterter Schriftsteller, der keinen Grund zum Schreiben und nichts mitzuteilen hatte' (Skinner, 1984, S. 264)" zitiert leider ohne bibliographische Angabe, auf welche Veröffentlichung sich dies bezieht (Fitzpatrick/Bringmann 1993, S. 313).

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Auftretenswahrscheinlichkeit einer Reaktion - positive, indem der Reiz selbst die Reaktion begünstigt wie z.B. die Futterpille nach dem Drücken eines Hebels; negative, indem der Reiz durch das gewünschte Verhalten entfernt wird wie das Abschalten des Stroms durch das Drücken des Hebels. Bestrafungen bauen ein Verhalten ab, ohne jedoch zugleich ein Ersatzverhalten parat zu haben, wie z.B., wenn das Hebeldrücken durch einen Stromstoß bestraft wird. Skinner unterscheidet zwischen „persönlichen" oder „sozialen" Verstärkern (Skinner 1971, S. 139f.) - wie Lob, Zuwendung, Ermunterung usw. - und „natürlichen" Verstärkern (S. 141) - wie Nahrung oder Verletzung. Auch Skinner war davon überzeugt, dass menschliches Verhalten durch das operante Konditionieren vollständig erklärt und insbesondere gesteuert werden könne: „Wenn wir erst einmal die besondere Art einer Folgeerscheinung, die wir Verstärkung nennen, hergestellt haben, erlauben es unsere Methoden, das Verhalten des Organismus fast beliebig zu formen" (ebd., S. 17). Sein Menschenbild ist wie das von Watson durch eine Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft kennzeichenbar: „Der Mensch ist von Natur aus glücklich und gut; erst die Gesellschaft verdirbt ihn und macht ihn unglücklich. Der beste Lehrmeister ist die Natur. Macht den Schüler vom Menschen unabhängig; lehrt ihn stattdessen die Abhängigkeit von den Sachen. Lasst nur den Zwang oder die Strafe gelten, die auf natürliche Weise aus seinem Verhalten entstehen. Repariert die Fensterscheibe nicht, die er zerbrochen hat, sondern lasst ihn im kalten Zimmer sitzen. Macht nur von natürlichen Belohnungen Gebrauch" (ebd., S. 141). Besonders deutlich wird das Menschenbild des Skinnerschen Behaviorismus in seinem Roman „Futurum II", einer Utopie, bei der Skinner beansprucht eine Gesellschaft zu entwerfen, die auf der wissenschaftlichen Basis der Verhaltenssteuerung beruht. Die Rahmenhandlung: Professor Burris wird von seinem ehemaligen Studenten Rogers, der aus dem 2. Weltkrieg zurückkommt, aufgesucht und auf eine Utopie hin angesprochen, über die er mal doziert

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habe. Es stellt sich raus, dass diese Utopie, T.E. Fraziers Futurum II, tatsächlich existiert. Eine Gruppe von sechs Personen - Professor Burris, sein Kollege, Prof. Castle, Rogers und seine Verlobte Barbara sowie Rogers Freund Steve und dessen „Mädchen" Mary - fahren zu Besuch nach Futurum EI. Frazier zeigt ihnen die Kommune und erläutert die Prinzipien. Er beansprucht, eine Kommune entwickelt zu haben, die nach den Prinzipien der Verhaltenstheorie funktioniert, in der es (deshalb) keine Konkurrenz, keinen Neid, keine Aggressionen usw. gibt, sondern nur glückliche Menschen. Die Erörterungen sind z.T. eher abstrakt und stark behauptend, zum Teil trivial. Die im Roman als heftige Diskussionen um Demokratie, Faschismus, Verhaltenskontrolle u.ä. ausgeführten Erörterungen zeigen, wie sehr es sich um ein autoritäres, wenn nicht faschistisches Bild handelt. Besonders deutlich wird dies in einem der letzten Kapitel, in dem Frazier Burris auf einen Berg führt, von dem man Futurum n vollständig überblicken kann: „'Diesen Vorsprung hier nennen wir den Thron', sagte er und hielt das Glas an die Augen. ,Von hier aus kann man ganz Futurum Zwei übersehen. Ich komme gelegentlich hierher, um mit allem in Fühlung zu bleiben....' Ich rührte mich, um ihn an mein Dasein zu erinnern, und er schien aufzuschrecken. Er lachte nervös. ,Es fallt kein Sperling vom Dache...' sagte er und streichelte das Fernglas in seiner Tasche. Er legte sich wieder hin, und wir schwiegen. Schließlich nahm ich das Wort: ,Eine herrliche Genugtuung muss es für Sie sein. Eine Schöpfung nach Ihrem Bilde. ...' ,Ja', sagte er, ,ich schaue mein Werk an, und siehe, es ist gut.' Ich sagte zögernd: ,So kommen Sie sich denn also wie der liebe Gott vor.' Ich wollte klar sehen. Er behielt die Stellung, in der er lag, und sagte: ,Es ist schon eine unheimliche Ähnlichkeit.' Mich überfiel einen Augenblick panische Angst, ich versuchte aber, einen zwanglosen Ton anzuschlagen, und sagte: .Erheblich weniger Macht in Ihrem Fall, sollte ich meinen.' .Durchaus nicht', erwiderte er und blickte hoch. .Wenigstens, wenn wir den Theologen glauben können. Es ist im Gegenteil anders herum genau richtig. Vergessen Sie nicht, dass Gottes Kinder ihn stets enttäuschen.' .Während Sie alles unter Ihrem Befehl haben. Ich beglückwünsche Sie.'

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,Ich sagte nicht, dass ich nie enttäuscht werde, aber doch nicht so oft wie Gott. Alles in allem, sehen Sie sich die Welt an, die ER gemacht hat.' ,Ein Witz ist ein Witz', sagte ich. ,Aber ich scherze nicht.' ,Sie halten sich also für Gott', entgegnete ich, denn ich hatte beschlossen, dies hinter mich zu bringen. Er schnaufte vor Widerwillen: ,Ich habe gesagt, es sei eine unheimliche Ähnlichkeit.' ,Das ist absurd.' .Aber nein. Die Parallele ist doch faszinierend. Unser Freund Castle regt sich über den Konflikt zwischen Diktatur und Freiheit auf. Merkt er denn nicht, dass er da nur die uralte Frage von Vorbestimmung und Willensfreiheit aufwirft? Alles, was geschieht, ist in einem Urplan enthalten, und doch scheint das Individuum in jedem Stadium frei Entscheidungen zu treffen und Ergebnisse zu bestimmen. Das gleiche gilt von Futurum Zwei. Unsere Mitglieder tun praktisch immer das, was sie wollen, was sie sich .wählen' zu tun; aber wir sorgen dafür, dass sie genau das tun wollen, was für sie und die Gemeinschaft das beste ist. Ihr Verhalten ist vorgeschrieben, und doch sind sie frei. Diktatur und Freiheit - Vorbestimmung und Willensfreiheit - das sind doch alles nur Scheinfragen sprachlicher Natur - oder? Wenn wir die Frage stellen, was der Mensch aus dem Menschen machen kann, so meinen wir mit dem Menschen nicht in beiden Fällen dasselbe. Wir meinen damit: Was können wenige Menschen aus der Menschheit machen? Das ist die alles überschattende, alles umfassende Frage des zwanzigsten Jahrhunderts. Welche Art von Welt können wir errichten? Wir - das heißt, diejenigen unter uns, die die Verhaltenslehre beherrschen?' ,Dann hat Castle also doch recht: Sie sind ein Diktator.' .Nicht mehr als Gott. Oder vielmehr: weniger....' Als er merkte, dass ich stumm blieb, nahm er seine Rede wieder auf: ,Es gibt noch eine andere Parallele. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen, Burris. Sie werden lachen. Aber versuchen Sie mal, Ihren professionellen Zynismus zu vergessen.' Er ließ das Fernglas sinken und zögerte. Dann schwenkte er den Arm in einem Halbkreis, der ganz Futurum Zwei umfasste. ,Dies sind alles meine Kinder, Burris', sagte er im Flüsterton. .Ich liebe sie.' Er erhob sich und schritt am Rand des Abhangs entlang den Weg wieder zurück. Ich ging vorsichtig hinter ihm her. Im Unterholz blieb er stehen und wartete auf mich. Er schien verlegen und verwirrt. .Was ist das, Liebe?' sagte er achselzuckend. ,Doch nur ein anderer Name für die Anwendung von positiver Verstärkung.' .Oder vice versa', erwiderte ich." (Skinner 1970, S. 261-266).

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3.1.3 Lernen am Modell Die dritte Variante des Behaviorismus ist schon ein Übergang zu kognitiven Theorien, auf jeden Fall eine Abkehr vom streng naturwissenschaftlich ausgerichteten, positivistischen Verständnis von Psychologie. Als Hauptvertreter einer „sozialkognitiven" Verhaltenstheorie kann Albert Bandura gelten. Bandura wurde am 4.12.1925 in Mundare in Kanada geboren, machte 1952 seinen PhD in Psychologie an der University of Iowa und ging dann 1953 an die Stanford University in Palo Alto, California, an der er auch nach seiner Emeritierung noch tätig ist. Als Arbeitsschwerpunkte nennt die Stanford-Homepage für Albert Bandura1 : Analyse der grundlegenden Mechanismen der Persönlichkeit, mit denen Menschen Kontrolle über die Ereignisse gewinnen, die ihr Leben berühren. Eine Forschungsrichtung betrifft die Frage, wie Menschen ihre Motivationen, ihre Denkschemata, Gefühle und Verhaltensweisen durch persönliche und kollektive Kontrollüberzeugungen beeinflussen. Eine zweite Forschungsrichtung analysiert die Rolle von Selbstregulationsmechanismen, die auf internen Standards beruhen, und Selbstbeeinflussungen in menschlichen Anpassungsund Veränderungsprozessen. Diese Mechanismen werden im Bereich der soziokognitiven Entwicklung, der Gesundheitsförderung und Prävention sowie in der Organisationstheorie untersucht. Bandura kritisierte bereits relativ früh die Annahmen des Behaviorismus, wie er von Watson und Skinner vertreten wurde, als Mythos - er bezeichnete Konditionierung als einen Terminus, aber nicht als eine Erklärung {Bandura 1976, S. 206).

1

Analysis of basic mechanisms of personal agency through which people exercise control over events that affect their lives. One line of research is concerned with how people influence their own motivation, thought patterns, affective states and behavior through beliefs of personal and collective efficacy. A second line of research examines the paramount role of self-regulatory mechanisms relying on internal standards and self-influence in human adaptation and change. These mechanisms are studied in the areas of sociocognitive development, health promotion and disease prevention, and organizational functioning.

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„Selbst wenn Erfahrungen wiederholt paarweise auftreten, lernen Menschen erst, wenn sie erkennen, dass die Ereignisse miteinander korrelieren" (ebd.). Bandura verwendet in seiner Theorie des sozialen Lernens den Begriff der Modellierung, um Lernen von anderen zu beschreiben. Modellierungsphänomene können drei verschiedene Wirkungstypen hervorbringen: • Lerneffekte durch Beobachtung können sich ergeben, wenn Beobachter neue Verhaltensmuster erwerben, indem sie Leistungen anderer wahrnehmen. • Die Modellierung kann aber auch die Hemmung früher erlernter Reaktionen stärken oder schwächen: Hemmungseffekte liegen vor, wenn Verhalten eingeschränkt wird, z.B. weil beobachtet werden konnte, dass es zu Bestrafungen führt. Enthemmungseffekte bezeichnen Verhaltensweisen, die z.B. mit Verboten belegt waren und die, nachdem beobachtet wurde, dass sie vom Modell ohne missliche Folgen ausgeführt wurden, ebenfalls praktiziert werden. • Auslöseeffekte schließlich entstehen, wenn gesellschaftlich akzeptierte Verhaltensweisen einfach „mitgemacht" werden, z.B. indem Menschen applaudieren, weil einige in die Hände klatschten. Bandura schreibt den Modellierungseinflüssen in erster Linie informative Funktion zu, keine direkte Nachahmung. Vier Subsysteme steuern die Modellierungsphänomene, wobei sie jeweils in Wechselwirkung stehen (vgl. Abbildung 13). Aufmerksamkeitsprozesse sind ein wesentliches Moment, weil ohne Aufmerksamkeit Modelle gar nicht nachgeahmt werden können. „Eine Reihe von aufmerksamkeitsbestimmenden Variablen können darauf Einfluss haben, welche Modelle genau beobachtet und welche nicht beobachtet werden. Der Anreiz, der im Lernen des modellierten Verhaltens liegt, die Motivation und die psychischen Eigenschaften des Beobachters, die Differenziertheit, die das Modell von Natur aus besitzt oder dies es erworben hat, sowie seine

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Macht und Ausstrahlungskraft sind einige der vielen Faktoren, die entscheiden, welchen der modellierten Aktivitäten aus der großen Menge, denen Menschen in ihrem Alltag begegnen, sie ihre Aufmerksamkeit selektiv zuwenden. Die Menschen, mit denen man häufig umgeht, bestimmen, welche Verhaltenstypen man häufig beobachten kann und demzufolge am genauesten lernen wird" (ebd., S. 24). Als zweite wesentliche Funktion zur Beeinflussung von Beobachtungslernen sind Gedächtnisprozesse zu beachten. Ein Verhalten kann durchaus zu einem späteren Zeitpunkt imitiert werden, als zu dem es beobachtet wurde. Dazu ist es aber notwendig, das Verhalten im Gedächtnis zu speichern. Bandura geht davon aus, dass die meisten kognitiven Prozesse, die das Verhalten regulieren, sprachlicher und nicht visueller Natur sind. „Nach der Theorie des sozialen Lernens üben die Beobachter eine höchst aktive Funktion aus, indem sie die Modellierungsreize in leicht erinnerliche Schemata umformen, klassifizieren und organisieren... Mit gutem Grund darf man vermuten, dass die positive Wirkung der Wiederholung eher darauf zurückzuführen ist, dass das Individuum die Ereignisse, die es aufnimmt, reorganisiert und noch einmal kodiert, als darauf, dass es sie bloß kopiert" (ebd., S. 28/29). Motorische Reproduktionsfunktionen bilden einen dritten wichtigen Bereich. Wenn man (noch) nicht über die entsprechenden körperlichen Fähigkeiten verfügt, kann man ein beobachtetes Verhalten nicht ausführen. So können Babies z.B. zunächst nur krabbeln, auch wenn sie sehen, wie ältere Kinder laufen. Die letzte Grundfunktion schließlich bilden Motivations- oder Verstärkungsprozesse - womit eine Anlehnung an die Skinnersche Theorie herstellbar wird. „Ein Individuum mag zwar die Fähigkeit erwerben und behalten, ein modelliertes Verhalten auszuführen, wird das Erlernte aber nur schwerlich offen ausführen, wenn Sanktionen drohen oder die Umstände keinen Ansporn bieten" (ebd., S. 29).

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Abbildung 13:

Banduras Modell einer Theorie des sozialen Lernens

Aufmerksamkeitsprozesse Modellierungsreize

Gedächtnisprozesse

Differenziertheit

Kognitive Organisation

Affektive Valenz

Symbolische Wiederholung

Symbolische Kodierung

Komplexität

Modellierte Ereignisse

Funktioneller Wert

Motorische Wiederholung

-> Merkmale des Beobachters

Motorische Reproduktionsprozesse Körperliche Fähigkeiten

Motivationsprozesse

Verfügbarkeit der Teilreaktionen

Stellvertretende Verstärkung

Selbstbeobachtung bei den Reproduktionen

Selbstverstärkung

Externe Verstärkung

Nachbildungs-

Feedback der Genauigkeit -»

leistungen

Sensorische Fähigkeiten Niveau der Erregbarkeit Motivation Wahmehmungshaltung Frühere Verstärkung

Quelle: Bandura 1976, S. 31 Bandura setzte also ganz stark auf die Intelligenz des Menschen, etwas zu erkennen, und auf die Fähigkeiten, sein Verhalten selbst zu steuern. Damit grenzt er sich noch einmal vom frühen Behaviorismus ab.

