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German Pages 252 [251] Year 2022
Wissenschaftlicher Beirat: Horst Bredekamp, Berlin Norbert Campagna, Luxemburg Herfried Münkler, Berlin Henning Ottmann, München Walter Pauly, Jena Wolfram Pyta, Stuttgart Volker Reinhardt, Fribourg Peter Schröder, London Kazuhiro Takii, Kyoto Pedro Hermilio Villas Bôas Castelo Branco, Rio de Janeiro Loïc Wacquant, Berkeley Barbara Zehnpfennig, Passau Moshe Zimmermann, Jerusalem
Staatsverständnisse | Understanding the State herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 163
Georg Zenkert
Individuum und Demos Das Volk im demokratischen Verfassungsstaat
© Titelbild: Link zur Datei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ancient_Roman_Theatre,_ Plovdiv,_audience.jpg Fotografin: Branka Vucicevic Vuckovic Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-8781-4 (Print) ISBN 978-3-7489-3348-9 (ePDF)
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1. Auflage 2022 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Editorial
Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Veränderungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die „Entgrenzung der Staatenwelt“ jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Umso interessanter sind die Theorien früherer und heutiger Staatsdenker, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben. Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, wird unter dem Leitthema „Wiederaneignung der Klassiker“ immer wieder zurückzukommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsver ständnisse veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den zeitgenössischen Staatstheoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideologie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer voneinander zu trennen sind. Auch die Verstrickung Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusammenhang nicht verzichtet werden. Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Fragestellung nicht nur an (politische) Philosophen und Philosophinnen, sondern auch an Geistes- und Sozialwissenschaftler bzw. -wissenschaftlerinnen. In den Beiträgen wird daher zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräftiger Sprache – mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen. Auf diese Weise wird der Leser/die Leserin direkt mit dem Problem konfrontiert, den Staat zu verstehen. Prof. Dr. Rüdiger Voigt
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Editorial – Understanding the State
Throughout the course of history, our understanding of the state has fundamentally changed time and again. It appears as though we are witnessing a development which will culminate in the dissolution of the territorially defined nation state as we know it, for globalisation is not only leading to changes in the economy and technology, but also, and above all, affects statehood. It is doubtful, however, whether the erosion of borders worldwide will lead to a global state, but what is perhaps of greater interest are the ideas of state theorists, whose models, theories and utopias offer us an insight into how different understandings of the state have emerged and changed, processes which neither began with globalisation, nor will end with it. When researchers concentrate on reappropriating traditional ideas about the state, it is inevitable that they will continuously return to those of Plato and Aristotle, upon which all reflections on the state are based. However, the works published in this series focus on more contemporary ideas about the state, whose spectrum ranges from those of the doyen Niccolò Machiavelli, who embodies the close connection between the theory and practice of the state more than any other thinker, to those of Thomas Hobbes, the creator of Leviathan, those of Karl Marx, who is without doubt the most influential modern state theorist, those of the Weimar state theorists Carl Schmitt, Hans Kelsen and Hermann Heller, and finally to those of contemporary theorists. Not only does the corruption of Marx’s ideas into a Marxist ideology intended to justify a repressive state underline the fact that state theory and practice cannot be permanently regarded as two separate entities, but so does Carl Schmitt’s involvement in the manipulation conducted by the National Socialists, which today tarnishes his image as the leading state theorist of his era. Therefore, we cannot forego analysing modern state practice. How does all this enable modern political science to develop a contemporary understanding of the state? This series of publications does not only address this question to (political) philosophers, but also, and above all, students of humanities and social sciences. The works it contains therefore acquaint the reader with the general debate, on the one hand, and present their research findings clearly and informatively, not to mention incisively and bluntly, on the other. In this way, the reader is ushered directly into the problem of understanding the state. Prof. Dr. Rüdiger Voigt
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Das Individuum und seine Verfassung 1.) 2.) 3.) 4.)
I.
Das verlorene Selbst Paradoxien der sozialen Integration Politische Integration Modelle des Selbst
9 9 17 23 28
Der Einzelne
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1.) Abstraktum Mensch 2.) Personen der Handlung 3.) Das Individuum auf der Suche nach dem Selbst
36 55 73
II. Das Volk der politischen Gemeinschaft 1.) We the people: Die Verfassung des Volkes 2.) In den Grenzen der Souveränität 3.) Funktionen staatlicher Macht
III. Das Integrationspotential des Staates 1.) 2.) 3.) 4.) 5.)
Sphären der Integration Integration durch Verfassung Prozesse der Meinungsbildung Majorität und Entscheidung Das Drama der Repräsentation
97 97 113 122
145 145 158 176 193 207
Schluss
233
Literaturverzeichnis
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Einleitung: Das Individuum und seine Verfassung
1.) Das verlorene Selbst Zum pathologischen Befund der sogenannten postmodernen Gesellschaft gehört der Topos vom überforderten Individuum. Ganz unterschiedliche Symptome von psychosomatischen Erkrankungen bis zu politischen Verwerfungen werden unter diesem Schema rubriziert. Die immer massiver werdenden Proteste verstörter Individuen sind das Indiz einer tiefgreifenden Kränkung. Hier öffnet sich ein weites Forschungsfeld für die Soziologie und Sozialpsychologie. Die Ergebnisse sind jedoch erwartbar. Unzufriedenheit lässt sich durch ein entsprechendes Umfragedesign jederzeit registrieren. Damit dürfte die Frage nach dem Grund der gegenwärtigen Dauererregung nur oberflächlich beleuchtet werden. Es mag immer Gründe genug für individuelle Empörung geben. Die These der wachsenden Bedeutung von Emotionen sowohl für das Selbstverständnis der Individuen als dessen Verhältnis zu politischen Entwicklungen besitzt gewiss hohe Plausibilität.1 Warum jedoch entzündet sich die Wut der Massen zunehmend leichter und intensiver an nahezu beliebigen Themen? Die Angst vor sogenannter Überfremdung in den östlichen Bundesländern, die Erhöhung des Renteneintrittsalters in Frankreich, die vorübergehenden Einschränkungen der Bewegungsfreiheit aufgrund einer Pandemie: jedes Thema scheint dankbar aufgenommen zu werden, um einem angestauten Unmut Raum zu geben. Die Feststellung, dass in der gegenwärtigen Welt die Emotionen an Bedeutung gewinnen und vor allem negative Emotionen zunehmend die politischen Auseinandersetzungen bestimmen, ignoriert die Ursachen dieser Entwicklung und verzeichnet nur Symptome eines Wandels. Es geht um den öffentlichen Raum, der besetzt werden soll, dessen Zugang aber angeblich verweigert wird. Die immer wieder zu hörende und angesichts der aufdringlichen medialen Präsenz paradoxe Befürchtung, man dürfe seine Meinung nicht mehr äußern, begleitet jede Meinung wie ein basso continuo und verleiht den Äußerungen auch dort, wo der Verdacht der Sinnlosigkeit kaum abweisbar ist, etwas Heldenhaftes. Noch die unqualifizierteste Meinung kann Dignität beanspruchen, sofern sie im Einsatz für die Meinungsfreiheit vertreten wird. Das Wichtigste an einer Meinung scheint ohnehin die Tatsache zu sein, dass es die Meinung des jeweiligen Subjekts ist, was überflüssigerweise durch die Bemerkung „das ist meine Meinung“ versichert wird. Das Individuum, das sich so artikuliert, scheint an seiner eigenen Meinung zu verzweifeln, weil es nicht von ihr lassen, 1 Vgl. exemplarisch Greco, Stenner (Hrsg.) 2012.
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aber sich auch nicht mit ihr beruhigen kann. Dieses gebrochene Selbstverhältnis deutet auf eine tiefgreifende Selbstentfremdung, die in mutmaßlicher Korrespondenz mit den Erscheinungsformen der Öffentlichkeit steht. Das „erschöpfte Selbst“2 ist zu einem öffentlichen Phänomen geworden und im immer häufiger eintretenden Extremfall erweist sich die Überforderung als Begleiterscheinung eines Kampfes um öffentliche Aufmerksamkeit. Das subjektive Scheitern dient wie eine Rechtfertigung der Erregung, die nicht nur öffentlich gemacht werden soll, sondern Öffentlichkeit neu zu definieren sucht. Möglicherweise liegt darin der Schlüssel zum Phänomen der weit verbreiteten Empörung. Sie ist eine Massenbewegung, in der gerade nicht das individuelle Schicksal und die persönliche Meinung einzelner, die hier Respekt erheischen, ausschlaggeben ist, sondern die kollektive Erfahrung, dass der Einzelne zwar frei, aber bindungslos und ohne Einfluss ist. Im öffentlichen Auftreten wird die Bedeutungslosigkeit auch des eigenen Schicksals überhaupt erst dramatisch inszeniert. Die Empörung bezieht sich nicht allein auf den Sachverhalt, sondern ist der Ausdruck der strukturellen Kontingenz des individuellen Schicksals, das so beliebig erst erscheint in der Masse. Erst der Gang in die Öffentlichkeit macht die Isolation erfahrbar und hebt sie zugleich auf durch die Entgrenzung im Horizont eines diffusen kollektiven Bewusstseins, dem das empörte Subjekt sich überlässt. Dieser paradoxalen Struktur ist es zuzuschreiben, dass der so motivierte Protest keine Lösung sieht. Sein Bewusstseinszustand ist Verstrickung, Emanzipation durch Unterwerfung, Aufklärung durch Obskurantismus und Kampf für Gerechtigkeit durch Selbstjustiz. Nicht erst die Globalisierung hat dieses Phänomen hervorgebracht. Die klassische Massenpsychologie kennt dieses Symptom und versucht es mit geistiger Regression zu erklären, der das Subjekt in bestimmten Konstellationen zum Opfer fällt. Nach Le Bon wird der Einzelne in der Masse durch deren Suggestivkräfte zum Barbaren, der sich, von niederen Instinkten beherrscht, leicht manipulieren lässt.3 Sein seelischer Aggregatzustand ist gekennzeichnet von Wut; er ist von einfachen Parolen beeindruckt und gewinnt durch die Identifikation mit der Masse ein Gefühl ungewohnter Macht. Diese Erklärungsmuster arbeiten jedoch nicht nur mit fragwürdigen anthropologischen Hypothesen, sondern blenden auch diejenigen Erscheinungsformen der Masse aus, in denen Rationalität am Werk ist. Regression ist nicht das vorherrschende Schema der Masse, sondern die Instrumentalisierung von Rationalität im Rahmen eines Diskurses, dem zugleich größtmögliches Misstrauen entgegengebracht wird. Das Gespräch mit den empörten Individuen ist deshalb so frustrierend, weil sie es zugleich fordern und für sinnlos erklären; es sei denn, sie finden uneingeschränkte Affirmation. Das empörte Individuum ist gekränkt, weil es nicht genug Aufmerksamkeit und Anerkennung erfuhr, aber eben diese Erfahrung verstärkt sich mit dem 2 So lautet der Titel der Untersuchung von Ehrenberg 2004. 3 Le Bon 1911, S. 19 ff.
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Gang in die Öffentlichkeit und den bisweilen exhibitionistischen Aktivitäten, die ihr eigenes Scheitern geradezu erzwingen und daraus die Bestätigung ihrer Lagebeurteilung beziehen. Es steht nicht im Kontrast zum Massenwesen, sondern ist mit ihm identisch. Die Masse selbst erlebt sich nur im Aggregatzustand der Atomisierung.4 Insofern verwirklicht sich das Individuum gerade so, wie es die Strategien der Massengesellschaft erwarten lassen. Die Herausbildung demokratischer Verfassungen ist in dieser Perspektive nur der Weg einer Verstrickung in immer raffiniertere Formen der Selbsttäuschung, in die das Individuum als Produkt der Massengesellschaft gerät. Die Individuen, die dies intuitiv registrieren, sind weniger überfordert als vielmehr gekränkt und reagieren darauf mit Aggression. Dieses Narrativ verdankt sich nicht einem empirischen Befund, sondern einer diskurstheoretischen Vorgeschichte. Jenseits psychologischer Kategorienbildung lassen sich als Hauptmerkmale der Konstellation des gekränkten Individuums die Diskreditierung der Vernunft und die Demontage der Idee des freien Subjekts identifizieren. Es ist auffällig, dass sich darin die Gesellschaftskritik ganz unterschiedlicher Provenienz trifft, dass Klages, Heidegger und Adorno Gemeinsamkeiten aufweisen, wie sich aus historischem Abstand immer deutlicher abzeichnet. Ein Echo dieser Entwicklung, in dem die einzelnen Motive plastischer erscheinen, ist die seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sich viral ausbreitende Diskurstheorie, die vor allem mit dem Namen Foucaults verbunden ist. Foucault hat im Anschluss an Nietzsche das Ende des Subjekts verkündet und zugleich die Rationalität als Form der Gewalt denunziert: „La torture, c'est la raison“.5 Nietzsches Einsicht, dass die Idee von Subjektivität sich einer historischen Genese verdankt, gehört zum Standardrepertoire postmoderner Theoriebildung. Foucault verknüpft diese These jedoch mit der Behauptung, dass die Individualisierung zugleich die Totalisierung der modernen Machtstrukturen bedeutet.6 Zwar kann nicht ernsthaft behauptet werden, dass Foucault eine Theorie der Macht entwickelt hat, denn seine Formel von Machtdispositiven ist denkbar diffus, aber umso unangreifbarer erscheint die Grundthese, dass die Untersuchung politischer Macht von juridischen und institutionellen Fragen abzulösen ist, weil weder das Recht und die Legitimationsverfahren noch die staatlichen Institutionen zu erkennen geben, was Macht ist. Wenn er stattdessen das sogenannte biopolitische Modell der Macht ins Zentrum stellt, so verliert dieses Schema den Bezug zu den politischen Verhältnissen, die sich unter dieser Prämisse nicht mehr rekonstruieren lassen. Biopolitik, die Produktion eines biopolitischen Körpers, wird zum fast beliebig anwendbaren Schema eines Interpretationsparadigmas, dessen Zugriff erwartbar immer das gleiche Ergebnis liefert. Das ursprünglich handlungstheoretische Machtmodell einer „immerwährenden 4 Sloterdijk 2000, S. 19. 5 Foucault 1994, S. 390. 6 Foucault 1994, S. 229-232.
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Schlacht“7 gegeneinander operierender Akteure erweist sich als abkünftig, weil es nur das Resultat der Vielfalt dynamischer Kräfteverhältnisse ist. Nietzsches naturalistisches Machtkonzept liefert so das Raster für Foucaults Entsubjektivierung der Subjekttheorie, die das Selbst am Ende nur als ausdehnungslosen Referenzpunkt identifiziert. Für das Selbst, das als Opfer dieser biopolitischen Vermachtung unterstellt wird, findet Foucaults Historiographie keine angemessene Sprache. Deshalb ist auch der moralische Impuls, der seine Analysen begleitet, ohne begriffliche Grundlage. Er zeigt sich nur als Additiv des Interpretationsansatzes. Der advokatorische Gestus weist ins Leere, weil das Selbst, dem zu seinem Recht verholfen werden soll, sich dem Begriff entzieht. Die Hoffnung auf Emanzipation muss deshalb illusionär bleiben. Damit verabschiedet Foucault auch jede Idee von Freiheit, sofern diese mit Individualität assoziiert ist.8 Individualität ist selbst nur ein Moment der totalen Vermachtung. Seine immer neu ansetzenden Analysen zielen auf den Fluchtpunkt politischer Vernunft, ohne diesen zu benennen. Befreiung im Sinne Foucault kann sich dann nur noch als Angriff auf die Idee staatlicher Macht artikulieren.9 Hier setzt Agamben an, der Foucaults imaginiertem Selbst eine plastische Gestalt und einen politischen Kontext zu geben sucht. Die Gestalt findet er in der archaischen römischen Figur des homo sacer, eine Rechtskonstruktion an der Grenze von Natur und Rechtssphäre. Den politischen Rahmen beschreibt er mit einem von Carl Schmitt ererbten Konzept von Souveränität, dessen Kernkompetenz die Entscheidung über den Ausnahmezustand bildet. Das entpersonalisierte nackte Leben und der auf Dauer gestellt Notstand bilden die Fixpunkte einer Zeitdiagnose, die mit logischer Stringenz die Gegenwart als Katastrophe erscheinen lässt. Diese wird präsentiert als das Resultat der Entwicklung abendländischer Rationalität, die unausweichlich in eine durch Gewalt geprägte Gegenwart mündet. Um diese Diagnose plausibel erscheinen zu lassen, schlägt Agamben eine Brücke zwischen der Figur des homo sacer und der Souveränitätslehre Schmitts. Aber sowohl die Deutung der Figur10 als auch die Interpretation der Souveränitätsthese sind wenig überzeugend. Der homo sacer, eine marginale Figur des römischen Rechts, lässt sich in weniger gewaltsamer Auslegung als Indiz einer allmählich einsetzenden Trennung von säkularem und religiösem Recht verstehen. In der Überzeichnung jedoch, die diese Figur bei Agamben erfährt, wird sie zu einer Metapher für die prekäre Lage des zeitgenössischen Individuums. An diesem archimedischen Punkt ansetzend denunziert Agamben die Theoriegeschichte und das Selbstbild der westlichen Welt, das nurmehr ideologische Funktion haben kann. Schmitts Souveränitäts7 8 9 10
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Foucault 1977, S. 38. Eine detaillierte Auseinandersetzung bietet Taylor 1995, 65 ff. Foucault 2005, S. 219. Agamben 2002, S. 81 ff.
lehre dient dann am Ende der Geschichte, an dem die politische Welt ihr wahres, nämlich totalitäres Gesicht zeigt, als markanter Schlussstein. Aber während Schmitt betont, dass die staatliche Souveränität „nicht als Zwangs oder Herrschaftsmonopol, sondern als Entscheidungsmonopol juridisch zu definieren ist,“11 sieht Agamben darin die Koinzidenz von Gewalt und Recht. Weder die erratische Figur des römischen Rechts noch das zur Unkenntlichkeit verzerrte Theorem Schmitts können das Gedankenkonstrukt tragen, mit dem Agamben die abendländische Geschichte überwölbt. Sein Interesse gilt indes nicht der Geschichtsdeutung, sondern der Gegenwartsdiagnose. In ihrem Zentrum steht der Ausnahmezustand als neues Paradigma der Politik, das jedoch schon in der archaischen Vergangenheit als Verbindung von Recht und Gewalt bereits angelegt wurde. Wenn Agamben auf den totalitären Zugriff des Staates auf die Individuen aufmerksam macht, dann bestätigt er damit in zirkulärer Rhetorik die Verabsolutierung seiner Grundtheoreme, die sich weder einer empirischen noch einer theoriegeschichtlichen Überprüfung stellen. Die Reduktion des Individuums auf das nackte Leben und die Vereinnahmung des biologischen Lebens durch die politische Macht bilden nach Agamben die Signatur der abendländischen Geschichte, die in den modernen Demokratien ihren Abschluss findet. Der Mensch wird zum Subjekt der politischen Macht und gleichzeitig erhebt die Staatsmacht den Menschen zum Objekt der biopolitischen Disziplinierung. In dieser paradoxen Zuspitzung erweist sich der Anspruch der Individuen auf Freiheit und Selbstbestimmung als restlos illusionär, weil die Erfüllung des Anspruchs mit seiner Vermachtung einhergeht. Agamben scheut sich nicht, die These einer „innersten Solidarität zwischen Demokratie und Totalitarismus“ zu vertreten,12 freilich ohne zu erklären, was dabei unter Demokratie und Totalitarismus zu verstehen sei. Der normative Anspruch, der sich mit der Idee subjektiver Freiheit verbindet, kann sich so nicht mehr innerhalb der Matrix des abendländischen Denkens artikulieren. Die pauschale Diagnose absorbiert alle Differenzen und lässt das Individuum zurück mit der Aporie einer Freiheitserwartung, die unausweichlich in die vollkommene Knechtschaft führt.13 Diese paradigmatische Aussichtslosigkeit ist schwer zu überbieten. Die Diagnose ist jedoch kein Beitrag zu einer Deutung oder gar einer Therapie, sondern Teil des Problems. Sie kassiert auch noch den Freiheitsanspruch, der im Namen der Unterdrückten advokatorisch artikuliert werden könnte. Aber sie macht deutlich, dass der Status des Selbst und die Konzeption der institutionellen Bedingungen von Vergemeinschaftung korrespondieren. Ihr Zusammenhang wird allerdings dramatisch überzeichnet und nur verzerrt wahrgenommen, wenn Subjekt und Gewaltstruktur als 11 Schmitt 1934, S. 20. 12 Agamben 2002, S. 20. 13 Eine kritische Auseinandersetzung mit Agamben findet sich in: Gorgoglione 2016, S. 63 ff.
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Pole der komplexen Beziehung gesetzt werden. Statt von einer bloß äußerlichen Verbindung beider auszugehen ist der Zusammenhang systematisch zu entwickeln als Dialektik von Selbst und kollektiver Verfassung. Die Details dieser Beziehung lassen sich jedoch nur darstellen, wenn charakteristische Unterschiede benannt werden. Dazu gehört vor allem der Unterschied zwischen dem Selbst und seinem Habitus auf der einen Seite und den politischen Organisationsformen auf der anderen Seite. Selbstbild und Kollektivität fallen nur dort zusammen, wo tatsächlich totalitäre Verhältnisse herrschen. Eine Analyse der Verhältnisse muss sich deshalb zumindest kategorial auf die Möglichkeit einer Diagnose einstellen, die nicht per definitionem die Konstitution des Selbst mit der Konstitution der Gemeinschaft identifizieren, so dass das Selbst nur als Produkt der politischen Bedingungen erscheint und diese nur als Instanz der Gewalt wahrgenommen werden können. Dazu müssen zwei Bedingungen erfüllt werden. Erstens bedarf es einer differenzierten Analyse des Selbst und zweitens der Entfaltung der Kategorien der Vergemeinschaftung, die diesen Modi des Selbst korrespondieren, ohne mit ihnen zusammenzufallen. Differenzierte Diagnosen der modernen Individualität bietet die zeitgenössische Sozialwissenschaft. In der nüchternen Diktion der Soziologie hat Reckwitz die Paradoxien, die das moderne Individuum gewärtigt, skizziert: „Die spätmoderne Kultur verspricht dem Individuum subjektive Erfüllung… und lässt doch immer wieder diese subjektive Erfülltheit als Phantasma erscheinen.“14 Die moderne Subjektkultur ist geprägt von Widersprüchen, die der pragmatisch veranlagte Einzelne zwar im günstigen Falle auszuhalten vermag. Für das Kollektiv können sich diese jedoch als Falle erweisen. Zu diesen Aporien gehört insbesondere die Erwartung, dass das autonome Subjekt sich selbst verwirkliche, dies jedoch coram publico in der Gesellschaft als Leistung zu demonstrieren sei. Reckwitz spricht von „performativer Selbstverwirklichung“15 und bezeichnet damit die paradoxe Verkoppelung von Authentizität und sozialem Erfolg. Das normative Ideal der Selbstverwirklichung16 eröffnet keine Perspektive, die bruchlos zur Freiheit führt, sondern konfrontiert den Einzelnen mit Widersprüchen, die er auf sich gestellt nicht bewältigen kann. Diese soziologische Momentaufnahme verweist auf einen größeren Zusammenhang, der mit dem Abstraktum „Gesellschaft“ nicht zureichend erfasst werden kann. Zumindest dort, wo die individuellen Erfahrungen nicht nur zu einem resignativen Rückzug ins Private führen, wird eine Öffentlichkeit in Anspruch genommen, in der nicht nur isolierte Andere adressiert werden, sondern eine politische Organisation thematisiert wird. In der Regel handelt es sich dabei um den Staat, seltener um 14 Reckwitz 2019, S. 204. Die breit angelegte Studie über die Gesellschaft der Singularitäten widmet sich der ausdifferenzierten Besonderheit der Einzelnen, unterscheidet aber nicht zwischen Besonderheit und Individualität bzw. Einzelheit (s. auch Reckwitz 2018). 15 Reckwitz 2019, S. 217. 16 Umfassend dargestellt von Taylor 1996.
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supranationale Organisationen wie die Europäische Union, die haftbar gemacht werden für bestimmte, meist negativ eingeschätzte Umstände. Dieser Versuch, einen unzureichend reflektierten Zusammenhang zu beschwören, hat unerachtet des Inhalts der dabei vorgetragenen Ansprüche darin seine Berechtigung, dass er diese Verbindung schlägt. Er legitimiert sich gewissermaßen selbst, da die Öffentlichkeit genau dadurch sich konstituiert, dass sie das Forum subjektiver Äußerungen ist, die mit dem Anspruch auf öffentliche Aufmerksamkeit auftreten. Das bedeutet natürlich nicht, dass alle Äußerungen diese Aufmerksamkeit verdienen. Doch genau darüber kann allein im Licht der Öffentlichkeit entschieden werden. Die Adressaten dieser Verlautbarungen sind weder isolierte Subjekte noch die anonymen Vielen einer Masse, für die das kontingente Anliegen eines Einzelnen ohne Bedeutung wäre. Auf die Öffentlichkeit wird sinnvollerweise nur unter der Voraussetzung Bezug genommen, dass diese zuständig ist für die Angelegenheiten des Einzelnen. Dafür bedarf sie einer Organisationsform und sie muss sich auf die Situation der Einzelnen rekursiv beziehen. Öffentlichkeit ist kein Abstraktum, sondern besitzt eine institutionelle Infrastruktur, auch wenn sie sich nicht in Institutionen und Verfahrensweisen erschöpft, sondern diese selbst noch in Frage stellen kann. Öffentlichkeit beschreibt den Raum der Korrespondenz von Einzelnen mit dem Ganzen einer politischen Organisation, deren Mitglieder sie auf formelle oder informelle Weise sind. Nun gibt es nicht nur einen Raum, in dem sich alle Stimmen zugleich bemerkbar machen. Der Markt der Öffentlichkeit bietet viele Zentren und Nischen. Sein Erscheinungsbild ist bunt, bisweilen chaotisch. Da Aufmerksamkeit ein knappes Gute ist, suchen viele durch Lautstärke, extreme Positionen und massives Auftreten zu beeindrucken. Öffentlicher Austausch setzt freien Zugang zum Markt der Meinungen voraus, aber ohne Spielregeln würde Öffentlichkeit dominiert durch die jeweils stärksten gesellschaftlichen Kräfte, die diese Freiheit nutzen, um sie zu eskamotieren. Kommunikation bedarf der Moderation. Die wichtigste Form der Moderation besteht darin, Rollenzuschreibungen aufrechtzuerhalten und für Differenzierungen einzustehen, die Vorbedingung jeder Verständigung sind. Dabei zeigt es sich, dass sich in den westlichen Gesellschaften tief verwurzelte Kategorien ausgeprägt haben, die so mit dem Selbstverständnis der Einzelnen und den Strukturen der politischen Welt verbunden sind, dass sie in ihrer Differenz meist unauffällig bleiben. Sie sind Voraussetzungen der Kommunikation, die darum selten thematisch werden. Als Selbstverständlichkeit sind sie zugleich bekannt und fast trivial; aber um dieser Trivialität willen fallen sie häufig Verwechslungen zum Opfer. Wenn gegenwärtig diplomatisch vom Selbst gesprochen wird, überlagern sich darin drei Kategorien, die ihre eigene Geschichte, ihre eigene Semantik und ihre eigene Problematik mit sich bringen. Es handelt sich um die Konzepte „Mensch“, „Person“ und „Individuum“, die in alltagsprachlicher Verwendung sich häufig überschneiden, aber eine völlig un-
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abhängige Begriffsgeschichte aufweisen. Schon der Befund, dass die moderne Konzeption des Selbst in Widersprüche führt, ist ein Indiz dafür, dass sich die Komplexität des Selbst nicht in einer Kategorie abbilden lässt. Die vielfach registrierten Paradoxien moderner Subjektivität lösen sich durch die Unterscheidung der Begriffe „Mensch“, „Person“ und „Individuum“ nicht einfach auf, lassen sich aber als Momente eines Zusammenhangs begreifen, der sich aus den spannungsvollen Wechselbeziehungen der unterschiedlichen Rollen ergibt. Analog zeichnet sich in den unterschiedlichen Sphären der Vergemeinschaftung ab, dass hier unterschiedliche Rollen zugrunde liegen. In Hegels Rechtsphilosophie wird zum ersten Mal und mit bis in die Gegenwart wirkender paradigmatischer Bedeutung durch die Unterscheidung von Familie, Gesellschaft und Staat dem Umstand Rechnung getragen, dass es nicht das Subjekt gibt, dass vielmehr die Formen des Selbst in unterschiedlichen Sphären jeweils ganz andere Existenzweisen realisieren, die unterschiedlichen Modi der sozialen und politischen Integration entsprechen. Ihnen korrespondieren institutionelle Infrastrukturen. Hegels Programm, die Substanz als Subjekt zu entwickeln, erweist sich als bis heute anspruchsvollste Konzeption einer politischen Theorie, die sich nicht darauf beschränkt, deduktiv, von mehr oder weniger willkürlich bestimmten Prinzipien ausgehend ein funktional darauf zugeschnittenes Institutionendesign zu entwickeln, sondern die Ausgangsbedingungen durch ihre begriffliche Entfaltung auf ihre Voraussetzungen zu überprüfen und diese dadurch als Resultat einer organisierten, durch kollektive Einrichtungen strukturierten Welt zu erweisen. Dem Vorwurf der Zirkularität eines geschlossenen Systems, dem Hegels Denken ausgesetzt ist, kann durch eine begriffliche Entwicklung der unterschiedlichen Sphären begegnet werden, die den funktionalen Sinn dieses Zusammenhangs, die politische Integration sichtbar werden lässt, ein Zusammenhang, der nicht anders als durch den Rekurs einer Organisation auf sich selbst dargestellt werden kann. Entscheidend ist folglich, dass der Zusammenhang zwischen den Konzeptionen des Selbst und den politischen Institutionen als Integrationsvorgang entwickelt wird. Hier ist die Zirkularität als Vollzug umfassender Reflexivität der Strukturen nachgerade Ausweis der Legitimität der entsprechenden Organisation. Denn wenn deren Rechtfertigung darin besteht, dass das Wohinein der Integration nicht vorgegeben wird, sondern sich erst durch die Integration selbst konstituiert, dann kann dieser Zusammenhang erstens nur als Prozess und zweitens nur als sich auf sich selbst beziehende Organisation beschrieben werden.
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2.) Paradoxien der sozialen Integration Integration wird im umgangssprachlichen Sinne verstanden als Einbeziehung von Ausgeschlossenen. Grundlegend für diesen Prozess ist die Konstellation einer Gemeinschaft, die durch geteilte Überzeugungen, Lebensformen und Normen identifiziert wird. Die aus welchem Grunde auch immer Exkludierten sollen einbezogen werden, so lautet die normative Erwartung, die mit dem Begriff der Integration zum Ausdruck kommt. Integration gilt in diesem Sinne als Erfolg und eine nicht vollzogene Integration als problematisch und belastend. Dieses Standardmodell wird als Passepartout gehandhabt und in ganz unterschiedlichen Kontexten thematisiert. Im weiteren Sinne verstanden ist Integration ein Schlüsselbegriff der Politik. Der Prozess der Integration betrifft nicht nur Außenseiter oder Migranten, sondern ist die Vollzugsform des Politischen, wenn anders diese Substantivierung einen praktischen Sinn haben soll. Es ist der Prozess, in dem die Vielen zu einem politisch handlungsfähigen Ganzen verbunden werden und stets neu zu verbinden sind. Eine Ontologie des Politischen führt nicht auf vermeintlich fundamentale Kategorien wie die Freund-Feind-Distinktion oder die Homogenität einer Gruppe noch erschöpft sie sich in Fiktionen wie dem ursprünglichen Vertrag oder dem idealen Konsens. Politik ist die Praxis der organisierten Verbindung zu einem Ganzen unter Bedingungen nicht aufzuhebender Pluralität. In sozialpädagogischen Handlungsfeldern wird der Begriff bemüht, um für die soziale Einbindung einzelner Individuen zu sensibilisieren. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit vor allem auf Personen, für die ein besonderer Bedarf diagnostiziert wird. Integration zielt hier auf die Kompensation von Normabweichungen und die Korrektur von darauf beruhender Exklusion. Vorausgesetzt wird dabei die Vorstellung einer mehr oder weniger homogenen Gruppe, deren Standards maßgeblich sind. Wie die Gruppe selbst sich konstituiert und wie Integration normativ einzuschätzen ist, ob sie positiv oder möglicherweise als problematisch erfahren wird, ist in dieser Betrachtung ausgeblendet. Integration ist hier als Sekundärphänomen in Bezug auf ein nicht näher konkretisiertes Verständnis von Politik verstanden. Die Bedingungen der Möglichkeit als auch der Sinn von Integration bleiben in diesen Ansätzen meist im Dunkeln oder gelten als selbstverständlich. In der pädagogischen Debatte wird die Integrationsforderung zum Dogma erhoben und das Integrationskonzept überboten durch den Begriff der Inklusion.17 Nach diesem Modell verändert sich die Gruppe durch neue Mitglieder, während die bloße Integration, so die Behauptung, die Eingliederung in eine konstante Gruppe vollzieht. Statt der Assimilationserwartung, die mit dem Integrationskonzept verbunden ist, wird im Inklusionsmodell der Diversität dadurch Rechnung getragen, dass
17 Vgl. z. B. Biewer, Proyer, Kremsner 2019.
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der Rahmen und damit die Ausgangsbedingungen verändert werden. Anstelle des Primats der Gruppe gilt hier der Primat des Individuums.18 Mit dem Begriff der Inklusion wird suggeriert, dass sich das Set normativer Erwartungen einer Gruppe justieren lässt, um den exkludierten Einzelnen den Zugang zu ermöglichen. Diese geschieht durch Beseitigung von Schranken oder durch affirmative actions, deren Wirkung bestehende Benachteiligung kompensiert. Der Begriff unterstellt, dass die normativen Erwartungen, die eine Gruppe zusammenhält, sich beliebig modifizieren lassen, um die Beteiligung möglichst aller Exkludierten zu gewährleisten. Problematisch erscheint dabei, dass diese Justierung extern vorgenommen und die normativen Standards des Kollektivs nach einem abstrakten Modell konstruiert werden. Die Unterscheidung von Integration und Inklusion hat lediglich eine in wohlmeinender Absicht formulierte polemische Relevanz. Die normativen Standards einer Gemeinschaft sind weder unveränderlich noch lassen sie sich beliebig modellieren. Keine Gruppe ist so stabil homogen, dass sie nicht durch Neuzugänge modifiziert würde und keine Gruppe kann es sich leisten, für alle bedingungslos offen zu sein, weil sie damit ihre Existenz und ihre Funktionsfähigkeit aufs Spiel setzen und Inklusion folglich ihren Sinn verlieren würde. Beide Schemata sind in dieser Entgegensetzung, wie leicht zu erkennen, unterkomplex und nicht auf gesellschaftliche Verhältnisse in größeren Dimensionen übertragbar. Die in programmatischer Absicht veranschlagte Opposition von homogener Gruppe und Einzelnem ist soziologisch unzureichend. Es ist weder davon auszugehen, dass eine Gesellschaft trotz Erweiterung durch neue Mitglieder hinsichtlich ihres normativen Settings völlig unverändert bleibt noch treten die Einzelnen als isolierte Individuen in Erscheinung. Mit dieser Ausgangskonstellation lassen sich Prozesse der Integration nicht beschreiben. Deshalb relativiert sich die Differenz von Integration und Inklusion. Außerdem ist das normative Vorurteil in Bezug auf Integration in Frage zu stellen. Integration wird zwar generell positiv konnotiert, aber es gibt auch Grenzen sinnvoller Integration. Unbedingte Integration aller ist kein Selbstzweck. Es gibt unberechtigte Integrationserwartungen und es gibt das Recht auf Integrationsverweigerung. Keine Gesellschaft kommt ohne bestimmte Minimalerwartungen aus, denen sich neu aufzunehmende Mitglieder fügen müssen und kein Individuum wünscht sich restlose Absorption um den Preis des Selbstverlustes. Der umgangssprachliche und, daran angelehnt, der pädagogische Gebrauch sind defizitär, sofern ihm eine plakative Vorstellung von sozialen Verbindungen zugrunde liegt, die dem komplexen Beziehungsgefüge von Individuen nicht gerecht wird. Konzeptionell unzureichend ist aber vor allem, dass sich sowohl Integration als auch Inklusion in paradoxer Weise auf einen Zustand der Exklusion beziehen. Beide 18 Diese Begriffsbildung ist freilich soziologisch nicht unterlegt, der angelsächsische Begriffsgebrauch und die daraus vor allem durch Talcott Parsons entwickelte systemtheoretische Perspektive kennt diese Differenzierung nicht.
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Konzepte sind definitorisch durch die Aufhebung von Exklusion bestimmt, geben aber der Darstellung des Exklusionsprozesses und der diesem zugrunde liegenden Rationalität keinen Raum. Die Bewertungen sind stillschweigend verteilt: Exklusion ist zu verurteilen, Integration oder Inklusion ist der erwünschte Endzustand. Nüchterner Betrachtung zeigt sich, dass Inklusion und Exklusion wechselseitig aufeinander verweisen, also nicht nur nominal aufeinander bezogen sind. Das heißt, die Begriffe der Integration und Inklusion sind analytisch nur insofern sinnvoll ist, als Verhältnisse der Inklusion im Zusammenhang mit der ihnen korrelierenden Exklusion begriffen werden.19 Daran anknüpfend stellen sich grundsätzliche Fragen, deren Beantwortung sich auch in den konkreten Szenarien von Integration niederschlagen müsste: Worauf beruht die soziale Gemeinschaft, die als Ziel der Integration angesehen wird? Gibt es Bedingungen der Teilnahme, die wesentlich für den Bestand der Gruppe sind? Ist Exklusion möglicherweise konstitutiv für bestimmte Gemeinschaften? Auf welcher normativen Basis ruhen die Integrationserwartungen, die Außenstehende mutmaßlich hegen? Wie brisant diese Fragen sind, zeigt sich deutlich in einem anderen Kontext, in dem der Integrationsbegriff veranschlagt wird, in der Thematik der Migration. Die unterschiedlichen Konsequenzen der jeweiligen Blickwinkel kommen hier besonders deutlich zur Ansicht. Jede Gesellschaft hat ein bestimmtes Anforderungsprofil, das die Gelingensbedingungen für Integration bestimmt. Zugleich aber ist jede Erweiterung des Kreises der Mitglieder immer auch eine Veränderung der Gesellschaft selbst, weil die kulturellen Prägungen, die Migranten mitbringen, sich lebensweltlich bemerkbar machen. Dies kann auf Dauer dazu führen, dass sich das Anforderungsprofil selbst ändert, entweder durch Liberalisierung oder, als Gegenreaktion, durch Verschärfung der Bedingungen der Mitgliedschaft. Außerdem kann sich eine Tendenz zur Integration in Binnengruppierungen entwickeln, die zu sogenannten Parallelgesellschaften führt.20 Integration ist folglich nicht ohne Auswirkungen auf die Gesellschaft, in die hinein die Einbeziehung erfolgt. Eine pauschale Integrationsforderung verbietet sich hier von selbst, weil davon auszugehen ist, dass keine Gesellschaft ohne Exklusion existenzfähig ist. Hier stellt sich also die Frage, wer integriert werden soll und wie Integration gestaltet wird.21 Neben pädagogischen und psychologischen Gesichtspunkten, die eher das Wie des Integrationsprozesses betreffen, spielt vor allem die Frage der politischen Selbstbestimmung der jeweiligen Gemeinschaft eine entscheidende Rolle. Die Frage spitzt sich zu bei Gesellschaften mit demokratischem Selbstverständnis, die Inklusivität beanspruchen und dennoch exklusiv operieren. Dies ist nur scheinbar ein Widerspruch. Charles Taylor spricht von der Inklusivität der 19 Luhmann 1994, S. 15-45. 20 S. dazu Esser 2001. 21 Eine ausgewogene Stellungnahme bietet Miller 2016.
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„Demokratie als Herrschaft des ganzen Volkes“ im Unterschied zur „Herrschaft des ganzen Volkes“, die notwendigerweise exklusiv ist.22 Inklusiv ist die Gemeinschaft folglich hinsichtlich ihrer Mitglieder, exklusiv hinsichtlich äußerer Interessenten, die nur unter bestimmten Bedingungen aufgenommen werden. Dies scheint zunächst unproblematisch und bringt nur zum Ausdruck, was analytisch aus dem Begriff der Inklusion folgt. Die demokratietheoretische Pointe zeigt sich darin, dass die inklusive Praxis normativen Standards entspricht, die sich aus der Struktur demokratischer Selbstbestimmung ergeben. Taylor erwähnt, eher kursorisch, einen bestimmten Grad des sozialen Zusammenhalts und der gegenseitigen Verpflichtung und ein Gefühl der Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft. Dabei geht es nicht um sozialpsychologische Kategorien oder die Befindlichkeit der Mitglieder einer Gemeinschaft, sondern um die Bedingungen politischer Meinungs- und Willensbildung, die funktionale Voraussetzungen demokratischer Herrschaft sind. Der in diesem Kontext reflexhaft geäußerte Homogenitätsverdacht, mit dem inklusive Gemeinschaften – kurioserweise oft in Verbindung mit Integrationsforderungen – konfrontiert werden, läuft ins Leere, denn moderne demokratische Gesellschaften verdanken sich gerade einem hohen Grad von Individualisierung und Freiheit. Traditionale und autoritäre Gesellschaften dagegen erzwingen Homogenität, um ihre Legitimationsbasis durch direkte Bestätigung des Herrschaftshandelns zu sichern. Zugleich aber sind freie Gesellschaften darauf angewiesen, ein hohes Maß an Engagement, Partizipation und gegenseitigen Respekt einzufordern,23 um überhaupt das Wir der Selbstbestimmung entstehen zu lassen. Aus der bloßen Begegnung atomarer Einzelner kann in der Tat nur ein Kampf der Interessen hervorgehen, die zwar zu unterschiedlichen Assoziationen führen mag, aber keine Legitimation für eine Entscheidung im Namen aller bietet. Die Alternative wäre dann ein amorphes, aber homogenes Gebilde nach dem Muster von Rousseaus volonté générale, das alle individuellen Differenzen absorbiert. Betont Taylor vor allem die Disposition, die für die Mitgliedschaft in einer demokratischen Gemeinschaft unverzichtbar ist, so ist darüber hinaus der Prozess der Integration selbst in den Blick zunehmen. Die Solidarität, die ein demokratisches Gemeinwesen verlangt, kann nicht durch Tugendforderungen allein gewährleistet werden. Unter den komplexen Bedingungen moderner Gesellschaften sind Bürgertugenden, obgleich unverzichtbar, keine Garantie für das Gelingen der Selbstorganisation einer Gemeinschaft. Auch das Tugendmodell oszilliert zwischen Assimilationserwartungen und liberalem Melting-Pot-Ideal und entzieht sich so der Frage, welche Gemeinschaft idealiter oder realiter anzustreben wäre. Die ältere Soziologie hat sich dieser Frage im Rahmen ihrer Modernisierungstheorien gewidmet. Durkheim registriert eine Verlagerung von der normativ ausge22 Taylor 2002, S. 30 (Hervorh. i. O.). 23 Taylor 2002, S. 21 ff.
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richteten Integration zur funktionalen Integration, die vor allem durch die Arbeitsteilung der modernen Ökonomie gewährleistet wird.24 Integration erfolgt also, so die These, durch Differenzierung. Freilich deckt diese nur ein bestimmtes Segment der Gesellschaften ab und blendet die politische Integration, die für eine demokratische Gesellschaft konstitutiv wäre, dezidiert aus. Simmel antwortet auf die zunehmende Diversifizierung der Arbeitswelt, der Lebensformen und Überzeugungen mit dem Modell der modernen Großstadt, in der die wechselseitigen Aversionen und Antipathien dadurch aufgefangen werden, dass die Mitglieder der Gesellschaft sich in ihrer Reserviertheit segregieren und in die Anonymität zurückziehen.25 Der neu gewonnene Freiheitsspielraum ermöglicht ein Zusammenleben unter Bedingungen der Diversität. Auch wenn Durkheim und Simmel nur begrenzte zivilgesellschaftliche Sphären in den Blick nehmen, setzen sie doch einen Maßstab für die weitere Betrachtung durch die Berücksichtigung des Zusammenhangs von Integration und gesellschaftlichem Wandel. Die unter dem Label des Multikulturalismus auftretenden sozialpolitischen Forderungen und Erwartungen beziehen sich explizit auf diese die Gesellschaft verändernde Wirkung von Integration.26 Das Modell des Multikulturalismus, obwohl theoretisch nicht ausgearbeitet, zielt positiv oder negativ gewendet in polemischer Absicht zumindest implizit auf eine politische Konzeption, weil davon die Gestaltung des Zusammenlebens insgesamt betroffen ist. Dass Integration dabei nur in schwacher Version als Akzeptanz von Vielfalt verstanden wird, ist dabei sekundär. Allerdings wird auch diese Frage wieder auf eine moralische Ebene verlagert. Außerdem lässt das Modell offen, welcher Bezugsrahmen für den Prozess der Integration veranschlagt wird. In der anspruchsvollen Perspektive, die Taylor bietet, verlagert sich die Debatte auf die wechselseitige Anerkennung unterschiedlicher Kulturen oder Sprachgemeinschaften. Die politischen Fragen, die sich mit der Organisation des Gemeinwesens befassen, bleiben dabei jedoch ausgeblendet.27 Das Modell der Anerkennung bietet auf der Ebene sozialphilosophischer Erörterungen einen fruchtbaren Ansatz, um Probleme der intersubjektiven Beziehungen und des darauf basierenden Selbstbildes der Einzelnen zu diagnostizieren.28 Hegel, der diese Figur geprägt hat, macht deutlich, dass der Kampf um Anerkennung wesentlich ein Problem der Entwicklung eines bestimmten Selbstbildes ist, dass sich aus der Emanzipation von Abhängigkeitsverhältnissen ergibt.29 Um stabile soziale Verhältnisse zu beschreiben, in denen die Bedingungen für Anerkennung gewährDurkheim 2019, S. 182. Simmel 1984, S. 192–204. Kymlicka 1999. Taylor 2009. Der Kommentar von Michael Walzer im gleichen Band macht auf dieses Defizit aufmerksam (S. 93 ff.). 28 S. dazu die instruktiven Betrachtungen von Honneth 2018. 29 Hegel 1970a, S. 145 ff.
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leistet sind, ist das Modell der Anerkennung jedoch nicht komplex genug. Nur negativ lässt sich folgern, dass strukturelle Ungleichheit den Kriterien der Anerkennung widerspricht. Nun gibt es selbstverständlich viele Arten von Ungleichheit, die einer wechselseitigen Anerkennung keinen Abbruch tun. Unterschiede des Geschlechts, des Alters, der Herkunft, der sozialen Stellung und der Überzeugungen sind grundsätzlich mit Anerkennung verträglich, sofern sich die Hinsichten der Anerkennung als davon unabhängig erweisen. Diese können auf anonymen universalen Standards beruhen wie dem Menschsein oder dem Personsein, die für alle gleichermaßen gelten. Oder sie berücksichtigen individuelle Qualitäten wie besondere Leistungen, Gruppenzugehörigkeit und Identität. Anerkennungsformen der ersten Gruppe basieren auf moralischen Minimalstandards, die sich vor allem aus Schutzrechten wie den allgemeinen Menschenrechten oder den politischen Grundrechten ergeben. Ihre Grenze ist dort erreicht, wo die moralisch geforderte Neutralität gegenüber dem Individuum in Gleichgültigkeit umschlägt. Die Anerkennungsformen der zweiten Gruppe dagegen sind, um eine geläufige, wenngleich auch irreführende Unterscheidung aufzunehmen, ethisch bedingt. Sie beruhen auf der Akzeptanz bestimmter Lebensformen, die immer auch mit einer Präferenz dieser Lebensformen im Vergleich zu anderen, weniger akzeptierten verbunden ist. Die gelegentlich propagierte umfassende Toleranz gegenüber allen Lebensformen kann diesem Schema zweier Anerkennungskulturen nicht entkommen. Eine Anerkennung aller Lebensformen ignoriert deren Spannungen und Widersprüche. Die Haltung weitreichender Toleranz gegenüber Einstellungen, die auf einer starken ethischen Überzeugung beruhen, steht vor dem Dilemma, diese zu teilen und dadurch die Toleranz alternativer Bekenntnisse unglaubwürdig erscheinen zu lassen, oder in neutraler Haltung alle divergenten Überzeugungen zu akzeptieren und damit einer Distanz gegenüber allen ethischen Standpunkten Ausdruck zu geben, die zu Recht als Gleichgültigkeit wahrgenommen wird. Die selektiv verfahrende Anerkennung andererseits ist rechenschaftspflichtig in Bezug auf ihre Kriterien. Im privaten Bereich erscheint die Präferenz relativ unverfänglich; allein auch hier sind die Individuen mit Standards des persönlichen Umgangs, des familiären Beziehungsgefüges und der persönlichen Integrität konfrontiert, deren Verletzung sanktioniert werden kann. Die Präferenz für bestimmte Gruppen im weiteren gesellschaftlichen Umfeld ist zunächst insofern legitim, als sie dem Recht der Person auf freie Entfaltung, auf Freizügigkeit hinsichtlich der Wahl der sozialen Umgebung und auf Assoziationsfreiheit entspricht. Eine affirmative Einstellung gegenüber bestimmten sozialen Gruppen oder Individuen lässt sich moralisch nicht einfordern. Allgemeine Solidaritätserwartungen beschränken sich auf Hilfeleistungen in Notlagen. Daran zeigt sich, dass der Bezug auf eine anonyme Gesellschaft kein zureichender Referenzrahmen für die Einschätzung von Integrationsprozessen ist. Gelingen und Misslingen kann nur in Relation zu einem konkreten Erwartungshorizont be-
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urteilt werden, der in sozialen Kontexten ganz unterschiedlich angesetzt werden kann. Entscheidend sind hier die Standards der jeweiligen Gruppe. Es gibt weder die Gesellschaft noch lässt sich hinsichtlich einer konkreten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt eruieren, welche Bedingungen der Zugehörigkeit gelten, denn keine Gesellschaft lässt sich in ihrer Totalität darstellen. Weil es, systemtheoretisch gesprochen, keinen neutralen Beobachterstandpunkt gibt, keine Gesellschaft sich morphologisch eindeutig identifizieren lässt, sind auch die Gelingensbedingungen der Integration nicht in Bezug auf die Gesellschaft im Ganzen zu rekonstruieren. So gibt es zwar vielfach Prozesse der Integration, aber kein einheitliches Verfahren und keine klaren Kriterien des Erfolgs. Diese sind abhängig vom Kontext der Integration. Verfahren ändern sich mit ihren Kontexten und mit ihnen ändert sich die Gesellschaft selbst. Unter der Voraussetzung eines amorphen Gesellschaftsbegriffs lassen sich so zwar multiple Integrationsformen und unterschiedliche Intensitätsgrade von Integration unterscheiden, aber es kann kein Maßstab für Integration daraus abgeleitet werden. Das bedeutet nicht, dass diese Prozesse gesellschaftlicher Integration nicht von vitaler Bedeutung für die modernen Gesellschaften sind, aber die Partizipation an bestimmten Gruppen innerhalb einer Gesellschaft ist eine Sache der besonderen Interessen, der subjektiven Präferenzen und des Zufalls; sie lässt sich in der Regel nicht auf normativ begründete Erwartungen zurückführen.
3.) Politische Integration Eine andere Perspektive ergibt sich, wenn nicht die anonymen Sphären des gesellschaftlichen Umgangs den Bezugsrahmen bilden, sondern politische Gemeinschaften in den Blick kommen. Dann sind nicht allein universale Prinzipien ausschlaggebend noch die formalen Spielregeln einer liberalen Gesellschaft. Auch persönliche Präferenzen, die in sozialen Kontexten legitime Standards der Integration bilden, bieten keine normativ belastbare Orientierung in Fragen der Anerkennung divergenter Lebensformen. Die Gesichtspunkte, die hier zu veranschlagen sind, ergeben sich aus der Konzeption dieser konkreten Gemeinschaft, die den Spielraum der Akteure und den Modus der Vergemeinschaftung selbst festlegen. Sie resultieren mit anderen Worten aus der Verfassung des Gemeinwesens, verstanden als dessen idealiter selbst gesetzter kollektiv akzeptierter Ordnung und Organisationsform. Dies ist der Grund dafür, dass mit dem Übergang in die politische Dimension Fragen der Anerkennung in einem anderen Kontext verhandelt werden müssen. Das Thema Integration in die politische Dimension zu rücken bedeutet, Bedingungen und Formen der Organisation von Gemeinschaft in Blick zu nehmen, aus denen sich konkrete Standards der Integration ableiten lassen.
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Es handelt sich dabei nicht um eine beliebige Bezugsgruppe, die gleichwertig neben anderen steht, sondern um eine ausgezeichnete Form von Integration. Soziologisch betrachtet lassen sich Struktur und Mitgliedschaft einer staatlichen Gemeinschaft zwar in Analogie zur Mitgliedschaft eines Clubs, eines Berufsverbandes oder einer informellen sozialen Gruppierung betrachten. Der Unterschied betrifft dann im Wesentlichen die inhaltliche Zielsetzung und die Rituale der Einbeziehung. Entscheidend ist jedoch eine Differenz, die sich nicht in den sozialen Beziehungen manifestiert, sondern in der Verfasstheit eines Gemeinwesens. Dieses ist nicht einem begrenzten Zweck gewidmet, sondern umfasst ein breites Spektrum von Zwecken und schließt vor allem die Möglichkeit weiterer Zwecksetzungen ein. Frieden, Sicherheit und andere elementare Zielsetzungen werden in den meisten Fällen als Staatszwecke ausgewiesen, weitere Bestimmungen dürften konsensfähig sein, aber kein Gemeinwesen wird sich der Möglichkeit berauben lassen wollen, neue Zwecke festzulegen und zumindest temporär zu verfolgen. Eine Grundbedingung der Festlegung von Staatszwecken und politischen Handlungszielen ist indes, dass das Gemeinwesen selbst entscheidungs- und handlungsfähig bleibt. Dies ist gleichbedeutend mit der Tatsache, dass das Gemeinwesen ein integriertes Ganzes ist, dass es – in der Terminologie Hermann Hellers – als eine „organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit“30 existiert. Sein Prinzip ist die Einheit eines Handlungsgefüges, das bewusst auf das Zusammenwirken und die Einheitsbildung ausgerichtet ist. Dies ist der Prozess der politischen Integration in seiner intensivsten und umfassenden Bedeutung. Integration ist kein Sonderfall, der Einzelne muss nicht nur dann integriert werden, wenn er von außen in die Gemeinschaft aufgenommen wird, denn die Organisation des gemeinsamen Lebens erfordert permanente Integration der sich in der individuellen Entwicklung und der sozialen Beziehungen verändernden Einzelnen und Gruppen. Wie Rudolf Smend in seiner grundlegenden Abhandlung über die Integrationsfunktion des Staates erläutert, ist der Staat selbst nur vorhanden „in den Erneuerungen und Fortbildungen, die lediglich diesen Zusammenhang selbst zum Gegenstande haben“.31 Das Dasein des Staates beruht auf einem umfassenden und permanenten Integrationsprozess, der alle Mitglieder umfasst und damit auch die Fortdauer über die Generationenfolge gewährleistet. Für Smend ist dieser Prozess nicht nur eine Vorbedingung, die dem eigentlichen Handeln der staatlichen Instanzen vorausgeht, sondern die Quintessenz staatlicher Aktivität. Deshalb ist die Präzisierung des Integrationsbegriffs im Sinne der politischen Integration keine Einschränkung, sofern damit nicht eine spezielle Form, sondern der fundamentale Modus von Integration in den Blick kommt. In den Sozialwissenschaften firmiert dieser Typus von Integration unter dem Titel der Systemintegration 30 Heller 1983, S. 228 ff. 31 Smend 1928, S. 18.
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in Abgrenzung zur Sozialintegration.32 Der soziologische Systembegriff bedarf aber insofern einer weiteren Präzisierung, als nicht alle möglichen sozialen Systeme, sondern nur das politische System im engeren Sinne, also in der Gegenwart vor allem der klassische Staat fähig ist, Integration explizit als Zweck zu thematisieren und funktional zu steuern. Innerhalb der sozialen Organisationsformen finden sich differenzierte Modi der Integration, die aber voraussetzungsreicher sind – sofern sie parasitär von anderen Organisationen abhängen – und diese Voraussetzungen nicht selbst thematisieren, geschweige denn modifizieren können. Der Bezugsrahmen der politischen Integration dagegen verkörpert diejenige Form, in der die Überzeugungen hinsichtlich der Form des Zusammenlebens thematisiert und die Integration in der Öffentlichkeit sowohl als im Institutionenhandeln als Gestaltungsaufgabe begriffen wird. Integration im umfassenden und intensivsten Sinne ist politische Integration. In dieser Funktion ist Systemintegration nicht von Sozialintegration abzusetzen, sondern schließt diese in gewisser Hinsicht mit ein, weil die Systemintegration nur über Sozialintegration gelingt und diese durch die Einbindung von Individuen zugleich die systemischen Rahmenbedingungen modifiziert. Dieser zirkuläre Prozess wird von den Individuen beobachtet und kann in begrenztem Maße auch gesteuert werden. Deshalb entzünden sich viele politische Fragen und Kontroversen dort, wo Formen der Integration auf der Tagesordnung stehen. Damit ist der höchste Intensitätsgrad von Integration erreicht, der insbesondere in demokratisch verfassten Staaten realisiert werden kann. Diese Form der politischen Integration kann als dynamische Integration gekennzeichnet werden, weil das Referenzsystem nicht, wie in den soziologischen Modellen, unveränderlich ist. Die politische Gemeinschaft als Bezugsrahmen ist eine besondere Form, da hier die Integration selbst thematisch, also reflexiv wird. Aufgrund dieser Reflexivität verändert sich die Gemeinschaft, ohne deshalb ihre Identität zu verlieren, permanent selbst mit gelingender Integration. Der Terminus bringt außerdem zum Ausdruck, dass es sich um einen Machtprozess handelt, da Integrationsprozesse Macht realisieren. Dabei geht es nicht um Herrschaftsbeziehungen, die innerhalb einer politischen Gemeinschaft sich etablieren können, sondern um die Macht der politischen Organisation selbst. Macht erwächst zum einen aus dem Handeln der Individuen, deren Meinungen und Dispositionen politische Kooperation überhaupt erst möglich machen. Zum anderen manifestiert sich Macht in der Gemeinschaft, die einen autarken Organisationszusammenhang mit internem Entscheidungszentrum und entsprechenden Wirkungspotential bildet. Dynamische Integration stiftet politische Macht und beschreibt zugleich den Prozess der permanenten Erneuerung der Macht.
32 Esser 2001, S. 6 ff.
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Politische Integration impliziert die intrinsische Norm, die Gemeinschaft so zu organisieren, dass es möglichst kein Ungleichgewicht gibt, dass alle Mitglieder gleichermaßen integriert sind. Dies ist der politische Sinn der Gleichheit, die für demokratische Gemeinwesen ausschlaggebend ist. Gleichheit vor dem Recht ist dafür eine wichtige Vorbedingung, aber noch nicht hinreichend. Erst die politische Gleichheit, die gemeinsame Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten, die Möglichkeit der Beteiligung am öffentlichen Austausch, die gleiche Chance auf Übernahme politischer Ämter und das gleiche Gewicht der Stimmen machen die Gleichheit in politischer Dimension aus.33 Gleichheit ist sowohl Bedingung als auch Ziel von Integration. Nur unter der Voraussetzung des Gleichheitsprinzips kann ein Integrationsprozess initiiert werden, der im Hinblick auf eine Gemeinsamkeit ins Werk gesetzt wird. Sie ist zugleich Ziel, weil eine demokratische Gesellschaft erst mit der Idee der politischen Gleichheit – nicht notwendigerweise mit der sozialen Gleichheit – einen Maßstab gewinnt, der das Gelingen wechselseitiger Integration zu beurteilen erlaubt. Vor dieser Folie eines allgemeinen, das ganze Dasein eines Gemeinwesens umfassenden Integrationsprozesses erscheinen die besonderen Integrationsmaßnahmen, die Einzelnen zugutekommen, in einem neuen Licht. Integrationsbemühungen enden nicht selten in der Integrationsfalle. Spezielle Integrationsverfahren, die bestimmten Gruppen gewidmet sind, stigmatisieren diese und bewirken dadurch gerade den gegenteiligen Effekt. Deshalb ist der Integrationsprozess nur dann wirkungsvoll, wenn er an die fundamentale Integration anschließt, die alle betrifft. Die rein soziologische Konzeption von Integration entkoppelt dagegen die System- und die Sozialintegration, weil sie auf einem ganz unspezifischen Verständnis von System basiert. Hartmut Esser geht zwar von einer begrifflichen Differenz beider aus, rechnet aber mit einer empirischen Abhängigkeit der Dimensionen.34 Diese rein additive Betrachtungsweise bleibt jedoch normativ unterbestimmt und verkennt, dass auch die Systemintegration, insbesondere die des politischen Systems, erhebliche Auswirkungen auf die Sozialintegration hat und umgekehrt. Analytisch sind beide zwar unabhängig voneinander zu beschreiben, in ihrer Wirkung aber lassen sie sich nicht trennen. Dies zeigt sich mit besonderer Schärfe in den besonderen Maßnahmen, die sich auf die Sozialintegration richten. Integrationsleistungen, die zu einer Sonderbehandlung Einzelner führen, sind ein performativer Widerspruch, weil sie desintegrativ und stigmatisierend wirken. Integrationsmaßnahmen bedürfen der Einbettung in die allgemeinen Prozesse politischer Integration. Maßnahmen, die auf spezielle Perso33 Auch Klassen- und Kastengesellschaften können in hohem Maße integrativ wirken; die sozialintegrative Wirkung ist meist höher als in liberalen demokratischen Gesellschaften. Aber hier fehlt die Bereitschaft, den Integrationsprozess und damit die kollektive Identität selbst zur Disposition zu stellen. 34 Esser 1999, S. 23 ff.
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nengruppen zugeschnitten sind, wie sie insbesondere aus grundrechtlichen Überlegungen heraus im Bereich schulischer Bildung erfolgen,35 können zwar dazu dienen, Migranten den kulturellen und ökonomischen Zugang zur Gesellschaft zu erleichtern, aber das Ziel dieser Maßnahmen muss darin bestehen, sich möglichst schnell überflüssig zu machen. Sie rechtfertigen sich allein dann, wenn sie die Einzelnen befähigen, am allgemeinen Integrationsprozess zu partizipieren. Damit ist keine Entscheidung zugunsten eines bestimmten Assimilationsprogramms gefallen. Aber es zeichnet sich bereits ab, dass es wenig aussichtsreich wäre, Integration an einen Prozess zu binden, der die Segregation der zu Integrierenden durch eben diese Maßnahmen festschreibt. Ein strukturelles Kriterium gelingender Integration lässt sich bereits auf der Grundlage der Vorüberlegungen benennen: Speziell auf eine bestimmte Klientel zugeschnittene Integrationsmaßnahmen sind nur dann sinnvoll und widerspruchsfrei, wenn sie in sich in die allgemeinen Prozesse der Integration einbetten lassen, die ein Gemeinwesen prägen. Zur Klärung dieses Kriteriums bedarf es nicht der Identifikation einer sogenannten Leitkultur, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass politische Integration auch mit kultureller Vielfalt vereinbar ist. Nicht auszuschließen ist aber, dass die politische Integration an bestimmte kulturell tradierte und gefestigte Traditionen gebunden ist, die sich nicht ohne weiteres durch äquivalente Traditionen ersetzen lassen. Integration bedeutet Veränderung aller Beteiligten. Ausschlaggebend für gelingende Integration sind jedoch nicht kontingente kulturelle Präferenzen, Vorlieben und Gebräuche, sondern die integrativen Strukturen des Gemeinwesens. Dazu gehören die politischen Institutionen, das Rechtswesen, die Verfahren der Meinungs- und Entscheidungsbildung und die repräsentativen Strukturen eines Staates. Die politische Verfassung, deren wesentliche Momente damit benannt sind, stiftet den Rahmen für die Prozesse, die in ihrer Gesamtwirkung die politische Integration genannt werden kann. Damit ist jedoch auch eine Vorentscheidung im Hinblick auf traditionelle Lebensformen gefallen, sofern erwartet werden muss, dass diese mit den geltenden rechtlichen Standards vereinbar sind. Einzelne Aspekte von Integrationsprozessen und besondere, quantitativ definierte Zielsetzungen bieten dagegen keine belastbare Grundlage für die Analyse und normative Beurteilung von Integrationsprozessen. Die in der sozialwissenschaftlichen Betrachtung gebräuchlichen Kategorien wie funktionale Koordination, moralische Integrität und expressive Gemeinschaft, wie sie Peters vorschlägt,36 oder Kulturation, rechtliche Integration, soziale Interaktion und die Identifikation mit der Gesellschaft gemäß dem Modell von Esser,37 werden zwar im Weiteren berücksichtigt, bieten aber in dieser eher kursorischen Aufzählung und ohne den begrifflichen 35 Langenfeld 2001. 36 Peters 1993, S. 96 ff. 37 Esser 2001, S. 8 ff.
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Kontext keine Basis für eine Untersuchung, die im systematischen Zusammenhang die Kriterien politischer Integration zu eruieren sucht.
4.) Modelle des Selbst Schon bei oberflächlicher Betrachtung der üblichen Kriterien gelungener Integration fällt auf, dass das „Subjekt“ der Integration – um den Begriff zunächst in einer nicht-terminologischen Bedeutung zu gebrauchen – in den beispielhaft angeführten Kategorien ganz unterschiedlich konzeptualisiert wird. Das kulturelle, die rechtliche, die moralische oder die soziale Integration unterscheiden sich nicht nur inhaltlich durch die jeweiligen Bezugsrahmen, sondern durch den unterschiedlichen Begriff des Selbst, der jeweils implizit damit vorausgesetzt wird. Das Subjekt der rechtlichen Integration ist grundsätzlich anders aufzufassen als das Subjekt der kulturellen oder der politischen Integration. Dabei macht sich der Unterschied nicht notwendig in der psychischen Identität bemerkbar. Hier überlagert und amalgamiert sich, was sich im Lauf der Genese des Selbst und in den unterschiedlichen Konstellationen, die dieses gleichzeitig bewältigt, aufbaut. Es handelt sich vielmehr um Differenzen, die sich nur über den Kontext erläutern. Über den Kontext definiert sich, wie das Selbst, auf das als Subjekt Bezug genommen wird, aufzufassen ist. Der allgemeinste, aber auch abstrakteste Terminus ist der Begriff „Mensch“. Mit ihm wird ein Status verbunden, der mit universalen, von besonderen kulturellen und politischen Bedingungen abstrahierenden normativen Standards assoziiert ist. Die Menschenrechte suchen diese Standards abzubilden und unerachtet der Unbestimmtheit des Menschseins durch konkrete Bestimmungen zu fassen. Sie referieren auf ein Subjekt, das nicht durch besondere kulturelle Zugehörigkeit ausgezeichnet ist. Unabhängig von den sozialen und politischen Rahmenbedingungen kann es Ansprüche auf Unversehrtheit, Integrität und bestimmte Leistungen erheben. Menschsein gilt als eine Existenzweise, die eines besonderen Schutzes bedarf. Daraus resultieren transkulturelle normative Forderungen, die trotz ihrer Abstraktheit und der unklaren Verantwortlichkeit weitreichende Konsequenzen haben können. Sie sind in den seltensten Fällen justiziabel, können aber Prozesse anstoßen, die dann unter konkreten politischen Verhältnissen rechtliche Folgen zeitigen. Der Terminus Mensch zielt auf einen moralischen Status, der trotz seiner notorischen Unbestimmtheit rechtliche und politische Wirksamkeit entfalten kann. Subjekt des Rechts ist die Person, die ungeachtet ihrer individuellen Interessen und Überzeugungen einen Status genießt, der ihr eine besondere Rolle zuschreibt. Person sein bedeutet, Rechten und Pflichten unterworfen zu sein. Die Person ist das Subjekt der Zuschreibung von Handlungen. Eine Person agiert auf einer Bühne in
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einem Spiel, dessen Regeln das Recht schreibt. Der oder die Einzelne übernimmt damit eine Rolle, deren Grammatik festgelegt ist, die aber Raum für die subjektive Ausgestaltung lässt. Schließlich ist davon zu unterscheiden das Subjekt im Sinne eines Individuums, ein in seiner Identität zeitlich wandelbares, von Überzeugungen und Einstellungen geprägtes Selbst, das nur in seiner kulturellen Zugehörigkeit angemessen erfasst werden kann. Im Begriff der Individualität ist die Endlichkeit und Begrenztheit des Selbst erfasst, die im Begriff der Person nicht zum Ausdruck kommt. Die Termini „Mensch“ und „Person“ indizieren Statusbestimmungen, die neutral sind gegenüber der Endlichkeit und Einzigartigkeit des Einzelnen. Dass ihre Träger endlich sind, ist gewissermaßen kontingent. Individualität kann aber nicht gedacht werden, ohne damit die Begrenztheit zum Ausdruck zu bringen, die mit dem je individuellen Schicksal des endlichen Einzelnen wesentlich verbunden ist. Im Blick auf das Individuum wird das Ganze seines Lebens präsent. Mit dieser Statusbestimmung tritt auch die politische Existenz des Einzelnen in Erscheinung. Der Status des Bürgers und der Bürgerin ist abkünftig insofern, als diese Rolle ein Individuum nur in einem ebenfalls endlichen und begrenzten Gemeinwesen übernehmen kann. Die Sorge um das eigene endliche Leben und die Sorge um die jeweilige Gemeinschaft, in deren Kontext sich das Leben des Individuums abspielt, sind insofern strukturell verwandt, als die Endlichkeit und Einzigartigkeit des individuellen Lebens ausschlaggebend ist für die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die ebenfalls individuell, endlich und begrenzt ist. Diesen Statusbestimmungen, das ist die dieser Untersuchung zugrunde liegende These, korrespondieren unterschiedliche soziale Sphären, in denen sich das Dasein der Einzelnen Gestalt gibt. Der abstrakten Bestimmung des Menschseins entspricht die allgemeine und unspezifische Lebenswelt in ihren unendlichen Ausprägungen. In dieser markiert die Statusbestimmung, die mit dem Begriff Menschsein verbunden ist, moralische Minimalstandards. Der Begriff der Person ist Index des Status, der rechtlichen Verhältnissen zugrunde liegt. Der Einzelne agiert in dieser Rolle in der Gesellschaft als Sachwalter seiner persönlichen Überzeugungen und Interessen. Individualität schließlich steht für den Status, in dem es um die Lebensführung im Ganzen, die je eigene Lebensführung in den politischen Verhältnissen geht, an deren Gestaltung das Individuum ein existentielles, nicht nur willkürliches Interesse nimmt. Dies ist die politische Sphäre. Dass insbesondere dieses Verhältnis von Individualität und politischer Welt, der individuellen Verfassung und der Verfassung des Politischen zur entscheidenden Frage des Gelingens von Integration wird, ist die zweite diese Untersuchung leitende These. Während der moralische Status des Menschseins mit abstrakten Bestimmungen charakterisiert werden kann, der indifferent ist gegenüber der Komplexität der Lebenswelt, und das Personsein in den formalen Strukturen des Rechts von den
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subjektiven Interessen und Perspektiven sich methodisch absetzt, ist Individualität auf die politische Welt als Inbegriff ihrer Realisierungsbedingungen substanziell angewiesen. Die Bestimmung der kollektiven Daseinsform von Individualität, die Idee des Volkes, ist deshalb der neuralgische Punkt von Integration. Das Volk als individuelle Erscheinungsform von politischer Gemeinschaft bildet den Referenzrahmen für ein umfassendes Konzept politischer Integration. Der Begriff der „Gesellschaft“ ist für diesen Zusammenhang nicht operationalisierbar, weil unspezifisch. Der Terminus ist amorph und bietet selbst keinen Ansatzpunkt für eine normative Betrachtung. Die Kriterien für Integration werden daher in der Regel willkürlich veranschlagt und auch eine empirische Untersuchung anhand des Gesellschaftskonzepts bietet keinen Aufschluss darüber, ob Einzelne integriert sind und inwiefern die Gesellschaft als Ganzes integriert ist. Erst durch den Perspektivenwechsel zur politischen Integration wird erkennbar, welche normativen Implikationen im Verhältnis von Einzelnem und Kollektiv sich abzeichnen. Der Demos, das politische Volk, ist nicht das ethnisch definierte Volk, sondern ein durch Organisationsstrukturen und eine formelle oder informelle Verfassung konstituiertes Volk, das sich als solches weiß und artikuliert.38 Seinen rhetorisch prägenden Ausdruck hat dieses Bewusstsein in der Präambel der amerikanischen Verfassung gefunden. Die Formulierung „We the people“ meint nicht das Volk im sozialen Sinne und nicht nur eine konkrete Menge von Menschen, sondern ein handlungsfähiges Ganzes, das als solches bereits eine Einheit bildet, sich zu artikulieren und zu organisieren weiß und in seiner neuen Gestalt sich auch für künftige Generationen auf bestimmte Ziele wie Gerechtigkeit, innere Sicherheit und allgemeine Wohlfahrt verpflichtet. Das Volk, im politischen Sinne verstanden, trägt hier und in anderen politischen Gebilden einen nationalen Index. Das politische Volk ist das je besondere, rechtlich und politisch identifizierbare Volk. Seine historische Erscheinungsform ist die kulturell mehr oder weniger kohärent sich zeigende Nation, die sich im Übergang zum 19. Jahrhundert eine politische Form gibt. Angesichts der historischen Belastung des Begriffs steht jede Verwendung des Begriffs in systematischer Absicht unter Rechtfertigungsdruck. Das Selbstverständnis der Nationen, aber auch das Verständnis des Begriffes selbst hat sich seit dem Zeitalter des Nationalismus indes entscheidend gewandelt. Die staatsrechtliche Bestimmung ist unabhängig von ethnischen Konnotationen und zielt auf die Reflexionsform eines Volkes als einer sich selbst bestimmenden politischen Kollektivs. Nation kann als „ein zu politischem Selbstbewusstsein gelangtes Volk“39 begriffen werden. Das geschichtliche Dasein des Volkes ist ein permanenter Integrationsprozess, in dem die Vielen sich zu einem Ganzen vereinen. Das bedeutet in seiner historischen Dimension, dass die nachwachsenden und die neu hinzukommenden 38 Gschnitzer, Koselleck, Werner 1992, S. 141–431. 39 Böckenförde 1999, S. 37.
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Individuen nicht nur in ein gegebenes Kollektiv aufgenommen werden, sondern dieses stets neu bilden müssen. Integration findet in einem umfassenden Sinne als Reproduktionsprozess der politischen Gemeinschaft statt und in einem spezielleren Sinne bei der Aufnahme neuer Mitglieder. Das Volk in dieser politischen Lesart ist Bezugspunkt der Integration. Ihr formalrechtlicher Ausdruck ist die Staatsangehörigkeit, die per Geburt oder durch rechtlich geregelten Erwerb vergeben wird. Die Integration ist damit jedoch nicht erschöpft, sondern wird virulent mit der Frage, was die Vielen in der Pluralität ihrer Überzeugungen und Interessen zusammenhält. Sind moderne Verfassungsstaaten auf staatsbürgerliche Tugenden angewiesen, wie Montesquieu dies für Republiken in Abgrenzung zu Monarchien und Aristokratien konstatiert?40 Ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, gemeinsame Verantwortung, wechselseitiger Respekt und Anerkennung als Gleiche und die Achtung der Verfassung sind gewiss Voraussetzungen für ein handlungsfähiges und stabiles demokratisches Gemeinwesen. Aber mit Tugend im engeren Sinne hat diese Einstellung, die seit Sternberger mit dem nüchternen Terminus des Verfassungspatriotismus etikettiert wird, wenig zu tun. Das liberale Fundament moderner Staaten verträgt sich nicht mit weiter gehenden Tugenderwartungen, obwohl das tägliche Zusammenleben davon geprägt wird. Die Frage nach dem Volk kann nur in enger Verbindung mit der Frage nach dem Staat als dem organisatorischen Rahmen der politischen Gemeinschaft behandelt werden. Der Staat ist in der jüngeren sozialwissenschaftlichen Diskussion immer wieder als Auslaufmodell dargestellt worden. Er gilt als überfordert, weil er den globalen Herausforderungen nicht gewachsen ist und zugleich wird seine Legitimität in Frage gestellt, weil sich seine Organisationstrukturen gegenüber der Lebenswelt verselbständigt haben und den Partizipationserwartungen nicht gerecht werden. Diese Diagnose interpretiert die globale Entwicklung als Vernetzung regionaler Organisationen oder Metropolen, die sich über Staatsgrenzen hinweg zusammenschließen, um mit demokratischer Beteiligung die Probleme der Weltgesellschaft zu lösen.41 Der alte Traum von einer Weltrepublik ohne Grenzen und Konflikte würde sich mit dem Ideal direktdemokratischer Selbstverwaltung in überschaubaren Strukturen verbinden. Das klingt vielversprechend, kann aber angesichts der politischen Herausforderungen der Gegenwart nicht wirklich überzeugen. Die Staaten sind den Kräften der Globalisierung und Tribalisierung ausgesetzt und geraten zugleich in vielen Regionen durch atavistische Stammesinteressen und ethnisch bedingte Ressentiments unter Druck. Die Schwächung der Macht der Staaten hat bislang weder zu einer Stärkung supranationaler Strukturen geführt noch an irgendeinem Ort der Welt die Demo40 Montesquieu 1979, S. 144 ff. 41 Barber 1998.
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kratiedefizite aufgehoben oder auch nur minimiert. Das Bild ist ernüchternd: Wo staatliche Strukturen nur rudimentär entwickelt oder aufgelöst sind, herrschen kriminelle Clans, marodierende Banden, Netzwerke der Oligarchen oder sich gegenseitig bekämpfende militärische und paramilitärische Einheiten. Das ist der Bürgerkrieg, den Thomas Hobbes als Krieg aller gegen alle charakterisiert hat. Wo die Lebensverhältnisse einigermaßen sicher, menschenwürdig und friedlich sind, garantieren diese stabile Staaten. Die theoretische Demontage des bislang wichtigsten Bezugsrahmens der Integration, des Staates, ist in der Wirkung fatal. Das qualitative und quantitative Integrationspotential des Staates wird von keiner anderen Organisationsform erreicht. Zu seinen Leistungen gehört die Garantie der Integrität einer humanen Lebenswelt. Dass Menschen friedlich zusammenleben und ihr Leben nach ihren Vorstellungen führen, ist historisch gesehen ein äußerst unwahrscheinlicher Zustand. Der Nationalstaat ist diejenige moderne Form, in der die Spielräume individueller Lebensführung, die Entwicklung freier Gesellschaften auf beeindruckende Weise gesichert werden konnten. Auch die Herrschaft des Rechts als Grundbedingung einer rationalen politischen Organisation wird von Staaten garantiert. Herrschaft des Rechts bedeutet zum einen die Durchsetzung des geltenden Rechts, die Rechtssicherheit, zum anderen die Transformation von Herrschaft in rechtliche Akte, die Verrechtlichung politischer Herrschaft. Eine weitere zentrale Funktion von Staaten ist die Moderation demokratischer Willensbildung. Demokratische Staaten bieten günstige Rahmenbedingungen, um Willensbildungsprozesse so zu organisieren, dass Perspektivenvielfalt aufrechterhalten und dennoch Entscheidungsfähigkeit gewährleistet ist. Deshalb sind Staaten die entscheidenden Akteure in politischen Integrationsprozessen. In ihren Strukturen formt sich das Volk als Legitimationsinstanz und als Subjekt der Meinungs- und Willensbildung. Wie die Begriffe „Mensch“, „Person“ und „Individuum“ sind auch die Konzepte des Volkes und des Staates zunächst nur Abstrakta. Deshalb sind abschließend die Organisationsformen darzustellen, in denen sich die entscheidenden Phasen der Integration abspielen. Erst damit wird Integration als Prozess sichtbar. Diese Formen sind die – im Idealfall demokratische – Öffentlichkeit, die Strukturen der politischen Repräsentation und die Institutionen der Verfassung. In diesen institutionellen Sphären werden die Weichen für Integrationsprozesse gestellt. Hier lässt sich auch die Belastung konkretisieren, die ein wachsender Integrationsbedarf für ein Gemeinwesen darstellt. Im Unterschied zur intergenerativen Integration, die sich vor allem als Bildungsaufgabe realisieren lässt, stellt die migrationsbedingte Integration eine Herausforderung dar, von der die ganze institutionelle Infrastruktur betroffen ist. Höhere soziale Diversität erfordert ein höheres Machtpotential. Wachsendem Integrationsbedarf kann ein Staat nur durch einen proportionalen Ausbau seiner Institutionen gerecht werden. Das bedeutet nicht, dass
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damit unweigerlich Freiheitsspielräume abgebaut werden. Macht erscheint nicht nur als Herrschaft, die Handlungsmöglichkeiten der Individuen einschränkt. Nach diesem vom Liberalismus vertretenen Modell wäre Macht konsequenterweise auf das unvermeidliche Minimum einzugrenzen. Macht, sofern sie dem Integrationsprozess zugrunde liegt, ist jedoch vor allem konstitutive Macht, die aus der Gemeinsamkeit resultiert. Aus ihre erwachsen die Möglichkeiten des Handelns im öffentlichen Raum, das Potential kollektiven Handelns, das auch individuelle Handlungschancen eröffnet. Je weniger Integrationsleistung von den informellen lebensweltlichen Verhältnissen zu erwarten ist, und deren integrative Kraft ist relativ schnell erschöpft, desto mehr müssen die Institutionen diese Aufgabe übernehmen. Die erforderlichen Maßnahmen gehen weit über das Verwaltungshandeln im engeren Sinne hinaus. Sie finden statt in den Kanälen der Meinungsbildung, in den Strukturen der Repräsentation und in der politischen Funktion der Verfassung.
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I. Der Einzelne
Integration bedeutet Einbeziehung einzelner in einen Zusammenhang. Für den Prozess der Integration ist es entscheidend, wie das Subjekt der Integration aufgefasst wird. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass der Einzelne, der integriert werden soll, nicht nur als Objekt der Integration betrachtet werden darf. Auch die beste Absicht kann keine Maßnahmen rechtfertigen, die den Einzelnen als passives Wesen in einen Sozialverband eingliedern wollen. Die entscheidende Weichenstellung erfolgt mit der Konzeptualisierung des Einzelnen. Bereits der Begriff des Subjekts, vom lateinischen subiectum abstammend, enthält die Ambivalenz, den Einzelnen als aktiv Handelnden, als Ursache seiner Handlungen anzusprechen und zugleich als Unterworfenen, als Untertan. Er ist geprägt von metaphysischen Prämissen, die in der Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit entwickelt wurden. Subjektsein bezeichnet ein reflexives Bewusstsein, ein abstraktes Ich, das sich selbst durchsichtig ist und seine Identität kraft seines Bewusstseins behauptet. Es ist offensichtlich, dass Integrationsprozesse sich nicht auf diesen Aspekt beschränken, zumal die bewusstseinstheoretischen Kategorien grundsätzlich nicht geeignet sind, das zeitliche Dasein eines Individuums zum Ausdruck zu bringen. Insbesondere aber fehlt dem Subjektbegriff die normative Implikation, die es erlaubt, dem Selbst begründete normative Erwartungen und Verantwortlichkeit zuzuschreiben, es als ein moralisches Wesen aufzufassen. Die für das menschliche Dasein gebräuchlichen Kategorien des Menschseins, des Personseins und der Individualität dagegen referieren auf ein handlungsfähiges Selbst, das in einem sozialen Kontext agiert und darin Beziehungen zu anderen entwickelt. Sie stehen für konkrete Funktionen, für einen unbedingten normativen Status, für das Dasein, das einen Rechtsstatus besitzt, und für die unverwechselbare Einzigartigkeit des Einzelnen. Diese Funktionen verweisen auf unterschiedliche Deutungshorizonte, innerhalb deren sie ihre Kontur gewinnen. Die dabei zu Tage tretenden Differenzen sind erheblich und spiegeln nicht nur ihre jeweilige Begriffsgeschichte wider, sondern enthalten auch unterschiedliche normative Implikationen. Diese stehen weniger in einem Konkurrenzverhältnis als dass sie sich komplementieren. Sie evozieren spezifische Kontexte und sind unterschiedlichen Geltungsbereichen zugeordnet, in denen sie ihre normative Bedeutung entfalten. In dieser Kontextualisierung zeigen sich auch die Grenzen der Konzepte. Wenn der Terminus „Mensch“ den Status des einzelnen in der Zivilgesellschaft indiziert, so wird damit zugleich deutlich, dass in der Sphäre des Rechts und in der politischen Gemeinschaft dieses Konzept nicht hinreichend ist, um die normativen Ansprüche
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und Verpflichtungen zum Ausdruck zu bringen, die in den für diese Sphären konstitutiven integrativen Prozessen maßgeblich sind. Dazu muss auf die Begriffe Person und Individuum rekurriert werden. Politisch bedeutsam ist ohne Zweifel auch der Status der Bürgerschaft. Darin drückt sich die politische Bedeutung direkter aus als im Begriff des Individuums. Allerdings setzt das Konzept der Bürgerschaft eine etablierte politische Infrastruktur und die Existenz einer Gemeinschaft voraus, aus deren Selbstverständnis definiert, wer den Titel eines Bürgers oder einer Bürgerin trägt. Sofern hier die wechselseitige Beziehung des Einzelnen und der politischen Sphäre in den Blick kommen soll, muss eine Ebene tiefer, beim Individuum angesetzt werden, das nicht per definitionem Mitglied einer politischen Gemeinschaft ist, obwohl seine Entfaltung erst durch die Integration möglich wird. In einem ersten Schritt ist deshalb die Semantik der drei Konzepte Mensch, Person und Individuum in ihrem praktische Funktionszusammenhang darzulegen. Im Weiteren soll dann gezeigt werden, inwiefern die Begriffe sich auf die Welt der Zivilgesellschaft, die Sphäre des Rechts und die politische Gemeinschaft beziehen und deren normative Prämissen zum Ausdruck bringen.
1.) Abstraktum Mensch Der normativ anspruchsvolle Terminus für das Selbst ist der Terminus Mensch. Zuvor waren in der Geschichte meist restriktivere, auf bestimmte Kulturbereiche bezogene Kollektivvorstellungen prägend. Der Sinn der Gattungsbestimmung liegt nicht in der Präzisierung einer imaginären Identität, sondern in der Bereitstellung des normativen Deutungshorizontes. Allen Versuchen zum Trotz erweist es sich als wenig aussichtsreich, ein fixes Menschenbild zu definieren. Aber gerade darin liegt sein normatives Potential. Weniger die Vielgestaltigkeit der Erscheinungsformen des Menschen als die Tatsache, dass er ein handelndes Wesen ist, das sich in seinem Tun selbst entwirft, ist ausschlaggebend dafür, dass keine Bestimmung des Menschen angemessen erscheint. Der berühmte Vers aus der Antigone „Vieles ist ungeheuer, nichts ungeheuerer als der Mensch“42 bringt diese Einschätzung zum Ausdruck. Die philosophische Definition des Menschen, die mit Aristoteles zum klassischen Topos wird, verzichtet auf diese Dramatik und rückt die Handlungsfähigkeit der Menschen ins Zentrum, fasst aber Handlung in der ganzen Breite des Spektrums. Der Mensch ist insofern ζῷον πολιτικόν,43 ein politisches Lebewesen, als ihm Handlungsmöglichkeiten im umfassenden Sinne offenstehen und damit insbesondere die Optionen 42 Sophokles 1990, 332. 43 Aristoteles 1991, 1253a 1-11.
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gemeinsamen Handelns. Darin vor allem zeigt, sich, was ein Mensch sein kann und wie er diese Möglichkeiten optimal, in der Form des gelingenden Lebens realisiert. Mensch sein heißt, Bürger einer Polis zu sein. Die mit Augustinus einsetzende Diskreditierung des Politischen entrückt den Menschen in eine geistige Welt. Sein Verhältnis zur Politik, zum Gemeinwesen ist charakterisiert durch Misstrauen und Distanz.44 Die neuzeitliche Staatstheorie basiert auf der Differenz der Begriffe „Mensch“ und „Bürger“, um daraus die Legitimität staatlicher Herrschaft zu deduzieren. Aus der Bedrohung, die der Mensch im fiktiven vorpolitischen Status des Menschseins erfährt, kann auf eine grundsätzliche Bereitschaft zum Eintritt in eine Gesellschaft geschlossen werden, die Sicherheit um den Preis der Unterwerfung bietet. Von den spätmittelalterlichen Vertragskonstruktionen über Althusius und Hobbes bis zu Locke herrscht Einigkeit darin, dass als Kern der Bestimmung des Menschen das Prinzip der Selbsterhaltung angenommen werden kann. Weitergehende Charakteristika wie die Orientierung an konkreten naturrechtlichen Prinzipien bleiben strittig und in jedem Falle auslegungsbedürftig. Hobbes weist die Kompetenz der Interpretation natürlicher Rechte konsequenterweise dem Einzelnen selbst zu: „The right of nature, which writers commonly call jus naturale, is the liberty each man hath to use his own power as he will himself for the preservation of his own nature“.45 Damit ist die normative Unbestimmtheit des Menschen endgültig besiegelt. Gerade in der Unbestimmtheit behauptet sich die Gattungsbestimmung Mensch als eine sinnvolle Referenz in normativer Absicht. Gegen alle folgenden Versuche, eine Gattungsidentität zu beschwören, lässt sich darauf verweisen, dass die Charakteristik der Gattung nicht festzulegen ist, dass vielmehr unter dem Primat der Selbstdeutungskompetenz des Menschen die Unbestimmtheit das entscheidende Merkmal der Gattung ist. Keine objektive, auch keine naturwissenschaftliche Definition des Menschen kann diese Offenheit menschlichen Daseins eskamotieren. Allerdings ist der Mensch nicht davon entlastet, sich selbst zu deuten. Seine Bestimmungslosigkeit erlebt der Mensch als Aufforderung, sich selbst eine Bestimmung zu geben. Entscheidend ist nicht die Frage der Richtigkeit der Deutung, sondern ihre Unabgeschlossenheit. Eine Deutung mit Endgültigkeitsanspruch wäre ein performativer Selbstwiderspruch, müsste sich verleugnen als das, was sie ist: eine Deutung des Lebewesens, das sich selbst zu deuten gezwungen ist und deshalb existenziell unbestimmt bleiben muss. Die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts hat diese Unbestimmtheit des Menschen als dessen Charakteristikum ausgemacht. Gehlens Untersuchungen messen im Anschluss an Herder und Humboldt das Potential menschlichen Daseins
44 Augustinus 1977, IV, 4. S. dazu Zenkert 2004, S. 116 ff. 45 Hobbes 1839, Chap. XIV.
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aus und stellen dabei das kommunikative Handeln ins Zentrum.46 Handlungen sind keine isolierte Akte, sondern eine Weise der Weltauslegung, die ihre Grundlage im sprachlich strukturierten Weltbezug finden. Weltorientierung und Handlung greifen strukturell ineinander. Aufgrund seines Sprachvermögens ist der Mensch ein Kulturwesen, das nie in naturalistischer Primitivität fassbar wird. Die Stellung des Menschen ist dadurch gekennzeichnet, dass er „das stellungnehmende Wesen“ ist, das auch zu sich selbst Stellung nimmt und nur in dieser zu prinzipiell offenen Selbstdeutung angemessenen zu verstehen ist.47 So lässt sich der Mensch nicht verobjektivieren, sondern erscheint in seinen historischen und individuellen Wandlungen. Dies ist die einzige Möglichkeit, vom Menschen zu reden, ohne in eine ahistorische Dogmatik zu verfallen. In der gegenwärtigen Diskussion um die Natur und den Status des Menschen kehrt der Topos der Differenz von Natur und Kultur wieder. Wenn „Mensch“ „ein kulturbezogener Zuschreibungsbegriff von Menschen ist und keine rein biologische Tatsache“48 scheint der normative Gehalt des Begriffs der Verfügbarkeit preisgegeben zu sein. Was auf menschlicher Entscheidung beruht, kann auch legitimerweise von Menschen verändert werden, so lautet das seit der griechischen Sophistik gebräuchliche Argument. Damit wäre auch die Einschränkung menschlicher Freiheit gerechtfertigt. Dass die Idee der menschlichen Freiheit noch dort rhetorisch einsetzbar ist, wo sie ihrer Grundlage beraubt wird, ist das nicht gänzlich abzuwendende Problem der Offenheit menschlicher Gattungsauszeichnung. Dagegen verwahrt ein Diskurs, in dem stets aufs Neue die Unbestimmtheit des Menschen als Voraussetzung menschlicher Würde in den Blick kommt.49 Er zielt, in Anlehnung an Plessners Theorem der Exzentrizität des Menschen, in kritischer Absicht auf alle Strategien, die das Bild des Menschen mit naturwissenschaftlichen und technischen Modellen zu besetzen suchen. Der darauf gegründete Begriff der Würde, der sich diesem Bild des Selbstentwurfes verdankt,50 steht dann als Signatur für die Fähigkeit des Menschen, kulturelle Attributionen vorzunehmen, ihre Selbstdeutung im sozialen Raum zu betreiben. „Menschenwürde benennt die anthropologischen oder besser noch, die intersubjektiv geteilten Voraussetzungen, dass Personen überhaupt urteilen und handeln können und sich dafür moralisch verantworten müssen.“51 So fungiert der Begriff der Würde als Schranke gegen alle Versuche, eine Identität des Menschen festzulegen.52 Die 46 Gehlen. Gehlen spannt den Bogen von Wilhelm v. Humboldt zu George H. Mead und beschreibt das kommunikative Handeln in einem weit komplexeren Sinne als später Jürgen Habermas. 47 Gehlen 2004, S. 32. 48 Mark 2001. 49 Gamm 2004, S. 55 ff. 50 Prägend ist für diese Auffassung menschlicher Würde vor allem Pico della Mirandola 1968. 51 Gamm 2004, S. 60. 52 Zenkert 2007.
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Unausdeutbarkeit des Menschen besitzt normative Qualität insofern, als nur solche Deutungen und Maßnahmen zulässig sind, die das Selbstverständnis des Menschen nicht irreversibel einschränken. Genau diese notorische Unbestimmtheit ist jedoch in Auseinandersetzung mit pathologischen Deutungsmustern mit der Frage konfrontiert, wie sich überhaupt ein verbindliches Selbstbild des Menschen gewinnen lässt, wenn alle Deutungen reversibel sein sollen. Der Terminus der Unbestimmtheit bietet nicht die Antwort auf die Sinnsuche, sondern identifiziert das Problem. Eine positive Deutung des Menschseins muss möglich sein auch dann, wenn grundsätzlich alle Interpretationen reversibel sind. Anders ließe sich kein normativer Geltungsanspruch behaupten. Deshalb ist zu klären, wie die Unbestimmtheit der Gattungsidentität mit der Vorstellung unverbrüchlicher Rechte und gerechtfertigter normativer Erwartungen des Menschen vereinbar ist. Ihr markantester Ausdruck findet sich in den unterschiedlichen Kodifikationen unverbrüchlicher Rechte. Die aus der europäischen Rechtstradition hervorgegangenen Menschenrechte53 besitzen einen ambivalenten Status, sofern sie einerseits überpositive Geltung beanspruchen, andererseits aber auf Positivierung angewiesen sind. Dadurch unterscheiden sie sich von abstrakten moralischen Normen, die in einer fiktiven Welt des Sollens angesiedelt sind. Bereits die frühen Dokumente ihrer Kodifizierung, die Virginia Bill of Rights (1776) und die französische Déclaration des droits des l'homme et du citoyen (1789) machen deutlich, dass die individuellen, subjektiven Rechte nicht anders als in Bezug auf die politischen Organisationen expliziert werden können. Allerdings verlieren die Menschenrechte ihre besondere Bedeutung, wenn sie auf den Status von Grundrechten individueller Staaten reduziert werden. Ihr Stellenwert beruht darauf, dass sie überstaatliche Geltung beanspruchen und gegenüber den staatlichen Institutionen eingeklagt werden können. Damit dieser Anspruch nicht nur moralisch, sondern auch juristisch erhoben werden kann, müssen die Menschenrechte freilich als Grundrechte Eingang in die Verfassungen finden. Die Versuche theoretischer Grundlegung der Menschenrechte sind umstritten. Der mit ihnen im Allgemeinen verbundene Evidenzanspruch stellt eine logische Herausforderung dar, denn jede rationale Rechtfertigung unterstellt Begründbarkeit. Die Begründungsproblematik kündigt sich bereits terminologisch darin an, dass weder von der Erfindung noch von der Entdeckung der Menschenrechte gesprochen werden kann.54 Ihr umstrittener Status konterkariert den Evidenzanspruch. Eine schlüssige Menschenrechtsbegründung muss sich hinsichtlich der prinzipiellen Möglichkeiten ihrer Verwirklichung ausweisen. Damit sind nicht die momenta53 Zur Menschenrechtsgenese in Europa s. Oestreich 1982; zur Einschätzung der außereuropäischen Traditionen. Kühnhardt 1987. 54 Zur Problematik der Menschenrechtsbegründung s. Köhler 1999. Der Titel der Studie offenbart freilich bereits, dass die Begründung fundamentaler Rechte einen Zirkel oder einen infiniten Regress kaum vermeiden kann.
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nen Realisierungschancen unter den gegebenen konkreten Umständen gemeint, von denen eine Rechtfertigung abstrahieren kann, sondern die grundsätzlichen Fragen der Institutionalisierung, die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Verwirklichung, die mit diesen Rechten direkt verknüpft sind. So lassen sich zwar die Geltung und die Anwendungsproblematik analytisch trennen, aber die Problematik der Realisierung der Menschenrechte und ihrer grundsätzlichen Realisierungsbedingungen wirkt auf die Geltungsfrage zurück. Als überpositive Rechte beanspruchen die Menschenrechte die Geltung unabhängig von jeder Institutionalisierung, gleichzeitig wollen sie mehr sein als moralische Forderungen, die nur dem individuellen Gewissen anheimgestellt sind. Sie sind überpositiv, antizipieren aber zugleich eine Realisierung als geltendes Recht, das mit Durchsetzungsgewalt verbunden ist. Dieser Vorgriff ist dort plausibel, wo die Menschenrechte selbst als elementare Bedingungen oder transzendentale Voraussetzungen des Rechts verstanden werden können. Mit jeder Erweiterung des Kanons von Menschenrechten wächst jedoch nicht nur die Begründungslast, sondern auch der Abstand von den elementaren Prinzipien, die für die Universalität des Anspruchs bürgen. Dies gilt umso mehr für die gegenwärtig diskutierten Solidaritätsrechte wie dem Recht auf Frieden oder auf eine unversehrte Umwelt. Die Eindeutigkeit und die Allgemeinverbindlichkeit der Rechte nehmen dabei proportional ab. Nicht nur theorieökonomische Gründe sprechen für eine Begrenzung des Katalogs der Rechte. Sofern unter Menschenrechten tatsächlich ein unbedingter Rechtsanspruch verstanden wird, ist es unumgänglich, der Hypertrophie derselben durch eine begrifflich präzise Bestimmung ein Ende zu setzen.55 Die Konzentration auf den elementaren Kern der Menschenrechte ist deshalb kein Akt der Limitierung natürlicher Rechte, sondern die Voraussetzung für eine plausible Begründung. Dazu sind minimale anthropologische Grundannahmen erforderlich, die eine kulturübergreifende Formulierung von Rechten ermöglichen. Nur die negative Freiheit, die leibliche und seelische Unversehrtheit und einige daran anschließende Bestimmungen lassen sich in diesem Sinne als allgemein akzeptierte Charakteristika ausgeben. Selbst manche inzwischen kanonisch gewordenen Rechte gehen weit über eine anthropologisch offene Konzeption hinaus. Ihre Verteidigung muss auf soziale, verfassungstheoretische oder geschichtliche Ziele rekurrieren, deren kulturelle Bedingtheit offensichtlich ist. Mit der Beschränkung oder Erweiterung der Rechte steht nicht nur die Durchsetzbarkeit, sondern auch deren universaler Anspruch auf dem Spiel. Bekanntlich wird dieser in der theoretischen Diskussion verschiedentlich in Frage gestellt, entweder, indem das Projekt unbedingter Rechte grundsätzlich bestritten56 oder als eine nur
55 Diese Forderung formuliert prägnant Cranston Stuttgart 1987. 56 MacIntyre 1981, S. 66 ff.
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kulturrelativ begründbare Auffassung verstanden wird.57 Zwar ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Menschenrechtsuniversalismus und insbesondere der ihm zugrunde liegende Individualismus der abendländischen Tradition entstammen, doch ist damit über die Plausibilität des universalistischen Programms das Urteil nicht gesprochen.58 Es ist nicht a priori auszuschließen, dass ein innerhalb einer bestimmten Epoche formulierter Rechtsanspruch auch über diese Zeit hinaus mit guten Gründen Anerkennung findet. Die Begründung der Menschenrechte ist jedoch trotz ihrer Abstraktheit nicht ohne Rekurs auf die praktischen Verhältnisse zu leisten. Bereits die Darstellung der Menschenrechte und das dabei zugrunde liegende Konzept des Menschen verlangt die Einbeziehung politischer Kategorien und Organisationsformen. Dies zeigt sich deutlich in den unterschiedlichen Typen von Menschenrechten, die entsprechend differente Verfahren einer Umsetzung nach sich ziehen. Abstrakte, negative Freiheitsrechte wie das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person und die damit zusammenhängenden Rechte59 erfordern im Extremfall keine institutionellen Maßnahmen, sofern die entsprechenden Rechte nicht verletzt werden. Mit diesen Abwehrrechten ist der Kern der liberalen Grundrechte formuliert. Sofern sie jedoch sie auf diese defensive Funktion reduziert werden, lässt sich daraus kein Anspruch auf aktiven Schutz ableiten. Sie dienen lediglich als Grundlage für Einsprüche gegen Maßnahmen, die Recht verletzen. Die maximale moralische Wirkung verdankt sich der Abstraktion des Menschseins. Politische und soziale Rechte hingegen setzen nicht nur Rechtsverhältnisse, sondern eine elaborierte Struktur staatlicher Institutionen voraus. Diese bilden den Rahmen, die Adressaten und die Instanzen der Realisierung der Rechte. Insofern ist eine theoretische Begründung dieser Rechte nicht politisch neutral. Sie prätendiert zwar suprastaatliche Geltung, die im Zweifelsfall gegen Maßnahmen konkreter Staaten zu verteidigen ist, aber sofern sie direkt in die politische Architektur eingreifen, verkörpern sie keine vorpolitischen Prinzipien, sondern sind selbst in einem fundamentalen Sinne politisch, wenn anders Politik ganz grundsätzlich die normativ bestimmte Organisation des menschlichen Zusammenlebens ist. Die politischen Rechte wie insbesondere das Recht auf Staatsangehörigkeit und auf Mitwirkung an den politischen Entscheidungsbildungsprozessen60 rechnen offensichtlich mit dem Menschen als Bürger in politischen Verhältnissen. Hier geht es um die politische Freiheit des Einzelnen als Mitglied einer Gemeinschaft, die rechtsstaatliche und demokratische Strukturen aufweisen muss, um den mit den Menschenrechten gesetzten Standards zu entsprechen. 57 Rorty 1996. 58 Eine umfassende Verteidigung des Universalismus unternimmt Tönnies 2001. 59 Dies entspricht den Artikeln 1-12 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gemäß der UN-Resolution von 1948. 60 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 13-21.
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Die sozialen Rechte, historisch betrachtet die jüngste Generation der kodifizierten Menschenrechte,61 statuieren eine Gesellschaft, die dem Einzelnen die Möglichkeiten einer freien Entfaltung der Persönlichkeit garantiert. Dazu genügen nicht die rein rechtlichen Freiheitsgarantien, denn die Wahrnehmung der Lebenschancen innerhalb der sozialen Welt verlangt Maßnahmen der sozialen Absicherung, gerechte Arbeitsbedingungen und angemessene Bildung. Forum ihrer Realisierung ist die reale Lebenswelt der bürgerlichen Gesellschaft. Die fiktive Gesellschaft aller Rechtspersonen kann dabei als Regulativ dienen, um Verwerfungen und Pathologien zu identifizieren, bietet aber kein realistisches Umfeld politischen Handelns. Adressat der aus diesen Rechten ableitbaren Forderungen mag zwar im rhetorisch-appellativen Sinne die anonyme Gesellschaft sein, im organisatorischen Sinne jedoch richtet sich jeder Anspruch an die Instanzen politischer Ordnung, die steuernd in die Gesellschaft einzugreifen befugt sind aufgrund ihrer Legitimation durch die Mitglieder des Gemeinwesens. Angesichts dieser unterschiedlichen Statusbestimmungen, die den Menschenrechtskatalog prägen, wäre es naiv, diese Rechte dem Konzept eines natürlichen Menschen zuzuschreiben. Menschenrechte sind nicht konsistent als abstrakte moralische Prinzipien zu verstehen, sondern nur mit Bezug auf konkrete soziale und politische Bedingungen. Deshalb müssen alle Versuche einer Begründung der Menschenrechte an ihrer Abstraktheit scheitern. Ihr systematischer Ort ist im Niemandsland zwischen bloßen moralischen Forderungen und positivem Recht angesiedelt. Dass Menschenrechte auf der abstrakten Bestimmung der Unbestimmtheit beruhen und dabei doch als inhaltlich relevante Rechtsansprüche konkretisiert werden müssen, scheint darauf hinzuweisen, dass ihr Geltungsanspruch nur widersprüchlich dargestellt werden kann. Ihre Ausgestaltung transzendiert die eigenen Voraussetzungen, weil sie sich notwendigerweise auf eine normative Bestimmung dessen einlassen muss, was es heißt Mensch zu sein. In der Tat sind die Menschenrechte auf eine Konzeption des Menschen zurückzuführen, die auf einer dezidiert politischen Auffassung des Menschseins basiert. Das Paradoxon lässt sich insofern auflösen, als der Zusammenhang, aber auch die Differenz von Menschenrechten und Demokratie ausbuchstabiert wird, der bereits in den ersten Proklamationen beschworen wird. Diese kaum bestrittene Verbindung beschreibt ein Verhältnis komplementärer und zugleich konkurrierender Prinzipien,62 die von ganz unterschiedlicher Qualität sind. Die Prinzipien der Demokratie konturieren die politische Verfassung. In dem von ihnen beschriebenen Rahmen spielt sich die Organisation politischer Gemeinschaft ab. Eine ganz andere Funktion besitzen die Menschenrechte. Sie skizzieren in ihrem Kernbestand die formalen, abstrak61 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 22-28. 62 Habermas‘ Idee der Gleichursprünglichkeit von Menschenrechten und Volkssouveränität (Habermas 1992, S. 122 ff.) reduziert dieses Verhältnis auf die harmonische Verschränkung beider.
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ten und insofern allgemeingültigen Kriterien eines Handlungsraumes, in dem die Individuen ihre je besonderen Lebensperspektiven und Handlungsziele entwerfen, Entscheidungen fällen, Kompetenzen entwickeln und Interessen verfolgen können. Deshalb bildet die Handlungsfähigkeit der Einzelnen den Fokus der unterschiedlichen Rechte, die auf die Aufnahme in die Liste der Menschenrechte berechtigten Anspruch erheben können. Damit wird der abstrakte Begriff des Menschen ersetzt durch die spezifischen Kategorien der Rechtsperson in den Strukturen der Gesellschaft und des Individuums, das seine Möglichkeiten als Bürger eines Staates wahrnimmt. So enthalten die Menschenrechtskataloge in Wahrheit keine überzeitlichen und überstaatlichen Rechte, sondern sind Ausdruck politischer Programme, die in meist unsystematischer Weise den unterschiedlichen Statusbestimmungen der Person und des Individuums Rechnung zu tragen suchen. Die Spezifizierung der Menschenrechte, für die es keinen neutralen Standpunkt geben kann, ist Aufgabe der jeweiligen Verfassungen. Eine Positivierung derselben ist nicht allein durch deren Ausstattung mit überstaatlicher Zwangsgewalt zu gewährleisten, sondern nur durch ihre Konkretisierung im Hinblick auf die gegebene Lebenswelt. Das Programm der Menschenrechte erfüllt sich darin, dass diese als Grundrechte in die jeweilige politische Verfassung eingehen. Damit wird eine Präzisierung hinsichtlich der abstrakten und unbestimmten Menschenrechte vorgenommen, allerdings auch eine Einschränkung hinsichtlich des Personenkreises, der in den Genuss der Rechte kommt. Die Frage der Zugehörigkeit zu einer konkreten Gemeinschaft, die in den Menschenrechten zwar vorausgesetzt, aber nicht thematisiert geschweige denn beantwortet wird, muss im Zusammenhang der Positivierung der Rechte als Grundrechte entschieden werden. Das Recht auf Mitgliedschaft in einem konkreten Gemeinwesen ist deshalb der Schlüssel für die Inanspruchnahme der universalen Rechte.63 So muss auch unter der Annahme der Geltung von Menschenrechten die Frage nach dem Gattungsbegriff des Menschen negativ beschieden werden. Menschenrechte können keine materiale Bestimmung des Menschseins konkretisieren, sondern bleiben auf formale Bestimmungen beschränkt. Die Aufgabe, die sich einer integrativ angelegten Konzeption politischen Handelns stellt, erschöpft sich nicht in der Umsetzung der Menschenrechte, vielmehr setzen Menschenrechte ein rechtlich verfasstes Gemeinwesen voraus. In diesem Kontext müssen die abstrakten Bestimmungen in materiales Recht übersetzt werden. In der Tat lassen sich nur aus der Warte eines ethisch gesättigten Konzepts politischer Verfassung die Menschenrechte artikulieren und im Falle ihrer Verletzung einklagen. Dort, wo die Bedingungen 63 Hannah Arendt vertritt angesichts der Erfahrungen der politischen Katastrophen und der Destruktion von Politik im 20. Jahrhunderts die provokante These, dass das Recht auf ein Leben in einer Gemeinschaft grundlegender ist als der in den Menschenrechten formulierte Anspruch (Arendt 1986, S. 613; vgl. auch Arendt 1949).
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realiter nicht erfüllt sind, muss ein sinnvoller Appell im Namen der Rechte eine konkrete Instanz voraussetzen, an die er adressiert werden kann. In einer unpolitischen Welt wäre jede Empörung absurd, ein Akt reiner Selbstgerechtigkeit. So verweisen Menschenrechte hinsichtlich ihrer Geltung, ihrer advokatorischen Wirkung und ihrer Realisierung auf das Konzept einer politischen Verfassung, in der die Lebenskonzepte der Menschen ihre Gestalt finden. Für Nichtmitglieder sind deshalb die Menschenrechte nicht bedeutungslos; ihr praktischer Sinn basiert aber darauf, dass sich staatliche oder nichtstaatliche politische Institutionen in der Verantwortung sehen, den normativen Anspruch anzuerkennen, der mit einem Rekurs auf die Menschenrechte erhoben wird, und über die notwendigen Mittel verfügen, die geforderten Maßnahmen zu ergreifen. In der Regel bleiben die Adressaten dieser Normen jedoch unbestimmt. Das offene Selbstbild des Menschen führt die Intensität des Menschseins vor Augen, die im Medium der Politik möglich ist. Den Primat der Politik zu verfechten bedeutet jedoch nicht, das Politische als absolut zu setzen. Daran zu erinnern ist nicht zuletzt die politische Wirkung der apolitischen Sphären von Kunst und Wissenschaft. Ihre Grenze findet Politik immer dort, wo die Selbstdeutungskompetenz des Menschen tangiert wird. Jedes kulturell etablierte Menschenbild schließt zwar andere Möglichkeiten aus. Doch ist diese Festlegung nie endgültig, so lange nicht der Handlungsraum der kulturellen Entfaltung sabotiert wird, in dem sich Alternativen ergeben können. Es ist offensichtlich, aber bislang kaum als Gegenstand systematischer Untersuchungen behandelt, dass sich die Politik und Menschenbild wechselseitig bedingen. Die Kardinalfrage lautet, welche Politik ergibt sich aus welchem Menschenbild? Bei totalitären Staaten ist dieser Zusammenhang leicht zu entdecken. Das Menschenbild erscheint hier meist naturalisiert und tritt zurück hinter ein verzerrtes Ideal eines bedingungslos der Volksgemeinschaft untergeordneten Gliedes. Interessant ist vor allem die Frage, wie sich das Menschenbild im Falle gelungener Politik präsentiert. Wenn Politik der Inbegriff des Umgangs des Menschen mit Seinesgleichen ist, dann gilt als normativer Maßstab jeder politischen Verfassung der Respekt vor alternativen Menschenbildern. Dieser zeigt sich nach innen darin, dass normativ gehaltvolle Auslegungen des Menschseins nach den Spielregeln der Verfassung weiterhin möglich sind und nicht von ideologischen oder technischen Imperativen grundsätzlich unterbunden werden. Nach außen erweist sich diese Haltung darin, dass die unterschiedlichen Kulturen als im Prinzip gleichwertig anerkannt werden im Bewusstsein der gleichen Sinnressourcen, die das Menschsein im weitesten Sinne bietet. Dies ist nicht gleichbedeutend mit der resignativen Relativierung der eigenen Kultur. Vielmehr gilt in den Worten Plessners, dass der „Verzicht auf die Vormachtstellung
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des eigenen Wert- und Kategoriensystems mit der festen Überzeugung in seine Zukunftsfähigkeit zu verbinden“ ist.64 Mit der Erwähnung der politischen Natur des Menschen knüpfen die Überlegungen an die Aristotelische Auszeichnung des Menschen als zóon politikón an.65 Der Sinngehalt dieser Bestimmung ist festzuhalten gegen alle Tendenzen der Verkürzung des Menschenbildes auf ein starres Stereotyp. Der Rekurs auf die konstitutive Unbestimmtheit des Menschen erschöpft sich nicht in der Kritik dogmatischer Festschreibungen, sondern setzt das Potential frei für die stets neu zu entwickelnden Individuationen menschlichen Lebens. Die Einsicht in die Unabschließbarkeit der Suche nach dem Menschenbild ist deshalb gleichbedeutend mit der Selbsterkenntnis der Möglichkeiten des Menschen. Mit anderen Worten: Das Wesen des Menschen ist Macht. „In dieser Relation der Unbestimmtheit zu sich fasst sich der Mensch als Macht und entdeckt für sich sein Leben, theoretisch und praktisch, als offene Frage.“66 So ist der Mensch in seiner ganzen Ungeheuerlichkeit zu erfahren. Die Rekonstruktion dieses Machtpotentials ist die Basis für die normative Auslegung politscher Integrationsprozesse. Eine besondere Bedeutung gewinnt dabei der Begriff der menschlichen Würde. Er beruht auf einer normativ gehaltvollen Selbstinterpretation des Einzelnen als Gattungswesen. Der Bezug auf die Gattungsidentität verbürgt den Status des Menschseins auch dann, wenn die Würde des Einzelnen von anderen in Frage gestellt wird oder wenn er persönlich versagt. Andererseits gründet in der generischen Auffassung auch die Erwartung, dass sich der Einzelne seiner Würde entsprechend verhält und sein Potential entwickelt. Wenn Verfassungen sich auf das Prinzip der Menschenwürde berufen, setzen diese nicht nur als Leitidee voraus, sondern tragen zugleich zu deren Konkretisierung bei. Der Mensch ist insofern ein politisches Lebewesen, als er erst im Miteinander einer gemeinsam errungenen Ordnung seinen Halt findet. Die normative Kraft des Begriffs der Würde verdankt sich indessen nicht den jeweiligen gegebenen Verhältnissen, sondern transzendiert diese. Das Transzendieren ist jedoch nicht der Sprung in eine ganz andere Welt, es bleibt negativ auf seine Herkunft bezogen. Dies ist seine Bestimmung. Das Woraufhin des Überschreitens ist deshalb auch nicht unabhängig von seinem Ausgangspunkt zu formulieren. Der Rückbezug auf das konkrete Selbstverständnis muss stets gewährleistet sein. Ob damit eine Instanz vorausgesetzt werden muss, die diese Transzendenz verkörpert, kann offenbleiben. Unerachtet ihrer Genese, ihrer Entstehungsgeschichte im Kontext der christlichen Theologie, ist die Geltung der im Begriff der Würde ausgesprochenen normativen Erwartung nicht von der Voraussetzung eines Stifters 64 Plessner 2003b, S. 186. 65 Aristoteles 1991, 1253 a9. 66 Plessner 2003b, S. 188. Zum Begriff politischer Macht s. Zenkert 2004.
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der menschlichen Würde abhängig. Menschliche Würde ist kein Privileg, das sich der Entscheidung einer übergeordneten Instanz, einem Schöpfergott verdankt, weil Privilegien und Rechtsübertragungen den Status eines Rechtssubjekts, einer Person bereits voraussetzen. Genau darauf bezieht sich jedoch die Auszeichnung, für die der Begriff der Würde steht. Der Rechtstitel der Menschenwürde bezieht sich auf den Menschen nicht nur als Objekt, sondern als Subjekt von Handlungen. Er setzt nicht nur dem Handeln anderer eine Grenze, sondern ist der Inbegriff der eigenen Handlungsfähigkeit. Mit dem Status des Menschseins ist, in normativer Bestimmung, das Handelnkönnen des einzelnen zum Ausdruck gebracht. Diese Offenheit ist bereits mit Pico della Mirandolas Vorstoß avisiert, der die Würde des Menschen nicht nur von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen ableitet, wie vor ihm noch Manetti,67 sondern von der absoluten Freiheit des Menschen im Sinne seiner Unbestimmtheit. Der rhetorische Charakter des Programms täuscht jedoch über die Problematik, die der Anspruch des Menschen auf Würde nach sich zieht. Die bei Pico beschworene menschliche Würde ist Geschenk und Aufgabe gleichermaßen, ein natürliches Recht sowohl als ein Bildungsauftrag. Beide Momente, Mitgift und Auftrag, lassen sich nicht voneinander lösen. Die dem Menschen abverlangte Gestaltungsleistung als Ausdruck seiner Würde setzt die prinzipielle Freiheit als Status voraus; umgekehrt ist die Statuszuschreibung, die für die ganze Gattung gilt, mit der Erwartung verbunden, diesem Anspruch auf Würde auch gerecht zu werden. Würde ist nicht an die Erfüllung bestimmter Bedingungen gebunden, hat aber Aufforderungscharakter. Es ist unschwer zu erkennen, dass in dieser Ambivalenz des Begriffs, der ganz unspezifisch mit der Idee der Menschengattung assoziiert wird, das Referenzsubjekt nicht identifiziert wird. Es bleibt offen, ob mit dem Menschen das einzelne Individuum oder die Person gemeint ist. Gerade diese Doppelbedeutung erweist sich als Problem der inflationären Verwendungsweise des Begriffs menschlicher Würde.68 Der Begriff ist in seiner Formelhaftigkeit jeder Deutung offen und wird in advokatorischer Absicht für nahezu beliebige Interessen zitiert. Dabei werden die zuvor genannten Bedeutungsschichten, die Statusauszeichnung, die dem Menschen kraft seiner Natur zukommt, und die Konzeption relationaler Würde, die einer konkreten Leistung oder Befähigung im Rahmen eines Praxiszusammenhangs entspricht, entweder isoliert oder bedenkenlos amalgamiert. Dort, wo die oszillierende Semantik des Begriffs zu Verständigungsproblemen führt, wird dieser um eine der Dimensionen verkürzt. Würde verkümmert zu schlichter Selbstdarstellung69 oder gilt bloß als Abbreviatur subjektiver Rechtsansprüche. Zugleich scheint die gattungsbezogene Auffassung der Würde dem popu67 Manetti 1990. Pico della Mirandola 1968. 68 Die folgenden Überlegungen basieren auf Zenkert 2007. Der Text wurde überarbeitet. 69 So lautet etwa der Vorschlag von Luhmann, der Würde als eine Grundbedingung „des Gelingens der Selbstdarstellung eines Menschen als individuelle Persönlichkeit“ versteht (Luhmann 1965, S. 61).
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lären Vorwurf des Speziezismus zum Opfer zu fallen.70 So droht ein prominentes normatives Grundprinzip, das vielfach noch in aktuellen Auseinandersetzungen bemüht wird, zu einer Leerformel zu werden.71 Beide Begriffsbedeutungen, die Idee einer generellen Mitgift und die Erwartung einer besonderen Anstrengung scheinen zusammenzugehören, müssen aber, um ihr Verhältnis zu klären, zunächst unterschieden werden, wie der Blick auf die Begriffsund Problemgeschichte verdeutlicht. Die ethisch-politische Bedeutung hat ihre Wurzeln in der Antike und verweist auf die Kompetenzen konkreter Einzelner, auf ihre politische Stellung und ihren öffentlichen Ruf – die universalistische Konzeption dagegen zeichnet den Menschen als Gattungswesen aus; sie hat stoisch-christliche Wurzeln, erfährt jedoch ihre reinste Ausprägung erst in der Moralphilosophie Kants. Die teleologischen Ethiken der Antike rekurrieren auf die Idee menschlicher Würde als ein Attribut des Individuums im politischen Raum. Dies gilt insbesondere für Aristoteles, dessen Ethik das Phänomen der Würde im Zusammenhang mit der Seelengröße behandelt. Seelengröße besitzt, wer sich für würdig hält und es tatsächlich auch ist. 72 Der Terminus axioma kennzeichnet einen Anspruch, der darauf beruht, dass Tugendhaftigkeit und Selbsteinschätzung sich entsprechen. Ohne das Bewusstsein der eigenen Würde ist diese nicht möglich, ohne wirkliche Tugendhaftigkeit, bezogen auf das ganze Spektrum der Tugenden, wäre der Anspruch lächerlich. Im Unterschied zu bloßer Besonnenheit erfordert Seelengröße tugendhaftes Verhalten gerade in den großen Angelegenheiten des Lebens. Bezugspunkt und Indikator der Würde ist die Ehre, die Anerkennung durch Andere.73 Somit ergibt sich eine doppelte Relation aufgrund des auf persönlicher Leistung beruhenden Selbstbildes einerseits und der öffentlichen Wertschätzung andererseits. In der römischen Welt ist dignitas eine zentrale Kategorie des politischen Lebens.74 Würde repräsentiert den Anspruch auf politische Macht und prägt das 70 Für dessen Verbreitung sorgt insbesondere Singer 1984. Der Begriff der Person, der Singers Argumentation zugrunde liegt, basiert nicht auf der Fähigkeit, moralisches Subjekt, also Adressat von Normen zu sein, sondern auf der Fähigkeit, Präferenzen zu entwickeln. Auf dieser Basis kann Singer den Status der Würde jedoch begrifflich nicht rekonstruieren. Seine normativen Forderungen beschränken sich deshalb in der Sache darauf, für eine nach willkürlichen Kriterien selektierte Gruppe von Lebewesen besondere Schutzrechte zu reklamieren. 71 Symptomatisch dafür ist die im Grundgesetzkommentar von Martin Herdegen bestrittene, für die gesamte Verfassung und insbesondere die Grundrechte konstitutive Bedeutung der Menschenwürdegarantie. Ihre Relativierung ist das Ergebnis einer Trennung der positiv-rechtlichen Interpretation von ihrem geistesgeschichtlichen Kontext (Herdegen 2005, bes. S. 11 f.). S. dazu kritisch Böckenförde 2003. Zur juristischen Diskussion s. Josef. Isensee, Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, in: Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 131, 2006. 72 Aristoteles 1956, 1123b 1 ff. 73 Aristoteles 1965, 1123b 16 ff. 74 S. die differenzierte Darstellung von Pöschl 1989. Das schroffe Urteil, dass in Griechenland nichts der römischen dignitas entspräche (S. 9), revidiert Pöschl selbst durch die zahlreichen Bezüge auf die griechische Begrifflichkeit.