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„Theorien, die menschliches Verhalten als das Ergebnis externer Belohnungen und Bestrafungen erklären, bieten ein verstümmeltes Bild des Menschen, weil er sein Handeln teilweise durch selbstgeschaffene Konsequenzen steuert (...). Beispiel und Vorschrift liefern Verhaltensstandards, die als Grundlage für selbstverstärkende Reaktionen dienen. Die Tatsache, dass Menschen auf sich selbst reagieren lernen, gibt ihnen die Möglichkeit zur Selbststeuerung. Sie tun Dinge, die ihnen selbst Freude verschaffen und ihren Selbstwert erhöhen, und sie meiden Verhaltensweisen, die zur Selbstbestrafung führen" (ebd., S. 209). Bandura hat auf Grund einer Vielzahl empirischer Studien festgestellt, dass sich Beobachter keineswegs an einem einzigen Modell orientieren und/oder dieses komplett nachahmen. Vielmehr werden von verschiedenen Personen Reaktionen übernommen und durchaus zu neuen Verhaltensweisen kombiniert. „Das jeweilige Mischungsverhältnis, in dem die Verhaltenselemente vorkommen, variiert von Individuum zu Individuum. Selbst in einer Familie können so Geschwister gleichen Geschlechts verschiedenartige Charaktere ausbilden, weil sie in unterschiedlicher Kombination nachahmen" (ebd., S. 44). Allerdings lässt sich feststellen, dass Modelle, die mit Prestige, Macht, Intelligenz und Fähigkeiten ausgestattet sind, deutlich eher zum Maßstab und als Vorbild genommen werden als Modelle, die hierüber weniger verfügen. In der familialen Sozialisation wählen die Kinder keineswegs das gleichgeschlechtliche Elternmodell für die eigenen Verhaltensweisen. Allerdings zeigen Jungen eine entschiedenere Präferenz für die männliche Rolle - was wenig überrascht, da die gesellschaftlich akzeptierten Normen bezogen auf Machtstrukturen nach wie vor Männer begünstigen. In jedem Fall betont Bandura, dass es keine simplen Zusammenhänge gibt, weil soziale Variablen - z.B. Sympathie für eine nichtbeachtete Person kann zur Umwertung des Verhaltens des als machtvoll erlebten Modells führen - die individuellen Lernprinzipien verändern können (vgl. Bandura/Ross/Ross 1976).

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Für Sozialisationsprozesse wichtig sind auch Banduras neuere Arbeiten, die seine Theorie der Selbstwirksamkeits-Erwartungen (expectations of self-efficacy) betreffen. Die Erwartungen einer Person bestimmen dabei zentral ihr Verhalten: Wenn sie der Meinung ist, eine bestimmte Situation bewältigen zu können, sie entsprechende Fähigkeiten besitzt und diese Situation auch tatsächlich durch das Handeln der Person beeinflusst werden kann, dann verfügt sie über eine Selbstwirksamkeits-Erwartung. Um eine entsprechende Handlung allerdings tatsächlich auszuführen, bedarf es nach Bandura auch noch entsprechender Anreize, also der Verstärkungen. Für den Sozialisationsprozess wichtig ist also sowohl die Vermittlung von Fähigkeiten und Wissen wie die Bereitstellung angemessener Verstärker.

3.1.4 Holzkamps subjektwissenschaftliche Grundlegung von Lernen Klaus Holzkamp hat in seinem Buch „Lernen" eine subjektwissenschaftliche Neubegründung lerntheoretischer Ansätze vorgenommen. Holzkamp wurde am 30.11.1927 geboren und ist am 1.11.1995 gestorben. Er hat 1963 habilitiert, wurde 1967 an der Freien Universität Berlin (FU) Ordinarius für Psychologie. Da mit seine Ernennung mit dem Beginn der Studentenbewegung zusammenfiel, setzte er sich intensiv mit den Anforderungen an eine veränderte Wissenschaft - Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung - auseinander. Es war eine Forderung der Studentenbewegung, Wissenschaft nicht „positivistisch" und vermeintlich wertneutral zu begreifen, sondern als eingebunden in Gesellschaft und insofern auch in die Forderungen nach demokratischer Erneuerung. Klaus Holzkamp nahm diese Anforderung sehr ernst und versuchte sie in seiner theoretischen wie praktischen Arbeit an der Universität umzusetzen. Dies führte zu einer deutlichen Absage an die traditionelle Psychologie, er wurde der Begründer einer „Kritischen Psychologie".

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Zugleich geriet Holzkamp damit in heftige Auseinandersetzungen innerhalb der FU und in eine isolierte Position in der Scientific Community. Die subjektwissenschaftliche Grundlegung des Lernens war sein letztes großes Werk, die Erstellung einer Theorie der Persönlichkeit hat er nicht mehr vollenden können 1 . Holzkamps subjektwissenschaftlicher Ansatz lässt sich folgendermaßen beschreiben (s. Abbildung 14): Intersubjektivität ergibt sich aus der Perspektivenverschränkung der Subjekte. Mit Intentionalität sind Absichten, Pläne, Vorsätze als inhaltliche Stellungnahmen und Handlungsentwürfe vom Standpunkt der Lebensinteressen des jeweiligen Subjekts gemeint. Der handelnde Weltzugriff geschieht auf der Basis subjektiver Handlungsbegründungen, die durch intersubjektive Begründetheit/ Verständlichkeit den Diskurs zu anderen herstellen. Welt ist bedeutungsvoll im Sinne sachlich-logischer Gegenstandbedeutungen und sprachlich-symbolischer Bedeutungen. Der Realitätsbezug zur Welt stellt sich nur vom jeweiligen Standpunkt und den Perspektiven des Subjekts her.

1

In seiner „Grundlegung der Psychologie" von 1983 hat er allerdings bereits einen Entwurf

vorgelegt, der ebenfalls sozialisationstheoretisch relevant ist und im Kapitel 4 . 2 genauer ausgeführt werden wird.

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Abbildung 14:

Psychologie vom Subjektstandpunkt

Intersubjektivität als Pe^pe^tbieiiverschränkung

Subjektive Handlungsbegrühdungen

bedeutungsvoll im Sinne sachlic i -logiscjier C iegenstandsbedeutungen und sprachlich-symoisdischer Bedeutungen

Subjekt II Intersubjektive Begründethei Verständlichkeit

handelnder WeltzugrifT bjektive Handlungsbegründungen

nach Holzkamp 1993 Der Ausgangspunkt des alltagssprachlichen Verständnisses von Lernen ist, es als Beeinträchtigung oder Zumutung und nicht als Form der Realisierung „meiner" Selbständigkeit und deswegen in „meinem" genuinen Lebensinteresse liegend zu betrachten. Diese Sicht-

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weise ist Ausdruck der Verflochtenheit von Lernen mit gesellschaftlicher Macht, der Verquickung von Lernen und Beschulung. Vom Standpunkt der Kritischen Psychologie versteht sich Lernen dagegen als möglicher Zugang des Lernsubjekts zur sachlich-sozialen Welt gesellschaftlicher Bedeutungszusammenhänge. Eine Handlungsproblematik wird zur Lernproblematik, wenn eine Lernschleife eingebaut wird, um den im primären Handlungsverlauf nicht überwindbaren Schwierigkeiten - also dem Umstand, dass ein Handlungsvollzug nicht zur Problembewältigung führt - beizukommen. Gemeint ist damit aber nicht inzidentelles (zufälliges), sondern intentionales Lernen, d.h. „ich" muss Gründe haben, anzunehmen, dass sich die Handlungsproblematik durch Lernen bewältigen lässt. Eine Lernproblematik entsteht durch die Ausgliederung eines aktuellen Lerngegenstandes als Erfahrung einer „Lerndiskrepanz": Es muss nicht nur eine Diskrepanz zwischen dem Stand des Vorgelernten und dem Lerngegenstand bestehen, sondern „diese Diskrepanz muss mir im Zusammenhang einer Lernproblematik auch erfahrbar werden können, ich muss also bemerken, dass es mit Bezug auf den jeweiligen Gegenstand mehr zu lernen gibt, als mir jetzt schon zugänglich ist" (Holzkamp 1993, S. 212). Diese Erfahrung hat eine emotional-motivationale Qualität. Lernen impliziert eine Haltung (Distanzierung, Dezentrierung, Aspektierung, „nicht so wie bisher!"). Holzkamp unterscheidet expansive Lerngründe, die einer Erweiterung/ Erhöhung der Verfügungs-/ Lebensqualität dienen, von defensiven Lerngründen, die eine Abwendung von der Beeinträchtigung oder Bedrohung der Verfügungs-/ Lebensqualität bewirken sollen. Die Selektion von Lerngegenständen und ihre Bearbeitung lässt sich nach den Dimensionen von Flachheit - Tiefe unterscheiden. Um die Tiefendimension eines Lerngegenstandes - d.h. auch die in ihm enthaltenen allgemeineren Bedeutungsbezüge - zu erschließen, bedarf es eines expansiven Lernens, defensives Lernen erschließt nur Oberflächenmerkmale. Expansives Lernen ermöglicht auch qualitative Lernsprünge, d.h. „lernende Veränderung des bisherigen Lernprinzips selbst":

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„Ich bin durch den Lernfortschritt bei Anwendung des bisherigen Prinzips an einen Punkt gekommen, wo dieses für den weiteren Lernfortschritt nicht mehr ausreicht, also ein neues Prinzip für das Weiterlernen gefunden werden - mithin ein qualitativer Lernsprung vom bisherigen zum neuen Prinzip vollzogen werden muss" (ebd., S. 241). Lernsprünge werden also von mir als Subjekt vollzogen, ergeben sich nicht als Annäherung an einen außen gesetzten Endzustand „ich" muss gute Gründe haben, ein höheres Niveau des lernenden Gegenstandszugangs zu realisieren (ebd., S. 245). Intentionales Lernen beinhaltet durchaus die Notwendigkeit von „affinitiven Lernphasen" (im Gegensatz zu definitiven, in denen „ich" den Lerngegenstand gezielt angehe): Kommen-Lassen, SichZurücklehnen, Übersicht-Gewinnen ermöglichen Selbstorganisationsprozesse, die zu neuen Einsichten führen können. Sozialisationstheoretisch bedeutsam an Holzkamps Lerntheorie ist seine Bestimmung von Lernen durch Situativität, die sich wiederum ergibt aus Biographizität und Kontextualität. An Holzkamps „konzeptueller Aufschlüsselung historisch bestimmter institutioneller Lernverhältnisse" (Kapitel 4 seines Buches „Lernen") lässt sich zeigen, wie mit der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie schulische Sozialisationsprozesse analysierbar sind. Schulische Bedeutungsstrukturen sind wichtig, weil Schule der Ort - die institutionelle Anordnung - ist, an dem Lernproblematiken ausgegliedert (und bearbeitet) werden sollen. Dabei handelt es sich jeweils um historisch-konkrete sowie gewordene Strukturen. Zunächst einmal ist Struktur das „jeweils konkrete Schulgebäude" (ebd., S. 346). Dieses jedoch ist das „sinnlich-praktische Arrangement von vergegenständlichten sachlich-sozialen Handlungsmöglichkeiten, -beschränkungen und -Widersprüchen" (ebd.). Zur Erfassung der Bedeutung, die Gebäuden zukommt, greift Holzkamp auf Michel Foucault (1994 1 ) zurück. Schule ist danach eine

1

Die deutsche Erstausgabe stammt von 1977.

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„gegenständlich-praktische Anordnung von Sachen und menschlichen Körpern, also wirklich das 'Schulgebäude', in dem durch räumliche und interpersonale Arrangements bestimmte Handlungen und Beziehungen der Insassen ermöglicht und andere unterbunden werden" (ebd., S. 347). Zugleich ist die „Schuldisziplin" Träger von Strategien, Manövern, Technologien der Durchsetzung und Reproduktion von Machtverhältnissen. Grundannahme ist, dass ein Übergang von der personifizierten Macht eines Souveräns zur Institutionalisierung vergegenständlichter Machtökonomie stattgefunden hat. Im neuen System ist jeder in gewisser Weise Opfer wie Täter, es entsteht ein System wechselseitiger Kontrolle und Überwachung. Erste Maßnahme dazu ist die räumliche Durchorganisation. Ist eine solche Anordnung vorgenommen worden, kann über die Zeit eine weitere Fixierung erfolgen. Dadurch wird eine „Organisation von Entwicklungen" möglich. Hierarchische Überwachung entsteht durch Übersichtlichkeit. Das System muss so angelegt sein, dass es vergleichend, differenzierend, hierarchisierend, homogenisierend, ausschließend, also normend, normierend, normalisierend wirkt (ebd., S. 355). Prüfungen kombinieren dabei überwachende Hierarchie mit normierender Sanktion. Exemplarisch zeigt Holzkamp am Beispiel des Berliner Schulgesetzes auf, woraufhin die schulischen Lebensäußerungen „einreguliert"

„Foucault, Michel (1926-1984), französischer Philosoph und Historiker. Professor für Philosophie in Clermont-Ferrand 1964, danach in Paris, zunächst an der Université de Paris VIII - Vincennes und seit 1970 (mit einem Lehrstuhl für Geschichte der Denksysteme) am Collège de France. - Obgleich als Philosoph ausgebildet, hat F. sein ganzes Werk der Geschichtsschreibung gewidmet. Die Foucaultsche Form der Geschichte ist allerdings weder Material- noch Geistesgeschichte im traditionellen Sinn. Sie ist vielmehr ... eine Weiterentwicklung der Auffassung von Wissenschaftsgeschichte.... Gegenstand der Geschichtsschreibung F. ist nicht Wissenschaft, sondern Wissen im allgemeineren Sinn eines Dispositionsrechts über die Wahrheit, welche erlaubt, Wissen materiell durchzusetzen. Wissen ist für F. Macht in diesem unmittelbaren Sinn. Aus dieser Perspektive analysiert F. verschiedene .Diskurse' des Wissens: Psychologie, Medizin, Humanwissenschaften, Kriminologie, Gefängniswesen, Sexualität. Die Diskursanalysen F. sind so zugleich Machtanalysen...." (Hügli/ Lübcke 1997, S. 212/213).

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werden, und welcher Art die „machtökonomischen" Verhältnisse sind (ebd., S. 360): • Schulgebäude und Klassenorganisation sind unmittelbar auffindbar - Klausur, Parzellierung der Körper, Rang, Homogenisierung; • Zeitökonomie - Definition von Öffnungszeiten der Schule, Klassenstufen, Stundenplanvorgaben, 45-Minuten-Takt, usw.; • Organisation von Entwicklungen - Versetzungen, Sitzen bleiben, Probezeiten in „höheren" Schulen; • Disziplinarblick - Aufsicht und Aufsichtspflicht (Opfer und Täter zugleich); • Normierende Sanktion - Schulpflicht als Schulbesuchszwang, innerschulische Quasigerichtsbarkeit durch „Ordnungsmaßnahmen". Notengebung und Festlegung einer Notenskala. Das Schulverwaltungsgesetz regelt die Leistungsbewertung über die Fähigkeit der Lehrkräfte (gemäß Vorbildung in eigener Verantwortung). Juristisch folgt daraus die Notwendigkeit der Vergleichbarkeit der individuell differenzierenden Notengebung (ebd., S. 369). D.h. Vergleichsgrundlage wird nicht die Beziehung zwischen Leistung und Note bei einer Schülerin/ einem Schüler, sondern die Beziehung dieser Note zu den Noten anderer Schülerinnen und Schüler. Am Gebrauch des Begriffes „Leistungsstand" wird dies als fließende Akzentverschiebung von der Konzeptualisierung der individuellen Leistungshöhe gemessen an den Anforderungen des Unterrichtsgegenstandes zum Vergleich mit den Leistungen anderer Schülerinnen und Schüler deutlich. Notenspiegel sind das Instrument dazu. Er kennzeichnet die schulische Verselbständigung der Note (ebd., S. 370). Vergleichbarkeit bezieht sich auf Verteilung der Noten, nicht auf die tatsächlichen Leistungen. Lehrkräfte sind gehalten, sich am Klassendurchschnitt zu orientieren und stets gute und schlechte Noten zu geben. Abweichungsvorschriften (und damit die Verpflichtung, eine Arbeit zu wiederholen) verweisen hierauf ebenso wie andere Erläuterungen.