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Ordnungsgefüge der Gemeinschaft. Ciceros Auffassung von dignitas ist bestimmt von der altrömischen Vorstellung politischer Leistung, doch bildet die Zuschreibung nicht nur den politischen Erfolg ab, sondern ist Ausdruck einer inneren, seelischen Stärke, einer Unerschütterlichkeit, die sich nicht nur in großen Taten, sondern im ganzen Erscheinungsbild des Menschen zeigt.75 Die herausgehobene Stellung des Menschen im Kosmos, die Cicero außerdem noch hervorhebt, ist indes kein Rechtstitel, sondern lediglich die Basis einer Anforderung an den Einzelnen. Aus der dem Menschen attestierten Vernunftnatur lässt sich kein Anspruch eines Individuums gegenüber anderen ableiten. Die Würde muss vielmehr durch individuelle Leistung erworben werden. Sowohl Aristoteles als auch Cicero fassen den Wert des Einzelnen als Reflex seiner ethischen Qualitäten auf. Würde gilt als Ausdruck von Kompetenz, die mit entsprechender Selbsteinschätzung und gesellschaftlicher Anerkennung einhergeht. Sie erscheint in gradueller Differenzierung, bringt ethische Unterschiede zum Ausdruck und wirkt damit als ein strukturbildendes Prinzip der politischen Gemeinschaft. Ganz anders ist die deontologische Auffassung begründet, die ihre reinste Ausprägung in Kants Moralphilosophie gefunden hat. Hier besitzt der Mensch, unerachtet seiner individuellen Fähigkeiten, Würde im Sinne eines absoluten inneren Wertes, der, wie Kant formuliert, „kein Äquivalent verstattet“.76 Dieser Wert beruht auf der Autonomie des Menschen, auf dem Vermögen, sich selbst Gesetze zu geben. Von diesem Standpunkt aus betrachtet erweist sich der Mensch als ein Zwitter, der hinsichtlich seines noumenalen Seins, als Vernunftwesen, die Identität der Gattung verkörpert, und hinsichtlich seines phänomenalen Seins eine den Naturgesetzen unterworfene konkrete Person ist mit besonderen Anlagen. Sofern der Mensch auf Würde Anspruch erhebt, daran lässt Kant keinen Zweifel, muss „von dem persönlichen Unterschiede vernünftiger Wesen, imgleichen allem Inhalte ihrer Privatzwecke abstrahiert“ werden.77 In der Kantischen Konzeption rückt das Subjekt – als Verkörperung des reinen Willens, nicht als Individuum – in das imaginäre Reich der Zwecke ein, das, abstrakt und inhaltlich unbestimmt, die Idee der Kompatibilität unterschiedlicher Subjekte veranschaulicht. Der Sinn dieser Konstruktion besteht darin, die Gattungszugehörigkeit des Einzelnen zu garantieren. Als Subjekt innerhalb eines fiktiven politischen Systems, das alle Subjekte erfasst, kann der Einzelne Anspruch auf Würde erheben. Das empirische Individuum ist nur kontingenter Nutznießer dieses Anspruchs. Irritierend, aber letztlich konsequent ist, dass dieser Status, der die Nichtersetzbarkeit des Einzelnen ansinnt, gerade dessen Besonderheit und Individualität igno75 Cicero 1976, I, 20 (67), und I, 36 (130). 76 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, zit. nach Akademie-Ausgabe, Bd. 4, Berlin 1911, S. 434. 77 Kant, GMS, S. 433.
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riert. Menschen besitzen den Status nur insofern, als sie reine Subjekte und damit voneinander ununterscheidbare Exemplare der Gattung, also eigentlich austauschbar sind. Das Modell des „Reichs der Zwecke“, als Surrogat einer ethisch-politischen Ordnung, rechnet zwar mit der Besonderheit der Person und ihrem Verhältnis zu anderen, aber nur im Raster der allgemeinen Prinzipien. Allein als Repräsentant der Gattung, als homo noumenon besitzt der Mensch Würde. Kraft der Gattungszugehörigkeit ist die Person absolut gesetzt und zugleich wird ihre individuelle Erscheinungsweise als gleichgültig erachtet, sofern sie sich nur den Forderungen der Vernunft fügt. So kehrt noch in Kants universalistischem Konzept der Würde die Doppeldeutigkeit des Begriffs wieder, sofern Autonomie einerseits eine Auszeichnung der Gattung ist und den einzelnen als Gattungswesen betrifft, andererseits aber die realisierte Autonomie als Bedingung der Würde verstanden werden kann und so der Status an eine konkrete Leistung gebunden wäre.78 Während die universalistisch-generische Auffassung eine paradoxe Identität von Einzelnem und Gattung präsupponiert, ist im Rahmen der teleologischen Ethik dieser Zusammenhang zur Disposition gestellt. Nur indem der Einzelne sich in der Gemeinschaft bewährt und deren ethischen Standards durch Charakterbildung und entsprechende Klugheit gerecht wird, erwirbt er eine graduell zu verstehende Würde. Als Mitglied dieser Gemeinschaft trägt er aber zugleich dazu bei, ethische Standards zu konkretisieren und dem kollektiven Wir der Gemeinschaft eine Gestalt zu geben. In dieser Reziprozität von Einzelnem und Gemeinschaft vollzieht sich menschliche Praxis und dementsprechend tragen auch die darin erworbenen Statusattribute einen Zeitindex. Nach Kant gilt der Status der Würde dagegen absolut und zeitunabhängig. Lediglich in seiner Geschichtsphilosophie findet sich ein Motiv, das dann mit dem Durchbruch des geschichtlichen Denkens im 19. Jahrhundert besondere Bedeutung erlangt. Der Mensch exekutiert weder in der Geschichte einen vorgegebenen Plan der Natur, noch ist er nur das Produkt der Umstände, sondern er entwickelt sein Vernunftpotential in eigener Regie. Die Entwicklung der Vernunft kann nur aufgrund einer Leistung bewältigt werden, die er sich selbst zuschreiben kann. Darauf basiert die Idee des Selbstentwurfs, die den Neuhumanismus Herders leitet und die der Frage nach der Bestimmung des Menschen eine anthropologische Wendung verleiht. Entscheidend ist dabei, dass nicht die universalistische Moral, sondern das Konzept der Bildung die Konturen des Entwicklungsprozesses vorzeichnet.79 Humanität ist keine ontologische Kennzeichnung einer Gattung, sondern in der allgemeinen Bedeutung Inbegriff einer Entwicklungsmöglichkeit, die sich in mannigfachen Formen, in einzelnen Individuen und in Nationen manifestiert. Als bloße Möglichkeit ist sie 78 In dieser Hinsicht wird der Doppelsinn des Würdebegriffs erörtert bei Ottmann 1998. 79 Herder 1887, 9. Buch, I.
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jedoch noch vollkommen unbestimmt. Sie gewinnt erst in der Geschichte Gestalt durch den Traditionszusammenhang einer unendlichen Progression, in der sich die Menschheit in den unterschiedlichsten Formen artikuliert. Picos Gedanke, dass der Mensch sich selbst formt, wird so in eine geschichtliche Dimension gerückt. Hier deutet sich eine Auffassung der Gattungsidentität an, die nicht auf eine abstrakte Qualität zurückzuführen ist und zugleich gibt sich im Umriss eine Auffassung des Einzelnen zu erkennen, der nicht bloß als Exemplar der Gattung gilt. Vielmehr wird umgekehrt die Gattung nur exemplarisch durch die Einzelnen fassbar. Diese Verbindung von allgemeiner Gattungsbestimmung und individueller Leistung ist kein Rückfall in ein antikes Verständnis, sondern bildet im Ansatz ein drittes Paradigma von Menschenwürde, in dem Gattungsidentität und Individualität in Beziehung treten. Damit gewinnt der Begriff der Würde wieder die anthropologische Tiefenschärfe, die für Picos Entwurf maßgebend war. Unklar bleibt indes, wie die generische Bestimmung und der Status des Einzelnen verbunden sind. Um die Ambivalenz des Begriffs der menschlichen Würde zu klären, muss der anthropologische Kern dieses Konzeptes freigelegt werden. So erscheint das fragliche Verhältnis von Einzelnem und Gattung, in das der Begriff der menschlichen Würde eingewoben ist, in neuer Beleuchtung. Der anthropologische Zugriff mündet nun nicht etwa in eine ahistorische Bestimmung des Menschen, sondern geht von der konstitutiven Geschichtlichkeit des Menschen aus. Nietzsche nennt den Menschen bekanntlich „das noch nicht festgestellte Tier“80. Es lässt sich weder auf eine absolute Bestimmung zurückführen noch erschöpft sich Menschsein darin, bloßes Produkt der kontingenten historischen Umstände zu sein. Hier setzt die moderne Anthropologie an. Im Unterschied zu allen anderen Lebewesen ist der Mensch durch einen unaufhebbaren Abstand zu sich selbst gekennzeichnet. Der Mensch ist, in Plessners Worten, in die Mitte seiner Existenz gestellt und weiß um diese Mitte, das heißt, er ist über sie hinaus, er lebt exzentrisch, und ist deshalb gerade in seinem Menschsein nicht mehr zu vergegenständlichen.81 „Der homo absconditus, der unergründliche Mensch, ist die ständig jeder theoretischen Festlegung sich entziehende Macht seiner Freiheit, die alle Fesseln sprengt, die Einseitigkeiten der Spezialwissenschaften ebenso wie die Einseitigkeiten der Gesellschaft.“82 Dieser Status des Menschen ist eine Vorbedingung menschlicher Würde, sofern damit eine klare Grenze gegenüber jedem Versuch einer Naturalisierung oder einer Moralisierung des Menschenbildes gezogen wird. Er ist zugleich auch in positiver Bedeutung die Behauptung der Würde selbst, sofern nur ein Wesen, das zu sich selbst Abstand besitzt und folglich keine ungebrochene Identität verkörpert, um ein 80 Nietzsche 1988, S. 81. 81 Plessner 2003a, Kap. 7, 1. 82 Plessner 2003d, S. 134.
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Selbstbild sich bemühen kann und muss. Dessen Versicherung unter Bedingungen permanenter Unsicherheit macht erst Würde möglich. „Würde besitzt allein die gebrochene Stärke, die zwischen Macht und Ohnmacht gespannte zerbrechliche Lebensform.“83 Indem der Mensch unter biologischem Gesichtspunkt als defizitär, als Mängelwesen erscheint, muss er als Kulturwesen begriffen werden. Seine Ergänzungsbedürftigkeit manifestiert sich darin, dass er Stellung nehmen muss: handelnd in Bezug auf die Welt und formend in Bezug auf sich selbst. Er ist das Wesen, das sich erst zu etwas macht.84 Dieser Bezug gestaltet sich jedoch nicht als planmäßige Selbstproduktion, sondern steht in der Spannung einer unaufhebbaren Differenz oder Nichtidentität. Die Möglichkeit der Stellungnahme zu sich gründet im Unterschied des deutenden und des gedeuteten Ich. Der Mensch ist Individuum, als solches aber immer zugleich über sich hinaus, er ist zur ort- und zeitlosen Rolle dessen verpflichtet, der sich selbst verstehen muss. Das bedeutet, der Einzelne ist Individuum nicht nur im Sinne einer kontingenten naturwüchsigen Entität, aber auch nicht als Subjekt, das nur numerisch individuiert ist, sondern als sich selbst deutendes Wesen; seine Einzigartigkeit verdankt sich seinem Selbstverständnis. Deshalb ist der Mensch durch eine notorische Unbestimmtheit gekennzeichnet. Das menschliche Dasein ist fragmentarisch, da es nur unter der Voraussetzung der Unbestimmtheit seine Bestimmung zu finden vermag. Dennoch ist „Menschsein“ keine Leerformel. Dass der Einzelne sich in Bezug auf die Gattung versteht, ist bereits ein markantes Merkmal, das den Menschen, so weit bekannt, von anderen Lebewesen hinreichend unterscheidet. Der Mensch kann sich selbst nur im Hinblick auf eine umfassendere Bestimmung, auf ein Spektrum an Möglichkeiten begreifen, das als Gattungsidentität unterstellt wird. Der Einzelne ist ein unvollkommener Repräsentant der Menschheit und betrachtet sich im Licht dieser Allgemeinheit als besondere Persönlichkeit. Ohne den Gattungsbezug bleibt eine auf Selbstdeutung gegründete Existenz unter ihrem eigenen Anspruch. Worin diese Gattungsqualitäten bestehen, lässt sich indes nicht definitorisch festlegen; in den kulturellen Manifestationen des Menschseins wird jedoch exemplarisch anschaulich, worin diese bestehen können. Für weitere Bestimmung ist der Gattungsbegriff immer offen. Dass diese nicht völlig beliebig ist, garantiert die dem Bezug auf die Gattung korrespondierende normative Erwartung, dass das Individuum der Aufgabe, sein Leben zu führen und seine Kräfte entsprechend zu entwickelt, gerecht wird. Würde beruht auf einer normativ gehaltvollen Selbstinterpretation, die sich gegebenenfalls über widrige Umstände hinwegsetzt.85 Der Bezug auf eine Gattungsidentität, die dem empirischen Geschehen entzogen ist, verbürgt den Status des 83 Plessner 2003c, S. 416. 84 Gehlen 2004, S. 32. 85 Die Idee der Selbstdeutungskompetenz verfolgt auch Leist 2005.
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Menschseins auch dann, wenn die Würde des Einzelnen von anderen in Frage gestellt wird oder wenn er persönlich versagt. Andererseits gründet in der generischen Auffassung auch die Erwartung, dass sich der einzelne seiner Würde entsprechend verhält und sein Potential entwickelt. So zeigt sich gerade in Fällen der gefährdeten Würde, dass sich die pauschale Statusbestimmung und die normative Erwartung als Momente des Konzepts menschlicher Würde gegenseitig bedingen. Nur unter diesen Prämissen kann der Begriff menschlicher Würde widerspruchsfrei gedacht werden. Während in universalistischer Betrachtung die Statusbestimmung in den Vordergrund gestellt und aufgrund der Identifikation von Person und Gattungsidentität das individuelle Schicksal ausblendet wird, kann sich eine auf konkrete Anerkennung fixierte Konzeption, da sie auf das jeweilige Gruppenethos rekurriert, hinsichtlich des damit verbundenen normativen Anspruches nicht mehr ausweisen. Eine anthropologische Perspektive vermag dagegen die Entfaltung des Individuums im Horizont einer Gattungsbestimmung zu artikulieren. Für die Idee der Menschenwürde ist gerade dieser Zusammenhang von fundamentaler Bedeutung, denn weder in individueller Leistung noch in einem imaginären Reich der Zwecke lassen sich Normen für den Umgang mit ethischen Differenzen verankern. Das endliche Dasein des Menschen, seine anthropologische Grundbefindlichkeit kann nicht ausgeklammert werden, wenn eine gemeinsame Basis der Verständigung gefunden werden soll. Sie ist vielmehr die Bedingung seines Bezugs auf die Gattungsidentität. Weil menschliche Selbstdeutung diese Verbindung des konkreten Lebens mit den Rahmenbedingungen voraussetzt, gelingt sie nur im Überlieferungszusammenhang einer Kultur. In diesem Sinne, das heißt bezogen auf die Gattungszugehörigkeit, ist die Würde auf Selbstdarstellung oder Repräsentation gegründet.86 Entscheidend ist die Anerkennung des jeweiligen individuellen Selbstverständnisses als Modus eines menschlichen Selbstbildes. Die rechtlichen Auswirkungen dieses Verständnisses von Würde machen sich vor allem hinsichtlich des Schutzes des Einzelnen bemerkbar, indem dieser den Schutz beanspruchen kann, der grundsätzlich dem Selbstverständnis eines sich selbst verstehenden Wesens entspricht. Es bedarf dazu keiner allgemeinverbindlichen Festlegung des Gattungsverständnisses, da nicht besondere Gattungsqualitäten, sondern die reflexive Selbstdeutung als solche das schützenswerte Gut darstellt. Während das Menschsein dabei eine formale Kategorie bleibt, deren Bestimmung nur in individueller Selbstdeutung gewonnen wird, muss es doch Grenzen des Anspruchs geben, der mit Selbstdeutung erhoben wird. Nicht jedes Selbstbild ist akzeptabel; gesellschaftliche destruktive Selbstdeutungen sind ebenso auszuschließen wie pathologische Formen. Unerachtet der prinzipiellen Deutungsoffenheit des Menschseins ist das Selbstbild grundsätzlich von der Kommunikation nach außen und der
86 Seelmann 2004, S. 129 ff.
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Anerkennung durch Andere nicht abzulösen. Daraus ist nicht zu folgern, dass der Einzelne aufgrund einer nicht akzeptablen Selbstrepräsentation sich disqualifiziert. Auch die defizitäre Selbstdeutung und ebenso die nichtexplizite Repräsentation, die durch das bloße Erscheinen erfolgt,87 rechtfertigen den Anspruch auf Würde. Der Willkür eines individuellen Selbstentwurfes sind damit dennoch Grenzen gesetzt. Letztlich sind es kulturelle Standards, die den Maßstab dessen vorgeben, was als schützenswertes Selbstbild gelten kann. Deshalb ist es keine redundante Bestätigung dessen, was ohnehin gilt, wenn Verfassungen sich auf das Prinzip der Menschenwürde berufen. Sie setzen diese nicht nur als Leitidee voraus, sondern tragen zugleich zu deren Konkretisierung bei. Der Mensch ist zôon politikon, das politische Lebewesen, das erst im Miteinander einer gemeinsam errungenen Ordnung seinen Halt findet. Die normative Kraft des Begriffs der Würde verdankt sich indessen nicht allein den jeweiligen gegebenen Verhältnissen, sondern transzendiert diese. Das Transzendieren ist jedoch nicht der Sprung in eine ganz andere Welt, es bleibt negativ auf seine Herkunft bezogen. Dies ist seine Bestimmung. Ob damit eine Instanz vorausgesetzt werden muss, die diese Transzendenz verkörpert, kann offenbleiben. Unerachtet ihrer Genese, ihrer Entstehungsgeschichte im Kontext der christlichen Theologie, ist die Geltung der im Begriff der Würde ausgesprochenen normativen Erwartung nicht von der Voraussetzung eines Stifters der menschlichen Würde abhängig. Menschliche Würde ist kein Privileg, das sich der Entscheidung einer übergeordneten Instanz verdankt. Der Rechtstitel der Menschenwürde bezieht sich auf den Menschen nicht nur als Objekt, sondern als Subjekt von Handlungen. Er setzt nicht nur der Behandlung des Menschen durch andere eine Grenze, sondern prägt ihr eigenes Handeln. Eine bloß verliehene Würde kann diesen Status nicht stiften. Das normative Richtmaß liegt in der Gattungsbestimmung. Sie dient zunächst in formaler Hinsicht als Korrektiv aller willkürlichen Begrenzungen. Der Einwand mangelnder Verallgemeinerbarkeit bietet freilich nur ein negatives Resultat, eine positive Bestimmung des Menschen ist darin nicht zu erkennen. Angesichts der Bedenken gegen eine Konzeption von Würde, die sich als Subsumtion des Einzelnen unter einen Gattungsbegriff versteht, erweist sich der Verzicht auf eine positive Bestimmung nicht als Mangel, sondern als Vorteil. Ein negativ veranschlagter Universalismus setzt klare Grenzen gegen die Versuche, die Kompetenz der Selbstdeutung, die als Fundament des Statusbegriffs menschlicher Würde ausgemacht wurde, zu desavouieren. Die programmatische Selbstermächtigung des Menschen, die in der Anthropotechnik die scheinbar unbegrenzten Gestaltungsmöglichkeiten des künftigen Menschenbildes preist, übersieht, dass gerade die Fähigkeit, sich selbst zu deuten und weitere Deutungsmöglichkeiten
87 Seelmann 2004, S. 131.
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auch künftig offen zu lassen, damit gefährdet würde. Was der Mensch im Ganzen ist, steht nicht dem planenden Kalkül zu Verfügung. Die Voraussetzung der Deutungskompetenz steht so wie eine transzendentale Bedingung der Möglichkeit hinter jedem konkreten Entwurf. Der mit dem Gattungsbegriff verbundene universale normative Anspruch ist immer dann einzuklagen, wenn die Versuche der Selbstdeutung des Menschen unterminiert werden, wenn das Bemühen um ein positives Selbstbild nicht nur verhindert, sondern der Andere in seinem Scheitern noch zur Schau gestellt wird wie im Falle offensiver Erniedrigung und Verachtung. Eine Verletzung der Würde stellt keine übliche Normverletzung dar, sondern betrifft die Identität eines Menschen. Diese Grenzziehung ist entscheidend, um den Begriff gegen seine Aushöhlung zu sichern. Zusammenhang und Differenz der individuellen und der generischen Würde werden vor diesem Hintergrund greifbar. Würde kann dem Einzelnen nur kraft des Gattungsbezugs zugeschrieben werden und die Gattungsidentität verweist wiederum auf die Deutungskompetenz der Individuen. Der Eingriff in die Selbstdeutungsfähigkeit kann der Tendenz nach unterschiedlich ausfallen, indem er eher einen Einzelnen oder symbolisch eine Gruppe oder die Gattung als Ganze betrifft. Im ersten Falle ist das ethische Umfeld in der Regel noch intakt und dient als Basis normativer Urteile, im zweiten Falle dagegen ist das normative Repertoire gefährdet. Im Extremfall droht das Selbstbild der Menschen insgesamt zu erodieren. Die Selbstdeutungskompetenz ist nicht nur das Charakteristikum des Menschen, sondern auch die Basis wechselseitigen Verstehens. Rechte und Ansprüche erwachsen dem Einzelnen daraus nur insofern, als er sich im Hinblick auf eine Gattungsidentität erklärt. Alle Versuche, eine Bestimmung dieser Gattungsidentität im positiven Sinne festzulegen, – von der Gottesebenbildlichkeit über das kantische Konzept der Autonomie bis zu naturalistischen Konzepten –sind jedoch zum Scheitern verurteilt, weil damit die Offenheit des menschlichen Daseins verleugnet wird. Nichts, was das menschliche Dasein betrifft, kann per definitionem aus dem Skopus der für Fragen der Würde sensiblen Phänomene ausgeschlossen werden. Jede Konzeption von Gattungsidentität mit Absolutheitsanspruch absorbiert das Potential ethischer Orientierung und betrachtet damit alle Fragen der Identität als erledigt, das heißt, sie erklärt Deutung für überflüssig. Dass auch dies noch eine Deutung darstellt, bildet den blinden Fleck absoluter Gattungsbegriffe. Dennoch ist der universalistische Horizont unverzichtbar. Er markiert den maximalen Deutungsrahmen, innerhalb dessen konkrete Selbstbilder sich entfalten können und bildet damit ein Regulativ gegen alle dogmatischen Beschränkungen des Blickwinkels. Mit dem negativen Universalismus ist ein Standard ethischer Selbstbestimmung gesetzt. Die Qualität ethischer Orientierung lässt sich nicht zuletzt daran abschätzen, ob und wie sich eine Gemeinschaft auf einen universalistischen Fluchtpunkt hin verständigt. Normativ entscheidend ist nicht der Konsens, sondern die Möglichkeit der
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Kontroverse sub specie eines negativen Universalismus. Ihm entsprechen diejenigen Lebensformen, in denen die Frage nach dem Menschen ganz uneingeschränkt und radikal, das heißt in Bezug auf die Gattungsidentität gestellt werden kann. Dieses offene Ethos ist der Raum menschlicher Selbstbestimmung. Würde hat so die doppelte Bedeutung einer generischen Kennzeichnung eines bestimmten Status einerseits und der an den Einzelnen gerichteten normativen Erwartung andererseits. Die Statusbestimmung gilt grundsätzlich bedingungslos für alle, die einer Gattung zugerechnet werden können und ist nicht an eine bestimmte Leistung oder eine Fähigkeit gebunden. Sie hat vorrangig eine Schutzwirkung für das Individuum gegenüber Eingriffen anderer. Gewiss muss, wer anerkannt sein will, bestimmten Kriterien genügen. Aber diese sind nicht als konkrete Erwartungen einzuklagen. Es handelt sich dabei vielmehr um Erwartungen zweiter Ordnung, um Erwartungen von Erwartungen, die darin bestehen, dass das Individuum Erwartungen an sich selbst stellt, dass es bestimmte normative Ansprüche in dem Maße entwickelt, in dem es zur Selbstdeutung in der Lage ist. Die Befähigung, dieser Erwartung zu entsprechen, wird damit unterstellt, aber nicht als Bedingung für die Schutzwirkung der Statusbestimmung gesetzt. Nicht immer können diese Erwartungen de facto von den Individuen erfüllt werden. Sie verlieren deshalb aber nicht ihren Würdeschutz. Nur ein Wesen, das grundsätzlich eine im normativen Sinne unantastbare Würde besitzt, kann sich würdelos verhalten. Hier bestätigt sich die bereits in den begriffsgeschichtlichen Anfängen registrierte Doppelbedeutung des Konzepts menschlicher Würde. Dabei handelt es sich jedoch recht besehen nicht um eine Inkonsistenz, sondern um den Reflex des Beziehungsgefüges, in dem der Einzelne als Subjekt der Würde steht. Die normative Dignität des Menschseins verdankt sich dem Bezug auf die Gattungsidentität einerseits und der Erfüllung dieser Rolle durch den Einzelnen andererseits. So betrachtet ist die Ambivalenz des Begriffs der Würde kein Mangel, sondern eine unverzichtbare Begleiterscheinung der vermittelnden Funktion des Begriffs in der Spannung von Einzelheit und Allgemeinheit.
2.) Personen der Handlung Ein ganz anderer Status des Einzelnen wird mit dem Begriff der Person apostrophiert. Der in den gegenwärtigen ethischen Diskussionen fundamentale Begriff der Person situiert den Menschen als freie Existenz im Gefüge der sozialen Welt. Eine Person ist kein Kompositum, sondern ein einheitliches Ganzes, ein sowohl körperliches als auch geistiges Aktzentrum, das sich als solches versteht. So betrachtet steht der Begriff für eine Rolle. Damit ist indes keine konkrete soziale Rolle, sondern der Inbegriff aller Rollen, die Rolle des Akteurs schlechthin gemeint, die sich
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durch Handlungsfähigkeit auszeichnet. Eine Person ist das Subjekt der Zuschreibung von Handlungen und Entscheidungen.88 Dies ist die Minimalbestimmung des Begriffes, die dort ausreichend scheint, wo er in einem handlungstheoretischen Sinne gebraucht wird und nicht mit normativen Ansprüchen verbunden wird. Dass er als ein moralphilosophischer Fundamentalbegriff gilt, kann mit dieser Minimalbestimmung des Begriffs allein nicht plausibel gemacht werden. Seine stärkste Interpretation findet er dort, wo er den moralischen Status des Menschen als unantastbares, mit einer Reihe von elementaren und unveräußerlichen Rechten ausgestattetes Wesen versteht. Diese Identifikation von Mensch und Person wird weitgehend als Selbstverständlichkeit betrachtet, eine Setzung, die sich bei näherer Betrachtung als fragwürdig erweist. Obgleich auch umgangssprachlich mit dem Begriff ausschließlich Menschen bezeichnet werden, ist diese Verknüpfung nicht zwingend. Das moderne Privatrecht hat eine funktionale Konzeption des Begriffs entwickelt. Hier steht die Rechtsfähigkeit im Zentrum, die in der Regel durch das positive Recht definiert wird. Status und Anspruch einer Rechtsperson ergibt sich ausschließlich aus den rechtlichen Bestimmungen in Gestalt der subjektiven Rechte und Rechtspflichten. Auch andere Instanzen wie Gesellschaften und Organisationen kommen als Personen in Betracht, sofern ihnen Handlungen zugeschrieben werden können. Der im Recht entwickelte Begriff der „juristischen Person“, im Unterschied zum Konzept der „natürlichen Person“, bezieht sich in diesem Sinne auf eine rechtsfähige Körperschaft, die selbst handeln kann oder in deren Namen bestimmte Organe handeln. Den Status des Einzelnen definiert die für das Privatrecht fundamentale Differenz zwischen Person und Sache. Qualifikationsmerkmal von Personen ist im Allgemeinen die Fähigkeit, Rechte und Pflichten wahrzunehmen und Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen. Im Medium des Rechts besteht die Funktion des Begriffs im Wesentlichen darin, Personen von Sachen abzugrenzen als rechtsfähige Wesen, die Rechte und Pflichten wahrnehmen können, das heißt zurechnungsfähig sind und insofern einen besonderen Status beanspruchen können. Eine Person genießt nicht nur rechtlichen Schutz, sie stellt vielmehr selbst eine konstitutive Bedingung des Rechts dar. Ohne die Existenz von Wesen, die Rechtssätze anerkennen und Regeln befolgen, ohne Adressaten der Rechtsnormen wäre die Idee des Rechts sinnlos. Die intersubjektive Dimension, die Bedingungen der rechtlichen Beziehung der Personen untereinander und die mit dem Personsein verbundenen Rechte werden unmittelbar durch die Zuweisung des Personenstatus gestiftet. Die Begrifflichkeit des Rechts verleitet zu der Auffassung, dass die Identifikation von Menschsein und Personsein aufgrund der expliziten Abstraktheit der rechtlichen
88 Diesen normativen Kern des Begriffes hat Hobbes herausgehoben (Hobbes 1839, Kap. XVI).
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Bestimmungen nicht eigens thematisiert werden muss. Trotz der Unterscheidung zwischen natürlichen und juristischen Personen, die streng genommen eine kategoriale Differenz zwischen Menschen und Personen insinuiert, gilt stillschweigend die Übereinkunft, dass unter natürlichen Personen Menschen zu verstehen sind. In den Grundrechten moderner Verfassungen und insbesondere des Grundgesetzes ist die Person jedoch nicht nur funktional interpretiert, sondern manifestiert die normative Grundlage des Gemeinwesens. Die Idee der Würde des Menschen repräsentiert diese nicht weiter zu begründende sittliche Basisüberzeugung, die den Ursprung aller Legitimität, ja auch des Rechts selbst bildet. Theoretisch ist dieser Zusammenhang jedoch nur rudimentär entwickelt und im moralphilosophischen Begriffsgebrauch kann diese begriffliche Kongruenz von Mensch und Person keine Evidenz beanspruchen. Die Versuche, einen Ableitungszusammenhang zwischen Personsein und menschlichem Leben zu rekonstruieren, laufen ins Leere, sofern die normative Auszeichnung des Personenstatus notgedrungen mit Kriterien operiert, die nicht von allen Exemplaren der menschlichen Gattung erfüllt werden. Entweder wird so der Personstatus dadurch unweigerlich zu einem Privileg, das nach mehr oder weniger arbiträren Kriterien verliehen wird, oder der mit dem Personbegriff erhobene Anspruch wird postulatorisch auf alle Exemplare der biologischen Gattung übertragen, ohne dass dieser Extension des Begriffs und die Überlagerung normativer und deskriptiver Konzepte thematisch ausgewiesen oder gar begründet wird.89 Für die Belastbarkeit des Personbegriffs und letztlich für das Selbstverständnis rechtlich verfasster, an Grundnormen orientierter Gemeinwesen ist dieser Zusammenhang von vitaler Bedeutung. Eine Prüfung der Tragfähigkeit dieses Konzepts lässt sich schwerlich ohne Rekurs auf die philosophische Vorgeschichte vornehmen. Die Vergegenwärtigung der Begriffsgeschichte liefert wichtige Hinweise für die Einschätzung des semantischen Spielraums, in dem ein zeitgemäßer Begriffsgebrauch veranschlagt werden kann. Der gegenwärtige philosophische Gebrauch des Begriffes schreibt diesem eine umfassende Bedeutung zu. Personsein gilt in gegenwärtigen Ethikdebatten als Inbegriff einer normativ geschützten Existenzweise. Mit dem Personenstatus werden im Allgemeinen die moralische Autonomie des Menschen, die menschliche Würde und die mit dem natürlichen Dasein des Menschen vorausgesetzten Menschenrechte verbunden. Die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Begriff in Anspruch genommen wird, steht indes in einem deutlichen Missverhältnis zu seiner gleichzeitigen Erosion. Die ungeklärte Problematik der Identität einer Person im Wandel der Zeit 89 Diese vermeintliche Privilegierung der Exemplare der Spezies „Mensch“ kritisiert Peter Singer als Speziezismus und versucht den Status des Personseins an die Voraussetzung bestimmter kognitiver Leistungen zu binden wie Reflexionsfähigkeit und Intentionalität (Singer 1984, S. 120 ff.).
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stellt das Konzept grundsätzlich in Frage. So kann es nicht überraschen, dass bisweilen auch nahegelegt wird, auf den Begriff in moralischer Bedeutung völlig zu verzichten.90 Offen ist, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um den Personenstatus zu erlangen. Die kontroverse Debatte darüber, ob der Status einer Person dem Menschen qua Gattungszugehörigkeit zukommt oder nur aufgrund bestimmter Fähigkeiten verliehen wird, bringt den aporetischen Grundzug des Personenbegriffs zum Ausdruck. Es ist unplausibel, dass die Gattungszugehörigkeit des Menschen den Personenstatus verbürgt und ebenso unplausibel, dass dieser aufgrund bestimmter Fähigkeiten oder Leistungen verliehen wird. Offensichtlich versteht es sich nicht von selbst, dass Menschen Personen sind. Um zu klären, unter welchen Bedingungen Menschen als Personen adressiert werden können, müssen die Implikationen des Begriffs deutlich werden. Diese lassen sich in Gestalt begrifflicher Problemkonstellationen rekonstruieren. Sie bringen den Ertrag, aber auch die Hypotheken ans Licht, die den Begriffsgebrauch bis heute belasten. In der antiken Vorgeschichte ist der Begriff zunächst nur von marginaler Bedeutung. „Persona“ ist die Übersetzung des griechischen πρόσωπον und bezeichnet zunächst nur die Maske des Schauspielers im Theater. Von dieser Vorstellung ausgehend wird der Begriff übertragen auf die Rolle eines Menschen im gesellschaftlichen Kontext.91 Auch die Gerichtsrhetorik nimmt in Analogie zum Theater den Begriff auf. So werden damit generell handlungsbezogene Funktionen bezeichnet, die nicht mit dem Träger derselben identisch sind. Prägend ist die durch Cicero überlieferte Rollentheorie des Stoikers Panaitios, der mit dem Terminus πρόσωπον Maske und Rolle gleichermaßen anspricht.92 Zwei Rollen, so heißt es, sind uns von Natur aus gegeben, das generelle Menschsein kraft unserer Vernunftnatur und die dem Einzelnen zugeteilte konkrete Rolle, sein Charakter. Eine dritte Rolle wird durch Zufall und äußere Umstände bestimmt wie Ämter und sozialer Stand und ähnliche Faktoren; die vierte geben wir uns selbst durch unsere eigene Einschätzung. Diese zunächst eher unsystematisch erscheinende Aufzählung unterscheidet genau die Momente, die im späteren Personenbegriff wiederauftauchen. Die generische Bestimmung des Menschen und die Individualität sind dabei auf eine schwer durchschaubare Weise verschränkt. Die moralische Qualität einer Person scheint indes gerade auf dieser Auszeichnung eines Einzelnen als eines Repräsentanten der Gattung zu beruhen, ohne dass dieser Zusammenhang als geklärt gelten könnte. Der gesellschaftliche Status und die Selbsteinschätzung sind ebenfalls konstitutiv für das Konzept der Person im modernen Sinne. Die konkrete soziale Anerkennung und das individuelle Selbstbild sind nun jedoch transformiert in das prinzipielle An90 Birnbacher 1997, S. 9 ff. 91 Fuhrmann 1979. 92 Cicero 1976, I, 107 ff., 115 ff.
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erkanntsein des jeweils Anderen als Person beziehungsweise die mit dem Personsein verbundene Selbstachtung. Obgleich mit diesen Kriterien naturrechtliche Ansprüche verbunden sind und der Begriff der Person nicht-individualistisch veranschlagt wird, werden damit implizit individuelle Leistungen, insbesondere die Fähigkeit rationaler Selbstbestimmung unterstellt, die den selektiven Gebrauch des Begriffs nahelegen, das heißt, einen natürlichen Zusammenhang zwischen Menschsein und Personsein bestreiten. Die ungeklärte Beziehung der Aspekte dieses Begriffs und ihre Spannung untereinander machen sich bis in die gegenwärtigen Debatten bemerkbar. Die Ambivalenz des Begriffs ist indes kein Defizit, sondern markiert die Funktion des Personseins als semantischer Ausdruck der sozialen Rolle. Auch im modernen Recht ist Personsein nicht Ausdruck der Subjektivität oder Individualität, sondern bildet eine variable gesellschaftliche Kompetenz ab.93 Eine weiterer Ausdifferenzierung des Begriffs erfolgt in der Grammatik, in deren ersten Lehrbüchern in Anlehnung an den Personenbegriff der Tragödie und den dort seit Sophokles etablierten drei Personen die Unterscheidung der ersten, zweiten und dritten Personen vorgenommen wird gemäß den Sprachrollen dessen der spricht, zu dem gesprochen und über den gesprochen wird.94 Dieses Schema dient als heuristische Hilfe bei der Lektüre literarischer Dialoge, indem es dazu anleitet, die Sprecherperspektiven zu unterscheiden. Auch an Platons Dialogen wird das Modell der griechischen Grammatiker exemplifiziert. Mit der Übertragung auf die christliche Bibelexegese wird die dreifache Unterscheidung der Personen zu einer zentralen Figur der Trinitätslehre und der Christologie. Dieser Tradition verdankt der Begriff seine besondere Bedeutungstiefe. Die neueren Untersuchungen zum Personenbegriff erinnern zu Recht an die Bedeutung des christlichen Denkens, das fraglos das moderne Verständnis ganz entscheidend geprägt hat.95 In den Schriften Tertullians ist dieser Schritt dokumentiert. Die Unterscheidung zwischen der Sprecherrolle, dem Adressaten und der Person, über die gesprochen wird, ist das entscheidende Interpretament der Textstellen, in denen Gott als Sprecher auftritt.96 Dieses heuristische Schema verbindet Tertullian mit der Identifikation der drei Rollen von Gott Vater, Sohn und heiligem Geist. Die prosopographische, die Sprecherrollen differenzierende Analyse der biblischen Texte führt zu dem die christliche Theologie herausfordernden Modell einer göttlichen Substanz in drei Personen.97 Auch in der Christologie erweist sich der Begriff als hilfreich. In der drängenden Frage nach der Vereinbarkeit von menschlichem und göttlichem Sein bietet der Personenbegriff eine handhabbare Formel. Christus ist Mensch und Gott
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Jakobs 1995, S. 843 ff. Die älteste bekannte Fassung dieser Unterscheidung stammt von Thrax 1883. Hervorzuheben sind die Untersuchungen von Spaeman 1998, und Kobusch 1997. Tertullian 1954, XI 4. Tertullian 1954, XII 1ff.
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in einer Person.98 Die Unbestimmtheit des Personenbegriffs erweist sich dabei als Vorteil, weil damit theologische Konflikte, die brisanten grundsätzlichen Fragen der Trinitätslehre und der Christologie, entschärft werden können. Der Begriff der Person verdeckt aufgrund seiner notorischen Vagheit die Paradoxien der Dreifaltigkeit und der Doppelnatur des Gottessohnes und bietet einen Formelkompromiss, der unterschiedliche Auslegungen zulässt. So geht der Begriff in die theologische Dogmatik ein. Diese Vieldeutigkeit wird jedoch in der weiteren Rezeptionsgeschichte zum Problem. Bereits Augustinus betrachtet in seinem grundlegenden Werk über die Trinitätslehre die Verwendung des Begriffs als eine Verlegenheitslösung und sucht, da ihm offenbar die ursprüngliche Bedeutung von „persona“ als „Rolle“ nicht mehr präsent ist, den Begriff metaphysisch zu deuten.99 „Person“ ist in Bezug auf die Trinität nicht nur als Gattungsbegriff zu verstehen, sondern bezeichnet die jeweilige Besonderheit der unterschiedlichen Erscheinungsweisen Gottes. Der Begriff steht jedoch auch nicht für die individuelle Substanz, denn in diesem Falle wäre die Trinität polytheistisch aufgefasst. Deshalb unterscheidet Augustinus zwischen den substantiellen Bestimmungen, die Gott als solchen betreffen, und den relationalen, die den drei Gestalten des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes zukommen.100 Der paradoxen Charakterisierung der Gestalten Gottes liegt damit einerseits ein allen gemeinsames abstraktes Personsein zugrunde und andererseits eine relationale Bestimmung der einzelnen Personen in Beziehung auf die anderen.101 Für Augustinus bleibt das Problem ungelöst, wie der Gattungsbegriff „Person“ zugleich die Identität des einen Gottes und die Besonderheit der drei Erscheinungsweisen zur Sprache bringt. So unzulänglich diese Redeweise für Augustinus sein mag, so folgenreich erweist sie sich für die Entwicklung des Personenbegriffs und dessen Ausweitung auf den Menschen, die historisch betrachtet eine Rückübertragung darstellt.102 Deutlich wird, dass der Begriff auf einer mittleren Ebene anzusiedeln ist zwischen der substantiellen Einheit und der abstrakten Gattungsbestimmung. Die relationale Auffassung hält diesen Schwebezustand aufrecht, indem sie Personsein als allgemeine Bestimmung aussagt, aber damit das Individuiertsein prädiziert. Diese Auslegung dient als provisorische Klärung, die in der scholastischen Theologie weiter differenziert wird. Die in der Trinitätslehre und der Christologie entwickelte Definition des Personenbegriffs wird per Analogie auf den Menschen bezogen. Personsein ist weder identisch mit der Essenz des Menschen, kann also nicht mit dem Gattungsbegriff 98 99 100 101 102
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Tertullian 1954, XXVII 11. Augustinus 2003, V 9, 10 ff. Augustinus 2003, V 8, 10. Kreuzer 2001, S. 63. Augustinus 2003, VII 4, 7.
gleichgesetzt werden, noch bringt es das individuelle Dasein eines einzelnen Menschen zum Ausdruck. Der Begriff bezeichnet ein unbestimmtes Mittleres, das als „individuum vagum“ logisch zwischen Gattungsbegriff und Eigennamen anzusiedeln ist.103 Damit ist die Wirkungsgeschichte des Begriffes in der Neuzeit vorgeprägt. Die auf theologischen Boden erfolgte Transformation des Personenbegriffs führt dazu, dass die Differenz zwischen Menschsein, Personsein und Individualität festgeschrieben wird. Die gerade von moraltheologischer Seite oft vertretene extensionale Äquivalenz von Mensch und Person findet auf diesem Hintergrund keine Plausibilität. Für eine ontologische Auszeichnung des Menschen als Person gibt es nicht nur keine Veranlassung; die Dignität des Menschen als Person beruht geradezu darauf, dass Menschen nicht per definitionem Personen sind. „Person“ ist aber ebenso wenig ein Gattungsbegriff, dessen Exemplare sich gemäß eindeutiger Kriterien wie etwa der Fähigkeit zu rationaler Entscheidung oder der Zukunftsbezogenheit identifizieren ließen. Auch diese Deutung dieses Konzeptes als sortaler Term verfehlt den Sinn des Personenbegriffs. Beide Auffassungen sind, trotz der postulierten normativen Konsequenzen, deskriptiv angelegt und werden deshalb der präskriptiven Bedeutung des Begriffes nicht gerecht. Diese ist eher zu fassen, wenn Person zunächst als Statusbestimmung verstanden wird, die jedoch nicht nach willkürlichen Selektionskriterien zu verteilen wäre, sondern im Gegenteil die Unverfügbarkeit ihrer Träger zum Ausdruck bringt. Diese moderne Prägung findet der Begriff der Person vor allem in Kants Philosophie. „Dass der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person…“.104 Diese Fähigkeit der Selbstzuschreibung von Bewusstsein markiert nicht nur die Grenze zwischen Personen und Sachen, sie ist auch Bedingung der Möglichkeit von Handlung und der Zurechnung von Handlung. Das identische Subjekt ist Person mit der Bedeutung, dass es als Bezugspunkt der Zurechnung von Handlungen begriffen werden kann. Die Möglichkeit der Kausalität aus Freiheit stellt die Voraussetzung dafür dar, eine Person als Urheber von Handlungen zu identifizieren. Der Personenbegriff steht für die enigmatische Verbindung eines empirischen, dem Mechanismus der Natur zugehörigen Daseins und einer intelligiblen Existenz, die sich durch die Autonomie erschließt. „Menschsein“ im normativen Gebrauch des Begriffes, soweit damit nicht nur die biologische Gattung gemeint ist, bedeutet nach Kant „Personsein“. Unter „Persönlichkeit“ versteht Kant dagegen das allen Vernunftwesen – nicht nur Menschen – eigene Selbstbewusstsein kraft reiner Vernunft.105 Im Unterschied zu „Person“ bezeichnet „Persönlichkeit“ nur einen Aspekt 103 Thomas von Aquin 1888, I, 30 4c. 104 Kant 1917, § 1. 105 Kant 1913a, S. 155.
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des Menschen, die Fähigkeit, den Willen kraft der Vernunft zu bestimmen, um durch Handlung entsprechenden Einfluss auf die Sinnenwelt zu nehmen. Trotz der Deutung des Menschseins als Personsein sind die Begriffe „Mensch“ und „Person“ nicht austauschbar. Der Terminus „Mensch“ gewinnt seine normative Bedeutung durch die Identifikation des Einzelnen mit der Menschheit. Dieser moralisch konnotierte Begriff muss jedoch bei Kant erst noch hinsichtlich seiner normativen Bestimmung ausgewiesen werden. Es ist die Selbstzweckformel, der die moralische Aufwertung des Menschen zu verdanken ist. Die entsprechende Formulierung des kategorischen Imperativs lautet: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“.106 Unter Menschheit kann genau genommen nur der Kreis der Personen einschließlich möglicher nicht-menschlicher Wesen verstanden werden. Humanistische Assoziationen wären in diesem Zusammenhang nicht begründet. Entscheidend ist der Zusammenhang zwischen der eigenen Person und der Person anderer. Zwar gilt grundsätzlich, dass alle selbstzweckhaften Wesen Respekt verdienen, doch kommt der Perspektive der ersten Person eine besondere Bedeutung zu, da die Aufforderung zu angemessenem Umgang mit sich und anderen nicht von einer übergeordneten Instanz, sondern vom Ich aus ergeht. So gewinnt die Person ihren normativen Rang durch die Idee der Autonomie des moralischen Subjekts. Das Konzept der Autonomie als Selbstgesetzgebung in Abgrenzung zum vagen Begriff der Selbstbestimmung ist nach Kant der Grundbegriff der Moralität. Seine unzweideutige Begriffsprägung ist fokussiert auf die Idee des Sittengesetzes, das sich allein der Autorität der eigenen Vernunft verdankt. Die Idee des kategorischen Imperativs, der die Vollzugsform der Vernunft im Praktischen darstellt, basiert auf der Unterscheidung inhaltlicher, also empirisch bedingter, und formaler, insofern vernünftiger Bestimmungen des Willens. Bis in die Konzeption des kategorischen Imperativs hinein setzt sich damit der fundamentale Dualismus fort, denn in der strikten Trennung von Natur beziehungsweise natürlichen Ursachen der Zwecksetzung einerseits und intelligiblen Prinzipien andererseits besteht die Pointe der Kantischen Moralität. Da dieser Ansatz Anthropologie und Moralphilosophie gleichermaßen zugrunde liegt, ist die Deutung des Menschen als Person ambivalent. Dass jede Verpflichtung auf ein praktisches Gesetz zurückzuführen ist, kann nicht als analytische Wahrheit gelten. Subjektives Sollen mag sich auch einem starken Wunsch oder einem übergeordneten Zweck verdanken, der gegen andere Tendenzen des Strebens durchgesetzt werden muss. Das moralische Sollen muss nach Kant dagegen durch ein Gesetz begründet sein, wenn anders der Unbedingtheit der Moralität Rechnung getragen werden soll. Deshalb gipfelt sein Moralitätskonzept in der
106 Kant 1911, S. 429.
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Identifikation des Subjekts qua Persönlichkeit mit der anonymen Gesetzeskraft der Vernunft. Der Einzelne hebt dabei jeden Unterschied zwischen sich und anderen Personen auf, betrachtet alle Subjekte gleichermaßen als Autoren des Sittengesetzes und als selbstzweckhafte Wesen. Diesem Standpunkt verdankt das Subjekt seinen ausgezeichneten Status als moralisches Wesen, das sich auf einen bestimmten Umgang mit sich und anderen Personen verpflichtet. Nach Kant ist nicht die reale Beziehung zu anderen, sondern die ideelle Allgemeinheit die Voraussetzung für den moralischen Umgang der Subjekte. Die rechtliche Beziehung der Personen wird dann als deren Konsequenz aus der moralischen Gleichheit derselben entwickelt. Die moralisch begründete Beziehung beruht allein auf der Logik des Gesetzes und seiner Allgemeinheit, die jeden natürlichen Abstand zwischen Ich und Anderem nivelliert. Die Einzelheit des Subjekts geht vollständig in der Allgemeinheit der Gesetzesbestimmung auf. Im Hinblick auf ihr Dasein als reine Vernunftwesen sind alle Personen austauschbar. Dies ist der Sinn der Formel von der Menschheit in der eigenen Person. Es ist augenfällig, dass mit der autonomen Willensbestimmung keine reale Beziehung zu anderen Personen angesonnen wird. Ebenso wenig kann von einer Gattungsidentität im eigentlichen Sinne die Rede sein, sofern nicht die Menschheit, sondern die idealisierte Person Referenzsubjekt der moralischen Vernunft ist. Die im Gedankenexperiment der Verallgemeinerung der eigenen Maxime vollzogene Operation besteht in der Gleichsetzung der eigenen Vernunft mit der allgemeinen. Schließlich soll gemäß dem kategorischen Imperativ die Willensbestimmung für jede beliebige Person konsensfähig sein. Die Person stellt in dieser Betrachtung eine Verbindung zwischen dem körperlich-seelischen Mechanismus des natürlichen Menschen und einer neutralen Vernunftinstanz dar. Das Zusammenspiel der neutralen Vernunft und der je besonderen natürlichen Anlagen und sozialen Prägungen macht den Charakter der Person aus, die insofern, wie bereits in der von Thomas von Aquin gezogenen Bilanz des christlichen Personenbegriffs festgestellt, eine mittlere Ebene zwischen der Allgemeinheit reiner Vernunft und der Individualität des jeweiligen empirischen Daseins einnimmt. Trotz der differenzierten Begrifflichkeit der Kantischen Moralphilosophie bleibt der Status der Person aber logisch wie praktisch betrachtet obskur. Der Mensch besitzt als Person eine metaphysische Qualität, da sein Personsein sich keiner in der Empirie zu beobachtenden Leistung, sondern der Wirklichkeit der Vernunft verdankt. Unstreitig besitzt diese Funktion aber ihr empirisches Korrelat. In seiner empirisch angelegten Anthropologie räsoniert Kant über die Tatsache, dass ein Mensch erst allmählich ein Ich-Bewusstsein entwickelt. Wenn nun der Status der Person an die Aktualisierung der Vernunft gekoppelt wäre, müsste die moralische Reflexion, sofern sie Pflichten gegen andere betrifft, zuvor deren Qualifikation als Vernunftwesen überprüfen. Wäre dieser Akt mit Einzelfallentscheidungen verknüpft,
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so käme dies mit einer Preisgabe der reinen Vernunft gleich. Also muss die Unterstellung des Personseins pauschal erfolgen. Der Terminus „Menschheit“, den Kant an dieser neuralgischen Stelle in die Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs einfließen lässt, übernimmt diese Funktion der Inklusion aller auf der Grundlage der Gattungszugehörigkeit. Damit verstellt sich Kant jedoch ein brisantes Problem seiner Moralphilosophie, dessen Folgen noch in den gegenwärtigen Diskussionen zu registrieren sind. Weder das Autonomiekonzept noch der Personenbegriff sind auf die Menschengattung beschränkt. Der suggestive Bezug auf die Menschheit überspielt die Frage, welche Wesen zur Gruppe der Personen zu rechnen sind. Prinzipiell sind damit alle Vernunftwesen ausgezeichnet. Ob dafür ein bestimmtes Reflexionsvermögen, ein entwickeltes Selbstbewusstsein, charakterliche Qualitäten im Hinblick auf die Durchsetzung der Vernunft und die Fähigkeit autonomer Entscheidungen erforderlich sind, lässt sich weder anhand der Kantischen Texte ermitteln noch zwingend aus deren Prämissen ableiten. Da Autonomie kein empirisches Faktum ist, lässt sie sich streng genommen überhaupt nicht überprüfen; sie kann nur unterstellt werden. Die Frage, in welchen Fällen sie unterstellt werden muss, kann jedoch nur mit pragmatischen Hilfskonstruktionen beantwortet werden, die den Unbedingtheitsanspruch der Kantischen Moralphilosophie empfindlich schwächen. Wenn die Berücksichtigung empirischer Verhältnisse und individueller Fähigkeiten unvermeidlich ist, dann erscheint es naheliegend, von der Selbstbestimmung des Menschen in einem weiteren Sinne auszugehen und in dieser Perspektive den moralischen Status der Person zu erörtern. Dies ist der Weg, den die nachkantische Diskussion einschlägt. Das Selbst als anthropologischer Grundbegriff bietet hypothetisch einen Ausgangspunkt, der die Überwindung, zumindest aber die Relativierung des dualistischen Menschenbildes verspricht. Im Unterschied zum abstrakten Ich oder einer methodisch reinen Vernunft umfasst dieser Begriff die Totalität des menschlichen Daseins und seiner Möglichkeiten. Mit dem Konzept des Selbst verbindet sich die Vorstellung, dass die Identität prozessual aufzufassen ist. Identität ist weder das ablösbare Ergebnis eines äußerlichen Werdens, noch eine bloßes Beharren unter veränderlichen Umständen, sondern eine fortschreitende Entwicklung mit Lerneffekten. Mit diesem Vorbegriff des Selbst gewinnt die Konzeption der Selbstbestimmung eine andere Ausrichtung als der Autonomiebegriff. Selbstbestimmung zielt nicht nur auf die moralische Zulässigkeit von Handlungsintentionen angesichts gesetzesförmiger Normen, sondern auf die Identität des Handelnden. Damit kommen die Fragen der Lebensführung im Ganzen in den Blick. In dieser Perspektive wird Kants Auskunft, dass alles, wozu Neigungen und Antriebe motivieren, dem eigentlichen
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Selbst nicht zuzuschreiben ist,107 korrigiert. Es kommt allerdings darauf an, die Zusammenhänge zwischen vernünftiger Willensbestimmung und charakterlichen Eigenschaften, zwischen subjektiver Absicht und sozialen Verbindlichkeiten, zwischen eigener Vernunft und kulturellem Wissen wahrzunehmen. Nur in diesem umfassen Sinne ist die Feststellung treffend, „dass die Selbstbestimmung zu den weitgehend unbezweifelten Prämissen der gegenwärtigen Ethik gehört“.108 Festzuhalten ist, dass das Personsein nicht durch Subsumtion unter einen generischen Begriff bestimmt oder über Selektionskriterien ermittelt wird, sondern aus dem Verständnis der besonderen sozialen Rolle heraus erfolgt, die das Personsein konstituiert. Dieser Blickwinkel ergibt sich bereits aus der elementaren Überlegung, dass Personsein mit einer entsprechenden Verantwortlichkeit verbunden ist, sofern das Wesen, dem der Status zugesprochen wird, nicht nur Nutznießer bestimmter Rechte ist, sondern auch entsprechende Pflichten zu gewärtigen hat. Diese Reziprozität bildet die Voraussetzung eines konsistenten Personenbegriffs, der normative Konsequenzen zeitigt. Mit dem Begriff der Person wird nicht eine isolierte Auszeichnung eines Einzelwesens ausgedrückt, sondern ein normativ konstituiertes Verhältnis von Personen untereinander. In Kants Konzept wird dieser Zusammenhang durch das Modell eines fiktiven Reichs der Zwecke veranschaulicht, aber nicht begrifflich ausgearbeitet. Es bleibt eine reine Fiktion, ein Konstrukt in der Sphäre des Ideellen. Dieses Defizit ist im Rahmen der Kantischen Begriffsbildung nicht zu kompensieren, da sein moralphilosophisches Programm auf Prämissen der Subjektphilosophie setzt. Der Personbegriff transzendiert diese Voraussetzung. Einzelnes und Allgemeines sind im Begriff der Person verbunden, aber dieses Amalgam ist ein nicht artikulierter Umschlag, der die empirische Existenz des Einzelnen nicht abbildet. Fichte versucht zwar in diesem Sinne eine genetische Rekonstruktion der Beziehung vom Ich zum Anderen auf der Grundlage der Idee der Anerkennung. Allerdings beschreibt diese Beziehung nun Verhältnisse des Rechts, nicht der Moralität.109 Damit rückt der Personbegriff wieder in die Sphäre des Sozialen, dem er entstammt. Der junge Hegel übersetzt dieses Verhältnis, das bei Fichte noch eine naturrechtliche Konstruktion darstellt, in die in nüchterner Betrachtung dargestellte realistische Auseinandersetzung konkurrierender Subjekte. Der Modus des Anerkennens, das ist die Pointe der Hegelschen Darstellung, ist zunächst geprägt von schierer Gewalt. Das Resultat und der positive Ausgang des Konflikts liegen in der Einsicht, dass die dort erhobenen Forderungen auf der Anerkennung institutioneller Zusammenhänge beruhen. Der Kampf um Anerkennung mündet in die Einsicht, 107 Kant 1911, 457 f. Kant gebraucht den Begriff der „Selbstbestimmung“ nur im Sinne der Autonomie, der objektiven Willensbestimmung kraft reiner Vernunft (427). 108 Gerhard 1999, S. 145. 109 Fichte 1971b, §§ 3 ff.
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dass mit der Anerkennung des vorausgesetzten Institutionengefüges als der „Macht des Rechts“ das Anerkanntsein der Einzelnen gewährleistet ist.110 Nur in Rechtsbeziehungen kann der Einzelnen seinen Anspruch auf Anerkennung aufrechterhalten. In Hegels Denken taucht das Selbst unter variierender Begrifflichkeit auf. Der Einzelne kann in unterschiedlichen Kontexten als Subjekt, Person, Individuum oder als Mensch zur Sprache kommen. Dabei ist zu registrieren, dass der Begriff des Menschseins als Gattungsbegriff im Werk Hegels keine normative Bedeutung besitzt und primär im umgangssprachlichen Sinne als Ausdruck für ein noch zu bestimmendes Referenzsubjekt gilt. Alle naturrechtlichen Konnotationen sind dabei ausgeschlossen. Lediglich die vage Bestimmung des Menschen als eines freien Wesens wird damit vorausgesetzt. Was es jedoch heißt, frei zu sein, muss sich im Bewusstsein der Menschen im Lauf der Geschichte konkretisieren. Die Feststellungen, dass der Mensch an sich frei oder vernünftig sei, sind nicht unzutreffend, aber ohne Belang, wenn nicht zugleich der historische Prozess der Realisierung dieses Wissens zur Darstellung kommt. Die bloße Möglichkeit der Freiheit muss dem Menschen zum Gegenstand werden, ins Bewusstsein kommen und damit wirklich werden.111 Der Begriff des Menschen, sofern er nicht im rein biologischen Sinne verstanden wird, kann nur im Kontext der sozialen Welt seine Kontur gewinnen. Eine terminologische Verwendung des Begriffs des Menschen in seiner normativen Bedeutung setzt die Theorie des Rechts und der bürgerlichen Gesellschaft voraus, denn erst hier ist vom konkreten Menschen die Rede. Die Hegelsche Begriffsbildung sieht vor, den Begriff der Person für das Recht und den des Subjekts für den moralischen Standpunkt zugrunde zu legen, vom Menschen im normativen Sinne aber erst als Bürger im Rahmen gesellschaftlicher Organisationen zu sprechen.112 Auch der Begriff der Individualität bietet keinen originären Ausgangspunkt. In der logischen Bedeutung des Begriffs versteht Hegel darunter das Exemplar einer biologischen Gattung. Im Unterschied zum bloßen Token eines Typus ist das „lebendige Individuum“ eine Figur reflexiver Selbstbestimmung, die sich in der Seele des Lebewesens manifestiert.113 So ist Individualität zunächst nur ein Ausdruck von Subjektivität auf der Ebene des Lebendigen. Die isolierte Erscheinung des Individuellen gilt Hegel indes als Inbegriff der Beschränkung.114 Konsequenz dieser Einschätzung ist ein Bildungskonzept, das nicht nur die Auseinandersetzung mit der objektiven Welt betont, sondern den Fortschritt der Bildung als eine Entwicklung zur Allgemeinheit betrachtet. Der Entwicklungsgang der Phänomenologie des Geistes zeichnet diesen Prozess der Bildung, den das Individuum durchläuft, idealtypisch nach, indem es die Gestal110 111 112 113 114
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Hegel 1987, S. 225. Hegel 1970, S. 40. Hegel 1970c, § 190. Hegel 1969, S. 474 ff. Hegel 1970c, § 140.
ten des Geistes sich aneignet. Das Subjekt dieser Entwicklung ist das idealisierte Bewusstsein, das „allgemeine Individuum“, dessen philosophisch rekonstruiertes phylogenetisches Programm das besondere, konkrete Individuum in seinem konkreten Bildungsgang absolviert.115 Ziel dieser Anstrengung ist die Verbindung des Allgemeinen, dessen Abbreviatur der Begriff der Vernunft ist, und des Individuellen, das sich in der Reflexivität behauptet, inhaltlich aber nur die Zufälligkeit und Beschränktheit eines besonderen Daseins darstellt, die durch Bildung zu überwinden sind. Normativ signifikant wird der Status des Einzelnen in der Sphäre der Praxis dann, wenn diesseits des Grenzbegriffs der reinen Individualität, dem Index radikaler Einzelheit, eine Form der Subjektivität zur Sprache kommt, die allgemeine Ansprüche verkörpert. Diese Allgemeinheit liegt strukturell vor im Status der Person, die den Ausgangspunkt des abstrakten Rechts bildet. Hier ist die Form der Allgemeinheit allein ausschlaggebend, die in nichts anderem besteht als im reinen sich auf sich beziehenden Willen eines Subjekts. Sofern von allen inhaltlichen Bestimmungen dabei abstrahiert wird, bleibt nur die Beziehung auf sich selbst. Dieses Durchdringen aller Aspekte eines besonderen Subjekts, das im Prinzip die Distanz zu allen psychischen und äußerlichen Bedingungen ermöglicht, ist der formale Grund von Freiheit in ihrer ganz unmittelbaren Bestimmung. „Die Allgemeinheit dieses für sich freien Willens ist die formelle, sonst inhaltslose einfache Beziehung auf sich in seiner Einzelheit“116 Diesen Status des Subjekts markiert Hegel mit dem Begriff der Person. Aus ihm entwickeln sich alle Bestimmungen des abstrakten Rechts. Hegels Darstellung des Personenbegriffs macht deutlich, dass es sich dabei nicht um einen einfachen, nicht weiter analysierbaren Term handelt, wie in der sprachanalytischen Tradition angenommen, sondern um ein Reflexionsverhältnis. Das Subjekt, das sich als frei weiß, sofern es prinzipiell zu allen seinen Bestimmungen der äußeren und der inneren Natur in Distanz zu treten in der Lage ist; es betrachtet sich in dieser negativen Hinsicht als allgemein, als Subjekt wie andere Subjekte auch. In der Tat ist diese Reflexivität des Wollens allgemein und das heißt, überindividuell. Personsein ist deshalb kein Ausdruck von Individualität, sondern indiziert im Gegenteil die Fähigkeit des Subjekts, im Wollen seine kontingente Bestimmtheit zu transzendieren.117 Dennoch impliziert dieser Reflexionsakt die Besonderheiten eines Subjekts einschließlich seiner körperlichen Eigenschaften, von denen dieses zu abstrahieren weiß. So kennzeichnet der Status zunächst ein bestimmtes Verhältnis des Subjekts zu sich selbst. Die Person bleibt freilich nicht nur bei dieser negativen Beziehung 115 Hegel 1970a, S. 31 f. 116 Hegel 1970c, § 35. 117 Dies ist gegen Ludwig Sieps Darlegung des Personenbegriffs bei Hegel zu betonen (Siep 1992).
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auf sich stehen; vielmehr bietet die Reflexivität umgekehrt die Chance, sich auf einen bestimmten Inhalt des Wollens festzulegen, immer verbunden mit der Option, auch ganz anders wählen zu können. Diese Form der Freiheit begründet keine absolute Entscheidung aus dem Nichts, sondern bleibt auf die Bestimmungen eines Subjekts bezogen. Zugleich eröffnet sich damit die Perspektive auf andere Personen. Während der Blick des Individuums auf ein anderes Individuum dieses immer als das ganz andere zeigt, ist eine Person auf andere Personen als prinzipiell Gleiche bezogen, sofern diese um ihre Subjektivität wissende, freie Wesen sind. Kraft ihrer reflektierten Allgemeinheit ist die Person anschlussfähig an andere Personen, die ebenfalls die reflexive Allgemeinheit verkörpern. Dennoch sind die Charakteristika des einzelnen individuell. Daraus ergibt sich eine normativ signifikante Beziehung der Personen untereinander, da der Anspruch auf den Status einer Person, der unmittelbar mit der Fähigkeit zur reflexiven Willensbestimmung gegeben ist, die Anerkennung anderer Personen einschließt. Die Grundlage des formellen Rechts lautet daher: „Sei eine Person und respektiere die anderen als Personen“.118 Personsein ist exklusiv und inklusiv gleichermaßen. Genau aufgrund dieser Reziprozität der reflexiven Allgemeinheit ist der Personenbegriff prädestiniert für die Sphäre des Rechts. Sofern das Recht integraler Bestandteil von Gesellschaft und Staat ist, ist der Personenbegriff für die praktische Welt grundlegend. Indes ist dieser Begriff nicht erschöpfend. Die Kategorie der Person umfasst nur indirekt den konkreten Menschen, seine besonderen Zwecke und Möglichkeiten. Im Prinzip bezeichnet sie nur den Status, dessen Abstraktheit nicht übersehen werden darf. Das Personsein setzt zwar die Einzelheit eines individuellen Lebewesens voraus, das über Vernunft verfügt, aber der Personstatus verdankt sich weder dieser Einzelheit noch sanktioniert es deren besondere Qualitäten. Es ist vielmehr die zum Bewusstsein kommende Allgemeinheit des Subjekts, die den Anspruch begründet, so wie die anderen Personen anerkannt zu sein. Nicht die Einzelheit, sondern die Gleichheit mit anderen ist das Fundament des Rechts. Personsein selbst ist nicht individuell, sondern fällt unter die Kategorie der Besonderheit, indem jede Person sich von der anderen Person unterscheidet, mit den anderen jedoch das Personsein teilt. Für das Personsein ist die Individualisierung, die je eigene Bestimmtheit konstitutiv. Mit dem Personsein verbunden ist die Ambition, mehr zu sein als singuläres Subjekt. Personsein heißt, eine Rolle auszufüllen in der Gesellschaft der Personen. Individuelle Interessen und Fähigkeiten sind für diese elementare Struktur von sekundärer Bedeutung. Auch das dabei antizipierte Vernunftvermögen umfasst keine spezifischen Fähigkeiten wie etwa die Konzeption komplexer Handlungszusammen-
118 Hegel 1970c, § 36.
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hänge, sondern beschränkt sich auf die fundamentale Reflexion eines Subjekts auf seine Möglichkeiten. Es begreift sich dabei als abstraktes Ich. Dass es zugleich ein konkretes Individuum, ein Einzelner ist, hat aus der Perspektive der Person zunächst nur den Stellenwert einer Reihe von Bestimmungen, die nicht mit der Allgemeinheit der Reflexion vermittelt sind. Der Begriff der Person steht bei Hegel, wie bereits in der scholastischen Tradition, zwischen der Einzelheit des Individuums und der Allgemeinheit, ohne dass diese Momente im Selbstverständnis des Subjekts vermittelt werden können. Personsein ist per definitionem ambivalent. Reflexionsvermögen allein vermag diese Struktur der Person nicht zu charakterisieren. Es ist vielmehr eine doppelte Struktur, in der alles Individuelle im Horizont der allgemeinen Reflexion relativiert wird und zugleich das Besondere des Individuums, seine leibliche Existenz identifiziert und in ein Verhältnis zu dieser Reflexion gesetzt wird. Das Selbst im Sinne der Person ist ein organischer Körper und zugleich hat es einen Körper.119 Diese Struktur, die Plessner, ohne auf Hegel Bezug zu nehmen, mit dem Bild der Exzentrizität veranschaulicht,120 konstituiert das Dasein eines vernünftigen Wesens, das sich ungeachtet seiner Besonderheit als ein Allgemeines, als Inhaber einer Rolle weiß, die durch die Bestimmungen des Rechts definiert wird. Die Pointe dieser Konzeption besteht darin, dass nur innerhalb der rechtlich definierten Verhältnisse von Familie, Gesellschaft und Staat der normative Anspruch, der sich mit dem Status der Person verbindet, erfüllt werden kann. Nur die konkrete Handlungswelt mit ihren komplexen Zweckbeziehungen und ihrer institutionellen Infrastruktur bietet das Umfeld, in dem das Selbst sich als Person begreifen kann. Die formalen Kriterien der Rechtsperson bleiben darin erhalten. Das bedeutet, dass Staaten nicht automatisch die Kriterien erfüllen, die als Bedingungen des Personstatus identifiziert werden. Soziale und politische Gebilde sind mit der normativen Erwartung konfrontiert, dass das Recht der Einzelnen auf ihre jeweilige Besonderheit gewahrt bleibt. Inbegriff des personalen Rechts sind die Prinzipien der Freiheit, des Verfügens über Eigentum und des darauf basierenden Rechts auf freie vertragliche Vereinbarungen. In der Perspektive des Rechts zeigt sich darin die Integrität der Person. Vom Personsein unterscheidet Hegel den Status des moralischen Subjekts, dessen begriffliche Analyse unter der Rubrik der Moralität erfolgt. 121 Auch hier ist die Darstellung insofern rekonstruktiv, als die begriffliche Entfaltung des moralischen Bewusstseins auf die sozialen Voraussetzungen führt, die gewährleistet sein müssen, wenn die mit dem Status des moralischen Subjekts verbundenen normativen Ansprüche sich erfüllen lassen sollen. Es handelt sich weder im Falle der Person noch des moralischen Subjekts nur um ein instrumentelles Verständnis zur Infrastruktur, 119 Hegel 1970c, § 47. 120 Plessner 2003a, S. 365. 121 Zenkert 1989, S. 88 ff.
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die eine freie Entfaltung der Person erleichtern soll. Der Status der Person sowohl als das moralische Selbst sind vielmehr darauf angewiesen, dass sich objektive Strukturen etabliert haben, die den Individuen überhaupt erst ermöglichen, ihre besonderen Zwecke und Absichten zu entwickeln. Die Voraussetzungen dessen, was ein moralisches Subjekt ausmacht, sind umfassender als die der Person, da letztere nur das äußere Handeln betreffen. Während die Rechte der Person durch entsprechende autoritative Maßnahmen der Rechtspflege und der Polizei garantiert werden können, ist die Integrität des moralischen Subjekts nur durch Institutionen und ihnen entsprechende Lebensformen zu gewährleisten. Dabei geht es nicht nur darum, einen gewissen Freiraum im Sinne der negativen Freiheit zu schützen. Die anspruchsvollere Aufgabe besteht darin, die Teilnahme an einer gemeinsamen Praxis zu ermöglichen, in der die Subjekte Handlungsperspektiven entwickeln. Es gilt, sie in übergreifende Zweckstrukturen einzubinden und dabei zu respektieren, dass sie nur das tun, was sie selbst verantworten können oder was mit der eigenen Überzeugung verträglich ist.122 Dieser zunächst paradox anmutenden Erwartung sucht Hegels Konzeption der Sittlichkeit gerecht zu werden.123 Dabei handelt es sich um die Darstellung konkreter strukturierter Handlungsgefüge, die institutionellen Charakter besitzen. Ihr ethisches Gewicht verdanken sie nicht der bloßen historischen Faktizität oder der vertrauten Überlieferung, sondern ihrer Funktion als Garanten eines erfüllten Lebens in der Trias von familiären Beziehungen, Gesellschaft und Staat. Die Protagonisten der sittlichen Verhältnisse erscheinen nicht nur als abstrakte Personen oder als auf ihr Gewissen bezogene moralische Subjekte, sondern als konkrete Individuen im umfassenden Sinne, als leibliche Wesen mit Interessen, Fähigkeiten, Absichten, Gefühlen und Überzeugungen. Während der Begriff des Individuums zuvor nur als unspezifische Bezeichnung für alle lebendigen Wesen eingeführt wurde, gewinnt er jetzt im Kontext der Institutionen eine neue Qualität, da die Natürlichkeit gebrochen wird durch die alles durchdringende Reflexivität der Subjekte und die objektiven Verhältnisse, in deren Bezügen sich das Individuum behaupten muss. Individuum ist hier keine naturalistische Kategorie, sondern bezeichnet den Status des Bürgers. Das Recht des Individuums auf seine subjektive Freiheit erfüllt sich in der von den Institutionen getragenen Lebensform, sofern durch diese der Anspruch der moralischen Subjektivität, allgemeine Prinzipien zu verkörpern, eingelöst wird. Dabei ist ein Missverständnis auszuräumen, das Hegels Konzept der sittlichen Individualität in eine falsche Beleuchtung rückt. In den Invektiven liberalistischer Kritiker werden ethisch gehaltvolle Konzeptionen wie Hegels Theorie der Sittlichkeit nicht selten so dargestellt, als würde eine Identifikation der Individuen mit 122 Dazu Honneth 2013, S. 173 ff. 123 Hegel 1970c, §§ 142 ff.
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dem Staat vorausgesetzt.124 Dies ist jedoch nicht zutreffend. Vielmehr räumt Hegel der Differenz zwischen Individuum und Staat ausdrücklich einen hohen Stellenwert ein. Organisatorisch drückt sich dies aus im Unterschied zwischen Gesellschaft und Staat, auf den Status des Einzelnen bezogen in der Tatsache, dass dieser unterschiedliche Rollen einnimmt. Zwar sind die exklusiven, auf Zuneigung und Verwandtschaft gegründeten familiären Verhältnisse dadurch gekennzeichnet, dass sich die Einzelnen nicht nur als Personen, als Vertragspartner, sondern in der Identifikation mit der sittlichen Einheit der Familie als Mitglieder wahrnehmen.125 Aber in der freien bürgerlichen Gesellschaft sind diese Bindungen nicht präsent. Dort treten die Einzelnen als Privatpersonen auf. Der dabei veranschlagte Personenbegriff beschränkt sich nun nicht auf die rein juristische Bedeutung, sondern umfasst die besonderen Bedürfnisse und Zwecke der Person.126 Im institutionellen Rahmen der Gesellschaft ist nicht nur die Geltung der allgemeinen Rechtsprinzipien und der besonderen Gesetze verbürgt, sondern zugleich dafür gesorgt, dass die Mitglieder der Gesellschaft sich ihrer Natürlichkeit entledigen und zur Allgemeinheit des Denkens, des Geschmacks und des Wollens erheben, sich bilden. Diese konkrete Person ist Bürger, bourgeois einer anonymen Gesellschaft, nicht citoyen eines Staates. Es ist überraschend, dass Hegel in dieser Konstellation der bürgerlichen Gesellschaft den Einzelnen nun als „das Konkretum der Vorstellung, das man Mensch nennt“, apostrophiert.127 Der Terminus wird hier in dezidiert normativer Bedeutung verwendet, nicht als Gattungsname, sondern als abstrakte Statusbestimmung, die sich der Tatsache verdankt, dass die auf der Ebene der Gesellschaft um ihre Interessen und Bedürfnisse besorgten Privatpersonen unter der Bedingung wechselseitigen Anerkanntseins operieren. Die Vorstellung des Menschseins verdankt sich der im Hintergrund wirksamen rechtlichen Struktur, die nur im Ausnahmefall in Erscheinung tritt. Sie ist Produkt der Abstraktion, deshalb zwar nicht unberechtigt, aber doch hinsichtlich ihrer Geltung an die Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft gekoppelt. Nicht nur historisch, sondern auch systematisch zehrt der moralphilosophische Gebrauch des Begriffes „Mensch“ von Voraussetzungen, die nur in der Sprache der Politik zu artikulieren sind. Dass sie in den Hintergrund treten, macht die rhetorische Stärke der Vokabel aus und zugleich ihre politische Marginalität. Weder „Person“ noch „Mensch“ sind ursprüngliche, primitive Begriffe, wie das neuzeitliche Naturrecht und zumeist noch der Diskurs der Gegenwart annehmen. In Hegels Diagnose relativieren sich beide Begriffe im Kontext der Kategorien des Praxisgefüges, das im Staat seine höchste Organisationsform findet. Hier ist 124 125 126 127
So Popper 1992. Hegel 1970c, § 162. Hegel 1970c, §§ 182 ff. Hegel 1970c, § 190.
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nun der Bürger im politischen Sinne das Subjekt des Geschehens. Der Bürger ist das Individuum in umfassender Bedeutung, das im Rahmen der Institutionen des Staates die Verwirklichung seiner Zwecke erfährt. Dies bedeutet zunächst, dass sich seine besonderen Zwecke als Person realisieren lassen, aber zugleich führt die Beteiligung am Gemeinwesen zum Bewusstsein, Mitglied des Ganzen zu sein und in dessen Organisation den Garanten der eigenen Handlungsmöglichkeiten zu finden einschließlich der politischen Freiheit.128 Die Einsicht in diesen Zusammenhang ist die geistige Grundlage politischer Freiheit. Die abstrakten Bestimmungen des Personenbegriffs und das Reflexionspotential des freien und vernünftigen Subjekts, das im Moralitätskonzept aufgespannt ist, gewinnen folglich erst unter den Bedingungen einer konkreten politischen Verfassung ihre normative Bedeutung. Aus der Sicht des Individuums kann Hegels Theorieprogramm aufgefasst werden als der Versuch, die institutionellen und organisatorischen Bedingungen zu klären, die gegeben sein müssen, um die Verwirklichung der individuellen Selbstbestimmung zu gewährleisten.129 Abgesehen von der Plausibilität der einzelnen Schritte besteht die größte Herausforderung darin zu zeigen, dass der Einzelne als politischer Bürger eines wohlgeordneten Staates sich selbst verwirklicht. Damit nimmt Hegel das Aristotelische Motiv der Bestimmung des Menschen als politisches Lebewesen wieder auf. Den Abstand zur antiken Welt markiert jedoch der Personenbegriff, dessen systematische Funktion darin besteht, das besondere Recht des Einzelnen gegen die Institutionen und das ganze Gemeinwesen festzuhalten. Für eine naturalistische oder naturrechtliche Auffassung des Menschseins ist dann kein Raum mehr. Mensch ist ein Terminus, der nur im Kontext etablierter politischer Institutionen rhetorische Prägnanz besitzt. Erst durch die Opposition zu konkreten politischen Verhältnissen kann unter Berufung auf das Menschsein ein normativer Anspruch erhoben werden. Das Bild des Menschen, das Hegel in den Facetten der Person, des Subjekts und Individuums als des politischen Bürgers zur Erscheinung bringt, fügt sich nur im Rahmen des politischen Denkens zu einem Ganzen. Die Hegelsche Analyse des Personenbegriffs ist vor allem in Kontrast zu den heute dominierenden Auffassungen erhellend. Einerseits ist der Begriff eine reine Abstraktion, die den Menschen auf ein Rechtssubjekt reduziert. Andererseits ist damit das konkrete rechtlich geschützte Individuum im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft angesprochen. Spiegelbildlich dazu lassen sich die Missverständnisse diagnostizieren, die entweder die Abstraktheit verleugnen und die Person mit dem konkreten Menschen identifizieren130 oder das konstitutive Umfeld der Gesellschaft 128 Hegel 1970c, §§ 261 ff. 129 Diese Perspektive veranschlagt Honneth 2001, S. 35 ff. 130 Dieser Begriffsgebrauch findet sich vor allem in der Tradition des Personalismus, insbesondere bei Scheler 1980, S. 370 ff. Zu den neueren Vertretern dieser Auffassung gehört Spaemann (1996).
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ignorieren und den Status der Person auf pseudo-objektive Kriterien wie Rationalität und Selbstbewusstsein gründen und damit eine ahistorische und kontextfreie Bestimmung des Begriffs anstreben.131 Hegels Begriffsbestimmung rekonstruiert dessen systematische Voraussetzungen und rettet so seinen normativen Kern. Auch der Begriff des Subjekts hat eine zentrale, aber keine absolute Bedeutung in der Systematik der Rechtsphilosophie. Er steht für die reine Reflexivität der Willensbestimmung und stellt ebenfalls eine Abstraktion dar, die nun nicht auf korrespondierende Rechtsverhältnisse, sondern auf Handlungszusammenhänge verweist. Der Terminus „Individuum“ schließlich rekurriert auf den konkreten Einzelnen, dessen normativer Vorgriff darauf zielt, im Gefüge der Institutionen ein freies Leben zu führen im Wissen darum, dass die politischen Einrichtungen nicht nur Grenzen persönlicher Entfaltung, sondern Bedingungen der Möglichkeit der individuellen Freiheit sind. Individuelle und politische Zwecke greifen so ineinander. Dieser Zusammenhang bildet sich in der Organisationsstruktur der politischen Welt ab. So ist Hegels Konzeption des Staates von einer immanenten Normativität geprägt, die sich in der Trias von Rechtsprinzipien, fundamentalem Konsens und stabilen Machtverhältnissen niederschlägt. In Hegels Rechtsphilosophie scheint die Individualität im Gefüge der Organisationen jedoch nur von untergeordneter Bedeutung. Dieser Eindruck ist darauf zurückzuführen, dass Subjektivität und Individualität in einem letztlich nicht geklärten Zusammenhang stehen. Subjektivität ist das Strukturprinzip des Organisationszusammenhangs insgesamt und umfasst die die Einzelnen ebenso wie die Organisation im Ganzen; Individualität aber ist der Index des Einzelnen als solchem, lässt sich also nicht einfach in den reflexiven Strukturen von Subjektivität abbilden. Um zu zeigen, dass im Organisationszusammenhang des Staates das Individuum seine Anerkennung findet, muss deshalb der Individualität besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.
3.) Das Individuum auf der Suche nach dem Selbst Die Auffassung, dass die Moderne das Zeitalter des Individualismus ist, wird meist ohne Bedenken kolportiert. Eine Analyse der Machtstrukturen moderner Politik spricht dagegen eher für den Primat des Kollektivs. Dies scheint dem Selbstbild moderner Gesellschaften zu widersprechen. Die Verhältnisse sind jedoch weitaus komplexer. Das moderne Individuum ist nicht das Resultat einer Emanzipation vom Kollektiv, sondern geht aus der Etablierung umfassender kollektiver Macht hervor. Wenn deshalb in neueren Debatten mit der Suspendierung der Macht auch der 131 Vertreter dieser Position firmieren im Allgemeinen unter dem Titel des Liberalismus. Die Kriterien der gegenwärtigen Diskussion sind zusammengestellt in Birnbacher 2006.
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Begriff des Individuums zunehmend in Frage gestellt wird, so ist dies kein Zufall. Die Dekonstruktion des modernen Konzepts der Identität, die in den Schriften Foucaults, Batailles, Derridas und in gewissem Sinne auch im Werk Heideggers im Anschluss an Nietzsche entworfen wird, ist das Symptom der Krise des modernen Individualismus.132 Dieser Befund wäre als solcher noch nicht erwähnenswert, würde nicht diese Strategie eine Antinomie des modernen Identitätskonzepts erhellen und damit zugleich ein Licht auf die Problematik der Macht werfen. Wenn Charles Taylor in seiner umfassenden Bestandsaufnahme des neuzeitlichen Individualismus die neonietzscheanischen Theorien der Flucht vor dem Selbst bezichtigt, so ist damit nur eine Seite dieser Bewegung charakterisiert.133 Mit dem modernen Subjektivismus steht zugleich das neuzeitliche Machtkonzept zur Diskussion, das mit gewissem Recht als Komplement, wenn nicht gar als Bedingung dieser problematischen Zuspitzung des Identitätsbegriffs diagnostiziert wird. Unklar bleibt in diesem Zusammenhang nicht nur die Gleichsetzung von Macht und Identität, sondern die zudem unterstellte Verbindung des modernen Subjektivismus mit dem moralischen Universalismus, die auf den ersten Blick doch als konträre Prinzipien gelten könnten. Die theoretische Vernachlässigung des Individuums steht in denkwürdigem Kontrast zur gängigen Diagnose der Individualisierung in der modernen Welt. 134 Es liegt der Verdacht nahe, dass der Triumph des Subjekts mit der Depravation des Individuums bezahlt wurde. Belege dafür lassen sich leicht finden. Die auf das Naturrecht und insbesondere auf Kant zurückgehende universalistische Tradition beschwört die Unantastbarkeit der Person, kann sich jedoch nicht auf die Anerkennung des Individuums verständigen, sofern sich dieses der Integration in das Allgemeine hartnäckig entzieht. Das Individualitätskonzept wird zur perennierenden Belastung. Mit überraschender Deutlichkeit benennt Fichte das Problem. Obwohl er die Individualisierung des Ich als unerlässliches Durchgangsstadium betrachtet, zielt sein ganzes System darauf, „dass die Individualität theoretisch vergessen, praktisch verläugnet werde“.135 Der Diskurs der Moderne reagiert mit verhaltener Melancholie auf diese Tendenz, die sich längst praktische Wirksamkeit verschafft hat. Dabei ist festzustellen, dass mit dem Abschied vom Individuum nicht selten zugleich die Unersetzbarkeit derselben bestätigt wird. Aus der Sicht der Kritischen Theorie diagnostiziert Horkheimer die Individualität mit nostalgischem Unterton als Phänomen einer untergegangenen Welt. Aber obwohl er ihren Verlust als unumgänglich beschreibt, dient sie ihm
132 Die Idee der Individualität erscheint in dieser Perspektive als Ausdruck der Machtergreifung repressiver Rationalität, die endlich zu verabschieden ist. Siehe dazu kritisch Frank 1986. 133 Taylor 1994, S. 82 Anm. 134 Eine der wenigen Ausnahmen ist Frank 1991. 135 Fichte 1971a, S. 517.
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zugleich als normative Orientierung. 136 Die Erben Nietzsches, namentlich Derrida und Foucault, feiern das Ende des Individuums und sind doch insgeheim dem Ideal eines vom Druck sozialer Institutionen entlasteten heroischen Einzelnen verpflichtet. Zu diesem Zusammenhang äußert sich Nietzsche, dessen Werk diese Motive entstammen, weit deutlicher als seine Epigonen. Er orientiert sich in seiner Suche nach dem Individuum in der modernen Welt an antiken Vorbildern. Gegen den Klassizismus seiner Zeit betont er ein Griechentum, in dem die starken Einzelnen das Bild bestimmen, die sich gegen eine moralische Nivellierung der Menschen sperren. Der durch die Sophistik geschulte Thukydides, nicht Platon, ist der literarische Bezugspunkt dieser Reminiszenz. Der antichristliche Affekt, der dieses Denken bewegt, zielt auf den modernen demokratischen Kollektivismus, in dem alle Individuen laut Nietzsche ihre Individualität eingebüßt haben und sich den lebensfeindlichen allgemeinen Normen unterwerfen. Die großen, alle Normierung sprengenden Individuen, die entfernt noch an die Heroen der homerischen Welt erinnern, verkörpern das Ideal, auf das Nietzsche sich beruft. Das Ziel des freien Individuums erfüllt sich nicht in der allgemeinen Bestimmung des Menschen, sondern in der unabwägbaren, weil unvergleichlichen Tat, die der besonderen, idiosynkratischen Bestimmung entspricht. So ersetzt der machtvolle Wille das gute Gewissen und die ungehemmte Handlungsfähigkeit löst mit einem Schlag das Dilemma von Rigorismus und Kasuistik, in dem die Moralisten sich verstricken. Diese Befreiung, die an die Lösung des Gordischen Knotens erinnert, hat ihren Preis. Nietzsches Versuch einer Rettung des Individuums kann sich nur im politikfreien Raum eines einsamen Heroismus artikulieren. Die großen Gestalten, die Geschichte machen, ragen über die Niederungen der Historie und der mit Verachtung geschilderten Gesellschaft hinaus. Dieser Hang zum Solipsismus und zur Anarchie hat Methode. Nietzsches diagnostischer Blick erkennt zwar die Probleme der modernen Individualität und beweist genügend historische Tiefe, um durch den Kontrast zur Antike die Selbsttäuschung des zeitgenössischen Bewusstseins zu registrieren, aber er verfügt nicht über die analytischen Mittel, um diese Dialektik von Individuum und Gesellschaft in ihrer politischen Dimension zu untersuchen. Seine Therapie gerät zur Stilisierung einer idealisch aufbereiteten Vorzeit, die letztlich weder den historischen Vorbildern noch den zeitgenössischen Verhältnissen gerecht wird. Die Komplexität der modernen Individualität, darin ist Nietzsches Urteil stichhaltig, kann nicht nach dem Schema eines auf Identität verpflichteten Subjekts beschrieben werden. Der Status eines sich in Freiheit bestimmenden Selbst ist für das moderne Verständnis von Identität ebenso unverzichtbar wie die Kultur der Innerlichkeit und der Anspruch auf Authentizität. Mit diesen Qualitäten verbindet sich die Idee menschlicher Würde, die nicht nach kontingenten Bedingungen zuge136 Zu diesen zählt auch Max Horkheimer, der die Diagnose vom Ende der Individualität in neomarxistische Terminologie reformuliert (Horkheimer 1967, S. 124 ff.).
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sprochen wird, sondern dem Menschen als solchem zukommt. Zugleich aber scheint sich dieser Status nur auf Kosten einer Vereinzelung des Individuums behaupten zu lassen. Hegels Kritik des Atomismus, die durch die sogenannten Kommunitaristen eine Wiederbelebung erfahren hat,137 zielt auf die Weltlosigkeit des allseitig emanzipierten Menschen, der sich von allen Bindungen löst und seine Stabilität allein durch sich selbst zu finden bemüht ist. Diese Moral des nicht-involvierten Einzelnen führt in Aporien, die auf der Ebene der Thematisierung sozialer Verhältnisse wiederkehren. Mit zunehmender Abstraktion des einzelnen vom Kontext der Lebensverhältnisse verlieren das Individuum sowohl als die Gesellschaft im theoretischen Zugriff ihre besondere Charakteristik. Der Rückzug auf moralische Prinzipien und die Orientierung an einem imaginären Reich der Zwecke führen letztlich dazu, dass die wachsende Distanz zu den realen Bedingungen der privaten und gesellschaftlichen Wirklichkeit die versprochene Stabilisierung des Subjekts konterkariert.138 Tatsächlich steht das neuzeitliche Konzept des Individuums im Bann metaphysischer Begriffsbildung. Die logisch reine Form eines Individuums, also einer einzelnen Substanz reduziert sich inhaltlich auf ein bloßes Einheitsprinzip, das in sich eine unendliche Vielheit vereint. So definiert Leibniz das Individuelle als Monade. Konsistent ist diese Konzeption nur in Verbindung mit der Idee einer prästabilierten Harmonie, die von der Geschlossenheit der Monaden ausgeht, weil die potentielle Interferenz der Substanzen deren Funktion als Einheitsprinzip relativieren würde. Wenn die Moralphilosophie diese Vorstellung von Individualität auf den Menschen allein bezieht, so wird aus dieser Harmonie die ideelle Ordnung einer kollektiven Vernunft, in der alle Individuen ihre Identität finden. Paradoxerweise verkehrt sich damit der Sinn des Begriffs der Individualität, denn gerade hinsichtlich des Individuum-Seins sind alle Individuen gleich, während ihre besondere Charakteristik den kontingenten Verhältnissen zugerechnet wird. Besonders deutlich äußert sich in dieser Frage Fichte und bringt damit die in der Kantischen Moralphilosophie zugrunde liegende Einschätzung der Individualität zur Sprache. Der sinnlich-empirische Mensch, so lautet seine Einschätzung, ist nur Vehikel des Sittengesetzes, das sich durch die Überwindung und Aufhebung dieser Besonderheit realisiert. Die Individuen finden sich darin, dass sie alle gleich handeln.139 Es steht außer Frage, dass dieser Gattungsbegriff der Individualität historisch besehen die Idee des freien und mündigen Menschen befördert hat. Doch die Individualisierung unter dem Vorzeichen eines Reichs der Zwecke erweist sich als ambivalent. Der Anspruch auf Individualität schließt zwar das Recht auf Besonderheit ein, aber diese besonderen Qualitäten des Individuums zu verteidigen bedeutet 137 Exemplarisch sind für diesen Themenkreis die Arbeiten von Taylor 1992 und Taylor 1996. Einschlägig ist auch die Arbeit von MacIntyre 1981. 138 So lautet Bernard Williams Kritik an der Moral Kantischer Provenienz (Williams 1993). 139 Fichte 1971c, S. 229 ff.
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dann auch umgekehrt, dass mit jeder Besonderung nur die allgemeine Qualität des Menschseins als Substanz der Individualität bestätigt wird. Dies springt in die Augen, wenn man die Ausbildung des individuellen Geschmacks betrachtet, der in einer Zeit maximaler subjektiver Freiheiten zu einer immer offensichtlicher werdenden Angleichung der Individuen führt.140 Die seitens der Gesellschaft erwartete Selbstdarstellung der Einzelnen befördert in der Tat ihre Nivellierung und selbst die Bewegungen, die sich dem Protest gegen die Normalität verschrieben haben, etablieren neue Standards, die umso wirkungsmächtiger sind, je mehr sie an die Innerlichkeit der Individuen appellieren. Das Ideal einer konsistenten und authentischen Lebensführung wird unter diesem Anpassungsdruck aufgegeben zugunsten der Forderung nach Flexibilität. Wenn es nur darauf ankommt, dass der Einzelne auf die wechselnden Verhältnisse angemessen zu reagieren weiß, dann erscheint die Fixierung auf die Individualität als bloßes Hindernis. Individualität erschöpft sich damit in der Wahrnehmung der Chancen, die sich dem einzelnen im kontingenten Wandel der Umstände bieten. Indem diese Auflösung der Identität überdies noch theoretisch besiegelt wird,141 bleibt von der vormals moralisch überzeichneten Idee der Individualität nur mehr die Vorstellung eines Subjekts, das sich im Spektrum unendlicher Möglichkeiten der Erfüllung verliert. Dieses Missverhältnis spiegelt sich in der modernen Psychologie. Die Gleichartigkeit der Individuen ist die Bedingung der Möglichkeit, Psychologie als Wissenschaft zu betreiben. Damit ist nicht unterstellt, dass die psychologische Forschung keine Sensibilität für die Besonderheiten der einzelnen Subjekte entwickelt. Aber die Statistik als Wahrnehmungsfilter der empirischen Psychologie gibt diesen Besonderheiten den Status von allgemeinen Merkmalen, die dem Einzelnen fallweise zugeschrieben werden können. Individualität reduziert sich auf eine bestimmte Konstellation allgemeiner Attribute. Auch das Phänomen der Verrechtlichung aller Lebensverhältnisse ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Mit der Anerkennung des einzelnen als Person wird zwar dem Individuum rechtlicher Schutz gewährt, aber diese Maßnahme erstreckt sich auf das bloße formale Personsein und behandelt die Besonderheit des Individuums lediglich als kontingente Gestaltung dieses Freiheitsspielraumes. Sofern sich aber die rechtlichen Schutzgarantien, wie von den Individuen erwartet, auch auf diese Sphäre des Individuellen beziehen, verlieren die besonderen Qualitäten der Individuen ihre individuelle Färbung und geraten in die Reichweite einer administrativen Vernunft, deren Logik die Individualität nur im Modus der Gleichheit aller 140 Dieser Zusammenhang lässt sich besonders deutlich am Phänomen der Mode beobachten. Unübertroffen sind dazu die Untersuchungen von Simmel 1995, S. 9 ff. 141 Derek Parfits These, dass die personale Identität keine verlässliche Grundlage einer kohärenten Lebensführung ist, geht von der Bewusstseinstheoretischen Konzeption einer Identität aus, die sich gegen die Zeit behauptet. (Parfit 1984). Er ignoriert dabei indes die Bedeutung von Individualität als desjenigen Daseins, das sich selbst deutend in der Zeit etabliert.
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Personen erfasst. Die Sphäre der Bildung und der Arbeit sind so in den Sog einer institutionellen Kontrolle geraten, dass für deren individuelle Gestaltung nur wenig Raum bleibt. Der moderne Individualismus stellt eine besondere Herausforderung dar für die soziale Organisation. Der Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts kann als Antwort auf die für traditionelle Gesellschaften bedrohliche desintegrative Wirkung des Individualismus betrachtet werden. Er versteht sich als Versuch, zwischen freien und unabhängig gewordenen Individuen eine umso intensivere ideelle Gemeinschaft zu stiften. Tatsächlich hat die Emanzipation der Individuen die Entstehung der modernen Nationalstaaten möglich gemacht, die an das Individuum viel stärkere, wenngleich rechtlich genormte Forderungen stellen als vormoderne politische Gemeinschaften einschließlich der antiken Welt. Nahezu jede Handlung der Individuen ist mehr oder weniger spürbar normiert und erfordert Rücksicht auf die kollektiven Erwartungen. Verwoben in komplexe soziale Verhältnisse und eingebunden in intensiven gesellschaftlichen Verkehr muss der Einzelne jederzeit Gehorsam beweisen. Für die meisten Situationen des alltäglichen Lebens ist dieser längst habituell geworden. Die ganze Spanne des menschlichen Lebens einschließlich der subjektiven Freiräume ist der ordnenden Wirkung der kollektiven Aufmerksamkeit unterstellt. Die negative Bilanz dieses Wirkens ist hinlänglich bekannt, wird aber selten im Zusammenhang mit dem modernen Individualismus gesehen. So sucht die Massenpsychologie seit Le Bons Studie142 die Verbindung von pathologischem Kollektivbewusstsein und Persönlichkeitsverlust zu beschreiben, dessen Wurzeln zirkulär nur wieder in der Massenbildung identifiziert werden können. Tatsächlich ist die Masse deshalb ein Phänomen der Moderne, weil erst hier das Individuum zum Kollektiv befreit worden ist. Deshalb kann sich auch die moderne Gesellschaft mit der Erscheinung der Masse versöhnen, ohne dass dabei die politische Ordnung oder die individuelle Freiheit gefährdet wird, wie von den eher aristokratisch denkenden frühen Kritikern der Massengesellschaft prognostiziert. Der mit der Moderne auftretende Totalitarismus, in dem dieses Potential als politische Gewalt wirkt, zerstört dieses Verhältnis, indem er das Recht der Individualität und damit seine eigene Voraussetzung untergräbt. Dass moderner Individualismus und Kollektivismus sich wechselseitig bedingen, wird plastisch in Tocquevilles Schilderung der amerikanischen Demokratie, in der er davon spricht, dass der Individualismus in der demokratischen Gesellschaft sich in dem Maße zu entfalten droht, wie die Einebnung der Gesellschaft zunimmt.143 Offensichtlich wird hier dem Wert des Individuums im modernen Sinne keine besondere Dignität zugesprochen; es gilt vielmehr als problematisches Resultat der kollektiven Ermächtigung. Dabei ist Tocqueville kein Verteidiger eines Rousseau142 Le Bon 1911. 143 Tocqueville 1987, Teil II, II, 2.
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schen Modells der Identität von Individuum und Gemeinschaft, sondern sucht nur den Prinzipien der modernen Gesellschaft auf die Spur zu kommen. Die Kollektivbildung erscheint ihm als das eigentliche Charakteristikum der demokratischen Politik, während der Individualismus nur dessen problematische Folge bildet. Die Parolen des Liberalismus weisen deshalb nicht den Ausweg aus den Aporien der modernen Welt, sondern bekräftigen deren selbstwidersprüchliche Tendenz. Der Individualismus der Neuzeit ist eine Funktion des Kollektivismus, in dessen Einflussbereich die Identität der Einzelnen ebenso ermöglicht wie bedroht wird.144 Vor dieser Folie betrachtet zeigt Nietzsches Erinnerung an die antiken Formen der Individualität ihre Plausibilität. Seine Kritik der Moderne ist insofern von Bedeutung, als sie nicht in eine Idealisierung der griechischen Welt verfällt, sondern zugleich das Bild der Griechen korrigiert.145 Dies ist umso notwendiger, als die neuzeitliche Rezeption griechischen Denkens in frappierender Einstimmigkeit den kollektivistischen Zug der klassischen Ethik und deren Unvereinbarkeit mit dem neuzeitlichen Anspruch auf subjektive Freiheit betont. Unbestreitbar bietet das platonische Denken die Vision einer Gemeinschaft, in der jeder seinen ihm zugewiesenen Platz findet und die individuelle Entfaltung keinen Rechtsschutz genießt. Dieses Bild muss jedoch ergänzt werden durch die Erinnerung an die platonische und aristotelische Ethik, in der die Pflege der individuellen Seele im Zentrum steht.146 Es geht hier um eine Einheit des Selbst, die offensichtlich noch nicht selbstverständlich geworden ist und, wie sich an großen Figuren der griechischen Literatur von Odysseus bis Ödipus beobachten lässt, als stets gefährdet betrachtet wird. Insofern ist die Fixierung auf den Einheitsgedanken die Antwort auf eine Situation, in der diese Einheit gerade permanent in Frage gestellt wird. Was dies in politischem Maßstab bedeutet, veranschaulicht Thukydides' Geschichtswerk über den Peloponnesischen Krieg. Es berichtet von einer Welt, in der keine Institution und keine politische Instanz vom Sog unberechenbarer Ereignisse verschont bleiben. Dies betrifft auch die Individuen, deren Identität in der Dynamik der Geschichte nur mühsam behauptet werden kann. In dieser Perspektive verliert die antike Politik den substanzialistischen Grundzug, der ihr von den modernen Interpreten zugeschrieben wird. Dies gilt selbst für Platons Politikverständnis, das als Versuch der Bewältigung einer kollektiven Krise zu verstehen ist, in der das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft fragwürdig geworden ist.
144 Taylor beschreibt diese Selbstaufhebung der modernen Identität. Nach seiner Einschätzung führen gerade die Praktiken, die der Identität zur Geltung verhelfen sollen, zu einem Verlust derselben. Das dieser Identität korrespondierende Prinzip des Kollektivismus bleibt bei seiner Analyse jedoch im Hintergrund (Taylor 1992, S. 292). 145 Bernard Williams Untersuchungen zur griechischen Ethik folgen diesem Gedanken Nietzsches (Williams 1993). 146 Diese Erörterung der Bedingungen psychischer Harmonie bildet den Anlass und das eigentliche Thema der Platonischen Politeia, die nur ein vergrößertes Abbild der Seele liefert.
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Die Darstellung dieses Verhältnisses in der Antike ist gerade auch deshalb von besonderem Interesse, weil der Begriff der Individualität signifikant von dessen moderner Konzeption abweicht. Die Kategorie subjektiver Autonomie, die in der formalen Identität aller Gattungswesen ihren Halt findet, verdeckt diesen komplexen Sachverhalt. Nicht der freie Wille, den die christliche Theologie in den Vordergrund rückt, sondern die Handlungsfähigkeit im Horizont der konkreten anderen ist das Kriterium der Realisierung von Individualität.147 Die direkte Begegnung mit dem konkreten Anderen ist eine Konfrontation von Individuen ohne den Puffer des formalen Personenstatus, der eine neutralisierende Distanz schafft. Dem antiken Individuum, das sich ganz auf seine Handlungskompetenz verlassen muss, fehlt der universalistische normative Rahmen, der die Entscheidungen der Einzelnen sowohl als des Kollektivs abfedert und deren besonderes Schicksal als Beitrag zu einer Realisierung allgemeiner Rationalität zu interpretieren erlaubt. Die in den klassischen Tragödien plastisch dargestellte Tragik des Handelns, die der Neuzeit fremd ist, hat ihren Grund darin, dass der Einzelne sich allein durch sein Handeln bestimmt, damit aber auch ungeschützt mit Bedingungen konfrontiert wird, die ihn in seiner Identität erschüttern. So wird seine Positionierung in der Welt in kritischen Situationen aus dem Gleichgewicht gebracht. Mit zunehmender Handlungsfähigkeit wächst auch die Gefahr solcher Kollisionen, da kein übergeordnetes Prinzip die Kompatibilität von Identität und Welt verbürgt. Die Möglichkeit, tragische Situationen zu erleben und zu erleiden, ist deshalb nachgerade ein Indiz der Entfaltung von Individualität.148 Im Unterschied zur Autonomie des vernünftigen Subjekts, das sich stets gegen den Verdacht der Heteronomie behaupten muss und nur durch einen Rückzug aus der Handlungswelt realisieren kann, führt das Handeln des Individuums zur Konfrontation mit den konkreten Verhältnissen und den anderen Individuen. Dadurch entsteht das Geflecht einer Gemeinschaft, in der die Stabilität sich allein aus der wechselseitigen Einschätzung und Anerkennung der Individuen entwickelt. Was der Einzelne ist, ergibt sich aus seiner Stellung im sozialen Zusammenhang und wird nicht pauschal durch eine abstrakte Konzeption von Identität dekretiert.
147 Williams hat am Beispiel der Homerischen Individuen gezeigt, inwiefern eine Ethik der Scham eine Verkörperung von Individualität repräsentiert, die ihren Status nicht einem abstrakten Vernunftkonzept verdankt, sondern dem aus der Handlungsperspektive erwachsenden Bewusstsein der Stellung des Individuums in der konkreten sozialen Welt. Die Ethik der Scham „requires an internalised other, who is not designated merely as a representative of an independently identified social group, and whose reactions the agent can respect.“ (Williams 1993, S. 102, insgesamt Kap. IV). 148 Dieser Gedanke liegt auch Hegels Motiv einer „Tragödie im Sittlichen“ zugrunde, das ansonsten einen anderen Akzent setzt. Während die antike Tragik sich auf die Behauptung der Identität im Ganzen bezieht, beschreibt Hegel den unaufhebbaren Konflikt zwischen der politischen Ordnung und der Subjektivität. Eine differenzierte Behandlung dieses Themas liefert Menke 1996.
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Die antike Ethik, die sich immer zugleich als Politik versteht, betrachtet das Individuum stets im politischen Raum, gerade weil die Orientierung nicht durch je schon unterstellte Kollektivität gewährleistet ist, sondern eigens im Handeln gefunden werden muss. Statt der widersprüchlichen Gleichzeitigkeit von Autonomie und Heteronomie zielt das Individuum im antiken Sinne auf Autarkie, auf Selbständigkeit, die nicht vom konkreten Anderen abstrahiert und auf die unantastbare Identität des einzelnen als Gattungswesen vertrauen kann. Deshalb, und nicht aus Gründen einer immer schon postulierten substanzialistischen Kollektivität, gewinnt die Orientierung an den Anderen im griechischen Denken die zentrale Bedeutung, die zumindest in der ethischen Literatur den Stellenwert des Einzelnen bisweilen überlagert. Das elaborierte Ordnungsgefüge des platonischen Staates und die Theorie der Verfassung bei Aristoteles sind gleichermaßen dem Ziel verpflichtet, politische Organisation unter der Voraussetzung von individueller Handlungskompetenz zu realisieren. Im Kontrast dazu ist der christliche und frühneuzeitliche Verzicht auf eine Theorie der Politik das Indiz der Überzeugung, dass die Problematik von Individualität und Kollektivität auf dem Wege einer Identifikation beider zu lösen ist, die jedoch nicht in der politischen Welt realisiert werden kann, sondern in eine transzendente Welt projiziert wird. Von einem Primat der Gemeinschaft gegenüber dem Individuum kann in der antiken Welt nur insofern die Rede sein, als das primäre Interesse des ethischen und politischen Denkens sich auf die Frage bezieht, wie im Medium des Handelns die Möglichkeit individueller Lebensführung im politischen Rahmen einer Gemeinschaft zu gewährleisten ist. Anders als die neuzeitliche Politik, die von atomisierten Einzelnen ausgehend die Gemeinschaft konstruiert und de facto doch bereits über die Form der Kollektivität entschieden hat, basiert die antike Politik auf einem Integrationsbegriff, der nur über eine Beziehung zu den konkreten Anderen zu klären ist. Daher rühren die auffällige Instabilität der antiken Organisationsformen und zugleich der theoretische Impuls, einer intensiven Verbindung der Individuen untereinander und ihrer Einbettung in die konkrete Handlungswelt die größte Aufmerksamkeit zu widmen. Eine Politik, die ganz auf die Handlungsfähigkeit der Einzelnen baut, muss sich der Beziehungen zwischen den Handelnden versichern, weil sie damit zu rechnen hat, dass die Institutionalisierung gemeinsamer Handlungsfähigkeit auch immer ein hohes Maß an individueller Handlungskompetenz nicht nur voraussetzt, sondern sogar noch bekräftigt. So konterkarieren die Maßnahmen zur Stabilisierung der Praxis bisweilen ihr Ziel und setzen mehr individuelle Energien frei, als die politischen Organisationen verkraften können. Die antike Geschichte liefert dafür hinreichend Beispiele. Trotz dieses unüberwindlichen Abstandes zur modernen Welt vermag der Blick auf die antike Tradition den blinden Fleck des neuzeitlichen Individualismus zu korrigieren. Der Status des Individuums ist nicht im vermeintlich politikfreien Raum
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einer universalen Moral zu klären, wenn anders die politische Frage der Vergemeinschaftung nicht bereits durch das Konstrukt einer virtuellen Kollektivität der Menschheit vorentschieden und damit de facto die Individualität absorbiert worden ist. Die entscheidende Frage, was das Individuum sei, das hier verabschiedet werden soll, ist damit noch nicht berührt. Es fällt ins Auge, dass nicht nur die Bewertung, sondern auch der Begriff des Individuums keineswegs transparent ist. Stellt man die signifikante Differenz von „Individuum“ gegenüber „Subjekt“ und „Person“ in Rechnung,149 dann kristallisiert sich im Spektrum divergierender Auffassungen jedoch ein Kriterium heraus, das als unverzichtbar gelten muss: Das Individuum ist ganz entscheidend geprägt von den Versuchen seiner Selbstdeutung. Dieser Sachverhalt stellt einen komplexen Zusammenhang dar. Selbstdeutung ist weder ein reiner Reflexionsakt noch kann sie überhaupt nach dem Schema eines Handlungsaktes aufgefasst werden. Denn das Selbst, von dem die Rede ist, besitzt keine Realität außerhalb des Prozesses, es ist in seiner ganzen Erscheinung diachron. Sein Wesen muss dynamisch, als Inbegriff der Möglichkeiten im Modus des Werdens zur Erscheinung kommen. Dieses Werden ist sowohl das Ergebnis seiner eigenen Tätigkeit als auch der formenden Wirkung seiner Umwelt. Ein Individuum realisiert sich durch Bildung.150 Der Bildungsbegriff ist deshalb der Schlüssel zu einem gehaltvollen Konzept von Individualität. Das deutsche Wort „Bildung“, zu dem es kaum ein Äquivalent in anderen Sprachen gibt, umfasst in seinen spekulativ-mystischen und naturphilosophischen Ursprüngen die Selbstwerdung des Menschen mit Betonung seiner geistigen Entwicklung.151 Seine Geschichte geht zurück bis zu Meister Eckhart, dessen mystischen Betrachtungen die christliche Imago-Dei-Konzeption zugrunde liegt, die Idee der Ebenbildlichkeit Gottes, die den Prozess der Projektion des göttlichen Urbildes in den Menschen und die darauf beruhende Annäherung desselben an Gott umfasst. Im Begriff der Bildung verbindet sich ein poetisches Konzept der Nachahmung eines Urbildes mit einem naturphilosophischen, das den Menschen als Teil eines Gesamtzusammenhangs vorstellt, in dem alles Werdende autopoetisch nach seiner angemessenen Form strebt. Das Verbalsubstantiv „Bildung“ besitzt vier Bedeutungsmomente und umfasst einerseits die Relate Abbild (imago) und Nachahmung (imitatio), andererseits Gestalt (forma) und Gestaltung (formatio). Beide Begriffspaare, der Bildgedanke und der Formgedanke, sind als Prinzip und zugleich als Prozess zu verstehen, die sich wechselseitig bedingen: Die Form ist gegeben als Abbild und die 149 Subjekt ist ein Abstrakt-Allgemeines, Person die Verkörperung einer besonderen Rolle im sozialen Gefüge. Mit Bezug auf Schleiermacher hat Frank an diese Differenz erinnert (Frank 1986, S. 20 ff., S. 97 ff.). 150 Dieses Kriterium zieht eine deutliche Grenze zwischen Individualität im anthropologischen und im logischen Sinne, die bei Peter Strawson nicht beachtet wird (Strawson 1959). 151 Lichtenstein 1966; Bollenbeck 1996; Zenkert 1998.
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Formung ist aktive Nachahmung eines Vorbildes. In dieser Verschränkung liegt die Komplexität, die sich weiteren Verlauf der Begriffsgeschichte entfaltet hat. Diese begriffsgeschichtliche Reminiszenz dokumentiert den unaufhebbaren Zusammenhang von Bildung und Individualität, denn Nachahmung und individuelle Selbstformung verweisen wechselseitig aufeinander. In der Aufklärung verblasst der Bildungsgedanke unter dem Primat des Erziehungsgedankens und des auf Allgemeinheit angelegten Subjektbegriffs. Erst Wilhelm v. Humboldt schöpft wieder den vollen Gehalt des Begriffes aus, indem er Bildung als Prozess individueller Selbstverwirklichung begreift.152 Die allgemeine Bestimmung jedes Individuums indiziert Humboldt mit dem Begriff der Humanität, mit dem indes nicht ein Gattungsbegriff vorausgesetzt wird, dem das Individuelle zu subsumieren wäre, sondern ein Ideal der Einbildungskraft im kantischen Sinne, das – im Unterschied zur abstrakten Idee – nur in exemplarischer Darstellung einen konkreten Inhalt gewinnt.153 Der Einzelne konkretisiert das Ideal der Humanität aus seiner individuellen Perspektive und gemäß seinen Möglichkeiten. Humanität ist inhaltlich unbestimmt und bedeutet folglich in formaler Hinsicht nichts anderes als Entwicklung der Fähigkeiten. So bietet die Verbindung von Individualität und idealer Humanität den Rahmen einer Theorie der Bildung, die der Einzigartigkeit des Individuellen Rechnung trägt. Da es unendlich viele Erscheinungsweisen des Humanen gibt, ist eine inhaltliche Bestimmung des Bildungsprinzips ausgeschlossen. Auch formale Kriterien wie das Harmonieideal einer gleichmäßigen Ausbildung vorhandener Anlagen bleiben leer, solange die Natur dieser Anlagen nicht näher bestimmt ist. Im Begriff der Kraft, der an Leibniz‘ Vorstellung einer dynamischen Substanz erinnert, sucht Humboldt das metaphysische Formprinzip der Entwicklung aller Individualität zu identifizieren.154 So scheinen die Individuen in monadischer Vereinzelung ganz auf sich bezogen. Angesichts dieser Atomisierung der Individuen bleibt Humboldts Empfehlung, die Einzelnen mögen sich untereinander verbinden „um an ausschließendem Isoliertsein zu verlieren“,155 fragwürdig. Die Korrespondenz der Individuen wäre keine wirkliche Wechselbeziehung. Auch wenn das Gegenüber derselben Strategie folgt, kommt durch die gegenseitige Spiegelung zweier monadischer Wesen keine wirkliche Gemeinsamkeit zustande. 152 Die folgenden Abschnitte basieren auf Zenkert 2004b. 153 Kant 1913b, § 17. Ein Ideal ist „die Vorstellung eines einzelnen als einer Idee adäquaten Wesens“ (S. 232). Ein Ideal der Einbildungskraft liegt dann vor, wenn die Idee nicht durch Begriffe, sondern nur in konkreter Darstellung fassbar ist. Ideale lassen sich nur bezüglich derjenigen Wesen bilden, die nicht nur eine natürliche Bestimmung besitzen, sondern sich ihre Bestimmung selbst geben, wie menschliche Individuen. 154 Vermittelt wird diese freie Rezeption der Leibnizschen Metaphysik durch Herder 1987, insbesondere 1. Teil, 7. Buch, IV. Humboldts Verpflichtung gegenüber Leibniz geht bis in einzelne Formulierungen, insbesondere dort, wo er die Individualität als „Einheit der Verschiedenheit“ versteht. (Humboldt 1963, S. 64). 155 Humboldt 1960, S. 82.
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Humboldt greift im Weiteren auf das Modell des Künstlers zurück, dessen Kreativität die bildende Kraft des Schöpfergottes ersetzt. Ästhetische Weltaneignung ist das Paradigma individueller Selbstentfaltung. Das sich bildende Individuum schafft sich selbst nach einem Vorbild, das erst mit der Konkretisierung der Individualität plastische Gestalt annimmt. Deshalb bedarf es einer zusätzlichen Orientierung, um den schmalen Pfad zu finden zwischen den zwischen weltloser Selbstreflexion einerseits und geistloser Gelehrsamkeit andererseits. Im Rahmen seiner sprachtheoretischen Studien korrigiert Humboldt das monadische Individualitätskonzept. Auch hier erscheint das Individuum im Modus seiner Bildung. Der Bildungsprozess zeigt sich nun jedoch in einem anderen Licht. Zunächst wird die Vorstellung radikaler Vereinzelung abgelöst durch die Gestalt des individuellen Sprechers, der sich im Medium der Sprache artikuliert. Die Sprache transzendiert den Horizont des einzelnen und bietet ihm kraft ihrer Objektivität eine gewisse Orientierung. Doch geht die Sprache nicht in der Verobjektivierung des Denkens auf. Sie gründet in der aktuellen Rede und ist insofern immer geprägt durch das Tun der Individuen, die sich anderen mitteilen. Sprache und Bildung stehen in einem systematischen Zusammenhang. Sprache ist, wie Humboldt an Schiller schreibt, „wenigstens sinnlich das Mittel, durch welches der Mensch zugleich sich selbst und die Welt bildet, oder vielmehr seiner dadurch bewusst wird, dass er eine Welt von sich abscheidet“.156 Die sprachliche Konstitution von Welt und die individuelle Bildung, auf den ersten Blick ganz unterschiedliche Phänomene, sind in der bildenden Funktion der Sprache verbunden. Sprache ist strukturierende Gestaltung der mannigfaltigen Eindrücke, die einer Ordnung bedürfen, damit überhaupt wahrnehmbare Gegenstände zur Erscheinung kommen. Sie ist der Fundus aller Formen, die den Vorstellungen eines denkenden Subjekts zugrunde liegen. Im Modus der Sprache werden die sinnlichen Eindrücke zu Produkten des Geistes erhoben. Vorstellungen sind subjektive Entwürfe, die gleichwohl auf Objektivität Anspruch erheben. Der Zusammenhang von Denken und äußerer Wirklichkeit stellt sich so dar, dass die Sprache Worte erzeugt, deren lautlich artikulierte Bestimmtheit jeweils Ausdruck eines Begriffs ist. Dies ist das ursprüngliche Bildverhältnis, das der Sprache zugrunde liegt, wobei festzuhalten ist, dass erst das Wort die Bestimmung des bildhaften Begriffs ermöglicht. Das Bild ist bedingt durch seine sprachliche Darstellung, und der Begriff ist nur möglich dank seiner bildlichen Konkretion. Die Bildung der Individualität vollzieht sich vorrangig im Medium der Sprache. Zunächst unterscheidet Humboldt zwischen einem wissenschaftlichen und einem 156 Humboldt, Brief an Schiller, Sept. 1800 (Humboldt 1981, S. 196). Der Brief dokumentiert nicht nur Humboldts wachsendes Interesse für die Sprache, sondern auch den sachlichen Zusammenhang zwischen der ursprünglichen Bildungskonzeption und den sprachtheoretischen Studien.