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„Diese 'verteilungsorientierte' Benotungspraxis hat ... die schuladministrative Funktion, die Selektion der Schülerinnen/ Schüler hinsichtlich des Erreichens der höheren Klassenstufen, weiterführender Schulzweige und mehr oder weniger qualifizierter Abschlüsse zu bewerkstelligen und als 'gerecht' zu legitimieren" (ebd., S. 372). Die immanente Widersprüchlichkeit dieses Vorgehens ergibt sich aus dem Widerspruch zwischen Sachangemessenheit und Differenzierungsfeld: einerseits wird die Note der Schülerin/ dem Schüler als persönliches Leistungsmerkmal zugeschrieben, andererseits unterliegt sie dem jeweiligen Durchschnitt. „Einheitlichkeit" der Maßstäbe ist ein weiterer Punkt, der Sachangemessenheit zurückdrängt. Es geht dabei nämlich wiederum nicht darum, dass gleiche Leistungen auch gleich bewertet würden, sondern um die „gerechte" Bewertung. Diese wird über äußere, gleich zu haltende Bedingungen definiert, durch die individuelle Begünstigungen oder Benachteiligungen vermieden werden sollen. Geregelt wird dies vor allem über Vorschriften zu Hilfsmitteln, Täuschungen usw. Die Lösung dieses Widerspruchs wird der einzelnen Lehrkraft aufgebürdet: „Der Lehrer muss damit fertig werden, dass er einerseits gemäß seinem pädagogischen Auftrag möglichst alle Kinder in der Klasse zu guten Leistungen bringen, aber andererseits durch die administrativ geforderte 'Normalisierung' der Bewertungen den Kindern unterschiedliche, d.h. stets einem Teil von ihnen schlechte Noten geben muss" (ebd., S. 375). Weil alle beteiligt sind an der Übernahme dieser Maßstäbe für die eigene Daseinsbewältigung, sagt niemand etwas gegen dieses Verfahren. Das Gesamtsystem der schulischen „Organisation von Entwicklung" wäre ohne die Allgegenwart der Notengebung nicht legitimierbar. Zuweisungen in unterschiedliche Bildungsgänge werden nur dadurch möglich, dass die Noten die erforderlichen Unterschiede produzieren. Noch eindeutiger wird dies im Blick auf Abschlüsse

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und Berechtigungen, da mit diesen ungleiche Lebenschancen legitimiert werden. In den Schulgesetzen werden überall hehre Ziele formuliert, die vorsehen, dass es Aufgabe des Lehrers sei, die Schülerinnen und Schüler zu etwas - und zwar etwas, das Vollkommenheit repräsentiert zu erziehen. Zugleich kommen subjektiv begründete Lernhandlungen nicht vor und besteht Konsens darüber, dass die hehren Ziele in der Regel nicht erreicht werden. Holzkamp geht davon aus, dass „die Schule den Umstand, dass intentionale Lernprozesse im Sinne schulischer 'Erziehungsziele' nur zustande kommen können, sofern die Schülerinnen/ Schüler diese (zunächst fremdgesetzten) Ziele subjektiv begründet als 'je meine' Lernproblematik akzeptieren und umsetzen, nicht offiziell zulassen kann" (ebd., S. 389). Dieses Zulassen wäre jedoch die Voraussetzung für Lernen als Welterweiterung. Der zentrale Grund liegt in der gesellschaftlichen Funktion von Schule als Zuteilungsinstanz für Berufs- und Lebenschancen. Diese Funktion erfordert eine gewisse Planbarkeit des Outputs an Qualifikationsnachweisen und Berechtigungen. Diese manifestiert sich für die Lernsubjekte konkret in den Curricula/ Lehrplänen. Lehrpläne haben „eine unmittelbar repressive Funktion zunächst einmal für den Lehrer, da er - weil administrativ daran gebunden - entgegen seinem pädagogischen Auftrag die inhaltlichen Lerninteressen der Schülerinnen/ Schüler nicht in erheblichem Maße berücksichtigen darf' (ebd., S. 391). Gewährleistet wird dies, indem schuloffiziell das Lernen notwendig an das Lehren gebunden wird. Es erfolgt eine begriffliche Kurzschließung von Lehren und Lernen, ein Lehrlernkurzschluss. Der Lehrer wird zum Subjekt der Erziehung, ihm wird vorgeschrieben, was er zu lehren hat - zugleich wird davon ausgegangen, dass die Schülerinnen und Schüler dieses „lernen" würden. Holzkamp analysiert detailliert, durch welche Denk- und Praxisformen der Lehrlernkurzschluss konkretisiert wird. Vor allem gehört die zeitliche Festlegung der Unterrichtsstunde auf 45 Minuten hierzu: Diese Zeit fungiert als elementare Lehrlerneinheit, indem unterstellt wird, dass ihr ein entsprechendes Lernquantum entspräche.

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Damit dies funktionieren kann, muss eine Homogenisierung der Schülerinnen/ Schüler vorgenommen werden. Entsprechend wird geregelt, wie mit Abweichungen von dieser Homogenisierung umzugehen ist. Sie werden festgemacht am Kriterium der „Abwesenheit" (geistiger oder realer) - die gesondert registriert wird - und haben ein Entfernen von „störenden" Schülerinnen/ Schülern durch Sitzen bleiben oder Zurückstufen zur Konsequenz. Nun ergibt sich ein Widerspruch zwischen der im Lehrlernkurzschluss angenommenen gleichen Förderung der Schülerinnen und Schüler - bei unterstellter Homogenität wird ja das Gleiche in alle hineingetan - und der notwendigen „normalisierenden Differenzierung" über die Noten, also das damit verbundene Hervorbringen gerade nicht von gleichen, sondern von verschiedenen Leistungen. Dieser Widerspruch ist im Funktionszusammenhang der schulischen Machtökonomie jedoch konsequent: Beides wird auf verschiedenen Ebenen angesiedelt. Die Fähigkeit des Lehrers besteht darin, die vorgegebenen Lernziele zu erreichen, soweit nicht störende Umstände in den Personen der Schülerinnen/ Schüler vorliegen. Solche störenden Umstände sind bedingt etwa durch soziale Herkunft, Elternhaus, peer group oder Begabung. „Damit wäre das vielleicht zentrale Dilemma der Schule, im Namen der Gleichheit von Bildungschancen gesellschaftliche Ungleichheiten reproduzieren zu müssen, machtökonomisch aufgelöst" (ebd., S. 400). Die „Begabungsvorstellung" unterstreicht noch einmal die „Gerechtigkeit" der Selektion: Weil alle immer mit dem gleichen Quantum an Lehrangebot versorgt wurden und weil die Bedingungen der Einheitlichkeit (bei Prüfungen) eingehalten wurden, können die Unterschiede umso besser den individuellen Dispositionen zugeschrieben werden. Dabei wird noch nicht einmal sofort auf Begabungen rekurriert, es können auch Störungen durch familiale Sozialisationsbedingungen usw. vorliegen. Diese allerdings werden weniger zentral angenommen als „natürliche Begabungen", weil sie u.U. durch Schule korrigierbar wären. Allein ein Begabungskonzept gewährleistet, dass

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letztlich die Herstellung der Normalverteilung als eben normal und natürlich angesehen werden kann. Der Rückgriff auf Begabungsvorstellungen ermöglicht es, zu unterscheiden zwischen einem Normalbereich und einem außerhalb liegenden Bereich. Dies gewährleistet eine „Differenzierung nach innen und Abgrenzung nach außen" als wichtige Voraussetzung für Normalisierung. Innerhalb der normalen Verteilung sind die Bewertungen dann unvermeidlich den „natürlichen" Unterschieden geschuldet und legitimieren damit die Selektion. Außerhalb der normalen Verteilung allerdings sind Sonderbehandlungen erforderlich: Hochbegabtenförderung bzw. Förderkurse und Sonderschulen. „Die schulökonomische Grundlage für solche Sondermaßnahmen ist die Annahme von systematischen Zusatzfaktoren, welche die normale Leistungsverteilung überdecken, d.h. das Zustandekommen der Lehrlernentsprechung zusätzlich zu den unterstellten natürlichen Begabungsunterschieden behindern" (ebd., S. 404). Zunächst bedeutet dies den Versuch, die herausfallenden Schülerinnen und Schüler wieder der Normalität zuzuführen - durch Ordnungsmaßnahmen, durch Sonderzuwendung seitens der Lehrkräfte u.ä. Wenn dies nicht geht, muss eine Ausgliederung erfolgen - weil der Lehrer sonst überfordert wäre, dadurch dass er ja alle Schülerinnen und Schüler beachten soll. Dafür sind dann Sonderschulen zuständig. Die Funktion solcher Fördermaßnahmen besteht darin, dass sie Mittel zur Durchsetzung des Lehrlernens bei normalisierender Leistungsbewertung in den Regelklassen sind: Nur für die unterhalb der Normalität liegenden Schülerinnen und Schüler ist eine individuelle Förderung vorgesehen - im Normalrahmen ist es nicht Aufgabe des Lehrers, einen Schüler individuell in seinem Bemühen zu unterstützen, höhere Notenstufen zu erreichen. Diese würde sonst dem Konzept der natürlich streuenden Leistungen widersprechen. Förderung auf erweiterter Stufenleiter verträgt sich nicht mit Selektion. In literarischen Beispielen wie in alltäglicher Kommunikation wird das „Elend des In-die-Schule-gehen- und In-der-Schule-seinMüssens als lebenslanges Trauma" (ebd., S. 425) häufig beschrieben

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und deutlich. Wissenschaftlich ist der Subjektstandpunkt bisher aber so gut wie nicht bearbeitet worden. Das Problem, um dessen wissenschaftliche Beschreibung/ Lösung es geht, ist „die Erfassung der Vermittlungen zwischen der institutionellen Bedeutungsstruktur der Schuldisziplin, deren interpersonaler Konkretisierung sowie den dabei entstehenden Handlungs- bzw. Lernproblematiken und den darin begründeten Strategien zu deren Bewältigung vom Subjektstandpunkt der Schülerinnen/ Schüler" (ebd., S. 431). Schule hat aufgrund der machtökonomischen Strategien in diffuser Weise Subjektcharakter (ebd., S. 441). Die Schuldisziplin lässt sich als konzentrische Anordnung charakterisieren (vgl. Abbildung 15).

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Abbildung 15:

Einkreisung des Subjekts durch die Schuldisziplin

Gesetzliche Schulpflicht Ordnungsmaßnahmen permanente Aufsicht Zeitdisziplin Zwang zu räumlicher und mentaler Anwesenheit Homogenisierung/ Isolierung Stattfinden von Unterricht (Lernprozesse beim Schüler) vergleichsorientierte Bewertung des einzelnen „Schülers" - mit möglicher Abwertung und progressiv ausgrenzenden Sondermaßnahmen Schülerin/ Schüler vergleichsorientierte Bewertung des einzelnen „Schülers" - mit möglicher Abwertung und progressiv ausgrenzenden Sondermaßnahmen (Lernprozesse beim Schüler) Stattfinden von Unterricht Homogenisierung/ Isolierung Zwang zu räumlicher und mentaler Anwesenheit Zeitdisziplin permanente Aufsicht Ordnungsmaßnahmen Gesetzliche Schulpflicht

Die Einkreisung bedeutet, dass Handlungsalternativen, die nicht im Dienste der Zurichtung auf individuell-vergleichende Bewertbarkeit stehen, systematisch verwehrt werden.

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Für Kinder ist Lernen als Chance für erweiterten und vertieften Weltaufschluss zentral, Schule erscheint dabei die Institution, die gesellschaftlich gesehen, systematisch Hilfe bereitstellen soll für die Lernproblematiken der Schülerinnen und Schüler. Tatsächlich wird in Schule zwar einerseits durchaus einiges an Wissen und an Methoden zur Verfügung gestellt, zugleich bedeutet aber die konzentrische Einkreisung, dass „mein" genuines Lerninteresse nicht akzeptiert wird, vielmehr alle Maßnahmen dazu dienen, „mich" zum Lernen zu zwingen. An den Anordnungen „Stattfinden von Unterricht" und „Leistungsbewertung" lässt sich dies zeigen: Nicht die Schülerinnen und Schüler bestimmen, was ihre Lernproblematik ist, sondern die Lehrpläne. Nicht der Zuwachs an Weltaufschluss ist das Ergebnis, sondern der Vergleich mit den anderen. So zwingt die Schule zu defensivem Lernen. Von Seiten der Schülerinnen/ Schüler ist defensives Lernen eine instabile Handlungsweise, die sich nach zwei Richtungen hin zu stabilisieren versucht: in Richtung auf expansives Lernen oder in Richtung auf Reduzierung defensiven Lernens, auf unmittelbare Problembewältigung (ohne Lernschleife) (ebd., S. 449). Expansives Lernen kann in der Schule durchaus vorkommen und auch von Lehrkräften unterstützt werden - allerdings nur bis zu einem gewissen Grad, weil dann die schuldisziplinäre Anordnung eine Zersetzung der Motivation und eine Normalisierung in Richtung auf „defensives" Lernen erzwingt - Bewertung vermittelt zugleich, dass etwas nicht wirklich in „meinem" ureigensten Interesse zu liegen scheint. Die zentrale Beziehungsfigur ist die Bewertungssequenz, bei der Schüler und Schülerinnen legitimer Gegenstand der Bewertung sind, Lehrerinnen und Lehrer aber nicht. Diese Allgegenwart der Bewertung führt dazu, dass die Schülerinnen/ Schüler die gezeigte Leistung in ihr Selbsterleben übernehmen. Auch Täuschungen helfen dabei nicht, weil sie zugleich Selbsttäuschungen sind. „Lehrerfragen sind konstituierend für das Stattfinden von Unterricht, Schülerfragen dagegen nicht, der Unterricht reproduziert sich ohne eine einzige Schülerfrage" (ebd., S. 462).

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Dabei lassen sich zwei Frage-Antwort-Typen unterscheiden: Wissen suchende Frage - inhaltliche Antwort und vorauswissende Frage Wissen demonstrierende Antwort. In der Schule herrschen die letzteren vor. Für die Schülerinnen/ Schüler folgt begründungslogisch daraus, dass der Lehrer am Inhalt der Antwort nicht interessiert sein kann. „Somit sind unter solchen Prämissen Lernaktivitäten für mich nur soweit begründet, wie sie zu meiner demonstrativen Antwort im Sinne der Lehrererwartung unerlässlich sind, werden aber in dem Maße überflüssig, wie ich den Lehrer auf andere Weise, nämlich durch bloße Wissensvortäuschung, zufrieden stellen kann: dies die für defensiv begründetes Lernen typische Tendenz zur Reduktion von Lernproblematiken auf bloße Handlungsproblematiken" (ebd., S. 465). Das schulische Weltbild besteht aus bekannten Tatsachen und gelösten Problemen - entsprechend können echte Fragen weder seitens der Lehrkräfte noch der Schülerinnen/ Schüler gestellt werden. Fragen Schülerinnen/ Schüler, dann gehen sie immer ein Risiko ein, nämlich vorgeführt zu werden für Nichtwissen, das sie haben sollten. Die Fragen der Lehrkraft sind - weil sie Wissen voraussetzend sind keine lernunterstützenden, sondern setzen bereits voraus, dass gelernt wurde. Holzkamp zeigt hier auf, dass in der offiziellen Schule die Erfahrungswelt des Lernens ignoriert wird und deswegen Lernende als Lernende gar nicht respektiert werden können. Wenn nämlich eine Schülerin/ ein Schüler ein im Unterricht dargestelltes Problem sich tatsächlich zu eigen machen würde, d.h. daran weiterarbeiten wollte, würde dies durch die Schulorganisation verhindert, stattdessen zu einer Störung umdefiniert: Zunächst stoppt das Ende der Stunde die Beschäftigung, die Pause darf u.U. auch nicht für Notizen benutzt werden. In der nächsten Stunde ist was Neues dran, die mentale Weiterverfolgung des ursprünglichen Problems käme einer gleichzeitigen mentalen Abwesenheit beim neuen Stoff gleich. Der Versuch, mit anderen Schülerinnen/ Schülern sich auszutauschen, also