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rednerischen Sprachgebrauch. Der wissenschaftliche Gebrauch und, ihm verwandt, der konventionell-alltägliche beruhen auf der Abstraktion vom jeweiligen Kontext und von den subjektiven Prämissen des Sprechens. Was unter methodisch kontrollierten Bedingungen im Rahmen der Wissenschaft seinen guten Sinn hat, muss jedoch im Modus der alltäglichen Sprache als Depravation gelten. Der Schein der Unmittelbarkeit der äußeren Welt und die Verobjektvierung der Sprache unterschlagen deren subjektive Dimension und neutralisieren damit ihre bildende Wirkung. Nur der rhetorische Gebrauch der Sprache, besonders gepflegt in den Disziplinen der Poesie, der Philosophie und der Geschichtsschreibung, kann tatsächlich bildend sein. In ihm ist ihre welterschließende Funktion stets gegenwärtig. Das Individuum bildet sich dadurch, dass es seine sprachliche Kompetenz entfaltet. Diese Koinzidenz beruht auf einer bemerkenswerten Umdeutung der Beziehung von Sprache und Handlung. Die Entwicklung des Menschen im Allgemeinen und der Gebrauch der Sprache im Besonderen werden von Humboldt identifiziert durch die emphatische Interpretation der Sprache als Handlung. Sprache ist „kein Werk (Ergon), sondern Thätigkeit (Energeia).“157 Die ausdrückliche Erwähnung der griechischen Termini markiert den hier vollzogenen Schritt in aller Deutlichkeit. Humboldt analysiert Sprache als Vollzug und bedient sich dabei der aristotelischen Distinktion von poiesis und praxis, die aus der Unterscheidung von ergon und energeia entwickelt ist.158 Sprache ist Tätigkeit, sofern sie sich nicht in einem äußeren Werk realisiert, sondern ihren Zweck im Vollzug erfüllt. Sie sperrt sich damit gegen die Verobjektivierung, die ihr von wissenschaftlicher Seite droht. Es scheint Humboldt selbstverständlich, dass Sprechen nicht nur ein Modus des Handelns, sondern nachgerade der Inbegriff des Handelns ist. Die Artikulation eines Lautes ist die ursprüngliche Handlung, die den anthropologisch fundamentalen Unterschied zwischen einem bloß sinnlichen Reiz und einem Ausdruck geistigen Strebens markiert.159 Sofern das menschliche Denken sich im Medium der Sprache entfaltet und die Welt sprachlich konstituiert ist, kann die Handlung des Sprechens als Urhandlung aufgefasst werden.160 Die Bestimmung des Menschen, der leitende Gesichtspunkt aller Humboldtschen Untersuchungen, bleibt auch in ihrer allgemeinsten Bedeutung an die Sphäre des Individuellen gebunden. Dennoch zielt Theoriebildung grundsätzlich auf das Allgemeine, im konkreten Falle auf die Humanität in abstrakter Hinsicht. Aber das Allgemeine lässt sich nur im Individuum realisieren. Die Entfaltung des Individuums soll diese Verbindung von Einzelheit und umfassender Universalität des Ideals verbür157 158 159 160
Humboldt 1963, S. 418. Aristoteles 1956, 1094 a 5. Humboldt 1963, S. 427. Diese Verschränkung von Sprache und Handlung wird in der Anthropologie Gehlens wieder aufgenommen, deren zentrale sprachtheoretische Kapitel weitgehend auf Herder und insbesondere Humboldt beruhen. (Gehlen 1993).
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gen.161 Nicht die allgemeinen Qualitäten, sondern gerade die exklusive Individualität des Menschen führt auf die Spur der Humanität. Nun zeigt aber die sprachtheoretische Beleuchtung der Bildung des Menschen, dass der Einzelne nie isoliert aufzufassen ist, sondern stets einer Sprachgemeinschaft, einer Nation angehören muss. Der Begriff der Nation, nicht politisch, sondern sprachlich gefasst, ist das Bindeglied zwischen Einzelnem und Gemeinschaft. Eine Nation ist „eine durch eine bestimmte Sprache charakterisierte geistige Form der Menschheit, in Beziehung auf idealische Totalität individualisiert.“162 Unter der Voraussetzung eines Sprachverständnisses, das auf die lebendige Rede gegründet ist, kann diese Form nicht als homogener Sprachcorpus, weder als grammatisch-lexikalischer Standard noch als fester Bestand von Wissen und Traditionen identifiziert werden. Entscheidend ist vielmehr, dass sich eine Pluralität von Sprechern findet, die sich zu verständigen in der Lage sind. Dies erfordert einen intersubjektiven Rahmen, in dem die individuelle Perspektive veranschlagt werden kann, denn Sprache ist kein Monolog, der sich bisweilen auch an andere wendet, sondern verlangt grundsätzlich, „an ein äusseres, sie verstehendes Wesen gerichtet zu werden“.163 „Sprache muss nothwendig zweien angehören.“164 Der Gedanke erhält seine Bestimmung durch die Wechselwirkung der Individuen, indem die sprachliche Reaktion des Anderen dem Sprecher wiederum zu Gehör kommt. Erst so gewinnt der Gedanke seine Objektivität.165 Im Vollzug der Rede bilden sich die Individuen als Subjekte des Verstehens, die sich nur insoweit selbst verstehen, als sich ihre Rede im Verständnis des Gegenübers bewährt. Weder die Verständigungssubjekte noch der Inhalt der Verständigung sind logisch vorauszusetzen oder vom Verständigungsprozess zu lösen. Aber auch der gemeinsame Rahmen der Sprache ist kein Faktum, sondern bildet sich im Modus der Rede. Dabei ist die Differenz der Sprecher und der Sprachen nicht nur unvermeidlich, sondern schlechterdings notwendig. Das Verstehen stößt damit an eine unüberwindliche immanente Grenze. Verstehen ist immer auch Nicht-Verstehen,166 denn die Mitteilungen eines Anderen erscheinen dem Individuum in einem neuen Licht, die Begriffe erhalten andere Konnotationen und stehen in einem fremden Kontext. Das Nicht-Verstehen ist für das Verstehen konstitutiv, weil erst die Differenz zum Anderen die Verobjektivierung der Rede und ihre Reintegration in den individuellen
161 Humboldt 1963, S. 181. 162 Humboldt 1963, S. 160. 163 Humboldt 1963, S. 408. Humboldt demonstriert diese Intersubjektivität der Sprache am Gebrauch der Personalpronomina, an der für alle Sprachen fundamentalen Differenz von zweiter und dritter Person (Humboldt 1963, S. 138 f.). 164 Humboldt 1963, S. 437. 165 Jäger 1988, S. 90 f. 166 Jäger 1988, S. 90 f.
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Zusammenhang des Denkens ermöglicht.167 Der Begriff, den das Wort repräsentiert, lässt sich nie genau so vermitteln, wie ein Individuum diesen denkt, denn ein einzelner Gedanke verweist auf das Gefüge der zahlreichen anderen Begriffe und Vorstellungen des Individuums. Erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit und wird adäquater Ausdruck des Gedachten.168 Je bestimmter und präziser ein Gedanke artikuliert wird, desto voraussetzungsreicher ist die Begrifflichkeit und desto schwieriger die Verständigung. Dieses Paradoxon betrifft gerade die Sprache der Gebildeten, die eine umso individuellere Färbung annimmt, je allgemeiner und formbewusster sie sich zu geben weiß. Der Andere ist damit dem Individuum prinzipiell fremd: „Wir haben auch nicht einmal die entfernteste Ahnung eines anderen als eines individuellen Bewußtseyns“.169 Die wohlmeinende Aufmerksamkeit, die das Individuum Anderen gegenüber erweisen mag, das einfühlsame psychologische Verstehen kann diesem Problem nicht abhelfen, denn jede Verständigung bekräftigt und vertieft die Differenz im Gebrauch der Sprache. Die Unbestimmtheit potenziert sich mit fortschreitender Ausdifferenzierung der Begriffe, denn Bedeutungsklärung basiert darauf, dass ein Begriff durch ein Netz anderer Begriffe präzisiert wird. Verstehen ist ein Antagonismus von Gemeinsamkeit und Differenz. Dass ein Individuum jemals den Standpunkt eines Anderen einnehmen könnte, wie Schleiermacher postuliert, ist deshalb eine irreführende Illusion.170 Diese Fremdheit der Individuen untereinander wird in der alltäglichen Einstellung gewiss kaum so schroff erfahren; doch ist dies darauf zurückzuführen, dass sie kaschiert wird durch das formelhafte Vokabular, das die Zivilisation bereitstellt. Man gilt als gebildet, wenn man sich den Konventionen entsprechend zu artikulieren weiß und im Übrigen die Individualität des anderen dadurch respektiert, dass ein Unterschied der Perspektiven bei allen Verständigungsversuchen in Rechnung gestellt wird. So scheinen sich im Verhältnis der Individuen untereinander Möglichkeiten und Grenzen des Verstehens in ganz undramatischer Weise einzuspielen. Allein der hermeneutische Antagonismus schlägt sich auch im Selbstverständnis der Individuen nieder. Mit der Feststellung, „dass der Mensch sich nur im Entgegensetzen eines andren erkennen kann“,171 kündigt sich diese Problematik an. Das Individuum ist sich selbst zunächst fremd und gewissermaßen noch unentwickelt, solange sich seine Äußerungen nicht in einem Gegenüber reflektieren. Wenn aber der Andere unerreichbar ist beziehungsweise sich in seiner Gegenrede zugleich zeigt 167 Diese für Humboldts Sprachphilosophie konstitutive Differenz der Standpunkte ignoriert Jürgen Habermas, der darauf beharrt, dass trotz unterschiedlicher Weltansichten allen Individuen die Welt als ein und dieselbe erscheint (Habermas 1999, S. 67-75). 168 Humboldt 1963, S. 439. 169 Humboldt 1963, S. 408. 170 Schleiermachers Hermeneutik, die dem Interpreten diesen Akt der „Divination“ ansinnt, operiert mit der Unterstellung eines festen Identitätskerns, der sich wenigstens in infinitesimaler Näherung mitteilen lässt. (Schleiermacher 1977, S. 167 ff.). 171 Humboldt 1981, S. 197.
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und entzieht, bleibt auch das Selbstverhältnis brüchig. Das Individuum kann seine eigene Bestimmtheit nicht reflexiv vergegenwärtigen. Humboldts Versicherung, dass in der Verschiedenheit der Einzelnen die „sich nur in abgesonderte Individualitäten spaltende Einheit der menschlichen Natur“ liegt,172 sucht zwar durch den Hinweis auf die Verwandtschaft der menschlichen Individuen zu beschwichtigen, kann aber den Antagonismus nicht zurücknehmen. So heißt es im Klartext: „Der Einzelne, wo, wann und wie er lebt, ist ein abgerissenes Bruchstück seines ganzen Geschlechts...“.173 Aber noch als Fragment kann der Einzelne sich zum Symbol der Menschheit erheben. Auch hier bleibt der Humanitätsgedanke leitend, doch im Wandel vom Ideal zum Symbol macht sich eine Ernüchterung bemerkbar. Das Symbol verweist auf ein Ganzes, das den Individuen niemals präsent sein kann. Diese notorische Unzulänglichkeit, für Humboldt Ausdruck der Endlichkeit des Menschen, ist auch durch Bildung nicht zu kompensieren. Gerade im Bestreben, die Fesseln der Innerlichkeit zu brechen und die Fragmentierung des Selbst aufzuheben, verstrickt sich der Einzelne immer mehr in seine je eigene Innenwelt. Das Individuum „macht also immer zunehmende Fortschritte in einem in sich unmöglichen Streben.“174 Die Fähigkeit, sich mit beliebigen Anderen zu verständigen, die als Ausweis der Bildung gilt, ist nur um den Preis einer zunehmenden Individualisierung zu erwerben, die der Verständigung zugleich entgegenarbeitet. Das sich bildende Individuum wird nicht nur den Anderen, sondern auch sich selbst immer mehr zum Rätsel. Radikaler kann die Unverfügbarkeit der Individuen kaum formuliert werden. Mit Humboldts Sprachtheorie findet der Individualitätsgedanke seine letzte Zuspitzung, die bis zur Paradoxie getrieben wird. Nur die heroische Verabsolutierung des einsamen Genies bei Nietzsche führt aus dem Dilemma heraus, das der Mensch nach Humboldt auszuhalten bestimmt ist.175 Aber Nietzsches Überhöhung desselben im Ausnahmefall des Übermenschen stellt das Zentrum des Humboldtschen Denkens, die um ihre eigene Entwicklung besorgte menschliche Individualität und damit den Bildungsbegriff selbst letztlich in Frage. So wird der Knoten, den Humboldt hinterlässt, eher zerschlagen als wirklich gelöst. In der antagonistischen Dynamik des sich bildenden Individuums liegt nicht nur der imaginäre Ansatzpunkt unausgetragener Debatten.176 Sie bietet auch die Basis, um den Begriff der Individualität
Humboldt 1963, S. 430. Humboldt 1963, S. 161. Humboldt 1963, S. 160. Nietzsches Idee des Individuums kann direkt an Humboldts Idee der Realisierung individueller Kraft, anknüpfen, die freilich auf ein rein formales Prinzip verkürzt und zugleich vitalistisch überzeichnet wird: „Vor Allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen – Leben selbst ist Wille zur Macht.“ (Nietzsche 1988, S. 27). 176 Das Modell kann als Interpretament der Verfallsformen von Individualität dienen und vor einer ungebrochenen Übernahme des Authentizitätsideals bewahren Vgl. dazu die Studie von
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gegen seine kulturkritische Diskreditierung beizubehalten, selbst wenn die Voraussetzung transzendentaler Subjekte fragwürdig geworden sein sollte. Die Wirkung Humboldts beruht vor allem auf den bildungspolitischen Innovationen, die er in seiner kurzen Amtszeit mit nachhaltiger Wirkung durchgesetzt hat. Die politischen Rahmenbedingungen seiner Zeit sind jedoch kaum geeignet, dem Prinzip der Individualität zum Durchbruch zu verhelfen. In der im 19. Jahrhundert einsetzenden pädagogischen Theoriebildung findet Humboldt kaum Aufmerksamkeit, denn der extreme Individualismus scheint eher Befremden hervorzurufen. Wenig beachtet ist, dass John Stuart Mill, einer der Gründerväter des modernen Liberalismus, Humboldt als Theoretiker der Individualität preist.177 Wenn Individualität das Prinzip der freien Gesellschaft ist, kann ein Bildungsprogramm, das die Individualität ins Zentrum stellt, das Pendant zum Modell einer liberalen Gesellschaft bilden. Humboldt selbst hatte diese in seinen Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen skizziert. Ihr bestimmendes Prinzip ist die Freiheit der Individuen, die sich in der Entfaltung der Individualität realisiert. Darauf beruht die liberale Gesellschaft, in deren Namen Humboldt den Rückzug des Staates aus den für die Entfaltung des Individuums förderlichen Sphären der Gesellschaft fordert. Diese Idee vertritt auch Mill. Die Entwicklung Gesellschaft profitiert vom freien Spiel der Individuen, die zustande bringen, was durch Kontrolle und Fürsorge eines Obrigkeitsstaats nicht erreicht werden kann. Humboldt und Mill bauen auf die Entwicklungsfähigkeit begabter Einzelner, die in sich selbst gewissermaßen die Standards des normativ Richtigen tragen. Die komplementäre utilitaristische Ethik Mills rekurriert auf das gebildete Individuum. Er betont, dass es um die Qualität, nicht nur die Quantität der Lust geht. „A being of higher faculties requires more to make him happy …“.178 Die normative Dignität des utilitaristischen Moralprinzips basiert auf der Voraussetzung, dass die Individuen nicht nur ihren zufälligen, naturhaften Präferenzen folgen, sondern an der Entfaltung ihrer höheren Fähigkeiten interessiert sind. Was dabei als höher gilt, zeigt sich indirekt durch die Konkurrenz, sofern niemand, der zu Höherem in der Lage ist, freiwillige die qualitativ schlechtere Lust wählen würde. So kommt Mill zur Konzeption einer Gesellschaft, in der die Individuen zwar in einem Wettbewerb um die Entfaltung individueller Kräfte stehen, diese aber einem auf Lustmaximierung angelegten Nutzenkalkül untergeordnet wird, das dem Prinzip ökonomischer Rationalität folgt. Humboldts Individualitätsprinzip wird zwar zur Grundlage der liberalen Gesellschaft, aber das damit verbundene Bildungsbestreben reduziert sich
Taylor 1995, die das Authentizitätsideal zu retten suchen. Dieses Prinzip, dessen Umrisse undeutlich bleiben, wäre durch den Bildungsgedanken klarer zu konturieren. 177 Mill 1979, Chap. III. 178 Mill 1979, S. 9.
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auf das Spiel der Maximierung des individuellen Nutzens, das den Bildungseffekt instrumentalisiert. Man kann diese Distanz zur Welt der Politik durch das unbedingte Bestreben rechtfertigen, die Sphäre der Bildung vor ideologischen Zugriffen und politischer Instrumentalisierung zu bewahren. Genau diese ästhetische Verkürzung des Bildungsbegriffs, für die es im Denken Humboldts zahlreiche Anhaltspunkte gibt, ist Gegenstand der soziologischen und kulturtheoretischen Kritik, die dann die ausgeblendete Welt des Sozialen ideologiekritisch wieder ins Spiel bringt und das klassische Verständnis von Bildung als Deutungsmuster bürgerlicher Selbstbehauptung zu demaskieren sucht.179 Diesem Vorwurf kann Hegels Bildungskonzept nicht ausgesetzt werden. Der Kontext seiner programmatischen Überlegungen ist nicht die Pädagogik, sondern die Morallehre. Bildung ist die Pflicht, die ein Individuum sich selbst gegenüber zu erfüllen hat. Zur Bildung gehört die Einsicht in die Vielfalt der Kenntnisse und die Fähigkeit, allgemeine Gesichtspunkte wahrzunehmen. Es geht nicht darum, Vieles zu wissen, sondern „ein Urteil über die Verhältnisse und die Gegenstände des Wissens“ zu entwickeln.180 In diesem Urteilen darf nun aber nicht das Subjektive zum Ausdruck kommen; vielmehr geht es darum, Zusammenhänge zu begreifen und dadurch die Relevanz des Wissens von besonderen Gegenständen und Wissensbereichen einzuschätzen. Bildung befreit vom Urteilen nach partikularen Gesichtspunkten und öffnet den Blick für die großen Zusammenhänge, die dem einzelnen Wissen seine Bedeutung verleihen. Bildung relativiert den eigenen Standpunkt und stiftet Anschlussfähigkeit im Denken und Handeln. Indem das Individuum das Spektrum seines Wissens erweitert und zu sachangemessenem Urteilen in der Lage ist, entwickelt es auch die Fähigkeit, am gemeinsamen Wissen zu partizipieren. Die „Gemeinschaftlichkeit der Kenntnisse“ 181 ist nicht Selbstzweck, sondern verbürgt die Erweiterung der Individualität. Nicht seine besondere Subjektivität im Gegenstand zu suchen, sondern die Gegenstände, wie sie an und für sich sind zu sehen ist das Ziel der Bildung. Bildung ist folglich eine Entwicklung hin zur Allgemeinheit in dem Sinne, dass die ursprüngliche Unmittelbarkeit im Verhältnis von Subjekt und Objekt aufgebrochen wird. Offen bleibt das Problem, warum sich noch ungebildete Individuen diesem Prozess der Bildung widmen sollten, die doch die bisherige Identität in Frage stellt. Das Interesse an Bildung setzt Bildung gewissermaßen bereits voraus. Es ist damit die paradoxe Grundstruktur von Bildung umrissen. Sie besteht darin, dass die Entwicklung, die ein sich bildendes Individuum vollzieht, sich durch eine besondere Form des Selbstbezugs auszeichnet. Dieser reflexive Vollzug von Bildung wird in 179 Bollenbeck 1994, S. 184-159. 180 Hegel 1970b, S. 259. 181 Hegel 1970b, S. 259.
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Hegels systematischen Werken ausgearbeitet. Während es trivial wäre darauf hinzuweisen, dass der Gebildete weiß, dass er gebildet ist, ist es doch keineswegs einfach, die für Bildung charakteristische Form selbstreferentiellen Wissens zu eruieren. Bildungstheorie kann gelehrt werden, Bildung selbst jedoch nicht. Bildung ist kein Lehrgegenstand, sondern ein Prozess, den diejenigen vollziehen, die sich auf eine bestimmte Weise mit Wirklichkeit auseinandersetzen. Wenn weder die sich auf sich selbst beziehende Reflexion noch das Wissen von Gegenständen, das propositionale Wissen Bildung verbürgen, so kann diese nur als eine besondere Konstellation von Reflexion und Gegenstandswissen dargestellt werden. Eine Ausarbeitung dieser Bildungskonzeption unternimmt Hegel in der Phänomenologie des Geistes. Diese ist der groß angelegte Versuch, eine Bildungsgeschichte des individuellen Bewusstseins in systematischer Absicht zu verfassen. Sein Thema ist nicht die psychologische Entwicklung, sondern die Reflexion auf die Struktur von Wissen und Gegenstand. In dem Bestreben, beide zur Deckung zur bringen, um dem Anspruch des Wissens auf Wahrheit gerecht zu werden, muss das idealtypische Bewusstsein sein Wissen mit dem Gegenstand vergleichen. In der Tat kann das Bewusstsein sich nur mit sich selbst vergleichen, denn auch der Gegenstand ist immer nur der gewusste Gegenstand, das heißt, der Gegenstand, sofern er dem Subjekt zugänglich ist. Die Einsicht in die Differenz beider Momente, die der Voraussetzung, über Wissen vom Gegenstand zu verfügen, widerspricht, zwingt das Bewusstsein zum Übergang von seiner jeweiligen Entwicklungsstufe auf eine andere, höhere Stufe, in der es sein voriges Denken korrigiert. Der Prozess der Erfahrung des Wissens besteht also darin, dass das Bewusstsein sich permanent und in immer höheren Reflexionsformen selbst verändert und damit die Reichweite und begriffliche Tiefe seines Wissens maximiert. Damit ist ganz allgemein der Bildungsprozess charakterisiert. Eine besondere Zuspitzung ergibt sich dann daraus, dass ein Kapitel auch diesen Prozess selbst in seiner reflexiven Wirkung thematisiert. Es handelt von der „Welt des sich entfremdeten Geistes“,182 die sich im Modus der Bildung offenbart. In dem darin dargestellten komplexen Gedankengang ist hervorzuheben, dass hier Individualität und Wirklichkeit, die Hegel Substanz nennt, zusammenfallen, sofern das Bewusstsein die Wirklichkeit wissend durchdringt. Dadurch wird das Individuum selbst allgemein, ein Substantielles, während umgekehrt die Wirklichkeit als das dem Individuum fremde Sein erscheint. Der Versuch, sich der Welt durch das Wissen zu bemächtigen, führt also im Effekt dazu, dass das Individuum sich selbst fremd wird. Die Macht des Individuums über die Wirklichkeit besteht darin, dass es sich ihr gemäß macht und darin sich selbst entfremdet, dabei aber immer diese Relation selbst noch thematisiert als Reflexion der Reflexion.
182 Hegel 1970a, S. 359.
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Die Wirklichkeit, mit der das Individuum in dieser besonderen Phase der Bildung in Hegels Dramaturgie konfrontiert wird, besteht aus der ökonomisch geprägten Gesellschaft und dem Staat. Dies sind die geistigen Mächte, in denen das Individuum seine Substanz erkennt. Es findet darin seine Zwecke, sofern es in der Sphäre der Gesellschaft seine privaten Präferenzen verfolgt und im Staat als dem Gemeinwesen seine Identität, die Garantie für rechtliche Verhältnisse und die Bedingungen der Kooperation mit anderen findet. Das heißt zum einen, dass es eine doppelte Rolle als homo oeconomicus und als homo politicus, als bourgeois und als citoyen übernimmt; zum anderen urteilt es über diese Verhältnisse, die ökonomische Macht und die Staatsmacht aus seiner subjektiven Perspektive und tritt ihnen damit gegenüber.183 Genau daraus resultiert aber eine Spannung, deren produktive Umsetzung das sich bildende Individuum leisten muss. Der Rollenkonflikt korrespondiert dabei den unterschiedlichen Ausrichtungen von Gesellschaft und Staat. Während die ökonomische Welt der Spielraum subjektiver Interessen ist, kommt es in der staatlichen Perspektive darauf an, das Interesse des Gemeinwesens zu vertreten. Die Situation verkompliziert sich dadurch, dass es auch Zweck des Staates ist, die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft und damit auch der individuellen Interessen zu schützen. Bildung strebt diesen Zusammenschluss an, führt aber zunächst in Widersprüche. Das spannungsvolle Verhältnis zeichnet sich ab im Urteilen des Individuums. Es betrachtet seine eigenen Interessen als gut, gerät aber dadurch in Widerspruch mit sich selbst, da es seine Identität als privates Subjekt nicht mit der zugleich stattfindenden Identifikation mit dem Gemeinwesen in Verbindung bringt. In erster Annäherung steht so der gute Zweck des Gemeinwesens gegen das fragwürdige egoistische Treiben der vielen Subjekte der Gesellschaft.184 Zugleich weiß es sich gegenüber Gesellschaft und Staat erhaben, seine Reflexion führt es über beide hinaus zu einem unabhängigen freien Sein als Subjekt. Diesem erscheint nun zugleich der Staat als eine Instanz, die seine individuelle Freiheit unterdrückt,185 während es in der Gesellschaft seine Interessen realisiert, diese also positiv bewertet wird. In dieser Kippfigur zeichnen sich verschiedene Gestalten des ungebildeten Bewusstseins ab, das mit der Situation überfordert ist: die Wutbürger, die ihre Interessen wider Erwarten nicht im Gemeinwesen wiederfinden, die Libertären, die nur ihre individuellen Interessen verfolgen und jede übergeordnete politische Zielsetzung als Ideologie diskreditieren, die Moralisten, die im Namen der Allgemeinheit zu sprechen meinen und doch in ihrem subjektiven Urteil gefangen bleiben, und die extremistischen Kritiker der kapitalistischen Gesellschaft und der Staatsmacht, die diesen Mächten vorwerfen, die individuellen Rechte zu verletzen.
183 Eine detailliert Analyse dieses Abschnitts bietet Stekeler 2014, Kap. 5.8. 184 Hegel 1970a, S. 369. 185 Hegel 1970a, S. 370.
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Es gibt in dieser Situation keinen Rückzug in eine einfache Identität. Hegel spielt die daraus sich ergebende Dialektik, das Umschlagen der Identitäten so weit durch, dass deutlich wird, inwiefern die Entwicklung in die Entfremdung des Individuums führt. Dies ist das Gegenteil einer identifizierbaren Identität. Der Geist der Bildung ist diese „absolute und allgemeine Verkehrung und Entfremdung der Wirklichkeit und des Gedankens; die reine Bildung“.186 In diesem Bewusstsein stürzen wie in einem Kaleidoskop alle Verhältnisse ineinander. Dadurch verliert auch das Individuum seine Sicherheit und Stabilität. Radikale Entfremdung ist radikaler Identitätsverlust. Dieser führt jedoch nicht in die Selbstlosigkeit. Das entfremdete Ich unterzieht vielmehr das Wirkliche seinem Urteil, zeigt dessen Widersprüchlichkeit und offenbart sich als Kritiker aller Verhältnisse. Die haltlose Kritik löst die festen Strukturen, die Gesellschaft, die politische Macht, aber auch das gutmütige Streben der Anderen in seiner kritischen Betrachtung auf. Die besondere Qualität dieses Wissens beruht darauf, dass es um seine eigene Zerissenheit weiß. Darin zeigt sich die Stabilität dieser Bewusstseinskonstellation. Das Individuum ist „reine Sichselbstgleichheit des zu sich zurückgekommenen Selbstbewusstseins“.187 So kann festgehalten werden, dass das gebildete Bewusstsein seine Identität gerade durch die reflexive Auflösung der es umgebenden Wirklichkeit behauptet. Dazu muss es seine eigene Entfremdung durchlaufen. Die bis zur Virtuosität zu steigernde Fähigkeit des kritischen Urteilens, dem sich kein Gegenstand widersetzen kann, löst mittelbar auch die Identität auf und gerade diese Gestalt wird zur neuen Identität des Individuums. Das gebildete Bewusstsein weiß um seine Entfremdung und zugleich bleibt es um dieser Entfremdung willen immer hinter seinem Selbstsein zurück. Da die Reflexion das Sein des Individuums nicht vollständig abbilden kann, nie sein Zentrum erreicht, wird das Individuum exzentrisch. Die reine Bildung stellt eine strukturelle Überforderung des Individuums dar. Die reale Gestalt des sich bildenden Individuums findet ihre Darstellung deshalb konsequenterweise in der Rechtphilosophie im institutionellen Rahmen von Gesellschaft und Staat. Diese werden nun nicht nur als Gegenstand der subjektiven Reflexion präsentiert, sondern als die rechtlich-politische Wirklichkeit der politischen Welt. Ihr systematischer Ort in der Darstellung der praktischen Verhältnisse ist die bürgerliche Gesellschaft, der Raum, in dem die Individuen ihre Privatinteressen verfolgen. In diesem Kontext zeigt sich die Funktion von Bildung. Indem die Individuen ihre Angelegenheiten betreiben, müssen sie „ihr Wissen, Wollen und Tun auf allgemeine Weise bestimmen“.188 Sie erwerben in ihrem eigenen Interesse allgemeine Kenntnisse, eignen sich die Umgangsformen an und werden gesellschaftsfähig. 186 Hegel 1970a, S. 385. 187 Hegel 1970a, S. 390. 188 Hegel 1970c, S. 343.
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Ohne dass eine spezielle Bildungsabsicht zugrunde liegt entwickeln die Individuen sich dadurch zur formellen Freiheit, zur Allgemeinheit. Bildung ist Befreiung, „der absolute Durchgangspunkt zu der nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen unendlich subjektiven Substantialität der Sittlichkeit“.189 Indem die Individuen sich in ihrer Besonderheit zur Allgemeinheit entwickeln, sich von ihren Idiosynkrasien und der Beschränktheit ihrer Standpunkte befreien, tragen sie zugleich entscheidend dazu bei, dass die Verhältnisse, in denen sie leben, die Institutionen von Gesellschaft und Staat, von ihrer Subjektivität durchdrungen werden. Sie müssen sich ihrem Urteil stellen, sind nicht mehr rohe Mächte, sondern anerkannte Institutionen, in deren Zwecken die Individuen idealiter ihre eigenen Absichten wiederfinden. Die vorausgehende Analyse des Bildungsprozesses in seiner abstrakten Form lässt erwarten, dass sich auch mit der Situierung der Bildung innerhalb der Gesellschaft kein Harmonieideal erreichen lässt. Die Gesellschaft bleibt die Sphäre der konkurrierenden, ihre Besonderheit auslebenden Individuen, die ihre beschränkten Zwecke verfolgen. Dass aber trotz dieser subjektiven Freiheit die politischen Institutionen Anerkennung finden können, ist das Resultat der Bildung. Von besonderer Bedeutung ist bei diesem Konzept, dass sich Bildung, obwohl sie eine genuin politische Funktion besitzt, jeder Instrumentalisierung entzieht. Bildung beruht nicht auf Indoktrination, die in welcher Absicht auch immer beschränkte Zwecke verfolgt, sondern auf der freien Entwicklung zur Allgemeinheit. Man könnte von einer Ironie der gesellschaftlichen Kräfte sprechen, die diese Entwicklung befördern, obwohl die Individuen nur ihr Privatinteresse verfolgen. Und umgekehrt gilt, dass die durch Bildung erfolgende Integration der Individuen in die soziale Welt diese selbst zugleich tiefgreifend verändert; sie wird von der Subjektivität derer geprägt, die integriert werden. Bildung ist ein nicht direkt intendierter und nur bedingt steuerbarer Prozess. Er ergibt sich aus dem Bemühen, sich in der Gesellschaft zu behaupten. Er bedroht dabei die ursprüngliche Identität und führt zur Entfremdung. Aber daraus erwächst die Fähigkeit der Vermittlung privater und politischer Perspektiven. Hegel versteht die Gesellschaft generell als Medium der Bildung. Die Freiheit der individuellen Entfaltung ist eine wesentliche Voraussetzung legitimer politischer Institutionen. Die Gesellschaft ist einerseits der Raum, in dem sich die Einzelnen zu bewähren haben und andererseits das Produkt des individuellen Strebens nach Bedürfnisbefriedigung. Dieses Zusammenspiel lebt vom individuellen Streben und der Bildung der Individuen, relativiert und modifiziert aber zugleich deren Zwecke, die sich in das arbeitsteilig organisierte System der Gesellschaft einfügen müssen, um erfolgreich zu sein.
189 Hegel 1970c, S. 345.
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Unterschieden davon ist die politische Perspektive. Der Rollenwechsel zum homo politicus ist der Testfall für die Entfaltung von Individualität. Die Anerkennung des Staates als der politischen Organisation ist die Voraussetzung für die subjektive Freiheit und zugleich das Forum, auf dem die allgemeinen Zwecke, die das Ganze betreffen, verhandelt werden. Der subjektive Wille der Einzelnen kann darin im gelungenen Fall die objektive Manifestation seines Tuns erkennen. Die Struktur der Bildung stellt damit in Hegels Rechtsphilosophie eine entscheidende Voraussetzung für die Verfassungskonzeption dar, sofern die Verfassung diesem Anspruch der Individuen, das eigene Tun in den allgemeinen Institutionen wiederzuerkennen, gerecht werden muss. Obwohl Hegel eine konstitutionelle Monarchie favorisiert, zeigt sein Verfassungsentwurf die Charakteristik des modernen demokratischen Rechtsstaats, dessen normative Legitimation davon abhängt, die Interessen der Individuen mit der Organisation des Gemeinwesens zu vermitteln. Für eine angemessene Einschätzung politischer Integration erweist sich der Begriff der Individualität als schlechterdings fundamental. Individualität ist einerseits nicht ohne das Umfeld einer lebendigen Gemeinschaft möglich, andererseits erschöpft sie sich keinesfalls in der Assimilation an diese Gemeinschaft. Wie die Beteiligung an der Sprachgemeinschaft nicht durch Nachahmung allein möglich wird, sondern durch den eigenen Standpunkt, den zu vertreten auch das Risiko der Fremdheit gegenüber den Anderen einschließt, so ist auch die politische Gemeinschaft nur möglich dank der Eigenständigkeit der Mitglieder. Anders als die abstrakte Kategorie des Menschseins und die mit der Konzeption von Personsein umschriebene rechtlich verbürgte soziale Rolle ist der Begriff der Individualität dafür prädestiniert, die politische Assoziation zur Sprache zu bringen, die im Unterschied zu sonstigen Formen der Vergemeinschaftung diesen Prozess explizit gestaltet. Der Terminus „politische Gemeinschaft“ ist kein sortaler Begriff, der eine bestimmte Form gegen andere absetzt; politisch kann jede Gemeinschaft in dem Maße genannt werden, in dem sie reflexiv ihre Struktur und Entwicklung thematisiert und diese gestaltet. Dazu bedarf sie einer Grammatik des Politischen, die sich in den Strukturen niederschlägt. Ihre Ausgestaltung ist die politische Verfassung. So korreliert die Entfaltung von Individualität mit der Konstitution des Politischen.
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II. Das Volk der politischen Gemeinschaft
1.) We the people: Die Verfassung des Volkes Der Begriff „Volk“ nimmt einen prominenten Platz im politiktheoretischen Vokabular ein und ist doch in hohem Maße vieldeutig und belastet. Politikwissenschaftlich und staatsrechtlich ist er opak.190 Wer von Volk spricht, gerät leicht unter Ideologieverdacht. Angesichts der Vorstellung, dass die Idee der Demokratie eine Konzeption von Demos voraussetzt, ist diese Ausgangslage irritierend. Die Unterscheidung von dēmos und éthnos, politischer Gemeinschaft und Abstammungsgemeinschaft bietet zwar einen Ansatzpunkt, um grobe Missdeutungen auszuschließen. Sachlich ist damit jedoch für den Begriff des Volkes angesichts der Komplexität seiner Begriffsgeschichte noch nicht viel gewonnen. Zum semantischen Erbe, das der Begriff transportiert, gehören die sozialbegrifflichen Varianten in der Abgrenzung gegenüber dem Adel und die romantische, von Herders kulturtheoretischer Auffassung geprägte Lesart. Die politische Bedeutung schält sich in enger Verschränkung von Volk und Nation erst allmählich heraus. Seit dem Ende des 18. Jh. aber steht der Begriff im Zentrum politischer Theoriebildung. Darauf zielt Carl Schmitt wenn er feststellt: „Subjekt jeder Begriffsbestimmung des Staates ist das Volk“.191 Damit ist noch nichts präjudiziert über die Form des Staates. Ebenso neutral ist die Begriffsbestimmung in der neueren juristischen Verfassungslehre. In nüchterner staatsrechtlicher Diktion ist Volk als Staatsvolk definiert, „d.h. als Gesamtheit von Menschen, die im Staat als politischer Handlungs- und Wirkungseinheit zusammengeschlossen sind und ihn tragen“, so Böckenförde.192 Die Mitgliedschaft ergibt sich aus der rechtlich geregelten Staatsangehörigkeit. Diese juristische Begriffsbestimmung muss aber korrigiert und ergänzt werden, wenn die verfassunggebende Gewalt des Volkes in den Blick kommt. Diese kann selbst logischerweise keine verfassungsgesetzliche Größe sein, setzt also ein Volk als handlungsfähige Gewalt voraus, in dem ein Mindestmaß an Ordnungsidee und politischem Gestaltungswillen vorhanden sind. Geht man davon aus, dass das Volk an seine einmalige Entscheidung gebunden ist – eine Auffassung, die allerdings umstritten ist – dann ist von Volk hier nur in legitimatorischer Bedeutung die Rede und dieses politisch neutralisiert, solange eine Verfassung Bestand hat. Aber damit wäre, entgegen der Voraussetzung, der Begriff auf seine rein rechtliche Bedeutung 190 Steinberg 2013, S. 9 ff. 191 Schmitt 1989, S. 205. 192 Böckenförde 1991, S. 311.
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reduziert. Auch die Interpretation der verfassungsgesetzlichen Rolle des Volkes ist alles andere als eindeutig. Der Begriff der Volkssouveränität suggeriert eine letztinstanzliche Entscheidungsgewalt des Volkes, aber es ist strittig, wie sich diese im Prozess der politischen Entscheidungsfindung manifestiert. Unzweifelhaft hängt die Konzeption demokratischer Herrschaft von der Rolle ab, die das Volk nicht nur für die Legitimation der Verfassung insgesamt, sondern im Prozess der konkreten Willensbildung spielt. Dazu wird ein Begriff von Volk vorausgesetzt, der sich nicht in den formalen staatsrechtlichen Kategorien erschöpft. Das neuzeitliche Naturrecht versteht unter Volk eine Gesellschaft, die sich durch einen Vertrag vormals isolierter Einzelner konstituiert. Dabei macht es keinen Unterschied, ob dieser Zusammenschluss eher als fiktive Rekonstruktion staatlicher Macht verstanden wird, wie bei Hobbes, oder ob tatsächlich damit ein historischer Akt verbunden wird, was Locke zumindest nicht ausschließt.193 In beiden Lesarten ist „Volk“ eine abstrakte Bestimmung, die nicht mehr enthält als das Faktum der Vereinigung um der Sicherheit willen. Da die aus der Vereinigung hervorgehende Gemeinschaft mit dem Gründungsakt ihre Macht delegiert und auf eine Herrschaftsinstanz überträgt, treten die vereinigten Subjekte im politischen Raum primär als Untertanen auf. So lange der Staatszweck erfüllt wird, die Selbsterhaltung und Sicherheit der Einzelnen gewährleistet ist, bilden diese das Volk; aber dessen normative Kompetenz erschöpft sich darin, pauschal die Legitimation der Regierung zu liefern. Nur für den Extremfall des Staatsversagens, wenn der Daseinsgrund des Staates nicht mehr gegeben ist, tritt das Volk wieder in sein ursprüngliches Recht. Bei Hobbes ist dieser Ausnahmezustand gleichbedeutend mit der Auflösung des Volkes; bei Locke tritt hier der Vorbehalt des Volkes in Kraft,194 demgemäß das Volk im Fall des Vertrauensverlustes die Regierung entlässt. Selbst aber erscheint es nicht als handlungsfähig. Im Krisenfall agieren die Einzelnen in Verteidigung ihrer natürlichen Freiheit. Trotz der Ansätze zur Gewaltenteilung unterscheidet sich Lockes Modell hinsichtlich der politischen Einschätzung des Volkes nicht grundsätzlich von Hobbes‘ Leviathan. Beide verstehen das Volk nur als interessengestützte Vereinigung einzelner Akteure. Das Volk selbst ist lediglich fiktive Legitimationsinstanz Diese passive Rolle des Volkes drückt sich aus in der Verwendung der Metapher des politischen Körpers, die für Hobbes und Locke gleichermaßen charakteristisch ist. Die Funktion der Seele in diesem Körper wird jedoch unterschiedlich identifiziert. Für Hobbes repräsentiert diese der Souverän, für Locke die Verfassung.195 Beide Auffassungen sind einseitig und werfen mehr Fragen auf als sie beantworten. Hobbes‘ Souverän ist selbst körperhaft, wie das Frontispiz des Leviathan veran193 Hobbes 1839, Chap. 17; Locke 1960, §§ 97 ff. 194 Hobbes 1839, Chap. 19; Locke 1960, § 149. 195 Hobbes 1839, Chap. 29; Locke 1960, § 135 Anm.
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schaulicht. Der Text dagegen lässt eher an einen mechanischen Funktionszusammenhang denken, dessen Teile nur dank der Steuerung verbunden sind. Lockes Bild trägt dem Unterschied von Körper und Seele Rechnung. Die Ordnung ist aber, als Rechtsgefüge, keine Handlungsinstanz, wenn nicht dem Volk selbst dieses Potential zugeschrieben wird. Diesen Schritt vollzieht erst Rousseau, dessen Gesellschaftsvertrag das Volk als autonom handelnde Instanz inauguriert. Ihm verdankt seine politische Philosophie ihre revolutionäre Durchschlagskraft. Die Verfassungstheorie nach Rousseau bezieht sich implizit oder explizit auf diesen normativ gehaltvollen Begriff des Volkes, der einen starken politischen Anspruch transportiert. Peuple ist der Name der Gesamtheit aller per Gesellschaftsvertrag vereinten Mitglieder, die den Souverän bilden, die absolute Macht, die durch kein Gesetz gebunden werden kann.196 Eine revolutionäre Situation wird damit als Dauerzustand fixiert. Rousseaus Modell der Volkssouveränität hat ganz entscheidend die Demokratisierungstendenzen der Moderne befördert. Aber damit verbindet sich auch die Gefahr einer Mystifizierung des Volkes. In der Konstruktionslogik des Vertrags ist die Totalität des Volkes als gegeben vorausgesetzt. Die Rezeptionsvarianten decken ein breites Spektrum politischer Pathologien ab, das von populistischen Bewegungen bis zu den Phantasien einer Realisierung des Volkswillens durch charismatische Führer reicht. Dass „Volk“ immer auch als politischer Kampfbegriff dient und propagandistisch vereinnahmt wird, geht auf diesen Geburtsfehler einer normative Überdeterminierung des Begriffs zurück. Die normative Kraft des Begriffs, seine Funktion als legitimatorische Basis von Politik, verdankt sich einer fast gewaltsamen begrifflichen Reduktion. Rousseaus Theorie der volonté générale zeigt eine Komplexität, die er benennt, aber vernachlässigen zu können meint: Die Gesellschaft wird nach Rousseau durch einen Vertrag konstituiert, der eigentlich zwei Vertragsbeziehungen, einen Gesellschaftsvertrag und einen Herrschaftsvertrag enthält. Das Individuum verpflichtet sich als Mitglied des Souveräns gegenüber dem einzelnen und als Glied des Staates gegenüber dem Souverän.197 So taucht das Volk in mehrfacher Hinsicht auf: als Summe der einzelnen, als Souverän und als die Gesamtheit der Untertanen des Staates. Diese Differenz wird von Rousseau jedoch nicht entwickelt, sondern im Vertrag komprimiert auf die Formel des Gemeinwillens, der alle Unterschiede absorbiert. Streng genommen ist der Souverän als Produkt bereits ideell vorausgesetzt für die Vergemeinschaftung. Ihm ist das empirische Dasein der Einzelnen unvermittelt entgegengesetzt. Kant versucht den Begriff des Volkes, dessen revolutionäre Kraft ihm vor Augen steht, zu entschärfen im Rahmen seines Programms, Politik als Realisierung des Rechts zu begreifen. Volk ist zunächst als die „in einem Landstrich vereinigte Men196 Rousseau 1964, II, 8. 197 Rousseau 1964, I, 7.
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ge Menschen, in so fern sie ein Ganzes ausmachen“.198 Ein Ganzes werden sie durch die Vereinigung im Recht, also durch den Staat. Da der Staat „die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ ist, sind die Begriffe Volk und Staat nur zirkulär zu definieren. In der abstrakten Vertragsidee bildet sich diese Struktur ab. Die Frage, was ein Volk außerhalb der Rechtsbestimmungen ist, kann innerhalb dieses Schemas nicht beantwortet werden; sie kann streng genommen auch nicht adäquat gestellt werden. Eine politische Rolle nimmt das Volk innerhalb der Verfassung dann insofern ein, als es im Akt der Konstitution als Subjekt des Allgemeinwillens in Anspruch genommen wird. In dieser verfassten Gestalt – das heißt für Kant in den rechtstaatlichen Strukturen einer Repräsentativverfassung – ist das Volk die pauschale Legitimationsinstanz gesetzgebender Verfahren. Eine unmittelbare Demokratie, eine Herrschaft des Volkes, gilt Kant als Despotismus. Er geht davon aus, dass Volk als Totalität nicht definitiv fassbar ist und dass jede unmittelbar auf einen Volkswillen rekurrierende Entscheidung immer nur eine Mehrheitsmeinung darstellt, die Minderheiten ignoriert und damit dem Anspruch auf Allgemeinheit widerspricht. Ein allgemeiner Wille ist weder unmittelbar gegeben noch kann er durch Verfahren ermittelt werden. Die demokratischen Aspekte der republikanischen Konzeption Kants sind so schwach ausgeprägt, dass kaum ersichtlich ist, inwiefern das Volk hier nicht nur als Legitimationstitel der politischen Institutionen beschworen, sondern als politischer Akteur eingesetzt wird. Die Souveränität liegt nach Kant beim Regenten, nicht beim Volk. Trotz der ganz unterschiedlichen Akzentuierung der politischen Rolle des Volkes verbindet Rousseau und Kant die Idee der vertraglichen Konstituierung des Volkes. Dass das Deutungsschema in scharfem Kontrast zur historischen Genese der Verfassung steht, ist der Preis seiner normativen Unbedingtheit. Volk ist eine rein normative, keine reale Größe. Die kontraktualistische Logik lässt jedoch Fragen offen: Was macht das konkrete Volk – im Unterschied zur abstrakten Gesellschaft – zum Volk? Konstituiert sich das Volk außerhalb der Verfassung oder durch die Verfassung? Das im Völkerrecht verankerte Selbstbestimmungsrecht der Völker setzt voraus, dass in einer historischen Situation Konsens erzielt werden kann in der Frage, welche Ethnie den Status eines politisch souveränen Volkes (und damit im Konfliktfall das Notwehrrecht) in Anspruch nehmen kann. Das moderne Staatsrecht setzt dagegen kein vorpolitisch existentes Volk voraus, sondern definiert dieses über die Verfassung. Es geht von einer Identität des Volkes bei gleichzeitigem Wechsel der Mitglieder aus. Identisch bleibt nur die Körperschaft, nicht das empirische Volk. Diese Diskrepanz zwischen normativer Begrifflichkeit und Realität zeigt sich auch in der Frage nach der Realisierung der Souveränität in demokratischen Verfas-
198 Kant 1917, S. 311.
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sungen, also der sogenannten Volkssouveränität. Wahlen und Volksbegehren sind die üblichen Formen der Beteiligung des Volkes an der politischen Willensbildung, aber es ist nicht nur in der restriktiven kantischen Version deutlich, dass eine Mehrheit des wahlberechtigten und dieses Recht auch faktisch wahrnehmenden Teils der Bevölkerung nicht pauschal als Ausdruck des Allgemeinwillens ausgegeben werden kann. Diese Annahme bildet jedoch die stillschweigende Voraussetzung des liberalen Demokratieverständnisses, obwohl bislang keine überzeugende Theorie der Legitimation durch Mehrheitsbeschluss entwickelt wurde.199 Demokratische Herrschaft gilt als Mehrheitsherrschaft. Im Zusammenhang der Entwicklung demokratischer Herrschaftsformen rückt das Majoritätsprinzip in das Zentrum der politischen Theorie.200 Der Wille des Volkes ist der Mehrheitswille. Die kontraktualistische Theorie operiert mit dem Majoritätsprinzip, indem sie es als Vertragsklausel vorsieht. Wer dem Gesellschaftsvertrag im Sinne Lockes zustimmt, akzeptiert auch künftige Entscheidungen per Mehrheitsbeschluss.201 Damit ist aber auch umgekehrt gesetzt, dass die Legitimität des Mehrheitsvotums auf den vorausgehenden Konsens bezüglich einer allgemein anerkannten Ordnung baut. Die grundsätzliche Rechtmäßigkeit einer Mehrheitsentscheidung selbst wird vorbehaltlich der Zustimmung zum Gesellschaftsvertrag von Locke mit dem Modell der stärksten Kraft begründet, die den politischen Körper bewegt.202 Mit diesem unangemessenen, weil mechanistischen und physikalisch auch inkorrekten Bild sucht Locke die Plausibilität der Hypothese zu stützen, dass die Meinung der Mehrheit als Meinung aller gilt. Zu diesem Theorem steht die von Rousseau entwickelte Konzeption der Volkssouveränität in unaufhebbarer Spannung. Der Gesellschaftsvertrag muss, was die Vereinigung als solche betrifft, einen Konsens voraussetzen; wer nicht zustimmt, bleibt ausgeschlossen. Der so konstituierte Gemeinwille als Träger der Souveränität muss aber auch in den weiteren Entscheidungen als einheitliche Instanz agieren. Hier gilt nun auch nach Rousseau das Mehrheitsprinzip, das implizit im ursprünglichen Vertrag beschlossen wurde.203 Im Vertragsschluss selbst wurde diese Klausel jedoch nicht erwähnt. So geht Rousseau offensichtlich davon aus, dass die Artikulation des Gemeinwillens durch Mehrheitsbeschuss selbstverständlich ist. Tatsächlich deutet Rousseau Mehrheit kurzerhand in Konsens um. Die abweichende Stimme ist in dieser Betrachtung falsch und unberechtigt. Die bloße Existenz einer Minderheitsmeinung verstößt gegen das Prinzip der Volkssouveränität, die in einem ungebrochenen Gesamtwillen zum Ausdruck kommt. Rousseaus Politikverständnis 199 Rosanvallon 2013, S. 31 ff. 200 Scheuner 1973. Über die insgesamt nicht überzeugenden Versuche einer Begründung des Mehrheitsprinzips informiert Heun 1983, S. 79 ff. 201 Locke 1960, § 97. 202 Locke 1960, § 96. 203 Rousseau 1964, IV, 2.
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ist dem Konsensprinzip verpflichtet und bestreitet die Berechtigung einer Minderheitsmeinung. Wer gegen die Mehrheit stimmt, täuscht sich. Minderheitsmeinungen können deshalb keine besonderen Rechte beanspruchen. Die auf die amerikanischen Verhältnisse bezogene Diskussion über die demokratischen Verfassungen zeigt mehr Sensibilität gegenüber der Frage der Unterdrückung einer Minderheit durch die Mehrheit. Als Sicherheitsgarant für die Minderheit betrachtet Madison in den Federalist Papers die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in möglichst viele Interessengruppen. So wird es unwahrscheinlicher, dass sich eine Mehrheit gegen eine Minderheit verbündet.204 Die ganze Tragweite der Problematik des Mehrheitsprinzips diagnostiziert Tocqueville in seinen Betrachtungen über die amerikanische Demokratie. Die unbedingte Geltung des Mehrheitsprinzips ist für ihn Ausdruck des Despotismus, der die Freiheit der amerikanischen Gesellschaft bedroht.205 Dabei akzeptiert Tocqueville grundsätzlich den Geltungsanspruch des Mehrheitsprinzips, macht aber deutlich, dass dieses Prinzip für die Bedrohung der Freiheit verantwortlich ist. Die Tyrannei der Mehrheit ist die allgegenwärtige Gefahr der neuen Demokratie. Auch Mill hebt das Legitimitätsdefizit einer Herrschaft der Mehrheit hervor und sucht nach organisatorischen Maßnahmen, um dieses zu beheben. Als Heilmittel erscheinen ihm dabei komplexe Verfahren der Stimmenverteilung bei Wahlen, durch die erreicht werden soll, dass jede Stimme tatsächlich für die Wahl eines Repräsentanten als Mitglied der gesetzgebenden Körperschaft gewertet wird.206 Diese Lösung relativiert das Problem aber nur auf der Ebene der Wahl der Repräsentanten und kann nicht auf die Entscheidung von Sachfragen übertragen werden. Die grundsätzliche Geltung des Mehrheitsprinzips wird dadurch jedoch nicht in Frage gestellt. Das neuere deliberative Demokratiemodell überbietet das Mehrheitspostulat durch das Konsensideal, kann aber die Realität der Meinungsbildung in komplexen Gesellschaften nicht ignorieren und muss deshalb das Mehrheitsrecht als Ersatz für Konsens akzeptieren. Habermas schließt sich der Auffassung an, dass die Mehrheitsmeinung provisorische Geltung beanspruchen kann, „bis die Minderheit die Mehrheit von der Richtigkeit ihrer Auffassung überzeugt hat“.207 Realiter dürfte jedoch kaum jemals mit einer vollständigen Überzeugung der Minderheit durch die Mehrheit zu rechnen sein; ganz abgesehen von der Frage der sachlichen Richtigkeit der Mehrheitsentscheidung. Dessen ungeachtet wechselt die Diskurstheorie unter dieser Prämisse die Perspektive von der Frage der Identifikation des Gemeinwillens, der die Souveränität des Volkes zum Ausdruck bringt, zu Fragen der Verfahren 204 Hamilton, Madison, Jay 1987, Nr. 51. 205 Tocqueville 1987, S. 375 ff. 206 Mill 1991, S. 153. Die aufgrund der Mehrheitsregel nicht wirksamen Stimmen der Minderheit sollen, so der Vorschlag, anderen Kandidaten zugutekommen, die dadurch als Mitglieder der Legislative gewählt werden. 207 Habermas 1992, S. 371.
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der Meinungs- und Willensbildung. Das Subjekt der Demokratie verflüchtigt sich dabei in volatilen Prozessen öffentlicher Diskussion und nimmt in fragwürdigen Mehrheitsmeinungen konkrete Gestalt an. Deren Legitimitätsanspruch verdankt sich der Annahme der konsensbildenden Wirkung des Diskurses und ignoriert dabei, dass gerade die Ausdifferenzierung der Meinungen und der Umgang mit Dissens wesentliche Faktoren der Legitimität von Entscheidungen sind. Die überwiegend aus pragmatischen Gründen verteidigte These, die Mehrheit repräsentiere den Gesamtwillen, ist die bis heute ungedeckte Hypothek der Demokratietheorie. Auch dort, wo diese schroffe Arithmetik durch komplexe Modelle des Verhältniswahlrechts abgemildert wird, ist das grundsätzliche Problem nicht gelöst. In der Frage der Legitimität von Mehrheitsentscheidungen zeichnet sich das Problem der Legitimität demokratischer Entscheidungsbildung in besonderer Schärfe ab. Legitim ist eine Entscheidung, sofern sie dem Willen des ganzen Volkes zugeschrieben werden kann. Faktisch drückt sie nur den Willen des größeren Teils desselben aus. Die Legitimität demokratischer Entscheidungen beruht auf der Idee eines Volkes, das handlungsfähig ist. Die Entscheidung selbst basiert immer nur auf einem Teil des Volkes. Die Legitimität dieses Postulats, ein Teil repräsentiere das Ganze, lässt sich nur rekonstruieren mit Bezug auf die Voraussetzungen, unter denen die Mehrheitsentscheidung zu Stande kommt. Dieser Problemzusammenhang führt auf die Frage des Verhältnisses von Einheit und Pluralität. Unter der Voraussetzung der in einem Volk faktisch gegebenen Pluralität wird die Frage der Einheit virulent und nur unter der Voraussetzung der Anerkennung und Aufrechterhaltung der Pluralität wird die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen plausibel. Volk ist die Einheit einer Pluralität. An der Darstellung dieses komplexen Verhältnisses scheitern die kontraktualistischen Ansätze von Hobbes bis Fichte. Erst Hegel, dessen Staatstheorie einen kaum überbotenen Standard setzt, löst sich vom vertragstheoretischen Schema und entwickelt ein Konzept des Volkes, das eine Grundlage für eine demokratische Verfassungstheorie bietet. Er nimmt den normativen Anspruch der politischen Philosophie Rousseaus und Kants auf, aber befreit das ihm zugrunde liegende Prinzip des freien Willens von den Abstraktionen des Kontraktualismus und löst die Hypostasierung auf, die darin der Begriff des Volkes erfahren hat. Sein Staatsverständnis stellt den anspruchsvollsten Versuch dar, die normativen Grundlinien eines Staates zu entwickeln, in dem Individualität und Allgemeinheit vermittelt sind: „Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbstständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen, und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten.“208
208 Hegel 1970c, § 260.
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Ausgangspunkt der Betrachtung ist die Vielheit der in der bürgerlichen Gesellschaft versammelten Individuen. Für diese Vielheit den Titel der Allgemeinheit zu beanspruchen ist nicht statthaft. Hegel spricht lediglich von einer empirischen Allgemeinheit,209 denn damit ist zunächst nur eine ganz unbestimmte Gruppe ohne legitimatorische Relevanz benannt. Das Volk in diesem empirischen Sinne weiß nicht, was es will, weil es als Volk nicht präsent ist. Es hat keine politische Identität. Gerade darauf, auf dem Wissen und der Erkenntnis dessen, was im Sinne des allgemeinen Willens gewollt ist, beruht jedoch die normative Funktion der Allgemeinheit. Dieser Vielheit geht in Hegels Darstellung die natürliche Sittlichkeit voraus, das vor der Differenzierung von Öffentlichkeit und Privatheit sich in Familienverhältnissen manifestierende Ethos. Die Vielheit der Familien öffnet sich dann zum Volk in der Bestimmung einer Nation. Der Begriff der Nation hat bei Hegel keine systematische Bedeutung und bleibt in seiner Unbestimmtheit nicht mehr als ein Index der kulturellen Prägung, die sich in den Verhältnissen der Lebenswelt zu erkennen gibt. Allerdings dient er als Referenz für die spätere Bestimmung des Staates, der als „Geist eines Volkes“210 gilt. Aber dieser zeigt sich erst in der Verfassung. Es gibt also keine genetische Entwicklung von der Nation zum Volk und der Begriff des Volkes entbehrt jeder ethnischen Fundierung. Das Verhältnis wird allein rekursiv bestimmt. Der vernünftige Wille, der sich nach den Spielregeln der Verfassung artikuliert, gibt dem Geist des Volkes seine Kontur. In der vorpolitischen Bestimmung einer Nation kann nur in ganz unspezifischem Sinne von einem bestimmten Volkscharakter die Rede sein, dem Hegel in rechtsphilosophischer Betrachtung keine weitere Aufmerksamkeit schenkt. Entscheidend für die Entwicklung ist der Übergang zur Sphäre der Gesellschaft, in der die Bedeutung ethischer Prägungen zurücktritt. Hier herrschen die Bedingungen der ökonomischen Welt, die sich vom Ethos emanzipiert und ihren eigenen Regeln folgt. Komplementär zu ihr etabliert sich das System des Rechts als normative Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft. Gesellschaft und Rechtssystem sind nach allgemeinen und universalen, nicht nach national geprägten Standards organisiert. Dass die Ökonomie sich als Nationalökonomie, in nationalen Grenzen entwickelt, kommt lediglich in der Tatsache zum Ausdruck, dass sie sich jeweils im Rahmen des nationalstaatlichen Rechts entfaltet. Die Dynamik der Ökonomie treibt diese aber über sich hinaus zum Austausch mit anderen Völkern und sie führt innerhalb der Gesellschaft zu sozialen Verwerfungen. Auf die dissoziativen Folgen kapitalistischer Wirtschaft und ihre nationale Grenzen sprengende Dynamik hat Hegel als einer der ersten aufmerksam gemacht.
209 Hegel 1970c, § 301. 210 Hegel 1970c, § 274.
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Das Volk tritt in der Gesellschaft folglich in Erscheinung in Gestalt einer nur kontigenterweise national geprägten Vielheit, über deren normative Bestimmung zunächst nicht mehr zu sagen ist als dass es sich um eine Menge von Personen handelt, die in der durch Rechtsbestimmungen konstituierten Handlungswelt frei agieren. Das Volk im Sinne der Gesellschaft ist keine politische Größe; seine Beziehung zum Staat besteht darin, dass es der regulativen Macht des Staates unterworfen ist. Das Volk ist jedoch zugleich Akteur im Rahmen des Inneren Staatsrechts der Rechtsphilosophie. Indem Hegel den Staat als „Geist eines Volkes“ vorstellt,211 räumt er dem Volk die Rolle einer Substanz ein, die im Staat zum Wissen von sich selbst kommt. So manifestiert sich der Staat im Gesetz, der Sitte und dem Bewusstsein seiner Individuen. Dieses Gebilde in seiner Gesamtheit ist die Verfassung als organisierte Wirkungsmacht. Allgemeiner Strukturprinzipien unerachtet ist die institutionalisierte Verfassung immer Verfassung eines bestimmten Volkes, dessen Selbstbewusstsein in ihr zum Ausdruck kommt. Der Charakter eines Volkes ist in dieser Konstellation keine Determinante der Verfassung, sondern muss sich in den Formen der Verfassung als besondere Erscheinungsweise eines Allgemeinen artikulieren. Denn die Idee des Staates, so Hegel, ist vom historischen Ursprung konkreter Staaten unabhängig. Das Prinzip der Autorität des Staates ist der allgemeine Wille und dessen gedankliche Entwicklung. Die empirische Geschichte allein hat keine legitimatorische Bedeutung.212 Hegel ist der Überzeugung, damit Rousseaus Idee der volonté générale zu entfalten, in der er das Legitimationsprinzip des modernen Staates sieht. Anders als in dessen kontraktualistischem Modell muss die Verbindung von Einzelwillen und Allgemeinwillen jedoch in der Verfassung entwickelt werden. Während im Vertrag der allgemeine Wille eine reine Abstraktion bleibt, sucht Hegel die Verfassung als Vermittlung darzustellen gemäß dem leitenden Prinzip, dass die Vernünftigkeit des Staates in der von ihm zu leistenden Einheit der Allgemeinheit und der Einzelheit, der Einheit der objektiven Freiheit des allgemeinen Willens und der subjektiven Freiheit des individuellen Willens und seiner besonderen Zwecke zu realisieren ist.213 Während bei Rousseau die Vielheit unbestimmter Individuen per Vertrag in die Allgemeinheit eines Volkes umschlägt, erscheint bei Hegel das Volk in zweifacher Gestalt: als das soziale Volk der Gesellschaft und als das politische Volk des Staates. Man könnte von zwei Körpern des Volkes sprechen, wäre diese überbeanspruchte Metaphorik nicht missverständlich. Das soziale Volk ist nicht als ein Körper, nicht als Einheit, sondern als Vielheit präsent. Das Staatsvolk besitzt ein ideelles Dasein, 211 Hegel 1970c, § 274. 212 Dies verkennt Philipp Manow, der Hegel vorwirft, von den historischen Erscheinungsformen des Staates abzusehen (Manow 2020, S. 159 f.). 213 Hegel 1970c, § 258.