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über kommunikative Handlungen expansiv zu lernen, wäre eine Unterrichtsstörung. Schließlich werden auch die Möglichkeiten „wissenschaftlichen Arbeitens" behindert - durch die Reglementierung der zugelassenen Hilfsmittel. Affinitive Lernprozesse benötigen Zeit - schulisches Lernen ist aber gerade so organisiert, dass diese nicht vorhanden ist. „Unter den Bedingungen der planenden, überwachenden, normalisierenden Schuldisziplin (fehlt) zum Lernen, wie es in meinem Interesse wäre: Unbedrohtheit, Entlastetheit, Unbedrängtheit, Vertrauen und vor allem (was dies alles einschließt): Ruhe" (ebd., S. 485). Dies heißt nun allerdings nicht, dass in der Schule nicht zugleich viele unproblematische Mitlernprozesse ablaufen - also Dinge gelernt werden, ohne dass diese zu Lernproblematiken wurden. Darüber hinaus gibt es expansive Lernphasen innerhalb der Schule, aber außerhalb der Schuldisziplin - Holzkamp verdeutlicht sie an seiner eigenen Biographie: Dabei „fiel der Lehrer aus der Rolle" und auch die Schüler vergaßen ihre Schülerrolle. Solche Phasen können sehr kurz sein, aber sie zeigen sich als rückblickend sehr bedeutsam. „Die entscheidende Besonderheit der Beziehung zwischen dem Lehrer und uns Schülerinnen/ Schülern scheint mir jedoch evident: Sie lag darin, dass nicht der Lehrer etwas von uns, sondern wir etwas vom Lehrer wollten: Nämlich sein Können und Wissen für uns nutzbar und fruchtbar zu machen" (ebd., S. 495). Expansives Lernen ist allerdings nicht planbar, weil eine Lerndiskrepanz erfahren werden muss, die nicht nur von der Tiefenstruktur des Lerngegenstandes, sondern auch von der konkreten personalen Situiertheit abhängt. Holzkamp analysiert nach dieser Darstellung „normaler" schulischer Sozialisation auch andere Lernformen auf ihre Persönlichkeitsentwicklung hin. Partizipatives Lernen gestaltet sich nach dem Konzept von „Neuling" und „Meister", d.h. als „Lehre" (apprenticeship) in PraktikerGemeinschaften. Im Unterschied zum Lehrlernen gibt es hier Übergänge: Der Novize wird im Laufe des Lernfortschritts zum Meister,

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nicht aber der Schüler zum Lehrer. Bezogen auf den Mathematikunterricht heißt das, es geht nicht um Transferlernen - was sowieso nicht funktioniert -, sondern es ginge in der Schule darum, Mathematik als Mathematik bedeutsam zu machen. Partizipatives Lernen kann als eine Weiterentwicklung des Modell-Lernens nach Bandura verstanden werden. Die Grenzen liegen darin, dass Expansion durch den Meister letztlich doch begrenzt wird. Außerdem ist die Lehre im allgemeinen auf praktische, handwerkliche Lerngegenstände bezogen. Wenn ein Lerngegenstand direkt in seiner gegenständlichsymbolischen Bedeutungsstruktur zugänglich ist, braucht es keinen vermittelnden Meister. Es muss also eine Weiterung des Konzepts möglich sein, bei dem interpersonale Lernverhältnisse ungehindertes expansives Lernen unterstützen. Kooperatives Lernen wäre eine solche Weiterung. Es beruht auf einer Definition bzw. Vereinbarung darüber, was als gemeinsame Lernproblematik gelten soll. Perspektivendivergenzen müssen dabei möglich sein. Die Entscheidung darüber, ob und wie eine Lernproblematik kooperativ zu verfolgen ist, kann der Lernende nur je selbst treffen. Auch in außerschulischen Kontexten finden wir häufig Verhältnisse, die expansivem Lernen eher zuwiderlaufen. In institutionalisierten Lernprozessen im Rahmen von Organisationen (Gewerkschaften, Parteien, usw.) finden sich ähnlich strukturierte Lernbehinderungen wie die schuldisziplinär installierten. Aber auch „freie Lerngruppen" wie Friedensbewegung, Frauenbewegung u.ä. sind keine Garanten für unbehindertes kooperatives Lernen. Es können Autoritäten, Cliquen u.ä. entstehen, es kann ein Lernziel vorgegeben sein, von dem man nicht abweichen darf. Expansives Lernen ist innerhalb verschiedenartigster Machtkonstellationen potentiell ein widerstreitendes Moment, weil jemand, der sich Weltzusammenhänge lernend aufschließen kann, eine unabhängige Position erwirbt. Die allgemeine Durchdringung des Missverständnisses, Lernen sei vor allem fremdgesteuertes Lernen ergibt sich aus der von Foucault aufgewiesenen Durchdringung der Herrschaft durch alle: Indem es

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mir so scheint, als ob expansives Lernen des anderen notwendig meine Handlungsfähigkeit bedroht, beteilige ich mich am Verständnis und an der Einschränkung von Lernmöglichkeiten. Die Alternativen, in denen Handeln/ Denken einbezogen sind, heißen restriktive vs. verallgemeinerte Handlungsfähigkeit und Instrumentalverhältnisse vs. intersubjektive Verhältnisse. Dies bedeutet, dass „ich" intersubjektive Lernverhältnisse schaffen kann, indem „ich" auch die Lernbedingungen reflektiere. Abbau von Herrschaft setzt voraus, dass „ich" die expansiven Lernprozesse anderer nicht als Bedrohung ansehe, sondern als Möglichkeit auch der Erweite rung „meiner" Lernprozesse. Expansives Lernen erfordert also nicht nur die Durchdringung eines Lerngegenstandes, sondern die Anwendung auf die Lernverhältnisse selbst, ihre Überwindung als Instrumentalverhältnisse. Es geht um die Aufhebung „von Anordnungen instrumenteller Wechselbehinderungen in intersubjektive Beziehungsstrukturen, innerhalb derer expansives Lernen und der damit erreichte Weltaufschluss als im allgemeinen, also auch meinem/ unseren Interesse liegend erkannt und unterstützt wird" (ebd., S. 531). Es geht Holzkamp abschließend auch darum, herauszuarbeiten, durch welche reformerischen Bedingungen expansives Lernen in der Schule möglich wird. Dies wird nicht durch den Rückgriff auf Foucault ausgeschlossen: Zum einen gibt es immer Widersprüche in der Schule, zum anderen verweist eine historische Analyse auch darauf, dass sich Verhältnisse ändern können. Holzkamp plädiert für eine Abschaffung jeglicher Bewertung - nicht nur der Ziffern, sondern auch der Berichtszeugnisse, zugunsten einer „Unterstützung" als Rückmeldefunktion. Damit dieses funktionieren kann, muss sich allerdings der interaktionelle Umgang des didaktischen Dreischritts ändern: Nur Wissen suchende Fragen sind zugelassen, Wissen voraussetzende müssen als unhöflich gelten - was sie ja außerhalb der Schule bereits tun. Schule kann nur dann eine Stätte expansiven Lernens werden, wenn sie ihren Charakter als „Unterrichtsschule" hinter sich lässt. Die bisherigen Schulreformen krankten weniger an utopischen Gehalten als

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vielmehr an ihrem Zu-kurz-greifen. Holzkamp vertritt keine antiautoritären und antipädagogischen Auffassungen, vielmehr fordert er ein „entwickelteres Konzept von (schulischer) Planung" (ebd., S. 557). „Man muss sich den Umstand bewusst machen, dass - wenn in meine Planungen fremde Subjekte einbezogen sind - die Planungsresultate nicht nur von meinen Intentionen und Aktivitäten abhängen, sondern über die Intentionen und Aktivitäten dieser anderen Subjekte vermittelt sind" (S. 557). Es geht also um ein höheres Diskursniveau, eine selbstreflexive Schule. Zur Zeit gilt allerdings noch, dass man mit „Kontrollverschärfung durch .Bewertung zur Entwertung des Interesses und des Engagements der Betroffenen beiträgt und das, was man überwinden will, deren Tendenz zum Sich-Entziehen, zum Aussteigen, zur Widerständigkeit, laufend selbsttätig verstärkt" (ebd., S. 559). Allerdings könnte die Widerständigkeit und der Entzug durch Schülerinnen und Schüler so massiv werden, dass die Krise der Schule nicht mehr übersehbar ist und tatsächlich eine Verbreitung der Einsicht erfolgt, dass „wir uns eine disziplinare Schule systematischer Behinderungen expansiven Lernens heute und in der Zukunft immer weniger leisten können" (ebd., S. 561).

3.1.5 Sozialisation von Geschlecht in lerntheoretischer Sicht Die Lerntheoretiker - außer Bandura - haben dem Geschlecht keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Bei Klaus Jürgen Tillmann allerdings findet sich ein Kapitel über den Erwerb geschlechtsspezifischen Verhaltens in lerntheoretischer Sicht. Er benutzt das Verstärkungskonzept zur Erklärung: „Bei Jungen und Mädchen sind nicht die gleichen Verhaltensmuster erwünscht, deshalb werden Belohnungen und Bestrafungen je unterschiedlich erteilt. Aus der unterschiedlichen 'Konditionierungs-Geschichte' (...) von Jungen und Mädchen wird dann ihr geschlechtsspezifisches Verhalten erklärt. Je konsistenter die

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Vorstellungen der unterschiedlichen Bezugspersonen über die je angemessenen Verhaltensweisen von Jungen einerseits und Mädchen andererseits sind, desto eindeutiger müssten danach die von den Kindern ausgebildeten geschlechtstypischen Verhaltensweisen ausfallen" (Tillmann 1996, S. 77) Solche Mechanismen reichen jedoch - so Tillmann - nicht aus, um den Erwerb komplexer Geschlechtsrollen zu erklären. Eine größere Erklärungskraft hat das Lernen am Modell. Allerdings bleibt offen, warum sich Mädchen an weiblichen, Jungen an männlichen Modellen orientieren sollten. Tillmann referiert dazu eine „Ähnlichkeitshypothese", die von W. Mischel 1966 entworfen wurde. Sie kombiniert die Verstärkungstheorie mit dem Modellernen: „Knaben werden für männliches, Mädchen für weibliches Verhalten belohnt. Daraus entwickelt das Kind die generalisierte Einsicht, welches der beiden Modelle ihm ähnlicher ist, und modelliert dieses dann nach. Dabei wird das Kind zunehmend unabhängig von den externen Belohnungen, weil es selber das Nachahmen des 'richtigen' Modells als belohnend empfindet (Selbstverstärkung)" (ebd., S. 83). Empirisch lässt sich diese Ähnlichkeitshypothese allerdings nicht belegen. Tillmann geht deshalb davon aus, lerntheoretische Ansätze könnten „einzelne Mechanismen der Sozialisation" identifizieren, „der Gesamtprozess des Erwerbs einer geschlechtsspezifischen Identität und der Übernahme geschlechtstypischer Verhaltensweisen lässt sich auf diese Weise nicht erklären" (ebd., S. 84f.)

3.1.6 Zusammenfassende Einschätzung der Lerntheorien als Sozialisationstheorien Abschließend soll geprüft werden, in welcher Weise die Lerntheorien den im Kapitel 1.1 genannten Anforderungen an Sozialisationstheorien nachkommen. Es wurden sieben Anforderungen benannt: • Klärung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft

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Berücksichtigung der Tatsache von Freiheit menschlichen Handelns • Unterschiede in der Entwicklung der Individuen zu erklären • den historischen Aspekt von Individualität zu berücksichtigen • die biographischen Prozesse hinter den Persönlichkeiten zu verstehen • Entfaltungsmöglichkeiten von Persönlichkeit in Gesellschaft zu klären • Möglichkeiten von Bildung auszuloten. In der behavioristischen Lerntheorie erscheint das Individuum zunächst einmal als eine Art Marionette, die von denjenigen, die über das entsprechende Wissen verfügen, konditioniert wird. Gesellschaft kann in diesem Modell nur als autoritäre Institution verstanden werden. In der Weiterentwicklung der Lerntheorien vom klassischen zum operanten Konditionieren kamen Bedürfnisse von Menschen in die Theorie - denn „Erfolg" einer Handlung und damit Konditionierungsbedingung war nicht losgelöst davon, was die Menschen als Befriedigung empfanden. Erst Banduras Lernen am Modell weitete das Verständnis, als nun nicht mehr nur von einzelnen ausgegangen wurde, sondern soziale Zusammenhänge gesehen wurden. Mit der subjektwissenschaftlichen Begründung des Lernens durch Klaus Holzkamp ergab sich ein erweitertes Verständnis. Dies zeigt sich vor allem in der zweiten Anforderung - der Frage nach der Freiheit menschlichen Handelns. Während die klassischen Lerntheorien die Tatsache von Freiheit leugneten oder ignorierten, ist in Banduras wie in Holzkamps Theorie explizit enthalten, dass Menschen selbst darüber entscheiden, ob sie etwas lernen wollen oder nicht. Dies erweitert dann auch enorm die Möglichkeiten, Unterschiede in der Entwicklung von Individuen zu erklären. Während sie in den klassischen Theorien als eine Abfolge der Konditionierungen, des dabei erfolgenden Generalisierens von Verhaltensweisen bzw. auch des Löschens betrachtet werden müssten, beinhalten sie bei Banduras ebenso wie bei Holzkamp auch einen Anteil von Eigensinn. Beides lässt sich mit der Anforderung nach Berücksichtigung historischer

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Bedingungen von Individualität wie von biographischen Prozessen verbinden - was in den klassischen Lerntheorien praktisch nicht abgedeckt werden konnte. Diese Theorien waren allerdings von einem starken Optimismus hinsichtlich der Entfaltungsmöglichkeit von Persönlichkeit getragen - wobei die Art der Entfaltung jedoch entsprechend dem autoritären Ansatz vorgegeben war - gesellschaftlich bzw. von den Herrschenden in der Gesellschaft. Bildung meinte denn auch vor allem die Erweiterung von Wissen. Holzkamp analysiert in seiner Lerntheorie eher die Bedingungen, die expansives Lernen verhindern. Die repressiven Momente der auf Konkurrenz basierenden Gesellschaft bezieht er in die Theorie ein, stellt sie aber nicht als Gegensatz von Individuum und Gesellschaft dar, sondern beschreibt gerade, wie die Individuen an der Herstellung eben dieser Gesellschaft beteiligt sind. Bildung ist bei ihm denn auch die Reflexion und bewusste Veränderung dieser Bedingungen. Allerdings ist Holzkamps Analyse weniger eine sozialisationstheoretische Erörterung des „Mitgliedwerdens", sondern betrachtet Lernen als subjektive Handlung primär vom Individuum aus. Insofern lässt sich - wie gezeigt - hiermit herausarbeiten, welche Sozialisationsprozesse durch die Art der Bildungsorganisation bewirkt werden, nicht jedoch, wie Sozialisation umfassend zu begreifen wäre.

3.1.7 Studienpraktische Hinweise Eine ausführliche Kritik der Lerntheorien, die auch die klassischbehavioristischen Theorien nicht einfach als völlig verfehlt hinstellt, sondern auf ihren rationalen Kern überprüft, findet sich im 2. Kapitel des Buches „Lernen" von Klaus Holzkamp (1993). Die Weiterentwicklungen des Ansatzes von Albert Bandura sind in einem neueren Aufsatz gut zusammengefasst: Bandura, Albert: Exercise of personal and collective efficacy in changing societies. In: Bandura, Albert (Hg.): Self-efficacy in changing societies. Cambridge 1995, 1-45.

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In diesem Beitrag referiert Bandura auch Studien, die sich mit der Rolle von Lehrkräften und Schulen bei der Förderung oder Behinderung von Selbstwirksamkeitsüberzeugungen befassen. Wer sich über die Anliegen der Studentenbewegung informieren möchte und darüber auch den Anspruch von Klaus Holzkamp, eine gesellschaftlich-verantwortungsvolle Wissenschaft zu betreiben, besser verstehen will, sei auf eine der frühen Publikationen von Akteuren der Hochschulreform verwiesen: Leibfried, Stephan (Hg.): Wider die Untertanenfabrik. Handbuch zur Demokratisierung der Hochschule. Köln 1967. Für eine kritische Aufarbeitung der Begabungsdebatte gibt es einige sehr gute Arbeiten. So zeigt Lucien Sève (Sève, Lucien: Kampf der Begabungsideologie. In: Demokratische Erziehung 1 (1975) H. 1, S. 89-96) auf, dass die Vorstellung, nach der Begabung als biologisch bedingtes Merkmal gelten solle, Menschheitsgeschichtlich nicht haltbar ist: Wenn die menschliche Entwicklung nicht mehr primär über Veränderungen von Reflexen und Instinkten, sondern vielmehr über veräußerlichte gesellschaftliche Errungenschaften läuft, dann kann dies logischerweise nicht in den Genen abgelegt sein. Im pädagogischen Bereich gab es einen Paradigmenwechsel von einer statischen Begabungsvorstellung hin zur Dynamisierung des Konzepts in dem von Heinrich Roth herausgegebenen Gutachten für den Deutschen Bildungsrat: Roth, Heinrich (Hg.): Begabung und Lernen. Deutscher Bildungsrat. Gutachten und Studien der Bildungskommission Band 4. Stuttgart 1969. Aufarbeitungen sowohl der wissenschaftlichen wie der politischen Kontroversen finden sich in den beiden folgenden Bänden: Rose, Steven/ Lewontin, R.CJ Kamin, Leon J.: Not in our Genes. Biology, Ideology and Human Nature. Harmondsworth, Middlesex 1985. Quitzow, Wilhelm: Intelligenz - Erbe oder Umwelt? Wissenschaftliche und politische Kontroversen seit der Jahrhundertwende. Stuttgart 1990.