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es ist nicht zu identifizieren ohne die geistige Struktur, die sich in der Verfassung zu erkennen gibt. So taucht also der Terminus Volk in zweierlei Bedeutung auf: er bezeichnet das empirische Volk, das Sozialvolk der unter einem Gesetz lebenden Vielen, die ihren Interessen nachgehen; und er bezeichnet zugleich das politische Volk, das die Legitimationsgrundlage der politischen Verfassung und der in ihrem Rahmen vollzogenen exekutiven Aktivitäten bildet.214 Anders als im Kontraktualismus muss diese Verbindung von Einzelheit und Allgemeinheit durch die Organisationen des Staates gewährleistet und das heißt, prozessual entwickelt werden. Das Spannungsverhältnis bildet sich darin ab, dass das Individuum als „sich wissende und wollende Einzelheit“ zugleich die „das Substantielle wissende und wollende Allgemeinheit“ in sich enthält.215 Beides verkörpert das Individuum nicht im gleichen Sinne. Der Einzelne agiert als Privatmensch und zugleich als Person in der Rolle eines Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft. In diesem Status findet der einzelne keine stabile Identität; es ist ein Zustand permanenter Entzweiung. Zugleich ist das Individuum allgemein im Rahmen der Institutionen als ideelles Mitglied des Volkes im politischen Sinne. Diese Verdopplung des Volkes zeichnet sich also auch in der Doppelrolle des Einzelnen ab. Das Sozialvolk laboriert an der Entzweiung von natürlicher Sittlichkeit der privaten Existenz und gesellschaftlichem Dasein einerseits und der Differenz von Sozialvolk und politischem Volk andererseits. Nach Innen und nach Außen ist es permanent mit dem Faktum der Nicht-Identität oder der Differenz konfrontiert. Ob Hegel diese Vermittlung des Einzelnen und des Allgemeinen plausibel entwickelt, ist umstritten und insofern kann es nicht überraschen, wenn die neuere Rezeption der Hegelschen Rechtsphilosophie vom Modell der Sittlichkeit Abstand nimmt.216 Hegels Aufriss der Verfassung ist gewiss defizitär, doch lassen sich diese Mängel nur dann diagnostizieren, wenn der normative Anspruch einer Verfassung zugrunde gelegt wird. Wenn dieser Anspruch darin besteht, dass mit der Verfassung die Verbindung von Einzelheit und Allgemeinheit, Sozialvolk und politischem Volk entwickelt wird, dann kann konzediert werden, dass der Hegelsche Staat auf dem Prinzip der Integration beruht. Zwar wird erst mit Rudolf Smend dieser Terminus zur Kategorie der Verfassungstheorie, der Sache nach aber zeichnet sich Hegels Konzeption des Staates genau durch diese Funktion aus. Im Dasein des staatlichen Organisationszusammenhangs vollzieht sich die politische Willensbildung als eine soziale Synthese. Dieses Prinzip charakterisiert Hegels Anspruch besser als die Versuche, die Normativität des Staates nach dem Schema der Legitimation von Herrschaft zu beurteilen.
214 Rosanvallon 2013. 215 Hegel 1970c, § 264. 216 So beispielsweise Honneth 2011.
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Dies zeigt sich paradigmatisch in der Behandlung des Prinzips der Volkssouveränität. Hegel betont, dass das Volk weder die Verkörperung der verfassunggebenden Gewalt noch die Legitimationsinstanz politischen Handelns ist. Das Volk ist nach außen genau dann souverän, wenn es in einem selbständigen Staat organisiert ist. Die innere Souveränität ergibt sich aus der organisatorischen Gliederung und kann nicht gegen die anderen Gewalten des Staates ins Feld geführt werden. Das Prinzip der Volkssouveränität ist nach Hegel also nur insofern in Anschlag zu bringen, als das Volk verfasstes Volk ist, sich in den Strukturen der Verfassung artikuliert.217 Damit scheint der normativen Kraft des demokratischen Prinzips der Volkssouveränität die Spitze gebrochen. Liest man in diesem Zusammenhang noch die Bemerkungen Hegels zu den Wahlen, die er als mehr oder weniger überflüssig, als ein Spiel der Meinungen und der Willkür betrachtet, dann mag er als der antidemokratische Autor erscheinen, zu dem ihn die Rezeption teilweise gemacht hat. Die Einschätzung ist jedoch verzerrend. Die Verfassung der konstitutionellen Monarchie Hegels enthält eine differenziertere Konzeption der Volkssouveränität als viele demokratietheoretische Ansätze. Volkssouveränität bedeutet nicht Herrschaft des empirischen sozialen Volkes. Von Volkssouveränität kann erstens nur in Bezug auf das verfasste Volk die Rede sein und zweitens ist das Volk nicht souverän im Sinne der Herrschaft, sondern als die Instanz, aus der Herrschaft hervorgeht; das verfasste Volk manifestiert eine Form der Macht, die als Grund von Herrschaft verstanden werden muss. Sie ist selbst keine Instanz von Herrschaft. In diesem präzisen Sinne ist das Volk souverän. Dass das Verhältnis der Individuen zum Staat in der Rezeption der Rechtsphilosophie primär im Sinne von Untertanen und Herrschaftsinstanz gelesen wird, basiert auf einem unzureichenden Verständnis von Macht. In den Sozialwissenschaften dominiert seit Max Weber bis heute die Einschätzung, dass Macht ausschließlich als Herrschaft Wirkungen zeitigt. Diese Reduktion verstellt den Blick auf die Komplexität der Beziehung von Individuum und Verfassung. Das Dasein der Verfassung begründet sich nicht durch Herrschaft, die sich unter rechtstaatlichen Bedingungen ja nur innerhalb der Verfassung realisiert, sondern durch einen davon unabhängigen Machttypus, der konstitutive Macht genannt werden kann.218 Ihr demokratischer Anspruch drückt sich aus in der Volkssouveränität. Die Wirkung dieser Macht manifestiert sich im institutionellen Dasein der verfassten politischen Gemeinschaft, deren Regeln die Verfassung enthält. Konstitutive Macht stiftet den Rahmen für politisches Handeln, sie ist kein Modus von Herrschaft. In diesem Sinne sind beispielsweise auch vereinbarte Spielregeln kein Ausdruck von Herrschaft, sondern stiften Möglichkeiten des Handelns und definieren in diesem Kontext gegebenenfalls auch Herrschaftsfunktionen. 217 Hegel 1970c, § 279. 218 Zur Theorie der Macht s. Zenkert 2004.
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Funktionaler Sinn der Machtkonstellation des Staates ist die Integration. Die Herrschaft des Rechts wirkt integrativ, sofern alle gleichermaßen den allgemeinen Rechtsbestimmungen unterworfen werden. Die Geltung des Rechts beruht auf seiner Anerkennung als Ausdruck legitimer Entscheidungen des Souveräns. Insofern ist das Recht repräsentativ, es transzendiert die Sphäre des Rechtssystems, ist nicht nur eine Sammlung von Normen und deren Anwendung, sondern vergegenwärtigt nach demokratischem Verständnis den Willen des Volkes. Es entlässt aber den Einzelnen zugleich in seine subjektive Freiheit. Insofern ist der Integrationsgrad des Rechts begrenzt. Aber es stabilisiert die Differenz, den Freiraum der Einzelnen im Institutionengefüge. Auch dies ist eine integrative Wirkung. Fundamental für den Zusammenhang von Macht und Handlungswelt ist die politische Repräsentation. Hegel betrachtet Repräsentation als Schlüssel für die Vermittlung zwischen den besonderen Interessen der Individuen und den allgemeinen Angelegenheiten des Staates. Auch wenn die ständische Organisation der gesetzgebenden Gewalt, wie sie Hegel vorschwebt, obsolet ist, kann grundsätzlich festgestellt werden, dass die Aufgabe der Repräsentation nicht darin liegt, gegebene Interessen zu vertreten, sondern die allgemeinen Interessen überhaupt erst zu statuieren. Der funktionale Sinn der Repräsentation ist nicht Stellvertretung, sondern Vergegenwärtigung des nicht Gegenwärtigen, des allgemeinen Willens.219 Deshalb sind auch die Abgeordneten nicht die Stellvertreter des Volkes im Sinne der empirischen Vielheit. Ihre politische Bedeutung beruht vor allem darauf, Handlungsmacht in regulative Macht oder Herrschaft zu transformieren und umgekehrt. Dies ist auch der Sinn von Wahlen, deren Bedeutung Hegel als gering beurteilt. In der Tat ist darin der Einfluss des einzelnen dabei nahezu verschwindend und es ist bezeichnend für ihren Legitimationsanspruch, dass im Vollzug einer Wahl nicht der Souverän in Erscheinung tritt, sondern der isolierte Einzelne anonym seine Stimme abgibt. Hegel unterschätzt die repräsentative Wirkung der Wahlen in den modernen Verfassungen. Mehrheiten können als repräsentativ für das Ganze gelten, sofern ihnen diese Bedeutung zuerkannt wird. Sie sind aber keinesfalls die einzige oder auch nur die wichtigste Form von Repräsentation. Ihre integrative Kraft verdanken sie dem vorausgehenden Konsens darüber, dass die Minderheit die Mehrheit als repräsentativ anerkennt. Repräsentation kann also nur unter Voraussetzung einer fundamentalen Übereinkunft ihre integrative Wirkung entfalten. Die Erscheinung der ideellen Integration des Einzelnen im Verhältnis zur konstitutiven Macht ist der Patriotismus. Dass das Individuum im Kontext der sittlichen Mächte sein „Selbstgefühl“ hat, stellt den maximalen Intensitätsgrad von Integration dar. Das damit beschriebene Verhältnis, die Identifikation des Individuums mit dem Ganzen, kann in der elementaren Refle-
219 Hegel 1970c, § 311.
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xion auch als „Zutrauen“ erfahren und schließlich in begründete Einsicht überführt werden. Diese Identifikation mit der kollektiven Macht gibt sich in der „politischen Gesinnung“ zu erkennen, „welche in dem gewöhnlichen Zustande und Lebensverhältnisse das Gemeinwesen für die substantielle Grundlage und Zweck zu wissen gewohnt ist.“220 So bezieht sich das Individuum im Modus seines Selbstverständnisses auf das Ganze der verfassten Macht. Von Sternbergers Verfassungspatriotismus, der alle nationale Prägung abgelegt hat, unterscheidet sich Hegels Auffassung der politischen Gesinnung durch den Bezug auf die konkrete Gesellschaft und ihre Institutionen. Die Einzelnen begreifen sich als Bürgerinnen und Bürger, als Teil des politischen Volkes, als Subjekt der Demokratie und ihrer Organisation. Ihr Horizont ist nicht das abstrakte Konstruktionsprinzip des Staates, sondern der individuelle Staat. Vordergründig betrachtet scheint es sich hier um eine Internalisierung staatlich gesetzter Normen zu handeln, die das Selbstverständnis der Individuen prägt und zugleich die politische Macht stabilisiert. Diese Auffassung greift jedoch zu kurz, da die Institutionen, versteht man sie als verobjektivierte Handlungsweisen, sich nicht von ihrer Existenz im Bewusstsein der Individuen ablösen lassen. So kann man der Wirklichkeit der politischen Institutionen nur dadurch gerecht werden, dass die Beziehung der Individuen zu den Institutionen als Bildung in zweifacher Bedeutung charakterisiert wird. Der Zusammenhang betrifft die Bildung der Individuen sowohl als die Bildung der Institutionen. Das Institutionengefüge präsentiert sich als Zweck der Individuen (genitivus subjectivus), und dient diesen als Handlungsraum für ihre besonderen Zwecke. Zugleich ist es die Bestimmung der Individuen (genitivus objectivus), „ein allgemeines Leben zu führen“.221 Die Kluft zwischen dem Ausgangsstadium des in seine Besonderheit verstrickten Einzelnen und dem allgemeinen Leben im Horizont der politischen Gemeinschaft lässt sich nur überbrücken, wenn Institutionen geschaffen werden, die das Handeln organisieren. Diese verdanken ihre Existenz dem sich bildenden allgemeinen Willen. Das Handlungspotential der Individuen ist Resultat dieser Beziehung und zugleich dessen tragendes Fundament. So ruht die Architektonik der Macht auf der wechselseitigen Beziehung der Individuen und ihren Institutionen. Das für diese Verbindung unerlässliche dynamische Moment dieser Konstellation ergibt sich aber nicht aus der stabilen Gesinnung, sondern aus dem fluiden Medium der öffentlichen Meinung. Das subjektive Meinen der einzelnen ist nicht nur Reflex, sondern produktiver Bestandteil der praktischen Welt: „Das geistige Band ist die öffentliche Meinung“ heißt es in der Jenaer Philosophie des Geistes.222 Im Medium der öffentlichen Meinung kommt die individuelle Handlungskompetenz der 220 Hegel 1970c, § 268. 221 Hegel 1970c, § 258. 222 Hegel 1987, S. 240.
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Individuen zum Ausdruck. Diese bei Rousseau als Vermittlung von Individualität und Allgemeinwillen instrumentalisierte Instanz gewinnt bei Hegel trotz der ihr attestierten Ambivalenz eine eigenständige Bedeutung: „Die öffentliche Meinung enthält daher in sich die ewigen substantiellen Prinzipien der Gerechtigkeit, den wahrhaften Inhalt und das Resultat der ganzen Verfassung, Gesetzgebung und des allgemeinen Zustandes überhaupt, in Form des gesunden Menschenverstandes, als der durch alle in Gestalt von Vorurteilen hindurchgehenden sittlichen Grundlage, sowie die wahrhaften Bedürfnisse und richtigen Tendenzen der Wirklichkeit.“223 Die öffentliche Meinung ist das Medium, in dem politische Orientierung gewonnen wird; ihrem Fundus entstammen die Grundsätze und allgemeinen Überzeugungen und in ihr bildet sich auch das Klima für politische Trends und Stimmungen. Da sich dieses Allgemeine aber nur in Modus des Meinens zeigt, disqualifiziert es sich nach Hegel als handlungsleitende Instanz. Die öffentliche Meinung ist epistemisch defizitär, ambivalent und inkohärent. Dennoch schlägt sich ihre Wirkung politisch nieder: „Die öffentliche Meinung ist zu allen Zeiten eine große Macht, besonders aber in unserer Zeit, wo das Prinzip der subjektiven Freiheit diese Wichtigkeit, diese Bedeutung hat“, heißt es in einer Vorlesungsmitschrift.224 In der öffentlichen Meinung artikuliert sich Handlungsmacht unter den Bedingungen einer verfassungsmäßig strukturierten Gemeinschaft und gewinnt dadurch ihr politisches Gewicht, dass sie politisches Handeln billigt oder missbilligt. Sofern es „das Prinzip der modernen Welt fordert, daß, was jeder anerkennen soll, sich ihm als ein Berechtigtes zeige“,225 muss dieser Machtanspruch auch in der politischen Willensbildung entsprechende Berücksichtigung finden. Aufgrund des überwiegend responsiven Charakters bleibt die öffentliche Meinung als unorganisierte Form der Willensbildung auf Initiativen und organisiertes Handeln angewiesen. Als government by public opinion nach amerikanischer Tradition kann die Wirkung der öffentlichen Meinung deshalb nicht betrachtet werden. Die vorrangige Bedeutung der öffentlichen Meinung ist die Integration im Verhältnis von Sozialvolk und politischem Volk. Der subjektive Sinn liegt in der Beteiligung der Individuen; der strukturelle Sinn ergibt sich daraus, dass Optionen kollektiven Handelns ausgelotet werden können. Hegel hat diesen Zusammenhang nicht explizit entwickelt und vertraut hinsichtlich der Kommunikation der öffentlichen Meinung mit den Instanzen der Herrschaft auf die Intuition großer Politiker. Dies ist unzureichend, auch nach Hegels eigenem Maßstab, weil die öffentliche Meinung nicht mit den Organisationen des Staates verbunden ist. Da moderne Demokratien weit intensiver als Hegels Staat öffentlichkeitsorientiert sind, stellt sich die Frage nach der organisatorischen Einbindung der 223 Hegel 1970c, § 317. 224 Hegel 1974, S. 723. 225 Hegel 1974. S. 819.
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öffentlichen Meinung in die Prozesse der Willensbildung heute noch dringlicher. Sie ist, wie Hermann Heller im Anschluss an Hegel bemerkt, als „Hemmung oder Förderung“ für das Handeln der staatlichen Repräsentanten von nicht zu unterschätzender Bedeutung.226 Entscheidend ist nicht der Konsens in einzelnen Fragen, sondern der mit dem Spektrum der Meinungen eröffnete Möglichkeitsspielraum. Einzelne oder Gruppen präsentieren sich mit ihren jeweiligen Meinungen und Interessen, die sich zu Clustern verdichten können, und fordern Zugang zur Macht oder zumindest deren Aufmerksamkeit. Die Demoskopie verspricht hier ein realistisches Abbild der Verhältnisse, liefert aber, wie Hennis gezeigt hat, nur nicht-öffentliche Privatmeinungen, die nicht als repräsentativ gelten können.227 Meinungsbildung lässt sich indes nicht mit der demokratischen Willensbildung kurzschließen. Die öffentliche Meinung kann nicht in ein repräsentatives Profil der Willensbildung transkribiert werden, dem legitimatorische Geltung zugesprochen werden könnte. Ihre Funktion liegt allein in ihrem Beitrag zur politischen Integration. Die atomisierte Meinung erlaubt zwar relativ leicht herzustellende Verbindungen Gleichgesinnter untereinander; aber in dem Maße, in dem sich konkurrierende soziale Gruppen gegen die Institutionen positionieren, muss die politische Integration des verfassten Volkes ihre Wirkung steigern. Dies ist der Ansatzpunkt für eine Diagnose politischer Pathologien.228 Wenn Teile des Sozialvolks den Anspruch erheben, das wirkliche Volk, somit die Legitimationsinstanz schlechthin zu sein, ist die Grenze zwischen legitimem Dissens und Missbrauch demokratischer Formen überschritten. So operiert populistische Politik, die eine substanzialistische Auffassung des Sozialen zugrunde legt. Sie missbilligt die Differenz zwischen Volk und Herrschaftsinstanzen, fordert im Namen des Volkes den direkten Durchgriff auf die Exekutive und statuiert zugleich neue Differenzen durch die Abgrenzung zu denjenigen Teilen des Volkes, der sich verweigert und deshalb in polemischer Absetzung diffamiert wird. Sie beansprucht das Ganze um den Preis seiner Segregation. Die ist der neuralgische Punkt repräsentativer Verfassungen. Ihre offene Frage ist die Identität des Volkes als Subjekt der Willensbildung. In dieser Hinsicht ist es angemessen, mit Claude Lefort vom leeren Ort der Macht in der Demokratie zu sprechen,229 auch wenn diese Formel dem Schema absolutistischer Macht und dem Modell des politischen Körpers verhaftet bleibt. Das Volk ist nicht anwesend, auch nicht durch sein massives Auftreten, wie Carl Schmitt insinuiert,230 sondern bedarf der Repräsentation. Die Rolle des souveränen Volkes kann nicht von einer Partei besetzt werden. Der Platz ist frei geworden für das intelligible Volk im politischen Sinne. 226 227 228 229 230
Heller 1992, S. 286. Hennis 1957. Rosanvallon 2013. Lefort 1999, S. 50. Schmitt 1989, S. 242.
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Dieser zunächst nur negativen Charakterisierung der souveränen Macht des Volkes korrespondiert die positive Bestimmung der differenzierten Organisation von Souveränität. Souveränität erschöpft sich weder in einem einzelnen Akt wie etwa der Einsetzung der Verfassung durch die verfassunggebende Gewalt noch in einer speziellen Funktion wie den periodischen Wahlen oder Plebisziten. Sie äußert sich auf unterschiedlichen Ebenen in unterschiedlichen Funktionen. Mit Hegels Unterscheidung von empirischem Volk und politischem Volk ist dafür eine wichtige theoretische Grundlage geschaffen. Pierre Rosanvallon kommt auf der Grundlage der Schriften Condorcets zu einer der Hegelschen Auffassung ähnlichen Einschätzung. „Pluraliser les modalités d’exercise de la souveraineté” lautet die Formel für eine angemessene Theorie der Souveränität, der eine entsprechend differenzierte Konzeption des Volkes zugrunde liegt.231 Neben dem Sozial-Volk und dem Ideal-Volk identifiziert Rosanvallon noch das sogenannte Wahl-Volk.232 Zunächst ist Volk im Sinne des Sozial-Volks der Name für die soziale Vielheit und wechselhafte Erscheinungsweise derer, die eine Gesellschaft ausmachen, die Personen, die ihren privaten Interessen und Geschäften nachgehen. Hier ist der Ort der Meinungsbildung, der Entfaltung unterschiedlicher und auch gegenläufiger Interessen, von Konsens und Dissens in den Strukturen des Rechts unter Voraussetzung formaler Gleichheit. Das Volk ist aber andererseits auch Wahl-Volk, die in Individuen zerfallende Gruppe, die regelmäßig ihr Votum abgibt. Dies schließt Personenwahlen ebenso ein wie Volksabstimmungen. Die Wähler sind dabei Subjekte der Herrschaft im doppelten Sinne: von ihnen geht die Macht aus, aber sie sind zugleich auch der Macht unterworfen. Drittens schließlich ist das Volk, zumindest in einer demokratischen Verfassung, das Ideal-Volk als Souverän, als einheitliches Ganzes. Es ist bestimmt durch seine Individualität als konkrete, abgegrenzte Gemeinschaft. Es ist präsent durch seine Repräsentation als Bezugspunkt der politischen Auseinandersetzungen, die demokratische Politik als reflexive Gestaltung von Macht durch Macht voraussetzt. Repräsentation ist Kommunikation der Machtsphären unter der Bedingung der Aufrechterhaltung ihrer Differenz. Das Sozial-Volk wechselt in die Rolle des WahlVolkes, um damit Herrschaft zu legitimieren, die im Namen aller ausgeübt wird, und faktisch doch nur von einem Teil der Betroffenen und meist unter Vorbehalt unterstützt wird. Dieses Verhältnis ist nicht mandatorisch, keine Vertretung, sondern repräsentativ in der Bedeutung, dass die Differenz zwischen Sozial-Volk und Herrschaft überbrückt wird durch die Vergegenwärtigung des Ideal-Volks, der Gesamtheit der Bürgerschaft, die allein die Kraft demokratischer Legitimation besitzt. Die konstitutive Macht des Volkes als Souverän, die sich nicht im Ergebnis von Wahlen oder Abstimmungen erschöpft, aber genauso wenig durch die kulturelle Identi231 Rosanvallon 2000, S. 60. 232 Rosanvallon 2013a, S. 161 f.
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tät abbilden lässt, bildet die Voraussetzung für das Gelingen des demokratischen Machtkreislaufes. Sichtbare Diskrepanzen innerhalb des Volkes sowie zwischen Sozial-Volk und Wahl-Volk sind insofern wesentlich für die Dignität demokratischer Gemeinwesen.
2.) In den Grenzen der Souveränität Die vertragsrechtliche Auffassung des Staates, die im Naturrecht entwickelt wurde und bis in die diskurtheoretischen Demokratiekonzepte modellbildend wirkt, kennt in der Regel keine besondere Verbindung von Staatsvolk und Staatsgebiet. Der Staat gilt nur als Personenverband. Eine Begründung der Gebietsherrschaft ist daraus nicht abzuleiten. Dagegen steht die seit Hobbes geltende Doktrin, dass Souveränität sich nur durch Gebietsherrschaft realisieren lässt.233 Die Herrschaft über ein festgelegtes Gebiet ist nicht nur für die Wirksamkeit staatlichen Handelns eine unverzichtbare Voraussetzung, sondern eine implizite Bedingung der Existenz des Staates als Rechtsgemeinschaft. Die Realisierung des Rechts kann nur unter der Voraussetzung klarer Zuständigkeitsregelung erfolgen. Sofern sich Handeln immer in räumlichen Verhältnissen abspielt, muss das Recht diesen Raum umfassen. Dies gilt auch für nicht direkt körperliches Handeln wie etwa den Abschluss eines Vertrages. Auch dieser ist zeitlich und räumlich situiert und nur in diesen Koordinaten als gültiger Rechtsakt zu identifizieren. Der moderne Staat, der sich als Rechtsstaat versteht, kann seine Wirksamkeit nur auf dem Grunde der Gebietsherrschaft, der ausschließlichen Gewalt über ein bestimmtes Territorium entfalten.234 Dies unterscheidet ihn von sonstigen Körperschaften, die im Prinzip auch raumlos tätig sein können. Der Staat ist diejenige Körperschaft, die auf einem bestimmten Gebiet das Monopol besitzt. Damit vollzieht der Staat die Realisierung des Rechts, die nur unter der Voraussetzung der Souveränität, und das heißt unter Voraussetzung der konkurrenzlosen Kompetenz der Rechtsetzung und Rechtsprechung möglich ist. Die souveräne Macht über ein bestimmtes Herrschaftsgebiet ist das Charakteristikum staatlicher Macht, sofern dadurch die Herrschaft über die auf dem Territorium befindlichen Menschen und deren Handeln ausgeübt wird. Der Staat übt diese Gebietsherrschaft jedoch nicht direkt, im Sinne eines Sachenrechts aus, weil die Herrschaft über das Staatsgebiet nur mit der Herrschaft über die darin lebenden Menschen, genauer über die Mitglieder des Staates begründet wird. Die Herrschaft über das Gebiet und die darin befindlichen Fremden ist folglich ein abgeleitetes
233 Hobbes 1839, Kap. 21. 234 Jellinek 1900, S. 355 ff.
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Recht, kein ursprüngliches sachliches Recht.235 Staatliche Herrschaft ist nicht dominium, kein Besitzrecht, sondern öffentlich-rechtliche und das heißt, dem Grunde nach politische Herrschaft. Unabhängig von der Herrschaft über Personen kann es keine staatliche Gebietsherrschaft geben. Das konkrete Gebiet ist selbst historisch kontingent. Seine Lage und Ausdehnung ergibt sich aus historischen Entwicklungen, die sich nur zu einem geringeren Teil als Rechtsakte rekonstruieren lassen. Die Legitimität des gebietsherrschaftlichen Anspruchs basiert nicht auf rechtlichen Begründungen, sondern auf der Legitimität des Staates und seiner Verfassung im Kontext anerkannter völkerrechtlicher Bestimmungen. Multilaterale Verträge können historische Lagen nicht ignorieren oder ersetzen, sondern lediglich in strittigen Fragen eine Einigung verbindlich festschreiben. Die historische Kontingenz des Staatsgebiets relativiert nicht den Geltungsanspruch, der sich aus dem politischen Status der Gebietsherrschaft ergibt. Das Staatsgebiet ist von zentraler Bedeutung für Integration des Staatsvolkes. Abgesehen von völkerrechtlich strittigen Fällen ist die Identifikation des Staatsgebietes von außerordentlicher politischer Bedeutung. Das Staatsgebiet ist in den meisten Fällen eine Kulturlandschaft, die bearbeiteten Boden umfasst. Das Staatsgebiet ist nicht nur Fläche, sondern ein dreidimensionaler symbolisch belegter Handlungsraum, der historisch bedeutsam ist und für die Bewohner ein nicht ersetzbares Lebensumfeld bietet. Das Staatsgebiet kann „erlebte Natur- und Kulturlandschaft“ sein und der Raum „eines gemeinsamen politischen Schicksals“.236 Die Gebietsherrschaft ist ein Derivat der Ausübung von Souveränität über ein Staatsvolk. Daraus ergeben sich Grenzen, die zwar ideeller Natur sind, aber in Abhängigkeit von der konkreten Rechtslage die praktische Wirkung von Schranken haben können. Gebietsherrschaft und Mitgliedschaft bilden die beiden Formen der äußeren Grenzen von Souveränität, die zugleich die Grenzen staatlicher Verantwortung darstellen. In den Debatten zu ethischen Fragen der Migration wird vor allem die Legitimität von Grenzen in Frage gestellt, während die Verteidiger in der Regel auf das Recht der Begrenzung der Mitgliedschaft verweisen.237 Carens bezweifelt die Rechtsmäßigkeit von Grenzen und fordert, dass Grenzen prinzipiell offen sein müssten. Seine Argumentation geht von drei Prämissen aus, die zunächst plausibel erscheinen: Erstens stellt er fest, dass es keine natürliche soziale Ordnung gibt, zweitens haben alle Menschen den gleichen moralischen Wert und drittens bedarf die Beschränkung der Freiheit von Menschen einer moralischen Rechtfertigung.238 Dementsprechend betrachtet er die Tatsache, dass Menschen innerhalb der Grenzen
235 236 237 238
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Jellinek 1900, S. 359. Zippelius 1988, S. 85. Einen Überblick bietet Dietrich (Hrsg.) 2017. Carens 2013, S. 225 ff.
eines Staates leben, deren Überschreitung kontrolliert wird, als unrechtmäßiges Privileg. Wenn gleich die Prämissen in dieser unbestimmten Allgemeinheit als akzeptabel erscheinen, sind sie doch mehrdeutig und die daraus gezogenen Folgerungen nicht korrekt. Dass soziale Ordnungen willkürlich sind, ist zutreffend in der Bedeutung, dass sie keine universalen Normen darstellen oder unvermeidlichen Tatsachen widerspiegeln, sondern Resultat menschlichen Handelns sind. Das bedeutet freilich nicht, dass sie sich nicht rechtfertigen ließen. Auf der anderen Seite sind das Gleichheitsprinzip und die allen Menschen zugesprochene Würde abstrakte Bestimmungen, die erst in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Bedeutung gewinnen. Der Begriff ist denkbar unbestimmt und bedarf im Hinblick auf seine praktische Bedeutung einer Konkretisierung. Nicht nur ist der Begriff durchaus umstritten; er gewinnt seine Kontur erst durch die Situierung im politischen Raum. Aus der abstrakten Bestimmung der Würde lassen sich konkrete Rechte nur im Zusammenhang einer staatlichen Verfassung ableiten. Die dritte Prämisse mag ebenso in einem unspezifischen Sinne vorausgesetzt werden, sofern man „moralisch“ im Sinne einer normativ anspruchsvollen Legitimation interpretiert. Die Existenz eines Staates ist indes keine im engeren Sinne moralisch zu bewertende Tatsache, sondern kann nur im Rekurs auf das normative Potential einer legitimen Verfassung beurteilt werden. Eine Rechtfertigung der Freiheitsbeschränkung anderer muss deshalb von der Frage der Legitimität einer politischen Gemeinschaft ausgehen. Die von Carens als Menschenrecht postulierte Freizügigkeit, die mit geschlossenen Grenzen unvereinbar wäre, verabsolutiert eine isolierte Norm, die durch die Abstraktion von jedwedem Kontext auch den Bezug zu möglichen Geltungsbedingungen verliert. Sie erscheint nur deshalb als fundamental, weil sie ohne ihren Zusammenhang betrachtet, aber insofern auch nicht begründbar ist. Ihre vermeintliche Evidenz basiert auf ihrer Inhaltslosigkeit. Der damit zum Ausdruck gebrachte normative Anspruch gilt, sofern er nicht durch andere Rechte eingeschränkt wird. Das bedeutet letztlich hinsichtlich der Bewegungsfreiheit nichts anderes als die tautologische Erlaubnis, alles zu tun, was nicht verboten ist. Als abstraktes Prinzip ist die Forderung dennoch politisch nicht bedeutungslos. Sie gewinnt ihre Brisanz als negatives Recht, dessen Bedeutung sich darauf beschränkt, dass es in keinem Staat erlaubt sein kann, Menschen aus politischen Gründen am Verlassen des Herrschaftsgebiets zu hindern. Das Recht auf Auswanderung, verstanden als Abwehrrecht, ist in der Tat ein fundamentales Recht, das zum Kernbereich individueller Freiheitsrechte zählt. Ganz anders verhält es sich mit dem Anspruch auf ein unbegrenztes Einwanderungsrecht. Hier würde Freizügigkeit nicht nur als abstrakte Freiheit realisiert, sondern trifft auf bereits bestehende Rechtsverhältnisse, die zu respektieren sind. Im politischen Raum konkretisiert sich ein Recht auf Freizügigkeit durch das Recht auf
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Teilnahme, durch das Recht auf bestimmte Güter und Dienstleistungen und durch das Recht auf Mitbestimmung. Die fraglichen Güter sind weder als natürlich vorhandene noch als rein willkürlich oder zufällig zu bewerten, wie Carens annimmt, sondern sie stellen Kulturleistungen dar. Sie bestehen vor allem nicht nur und auch nicht in erster Linie aus wirtschaftlichen Gütern. Walzer betrachtet die Mitgliedschaft als wichtigstes Gut, das eine politische Gemeinschaft zu vergeben hat.239 Der damit verbundene Status schließt die weiteren Güter, die anderen zugänglich gemacht werden können, ein. Er strukturiert die Distribution von wirtschaftlichen Gütern und Dienstleistungen, den Zugang zu Ämtern und Bildungseinrichtungen. Damit verbunden ist auch der besondere Rechtsstatus der Bürgerinnen und Bürger eines Landes, die den Schutz des Rechtssystems genießen. Die Fiktion eines globalen Rechtssystems noch jenseits des Völkerrechts ist eine bloße Illusion; sie entbehrt jeder Realität. Da das Recht den Bezug auf ein identifizierbares Territorium und damit auch territoriale Grenzen voraussetzt, um seine Wirksamkeit zu entfalten,240 kann Recht, abgesehen von den elementaren Menschenrechten, nur unter Voraussetzung eines Herrschaftsverbands in Anspruch genommen werden, der territoriale Souveränität besitzt. Ein positives Einwanderungsrecht antizipiert ein Rechtssystem, an dem teilzunehmen die Anerkennung eben dieses territorialen Rechtsraumes einschließt. Ein allgemeines Recht auf Teilnahme zu postulieren wäre somit ein performativer Widerspruch. Die Güter, deren Distribution dabei in Frage steht, sind auf eine komplexe Weise miteinander assoziiert. Die Bevölkerung eines Territoriums verkörpert eine mehr oder weniger entwickelte Zivilisation, die historisch mit dem Raum verbunden ist. Diese Verhältnisse sind veränderlich, aber deshalb keineswegs ohne Wert. Eine Zivilisation genießt nicht in allen ihren Facetten Bestandsschutz, aber kann doch zumindest Anspruch auf grundsätzlichen Respekt erheben. Das Territorium ist nicht nur neutraler physischer Ort, sondern kulturell und historisch geprägter Raum, bearbeitetes, besiedeltes und bebautes Land. Es besitzt dort symbolische Bedeutsamkeit, wo sich wichtige Manifestationen einer Kultur befinden, die Bestandteil ihres geschichtlichen Selbstverständnisses sind.241 Der Boden steht deshalb nicht einfach zu Disposition für eine Distribution nach universalistischen Prinzipien, sondern bildet eine unverzichtbare Grundlage für den Organisationszusammenhang, dem sich ein Volk im politischen Sinne verdankt. Diese Sachverhalte sprechen nicht für oder gegen eine bestimmte Migrationspolitik, aber für die Notwendigkeit einer genuin politischen Entscheidung, weil der Bezug zum Territorium politisch ist. Die Frage nach dem Recht auf Einwanderung muss dort ansetzen, wo politische Legitimation ihre Grundlage findet: in der souve239 Walzer 1992, S. 65 ff. 240 Miller 2007, S. 213 ff. 241 Miller 2007, S. 213 ff.
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ränen Entscheidung eines demokratisch verfassten Volkes. Während sich ethnisch fundierte Ansprüche vor diesem Hintergrund disqualifizieren, können Staaten als Repräsentanten politisch konstituierter Völker das Selbstbestimmungsrecht reklamieren, das sich aus dem Konzept der Demokratie ableiten lässt. Eine Verfassung als rechtlich strukturierte Ordnung eines Demos stellt selbst ein Gut dar, dessen Bestand wesentlich davon abhängt, dass die Gemeinschaft über die Verleihung der Mitgliedschaft selbst befindet. Das Selbstbestimmungsrecht eines Staates umfasst auch die Staatsbürgerschaft als unverzichtbares Instrument der Aufrechterhaltung seiner Existenz. Gleichwohl gilt hier wie auch in anderen Handlungsfeldern, dass normativ zu rechtfertigende politische Entscheidungen allgemeine Rechtsprinzipien wie elementare Grundrechte, Rechtstaatlichkeit und Gewaltenteilung voraussetzen. Aus diesen ergibt sich auch die Erwartung, die Bedingungen der Mitgliedschaft rechtlich zu regeln. Die komplexe Geschichte der Entwicklung der Staatsbürgerschaft als zentraler Institution des modernen Staates zeigt, dass sich die Ausgestaltung des Rechts auf den Erwerb und des Schutzes der Staatsbürgerschaft als zuverlässiges Indiz der normativen Dignität eines Staates erweist. Dort, wo sich die rechtliche Regelung der Staatsbürgerschaft nach Prinzipien der Gleichheit durchgesetzt hat, wirkt diese integrativ in Bezug auf Minderheiten, die zuvor unterschiedlichen Formen der Diskriminierung ausgesetzt waren. Mit der rechtlichen Ausgestaltung der Staatsbürgerschaft behauptet sich der moderne Staat als die entscheidende Institution politischer Gemeinschaft. Er verpflichtet sich, seinen Mitgliedern Schutz durch das Recht zu gewähren und beansprucht Zuständigkeit in letzter Instanz für alle politischen Fragen.242 Der Status der Mitgliedschaft stiftet Integration, die sich korrelativ als Exklusion erweist. Das Prinzip der Mitgliedschaft ist nur sinnvoll unter Voraussetzung von Grenzen. Zu den kulturellen und ökonomischen Errungenschaften, die sich der Institution der Mitgliedschaft verdanken, gehören alle Leistungen, die über Generationen hinweg aufrechterhalten werden. Das Sozialsystem einer Gesellschaft, das Bildungssystem und andere Bereiche vermitteln Güter und Dienstleistungen dank eines stillschweigend vereinbarten Generationenvertrags über große Zeiträume. Das ist nur möglich, wenn die Beteiligten und vor allem auch die künftig davon Betroffenen durch eine Regelung der Mitgliedschaft bestimmt sind, die Erwartungssicherheit gewährleistet. Eine Solidargemeinschaft, die nicht von spontanen einzelnen Aktionen großzügiger Mäzene abhängig sein will, muss sich ihrer Funktionalität durch die Organisation der wechselseitigen Verpflichtungen vergewissern. Dadurch gewinnt eine politische Gemeinschaft eine zeitliche Dimension und damit Handlungsfähigkeit. Die wechselseitigen Verpflichtungen, die auch in die Zukunft reichen, etablieren den
242 Diese Entwicklung ist für die europäischen Staaten detailliert nachgezeichnet und analysiert in Gosewinkel 2016.
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Handlungsraum, der auch die Hypotheken längerfristiger politische Entscheidungen über Generationen hinweg absichert. Nach Innen kann die rechtliche Ausgestaltung des Instituts der Staatsbürgerschaft emanzipatorische Wirkungen entfalten, sofern sie Gleichberechtigung rechtlich fundiert und gegen Diskriminierung schützt. Aber die Nationalisierung birgt die Gefahr der Ethnisierung, die in der Geschichte des 20. Jahrhunderts ihre Spuren hinterlassen hat und für zahlreiche Gewaltexzesse verantwortlich gemacht wird. Der moderne Staat setzt einer Ethnisierung hohe Hürden und die inzwischen erfolgte Denationalisierung im Rahmen der Entwicklung der europäischen Verfassungen hat zur Ausbildung einer relativ einheitlichen Kultur der Staatsbürgerschaft geführt, die an universalen menschenrechtlichen Standards orientiert ist.243 Dies bewirkt auf Dauer eine Spannung zwischen Staatsangehörigkeit und Territorium, in der sich die Frage nach der Schutzwirkung, die im Nationalstaat durch die Staatsbürgerschaft verbürgt ist, neu stellt. Politische Organisation im Sinne einer Willens- und Entscheidungseinheit ist nicht notwendig der Nationalstaat in der überlieferten Form. Aber auch eine alternative Form politischer Gemeinschaft wird nicht ohne klare Kriterien der Zugehörigkeit auskommen. Ob supranationale Organisationformen Integrationskraft entwickeln können, die der eines Verfassungsstaates vergleichbar ist, muss sich erst noch erweisen. Die Europäische Union hat im juristischen Sinne bislang keine Verfassung und der Versuch, ihr eine Verfassung zu geben, war bislang nicht erfolgreich. Die Geschichte der Union ist dennoch eine Erfolgsgeschichte, ein politisches Experiment, das unter dem Eindruck von zwei verheerenden Kriegen begann und über einen langen Zeitraum des Friedens und der Zusammenarbeit dauerte, obwohl historisch betrachtet der Frieden Voraussetzung und nicht Ergebnis der Union ist. Die Union ist eine Vereinigung souveräner Staaten auf völkerrechtlicher Grundlage; sie ist kein Bundesstaat, sie ist – wie das Bundesverfassungsgericht feststellt – ein sogenannter „Staatenverbund“; sie ist selbst kein Staat, auch wenn sie wie ein Staat mit einem Parlament, einer Exekutive und einer Judikative ausgestattet ist. Die Kompetenzen des Parlaments sind vergleichsweise gering; seine Funktion beschränkt sich auf die Annahme der Vorschläge des Europäischen Rates und der Kommission. Gemessen an den Standards der Gewaltenteilung ist festzustellen, dass die Exekutive und die Legislative kaum hinreichend separat sind. Betrachtet man das Parlament in Bezug auf den Rat und die Kommission, so wird die Proliferation der Exekutivgewalt nicht durch ein Parlament ausgeglichen, das eine echte gesetzgebende Gewalt darstellen würde. Besonders ausgeprägt ist der Verwaltungsapparat, der die Agenda prägt.
243 Gosewinkel 2016, S. 630 ff.
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Dies sind ernsthafte Hindernisse jeden Versuchs, der Europäischen Union eine demokratischere Struktur zu verleihen. Rat und Kommission sind auf der Grundlage der Mitgliedstaaten legitimiert, aber dies ist nicht das Ergebnis eines gemeinsamen Verständigungs- und Einigungsprozesses, der die Union als Ganzes repräsentiert. Stattdessen führt es tatsächlich zu einer prekären Situation, wenn eine Entscheidung per Majoritätsprinzip getroffen wird. Die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips im Lissabon-Vertrag von 2007 war der Beginn der Legitimationskrise. Seitdem sind weder die einzelnen Regierungen noch die Vertreter der Kommission den Menschen gegenüber in dem Sinne verantwortlich, dass sie mit Konsequenzen rechnen müssten. Die Legislative und die Exekutive operieren in einer Sphäre der Anonymität. Generell ist eine markante Lücke zwischen der Entscheidungskompetenz und der Verantwortung der Entscheidungsträger zu verzeichnen. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass die Rechtsstaatlichkeit gewährleistet ist. Die gesamte Verwaltung ist ein überaus komplexer Apparat, der von einem Europäischen Gerichtshof überwacht wird, vergleichbar mit dem Supreme Court der Vereinigten Staaten. Beide Gerichte beschäftigen sich mit der Konstitutionalisierung der Politik, aber die Auswirkungen ihrer Macht sind unterschiedlich. Der Supreme Court steht in Konkurrenz zum Präsidenten und zum Kongress; der Europäische Gerichtshof steht im Wettbewerb mit den Mitgliedstaaten und insbesondere deren Verfassungsgerichten. Die Konstitutionalisierung des Supreme Court erfüllt im Erfolgsfall die Idee der Verfassung; der Europäische Gerichtshof führt eine Konstitutionalisierung ohne Verfassung durch. Er interpretiert das Recht, das heißt die Grundlagenverträge, nicht im Sinne der Nationalstaaten als Vertragspartner; er hat seine eigene Agenda – insbesondere die wirtschaftliche Integration Europas – bei der er fallweise sogar die Interessen der Mitgliedstaaten ignoriert. Europäische Gesetze gelten unmittelbar, sie müssen nicht, wie es im Völkerrecht üblich ist, ausdrücklich in nationales Recht umgesetzt werden. Darüber hinaus hat das europäische Recht im Konfliktfall Vorrang vor dem nationalen Recht. Die Aussetzung der Unterscheidung zwischen Verfassungsrecht und Regelrecht hat zu einer kalten Übertragung von Kompetenzen von den Nationalstaaten auf die EU geführt. Die Verträge tendieren dazu, den Status einer Verfassung anzunehmen, und keine Autorität, weder die Staaten noch ihre Völker, haben diese Krypto-Verfassung bestätigt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Gesetze, wie sie vom Gericht interpretiert werden, durch reguläre Gesetzgebung nicht geändert werden können; sie werden tendenziell unabhängig von der Legislative. Der Europäische Gerichtshof hat daher weit mehr Befugnisse als der Supreme Court und schafft verfassungsmäßige Strukturen, ohne dazu legitimiert zu sein. Die Union destabilisiert die Nationalstaaten, auf denen sie beruht. Der Glaube, dass der Einigungsprozess nationale Probleme löst, hat sich als unbegründet erwiesen. So untergräbt die Dynamik der Entwicklung das Fundament der Konstruktion.
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Die Union leidet unter einem dramatischen Demokratie-Defizit. Dies ist nicht nur, wie viele Verteidiger behaupten, ein rein technisches Problem, das durch Reformen behoben werden kann. Der entscheidende Punkt ist: Es gibt kein europäisches Volk.244 Das bedeutet nicht, dass die Entscheidungen der europäischen Exekutivgewalten illegal sind, aber das mehrstufige Regierungssystem kann nicht den Anspruch erheben, demokratische Standards zu erreichen. Anstelle eines Demos findet man viele Demoi. Das von Nicolaïdis vorgeschlagene Konzept der demoicracy245 sucht in dieser Aporie einen dritten Weg zwischen Beibehaltung souveräner Nationalstaaten und deren Auflösung. Eine Demokratie der Völker soll unterschiedliche Legitimationswege, nationale und supranationale Netzwerke ermöglichen, aber die Idee ist sowohl theoretisch als auch praktisch unbefriedigend, weil damit die Entscheidungsprozesse auf eine Ebene verlagert wird, die sich dem demokratischen Prozess zu entziehen droht. Zur Souveränität der Staaten zeichnet sich bislang keine Alternative ab. Das Konzept gilt als obsolet, doch Staaten bilden nach wie vor die grundlegende Organisationsform, von der auch die Stabilität und weitere Entwicklung der Europäischen Union abhängt. Sie basiert auf den von souveränen Staaten übertragenen Rechten. Dennoch ist der Vertrag von Lissabon, die letzte Aktualisierung der europäischen Verträge, ein Schritt zu einer gemeinsamen staatsähnlichen Regierung. Nach einer Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts gilt, dass die Völker der Europäischen Union, die in ihren Mitgliedstaaten konstituiert sind, die entscheidenden Inhaber der öffentlichen Gewalt bleiben, solange es kein einheitliches europäisches Volk als Subjekt der Legitimation gibt.246 Jeder europäische Bundesstaat würde die Etablierung einer neuen Verfassung erfordern, die mit dem Verzicht auf die durch die nationalen Verfassungen garantierte souveräne Staatlichkeit einhergeht. Welche grundsätzlichen Vorteile ein europäischer Staat bieten soll, ist bislang nicht ersichtlich. Die Probleme des Staates, die Legitimation und die Organisation der Macht, kehren auf globaler Ebene zurück. Eine grundlegende Frage der politischen Organisation ist die Frage der höchsten Entscheidungsebene, die, gemessen an den Standards einer legitimen Form von governance, gleichzeitig die Ebene der Verantwortung ist. Der Anspruch, Macht zu kontrollieren und ein autoritäres Regime zu verhindern, wird oft mit dem Versuch verbunden, die Souveränität aufzulösen. Auf den ersten Blick erscheint die Aufteilung der souveränen Rechte plausibel, aber das ist eine Selbsttäuschung. In Bezug auf die politischen Einheiten, für die eine Entscheidung getroffen wird, muss es eine eindeutige Verteilung der Kompetenzen geben. Wenn eine Kompetenz in Frage gestellt wird, was in einem Rechtsstaat immer möglich sein sollte, muss es eine Instanz geben, die die Kompetenz der 244 Bubner 2002, S. 185 ff. 245 Nicolaïdis 2012. 246 Grimm 2012, S. 153 ff.
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Kompetenz verkörpert. Dies ist in allen Machtbereichen der drei Gewalten, der Exekutive, Legislative und Judikative der Fall, aber der Konvergenzpunkt ist ein Oberster Gerichtshof, der die Verfassung auslegt. So sollte die Souveränität nicht als die ultimative und unbegrenzte Befehlsgewalt angesehen werden, ein Recht, das nach liberalen Prinzipien nicht akzeptabel ist, sondern als die Art von Macht, die den einzelnen Entscheidungsorganen ihre legitime Grundlage gibt. Die konstituierte Gemeinschaft bildet einen Rahmen, in dem die Verantwortung delegiert und eine klare Verantwortlichkeit gewährleistet wird. Souveränität wird im Allgemeinen mit unbegrenzter Macht assoziiert. Das Souveränitätsprinzip ist daher in Verruf geraten, weil es die absolute Herrschaft zu legitimieren scheint. Aber dieser Eindruck ist irreführend. Souveränität bedeutet nach Bodins Definition vor allem die Macht, Gesetze zu erlassen; das Gesetz ist die endgültige Form für die Befehlsgewalt. Dies ist entscheidend für die Übertragung dieses Konzepts vom König auf das Volk. Der König ist kein Tyrann, und auch das Volk, das die Souveränität erlangt, ist keine unstrukturierte Masse, die willkürlich handelt. Auch die Ausübung der Volkssouveränität ist im Wesentlichen das Recht, Gesetze zu erlassen. Dazu gehören alle Prinzipien, die Gesetzgebung ermöglichen, wenn der Souverän eine Vielzahl von Menschen ist: Gleiche Grundrechte, transparente Verfahren und regulierende Institutionen. Die Souveränität ist also an Rechtsgrundsätze gebunden, die zumindest eine rudimentäre Form der Rechtsstaatlichkeit sicherstellen. Dass alle Mitglieder für alle Gesetze geben, bedeutet, alle als gleichwertig zu behandeln. Symmetrische Beziehungen zwischen den Mitgliedern sind eine fundamentale Voraussetzung für die Realisierung von Volkssouveränität. Dennoch bedeutet die Übertragung der Souveränität auf das Volk eine qualitative Veränderung der Machtverhältnisse. Es ist in der Tat ein Übergang vom Primat der Herrschaft zur Funktion der Konstituierung. Volkssouveränität besteht insbesondere darin, die Gemeinschaft nach den Regeln zu bilden, die der Vielfalt die Form eines Ganzen verleihen. Konstitutive Macht ist diejenige Macht, die eine Verfassung stiftet und aufrechterhält. Dies ist die intensivste und riskanteste Form der Macht. Konstitutive Macht ist in erster Linie ermöglichend, nicht begrenzend. Sie ermöglicht das Leben in einer selbstgestalteten politischen Welt und im Erfolgsfall in der Welt der politischen Freiheit. Die reflexive Selbstbestimmung einer Gemeinschaft realisiert den höchsten Legitimationsstandard. Die Existenz der politischen Verfassung in ihrer rechtlichen, aber auch in ihrer realen Form ist die normativ anspruchsvollste Gestalt der politischen Macht. Damit wird deutlich, dass es einen engen konzeptionellen Zusammenhang zwischen der konstitutiven Macht und der Demokratie gibt. Wenn die Volkssouveränität eine geeignete Struktur zur Verwirklichung der Demokratie ist, muss es eine klare und transparente Institutionalisierung der Souveränität geben. Gegenwärtig kann es in der EU keinen Zweifel daran geben, dass die jeweiligen Nationalstaat die kon-
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stitutive Macht verkörpern. Der anhaltende Entwicklungstrend neigt jedoch dazu, die Souveränität der Mitgliedsstaaten zu untergraben, in der Hoffnung, dadurch zu einer Entwicklung einer freien Gesellschaft beizutragen. Tatsächlich fördert sie ein Herrschaftssystem mit einer kryptischen legalisierten, wenn auch nicht legitimierten Verfassung, aber ohne die reflexive Struktur der konstitutiven Macht, die politische Freiheit ermöglicht. Der Integrationseffekt der europäischen Verträge ist dementsprechend gering.247
3.) Funktionen staatlicher Macht Die Ende des 20. Jahrhunderts weit verbreitete Vision einer weitgehend friedlichen, durch universale Prinzipien geeinigten Welt, in der alle ideologisch bedingten Konflikte überwunden und eine globale Verständigung hinsichtlich der Prinzipien des Zusammenlebens der Völker institutionalisiert sind, hat im 21. Jahrhundert ihre Attraktivität deutlich eingebüßt. Das westliche Paradigma, die Idee der säkularen, liberalen, marktwirtschaftlich organisierten Welt, gilt zwar immer noch als Standard moderner Verfassungen, aber der triumphale Gestus, der Anspruch der Überlegenheit gegenüber konkurrierenden Gesellschaftsformen hat sich verflüchtigt. Die Erwartung, dass sich nach dem Siegeszug der wissenschaftlich-technischen Rationalität und des Kapitalismus nun auch die moralischen und politischen Standards des Westens durchsetzen würden, wurde enttäuscht. Hat Francis Fukuyama noch im alten Geiste, inspiriert vom Hegelianer Alexandre Kojève, das „Ende der Geschichte“ angekündigt, das zugleich ein Ende aller ideologischen Auseinandersetzungen zu versprechen schien,248 so ist diese Haltung nun einer breiten Skepsis gewichen. Allerdings ist Fukuyamas geschichtsphilosophische Skizze alles andere als naiv und weniger banal, als von seinen Kritikern unterstellt. Er erwartet nicht das Reich des Friedens, sondern rechnet, darin dem Urheber dieses Theorems verwandt, mit permanenten Konflikten. Im Übrigen zeichnet er ein ernüchterndes Bild der dekadenten posthistorischen, von Technik und Konsum dominierten Welt. Hegel hat das Ende der Geschichte nicht mit kulturgeschichtlichen Spekulationen, sondern mit der Etablierung des modernen Staates verbunden.249 Es handelt sich nach seiner Erwartung um einen potentiell konflikthaften Zustand konkurrierender Staaten. Wie die indessen nicht enden wollende Geschichte zeigt, war auch diese Perspektive noch zu optimistisch. Zahlreiche Konflikte unserer Gegenwart beruhen darauf, dass längst nicht überall funktionierende Staaten eingerichtet sind, dass
247 Grimm 2012, S. 241 ff. 248 Fukuyama 1992. 249 Hegel 1970c, § 360.
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bestehende Staaten erodieren, durch Bürgerkriege zerrissen und im Spiel regionaler Interessen und internationaler Einflussnahmen aufgerieben werden. Viele Beobachter betrachten diese Entwicklung ungerührt. Die Rationalität der westlichen Kultur, so eine verbreitete Auffassung, bietet die Spielregeln für die Aufhebung aller Differenzen in einer weltumspannenden Zivilgesellschaft. Der Staat gilt als Auslaufmodell, das lediglich noch in einer Übergangsphase von Bedeutung ist, aber schließlich von supranationalen Konstruktionen abgelöst wird. Diese Kantianische, an die Aufklärung des 18. Jahrhunderts anknüpfende Sichtweise glaubt am Horizont die Konturen einer Weltbürgergesellschaft zu erkennen, die Macht durch eine Herrschaft des Rechts ersetzt. Kant selbst war allerdings konsequent genug um zu konstatieren, dass auch das Recht noch an Macht gebunden bleibt, und hielt deshalb an der staatlichen Organisationsform fest. Aber auch unabhängig von idealistischen Prämissen erscheint der Staat als unzeitgemäß. Seit einer Generation gibt es in der Politikwissenschaft den unverkennbaren Trend, den Staat als obsolet oder gar als nicht mehr existent zu erklären.250 Waren früher die Invektiven gegen den Staat extremen Ideologen vorbehalten, so gilt es inzwischen auch unter vielen Vertretern nüchterner Sozialwissenschaft als ausgemacht, dass der Staat ausgedient hat. Er erscheint als überfordert, weil er den globalen Herausforderungen nicht gewachsen, das heißt zu klein ist, und zugleich wird seine Legitimität in Frage gestellt, weil sich seine Organisationstrukturen gegenüber der Lebenswelt verselbständigt haben und den Partizipationserwartungen nicht gerecht werden, das heißt also, weil er zu groß ist. Was auf den ersten Blick paradox erscheint, wird, wie beispielsweise von Benjamin Barber, aufgelöst durch den Vorschlag einer globalen Vernetzung regionaler Organisationen. In Barbers Version handelt es sich um Metropolen, um Städte, die sich zu einem weltweiten Netz zusammenschließen sollen. Dies ist, so die Überzeugung, die einzig erfolgversprechende Strategie einer demokratischen Lösung der Probleme der Weltgesellschaft sei.251 Staaten wären dann allenfalls noch Zulieferer und Dienstleister. Der alte Traum von einer Weltrepublik ohne Grenzen und Konflikte würde sich mit dem Ideal direktdemokratischer Selbstverwaltung in überschaubaren Strukturen verbinden. Das klingt zunächst attraktiv, ist aber zu kurz gedacht. Die politischen Herausforderungen der Gegenwart sind in der Tat dramatisch. Die Staaten geraten in die Mühle zwischen Globalisierung und Tribalisierung. Sie stoßen angesichts der globalen geopolitischen, ökonomischen und ökologischen Probleme an ihre Grenzen und geraten zugleich in vielen Regionen durch atavistische Stammesinteressen, fundamentalistische religiöse Überzeugungen und ethnisch bedingte Ressentiments unter Druck. Wenn es, wie häufig vermutet, zutrifft, dass beide Tendenzen sich strukturell 250 So Reinhard 1999, S. 535. Strange 1996. Bade 1995. Van Creveld 1999. Breuer 1998. Willke 1992. Weitere Hinweise finden sich in Anter 2004, S. 240 ff., und Skinner 2009, S. 162. 251 Barber 2013.