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Dabei beinhaltet der Band von Wilhelm Quitzow auch didaktische Hinweise für die Bearbeitung des Themas im Unterricht. Weitere Auseinandersetzungen finden sich in: Holzkamp, Klaus: „Hochbegabung" - Wissenschaftlich verantwortbares Konzept oder Alltagsvorstellung. In: Holzkamp, Klaus (Hg.): Schriften I. Hamburg 1997, 54-71. Arbeiten, die sich der Kritischen Psychologie, als deren Begründer Klaus Holzkamp gelten kann, zugehörig fühlen, erscheinen in einer Zeitschriftenreihe beim Argument Verlag Hamburg: Forum Kritische Psychologie. Die Geschlechtersozialisation in einer lerntheoretischen Variante wenngleich nicht als explizite und durchgängige Anwendung der Theorie, aber dem sehr nahekommend, wird in dem Buch von Ursula Scheu „Wir werden nicht als Mädchen geboren - wir werden dazu gemacht: Zur frühkindlichen Erziehung in unserer Gesellschaft" entfaltet. Eine gute Kritik am Menschenbild und an den Verkürzungen dieses Ansatzes leistet der Aufsatz von Bettina Dausien „Geschlechtsspezifische Sozialisation" - Konstruktiv(istische) Ideen zu Karriere und Kritik eines Konzepts. In: Dausien, Bettina (Hg.): Erkenntnisprojekt Geschlecht. Opladen 1999, S. 216-246.

3.2

Vom Strukturfunktionalismus zur Systemtheorie

Der zweite vorzustellende Theoriebereich, mit dessen Hilfe Sozialisationsprozesse verständlich werden sollen, kann als einer charakterisiert werden, der eher vom Pol der Gesellschaft ausgeht - im Gegensatz zu den vorgestellten Lerntheorien, deren Ausgangspunkt mehr das Individuum war. Für die zuerst vorzustellende Theorie, Talcott Parsons Strukturfunktionalismus, trifft diese Aussage noch sehr klar zu. Bei der Systemtheorie von Niklas Luhmann dagegen lösen sich die Pole insofern auf, als sein entscheidender Ansatz die jeweilige Systemdefinition ist. Sie ist auf Differenz angelegt, definiert jeweils alles, was nicht zum System gehört, zur Umwelt. Insofern lässt sich Luhmanns Theorie nur noch bedingt in die Kategorie „Sozialisation zwischen Individuum und Gesellschaft" einordnen.

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Da andererseits eine historische Kontinuität in der Entwicklung dieser beiden Theorien - die sich auch über eine persönliche Verbindung ergibt - besteht, sollen sie beide in diesem Kapitel behandelt werden.

3.2.1 Talcott Parsons Strukturfunktionalismus Eine heute eigentlich nicht mehr relevante soziologische Theorie, auf die aber insbesondere im pädagogischen Bereich noch öfter zurückgegriffen wird, ist die strukturfunktionalistische Theorie von Talcott Parsons, die auch als (frühe) Systemtheorie oder als Rollentheorie gehandelt wird. Talcott Parsons hat seine Autobiographie als Wissenschaftsgeschichte der Soziologie unter dem Titel „Die Entstehung der Theorie des sozialen Systems: Ein Bericht zur Person" geschrieben (Parsons 1975)}\ Parsons wurde am 13.12.1902 in Colorado Springs geboren. Sein Vater war Collegelehrer und Kongregationalisten-Pfarrer. Er begann sein Studium ca. 1920 am Amherst College mit dem Studienfach Biologie, um - auf Grund des Einflusses eines älteren Bruders - in einem medizinischen Fach zu promovieren. 1923 wechselte er jedoch zur Sozial- und Wirtschaftswissenschaft. Während eines Studienjahres in London an der London School of Economics nahm er Kontakt zu Bronislaw Malinowski auf. Ein Austauschstudienjahr in Heidelberg nutzte er zum Studium der Schriften von Max Weber und zur Promotion bei Edgar Salin über den Begriff des Kapitalismus in den Theorien von Weber und Sombart. Während der Arbeit an der Dissertation hatte er für ein Jahr eine Lehrtätigkeit in Amherst. 1927 heiratete er Helen B. Walker, eine ehemalige Kommilitonin an der London School of Economics - Walker war später viele Jahre in Harvard tätig, zuletzt in der Verwaltung des Russian Research Center. Zwischen 1930 und 1936 wurden ihre drei Kinder geboren.

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Diese Autobiographie wurde zuerst veröffentlicht in Daedalus 1970. Siehe auch: Körte 1995, S. 173-190.

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Vom Herbst 1927 an arbeitete Parsons in Harvard, zunächst als Tutor, dann als Dozent, ab 1936 als Assistant Professor, ab 1944 als Vorsitzender des Department of Sociology. Im Herbst 1946 mit der Eröffnung des Departments of Social Relations wurde Parsons Vorsitzender der Abteilung, die Soziologie, Sozialanthropologie, Sozialpsychologie und klinische Psychologie umfasste. Diesen Vorsitz behielt er bis 1956. Seine Befähigung für klinische Psychologie erwarb er 1946 mit einer Ausbildung als Class C Kandidat am Psychoanalytic Institute Boston (Lehranalyse bei Dr. Grete Bibring). In die Zeit seines Vorsitzes fielen noch einige auswärtige Aktivitäten: 1948 hatte er einen Lehrauftrag am Salzburger Seminar. In den beiden Jahren 1949 und 1950 war er Präsident der American Sociological Association. 1953-1954 war Parsons Gastprofessor in Cambridge, England im dortigen Department of Economics. 1979 starb Talcott Parsons auf einer Vortragsreise in Deutschland. Es ging Parsons darum, eine universelle Theorie für alle sozialen Vorgänge in einer Gesellschaft zu entwickeln, d.h. eine Theorie, die zu jeder historischen Zeit und für jede Gesellschaft gültig sei. Außerdem ging es ihm um die Stabilität von Gesellschaftssystemen, nicht um Veränderungen. Grundlegende Prämisse seiner Theorie der Gesellschaft ist die Annahme, jede Gesellschaft strebe nach einem störungs- und konfliktfreien Gleichgewicht. Alle Teile einer Gesellschaft hätten die Funktion, den Erhalt ihrer Struktur zu gewährleisten. Man spricht deshalb vom Strukturfunktionalismus. Entsprechend dieser Vorannahme der Stabilität eines abstrakten Systems ist es notwendig, allgemeine Bedingungen zu formulieren, die als Orientierung der Handelnden in einer Gesellschaft dienen. Parsons beschreibt Handlungen als durch drei Eckwerte bestimmt: • Beschaffenheit der Situation • Bedürfnisse des Handelnden • Bewertung der Situation durch den Handelnden. Grundsätzlich gilt dabei, dass die Handelnden einen Ausgleich zwischen ihren individuellen Bedürfnissen und den gesellschaftlichen Anforderungen finden müssen, wobei Parsons unterstellt, dass die

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„Handelnden stets bereit sind, Kompromisse in der Weise zu schließen, dass das System immer in einem Gleichgewicht gehalten werden kann" (Körte 1995, S. 178). Damit dies passiert, müssen von den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern Wertorientierungen internalisiert werden. Solche Wertorientierungen sind die in einer Gesellschaft gültigen Wertvorstellungen über das richtige Verhalten. Sie lassen sich in fünf Kategorien beschreiben, den sogenannten Pattern Variables: Affektivität — affektive Neutralität Selbstorientierung — Kollektivorientierung Universalismus — Partikularismus Zuweisung — Leistungsorientierung diffuses Verhalten — spezifisches Verhalten Diese Pattern variables beschreiben Endpunkte eines Kontinuums, die für verschiedene gesellschaftliche Situationen und für verschiedene Gruppen zu verschiedenen Graden oder Ausprägungen gelten. So ist eine Kommunikation zwischen zwei befreundeten Personen eher durch Affektivität, also emotionaler Zugewandtheit und auf unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung basierender Interaktion beschreibbar, während z.B. die Kommunikation zwischen einem Verkäufer und einem Kunden eher durch Affektneutralität, also nicht emotionaler Unmittelbarkeit, sondern bewertender Überlegung bestimmt wird. Die jeweiligen in einer Gesellschaft gültigen Ausprägungen der Pattern variables beschreiben die Topographie dieser Gesellschaft. Sie bilden die im System geltenden Orientierungen, die von den Teilen des Systems, den Subsystemen erhalten werden müssen. Parsons unterscheidet vier Subsysteme menschlichen Handelns: • den Organismus • das personale System • das soziale System und • das kulturelle System.

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Parsons unterscheidet vier Funktionen, mit denen der Erhalt des Systems gewährleistet wird, diese Funktionen charakterisieren sein AGIL-Schema: • Adaptation (Anpassung) • Goal attainment (Zielerreichung) • Integration • Latency (auch Pattern Maintenance) (Strukturerhaltung). Man kann diese Funktionen den Subsystemen menschlichen Handelns zuordnen, ebenso wie den Institutionen der Gesellschaft (vgl. Abbildung 16). Abbildung 16: Funktionen Adaptation Goal attainment Integration Latency

AGIL-Schema und Subsysteme Menschliche Handlungssysteme Organismus personales System soziales System kulturelles System

Institutionen d e r Gesellschaft Arbeit und Wirtschaft Parteien und V e r b ä n d e Gemeinwesen Familie, Schule, Kirche

Die Vermittlung zwischen diesen Subsystemen kennzeichnet den Sozialisationsprozess, der sich bei Parsons durch Lernen, Verinnerlichung und Kontrolle vollzieht - und im wesentlichen ein einseitiger Anpassungsprozess ist. Roland Reichwein (1971) hat die Sozialisationstheorie von Talcott Parsons kurz und präzise nachgezeichnet während sie in Parsons eigenen Werken eher verstreut unter verschiedenen Themen bearbeitet wird. Danach lässt sich der Sozialisationsprozess in fünf Phasen einteilen, die ähnlich wie die psychoanalytischen Entwicklungsstufen aufgebaut sind, jedoch zum Teil anders bezeichnet werden: „ 1. Die Phase der oralen Abhängigkeit von der Mutter 2. die Phase der Liebesabhängigkeit von der Mutter 3. die ödipale Phase 4. die Latenzphase

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5. die Phase der Adoleszenz oder Geschlechtsreife" (Reichwein 1971, S. 169). In der ersten Phase erfolgt eine „Soziabilisierung" als Anpassung des Säuglings an die Umweltbedingungen und die Entwicklung erster zwischenmenschlicher Basiskontakte. Das Kind lernt, dass seine Bedürfnisse von der Mutter befriedigt werden und es identifiziert sich mit der Mutter. Machtdimension und expressiv-instrumentelle Handlungsdimensionen sind eng miteinander verbunden, das Kind entwickelt ein undifferenziertes Gefühl der „kollektiven Identität". In der zweiten Phase werden die Bedürfnisse des Kindes durch Verhaltenserwartungen hinsichtlich von Nahrungsaufnahme und Reinlichkeitserziehung häufiger frustriert. Das Kind internalisiert die Verhaltenserwartungen, indem es versucht, der Mutter durch angepasstes Verhalten zu gefallen. Damit internalisiert das Kind zwei Identifikationsobjekte: Die Mutter, nunmehr in ihrer liebenden Rolle einerseits, und das eigene Ich oder Selbst andererseits. Entscheidende Bedürfnisdisposition in dieser Phase ist die „dependencyautonomy", die relevanten Wertorientierungen beziehen sich auf „effective diffusity" und „effective specifity", d.h. auf das Pattern Variable-Paar Universalismus versus Partikularismus. In der dritten Phase werden die weiteren Familienmitglieder in die Identifikationsprozesse einbezogen. Die Bedürfnisdisposition „dependency-autonomy" wird durch Internalisierung der Mutter- bzw. Vaterrolle aufgeteilt in „nurturence" (Pflegebedürfnis) und „conformity", durch Internalisierung der Kindrolle (selbst bzw. Geschwister) in „security" und „adequacy". Hierbei erfolgen deutlich geschlechterdifferente Orientierungen: Jungen orientieren sich am Vater und internalisieren ihm gegenüber „conformity", dem Bruder gegenüber „adequacy", Mädchen orientieren sich an der Mutter und internalisieren „nurturence" bzw. „security" gegenüber der Schwester. Damit einher geht die Internalisierung der Wertvorstellungen Affektivität bei den Mädchen und affektive Neutralität bei den Jungen. Mit dieser Phase ist die primäre Sozialisation durch die Verinnerlichung der Funktionen des personalen und sozialen Systems so-

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wie durch die Inkulturation als Aneignung kultureller Wertmuster abgeschlossen (vgl. Abbildung 17). Mit Beginn der sekundären Sozialisation erhalten andere außerfamiliäre Bezugsgruppen und -personen zunehmende Bedeutung. Unter Beibehaltung der geschlechterbezogenen Schwerpunkte gewinnen jetzt die Wertorientierungen des Universalismus wie der Leistungsorientierung an Bedeutung. Zugleich behält die familiär-mütterlichweibliche Seite noch ihre Wirkungen. In seinem Aufsatz über die Funktion der Schulklasse in der amerikanischen Gesellschaft hat Parsons diese Prinzipien von Sozialisation verdeutlicht (Parsons 1973){. Dazu beschreibt Parsons zunächst noch einmal seine Grundprämissen: Er geht aus von einem Gesellschaftsmodell, das vertikal und horizontal in Rollen strukturiert ist. Für die amerikanische Gesellschaft zur Zeit des Aufsatzes (50er Jahre) erhält das Bildungssystem eine wichtige Funktion bei der Herstellung dieser Struktur - anders als zu Beginn der USA, wo Self-Made-Men möglich waren und vorherrschten. Während in der Familie askriptive Rollen im Blick auf Geschlecht und Generation vorherrschen, wobei Männer/ Väter das Universalistische repräsentieren, Frauen/ Mütter das Partikularistische, bringt die Grundschule erstmals gleiche Kinder zusammen und selektiert sie ausschließlich nach Leistung. Damit erfüllt sie ihre Funktion, die Parsons kennzeichnet als „Entwicklung von Bereitschaften und Fähigkeiten der Individuen als wesentlicher Voraussetzung zur Verwirklichung der allgemeinen Werte der Gesellschaft und Bereitschaft zur Erfüllung eines spezifischen Rollentyps innerhalb der Struktur der Gesellschaft" (ebd., S. 349).

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aus: Harvard Educational R e v i e w , Bd. 29, Nr. 4 , 1959, S. 2 9 7 - 3 1 8 ; aus: Parsons, Talcott:

Sozialstruktur und Persönlichkeit, Frankfurt/Main 1968, S. 1 6 1 - 1 9 2 ; aus: Graumann, C.F./ Heckhausen, H. (Hg.): Pädagogische Psychologie. Funk-Kolleg Grundlagentexte, Band 1: Entwicklung und Sozialisation. Frankfurt/ Main 1973, S. 3 4 8 - 3 7 5 (dieser Text dient hier als Zitatvorlage); aus: Baumgart, Franzjörg: Theorien der Sozialisation. Bad Heilbrunn/ Obb. 1997, S. 9 9 - 1 1 5 .