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bedingen, letztlich wie zwei Seiten einer Medaille zu sehen sind, so ist dies weniger ein Indiz dafür, dass der Staat als Organisationsform obsolet ist, als vielmehr eine Krisenerscheinung, die eine Reaktion auf den Schwund von Staatlichkeit darstellt. In der Folge wäre eher an eine Restituierung des Staates als an seine Depotenzierung zu denken. In den zeitgenössischen Erscheinungsformen des politisch-religiösen Terrors werden in der Tat beide Momente, Globalisierung und Tribalisierung, mit apokalyptischem Furor verbunden: abseitige Ideologien gepaart mit den Mitteln moderner Technik im Fokus globaler Öffentlichkeit. Der Terror ist konkret in seiner unmittelbaren grausamen Wirkung, aber vor allem wirkt er symbolisch durch die Demonstration der Ohnmacht bestehender staatlicher Strukturen, obwohl seine Mittel im Vergleich zu der Macht von Staaten eher dürftig sind. Seine eigentliche Wirkung ist der mediale Effekt der Irritation des Verhältnisses von Staat und Kultur, indem die destruktiven Aktivitäten im Echoraum der öffentlichen Meinung das Selbstverständnis des Staates als Manifestation legitimer Ordnung in Frage stellen. Der Feind des Terrors ist der Staat und das Ergebnis der Bürgerkrieg, denn davon versprechen sich die negativen Kräfte eine Erweiterung ihres Einflussbereichs. Die Schwächung der Macht der Staaten hat weder zu einer Stärkung supranationaler Strukturen geführt noch an irgendeinem Ort der Welt die Demokratiedefizite aufgehoben oder auch nur minimiert. Das Bild ist ernüchternd: Wo staatliche Strukturen nur rudimentär entwickelt oder aufgelöst sind, herrschen kriminelle Clans, marodierende Banden, Netzwerke der Oligarchen oder sich gegenseitig bekämpfende militärische und paramilitärische Einheiten. Das ist der Zustand, den Thomas Hobbes als Krieg aller gegen alle charakterisiert hat. Wo die Lebensverhältnisse einigermaßen sicher, menschenwürdig und friedlich sind, bestehen stabile Staaten. Verlässliche internationale Strukturen etablieren sich nur insofern, als die sie tragenden Staaten funktionsfähig sind. Ist diese Koinzidenz nur zufällig? Zweifellos gibt es auch Unrechtsstaaten, Gewalt, die von Staaten ausgeht. Das 20. Jahrhundert ist geprägt von verheerenden Kriegen, die im Namen von Staaten initiiert und mit aller Grausamkeit geführt wurden. Aber liegt nicht auch diesen Konflikten eine Schwächung der Staaten zugrunde? Franz Neumann hat bereits 1942 in Bezug auf den Nationalsozialismus überzeugend dargelegt und Hannah Arendt in ihren Studien zur totalen Herrschaft bekräftigt, dass diese totalitäre Bewegung und die von ihr aufgebauten Strukturen den Staat unterminiert und zugunsten der Partei partiell aufgelöst haben.252 Der Terrorstaat ist ein gekaperter Staat, der zum Instrument in den Händen einer totalitären Bewegung degradiert ist. Das mit dem Beginn der 21. Jahrhundert verbundene Versprechen, dass sich eine neue Politik der spontanen Organisation unterhalb staatlicher Institutionen, aber
252 Neumann 1984.
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mit weltweiter Vernetzung in den sozialen Medien etabliert, hat seit dem Scheitern des arabischen Frühlings erheblich an Überzeugungskraft verloren. Im Nachhinein erweist sich die Erwartung, dass die anspruchsvolle Konzeption der öffentlichen Meinung durch den Austausch ephemerer zufälliger Meinungen und Informationsschnipsel ersetzt werden könne, als unbegründet. Der Gebrauch dieser Medien ist bestenfalls ein Indikator für die Liberalität eines Staates. Die eigentlich politischen Aufgaben werden, unerachtet der Beschwörung der Macht supranationaler Organisationen, primär von Staaten in Angriff genommen: Ziele der Sicherheitspolitik, der wirtschaftlichen Entwicklung oder des Umweltschutzes lassen sich nur dann erfolgreich verfolgen, wenn sich handlungsfähige Staaten dafür engagieren. Auch dort, wo diese Aufgaben nicht oder nur unvollkommen erledigt werden, ist kein anderer ernsthafter Akteur in Sicht. Die inneren, auf die Gestaltung der Lebenswelt bezogenen Aktivitäten der Sozialpolitik, der Bildungspolitik, der Wirtschaftspolitik und anderer klassischer Staatsaufgaben lassen sich kaum ohne Substanzverlust an andere Instanzen delegieren. Die Privatisierungswellen, die seit einigen Jahrzehnten durch die westlichen Gesellschaften ziehen, erfassen meist nur marginale Bereiche und bleiben parasitär von den Ressourcen der Staaten abhängig. Im Krisenfall werden sie in der Regel wieder staatlicher Verantwortung unterstellt und die Ausfallkosten trägt ohnehin die Gemeinschaft. Die Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse hat längst auch die Politik erfasst und so wird auch der Staat tendenziell als Dienstleistungsunternehmen betrachtet, das bestimmte für die Gesellschaft relevante Güter bereitstellen muss. Wird der Staat allerdings auf diese Rolle reduziert, dann ist er faktisch schon verabschiedet. Seine Funktion, die damit vergessen oder verleugnet wird, ist umfassender. Er ist die Einrichtung, die überhaupt die Voraussetzungen für privatrechtlich begründete Verhältnisse sichert. Der Staat ist deshalb kein Vertragspartner, dessen Legitimität von der Erfüllung bestimmter Erwartungen abhängt. Legitimität ist keine ökonomische Kategorie, nicht der Tauschwert für bestimmte Leistungen, noch wird sich Legitimität auf dem freien Markt der Meinungen und Erwartungen von selbst regeln. Prozesse der Legitimation bedürfen klarer und nachvollziehbarer Spielregeln, die ihrerseits wieder institutionell garantiert sein müssen. Die Etablierung eines rechtlichen Zustands und eines Verfahrens der Legitimation sind Aufgaben, die nicht als Service verstanden werden können, sondern die Konstitution der Verhältnisse betreffen, in denen dann im gelungenen Falle über Güter und Dienstleistungen vertraglich befunden werden kann. Die zentralen Funktionen des Staates, die Garantie der Rechtssicherheit und der Strukturen demokratischer Willensbildung sind in ihrer wechselseitigen Bedingtheit nicht auf andere Organisationsformen zu übertragen. Man kann die Geschichte als eine endlose Reihe von Kämpfen betrachten, als eine Orgie von Gewalt und Unterdrückung, aber man kann auch versuchen, die Architektur derjenigen Institu-
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tionen zu verstehen, die sich – bei aller Unvollkommenheit – als Manifestationen praktischer Vernunft und politischer Erfahrung zu erkennen geben. Dass der Nationalstaat keinen sonderlich guten Ruf genießt, hängt zweifellos mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts zusammen. Indes sollte man sich, um ein Urteil zu fällen, die Errungenschaften vor Augen führen, für die das Paradigma des Nationalstaates steht. Seine Leistungen lassen sich in drei Kategorien zusammenfassen. 1. Die Garantie der Integrität einer humanen Lebenswelt: Dass Menschen friedlich zusammenleben und ihr Leben nach ihren Vorstellungen führen, ist historisch gesehen ein äußerst unwahrscheinlicher Zustand. Der Nationalstaat ist diejenige Form, in der die Spielräume individueller Lebensführung, die Entwicklung freier Gesellschaften auf beeindruckende Weise gesichert werden konnten. 2. Die Herrschaft des Rechts als Grundbedingung einer rationalen politischen Organisation: Herrschaft des Rechts bedeutet zum einen die Durchsetzung des geltenden Rechts, das heißt Rechtssicherheit, zum anderen die Transformation von Herrschaft in rechtliche Akte, die Verrechtlichung politischer Herrschaft. Dies ist die offensichtlichste Erscheinungsform staatlicher Macht. Ihr Prinzip ist die Gewaltenteilung, die Macht so rechtlich formatiert und ausdifferenziert, dass sie ihre Funktionen optimal entfalten kann. 3. Die Moderation demokratischer Willensbildung: Gewiss sind Nationalstaaten nicht per se demokratisch, aber sie bieten die günstigsten Rahmenbedingungen, um Willensbildungsprozesse so zu organisieren, dass Perspektivenvielfalt aufrechterhalten und dennoch Entscheidungsfähigkeit gewährleistet ist. Das bedeutet, dass der Wille des Volkes angemessen repräsentiert werden muss. Repräsentation ist der Schlüssel für die moderne Demokratie in der Dimension eines Flächenstaates. Bei isolierter Betrachtung dieser Funktionen könnte man zu dem Urteil kommen, dass von anderen Organisationsformen jeweils bessere oder zumindest äquivalente Ergebnisse zu erwarten seien. Die Regelung lebensweltlicher Verhältnisse ließe sich in Gestalt spontaner Aktivitäten auf regionaler und lokaler Ebene bisweilen zwangloser realisieren. Aus der Perspektive der Lebenswelt, die sich in den Mikrokosmen in ihrer bunten multikulturellen Vielfalt entfaltet, erscheint staatliche Regelung nicht nur überflüssig, oft wirkt sie hemmend und irritierend. Jedoch wäre es naiv, die kulturelle Welt als grundsätzlich konsensorientiert und friedlich zu charakterisieren. Es ist dies auch eine Sphäre, in der, freilich eher in Regionen außerhalb der westlichen Welt, die Gewalt keimt. Ethnische Konflikte und religiöse Differenzen finden in der Lebenswelt ihre Wurzeln und können von dort aus einen Flächenbrand entfachen. Lebenswelten stellen keine gewaltfreien Gebilde dar und Diversität ist nicht nur eine Bereicherung, sondern immer auch ein Anlass für Spannungen und Konflikte. Lebenswelten müssen ein hohes Maß an Komplexität verarbeiten und verfügen dabei über keine anderen Mittel als die kontingenten Formen der Kommunikation. Die Fähigkeit der Selbstorganisation der Lebenswelt ist äußerst begrenzt.
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Ebenso lässt sich beobachten, dass das System rechtlich organisierter Verwaltung nicht zwingend auf Staatlichkeit im engeren Sinne angewiesen ist. GlobalGovernance-Modelle spielen diesen Zustand einer transnationalen Herrschaftsstruktur durch. Die EU-Administration erweist sich als Beispiel einer effektiven Apparatur der Bürokratie, die über staatliche Organisationen bisweilen souverän hinweggeht und ohne die umständlichen Verfahren nationaler Gesetzgebung – an ihren eigenen Maßstäben gemessen erfolgreich – operiert. Aber die bekannten Exzesse bürokratischer Regulierung ohne Anbindung an die Verfahren demokratischer Legitimation sind keine Empfehlung für eine Verselbständigung des Systems einer allein durch rechtliche und administrative Verfahren gesteuerten Herrschaft. Auch demokratische Verfahren schließlich sind nicht zwangsläufig an Staaten gebunden. Direkt-demokratische Entscheidungsbildung auf regionaler oder lokaler Ebene scheint ein viel höheres Maß an Legitimität beanspruchen zu können als die bürgerfern inszenierten Wahlverfahren, die an abstrakten Zielen orientiert sind. Die Kehrseite dieser Verfahren ist das alle direkt-demokratischen Verfahren in Frage stellende Problem der Tyrannei der Mehrheit. Die Autoren der Federalist Papers, die sich für die amerikanische Bundesverfassung und einen handlungsfähigen Bundesstaat einsetzen, plädieren deshalb eindringlich für eine repräsentative Demokratie, die allein in der Lage ist, der Dominanz einzelner Parteiungen entgegenzuwirken. Denn aus der Dynamik der Parteiinteressen entsteht die Gefahr der Radikalisierung, die Tendenz zum Extremismus und der Unterdrückung der Minderheiten durch die Mehrheit. Indem die Ansichten und Meinungen das Medium der öffentlichen Meinung durchlaufen, die sich im repräsentativen System bildet, wird sowohl die Differenzierung der Meinungen gefördert als auch ein Ausgleich unter den entgegengesetzten Auffassungen ermöglicht. Der Staat erfüllt diese drei zentralen Aufgaben im Idealfall so, dass deren dysfunktionale Wirkungen möglichst unterbunden werden. Die Verbindung einer unter staatlichem Schutz sich frei entwickelnden Gesellschaft, eines Rechtssystems und einer repräsentativen Struktur demokratischer Willensbildung stellt keinen Kompromiss dar, sondern bietet vielmehr die nach gegenwärtigem Ermessen günstigsten Bedingungen des Gelingens. Ihren systematischen Zusammenhang dokumentiert die Verfassung. Die derzeitigen Herausforderungen des Staates sind immens. Die globalen Aufgaben erfordern funktionierende internationale Organisationen, die jedoch immer nur insofern handlungsfähig sind, als sie von starken Nationalstaaten getragen werden. Auch ein Staatenverbund wie die Europäische Union basiert auf der Macht der Einzelstaaten. Die zahlreichen Krisenherde der Welt sind immer auch und meist ursächlich Krisen der jeweiligen Staaten, sofern überhaupt Organisationen bestehen, die diesen Namen verdienen. Die Institution des Staates kommt nicht zuletzt deshalb in Verruf, weil viele Staaten nur als Hülsen existieren, die von verbrecherischen Cli-
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quen zur Ausbeutung des Landes genutzt werden. Zur Konstitution und Stabilisierung von Staaten gibt es, soweit erkennbar, gegenwärtig keine realistische Alternative. Die weltweit zunehmenden Migrationsbewegungen, die scheinbar unaufhaltsame Nomadisierung verlangt umso stabilere staatliche Infrastrukturen. Dass der Verfassungsstaat als Nationalstaat verstanden wird, ist seiner Entstehung zu verdanken, die mit der Geschichte der Nationenbildung verwoben ist. Aber nicht nur die Entstehung, sondern auch die rückblickende Deutung dieser Geschichte ist von Mythen behaftet. Dazu gehört auch die Unterscheidung einer voluntativ orientierten Auffassung der Nation, die Frankreich und den Vereinigten Staaten zugeschrieben wird, und einer ethnisch-kulturellen Variante, die für die deutsche Tradition charakteristisch sein soll. Wenn es zutrifft, dass als Nation nur ein zu politischem Selbstbewusstsein gelangtes Volk aufgefasst werden kann,253 dann relativiert sich diese Unterscheidung.254 Nationalstaaten sind konstituiert durch allgemein geteilte, grundlegende Überzeugungen, durch eine gewisse historische Kontinuität, durch eine darauf gründende Identität und den dadurch gestifteten kulturellen Zusammenhang.255 Der Nationalstaat ist indes keineswegs, wie oft unterstellt, auf ethnische Homogenität hin angelegt. Ernest Renan betont 1882 in seiner berühmten Rede über die Frage „Qu'est-ce qu'une nation?“ gerade in Abgrenzung gegen jede ethnische Auffassung, dass die Nation eine Solidargemeinschaft ist: „Sie setzt eine Vergangenheit voraus, aber trotzdem fasst sie sich in der Gegenwart in einem greifbaren Faktum zusammen: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Das Dasein einer Nation ist … ein tägliches Plebiszit.”256 Renan denkt an eine Schicksalsgemeinschaft, die sich stets aufs Neue bekräftigt. Es ist dieser existentialistische Zug des Nationalstaates, der irritiert. Im modernen Staat scheinen die Herkunft und das gemeinsame Schicksal nicht ausschlaggebend zu sein für die Form des Zusammenlebens. Die hergebrachten Ursprungsmythen haben ihre Glaubwürdigkeit verloren. Die Kategorie des Schicksals scheint in der von technischer Rationalität beherrschten Zivilgesellschaft weitgehend eskamotiert. Weil der Nationalstaat suspekt geworden ist, erfahren alternative Modelle, die auf eine Konföderation von Staaten oder auf einen Weltstaat setzen, immer größeren Zuspruch. Eine Assoziation von Staaten, die sich gemeinsam den Prinzipien liberaler Verfassungen verpflichten, die Einrichtung supranationaler Institutionen und die internationale Anerkennung universaler Standards sind Tendenzen, die man als Indizien einer Weiterentwicklung der politischen Organisation lesen könnte.257 Dass 253 254 255 256 257
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Dann 1993, S. 12. Böckenförde 1999. So Miller 1995, S. 22 ff. Renan 1993, S. 308 f. In diese Perspektive rückt Jürgen Habermas den Nationalstaat und baut dabei auf die konstitutive Kraft der Öffentlichkeit (Habermas 1996, S. 154 ff.).
diese Entwicklung letztlich zu einem Weltstaat führt, ist jedoch nicht zwingend. Die unverkennbar voranschreitende Globalisierung betrifft zunächst nicht die politische Welt, sondern die Formen des zivilen Lebens, die wirtschaftliche Kooperation der Regionen und die scheinhafte Vergegenwärtigung der entlegensten Schauplätze durch die Medien. Dass mit der Verbreitung der Insignien westlicher Zivilisation auch deren Rechtsnormen Anerkennung finden, ist eine vielfach geäußerte Hoffnung, die indessen durch die Wirklichkeit bislang wenig bekräftigt wurde. Nicht abzuweisen ist jedoch die Frage, wie die Konfrontation der „westlichen“ Normen mit nicht-westlichen Kulturen einzuschätzen ist. Sofern sie unerachtet ihrer Herkunft den Anspruch auf universale Geltung erheben, stellen sie gleichsam das moralische Fundament der Globalisierung dar. Wenn sich mit den moralischen-rechtlichen Grundsätzen noch die Vision einer politischen Umsetzung verbindet, dann erscheint ein liberaler Internationalismus und letztlich der Weltstaat als plausibles Ziel politischen Handelns. Spezielle Aufgaben wie insbesondere die Erleichterung wirtschaftlicher Verflechtungen oder Probleme des Umweltschutzes, die nicht innerhalb eines staatlichen Territoriums gelöst werden können, sind gewiss von großer politischer Relevanz. Hier sind internationale Kooperationen gefragt, die neue Handlungsräume eröffnen. Aber diese stellen selbst keine Basis politischer Handlungsfähigkeit dar, selbst wenn sich bei den beteiligten Staaten gemeinsame Interessen abzeichnen. Das Paradigma der Europäischen Union als der am weitesten entwickelte Staatenverbund zeigt, dass eine supranationale Organisation, die eine feste politische Einbindung der Staaten anstrebt, durch den Primat ökonomischer Regulierungen zwar eine enge Kooperation der Nationalstaaten befördert, dass dabei aber politisch erhebliche Defizite zu verzeichnen sind. Die inzwischen errichtete technokratische Administration in Europa führt zu einer Herrschaft der Experten, die ohne zureichende demokratische Legitimation arbeiten. Andererseits ist dieses Gebilde weit davon entfernt, die Macht der Nationalstaaten aufzulösen. Es hat selbst nur Bestand, solange die Nationalstaaten überzeugt sind, damit ihre Interessen zu befördern. Eine normativ anspruchsvollere Option für supranationale Organisationen und insbesondere den Weltstaat ergibt sich, wenn sich gemeinsame Zwecke identifizieren lassen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die existentielle Frage eines globalen Friedens den Ausgangspunkt der Überlegungen stiftet. Für diese Diskussion steht Kant Pate, dessen Schrift Zum ewigen Frieden zwei Jahrhunderte nach ihrem Erscheinen ganz neue Aufmerksamkeit erfahren hat. Das Kantische Programm ist zentriert um die These, dass einzig die Institutionalisierung des Rechts die endgültige Pazifizierung der internationalen Staatenwelt gewährleistet.258 Kant denkt dabei nicht an das traditionelle Völkerrecht, von dem er sich deutlich distan-
258 Dazu kritisch Zenkert 2002.
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ziert, sondern an vernunftrechtliche Prinzipien, die das Projekt eines Föderalismus freier, republikanischer Staaten umreißen. Obwohl Kant einen uneingeschränkten Universalismus vertritt, lehnt er interessanterweise die Idee eines Weltstaates ab mit dem Argument, dass dieser in unregierbare Zustände führe.259 Zu diesem pragmatischen Argument kommen die grundsätzlichen Bedenken hinsichtlich eines Universalstaates, dessen uneingeschränkte Macht zu fürchten sei. Dagegen ermöglicht das Bestehen der Nationalstaaten eine friedliche Konkurrenz, die ein wirksames Korrektiv gegen alle despotische Tendenzen verspricht. Kants Einspruch gegen den naheliegenden Gedanken an den Universalstaat beruht nicht, wie immer wieder unterstellt, auf seinem dogmatischen Festhalten am Prinzip der nationalen Souveränität;260 vielmehr basiert umgekehrt die Plausibilität seines Vorschlags auf dem Gedanken, dass das Mittel gegen den staatlichen Machtmissbrauch nicht selbst eine noch größere Gefahr darstellen darf. Der Vorrang des Rechts gegenüber der Macht kann konsequenterweise nur dadurch gewährleistet werden, dass die letzte Instanz ein reines Rechtsgebilde, einen Föderalismus von Republiken darstellt. Kants Friedensprogramm beruht auf der Hoffnung, dass die Realisierung des Rechts innerhalb der Staaten der entscheidende Schritt zu einem dauerhaften Frieden sei. Der Nationalstaat spielt also noch die entscheidende Rolle in diesem Prozess. Die heutigen Kritiker der kantischen Zurückhaltung gegenüber der Weltrepublik konstatieren jedoch fundamentale Defizite der Nationalstaaten, die durch innere Reformen nicht aufgefangen werden können. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern eine dem Nationalstaat analoge supranationale Organisation die Probleme vermeidet, in die der Nationalstaat führt. Die Befürchtung ist nicht von der Hand zu weisen, dass durch eine Weltrepublik die ehemals internationalen Konflikte in immanente Konflikte, in Bürgerkriege transformiert werden, die diesen hinsichtlich der Gewaltsamkeit in nichts nachstehen. Ein Zentralstaat wird diese Probleme nicht lösen und stellt zusätzlich selbst ein Problem dar, sofern Kants Misstrauen gegenüber politischer Macht diesen nicht weniger trifft als die Einzelstaaten. Andererseits erscheinen republikanische Staaten wenigstens insofern vertrauenswürdig, als von ihnen erwartet werden kann, dass sie sich auf eine internationale Friedensordnung verpflichten. Deshalb ist Kants Lösung einer extrem schwachen Institutionalisierung der Weltgemeinschaft in Gestalt eines Völkerbundes eine relativ überzeugende Antwort auf die Frage nach der Kontrolle politischer Macht. Die Plausibilität der Kantischen Lösung beruht indes auf der Prämisse, dass die Friedensstiftung das einzige oder doch primäre Ziel der Politik sei. Gegenüber anderen politischen Zielsetzungen bleibt dieser Ansatz weitgehend abstinent. Wenn sich die politische Agenda nicht auf diesen engen Skopus beschränkt, sondern ein umfassendes Programm der Durchsetzung universaler Rechte verfolgt, muss 259 Kant 1923. 260 Z. B. Kersting 1997, S. 332 f.
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eine anspruchsvollere politische Infrastruktur entworfen werden. Dann kann nur ein Weltstaat den damit verbundenen Aufgaben gerecht werden. In den zeitgenössischen Diskussionen werden unterschiedliche Modell erwogen, die vom Minimalstaat über die Rechtsverfassung einer weltbürgerlichen Gesellschaft bis zur globalen Demokratie reicht, in der die Nationalstaaten aufgehen.261 Ein bloßer Völkerbund, selbst wenn er mit den klassischen Gewalten ausgestattet wäre, hat den gravierenden Mangel, dass er hinsichtlich der Ausführung seiner Beschlüsse an die Einsatzbereitschaft der Nationalstaaten gebunden ist. Das Modell der kosmopolitischen Demokratie fordert dagegen nicht nur die Entmachtung der Einzelstaaten, sondern mündet in eine grenzenlose Verantwortlichkeit für die Durchsetzung der Menschenrechte.262 Dieser globale Leviathan müsste jede Menschenrechtsverletzung sanktionieren, im Zweifelsfall in jeden Konflikt eingreifen und die Erfüllung der zugrunde liegenden Rechte garantieren. Damit wäre nicht nur eine ins Ungeheure gehende Administration verbunden, sondern eine Exekutivmacht, die allen anderen Mächten deutlich überlegen wäre. Abgesehen von der gewaltigen Kräftekonzentration und den erheblichen organisatorischen Problemen spricht gegen die Einrichtung des globalen Staates das Existenzrecht demokratisch konstituierter Nationalstaaten. Gewiss sind diese nicht sakrosankt, aber wenn dem Weltstaat Legitimität zukommt, dann muss diese auch in abgeschwächter Form den bereits bestehenden kleineren Einheiten zugestanden werden. Insofern wäre den Nationalstaaten wenigstens ein relatives Recht einzuräumen. Folglich müsste das Modell des Weltstaates eine föderative Struktur vorsehen. In ihm werden den Staaten und gegebenenfalls den regionalen oder kontinentalen Organisationen diejenigen Funktionen übertragen, die sie deutlich besser als die Zentralmacht erfüllen können. In der Frage der Kompetenzverteilung offenbart sich jedoch ein grundlegendes Problem. Werden dem Weltstaat nur die „Restaufgaben“ zugesprochen, die von den einzelnen Demokratien nicht oder nur eingeschränkt bewältigt werden,263 dann erhebt sich die Frage, nach welchen Kriterien und von welcher Instanz diese Aufgabenverteilung vorgenommen wird. Die Entscheidung über das dem einzelnen jeweils Mögliche und Notwendige kann letztlich nur von der souveränen übergeordneten Einheit gefällt werden. Diese Hierarchie ändert sich prinzipiell auch dann nicht, wenn davon ausgegangen wird, dass die demokratisch verfassten Staaten ihre angestammten Aufgaben im Wesentlichen behalten und nur neue Funktionen, etwa die Regelung internationaler Angelegenheiten in die Kompetenz des Superstaates fallen. Auch im Modell des föderativen Weltstaates ist folglich die Frage nach der Souveränität virulent, die den Nationalstaat im Allgemeinen und die demokratische 261 Zur Charakterisierung vgl. Kersting 1997, S. 335 ff. 262 S. dazu exemplarisch Held 1995. 263 So lautete der Vorschlag von Höffe 1999, S. 296 ff.
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Verfassung im Besonderen stets begleitet hat. Dass Kant am Souveränitätskonzept festhält und daraus auf das Prinzip strikter Nichteinmischung schließt, wird in der gegenwärtigen Rezeption immer wieder als anstößig betrachtet.264 Die Differenz liegt nicht nur in einer damit erforderlichen institutionellen Aufrüstung des Weltstaates, sondern in der Frage, ob der Nationalstaat eine Machtinstanz eigenen Rechts bleibt oder seinen Rechtsstatus, trotz des ihm zugestandenen Spielraums, der Gesamtverfassung verdankt, wie etwa im Verhältnis föderativer Nationalstaaten und ihrer Binneneinheiten. In der Auflösung der Problematik einzelstaatlicher Souveränität liegt der Schlüssel für die Plausibilität weltstaatlicher Entwürfe. Die Bedeutung des Souveränitätsprinzips lässt sich nicht durch den Hinweis auf die internationalen Verflechtungen relativieren, die angeblich die Autonomie der Staaten bereits deutlich eingeschränkt hätten. Vertragliche Selbstverpflichtungen heben die nationale Souveränität ebenso wenig auf wie die immer schon bestehende faktische Begrenzung des Handlungsspielraumes. Auch durch eine partielle Aufhebung oder durch ein Stufenmodell der Souveränität kann das Problem nicht aufgelöst werden, wenn anders Souveränität gerade die Unbedingtheit der staatlichen Gewalt bezeichnet. Dass dieser Begriff in der Übertragung auf das politisch verstandene, durch eine Verfassung konstituierte Volk mit der Idee nicht relativierbarer Normen verbunden wird, stellt keinen Widerspruch, sondern die Konsequenz des Souveränitätsgedankens dar. Denn diese Selbstverpflichtung ist nur sinnvoll unter der Voraussetzung souveräner Entscheidungskompetenz der Einzelnen. In diesem Sinne stellen auch die Grundrechte gegenwärtiger Verfassungen keine Einschränkung der Souveränität dar, sondern sind deren Voraussetzungen. Sie spiegeln weder naturrechtliche Prinzipien noch willkürliche Entscheidungen. Als konstitutive Prinzipien stiften sie das rechtliche Fundament für das Subjekt der Souveränität, das politische Volk.265 Die zentrale Bedeutung des Souveränitätsprinzips zeigt sich auch in der Beantwortung der Frage, ob die untergeordneten Einheiten der Weltrepublik alle im Wesentlichen dieselbe Verfassungsstruktur besitzen, oder ob dabei erhebliche Abweichungen zugelassen werden. Das Zugeständnis an die regionale Kultur, an die fruchtbare Vielheit der Nationen und historisch gewachsenen Lebenswelten, die den Individuen das Gefühl der Zugehörigkeit erlauben, berührt nicht die Problematik der rechtlichen Struktur ihrer Verfassungen. Auch unter der Voraussetzung allgemeiner Prinzipen wie dem Kanon der Grundrechte, der Gewaltenteilung und elementarer demokratischer Regeln gibt es eine Vielfalt an Verfassungen, die von einem Weltstaat zu integrieren sind. Mehr als dies in den gegenwärtigen Demokratien der Fall ist müssten für eine föderale Weltrepublik vergleichbare Strukturen geschaffen 264 Vgl. in diesem Sinne Habermas 1996b. 265 Zur konstitutiven Bedeutung von Verfassungsprinzipien s. Holmes 1994, S. 151 ff. Holmes spricht vom Paradox der Verfassung insofern, als Bürger „ihre Macht dadurch stärken, dass sie sich die Hände binden“ (S. 157).
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werden, um die Kooperation der Staaten im Hinblick auf globale Entscheidungen zu ermöglichen. Auch dies wäre de jure eine Aufhebung der einzelstaatlichen Souveränität. Der Nationalstaat würde zu einer unbedeutenden politischen Größe, zu einer bloßen Verwaltungseinheit degradiert. Die Beibehaltung staatlicher Souveränität ist jedoch kein reines Organisationsproblem, sondern eine Frage der Legitimation. In dem Sinne, wie angesichts der Souveränität herkömmlicher demokratisch verfasster Nationalstaaten die Differenz zwischen föderaler und zentralistischer Organisation zweitrangig ist, muss auch für den Weltstaat gelten, dass entweder die Souveränität der Staaten vorausgesetzt oder aufgehoben wird. Die Alternative lautet Konföderation oder föderaler Weltstaat. In den gegenwärtigen Diskussionen erscheint diese Opposition in der Frage, ob die Nationalstaaten als juristische Personen analog zu Individuen zu betrachten sind.266 Wenn dem Nationalstaat diese Qualität nicht zugesprochen wird, erscheint seine Entmachtung als rechtlich unproblematisch. Damit verliert der Weltstaat jedoch seine Legitimationsgrundlage. Nichts spricht jedoch gegen eine Verbindung von Staaten in Konföderationen. Und selbst die Auflösung bestimmter Staaten in größeren Einheiten mag ein gangbarer Weg sein. Gegenwärtig sind jedoch die wirklich relevanten internationalen politischen Organisationen ausnahmslos an nationalstaatliche Trägerschaft gebunden. Eine Übertragung institutioneller Leistungen von den Nationalstaaten auf überstaatliche Instanzen verlangt neue politische Organisationsformen. Jeder politischen Organisation liegt auch eine Machtkonstellation zugrunde. Das mit dem Projekt eines Weltstaates verbundene Heilsversprechen der Universalisierung, das die Politik seit der Aufklärung begleitet, droht indessen im Zeichen der Globalisierung die politischen Konfliktsituationen zusätzlich zu belasten durch die moralische Verpflichtung, mit den Interventionen nicht nur den konkreten Konflikt, sondern Konflikte überhaupt zu überwinden. Durch diesen weltgeschichtlichen Auftrag, dessen ein apokalyptischer Beiklang nicht zu überhören ist, muss die Distanz zur Wirklichkeit naturgemäß zunehmen. Konflikte wahrzunehmen bedeutet, die Gewichtsverteilung und Differenzen in den Strukturen der Macht zu registrieren und ihnen die Form einer rationalen politischen Auseinandersetzung zu geben. Die Organisation der Macht, nicht ihre Instrumentalisierung oder gar Aufhebung, ist das Ziel einer Kultivierung der politischen Welt. Dass dabei neue Machtkonstellationen entstehen, die den Staat klassischer Prägung ablösen, ist nicht auszuschließen. Denkbar ist ebenso, dass vom reinen Ideal der Staatssouveränität Abschied zu nehmen ist und sich stattdessen bereichsspezifische Formen politischer Verantwortlichkeit herauskristallisieren. So kann Macht sich auch in einem System sich 266 Dezidiert tritt Höffe für diese Analogie ein mit der Konsequenz, dass Staaten wie Individuen elementare Rechte zukommen, freilich vorbehaltlich der Anerkennung des elementaren Rechts- und Demokratiegebots (Höffe 1999, S. 324 ff.).
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überlappender Organisationen manifestieren, dem eine ebenso differenzierte Identität der Handelnden entspricht. Eine solche „Dispersion“267 der Macht minimiert nicht etwa das Potential politischer Macht, sondern führt, wie jede organisatorische Gestaltung, zu ihrer weiteren Ausdehnung, Qualifizierung und Stärkung. Die bloße Abschaffung tradierter Machtformen dagegen wäre katastrophenträchtig, sofern sich nicht zugleich neue Machtstrukturen etablieren, die funktional äquivalent sind. Die Flucht in universalistische Prinzipien, die an Kant orientierte Theorien vollziehen, bietet keine Alternative. Erstens werden jene Prinzipien außerhalb der westlichen Welt nicht per se als universalistisch wahrgenommen, zweitens besitzen sie – ob es nun die Menschenrechte oder allgemeine Diskursprinzipien sind – einen hohen Abstraktheitsgrad. Als Orientierungshilfe in politischen Angelegenheiten sind sie nur bedingt tauglich. Sie sind nicht gänzlich wertlos, ersetzen aber nicht das, was eine Gesellschaft zusammenhält. Auch die Idee des Verfassungspatriotismus ist eine blasse Formel, die das, was Menschen verbindet, nicht zum Ausdruck bringen kann.268 Das abstrakte Modell einer an demokratischen Prinzipien und universalen Rechten orientierten Verfassung hat sich vom Kontext der konkreten Lebenswelt abgelöst. Eine Verfassung zeitigt immer zwei Ansichten: Sie ist einerseits ein Bild der Organisationsform mit abstrakten Prinzipien und andererseits ein konkretes Projekt einer Gemeinschaft, die sich so, wie sie existiert, von anderen Gemeinschaften unterscheidet. Der Verfassungspatriotismus überschätzt die Integrationsleistung abstrakter universaler Prinzipien und ignoriert damit nicht nur die lebensweltliche Verankerung einer Verfassung, sondern stellt auch die Quellen der Solidarität in Frage, die für politische Gemeinschaften fundamental sind.269 Die Integrationsleistung von Gemeinschaften einschließlich der daraus folgenden Bereitschaft zu einem solidarischem Transfer von Gütern setzt voraus, dass sich diese aus konkreten Individuen rekrutiert, die nicht austauschbar sind.270 Was aber ist das, was eine konkrete Gemeinschaft zu identifizieren erlaubt? Sind es die Werte, auf die sich die Sozialwissenschaften konzentrieren? Abgesehen von der notorischen begrifflichen Unschärfe, die durch unzählige Definitionsversuche nicht aufgehoben werden konnte,271 führt dieses Konzept in eine Aporie. Diesem aus der Ökonomie entlehnten Begriff ist die zu erwartende Entwertung schon eingeschrieben. Versucht man Werte zu identifizieren, dann gelangt man zu Präferenzen, die nicht von ungefähr willkürlich erscheinen. Die Verteidiger der Werte übersehen, 267 Diesen Begriff wählt Michael Sandel, ohne die Problematik dieser Auflösung der traditionellen Souveränität zu verschweigen (Sandel 1996, S. 345 ff.). 268 Dieser Begriff, geprägt von Sternberger 1990, wurde zuletzt von Jürgen Habermas in die Debatte gebracht (Habermas 1987). 269 Münch 1998, S. 386 ff. 270 Zu dieser Einschätzung kommt Ralf Dahrendorf, der die Verbindung von internationaler Wettbewerbsfähigkeit, solidarischem Handeln und der Garantie einer freien Gesellschaft als praktisch unmöglich beurteilt (Dahrendorf 1996). 271 S. dazu Thome 2005, S. 389.
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dass das Konzept in den moralischen Diskurs eingeführt wurde in der Absicht, diesen insgesamt zu diskreditieren. Mit dieser Kategorisierung werden politische und kulturelle Konflikte zu ideologischen Glaubenskriegen stilisiert. Konkrete Gemeinschaften lassen sich annäherungsweise durch ihre Kultur erschließen. Eine Kultur ist mehr als eine Kollektion von Werten. Vielmehr handelt es sich hier um einen komplexen Zusammenhang von Überzeugungen und Fähigkeiten, Praktiken und Institutionen, um ein reiches Arsenal an Traditionen, Selbstbildern und Zukunftserwartungen. Sie umfasst Tugenden und Rechtsprinzipien, politische Organisationen, Wissenschaft, Kunst, Philosophie und Religion, und sie umfasst die Lebensformen der Menschen in ihren sozialen Strukturen. Der Begriff der Kultur erlaubt keine eindeutige Identifikation. Kulturen sind in den seltensten Fällen streng abgegrenzte Singularitäten, aber das Konzept lässt eine Thematisierung all der Potentiale zu, die offensichtlich eine differenzierte und differenzierende Sicht auf die soziale Welt erlauben. So ist insbesondere die Idee einer westlichen Kultur gewiss umstritten und niemand kann sich anmaßen, detailliert auszubuchstabieren, was diese Idee kennzeichnet. Aber gerade diese Unbestimmtheit hinsichtlich der eigenen Identität ist ein Merkmal der Kultur und insbesondere der westlichen Kultur. Man könnte mit guten Gründen von westlichen Kulturen im Plural sprechen, um der unbestreitbaren Diversität Rechnung zu tragen, die in der westlichen Welt Programm ist. Kulturen, insbesondere westliche Kulturen, definieren sich nicht über ein festes Ethos oder einen abgeschlossenen Wertekatalog, sondern über ein komplexes Gefüge aus Traditionen, Haltungen, Spielregeln, über Wissen, Techniken, Künste und Diskurse, über Symbole und Rituale und die ihr eigenen Formen der Politik. Dass diese Bereiche ausdifferenziert und dennoch aufeinander bezogen sind, macht unerachtet aller Varianten den gemeinsamen Charakter westlicher Kulturen aus. Westliche Kulturen sind keine homogenen Gebilde und sie sehen sich vor allem immer schon in einem Verhältnis zu anderen Kulturen, das nicht nur von Abgrenzung oder Assimilierung bestimmt ist, sondern von einer produktiven Auseinandersetzung. Dies hat eine lange Tradition. Bereits die Griechen sehen ihre Kultur im Licht anderer Kulturen, denen sie Interesse und Wertschätzung entgegenbringen. Die Römer haben sich als kulturell abhängig von den Griechen erfahren und deren Kultur angeeignet. Die christliche Kultur ist ein Spross der jüdischen Kultur und muss sich auf dem Fundament der klassischen Antike behaupten. Die mittelalterliche Welt Europas steht unter dem Eindruck der arabischen Überlieferung. Europa verkörpert keine homogene Kultur, ist aber auch nicht nur ein buntes Konglomerat unterschiedlicher Traditionen. Westliche Kultur ist das Ergebnis sich überlagernder Rezeptionsprozesse, iterativer Renaissancen, Phasen der Erschließung der antiken Tradition und Epochen der Distanzierung von der eigenen Herkunft. Man kann mit Rémi Braque von einer exzentrischen Identität Europas sprechen, die sich daraus
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ergibt, dass diese Kultur nicht in sich selbst ruht, sondern sich immer aus einer versetzten Perspektive betrachtet.272 Vielleicht hat diese mannigfache Konfrontation mit anderen Kulturen die europäische Kultur befähigt, sich gegenüber anderen Kulturen nicht nur erfolgreich zu behaupten, sondern in den Bereichen des Rechts, der Politik, der Wissenschaften und der Künste Maßstäbe zu setzen. Westliche Kulturen haben andere Kulturen kolonialisiert, aber auch dem eigenen Verständnis erschlossen und fruchtbar gemacht; sie haben sich damit immer verändert. Der Zweifel an der Möglichkeit, das Fremde angemessen zu verstehen, begleitet diese Auseinandersetzungen. Schließlich ist es unverkennbar ein Charakteristikum der westlichen Kulturen, sich selbst in Frage zu stellen. Die Selbstkritik des Westens kann im Extremfall bis zur Selbstentfremdung gesteigert werden. Fruchtbar ist diese Kritik jedoch nur dann, wenn sie sich der Voraussetzungen, denen sie sich verdankt, versichert: der spezifisch westlichen Form der Rationalität und des Lebensstils. Was folgt daraus für die Frage nach der angemessenen Form des Staates im 21. Jahrhundert? Staaten sind keine selbsttragenden Konstruktionen, sondern setzen Kulturen als ihr Fundament voraus. Der Unterschied der Kulturen ist ein unhintergehbares Faktum. Aber es ist voreilig, daraus – wie Samuel Huntington – einen Kampf der Kulturen ableiten zu wollen. Nicht die Aufrüstung zum Kampf ist gefragt, sondern die Kultivierung der Staaten, die Verbindung von Staat und Kultur zum Kulturstaat. Darunter ist zum einen die Verpflichtung des Staates zum Schutz der Kultur und zum kulturpolitischen Engagement zu verstehen, ein Staatsziel, das in Deutschland, obwohl nicht im Grundgesetz erwähnt, Verfassungsrang besitzt. Ein Kulturstaat ist aber vor allem ein Staat, der aus der Kultur schöpft und von ihr belebt wird. Friedrich Schiller hat eine derartige Kultivierung des Staates als eines ästhetischen Staates vor Augen und hofft, damit den Staat der Rechte und der Pflichten, der rationalen Verwaltung und der moralischen Disziplinierung zu überbieten. Er gibt jedoch nur vage Hinweise, wie dieser Prozess zu gestalten sei. Deutlich wird aber, dass nur über eine Kultur des Geschmacks und der freien Geselligkeit diese Ästhetisierung vollzogen werden kann. „Freiheit zu geben durch Freiheit“ lautet das Grundgesetz dieses imaginären Staates.273 Freiheit in ihren unterschiedlichen Facetten von der politischen bis zur individuellen Freiheit ist wohl das Prinzip, das sich zumindest als Anspruch seit der Neuzeit durch alle Stadien westlicher Kulturen zieht. Liberal ist der Kulturstaat nicht im Sinne einer Laissez-faire-Gesellschaft, sondern als Bildungsgesellschaft. Dazu gehört das Bestreben, durch eigene Bildung an der Entfaltung der Kultur mitzuwirken, wie immer auch die individuellen Akzente gesetzt werden. Kulturelle Identität ist insofern nicht nur Ergebnis einer Identifikation oder Teilnahme, sondern verdankt sich 272 Brague 1993. 273 Schiller 1962, 27. Brief.
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dem Einsatz für die Kultur. Niemand entscheidet sich für eine bestimmte Kultur. Aber Kulturen sind auch nicht gegeben im Sinne natürlicher Tatsachen. Man wird in sie hineingeboren, kann sich deren Reichtum erschließen und zu deren weiteren Entfaltung beitragen, oder darauf vertrauen, dass andere diese Leistung vollbringen. Keine Kultur ist so monolithisch, dass sie exklusiv die Identität eines Menschen prägt. Identitäten sind relational, abhängig von den jeweiligen sozialen Kontexten. Die Identität stiftenden Kontexte ziehen sich in konzentrischen Kreisen um die Individuen und sozialen Verbände. Aber auch in sich sind sie nicht homogen, sondern zeigen unterschiedliche Ansichten, Brüche und Verwerfungen, Rezeptionsformen unterschiedlicher Komplexität und natürlich verändern sie sich diachron. Eine Kultur zu erfassen ist selbst eine Bildungsleistung, setzt in dem Maße Differenzierungsvermögen voraus, als die Kultur selbst in sich differenziert ist. Der Grad der inneren Differenzierung ist ein Qualitätsausweis der Kultur. Der Liberalismus der modernen Welt, nach Michael Walzer charakterisiert durch die Kunst der Trennung, setzt klare Grenzen, um der Eigengesetzlichkeit der Sphären Raum zu geben. Die Differenzierung durchzieht alle Sphären der Kultur: die Wissenschaft, die normativen Überzeugungen, das Recht, aber auch die Angelegenheiten des Geschmacks und des Empfindens, des Ausdruckvermögens. Während die wissenschaftlich-technischen Errungenschaften des Westens von anderen Kulturen importiert werden können, ohne dass sich deren Identität entscheidend ändert, scheint sich vor allem in der normativen und der ästhetischen Dimension das Spezifikum der westlichen Kultur, vielleicht der Kulturen überhaupt zu manifestieren. Sie lassen sich dementsprechend nicht exportieren, ohne das Wesen der anderen Kulturen im Kern zu verändern. Sie lassen sich deshalb auch nicht beliebig verändern oder relativieren, ohne die eigene Identität aufs Spiel zu setzen. Die Integration anderer kultureller Traditionen ist deshalb eine ganz besondere Herausforderung auch für die liberalen Kulturen des Westens. Sie basiert auf der Möglichkeit der inneren Differenzierung der Kultur, konfrontiert diese aber mit der Paradoxie, dass liberale Gesellschaften um der Liberalität willen nur über sehr eng begrenzte Möglichkeiten der Verteidigung ihrer Prinzipien verfügen. Eine Kultur, die auch ihre entschiedensten Gegner toleriert, gibt sich auf. Eine Kultur, die sich durch Abschottung zu erhalten sucht, verrät ihre fundamentalen Prinzipien und verkümmert. Es bleibt nur ein schmaler Grat, auf dem sich eine erfolgreiche Selbstbehauptung vollziehen kann. Die sich selbst reproduzierenden Strukturen der Lebenswelt geraten hier schnell an ihre Grenzen. Der Prozess der kulturellen Integration bedarf deshalb einer institutionellen Infrastruktur, wie sie gegenwärtig nur der moderne Staat bereitzustellen in der Lage ist. Nur der Staat kann die für eine Integration von Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft fundamentalen Funktionen erfüllen. Eine der wichtigsten Aufgaben ist die Zähmung und Einhegung der Religionen unter dem Primat der Politik.
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Grundsätzlich ist der Staat der Garant einer Trennung der Sphären von Kunst, Religion, Politik, Wissenschaft. Er stellt insofern die Verkörperung dessen dar, was als Inbegriff neuzeitlicher Rationalisierung gelten kann: die Ausdifferenzierung der Handlungsbereiche und die Organisation von Verständigungsprozessen durch formale Verfahren. Dafür muss der Staat die entsprechenden Ressourcen bereitstellen. Es handelt sich dabei überwiegend um Spielregeln, die Ermöglichungscharakter haben. Spielregeln bedürfen aber auch flankierender Sanktionen. Kein anderer politischer Akteur verfügt gegenwärtig über die dafür notwendige Durchsetzungskraft. Das dazu erforderliche Organisationspotential ergibt sich aus den reflexiven Strukturen des Machtkreislaufs. Entscheidungs- und Willensbildung sind nicht einfach traditional festgelegt, sondern lassen sich ihrerseits durch entsprechende Entscheidungsverfahren steuern. Nur mit einer derart reflexiven Organisationskapazität kann der Staat angesichts der hochgradig partikularisierten Diskurse und der permanenten Kritik, der er ausgesetzt ist, sich nicht nur behaupten, sondern sogar einen Legitimitätszuwachs verbuchen. Der Machtkreislauf des Verfassungsstaats bietet dafür die günstigsten Voraussetzungen. Da die Selbstbehauptung nie die eigenen normativen Grundlagen konterkarieren darf, ist staatliches Handeln auf Besonnenheit und Urteilskraft angewiesen. Urteilskraft ist zwar nicht formalisierbar, nicht über Regeln abzudecken, aber sie darf nicht allein dem Zufall individuellen Engagements anheimgestellt werden. Sie muss in den Strukturen des Staates institutionalisiert werden durch Bildung. Bildungsprozesse werden von Individuen vollzogen, aber damit Bildung möglich wird, müssen Voraussetzungen geschaffen werden, die sich außerhalb staatlicher Organisation nur schwerlich finden lassen. Bildung ist ein störungsanfälliger Prozess der freien individuellen Entwicklung in der Auseinandersetzung mit der kulturell geprägten Wirklichkeit. Die Freiheit, die dazu vorausgesetzt wird, ist kein naturwüchsig libertärer Zustand, sondern eine geschützte Welt. Individuelle Freiheit kann sich nur in Gesellschaften optimal entfalten, deren Spielräume institutionell, und das heißt staatlich konstituiert sind. Auf der Basis der Unterscheidung der Handlungssphären und der Teilung der Gewalten bietet der moderne Staat günstige Voraussetzungen für eine Kultivierung, indem er die Freiräume garantiert, die kulturelle Entwicklungen benötigen. Qualitative Unterschiede der Kulturen sind immer auch Differenzen hinsichtlich des Grades kultureller Differenzierung. Das bedeutet, Kulturen besitzen unterschiedliche Grade innerer Differenzierung. Ein höherer Grad von Differenzierung ist das Indiz dafür, dass sich eine Kultur eher auf die Begegnung mit anderen Kulturen einzulassen vermag; eine wenig differenzierte Kultur dürfte auf andere Kulturen eher abweisend reagieren. In jeder Kultur gibt es gesellschaftliche Kräfte, die zur inneren Differenzierung tendieren als auch Kräfte, die auf eine Entdifferenzierung und Homogenisierung hinarbeiten. Erstere führen im Extremfall zur Auflösung einer Kultur, letztere
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zur Ideologisierung. Beide Tendenzen muss das politische System so zu steuern wissen, dass einerseits die freie Entfaltung der kulturellen Vielfalt und andererseits die notwendige Kohärenz gewahrt bleiben. Die in den Alltagsdebatten beschworene Alternative von Homogenität oder Vielfalt ist irreführend, denn die Herausforderung jeder kulturellen Entwicklung besteht darin, Diversität zuzulassen und zugleich den inneren Zusammenhang der Kulturen zu wahren. Der Staat hat also in Bezug auf die Kultur eine gestaltende Aufgabe, muss sich aber zugleich jeder Manipulation enthalten. Auch hier handelt es sich im Grunde um eine paradoxe Ausgangssituation, die nur durch Binnendifferenzierung der Aufgaben bewältigt werden kann. Destruktiv ist meist die direkte Einflussnahme, die autoritäre Instruktion. Gleichwohl liegt es in der Verantwortung des Staates, günstige Voraussetzungen für die Entfaltung der besten kulturellen Kräfte zu schaffen. Der Staat ist Moderator der Kultur. Moderation bedeutet Ermöglichung, aber auch Mäßigung derjenigen kulturellen Kräfte, die sich als dysfunktional erweisen können. Dies sind seit der Entstehung des Staates vor allem die Kräfte der Religion, die mit der Säkularisierung ihre Monopolfunktion verlieren und sich der staatlichen Macht unterordnen. Diese Entwicklung folgt nicht dem Gesetz des Stärkeren, sondern verdankt sich der Erfahrung, dass religiöse Überzeugungen alleine, gleich welcher Couleur, kein Fundament der Organisation des Zusammenlebens bieten können. Eine der entscheidenden kulturellen Leistungen des modernen Staates in geschichtlicher Perspektive ist die Zivilisierung der christlichen Religion, die sich dann als Subsystem in den politischen Organisationsrahmen einfügt und die Freiheit der Gesinnung bezahlt mit weitgehender politischer Entmachtung. Staat und Kultur befinden sich selten in einer harmonischen Beziehung. Grundsätzlich ist das Verhältnis beider latent spannungsvoll bis zur wechselseitigen Verachtung. Der Staat tendiert dazu, den Bereich der Kultur der eigenen Verantwortlichkeit unterzuordnen und sich deren Errungenschaften einzuverleiben. Das kulturelle Leben wird staatlicherseits in seinen anarchischen Tendenzen allenfalls toleriert, in günstigeren Fällen in seinen repräsentativen Formen als Dekor der politischen Institutionen betrachtet. Beide Einstellungen sind aus der Sicht des kulturellen Betriebs prekär und bekräftigen eine oppositionelle Haltung der Protagonisten der Kultur gegenüber dem politischen System. Umgekehrt zeigt sich eine analoge Einseitigkeit auch in der Wahrnehmung des Politischen durch die kulturelle Welt. Das Feld der Politik kann als ein Bereich der Kultur betrachtet werden, der sich im Zuge der Ausdifferenzierung von anderen Bereichen wie zum Beispiel Wissenschaft, Kunst, Religion und Unterhaltung abgegrenzt hat. Dieser Status eines Teilsystems steht aber in einem Missverhältnis zu dessen Anspruch als übergeordneter Organisation. Beide Seiten erscheinen jeweils in der Wahrnehmung des anderen nur als subalterne Bereiche, die sich faktisch verselbständigt haben und ohne Zweifel sind beide Perspektiven tatsächlich einseitig.
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Ein übergeordneter Standpunkt der Betrachtung steht indes nicht zur Verfügung; deshalb sind sich Kultur und Politik notorisch fremd. Kultur und insbesondere Kunst verstehen sich als frei, gedeihen aber vor allem im öffentlichen Raum der Repräsentation, die immer eine Form der Öffentlichkeit ist. Dies ist keine Herabsetzung oder gar Instrumentalisierung, gegen die sich die Kunst in der Regel zu verwahren weiß. Kultur bedarf der Repräsentation, sie ist immer auch Darstellung. Sie erscheint als Kult, als Ritual, als materialisiertes Objekt, als Performance und in öffentlichen Bekundungen. Aber sie ist immer mehr als ihre bloße Erscheinung; sie ist auch immer das, worauf die Repräsentation verweist. Daraus ergibt sich die Sinnstruktur, auf der kulturelle Bedeutungen aufbauen. Sie ist Bedeutungsträger dann, wenn sie sich der öffentlichen Sphäre aussetzt. Für die Organisation des Staates sind die Strukturen der Repräsentation von vitaler Bedeutung. Das Rätsel der Legitimität politischer Herrschaft lässt sich nur über die Funktion der Repräsentation lösen. Repräsentiert werden soll der Wille der Einzelnen und der Gruppen, repräsentiert werden soll aber auch das Ganze als kollektives Subjekt und als Handlungsgemeinschaft, die ihre Vergangenheit und ihr Selbstverständnis vergegenwärtigt. Um diese komplexen Repräsentationsaufgaben zu erfüllen, müssen Sinnreserven erschlossen werden, die sich nicht aus der Perspektive der planenden und ordnenden Rationalität ergeben. Nur der Bezug auf den kulturellen Kontext, der entsprechend gedeutet werden muss, kann diese Sinnbezüge bieten. In diesem Raum der Repräsentation berühren sich Kultur und Politik und sind zugleich darauf bedacht, Abstand zu wahren. Beide sind auf Darstellung angewiesen und beide müssen den Sinn, den sie beanspruchen, selbst generieren. Kultur und Politik operieren deshalb mit Fiktionen, die jedoch in beiden Fällen keine bloßen Gedankenspiele bleiben müssen, sondern Wirklichkeit stiften können. Die Ideen des Staates als politischer Körper, der Willensgemeinschaft oder des mündigen Bürgers sind ebenso fiktiv wie das Schöne der klassischen Kunst, die emphatisch vertretene Authentizität der Erfahrung in der modernen Kunst. Sinn basiert jedoch nicht auf willkürlicher Setzung. Sinnstrukturen entstehen durch Bezüge auf ein Anderes, aber dieses Andere kann sich nicht außerhalb der Erfahrung finden, bleibt also der Welt der Repräsentation verhaftet. Wo diese Sphären, Staat und Kultur, sich unter Aufrechterhaltung ihrer funktionalen Differenz begegnen und wechselseitig aufeinander beziehen, besteht die Chance, dass sich für beide ein semantischer Mehrwert ergibt. Sinn zeigt sich durch die Darstellung der Grenzen in den Grenzen der Darstellung. Staat und Kultur verweisen aufeinander, indem sie sich unterscheiden und in der Unterscheidung wechselseitig beeinflussen. Staaten sind demnach in dem Maße zur Integration Anderer befähigt, als sich die kulturelle Welt und politische Macht voneinander unterscheiden und darin aufeinander beziehen. Mit der Konstitution der reflexiven Macht des Staates wird ein
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Fluchtpunkt der Kultur geschaffen, in dem sich alle Belange des kulturellen Lebens und damit auch seine Vielfalt und seine unvermittelten Tendenzen spiegeln. Das Ziel der Integration ist kein wohlfeiler Multikulturalismus, sondern die Erweiterung der eigenen Kultur um Aspekte anderer Kulturen in Verbindung mit den institutionalisierten Formen der sozialen Welt und den organisatorischen Kapazitäten des Staates. Es ist aber auch nicht die Aufgabe des Staates, eine sogenannte Leitkultur durchzusetzen. Wer könnte sich anmaßen, deren Programm festzulegen oder zu identifizieren? Es gibt fraglos Grundprinzipien, die kulturelle Standards des Westens widerspiegeln. Dazu gehören insbesondere die Menschenrechte. Diese sind in vielen nationalen Staaten jedoch erst relativ spät heimisch geworden; in Deutschland beispielsweise wurden sie erst aufgrund der Erfahrung der politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts als Koordinaten politischen Handelns institutionalisiert. Kulturen sind vielschichtiger, als eine sozialwissenschaftliche Bestandsaufnahme sogenannter Werte erahnen lässt. Fundamental für die westlichen Kulturen sind Voraussetzungen, die sich nicht als Werte, auch nicht als spezifisch moralische Prinzipien durch alle Bereiche der kulturellen Welt ziehen. Sie setzen vielmehr auf einer höheren Abstraktionsstufe an: gemeint ist die quasi-transzendentale Unterscheidung von theoretischer Wahrheit, von praktischer Richtigkeit und ästhetischer Erfahrung. Diese drei Kriterien sind konstitutiv für Erkenntnis und Wissenschaft, für die Möglichkeit einer Ethik als systematischer Suche nach dem guten Leben und für eine auf Empfindung und ästhetische Erfahrung angelegten Erlebnissphäre. Es wäre aber naiv, für diese Differenzen Universalität zu reklamieren. Sie verweisen auf eine besondere ideengeschichtliche Herkunft und lassen sich kaum von diesem Kontext ablösen. Sie unterscheiden sich allerdings von sonstigen kulturspezifischen Konzepten durch ihren Status als kulturelle Konzepte zweiter Ordnung, da sie nicht unmittelbar bestimmte Überzeugungen darstellen, sondern den epistemischen Rahmen für die Entwicklung von Konzepten stiften. Dies gilt auch für die Grundbegriffe der sozialen Welt. Fundamental ist dafür in der westlichen Kultur das Konzept der Individualität, das den Einzelnen als nicht relativierbare Größe des sozialen Beziehungsgefüges ausweist. Damit einher geht die Idee von Entwicklung, in emphatischer Zuspitzung von Bildung, die dem Begriff der Individualität eine dynamische Komponente verleiht. Auch dabei handelt es sich nicht um ein inhaltliches Präjudiz, sondern um formale Konzepte, die ganz unterschiedliche Möglichkeiten der Erfüllung bieten. Daraus resultiert schließlich die Konzeption einer liberalen Gesellschaft, die pluralistisch angelegt ist und den Raum eröffnet für ganz unterschiedliche Überzeugungen, religiöse Einstellungen, Lebensformen und soziale Beziehungen. Auch hier handelt es sich nicht um universale Prinzipien, sondern um Prinzipien einer höheren Reflexionsstufe, die gleichwohl kulturspezifisch sind. Ihre Überlegenheit besteht indes genau darin, dass sie nicht nur eine vorreflexive Einstellung widerspiegeln,
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sondern Überzeugungen zweiter Ordnung, die sich ihrerseits auf Überzeugungen beziehen. Die Realisierung und Belebung dieser Prinzipien schließen zweifellos manche Lebensformen aus. Sie stellen keinen Freibrief für alle möglichen Überzeugungen aus. Aber sie machen deutlich, dass in der damit konzipierten Gesellschaft nicht der Grad der Homogenität entscheidend ist, sondern eine bestimmte Vorstellung von der Qualität einer Kultur. Mit der Qualität steigern sich immer auch die Möglichkeit von Diversität und damit auch die Fähigkeit, sich zu anderen kulturellen Tendenzen zu verhalten. Mit diesen kaum strittigen Prinzipien allein ist jedoch die westliche Kultur noch nicht hinreichend erfasst. Als Prinzipien zweiter Ordnung ergibt sich ihr Sinn erst dadurch, dass der so geschaffene Spielraum mit Leben gefüllt wird. Durch die Ausdifferenzierung der Lebensformen, die Wahrnehmung der Meinungsfreiheit und die Realisierung der Möglichkeiten unterschiedlicher Bildungsprozesse entsteht das, was Kultur ausmacht. Diese wird gemäß ihren eigenen Prämissen nicht homogen sein, sie wird sich auch nicht auf einheitliche Wertvorstellungen zurückführen lassen. In diesem Sinne verträgt sie auch Einflüsse anderer Kulturen. In Abhängigkeit von ihrem Entwicklungsstand sind Kulturen rezeptionsaffin und werden durch Einflüsse anderer Kulturen eher gestärkt als geschwächt. Wachsende Diversität verlangt immer auch eine Intensivierung staatlicher Macht und zwar nicht nur hinsichtlich der Kontrollfunktionen und der Durchsetzung des Rechts, sondern auch hinsichtlich der Präsenz staatlicher Organisation in der sozialen Welt, der Bildung und der Gestaltung des kulturellen Lebens. Die unter den gegenwärtigen und soweit absehbar auch unter zukünftigen Bedingungen am besten geeignete politische Organisationsform ist der demokratische Verfassungsstaat, der Rechtlichkeit mit freier Meinungs- und Willensbildung verbindet. Nur ein starker Staat ist den gegebenen Herausforderungen gewachsen; aber nur in einem Kulturstaat lassen sich die damit verbundenen Belastungen auch konstruktiv bewältigen. Institutionen allein gewährleisten noch keine Integration. Dieses Erfordernis einer Integrationsleistung sollte gerade für die europäische Kultur vertraut sein, ist für sie die Fremdheit ihrer Tradition doch gewissermaßen konstitutiv. Und dies gilt für alle Schichten der europäischen Antike einschließlich der klassischen griechischen Welt. Das sogenannte kulturelle Erbe ist in der westlichen Kultur kein fester Bestand. Seine Aneignung erfordert großen Aufwand und bleibt doch stets unbefriedigend. Das heißt nicht, dass sich in dieser Perspektive alle Unterschiede zwischen europäischen und außereuropäischen Traditionen nivellieren. Die Aneignung der europäischen Tradition kennt selbst schon eine lange Tradition, die wiederum zum Gegenstand der Aneignung werden kann. Außereuropäische Traditionen stellen insofern eine besondere Herausforderung dar, als es keinen oder einen nur den Fachkundigen
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zugänglichen Kontext für Übersetzungen gibt. Aber dies gilt in abgeschwächter Form auch für die Aneignung der europäischen Kultur selbst. Es ist unter den gegebenen Bedingungen kaum zu befürchten, dass die europäische Kultur unter dem Druck fremder Kulturen leidet oder gar gefährdet ist. Eher leidet sie unter sich selbst, unter ihrer Übersättigung und Selbstzufriedenheit, und unter der Trivialisierung, die allmählich alle Bereiche der Kultur durchzieht. Wenn die europäische Kultur geschwächt würde, hätte dieser Prozess endogene Ursachen. Eine Kultur wird nicht durch Bekämpfung der anderen bestärkt, sondern durch ihre innere Entwicklung und Neubelebung, die auch durch eine Konfrontation mit anderen Kulturen stimuliert werden kann. Eher ist noch zu befürchten, dass auch die außereuropäischen Kulturen nicht mehr stark genug sind, um sich angesichts der Sogwirkung der westlichen Lebensform zu behaupten. Der gemeinsame Nenner ist dann jedoch nur noch eine Oberflächenerscheinung von Kultur, deren ökonomische und technische Außenhaut. Es lässt sich noch nicht ausmachen, ob Fukuyama Recht hat mit seiner Prognose, dass das Ende der Geschichte eine deprimierende Zeit sein wird, in der sich niemand mehr für ideelle Ziele einsetzt, in der Mut, Phantasie und Begeisterung für Ideen ersetzt wird durch ökonomisches Kalkül, technisches Problemlösen und die Befriedigung von Konsuminteressen.274 Aber es ist deutlich zu erkennen, dass diese Schrumpfform von Kultur nicht mehr die Kraft hätte, einen Staat als Organisation einer Gesellschaft zu tragen, die sich selbst zu bestimmen in der Lage wäre, in der sich individuelle und politische Freiheit realisieren ließe. Das Vakuum, das er hinterließe, gäbe Raum für die dumpfen Empfindungen und Ressentiments, die in einer Gesellschaft gerade dann zu Tage treten, wenn sie sich ihrer Kultur zu sicher glaubt.