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Diese Sozialisationsfunktion wird als Selektion durch Leistung in Form von struktureller Differenzierung gewährleistet und ergibt sich durch vier primäre Merkmale: • Gleichheit des Status zu Beginn • gemeinsame Aufgaben • scharfe Polarisierung zwischen Schülern und Lehrer • systematische Bewertung der Schulleistungen (ebd., S. 353). Einschränkungen ergeben sich durch unterschiedliche Methoden und informelle Aspekte der Schulklasse. Schulleistung setzt sich zusammen aus kognitiven und moralischen Komponenten, wobei diese in der Grundschule nicht klar voneinander unterschieden werden. Außerdem sind Familie und peer group (Gleichaltrige) Sozialisationsinstanzen, die neben der Schule weiterhin und gleichzeitig wirken: beide sind Quelle der Belohnung für Leistungen und der Sicherheit durch Anerkennung. Leistungsmotivation wird erworben durch die Identifizierung mit dem Lehrer, wobei in der Identifizierung beide Seiten der Rollenbeziehung internalisiert werden. Die Scheidelinie zwischen jenen Personen, die später ein College besuchen werden, und jenen, die dies nicht tun, sieht Parsons in dieser Identifizierung - Kinder, die sich primär an ihren peers statt an der Lehrerin orientieren, werden eher nicht zu den Collegebesuchern gehören. Parsons hält es für wichtig, dass „der Grundschullehrer" in der Regel eine Frau ist - sie repräsentiert die Kontinuität der Mutterrolle, verweist zugleich darauf, dass „die weibliche Rollenpersönlichkeit komplexer ist" als sie durch die Kategorie Mutter scheint (ebd., S. 361). Die Beziehung zur Lehrerin gewährleistet eine Verinnerlichung universalistischer Muster, weil eine Beziehung zur Rolle, nicht zur Person hergestellt werden muss (vor allem durch Wechsel der Lehrerinnen in den verschiedenen Schuljahren). Die Grundschule leistet als Sozialisationsinstanz die • Emanzipation des Kindes von emotionalen Bindungen an die Familie,

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Verinnerlichung einer Ebene gesellschaftlicher Werte und Normen, • Differenzierung der Klasse nach Leistung und Leistungserfolg, • Selektion und Verteilung der menschlichen Ressourcen auf das gesellschaftliche Rollensystem (ebd., S. 362f.) Sie gewährleistet dies durch • gemeinsame Werte der Erwachsenen in Familie und Schule, • Abmilderung der Beurteilungshärte durch Quasi-Mütterlichkeit, • selektive Belohnung für erwünschtes Verhalten, • Herausbildung eines Anspruchsniveaus beim Kind durch Statusdifferenzierung in der Klasse. Die Grundschulphase ist nach Parsons auf die Verinnerlichung der Leistungsmotivation durch die Kinder und auf die Selektion von Personen auf der Basis unterschiedlicher Fähigkeit für Leistungen (Niveaudifferenzierung) angelegt - dies sind ihre beiden Funktionen. In der Oberschule geht es dagegen mehr um die „Differenzierung qualitativer Typen der Leistung" (ebd., S. 367). Hier nimmt Parsons seine Unterscheidung von kognitiven und moralischen Leistungsaspekten wieder auf: Die Differenzierung ergibt dann eher technisch orientierte Menschen, die besser spezifische Funktionen erfüllen werden, und eher sozial oder „menschlich" orientierte, die eher diffuse Rollen ausfüllen werden. Die Jugendkultur trägt durch ihre Geschlechterbezogenheit nun zur Differenzierung der Persönlichkeitstypen bei. In dieser letzten Phase des Sozialisationsprozesses erweitert sich das Bezugssystem der Identifikationsobjekte zum einen in Richtung auf heterosexuelle Geschlechts- und Rollenpartner einerseits - entsprechend der konservativen Ausrichtung des Modells kommen homosexuelle Orientierungen überhaupt nicht in Betracht - und auf Arbeitsbeziehungen andererseits. Reichwein nennt als zwei grundlegende Prinzipien des Sozialisationsprozesses bei Parsons: • Die zunehmende und irreversible „Differenzierung der anfangs internalisierten Bedürfnisdisposition, Orientierungsdimensionen

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und Verhaltensmuster des Kindes im Mutter-Kind-System nach dem ,Prinzip der Zweiteilung'" (Reichwein 1971, S. 173), d.h. nach der Orientierung zu jeweils einem der beiden Pole der Pattern Variables. Die durchgängige, ununterbrochene „Kontinuität der Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung von den ersten Identifikationen und Objektbeziehungen im Mutter-Kind-System der oralen Phase bis zu den Objekt- und Rollenbeziehungen in der Adoleszenz" (ebd.).

Abbildung 17: c Primäre < Sozialisation (1.-3. Phase)

Objekt- und Bezugssysteme im Sozialisationsverlauf Mutter nurturence (Pflegebedürfnis) Schwester security (Sicherheit)

V.

Sekundäre Sozialisation (4. Phase)

r Weibliche Erwachsene pleasure/ appreciation ^ (Vergnügen/ Wertung)

V

r Adoleszenz/ Geschlechtsreife (5. Phase) V

Vater conformity (Konformität) Bruder adequacy (Angemessenheit) Männliche Erwachsene disciplin/ control (Disziplin/ Kontrolle)

Weibliche peers liking/ acceptance

Männliche peers achievement/ cooperation

Partner

Partnerin

Arbeitskollegen

Arbeitskollegen

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Die Hauptkritik an Parsons Theorie - die es auch berechtigt erscheinen lässt, dies als eine veraltete, vor allem noch historisch interessante Theorie zu betrachten - ergibt sich aus seinem klaren Konservatismus: Er unterstellte eine prästabilisierte Harmonie zwischen Persönlichkeit und Gesellschaftssystem, ging von mehr oder weniger starren Rollen aus und konnte - und wollte auch nicht - gesellschaftliche Veränderungen erklären. Auch das Geschlechterverhältnis war bei Parsons klar fixiert, die traditionellen Stereotype waren in den Rollen festgeschrieben und geschlechterbezogene Sozialisation war dann erfolgreich, wenn Mädchen und Jungen sich in die vorgesehenen Rollen einfügten. Norbert Elias arbeitet die Kritik an Parsons besonders deutlich heraus. Er beschreibt im Vorwort der 1936 erschienenen Ausgabe seines Buches „Über den Prozess der Zivilisation" die Aufgabe, Sozialisationsprozesse nicht losgelöst von Gesellschaftsentwicklung zu betrachten: „Der spezifische Prozess des psychischen 'Erwachsenwerdens' in den abendländischen Gesellschaften, der den Psychologen und Pädagogen heute oft genug Anlass zum Nachdenken gibt, ist nichts anderes als der individuelle Sozialisationsprozess, dem jeder Heranwachsende in den zivilisierten Gesellschaften als Folge des jahrhundertelangen, gesellschaftlichen Zivilisationsprozesses von klein auf automatisch in höherem oder geringerem Grade und mit mehr oder weniger Erfolg unterworfen wird" (Elias 1976, S. LXXIV). Elias beansprucht mit der Aufarbeitung der Zivilisationsgeschichte auch eine Lösung zu liefern für „das vertrackte Problem des Zusammenhangs von individuellen, psychologischen Strukturen, also von den sogenannten Persönlichkeitsstrukturen, und von Figurationen, die viele interdependente Individuen miteinander bilden, also von Sozialstrukturen", indem er „diese beiden Strukturtypen nicht, wie es noch meistens geschieht, als unwandelbare Strukturen, sondern viel mehr als sich wandelnde Strukturen, als interdependente Aspekte der gleichen langfristigen Entwicklung anvisiert" (ebd., S.

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Xm). Elias wirft Talcott Parsons vor, gerade diese interdependenten Aspekte und den Wandel nicht zu fassen, sondern gesellschaftliche Prozesse auf gesellschaftliche Zustände zu reduzieren. Parsons tut dies, indem er Ego und System als zwei getrennt voneinander existierende Gegebenheiten betrachtet, wodurch das soziale System eine Gesellschaft im Gleichgewicht, d.h. im Zustand der Ruhe wird (ebd., S. XL). Dies führt letztlich dazu, dass das Menschenbild aufgespalten wird in ein Bild vom Menschen als Individuum und ein Bild vom Menschen als Gesellschaft (ebd., S. XLIV). Bei Parsons hat das die paradoxe Konsequenz, dass er Entwicklung und Sozialisation gar nicht wirklich fassen kann. Elias karikiert das folgendermaßen: „Der Prozess - der einzelne Mensch als Prozess im Heranwachsen, die Menschen zusammen als Prozess der Menschheitsentwicklung - wird in Gedanken auf einen Zustand reduziert. Der einzelne Mensch macht als Erwachsener die Augen auf und erkennt hier und jetzt ganz aus eigener Kraft und ohne von anderen zu lernen, nicht allein was alle diese Objekte sind, die er wahrnimmt, er weiß nicht allein sofort, was er als belebt und als unbelebt, als Stein, als Pflanze oder als Tier zu klassifizieren hat, er erkennt überdies auch ganz unmittelbar hier und jetzt, dass sie kausal und naturgesetzlich miteinander verknüpft sind" (ebd., S.

Lxvm). Dieses statische Bild des Ego als handelnden Einzelmenschen von dessen Erwachsenwerden Parsons abstrahiert, stellt dieser gleichzeitig unverbunden neben psychoanalytisches Gedankengut, das sich gerade auf das Erwachsenwerden, „auf den Einzelmenschen als offenen Prozess in unauflöslicher Interdependenz mit anderen Einzelmenschen bezieht. Infolge dessen fahren sich die Gedanken von Gesellschaftstheoretikern immer von neuem in einer Sackgasse fest, aus der es anscheinend keinen Ausweg gibt. Das Individuum oder genauer gesagt, das, worauf sich der gegenwärtige Begriff des Individuums bezieht, erscheint immer wieder als etwas, das 'außerhalb' der Gesellschaft existiert. Das, worauf sich der Begriff der Gesellschaft be-

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zieht, erscheint immer wieder als etwas, das außerhalb und jenseits der Individuen existiert" (ebd., S. LI) Elias stellt dem sein eigenes Menschenbild entgegen: „Es ist angemessener, wenn man sich unter einem Menschenbild ein Bild vieler interdependenter Menschen vorstellt, die miteinander Figurationen, also Gruppen oder Gesellschaften verschiedener Art, bilden" (ebd., S. LXVE). Auch Roland Reichwein kommt zu dem Schluss, dass Parsons' Sozialisationstheorie „deterministisch" sei - nachdem er mit seinem Aufsatz explizit überprüfen wollte, ob man Parsons unterstellen könne, er sei nur an Stabilität und nicht an Wandel interessiert. Reichwein resümiert: „Das Individuum wird bei ihm sogar zum Gefangenen eines doppelten, sich ergänzenden und verstärkenden Determinismus: einmal von Seiten des primären, kindlichen Sozialisationsprozesses und zum anderen von Seiten der jeweils akuten Rollenerwartungen, die sich auf die bereits internalisierten Bedürfnisdispositionen und Orientierungsmuster stützen können. Die Entwicklung einer eigenständigen, persönlichen Identität des Individuums, die sich in nonkonformem Verhalten gegen die jeweiligen Rollennormen behaupten könnte, scheint unter diesen Bedingungen nahezu ausgeschlossen" (Reichwein 1971, S. 181).

3.2.2 Systemtheorie von Niklas Luhmann Der Strukturfunktionalismus wurde auch als Systemtheorie bezeichnet, weil er Gesellschaft als System mit Subsystemen betrachtete und den Elementen eines Systems Funktionen für dieses zuwies. Die radikalste Weiterentwicklung der Systemtheorie, die jedoch nur noch die gleiche Bezeichnung trägt, stammt von Niklas Luhmann, der sich - allerdings eher nur am Rande - auch mit Sozialisation und schulischer Sozialisation befasst hat. Niklas Luhmann wurde am 8. Dezember 1927 in Lüneburg als Sohn eines Brauereibesitzers geboren. Mit fünfzehn Jahren trat er als Luftwaffenhelfer in den Krieg ein und geriet als Siebzehnjähriger

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1945 in amerikanische Gefangenschaft. Von 1946 bis 1949 studierte er in Freiburg Rechtswissenschaften. Nach diesem Jurastudium war er 1954 Verwaltungsbeamter am Oberverwaltungsgericht Lüneburg, wechselte dann als Landtagsreferent in das Niedersächsische Kultusministerium, wo er offiziell bis 1962 tätig war. In der Zeit von 1960 bis 1961 erfolgte allerdings eine Beurlaubung zum Studium an der Harvard Universität bei Talcott Parsons. Kurz vorher, 1960, heiratete er Ursula von Walter. Luhmann selbst kennzeichnet seine Biographie bis dahin als eine Kette von Zufällen: „Es ist zum Beispiel ein reiner Zufall, dass ich sehr früh, mit 28 Jahren, Ministerialreferent wurde, einfach weil das Ministerium nach einem politischen Wechsel in Hannover jemanden zur juristischen Überprüfung vergangener Prozesse brauchte. Aber im Ministerium gab es eine gewisse Monotonie der Tätigkeit, und andererseits war eine weitere Karriere nur in Verbindung mit einer politischen Partei möglich. Da habe ich mir ernsthaft überlegt, ob ich nicht wissenschaftlich weiterarbeiten soll. Dann war es wieder ein Zufall, dass im Ministerium eine Ausschreibung über meinen Tisch lief, die ein Harvard-Stipendium betraf, und ich dann dachte, es wäre eine gute Idee, sich da selber zu bewerben. Ich bin dann nach Harvard gegangen, ging dann wieder ins Ministerium zurück und habe einen Absprung gesucht" (Frankfurter Rundschau vom 5.12.1992). Von 1962 bis 1965 war Niklas Luhmann Referent am Forschungsinstitut der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. 1965 wurde er dann von Helmut Schelsky als Abteilungsleiter an die Sozialforschungsstelle Dortmund geholt, an der er bis zu seiner Berufung an die neugegründete Universität Bielefeld 1968 blieb. Während dieser Zeit, nämlich 1966, promovierte und habilitierte er mit seiner 1964 erfolgten Veröffentlichung „Funktionen und Folgen formaler Organisation" und dem Band „Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung" bei Helmut Schelsky und Dieter Ciaessens an der Universität Münster. Als Luhmann 1969 in der Universität Bielefeld der neugegründeten Fakultät für Soziologie zugeord-

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net wurde, sollte er benennen, an welchen Forschungsprojekten er arbeitete: „Mein Projekt lautete damals und seitdem: Theorie der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine" {Luhmann 1997, S. 11). Bis zu seiner Emeritierung blieb Luhmann Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Er starb kurz vor seinem einundsiebzigsten Geburtstag am 6. November 1998. Seine Frau war bereits 1977 verstorben. Seine drei Kinder, eine Tochter, zwei Söhne (geboren 1961, 1963 Zwillinge) lebten auch als Erwachsene noch lange mit dem Vater zusammen (Reese-Schäfer 1992, S. 206). Luhmann hatte Größe und Dauer seines Forschungsprojektes relativ realistisch einkalkuliert: Sein letztes großes Werk, „Die Gesellschaft der Gesellschaft" wurde 1997 veröffentlicht und 30 Jahre nach Beginn des Projektes war auch Luhmanns Leben zu Ende. In diesem letzten Werk nimmt Luhmann noch einmal Bezug auf das Gesamtprojekt und schreibt, dass er es sukzessiv veröffentlicht habe. Sein Band „Soziale Systeme", 1984 publiziert, war quasi die Einleitung der Theorie der Gesellschaft. Ihr folgten Ausarbeitungen von Theorien für die einzelnen Funktionssysteme: Die „Wirtschaft der Gesellschaft" 1988, die „Wissenschaft der Gesellschaft" 1990, das „Recht der Gesellschaft" 1993, die „Kunst der Gesellschaft" 1995 und schließlich als Schlusskapitel das 1200 Seiten umfassende Werk die „Gesellschaft der Gesellschaft" 1997. Schlüsselbegriffe in Luhmanns Theorie sind die Begriffe „Systeme", „Sinn", „Autopoiesis" und „Interpénétration". „Systeme entspringen aus Differenzen, Unterscheidungen. Man kann von Systemen nur sprechen, wenn man zugleich eine Umwelt davon abgrenzt. Es geht dann darum, wie eine solche Grenze produziert wird, die alles ausschließt, bis auf das wenige, was das System selber tut" (Interview in der Frankfurter Rundschau vom 5.12.92). Hierin liegt der entscheidende Unterschied zur Systemtheorie vor Luhmann: Während bisher das System als Ganzes mit verschiedenen Teilen (Subsystemen) angesehen wurde, die sich gegenseitig beeinflussen, sind bei Luhmann andere Systeme immer Umwelt für das

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jeweils betrachtete System. Unterscheidungen sind das Grundmoment für Beobachtungen - ich kann nur beobachten, indem ich unterscheide. Dieses Unterscheiden ist zugleich ein Auswählen. Das Kriterium dafür ist der Sinn. „Sinn ist für Luhmann ein Prozessieren nach Maßgabe von Differenzen - und damit die Grundoperation seiner Theorie. Er geht sogar noch weiter und nennt das, was hier geschieht, 'ein SichSelbst-Prozessieren' (SY, 102). Was prozessiert wird, heißt Information. Information wird definiert als ein Ereignis, das Systemzustände auswählt" (Reese-Schäfer 1992, S. 39). Ein System kann sich nur über eigene Operationen fortsetzen - dies bezeichnet Luhmann als Autopoiesis. Autopoiesis ist die Selbstreproduktion durch dieselbe Art von Operationen. Soziale Systeme werden durch Kommunikation produziert, und zwar indem Kommunikation Kommunikation hervorbringt. Alles, was nicht Kommunikation ist, gehört nicht zum sozialen System, sondern zur Umwelt. Hierin liegt dann auch Luhmanns Feststellung begründet, dass Menschen nicht zum sozialen System gehören, sondern zu dessen Umwelt. In Luhmanns Schrift „Soziale Systeme" findet sich eine „Theorie der Sozialisation". Luhmann will sie „vertäut" wissen zwischen den „Pfosten" seiner allgemeinen Theorie, an die er explizit erinnert: „(1) dass wir Probleme der Kausalität als sekundär ansehen gegenüber Problemen der Selbstreferenz; (2) dass alle Informationsverarbeitung ihren take-off nicht an Identitäten (z.B.: Gründen) gewinnt, sondern an Differenzen; (3) dass wir genötigt waren, Kommunikation (als konstituierende und reproduzierende Autopoiesis) und Handlung (als konstituiertes Element sozialer Systeme) zu unterscheiden; (4) dass wir den Menschen als Umwelt sozialer Systeme ansehen; und (5) dass das Verhältnis von Mensch und sozialem System unter dem Gesichtspunkt von Interpénétration begriffen wird" (Luhmann 1987, S. 325).

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Interpénétration ist dann auch das zentrale Wort für seine Sozialisationstheorie. Gemeint ist damit eine „Intersystembeziehung zwischen Systemen, die wechselseitig füreinander zur Umwelt gehören. ... Von Penetration wollen wir sprechen, wenn ein System die eigene Komplexität (und damit: Unbestimmtheit, Kontingenz und Selektionszwang) zum Aufbau eines anderen Systems zur Verfügung stellt. In genau diesem Sinne setzen soziale Systeme ,Leben' voraus. Interpénétration liegt entsprechend dann vor, wenn dieser Sachverhalt wechselseitig gegeben ist, wenn also beide Systeme sich wechselseitig dadurch ermöglichen, dass sie in das jeweils andere ihre vorkonstituierte Eigenkomplexität einbringen" (ebd., S. 290). Etwas weiter sagt er, „dass die psychischen Systeme die sozialen Systeme mit hinreichender Unordnung versorgen, und ebenso umgekehrt" (ebd.). Seine Definition von Sozialisation lautet dann: „Als Sozialisation wollen wir ganz pauschal den Vorgang bezeichnen, der das psychische System und das dadurch kontrollierte Körperverhalten des Menschen durch Interpénétration formt" (Luhmann 1987, S. 326). Es geht also um psychische Systeme einerseits (womit nicht der Mensch insgesamt gemeint ist, denn man kann ihn auch systemisch anders fassen, etwa physiologisch, bewußtseinsmäßig usw. - jedes Mal sind die ausgeschlossenen Differenzierungen Umwelt für das eingeschlossene System) und soziale Systeme andererseits, die sich gegenseitig „irritieren". Den Unterschied kennzeichnet Klaus Gilgenmann wie folgt: „Mit dem Begriff der Interpénétration wird die Beziehung von Menschen und Sozialsystemen unter zwei Gesichtspunkten zugleich rekonstruiert: Der eine betrifft die Reproduktion psychischer Systeme und Menschen insgesamt, nämlich ihre Anschlussfähigkeit für Erwartungen, die als Kommunikation in sozialen Systemen bereits strukturiert sind. Der andere Gesichtspunkt betrifft die Reproduktion des sozialen Systems selbst, nämlich seine Anschlussfähigkeit für Handlungen, zu denen psychische Syste-

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me Bewusstsein und menschliche Organsysteme ihre Informationen und Ressourcen beisteuern. Der erste Gesichtspunkt umschreibt Perspektiven einer Theorie der Sozialisation, der andere Aspekte der Autopoiesis sozialer Systeme. Die Differenz der beiden Gesichtspunkte zeigt zugleich die Bruchstelle gegenüber der Durkheim-Parsons-Tradition, in der der Sozialisationstheorie Beweislast für das Zustandekommen bzw. die Kontinuierung sozialer Ordnung zugewiesen wurde" (Gilgenmann 1986, S. 73). Luhmann hebt hervor, dass man in einer solchen Sichtweise nicht von „erfolgträchtigem Geschehen" sprechen könne, also Sozialisation nicht unter dem Aspekt von Gelingen oder Misslingen betrachtet werden darf. Als „Erklärungsziele der Sozialisationstheorie" nennt er vielmehr einen „Steigerungszusammenhang von Reduktion und Komplexität" (ebd., S. 326). Entsprechend lautet die Ausgangsfrage: „Wie können Reduktionen, die ein psychisches System im Interpenetrationsverhältnis erfährt, zum Aufbau eigener Komplexität beitragen?" (ebd., S. 326/ 327). Sozialisation ist nach Luhmann immer soziale Interpénétration und d.h. zugleich, sie läuft über Kommunikation - weil die Bestimmung von sozial durch Kommunikation gilt. Kommunikation wiederum setzt sich aus Information/ Mitteilung/ Verstehen zusammen. Sozialisation erfolgt also durch Teilnahme am Kommunikationsgeschehen - „sei es als Quelle von Information, sei es als Mitteilender, sei es als Mitteilung-in-Bezug-auf-Information Verstehender" (ebd., S. 330). Entscheidend für das Funktionieren von Sozialisation ist die Herausbildung von Differenzschemata, die das psychische System der Umwelt zuordnet und zugleich auf sich bezieht. Luhmann nennt als Beispiele „Zuwendung oder Abwendung einer Bezugsperson, Verstehen oder Nichtverstehen, Konformität oder Abweichung, Erfolg oder Misserfolg" (ebd., S. 327). Diese Schematismen werden benötigt, um Situationen überhaupt zu erfassen und Informationen aus ihnen zu gewinnen und damit zugleich Entscheidungen zu treffen über mögliche Optionen. Das psychische System entwickelt eigene Differenzauslöser, die immer Reduktionen darstellen. Im Sozialisationsprozess kann es also sein, dass ein psychisches System als do-

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minante Differenz die Erfahrung des Nichtverstehenkönnens herausbildet, oder auch die Möglichkeit, Zuwendung provozieren zu können. Jedes dieser Schemata steigert dann die Wahrscheinlichkeit, neue Erfahrungen in die gleiche Linie einzuordnen, weshalb es - so Luhmann - für den Sozialisationsprozess wichtig ist, nicht ein Schema dominieren zu lassen, sondern möglichst verschiedene herauszubilden. An dieser Stelle nimmt Luhmann Bezug auf Erziehung, die im Gegensatz zu Sozialisation „intentionalisiertes und auf Intention zurechenbares Handeln" (ebd., S. 330) ist. Eine bewusst geplante Erziehung versuche bei Konformität Zuwendung, bei Abweichung Abwendung zu praktizieren, also zwei Schemata zu kombinieren. Zugleich kritisiert Luhmann „die Engführung solcher (und aller) pädagogischen Konzepte. Sie liegt sowohl in der Auswahl der zu kombinierenden Schemata (mehr als zwei sind unpraktikabel und ergeben mehrdeutige Situationen) als auch in der Striktheit ihrer konditionalen Verknüpfung. Der Pädagogisierung des Sozialisierungsgeschehens sind offenbar enge Grenzen gesetzt.... Als Kommunikation sozialisiert dann auch Erziehung, aber nicht unbedingt so, wie intendiert" (ebd., S. 329-330). In seinem Aufsatz „Takt und Zensur im Erziehungssystem" (Luhmann 1996) analysiert Luhmann explizit schulische Sozialisationsprozesse. Pädagogik - und Schule als ihre Institution - hat die Bedingungen der Möglichkeit von Lehr-/Lernprozessen zu vertreten. Diese unterliegen dem Paradox von Kausalität und Freiheit. Gemeint ist damit der Versuch, „Einfluss zu nehmen, ohne die freie Selbstbestimmung des anderen offensichtlich in Frage zu stellen" (ebd., S. 280). So wird im Unterricht beispielsweise etwas referiert - kognitiv dargestellt - mit dem gleichzeitigen Anspruch, dass dies gelernt werden solle. Als weiteres Beispiel nennt Luhmann die Bewertung des Kenntnisstandes einer Schülerin oder eines Schülers als richtig oder falsch, mit dem zugleich Lob oder Tadel verbunden ist. Da geschlossene Systeme (und Lehrende wie Lernende sind jeweils psychische Systeme)

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durch ihre Umwelt (die sie zugleich füreinander sind) zwar irritierbar, aber nicht determinierbar sind, besteht das Grundparadox darin, auf Freiheit einzuwirken, um Freiheit zu bewirken. Die pädagogische Form des Umgangs mit diesem Paradox ist die „taktvolle Kommunikation". Ein Lehrender „lehrt" und erwartet zugleich, dass ein Lernender „lernt". Die ablaufende Kommunikation ist gekennzeichnet durch Vermittlung und Bewertung als Differenzierung seitens des Lehrenden, durch auf die Bewertung reagieren seitens des Lernenden. Takt vermittelt zwischen beiden, indem über diese Prozesse nicht metakommuniziert wird. Es bleibt also im Unausgesprochenen, ob die Lernenden tatsächlich lernen, was gelehrt wird oder ob sie „Selbstdarstellungen" praktizieren, die dem Vorführen oder Verdecken von vorhandenen oder fehlenden Leistungen dienen. Verbunden damit ist nach Luhmann aber auch die Möglichkeit, anders zu reagieren, also nicht festgelegt zu sein auf einen einmal erreichten Stand - wie z.B. ein schlechter Schüler oder eine schlechte Schülerin zu sein. Das Grundprinzip dabei ist Kontingenz: Es kann so weiter gehen oder es kann anders werden. Dies gilt für jede Interpénétration - sie ist immer durch doppelte Kontingenz gekennzeichnet, da jedes System nur sich selbst produziert. Schule als organisierte Erziehung allerdings muss ihrer Funktion der gesellschaftlichen Selektion entsprechen. „Immer wenn erzieherische Kommunikationen vorgeben, die Zöglinge zu .verbessern', fallen spezifische Unterscheidungen an. Die Absicht zu erziehen kann nicht kommuniziert werden ohne die Absicht zu diskriminieren" (Luhmann 1996, S. 287). Die gleichzeitige Nichtdeterminiertheit wird im Bildungssystem durch Temporalisierung gelöst, auf Vergangenheit bezogen greifen die bisherigen Selektionen, auf Zukunft bezogen ist im Prinzip alles offen. Diese selbst erzeugte Ungewissheit wird durch Prüfungen und Zensuren in Gewissheit zu verwandeln versucht. Zugleich ergibt sich hierdurch ein neues Paradox, denn der Selektionscode ist ebenfalls ein Schema (ja/ nein zum Prüfungsresultat besser/ schlechter). Er lässt nicht zu,

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„nach der Einheit der Differenz zu fragen, also zu fragen: Was ist ,dasselbe' im Unterschied von bestanden/ nicht bestanden oder im Unterschied von besser/ schlechter. ,Dasselbe' im Unterschiedenen: Das wäre der ,blinde Fleck' der Unterscheidung, den man nicht sehen kann, weil man durch ihn sieht. .Dasselbe' - das wäre das Paradox der Einheit des Verschiedenen. .Dasselbe' - das wäre dann wohl der Sinn von Schule" (ebd., S. 294).

3.2.3 Zusammenfassende Einschätzung der systemtheoretischen Sozialisationstheorien Zunächst muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass es eine ernst zu nehmende Frage ist, ob man Talcott Parsons und Niklas Luhmann tatsächlich als Vertreter einer theoretischen Position - der Systemtheorie - verstehen kann, da die Unterschiede in der Auffassung doch gravierend sind. Bereits am Ende der Darstellung von Parsons' Sozialisationstheorie wurde auf die Kritik verwiesen, die aufzeigt, wie wenig Spielräume Parsons wirklich für die Entwicklung von Persönlichkeiten und damit für menschliche Freiheit oder Bildungsprozesse vorsieht. Sein im Wesentlichen die amerikanische Gesellschaft als normatives Modell zu Grunde legendes Gesellschaftsbild transportiert damit zugleich Vorstellungen, die individuelle und persönlichkeitsbezogene Entwicklungen im Wesentlichen nur in den Dimensionen von Anpassung und Abweichung fassen können. Ganz anders stellt sich Niklas Luhmanns Gesellschaftstheorie dar, die auf einer derart abstrakten Ebene formuliert ist, dass sehr unterschiedliche Wertorientierungen darin möglich sind. Allerdings lassen sich auch hier die Fragen an seine Sozialisationstheorie kaum wirklich anwenden, da schon seine Sozialisationsdefinition nicht mit der anfangs erwähnten - es ginge um den Prozess des Mitgliedwerdens in der Gesellschaft - übereinstimmt: Menschen sind bei ihm nicht Teil der Gesellschaft, sondern gehören als z.B. psychische Systeme zur Umwelt der Gesellschaft. Da er andererseits „Sozialisation immer als Selbstsozialisation" (Luhmann 1987, S. 327) versteht

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und explizit davon ausgeht, dass kein System determiniert werden kann, impliziert seine Theorie im gewissen Sinne die Freiheit menschlichen Handelns. Unterschiede in der Entwicklung der Individuen sind bei ihm durch die jeweiligen Differenzsetzungen möglich, allerdings sind Individuen und Individualität überhaupt nicht sein Thema. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ist bei ihm in Form von „Selbstbeschreibungen" analysierbar. Hierauf beziehen sich auch seine jeweiligen historischen Betrachtungen. Insofern macht er kaum Aussagen zu biographischen Prozessen hinter den Persönlichkeiten oder zu deren Entfaltungsmöglichkeiten, wenngleich seine Sprachspiele - so das Verständnis von Person als „Form" (Luhmann 1991) - vermutlich solche Fragen bearbeiten ließen. Luhmann versteht „Bildung" des Menschen als „Reflexion auf das, was an ihm das für jeden Menschen als Menschen gültige ist" (.Luhmann 1997, S. 925). Bildung ist insofern gegen Selektion gerichtet. Da Schule und Erziehung jedoch immer über Selektionsfunktionen bestimmt werden, bleibt Bildung ein pädagogisches Dilemma.

3.2.4 Studienpraktische Hinweise In den Ausführungen vor allem zur Luhmannschen Systemtheorie spielten sozialisationstheoretische Klärungen nur eine periphere Rolle. Meines Wissens gibt es auch nur einen Aufsatz, der sich expliziter mit den Problemen befasst, die eine systemtheoretische Sichtweise für Sozialisationsprozesse bedeutet: Gilgenmann, Klaus: Autopoieses und Selbstsozialisation. Zur systemtheoretischen Rekonstruktion von Sozialisationstheorien. In: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie (ZSE) 1986, H. 1,S. 71-90. Mit der Geschlechterfrage hat Luhmann sich vor allem in einem polemisch gegen Frauenförderung argumentierenden Aufsatz befasst: Luhmann, Niklas: Frauen, Männer und George Spencer Brown. In: Zeitschrift für Soziologie 1988, H. 1, S. 41-71.

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Es geht dabei allerdings nicht um geschlechterbezogene Sozialisation, sondern im Vordergrund steht die Frage nach der Differenz zwischen Frauen und Männern. Hier bietet die Systemtheorie ein Instrumentarium, um aufzuzeigen, wie Geschlechterverhältnisse sich verändern: „Folgt man einem systemtheoretischen Ansatz und dem damit einhergehenden Befund, dass die primäre Differenzierung der Gesellschaft eine funktionale ist, dann gibt es gute Gründe für die Annahme, dass die asymmetrischen Wirkungen zwischen den Geschlechtern schwächer werden und letztlich keine sozialen Sinn mehr haben" (Pasero 1994, S. 274). Ursula Pasero ist innerhalb der Frauenforschung eine Vertreterin systemtheoretischer Positionen. Diese verdeutlicht sie vor allem in dem zitierten Aufsatz: Pasero, Ursula: Geschlechterforschung revisited: konstruktivistische und systemtheoretische Perspektiven. In: Wobbe, Theresa/ Lindemann, Gesa (Hg.): Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht. Frankfurt/Main 1994, 264-296. Im gleichen Band setzt sich Annette Runte mit der Systemtheorie auseinander: Annette Runte: Die „Frau ohne Eigenschaften" oder Niklas Luhmanns systemtheoretische Beobachtung der Geschlechter-Differenz. In: ebd., S. 297-325. In dem Abschlußbericht zum Bund-Länder-Modellversuch „Lübecker Netzwerk zur Berufsorientierung" wird der Versuch gemacht, in Auseinandersetzung mit dem systemtheoretischen Ansatz die Brauchbarkeit geschlechterbezogener Arbeit zu diskutieren: Jansen-Schulz, Bettina (Hg.): Schule und Arbeitswelt. Zwischen Thematisierung und Dethematisierung von Geschlecht. Bielefeld 1998. Die Auseinandersetzung mit systemtheoretischen Ansätzen für erziehungswissenschaftliche Fragen wurden auf fünf Kolloquien erörtert, deren Beiträge in folgenden Sammelbänden dokumentiert sind: Luhmann, Niklas/ Pschorr, Karl Eberhard (Hg.): Zwischen Technologie und Selbstreferenz. Frankfurt/Main 1982

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Luhmann, Niklas/ Pschorr, Karl Eberhard (Hg.): Zwischen Intransparenz und Verstehen. Frankfurt/Main 1986 Luhmann, Niklas/ Pschorr, Karl Eberhard (Hg.): Zwischen Anfang und Ende. Frankfurt/Main 1990 Luhmann, Niklas/ Pschorr, Karl Eberhard (Hg.): Zwischen Absicht und Person. Frankfurt/Main 1992 Lenzen, Dieter/ Luhmann, Niklas (Hg.): Weiterbildung und Erziehungssystem. Frankfurt/Main 1997.

3.3

Interaktionstheorien

Die Abkehr von Ansätzen, die soziale Prozesse primär in gesellschaftlichen Strukturen verankert sahen und dem menschlichen Handeln dabei wenig Spielraum zumaßen, führt zu Theorien, für die Interaktionsprozesse zentral sind. Besondere Bedeutung erhält hierbei der symbolische Interaktionismus in seiner sozialisationsrelevanten Ausformung durch George Herbert Mead. Historisch gesehen bezog sich Parsons auf Meads Werke, die erst posthum veröffentlicht wurden. Diese Bezugnahme allerdings beschränkte sich auf die Verwendung des Rollenbegriffs, weniger auf die grundlegenden Sichtweisen. In der Bundesrepublik Deutschland hat Jürgen Habermas dann in einer Vorlesung die unterschiedlichen Ansätze aufgegriffen und zu seiner eigenen Theorie des kommunikativen Handelns weiterentwickelt (vgl. Joas 1991). Exemplarisch für die Interaktionstheorien sollen deshalb die beiden Ansätze von George Herbert Mead und von Jürgen Habermas vorgestellt werden.

3.3.1 George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft George Herbert Mead wurde am 27.02.1863 geboren.1 Sein Vater war Professor für Predigtwissenschaften am Oberlin-College, dem ersten koedukativen College in den USA. Nachdem G.H. Mead 1883 seinen Collegeabschluß gemacht hatte, arbeitete er vier Jahre lang 1

Die biographischen Angaben sind alle aus Garz 1989, S. 58/ 59.

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zunächst als Lehrer, dann als Ingenieur. 1887 begann er erneut zu studieren, diesmal in Harvard, die Fächer Philosophie und Psychologie. Da dies die Anfangszeit der Psychologie als Wissenschaft war und wesentliche ihrer Impulse von Deutschland ausgingen, studierte Mead von 1888 bis 1891 zunächst bei Wilhelm Wundt in Leipzig, dann bei Wilhelm Dilthey, Hermann Ebbinghaus, Friedrich Paulsen und Gustav von Schmoller in Berlin. 1891 heiratete er Helen Castle und brach sein Studium in Deutschland ab, da ihm der Posten eines Instructors für Psychologie und Philosophie an der University of Michigan in Ann Arbour angeboten worden war - die Position, die er sich immer erhofft hatte. In Ann Arbour machte er auch die Bekanntschaft mit John Dewey, dem er 1894 an die neu gegründete University of Chicago folgte. Dort blieb er bis zu seinem Tod 1931 Mead starb knapp zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau. George Herbert Mead hat zu Lebzeiten keine Monographie veröffentlicht. Sein inzwischen als Hauptwerk geltendes Buch „Mind, seif and society" (deutsch: Geist, Identität und Gesellschaft) ist posthum 1934 von seinem Schüler Charles W. Morris auf der Basis von Vorlesungsmitschriften erstellt und veröffentlicht worden. 1 Mead fragt - durchaus noch beeinflusst vom Behaviorismus, aber nicht bereit, dessen Verkürzungen auf beobachtbares Verhalten mitzumachen - welches eigentlich die grundlegenden Reize sind, die als Reaktionsauslöser für andere dienen können. Als solche identifiziert er Gesten, sie stellen das Bindeglied zwischen Handlungen dar, sind damit Basis von Kommunikation. Am Beispiel von kämpfenden Hunden, Boxern und Fechtern erläutert Mead, wie Angriffe und Verteidigungen zusammen spielen. „In diesem Fall stehen wir vor einer Situation, in der gewisse Teile einer Handlung zum Reiz für das andere Wesen werden, sich diesen Reaktionen anzupassen; diese Anpassung wiederum wird zum Reiz für das erste Wesen, seine Handlungen abzuändern und eine neue einzuleiten" (Mead 1995, S. 82). ' Der Aufbau des Buches weist infolgedessen auch einige Redundanzen (Wiederholungen) auf.

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Diese „Teile einer Handlung" sind Gesten und sie können „mit jenen Anfängen gesellschaftlicher Handlungen gleichgesetzt werden, die als Reize für die Reaktion anderer Wesen dienen" (ebd., S. 82/ 83). Entscheidend für menschliche Kommunikation - im Gegensatz zu den Kämpfen der Hunde - ist die Möglichkeit des bewussten Handelns. Hinter der Geste eines Menschen steckt nämlich eine Idee: Wenn „jemand die Faust vor unserem Gesicht schüttelt, so nehmen wir an, dass er nicht nur eine feindselige Haltung ausdrückt, sondern dass dahinter auch noch eine Idee steckt" (ebd., S. 84). Grundlegend für Denken, für Kommunikation und damit auch für Sozialisation ist das „Erlernen" von Gesten als signifikanten Symbolen. Dies geschieht, indem „Gesten setzende Wesen die gleichen Reaktionen implizit auslösen, die sie explizit bei anderen Individuen auslösen oder auslösen sollen - bei jenen Wesen, an die sie gerichtet sind. ... Dieses Hereinnehmen-in-unsere-Erfahrung dieser äußerlichen Übermittlung von Gesten, die wir mit anderen in den gesellschaftlichen Prozess eingeschalteten Menschen ausführen, macht das Wesen des Denkens aus" (ebd., S. 86). Besonders relevant für die symbolischen Interaktionen ist die Sprache, da sie die Bedeutungsvielfalt enorm erhöht. Hinzukommt, dass Sprache als „vokale Geste" am besten geeignet ist, die Perspektivübernahme einer Geste zu gewährleisten. „Bei der vokalen Geste hört das Wesen den von ihm selbst ausgelösten Reiz genauso, wie wenn sie von anderen Menschen gesetzt wird. Es tendiert daher dazu, auf seinen eigenen Reiz ebenso zu reagieren wie auf den, der von anderen ausgelöst wird. Vögel singen also für sich selbst, kleine Kinder sprechen mit sich selbst" (ebd., S. 104). Dieses trifft nur auf vokale Gesten zu, weil es sonst nur mit Hilfe eines Spiegels möglich ist, auf die eigenen Gesten so wie andere Menschen zu reagieren. Sprache ist infolge dessen zentral für soziales Handeln. „Es ist Handeln auf einer gemeinsamen Basis" (ebd., S. 106).

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Gesten sind die grundlegenden Merkmale in der Entwicklung gesellschaftlicher Handlungen, indem sie eine dreiseitige Beziehung aufweisen (vgl. Abbildung 18). Ein Organismus zeigt eine Geste, auf die ein zweiter Organismus reagiert, wodurch die Geste einen Sinn erhält in den anschließenden Phasen der gesellschaftlichen Handlungen. Mead sieht hierin die Basis für Denken und Intelligenz: „Intelligenz ist primär die Fähigkeit, die Probleme des gegenwärtigen Verhaltens im Hinblick auf mögliche zukünftige Folgen zu lösen, soweit sie sich auf der Grundlage vergangener Erfahrungen abzeichnen, - d.h. die Fähigkeit, die Probleme des gegenwärtigen Verhaltens im Lichte sowohl der Vergangenheit als auch der Zukunft zu lösen; sie umschließt sowohl Erinnerung als auch Vorausschau. Intelligentes Verhalten ist der Prozess, durch den eine Reaktion auf den Reiz der jeweiligen Situation in der Umwelt verzögert, organisiert und ausgewählt wird. Ermöglicht wird der Prozess durch den Mechanismus des Zentralnervensystems, der es dem Einzelnen erlaubt, die Haltung des anderen gegenüber sich selbst einzunehmen und somit sich selbst zum Objekt zu werden. Das ist das wirkungsvollste Mittel zur Anpassung an die gesellschaftliche Umwelt, ja an die Umwelt überhaupt, das dem Einzelnen zu Verfügung steht" (ebd., S. 140).1

1 Bei Klaus Holzkamp wird dieser Zusammenhang als Perspektiven verschränkung bezeichnet (vgl. Abbildung 14).

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Abbildung 18:

Bedeutung von Gesten für gesellschaftliche Handlungen

Erster Organismus (Ego) zeigt eine

Zweiter Organismus (Alter) reagiert darauf Geste

1

erhält ihren Sinn in den anschließenden Phasen der jeweiligen gesellschaftlichen Handlung Nach Mead 1995, S. 116. Diese Reflexion bietet den Mechanismus für die Entwicklung von Identität. Dabei kommt dem kindlichen Spiel eine zentrale Bedeutung zu. Mead unterscheidet Play als Einzel- oder nachahmendes Spiel und Game als Gruppen- oder Wettkampfspiel. Im Einzelspiel übernimmt das Kind die Rolle (bzw. die Perspektive, „role-taking") des Nachgeahmten (im Puppenspiel beispielsweise die Rolle der Mutter, usw.) als „signifikantem Anderen". Das Kind ahmt jedoch nicht bloß nach, sondern organisiert durch dieses Spiel zugleich seine eigene Reaktion auf die Reize, die von der nachgeahmten Rolle ausgehen. Geschlechterdifferenzen ergeben sich vor allem über die zur Nachahmung angebotenen und gewählten „signifikanten Anderen", wenn z.B. Mädchen eher Rollen aus dem familialen Bereich, Jungen eher solche aus dem Abenteuerbereich spielen. Die Spielzeuggestaltung sorgt noch immer weitgehend für eine klare Zuordnung der Geschlechter. Das Kind „spielt z.B., dass es sich etwas anbietet, und kauft es; es gibt sich selbst einen Brief und trägt ihn fort; es spricht sich selbst an - als Elternteil, als Lehrer; es verhaftet sich selbst - als Polizist. Es hat

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in sich Reize, die in ihm selbst die gleiche Reaktion auslösen wie in anderen. Es nimmt diese Reaktionen und organisiert sie zu einem Ganzen. Das ist die einfachste Art und Weise, wie man sich selbst gegenüber ein anderer sein kann. Sie impliziert eine zeitliche Situation. Das Kind sagt etwas in einer Eigenschaft und reagiert in einer anderen, worauf dann seine Reaktion in der zweiten Eigenschaft ein Reiz für es selbst in der ersteren Rolle ist, und so geht der Austausch weiter. So entwickelt sich in ihm und in seiner anderen, antwortenden Identität eine organisierte Struktur. Beide Identitäten pflegen einen Dialog mit Hilfe von Gesten" (ebd., S. 193). Gruppen- und Wettkampfspiele unterscheiden sich hiervon, indem das Kind alle Rollen übernehmen können muss, also nicht nur die eines anderen. Indem es unterschiedliche und gleichzeitig vorhandene Haltungen anderer wahrnimmt und mit den eigenen Handlungen koordiniert, lernt das Kind, generalisierte Normen zu erkennen. Gruppen- und Wettkampfspiele - oder Mannschaftsspiele - sind für Jungen selbstverständlicher als für Mädchen. Dies zeigt sich z.B. in der gesellschaftlichen Wertschätzung von Baseball oder Football in den USA, von Fußball in Deutschland - alles Spiele, in die schon kleine Jungen integriert werden. Mead unterscheidet entsprechend der beiden Formen der Identifikation zwei Stadien der Identitätsentwicklung: Zunächst bildet sich Identität eines Einzelnen einfach „durch eine Organisation der besonderen Haltungen der anderen ihm selbst gegenüber und zueinander in den spezifischen gesellschaftlichen Handlungen, an denen er mit diesen teilhat" (ebd., S. 200). Im zweiten Stadium wird die Identität auch „durch eine Organisation der gesellschaftlichen Haltungen des verallgemeinerten Anderen oder der gesellschaftlichen Gruppe als Ganzer" gebildet (ebd., S. 200). Mead beschreibt den „Prozess, durch den sich eine Persönlichkeit entwickelt" (S. 203), folgendermaßen: „Was sich im Wettkampf abspielt, spielt sich im Leben des Kindes ständig ab. Es nimmt ständig die Haltungen der es umgeben-

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den Personen ein, insbesondere die Rollen jener, die es beeinflussen oder von denen es abhängig ist. Zuerst erfasst es die Funktion des Prozesses in abstrakter Form. Es wechselt vom Spiel zum eigentlichen Wettkampf über. Es muss mit den anderen mitmachen. Die Moral des Wettkampfes durchdringt das Kind tiefer als die umfassendere Moral der gesamten Gemeinschaft. Der Wettkampf, in den das Kind eintritt, drückt eine gesellschaftliche Situation aus, in die es ganz eintauchen kann; seine Moral kann sich stärker auswirken als die der Familie oder der Gemeinschaft, in der das Kind lebt. Es gibt alle möglichen gesellschaftlichen Organisationen, einige von ihnen ziemlich dauerhaft, andere kurzfristig, in die das Kind eintritt und in denen es eine Art gesellschaftlichen Wettkampf mitmacht. Das ist eine Periode, in der es , dazugehören' will; es tritt ständig in Organisationen ein, die zu bestehen beginnen und sich wieder auflösen. Es wird jemand, der in einem organisierten Ganzen funktionieren kann, und neigt daher dazu, sich in seiner Beziehung zu der Gruppe, der es angehört, zu bestimmen. Dieser Prozess ist ein auffälliges Stadium in der Entwicklung der kindlichen Moral. Er macht das Kind zum bewussten Mitglied seiner Gemeinschaft" (ebd., S. 202/ 203).

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Abbildung 19: Identität und Interaktion nach Mead ME als organisierte Gruppe von Haltungen anderer veranlasst

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EGO/SELF ME reflektiert die Erfahrung mit dem, was I gerade getan hat