274 Fukuyama 1989.
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III. Das Integrationspotential des Staates
1.) Sphären der Integration Ein umfassendes Modell von Integration kann nur dann in den Blick kommen, wenn die systematische Verbindung zwischen dem Status des Einzelnen und dem Organisationszusammenhang der Gemeinschaft ausbuchstabiert wird. Dazu bieten die vorausgehenden begriffsgeschichtlichen Darstellungen ein Fundament, weil sie die entscheidenden Statusbestimmungen des Selbst umfassen, die für die moderne Welt prägend sind: Menschsein, Personsein und Individualität und die diesen korrespondierenden Sphären der Lebenswelt, der Gesellschaft und des Staates. Der Status des Menschseins ist genau dann relevant ist, wenn es um die moralische Integration geht. Die moralische Integration, sofern sie auf universalistischen Prinzipien beruht, umfasst nur die spezielle Statusbestimmung des Menschseins, nicht den Einzelnen als Person oder als Individuum. Die formalen Menschen- und Grundrechte definieren die Minimalbedingungen des Verhältnisses der Einzelnen untereinander, indem sie moralische Sätze in die Sprache des Rechts übersetzen. Sie verbürgen Universalität und Neutralität der rechtlichen Regelungen, bleiben aber um dieser Neutralität Willen auf allgemeine Verhältnisse beschränkt. Die Neutralität garantiert eine hohe Akzeptanz der Grundrechte, solange diese inhaltlich relativ unverbindlich bleiben. Ihr Vorteil ist zugleich ihr Nachteil: Sie sind abstrakt, betrachten den Einzelnen als isoliertes Subjekt und sie sind gleichgültig gegenüber dem konkreten Schicksal der Individuen. Die bloße Gewährleistung von Grundrechten ist kein Garant dafür, dass die Individuen ein menschenwürdiges Leben führen können. Entscheidend für den Stellenwert und die Wirksamkeit der Grundrechte ist indes die Tatsache, dass sie in eine umfangreiche institutionelle Infrastruktur eingebettet sind und einen Adressaten voraussetzen, der für die Erfüllung der darin erhobenen Rechtsansprüche namhaft gemacht werden kann. Letztlich kommen, soweit die normativen Forderungen über die bloßen Abwehrrechte hinausgehen, als Adressaten nur der Staat beziehungsweise staatliche Instanzen in Frage; dies entspricht nicht nur dem historischen Umstand der Entstehung der Grundrechtskataloge, sondern ist auch eine rechtslogische Bedingung ihrer Funktionalität. Ohne identifizierbare Adressaten sind Rechtsansprüche sinnlos und ohne einen mit entsprechender Macht ausgestatteten Akteur bleiben sie unerfüllt. Reine Abwehrrechte richten sich zwar an unbestimmte Adressaten, unterstellen dabei aber, dass diese im Prinzip als rechtliche Körperschaften betrachtet werden können. Vor allem aber postulieren sie die Existenz eines Rechtssystems, das Rechtsprechung und Sanktionsgewalten
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umfasst. Grundrechte sind also nicht nur machtbegrenzend, sondern antizipieren und bekräftigen zugleich diejenigen Machtinstanzen, die mit ihrer Realisierung und Gewährleistung befasst sind. Wenn aber ein Staat und das heißt, eine rechtlich konstituierte Gemeinschaft die Voraussetzung für Funktionalität und praktische Wirksamkeit der Grundrechte ist, dann muss dieser als Bedingung des Daseins und des normativen Sinns dieser Grundrechte verstanden werden. Mit dieser Voraussetzung verbunden ist die Tatsache der wenigstens minimalen Integration dieser Gemeinschaft. Das bedeutet, dass die Grundrechte ihre integrative Wirkung nur entfalten können unter Voraussetzung einer bereits erfolgten Integration der Gemeinschaft. Diese zirkuläre Struktur basiert auf der wechselseitigen Voraussetzung der beiden Momente. Der Zusammenhang lässt sich gleichwohl analytisch auflösen. Während der Liberalismus, indem er das Selbst abstrakt auffasst und als solches absolut setzt, in dieser Beziehung nur ein technisches Phänomen zu erkennen glaubt, sofern Institutionen für bestimmte regulative Aufgaben unverzichtbar sind, zeigt sich hier in der Tat die wechselseitige Bedingtheit von Grundrechten und verfasster Gemeinschaft. Der Zirkel ist nicht logisch, sondern pragmatisch und funktional angelegt. Grundrechtsbestimmungen können staatliches Handeln limitieren und begrenzt steuern, sofern damit implizit bestimmte Zielvorgaben verbunden sind. Ihre normenlogische Begründung ist abstrakt und universal. Dementsprechend ist ihre Integrationswirkung beschränkt auf die Garantie der Vorbedingungen eines Lebens, das nach den jeweils geltenden kulturellen und sozialen Standards als menschlich, das heißt menschenwürdig bezeichnet werden kann. Als Bestandteil des Prozesses der politischen Integration insgesamt betrachtet allerdings sind die Grundrechte ihrerseits an die Voraussetzung einer politisch integrierten Gemeinschaft gebunden, um überhaupt einen positiven Sinn und praktische Wirksamkeit entfalten zu können. Der Weg von den Grundrechten zum Staat kann folglich nicht als lineare Ableitung aufgefasst werden. Sowohl der Kanon der Menschenrechte als auch die in modernen rechtstaatlichen Verfassungen kodifizierten Grundrechte sind notorisch unvollständig. Deshalb hat es sich nicht nur im politischen Diskurs, sondern auch in der juristischen Welt und schließlich in den modernen Verfassungen selbst der Begriff der menschlichen Würde als Fluchtpunkt normativer Differenzen bewährt und zwar auch dort, wo dieser Begriff, wie etwa in der amerikanischen oder der französischen Verfassung, nicht explizit als Prinzip erwähnt wird.275
275 Dass der Begriff menschlicher Würde auch für die Verfassungsrechtsprechung der Vereinigten Staaten relevant ist, bezeugen die Fachdiskussionen. Instruktiv ist Meyer, Parent (Hg.) 1992. Im Verfassungsrecht Frankreichs hat der Conseil Constitutionel in seiner Entscheidung vom 27.07.1994 das Prinzip der Menschenwürde den Rang eines „principe à valeur constitutionelle“ zugesprochen, das damit, auch ohne explizit in der Verfassung erwähnt zu werden, ein integraler Bestandteil der Persönlichkeitsrechte ist.
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Der Begriff der Würde ist der Index für den Status eines moralischen Akteurs schlechthin. Während einzelne Menschen- und Grundrechte in Frage gestellt werden können und eine Erweiterung des Grundrechtekatalogs angesichts einer drohenden Inflation diese Rechte äußerst riskant wäre, entzieht sich der Begriff der Würde weitgehend einer Kritik. Die Unantastbarkeit verdankt sich der inhaltlichen Unbestimmtheit. Zu Recht wird immer wieder festgestellt, dass der Begriff eine Leerformel darstellt, die nur bedingt justiziabel ist.276 Genau dadurch aber wird der Begriff zum robusten Prinzip verfassungsrechtlicher Auseinandersetzungen. Er ist unangreifbar aufgrund seiner Unbestimmtheit und kann gerade dadurch seine integrative Wirkung entfalten. Diese besteht weniger darin, dass sich daraus ganz bestimmte Konsequenzen ziehen lassen, obwohl er in Grenzfragen der Rechtsprechung vereinzelt dafür herangezogen wird, als vielmehr darin, dass er den Raum eröffnet, in dem individuelle Selbstverwirklichung stattfinden kann. Der Begriff der Würde markiert den Erscheinungsraum des Menschen als eines moralischen Wesens. Gesetzgebung und Rechtsprechung können im Hinblick auf die Idee menschlicher Würde die Rahmenbedingungen setzen, aber nicht inhaltlich präjudizieren, worin genau ein Leben in Würde besteht. Dies ist kein Mangel des Begriffs, sondern systematisch dadurch gerechtfertigt, dass menschliche Würde nur als Selbstdeutung der Individuen realisierbar ist. Würde ist nicht das Ergebnis von Rechtsgarantien, sondern ergibt sich allein durch eine gelungene Selbstdarstellung im sozialen Kontext, durch Repräsentation. Die Lebenswelt, in der sich das Individuum bewegt, ist der unverzichtbare Resonanzraum für das Selbstbild. Aber der Kreis schließt sich erst dadurch, dass die Einzelnen sich nicht nur als Untertanen, sondern als aktive Mitglieder der Gemeinschaft begreifen, die ihrerseits die Bedingungen für die Entwicklung der Perspektive eines humanen Daseins bietet. Der Begriff der Würde besitzt gerade wegen seiner Unbestimmtheit eine wirkungsvolle Orientierungsfunktion. Es handelt sich, wie Ronald Dworkin darlegt, um einen interpretativen Begriff,277 an dem sich die Minimalbedingungen eines angemessenen Umgangs der Menschen miteinander auskristallisieren. Nichts spricht dagegen, dass in Einzelfällen Grundrechte justiziabel sind und dass Menschenrechte gemäß internationalem Recht als Grundlage einer wirkungsvollen Rechtsprechung dienen. Das Potential dieser normativen Instanz ist jedoch schnell erschöpft und mit dem juristischen Erfolg kann durch inflationären Gebrauch die normative Kraft der Grundrechte schwinden, eine Entwicklung, die kaum mehr revidiert werden könnte. Der Grat zwischen rechtlicher Überbeanspruchung des Begriffs der Würde und seiner Reduktion auf eine Leerformel, die nur noch rhetorisch Verwendung findet, ist schmal.
276 So Herdegen 2009. 277 Dworkin 2012, S. 460 ff.
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Insgesamt ist die integrative Wirkung der Konzeption menschlicher Würde gering. Elementare Rechte lassen sich auch im Falle ihrer Positivierung nur als moralische Grenzbestimmungen des Zusammenlebens aktivieren, sie bilden nicht den Kern politischer Verfassungen und können vor allem nicht die Orientierung bieten, die für die Selbstregulierung eines Gemeinwesens notwendig und von einer Verfassung zu erwarten ist. Die Realisierung des normativen Anspruchs, der mit dem Status des Menschseins erhoben wird, ist auf eine umfassende institutionelle Infrastruktur angewiesen, die nicht nur technisch die Durchsetzung der Normen verbürgt, sondern mit deren Konkretisierung befasst ist. Auch detaillierte Menschenrechtskataloge können nicht exhaustiv darstellen, was zu einem menschenwürdigen Dasein gehört. Es ist die Teilnahme an der menschlichen Gemeinschaft selbst, die dafür entscheidend ist. Insofern hat die Aristotelische Definition des Menschen als zóon politikón auch unter den Bedingungen der modernen Welt ihre Berechtigung nicht verloren. Die moderne politische Gemeinschaft ist nun allerdings die auf der Basis der säkularen Zivilgesellschaft entwickelte und auf die Freiheit der Einzelnen gestellte rechtsstaatliche und demokratische Gemeinschaft. Rein normativ betrachtet ist der Begriff der Würde die Voraussetzung der Verfassung, politisch hingegen ist die verfasste Gemeinschaft die Voraussetzung für die Aktualisierung dieses Anspruchs. Erst auf dem Boden einer Rechtsgemeinschaft lassen sich aus dem moralischen Anspruch konkrete Argumente formulieren. Ohne das Beziehungssystem einer verfassten Gemeinschaft bleiben die damit verbundenen Forderungen bloße Wünsche. Gesellschaftliche und politische Teilnahme sind unverzichtbar für die Entwicklung des Selbstbildes eines Individuums, dessen Existenz die Minimalkriterien eines Daseins in Würde erfüllt. Dabei ist nicht nur an explizite Partizipation zu denken, die immer nur in begrenztem Umfang und nur zu besonderen Gelegenheiten stattfinden kann, sondern an eine viel umfassendere und grundsätzliche Form der Teilnahme, die durch die Repräsentation des Ganzen vermittelt wird. Die integrative Kraft, die der Status der menschlichen Würde bietet, beruht folglich auf einer Struktur, in der die Repräsentation des Individuums, die sich in dessen Selbstbild darstellt, und die Repräsentation der Gemeinschaft ineinandergreifen. Die Realisierung des normativen Anspruchs, der mit dem Konzept der Würde verbunden ist, kann deshalb nur ansatzweise über die Positivierung bestimmter Rechtstitel erfolgen, die in den Grundrechten formuliert sind. Deren Kataloge bleiben notorisch unvollständig und eine grundrechtliche Überdeterminierung der Gesellschaft wirkt auf Dauer dysfunktional. Die Erfüllung des normativen Anspruchs ist auf eine entgegenkommende politische Organisation angewiesen, die allerdings nicht paternalistisch dem Einzelnen die Last der Lebensführung abnimmt, sondern eine Organisationsform bietet, in der sich die Individuen trotz unterschiedlicher Perspektiven wiedererkennen. Es liegt auf der Hand, dass die Bindungskraft, die vom Begriff der Würde und von den Grundrechten ausgeht, nur eine geringe Wirkung entfalten kann, weil die
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individuelle Repräsentation des Selbst und die kollektive Repräsentation sich kaum so aufeinander abstimmen lassen, dass diese Beziehung eine besondere Intensität entfalten würde. Es verhält sich vielmehr so, dass die Identifikation mit der Gemeinschaft auf dieser Ebene als durchweg problematisch zu diagnostizieren ist. Als normativ angemessenes Verhältnis wäre die Kompatibilität anzustreben. Aber für die Angleichung gibt es kein neutrales Instrument. Weder soll der Spielraum für die autonome Gestaltung des eigenen Lebens und die Möglichkeit, einen eigenen Standpunkt in politischen Fragen zu entwickeln, aufgehoben werden, noch kann die politische Organisation als ein bloßes Produkt der vielen individuellen Perspektiven konstruiert werden. Sofern der Status des Einzelnen, sein reines Menschsein, auf der Opposition zur Gesellschaft beruht, die er zugleich als Garant menschenwürdiger Lebensverhältnisse voraussetzt und fordert, führt jede Maßnahme, die der Integration im Sinne der Erfüllung normativer Erwartungen dient, unweigerlich zugleich zur Schwächung der Institutionen, die diese Maßnahmen vollziehen. In der Dynamik der Integration dieser Sphäre zeigt sich die bedrohliche Tendenz zur Selbstauflösung. Die Integrationsleistung, die sich aus den rechtlichen Strukturen einer sozialen Ordnung ergeben, sind dagegen deutlich höher einzuschätzen. Sie beziehen sich auf den Status des Einzelnen als Person. Das Forum für die Darstellung und Entfaltung der Person ist die Gesellschaft im unbestimmten Sinne als rechtlich organisierter Handlungsraum, die eine Bühne für vielfältige Lebensformen und Interessen bietet. Hegel hat diese Sphäre in der systematischen Unterscheidung von Gesellschaft und Staat prägnant charakterisiert. Das Medium der Organisation dieses Raums ist das Recht im positivistischen Sinne, in dessen Strukturen sich die Interessen der Einzelnen artikulieren lassen. Fragen der Legitimität werden dagegen weitgehend transferiert in die politische Sphäre. So ist die Gesellschaft von der direkten politischen Auseinandersetzung entlastet. Ihr Konsens ist rein formal durch die neutrale Instanz des Rechts gewährleistet. Die Gesellschaft ist jedoch noch in einem weiteren Sinne entlastet. Dass die Akteure als Personen auftreten, reduziert den existentiellen Druck in Bezug auf das Selbstbild der Beteiligten, die nicht ihre ganze Identität aufs Spiel setzen, wenn sie im gesellschaftlichen Handlungsraum ihre Ziele verfolgen und sich in wechselnden Rollen präsentieren. Der Personenstatus dient als Maske für unterschiedliche und mitunter auch gegenläufige, konkurrierende und widersprüchliche Interessen, die deshalb synchron oder diachron in einer Person verbunden sein können, weil die Identität, das „wahre“ Selbst der Einzelnen sich nicht darin bewähren muss, sondern hinter den verschiedenen Rollen zurücktritt. Die Rollenvielfalt, die der Status der Person erlaubt und befördert, gefährdet nicht per se die Integrität des individuellen Selbst. Dieses ist allenfalls indirekt präsent. Das Personsein konterkariert jedes Bestreben, in der Gesellschaft authentisch zu sein, weil eine authentische Darstellung ein Selbstwiderspruch wäre. Personsein bedeutet, sich in der sozialen Welt zu
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vermitteln. Damit ist unausweichlich auch immer das Kalkül auf die Wirkung dieser Darstellung zu berücksichtigen. Die Höflichkeitsrhetorik der Aufklärung, entwickelt aus den höfischen Formen des geselligen Umgangs, lotet dieses Spiel der Darstellung im öffentlichen Raum aus und stellt ein subtiles Vokabular für die Abstimmung der sozialen Beziehungen, das Verhältnis von Distanz und Nähe und die Präsentation des Selbstbilds im sozialen Raum zur Verfügung.278 Aufgrund dieser doppelten Entlastung, der Entlastung des Selbst und der Entlastung vom politischen Konsensdruck, entfaltet die Gesellschaft der Personen eine besondere Dynamik, die sich in die Sphären der wirtschaftlichen Interessen, der Kunst, der Mode, der Unterhaltungskultur und anderer Handlungswelten ausdifferenziert. Der Status der Person hat darin die Funktion einer vermittelnden Form, die nicht nur erlaubt, zwischen diesen Sphären souverän zu wechseln, sondern mit der Differenz des je eigenen Selbst und des Daseins im gesellschaftlichen Raum auch deren Vermittlung zu ermöglichen. Während gemäß der Kategorie des Menschseins alle im abstrakten Sinne gleich sind, repräsentiert der Einzelne als Person seine Besonderheit und erhebt damit auch Anspruch, als Individuum in seiner Einzigartigkeit respektiert zu werden, auch wenn dieser Anspruch im gesellschaftlichen Miteinander permanent wieder preisgegeben wird. Ein Paradigma dieses paradoxen Wechselspiels ist die Mode, die das Bestreben nach Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit bedient durch ein Angebot, das nach ökonomischer Rationalität auf Massenkonsum zugeschnitten ist.279 In der Person verbindet sich das Prinzip der Gleichheit aller Personen und die notorische Verschiedenheit der Schicksale und Interessen der Einzelnen. Aber diese Verbindung bleibt stets spannungsvoll. Dies spiegelt sich im Verhältnis der Einzelnen untereinander, die sich prinzipiell als Konkurrenten betrachten müssen, also Unterschiede zu realisieren suchen und dabei zugleich die normative Gleichstellung voraussetzen müssen. Das Ideal der Konkurrenzgesellschaft lautet: Fairer Wettbewerb nach Spielregeln, die für alle gleichermaßen gelten. Dies lässt sich, wenn auch mit Einschränkungen, zwar für die rechtlichen Bedingungen, gewiss jedoch nicht für die sozialen und persönlichen Bedingungen sagen, unter denen die konkurrierenden Personen antreten. Das Recht muss diese sozialen und biographischen Umstände aber um der Neutralität willen ausblenden. So zieht es eine Grenze zwischen den Lebensbedingungen, die kontingent sind, und den Ergebnissen des eigenen Strebens, die den Handelnden zugerechnet werden. Von Gleichheit kann nur insofern die Rede sein, als die Einzelnen sich alle an den gleichen formalen Regeln orientieren können. Der Spielraum der bürgerlichen Gesellschaft ist deshalb ein Ort permanenter Konflikte nicht nur der Einzelnen untereinander, sondern auch des Einzelnen in Bezug auf die Gesellschaft im Ganzen hinsichtlich der sozialen Frage, die sich auf die Voraussetzungen bezieht, 278 Ptassek, Sandkaulen-Bock, Wagner, Zenkert, 1992, S. 129 ff. 279 Simmel 1995, S. 7 ff.
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unter denen die Vielen nach Rechtsprinzipien untereinander verkehren. Während die Behauptung, dass die Herrschaft des Rechts an sich schon Gerechtigkeit verbürge, ideologisch wäre, weil sie die Tatsache unterschiedlicher Chancen und Startbedingungen desavouiert, müsste jedes Programm, das absolute materiale Gerechtigkeit anstrebt, Rechtsbestimmungen aufheben und verkehren, weil es Ungleichheit realisiert, um Gleichheit zu generieren. Persönliche Fähigkeiten und Leistungen wirken ebenso differenzierend wie der Zufall der Herkunft und das Schicksal. Politische Maßnahmen können extreme Unterschiede abfedern, aber nur auf Kosten des Rechts gänzlich ausgleichen. Der Status der Person hat seine Bedeutung gerade darin, dass er diese Differenz zwischen dem Schicksal der Einzelnen und der Gleichheit der Regeln, unter denen gehandelt werden kann, vermittelt. Er ist damit integrativ und desintegrativ gleichermaßen, indem er ein System neutraler Regeln etabliert und eo ipso damit die Ungleichheit der Lebenswirklichkeit und Schicksale besiegelt. Doch auch diese Spannung zeitigt eine integrative Wirkung, denn sie sichert die subjektive Freiheit, die Voraussetzung ist für ein freies und selbst verantwortetes Leben. Andererseits wirkt das Recht in sozialer Hinsicht desintegrativ, weil es Gleichgültigkeit statuiert und das Handeln der Einzelnen auf seine rechtlich relevanten Aspekte reduziert, das je Individuelle, das Schicksal der Einzelnen also dabei ausklammert. Wenn Rechtsbestimmungen die sozialen Verhältnisse prägen, werden sie tendenziell versachlicht und in Verwaltungshandeln transformiert. Der Einzelne wird unerachtet seiner Einbettung in soziale Beziehungen isoliert als Person, die für ihre Handlungen verantwortlich zeichnet und dafür gegebenenfalls die Konsequenzen tragen muss. Der Status der Personen ist ein ambivalenter Status, der Ungleichheit durch Gleichheit stabilisiert. Person ist der Grundbegriff des bürgerlichen Rechts und die Rechtsfähigkeit der positive Kern des ansonsten mit Willkür gleichzusetzenden Rechts der Person. Hegels Darstellung des Zusammenhangs von Person und Recht entwickelt sich aus der Differenz von unmittelbar freiem Willen und formeller Allgemeinheit, die sich in den Bestimmungen des Rechts niederschlägt.280 Obwohl sich daraus keine inhaltliche Rechtfertigung des subjektiven Handelns ableiten lässt, besitzt doch diese mit der bloßen Subjektivität des Wollens begründete Freiheit ihre eigene Dignität. Die Person selbst steht in der Spannung des reinen Wollens, dass sich nur aus sich selbst begründet, und der damit zugleich prätendierten Allgemeinheit des Ich, die sich dieser Reduktion auf die bloße Reflexion verdankt. Die Person ist insofern eine Person unter Personen und kann ihren Anspruch auf Freiheit nur aufrechterhalten, wenn sie sich der Limitierung ihrer persönlichen Freiheit durch die Freiheit der anderen Personen bewusst ist. In der Selbstwahrnehmung der Person treten diese
280 Hegel 1970c, § 34 f., S. 92 ff.
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Freiheitsspielräume der anderen als Begrenzung auf und so wird auch das Recht primär als limitierend, als Inbegriff von Verboten erfahren. Die daraus resultierenden Spannungen durchziehen die Gesellschaft.281 Im Begriff der Person sind die unaufhebbaren Differenzen festgehalten, deren Behandlung ein wesentlicher Teil der Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft ausmacht. Die Person ist das Subjekt wirtschaftlichen Handelns, das in der Figur des homo oeconomicus zum Ausgangspunkt wirtschaftswissenschaftlicher Modellbildung avanciert. Damit ist die Rolle eines ausschließlich nach ökonomischer Rationalität entscheidenden Agenten umrissen, der individuellen Präferenzen folgt. Zwar steht dieses Abstraktum in keinem Verhältnis zur sozialen Realität und zur Selbstwahrnehmung der Individuen, aber dennoch lassen sich damit in gewissen Grenzen wirtschaftliche Entwicklungen simulieren. Unerachtet der Kritik an dieser reduktionistischen Auffassung des Einzelnen zeigt sie sich gerade dadurch berechtigt, dass sie die im Begriff der Person gründende Reduktion des Subjekts auf freie Willkür unter allgemeinen Regeln nachzeichnet. Die Figur ist ebenso fiktiv wie das Rechtssubjekt, dem keine empirische Realität entspricht und das doch in dieser Abstraktion Wirklichkeit stiftet. Offensichtlich ist jedoch, dass dieses Szenario des nach wirtschaftlichen Kriterien rationalen Agenten die sozialen und politischen Bedingungen ausblendet oder nur als Randerscheinungen wahrnimmt. Grundsätzlich gilt für alle Rollenkonzepte von Personen, dass sie entsprechender Institutionen bedürfen, die diesen Handlungsspielraum eröffnen und die Bedingungen bereitstellen, unter denen die Akteure sich auf ihr spezielles Anliegen konzentrieren und von anderen Kontexten abstrahieren können. Dabei ist die Ignoranz gegenüber den Rahmenbedingungen konstitutiv für das Selbstbewusstsein der Einzelnen Die Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaften beruht ganz entscheidend auf dieser Möglichkeit der Ausblendung. Umso mehr Aufwand ist erforderlich, um die rechtliche und soziale Infrastruktur aufrechtzuerhalten, die diese Differenzierung und Spezialisierung ermöglicht. Die Verständigung über die Regulierung dieser institutionellen Infrastruktur kann nicht von den Akteuren in der Perspektive der spezifischen Rollen geleistet werden, zumal diese nicht selten synchron unterschiedliche Rollen einnehmen. Die Behandlung der strukturellen Konflikte, die in der Gesellschaft der Personen auftreten, kann nicht innerhalb dieser Sphäre erfolgen, denn die Antagonismen der Gesellschaft sind systembedingt. Zwar sind die normativen Grundlagen, das Rechtssystem, die um den Begriff der Person zentrierten allgemeinen Prinzipien der Rechtsfähigkeit und die diesen 281 Die so verstandene Gesellschaft steht nicht in Opposition zur Gemeinschaft, sondern ist mit dieser in Wechselwirkung. Die soziologische Gegenüberstellung von Gesellschaft und Gemeinschaft vor einer historischen Folie, die Tönnies präsentiert, bleibt an der Oberfläche einer rein deskriptiven Betrachtung, die das darin angelegte normative Potential übersieht (Tönnies 2010).
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Status normativ einbettenden Grundrechte ihrem Anspruch nach universal, aber diese bleiben an die konkreten institutionellen Bedingungen der Legislative und der Rechtspflege gebunden, unter denen sie ihre rechtliche Wirkung entfalten. Die Gesellschaft muss diesen Organisationszusammenhang voraussetzen, der die Räume bereitstellt, auf denen sich die Personen präsentieren. Die Gesellschaft ist gewissermaßen das Theater, auf dessen Bühne sich die Illusionen, die das Spiel der Personen erzeugt, wirkungsvoll entfalten können. Den Spielern selbst aber bleiben die Einrichtungen, die dieses ermöglichen, verborgen. Auch die Selbstreferenz des Theaters bleibt unweigerlich ein Teil ihrer Scheinwelt. Die Autonomie der Gesellschaft ist ebenso Schein, der davon zehrt, dass die institutionellen Rahmenbedingungen genau dadurch legitimiert sind, dass sie in den Hintergrund treten. Die rein soziologische Betrachtung kann diesen Schein nicht durchbrechen, weil sie die Rahmenbedingungen, obgleich offensichtlich und unübersehbar, als bloße Sekundärphänomene behandelt. Obwohl sie faktisch Bedingung sind, erscheinen sie aus gesellschaftlicher Perspektive als bedingt. Aus der Perspektive der Gesellschaft kann die politische Sphäre nur verzerrt wahrgenommen werden. Die Person erfährt politische Institutionen als Begrenzung des eigenen Handlungsfeldes. Während die Rechtsregeln als abstrakte Einrichtungen sich gegen unmittelbare Kritik insofern immunisieren, als das Recht die Legitimationserwartung auf die Gesetzgebungsverfahren umleitet, sind die Aktivitäten der Institutionen permanentem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, der in unmittelbarer Konfrontation nicht abgebaut werden kann. Die Versöhnung mit den konstitutiven Bedingungen einer Sphäre kann nicht innerhalb derselben dargestellt werden. Um diese Bedingtheit des Scheins der Gesellschaft zu verstehen ist ein Perspektivenwechsel, der Übergang in die politische Welt notwendig. Der Statusbegriff, der der Sphäre des Politischen korrespondiert, ist das Konzept der Individualität. Dieses ist gekennzeichnet durch die unaufhebbare Einheit und Unauflöslichkeit des so kategorisierten Selbst. Individualität beruht indes nicht auf Identität. Weder die inhaltsleere Gleichheit mit sich selbst noch eine essentialistische Vorstellung von Zugehörigkeit bringt zum Ausdruck, was unter Individualität zu verstehen ist. Individualität ist das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, in dem das, was als fiktiv je einzigartige Anlage vorausgesetzt werden kann im Durchgang durch die Erfahrung, der Auseinandersetzung mit der äußeren Wirklichkeit, sich herauskristallisiert. Natürliche und soziale Faktoren stecken den Entwicklungsrahmen ab, sind aber nicht deterministisch im Sinne einer Reihe zwingender Ursachen. Dies gilt insbesondere für die soziale Wirklichkeit, die nicht Bedingung, sondern auch Objekt für die Entwicklung eines sich selbst präsenten Individuums ist. Die auf George H. Mead zurückgehenden sozialpsychologischen Theorien koinzidieren im Wesentlichen mit den sprachtheoretischen Ansätzen, die von Herder und Humboldt ausgehen. Die philosophische Anthropologie Plessners hat diesen Zusammenhang differenziert entwickelt. Die Mitwelt gilt ihm als konstitutiver Bestandteil
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der Sphäre, in der sich Individualität ausprägt; sie ist „die vom Menschen als Sphäre anderer Menschen erfasste Form der eigenen Position.“282 In dieser Struktur lässt sich einerseits die universalistische Bedeutung des Selbst in der Kategorie der Person darstellen, die immer nur als Person unter anderen Personen begriffen werden kann. Andererseits konkretisiert sich damit auch die Mitwelt mit dem Index der Einzigartigkeit und Exklusivität des Individuums. Die im ersten Sinne unbestimmte Mitwelt erscheint hier als historisch identifizierbare Gemeinschaft in der ihrer jeweiligen Organisationsform. Während der Einzelne als Person die Anderen als Gesellschaft, als offene Gruppe derer erfährt, die sich aus prinzipiell Gleichrangigen zusammensetzt, realisiert das Individuum seine Einzigartigkeit zwar indirekt durch den Ausschluss der Anderen, zugleich aber tragen diese seine Individualität in ganz unterschiedlicher Weise mit. Analog zur Sprachgemeinschaft verkörpert jedes Mitglied eine Rolle mit spezifischem Zuschnitt, die sich aus seiner Position in der Gemeinschaft ergibt. Individualität setzt folglich die Differenz gegenüber anderen voraus, die aber nur aufrechterhalten werden kann durch Beziehung zu anderen, durch die Wahrnehmung der anderen als Individuen. Es handelt sich um eine Differenz, die, anders als die des Personseins, nicht die formale Gleichheit konstatiert und die Differenz den zufälligen Eigenschaften und der Willkür der Einzelnen zurechnet, sondern fundamental und umfassend ist. Dass Individualität nicht in ein isoliertes Dasein mündet, verdankt sich gerade dieser radikalen Andersheit. Weil Individualität der Darstellung im sozialen Raum bedarf und um diese Bedingtheit mehr oder weniger deutlich auch weiß, kann sie sich nur dort entfalten, wo die Gemeinschaft dieser Realisierung des Selbst entgegenkommt. Eine Sprachgemeinschaft kann nur bestehen, wenn deren Individuen die Chance erhalten, sich zu äußern, sich auf andere zu beziehen und dadurch zugleich den eigenen Standpunkt präsentieren. Der unaufhebbare Unterschied der Sprecherrollen, die nicht ineinander oder in eine ideale übergreifende Ansicht überführbare Einzigartigkeit der Perspektiven macht eine Sprachgemeinschaft erst möglich, begrenzt aber auch die Möglichkeit, sich selbst gänzlich durchsichtig zu werden, wie Humboldts sprachtheoretische Ausführungen plausibel darlegen. Ein Individuum ist das, was es ist, nicht ohne die Mitwelt. Das gilt nicht nur im strukturellen Sinne, wie für das Menschsein und das Personsein, sondern im Sinne der qualitativen Bestimmung des Individuums. Während jeder Mensch und jede Person auf die gleiche Weise an dem jeweiligen Status partizipiert und diesen verkörpert, ist das Dasein der Individualität von der Form der Realisierung dieses Status abhängig. Diese vollzieht sich in der sozialen Welt, der konkreten Mitwelt. In Bezug auf diese Mitwelt versteht sich das Individuum, in ihr bezieht es die ihm eigene Position und mit ihr ist er durch die gemeinsame Praxis verbunden. Diese
282 Plessner 2003a, S. 375.
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Praxis umfasst die alltäglichen, lebensweltlichen Handlungen ebenso wie die im öffentlichen Raum situierten Aktivitäten. Die Mitwelt ist präsent in Gestalt der konkreten Anderen, allerdings nicht in der bloßen Addition der Einzelnen, nicht als Aggregat oder abstrakte Gesellschaft, sondern in deren institutioneller Verbindung. Analog zur Sprachgemeinschaft ist eine Gemeinschaft von Individuen mehr als deren Summe. Die Existenz von Sprache ist zwar von den Sprecherinnen und Sprechern abhängig, vom Vollzug der Sprachpraxis durch die Individuen. Aber dennoch geht die Sprache nicht in diesen einzelnen Sprechakten auf, sondern besteht als überindividuelle Einrichtung, in deren Horizont sich die Sprachhandlungen abspielen. In diesem Sinne ist auch die Gemeinschaft der Individuen eine Einheit, deren Existenz durch die Handlungen der Individuen getragen ist. Das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft gestaltet sich anders als die Beziehung von Personen unter allgemeinen Gesetzen. Subjekt und Gesetz stehen sich hier zunächst unvermittelt gegenüber. Die Geltung und Durchsetzung der Gesetze sind an politische Prozesse und Institutionen gebunden, die selbst nicht Produkt dieser Beziehung von Person und Gesetz sein können, so bedeutend auch die subjektive Akzeptanz des geltenden Rechts für dessen Wirksamkeit sein mag. Die institutionelle Rahmung ist Voraussetzung der Gesellschaft, nicht deren Resultat. Genau diese Rahmung bietet die Praxis der Gemeinschaft, die von den Individuen vollzogen wird. Dieser Zusammenhang etabliert sich nicht durch Argumente oder vertragliche Vereinbarung, sondern durch das Zusammenspiel der Vielen in Bezügen, deren Form sich aus der Praxis selbst ergibt. Das Individuum wiederum lässt sich nur in diesem Kontext begreifen, so wie es sich nur in diesem entwickelt. Dies gilt insbesondere für demokratische Institutionen und die darin lebenden Individuen. Chantal Mouffe macht zu Recht darauf aufmerksam, dass das für die demokratisch verfasste Gemeinschaft postulierte Individuum nur in Beziehung auf die in einer Gemeinschaft institutionalisierten Lebensformen zu verstehen ist: „Demokratische Individuen können nur durch eine Vervielfältigung der Institutionen, Diskurse und Lebensformen, die Identifikation mit demokratischen Werten festigen, möglich gemacht werden.“283 Die Entwicklung des Individualismus, die Tocqueville in der Phase der Entstehung der nordamerikanischen Demokratie beobachtet, veranschaulicht dagegen, inwiefern Individualisierung das Gewebe der politischen Gemeinschaft auch bedrohen kann. Er sieht im Individualismus die größte Gefahr der neuen Demokratie und realisiert zugleich, dass der Verlust der traditionellen Bindungen nur durch neue Institutionen kompensiert werden kann. Durch die Beschäftigung mit den öffentlichen Angelegenheiten entsteht das Bewusstsein der Verbundenheit. Die amerikanische
283 Mouffe 2008, S. 98.
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Lösung des Problems des Individualismus besteht nach Tocquevilles Beobachtung darin, dass die Einzelnen in der Wahrnehmung ihrer Freiheit institutionelle Verbindungen etablieren und stärken, um so der Gefahr des Despotismus zu begegnen, der auf die Isolierung der Individuen setzt. Die dabei entstehende Gemeinschaft besitzt strukturell selbst die Qualität des Individuellen, insofern sie die Verbindung einer konkreten Gruppe von Individuen ist. Ihre Individualität äußert sich durch ihr ausschließendes Anderssein. Sie besitzt Grenzen. Das gilt strukturell für jede politische Gemeinschaft und ganz besonders aber für demokratisch verfasste Gemeinschaften, die einen hohen Integrationsgrad erfordern, um Stabilität zu erreichen. Die anonyme und unbestimmt offene Konzeption von Gesellschaft in der Tradition des zuletzt vor allem durch Kant geprägten Vernunftrechts ignoriert die Frage der Grenzen oder betrachtet sie als kontingente Erscheinungsform. Diese Tradition macht sich noch bemerkbar in der Tendenz, die Verfassung auf das Prinzip der Rechtstaatlichkeit und auf die Menschen- oder Grundrechte zu reduzieren. Sie verkennt jedoch den genuin politischen Charakter des politischen Verbandes. Imperien sind tendenziell darauf angelegt, ihre Grenzen zu erweitern. Dass jedoch insbesondere, wie Mouffe in Anlehnung an Carl Schmitt feststellt, „demokratische Logiken immer das Ziehen einer Grenze“ bedeuten,284 beruht darauf, dass ein Demos sich nur dort konstituiert, wo die Frage der Beteiligung geklärt ist. Grenzen zu setzen bedeutet indes nicht, dass die Beziehung zu anderen, seien es einzelne oder Gemeinschaften, als Gegnerschaft angelegt wäre. Carl Schmitts Freund-Feind-Disjunktion ist schief, weil die Negation der Freundschaft nicht die Feindschaft, sondern die Abwesenheit von Freundschaft wäre. Nicht zufällig bleibt die Konzeption von Freundschaft bei Schmitt in politischer Hinsicht leer. Seine Unterscheidung basiert auf dem Kriterium des Andersseins des Fremden,285 im positiven Sinne also in der bloßen Homogenität der Beteiligten. So wenig Anderssein potentielle Feindschaft bedeutet, kann Gleichartigkeit mit Beziehung gleichgesetzt werden. Schmitt verfehlt das Prinzip der Individualität sowohl in der Dimension der Einzelnen als auch in Bezug auf die aus der Verbindung der Einzelnen resultierenden Gemeinschaft. Die Gemeinschaft ist nicht deshalb begrenzt, weil sie sich auf andere negativ bezieht, sich via negationis definiert, sondern kraft ihrer Individualität. Das eine Aufhebung der Grenzen zur Aufhebung der Gemeinschaft führt ist nicht gleichzusetzen mit der Behauptung, die Grenzziehung konstituiere diese Gemeinschaft. Die Verfassung des Einzelnen qualifiziert dieses als Individuum, das sich insofern, als es ein Individuum ist, auch von anderen unterscheidet. Dies gilt analog für die Gemeinschaft, die das, was sie ist, ihrer inneren Verfassung und der
284 Mouffe 2008, S. 21. 285 Schmitt 1963, S. 27.
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Beziehung der Individuen untereinander verdankt, nicht einer Zusammenstellung zufälliger Eigenschaften ansonsten beziehungsloser Subjekte. Nicht Homogenität, sondern Pluralismus ist das Charakteristikum einer Gemeinschaft von Individuen. Die „Gesellschaft der Singularitäten“, die Rosanvallon im Blick auf die damit entstehenden Herausforderungen und drohenden Fehlentwicklungen skizziert, ist gemäß ihrem immanenten normativen Anspruch eine dezidiert pluralistische Gesellschaft, kann aber der Versuchung der Homogenität erliegen.286 Sie erfordert und ermöglicht eine Form der Kommunalität, in der die unbestimmte Form der Gesellschaft transzendiert wird zugunsten einer Gemeinschaft, die eine reziproke Verbindlichkeit entwickelt. Dies setzt voraus, dass der Kreis der Beteiligten definiert ist, auch wenn sich die Kriterien der Zusammensetzung ändern können. Dass eine Gemeinschaft Grenzen setzt, steht dazu nicht im Widerspruch, denn die Integrationsfähigkeit der Gemeinschaft setzt den Horizont eines Wir voraus, auf das hin sich die Vielen verstehen und positionieren können. Die Analogie von Individuum und Gemeinschaft verleitet allerdings dazu, in Kategorien der Identitätsbildung zu sprechen. Individualität fügt sich jedoch nicht dem Schema der Identität, das in ein essentialistisches Verständnis des Selbst vorstellt. Der notorisch unscharfe Begriff steht im alltäglichen Verständnis für ein diffuses Konglomerat von Präferenzen und Eigenschaften, die zu einem Selbstbild zusammengezogen werden. Bezogen auf eine Gruppe wird damit eine Gleichartigkeit der Selbstbilder unterstellt, die aber, da ein Selbstbild nicht übertragbar ist und per definitionem auf das jeweilige Selbst bezogen bleibt, reduziert werden muss auf bestimmte, als wesentlich hervorgehobene Eigenschaften. Bloße Eigenschaften als solche zeigen politische Relevanz erst dadurch, dass sie als Ausgangspunkt von Handlungsstrategien, als Indiz gemeinsamer Interessen verstanden werden. Sie können freilich auch dissoziative Wirkung entfalten, sofern sie Konkurrenzsituationen bedingen. Homogenität ist schließlich kein Garant für Kooperation. Um gemeinschaftsbildend zu wirken, müssen gemeinsame Interessen in Handlungsoptionen übersetzt werden. Diese ergeben sich nicht schon aus der Interessenlage, sondern bedürfen der Abstimmung unterschiedlicher Lebensperspektiven im übergreifenden Horizont einer Solidargemeinschaft. Der normative Anspruch, der sich im Konzept der Identitäten manifestiert, findet seine politische Gestalt erst durch die Kooperation der trotz aller Gleichartigkeit pluralen, weil individuellen Akteure im Prozess der Verständigung auf Handlungsziele, die über den bloßen Kampf der Interessen hinausgehen und eine umfassende, integrative Strategie auch im Verhältnis zu anderen Zielen und Akteuren entwickeln. Dies unterscheidet die Prozesse der Verständigung in der Sphäre der politischen Gemeinschaft von Interessenkämpfen innerhalb einer Gesellschaft. Die politische Gemeinschaft ist individuell insofern, als die Handlungsperspektiven und 286 Rosanvallon 2013, S. 309 ff. Reckwitz 2017 konzentriert sich auf kulturelle Fragen und blendet die politische Dimension weitgehend aus.
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ihre Verfahrensordnung die Anliegen einer distinkten, identifizierbaren Gruppe von Individuen betreffen, nicht nur allgemeine abstrakte Interessen artikulieren. Die politische Anerkennung von Individualität findet deshalb in der politischen Verfassung einer konkreten Gemeinschaft ihre angemessene Organisationsform.
2.) Integration durch Verfassung Dass Verfassungen integrativ wirken, ist ein Gemeinplatz, aber dennoch politiktheoretisch wenig beleuchtet.287 Leitend ist vor allem die Erwartung, dass Verfassungen diese Funktion übernehmen können, wenn dafür entsprechende Maßnahmen ergriffen werden. Welche Funktionen genau unter welchen Umständen integrierend wirken, ist umstritten. Ist es ein allgemeiner Konsens, der einer Verfassung zugrunde liegt? Dann wäre weniger die Verfassung als vielmehr dieser Konsens integrierend. Aber auch ein faktisch gegebener Konsens, ob dieser geteilten Werten, einer kulturellen Homogenität oder einem kohärenten Diskurs zugeschrieben wird, wäre insofern nicht als integrativ zu betrachten, als er die vollzogene umfassende Integration als Faktum voraussetzt. In dem Maße, in dem Integration als Tatsache, als statischer Zustand betrachtet wird, erweist sie sich als überflüssig, weil der Prozess der Integration damit als abgeschlossen erscheint. Die Fiktion faktisch erreichter Integration zeitigt unweigerlich ideologische Wirkungen, sofern damit nur ein status quo überhöht wird, dessen Überprüfung bereits als Sakrileg erschiene. Indem die vermeintlich erreichte Harmonie der politischen Verhältnisse in Frage gestellt wird, löst sie sich auf. Integration kann folglich nicht als Tatsache, als gegenwärtiger Zustand vorgestellt werden. Realistischere Betrachtungen nehmen deshalb Abstand zur Gegenwart und beziehen sich auf die Vergangenheit oder die Zukunft der Verfassung. Damit kommt einerseits der Gründungsakt in den Blick und andererseits wird die Verfassung als Projekt der Demokratisierung konzipiert. Für die Bedeutung des Gründungsaktes wird in der Regel das Beispiel der US-amerikanischen Verfassung zitiert. Allein die Beschwörung des gemeinsamen Anfangs und des Aktes der Verfassungsgebung klärt nicht die integrative Wirkung dieser Verfassung. Die Einzigartigkeit dieser historischen Konstellation erlaubt keine Verallgemeinerung und die Fixierung auf die symbolische Funktion dieses Aktes ist noch keine Grundlage für eine Theoriebildung. Auf der anderen Seite ist die Hypothek, mit der die Modelle diskurstheoretischer Provenienz arbeiten, nicht gedeckt. Ihre Plausibilität kann sich nur auf die erhoffte autologische Funktion des Ansatzes selbst berufen. Die systemtheoretische Figur einer Beschreibung zweiter Ordnung, die davon zehrt, kommunikativ anschlussfähig
287 Aus rechtswissenschaftlicher Sicht erhellend ist Lübbe-Wolff 2009.
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zu sein, ist überzeugend nur dort, wo die politische Welt vorab auf einen Kreislauf von Kommunikationsprozessen reduziert worden ist. Politik ist zweifellos kommunikativ, aber kein reiner Kommunikationsprozess, wie die Systemtheorie sowohl als die Diskurstheorie insinuieren. Eine dogmatische Setzung dieser Prämisse blendet schlicht aus, was sich dieser nicht fügt. So werden Machtprozesse bei Luhmann sowohl als bei Habermas in kommunikative Prozesse transformiert oder deren Transformation postuliert. Die systemtheoretische Entkoppelung von Gesellschaftstheorie und Rechtstheorie besiegelt diese methodische Absorption der politischen Sphäre. Sie erscheint in Luhmanns anspruchsvoller Version unangreifbar, weil sie als Ergebnis der Ausdifferenzierung der Gesellschaft selbst ausgegeben wird. In der Tat beruht die Separation auf methodisch begründeten Vorentscheidungen wie der neukantianischen Opposition von Normativität und Faktizität, die nur kraft starker metaphysischer Prämissen aufrechterhalten werden kann. Die Tatsachen, um die es geht, wenn politische Verhältnisse zur Sprache kommen, sind immer auch normativ konstituierte Verhältnisse und die Normen einschließlich der Rechtsnormen beruhen auf faktischen Setzungen durch Institutionen, die dazu in der Lage sind, weil sie Machtkonstellationen verkörpern. Wie Macht und Recht aufs engste verschränkt sind, zeigt sich deutlich in der politischen Verfassung. Verfassungen sind keine reinen Rechtstexte oder Normenkataloge. Sie bringen Machtverhältnisse zum Ausdruck. In der klassischen Soziologie und Rechtswissenschaft, die sich auf die arbeitsteilige Trennung von Recht und sozialen Verhältnissen geeinigt haben, wird dieser Zusammenhang paradoxerweise gerade dadurch aufgekündigt, dass er durch die Analogie von Macht und Recht festgeschrieben wird. So rechnet Max Weber mit Bezug auf die Rechtstheorie von Georg Jellinek288 mit der Koinzidenz von soziologischer und rechtlicher Ordnung. Funktionierende Herrschaft ist legitime Herrschaft. Es scheint folglich eine untergründige Verbindung von Normativität und faktischer Macht zu geben. Damit folgt Weber den methodologischen Prämissen des Neukantianismus, der zwischen Tatsachenwissenschaft und Normwissenschaft strikt unterscheidet. Mit der scharfen Trennung von Normen und Tatsachen glaubt Weber die Reinheit soziologischer Betrachtung in Absetzung von der rechtswissenschaftlichen Analyse zu gewährleisten. Die Entkoppelung beider Sphären und die Arbeitsteilung zwischen den Disziplinen basiert auf der Voraussetzung ihrer Synchronizität,289 die sich empirisch allerdings weder bestätigen noch widerlegen lässt. Damit ist nicht nur der Zusammenhang von Normativität und Faktizität per definitionem ausgeblendet, sondern auch der Blick auf die Verfassung als politische Ordnung verstellt.
288 Jellinek 1900. 289 Siehe dazu Vollrath 1988. S. 93 ff.
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Statt das Phänomen politischer Ordnung zu erhellen wird es durch methodische Vorgaben eskamotiert. Verfassungen sind jedoch politische Ordnungen und als solche eine Verkörperung und Gestaltung von Macht. Zugleich aber bilden sie die den Kern des normativen Systems, das in Gestalt des Rechts die Handlungswelt entscheidend prägt. Um den Prozess politischer Integration zu verstehen, muss das Gefüge der Ordnung insgesamt in den Blick kommen, das die gesellschaftliche Welt durchzieht. Die moderne Verfassung bietet dafür einen geeigneten Ansatzpunkt, weil in ihr die normative Struktur und die Wirkungszusammenhänge gleichermaßen dokumentiert sind. Normativität und Faktizität bilden in ihr eine unauflösliche Einheit, die so weder in der Alltagserfahrung realisiert noch in den Spezialdisziplinen der Rechts- und Sozialwissenschaften reflektiert wird. Auch wenn in den neueren Debatten diese methodischen Prämissen nicht mehr zugrunde liegen, führt die Ausdifferenzierung der Disziplinen im Ergebnis zum gleichen Resultat. So fällt das Phänomen der Verfassung in die Lücke, die zwischen den empirischen Realwissenschaften und der normativen ausgerichteten Rechtwissenschaft klafft. Eine angemessene Konzeption politischer Verfassungen muss sich deshalb von den konventionellen Kategorien absetzen, um die Verschränkung von Macht und Recht in den Blick zu nehmen. Eine politische Verfassung ist in erster Linie ein Machtgebilde und als solches eine Verbindung und Überlagerung von Normen, Institutionen und Handlungszusammenhängen. Verfassungen regulieren nicht nur eine gegebene Praxis, sondern sie konstituieren Praxis. Die Verfassung des Staates beschränkt sich nicht auf dessen rechtliche Struktur, sondern umfasst neben den rechtstaatlichen Formen auch die politische, im besonderen Falle also demokratische Organisation. Um die tradierte Dichotomie von Normativität und Faktizität zu vermeiden muss von einem umfassenden Begriff der Verfassung ausgegangen werden. Eine Verfassung zu verstehen bedeutet, die normativen Implikationen der verfassten Macht zu identifizieren, die der demokratische Verfassungsstaat verkörpert. Die vor allem in der amerikanischen Verfassungsdiskussion entfachte Auseinandersetzung über die Kompatibilität von Demokratie und Konstitutionalismus liefert Hinweise auf diese Verschränkung von Normen und Machtkonfigurationen in der Verfassung. Stephen Holmes deutet die Verfassungsregeln im Sinne von konstitutiven, das heißt ermächtigenden Regeln, die analog zu Spielregeln Möglichkeiten des Handelns stiften.290 In der Dimension des Politischen äußert sich diese Möglichkeit als reale Macht, verstanden als der Inbegriff der Möglichkeiten einer Handlungsgemeinschaft. Darunter ist zunächst nicht die Macht zu verstehen, die eine Gemeinschaft nach außen entfalten kann, sondern die Macht, die sich im Dasein 290 Holmes 1988; u. Holmes 1994. In diese Richtung weist auch der Vorschlag von Dworkin, Demokratie auf der Grundlage einer gemeinschaftlichen Konzeption politischen Handelns zu verstehen (Dworkin 1984).
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der Gemeinschaft als solcher manifestiert. Die Etablierung einer organisierten Handlungsgemeinschaft mit mehr oder weniger deutlich fassbaren Kriterien der Zugehörigkeit und prozeduralen Regeln ist Ausdruck ursprünglicher politischer Macht. Sie kann in Abgrenzung von Handlungsmacht und Herrschaft konstitutive Macht genannt werden als diejenige Macht, die sich in der politischen Organisation und der Verfassung manifestiert.291 Die konstitutive Macht ist das Prinzip der politischen Einheit. Sie strukturiert die anderen Erscheinungsformen der Macht. Herrschaftsbeziehungen und individuelle oder kollektive Formen von Handlungsmacht finden sich zwar auch unabhängig von der konstitutiven Macht, dann allerdings hochgradig volatil ohne klare Zuständigkeit. Die Macht der Verfassung zeigt sich ganz allgemein gesprochen in den Handlungsmöglichkeiten, die institutionell erschlossen werden. Damit sind zum einen die Freiheitsräume der Individuen gemeint, die sich der Infrastruktur, der Sicherheitsgarantie, der Rechtsordnung und den sozialen und kulturpolitischen Maßnahmen verdanken; es sind aber auch die Chancen kollektiven Handelns, die aus der Institutionalisierung der Kommunalität hervorgehen. Wenn generell Organisationen Möglichkeiten eröffnen, die weit über die Kapazitäten einzelner hinausgehen, so bietet eine Organisation, die sich letztinstanzlich auf sich selbst bezieht, darüber hinaus die Möglichkeit, Macht über Macht auszuüben. Macht wird in der Konstellation einer politischen Verfassung reflexiv. Dies ist das Spezifikum der Verfassung als politischer Ordnung. Die konstitutive Macht einer Verfassung manifestiert und organisiert sich in den reflexiven Wirkungszusammenhängen politische Einheit. Verfassungen verkörpern insofern die Organisationsform, in der Integration, die Verbindung der Vielen durch Eröffnung von individuellen und kollektiven Handlungsspielräumen, explizit und nachhaltig realisiert wird. Es sind begründete Zweifel geäußert worden bezüglich der integrativen Kraft der Verfassung am konkreten Fall der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.292 Aber es herrscht vor allem Unklarheit darin, was Integration in diesem Kontext bedeutet. Insbesondere in Bezug auf den Prozess der europäischen Einigung sind Bedenken angebracht, sofern erwartet wird, dass eine Verfassung Einheit stiften könnte.293 Der Befund ist in der Regel tautologisch und läuft letztlich darauf hinaus, dass eine Verfassung integrativ wirkt, sofern sie 291 S. dazu Zenkert 2004a. Auf diesen Machttypus verweist auch Göhler 1997 und Göhler 2013. Operative und konstitutive Macht werden hier jedoch nicht explizit unterschieden; so wird auch nicht deutlich, ob mit transitiver Macht die volatile Handlungsmacht gemeint ist, die dann der Institutionalisierung bedarf, oder ob dieser Machttypus selbst schon die Institutionen umfasst. 292 Haltern 1997, S. 31-88. Ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bezweifelt Haltern grundsätzlich, dass die Verfassung den Grundkonsens der Gesellschaft zu sichern vermag. Dies gilt zweifellos dann, wenn die Verfassung ausschließlich als Rechtstext verstanden wird. 293 Dazu Grimm 2012, S. 241-261.
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sich allgemeiner Billigung versichert. In Bezug auf die europäische Einigung ist deshalb Skepsis geboten.294 Zurückhaltung ist aber auch deshalb angebracht, weil der Begriff der Integration selbst wenig konturiert ist. Obwohl die Verfassung als Anker einer politisch qualifizierten Theorie der Integration dienen könnte und dazu auch eine Reihe von Studien vorliegen,295 gilt noch immer, dass die Klärung der integrativen Kraft der Verfassung ein Desiderat der Verfassungstheorie ist. Dies ist bedingt durch die Fixierung auf die Frage der Legitimität von Herrschaft, aber auch durch das Versäumnis, Integration im umfassenden Sinne als politischen Prozess zu verstehen. Deshalb empfiehlt es sich, nicht nur den soziologischen Modellen von Integration zu folgen, sondern von einem politischen Verständnis auszugehen. Rudolf Smend hat dem Konzept einen prominenten Platz in der Verfassungstheorie verliehen. Er identifiziert drei Formen der Integration, die persönliche, die funktionelle und die sachliche Integration.296 Persönliche Integration erfolgt in der Regel durch einzelne, exponierte Amtsträger, die repräsentative Funktionen übernehmen. Integration realisiert sich hier als Führungsautorität. Diese Funktion ist nicht spezifisch politisch, sondern findet sich in unterschiedlichsten sozialen Formationen. In Max Webers Herrschaftssoziologie wird sie ausführlich charakterisiert. Ihre Wirkung darf gerade in demokratisch verfassten Gemeinschaften nicht unterschätzt werden, auch wenn dort der Einfluss einzelner Personen durch die Einbindung in den Organisationszusammenhang und durch rechtliche Begrenzung der Entscheidungsspielräume begrenzt wird. Wichtiger sind im Rahmen der Verfassung jedoch die Strukturen, die funktionelle Integration gewährleisten. Darunter zählen nach Smend alle Vorgänge, deren Effekt die soziale Synthese befördern. Ihr sozialer Sinn äußerst sich in der Vereinheitlichung der Lebensformen und der gemeinsamen geistigen Orientierung. Die bedeutendsten politische Organisationsformen für die funktionelle Integration sind alle Verfahren, die zur Willensbildung einer Gemeinschaft beitragen.297 Wahlverfahren, Abstimmungsregeln, Parlamente und das Mehrheitsprinzip sind die für moderne Verfassungen relevanten Modi funktionaler Integration. Diese sind konstitutiv für die politische Gemeinschaft, die im demokratischen Verständnis nicht als homogener Verband vorausgesetzt werden kann, sondern sich unter anderem durch die in der Verfassung definierten Formen der Willensbildung etablieren. Das Volk „hat sein Dasein als politisches Volk, als souveräner Willensverband in erster Linie vermöge der jeweiligen politischen Synthese, in der es immer von neuem überhaupt als staatliche Wirklichkeit existent wird.“298 294 295 296 297 298
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Preuß 1994. Schaal 2000. Vorländer (Hrsg.) 2002. Smend 1928, S. 25 ff. Smend 1928, S. 34. Smend 1928, S. 39.
Smend macht deutlich, dass zum Verständnis dieser Prozesse nicht allein die institutionellen Verfahren wie Wahlen betrachtet werden dürfen, sondern ein umfassender und die institutionellen Funktionen fundierender Zusammenhang in den Blick kommen muss. Als geistige Klammer der Integration benennt Smend einerseits die Wertegemeinschaft, an der sich das gemeinschaftliche Leben orientiert, und andererseits die Anerkennung der Leistungen des Staates durch die Individuen.299 Unklar bleibt dabei jedoch, was unter Werten zu verstehen sei und wie sich die Orientierung an Werten in der politischen Praxis vollzieht. Die dritte Form der Integration firmiert nach Smend unter dem Begriff der sachlichen Integration. Diese Form der Integration findet sich ausschließlich im Staat. Smend betrachtet den Staat als Einrichtung zur Verwirklichung gemeinsamer Zwecke, in der sich eine „geistige Lebensgemeinschaft“300 manifestiert. Die Integrationswirkung zeigt sich in der symbolischen Repräsentation des geschichtlichen Wertgehalts einer Gemeinschaft. In den tradierten Symbolen eines Staates, den politischen Zeremonien und nationalen Feierlichkeiten konzentriert sich die integrative Funktion, die umso bedeutender ist, je weniger sich die Sinngehalte der Gemeinschaft klar artikulieren lassen. In der Trias von persönlicher, funktioneller und sachlicher Integration, die offensichtlich von einer deutlich traditionsorientierten und autoritätsbezogenen Gemeinschaft ausgeht, bleibt die eigentliche Verfassung auffällig im Hintergrund. Dies liegt durchaus in der Absicht Smends, da er den Horizont der herkömmlichen Staatslehre zu erweitern sucht. Dennoch tendiert diese Kategorienbildung dazu, den Organisationszusammenhang des Staates, dem zumindest die funktionelle und die sachliche Integrationswirkung explizit zugeschrieben werden, eigentümlich auszublenden. Im Bemühen, die Verfassung als einen Prozess zu verstehen, tritt der Organisationszusammenhang, den ein Staat notwendigerweise bildet, in den Hintergrund. So macht sich unversehens im Versuch, die Integrationslehre unabhängig von einer Staatstheorie zu entwickeln, die Tendenz bemerkbar, die Integrationsfunktionen in einer Sphäre jenseits der staatlichen Institutionen und der Wirklichkeit politischer Macht anzusiedeln. Wenn Hermann Heller deshalb die Integrationslehre Smends dafür kritisiert, dass sie die Einheit des Staates auflöse,301 dann ist die Einschätzung insofern treffend, als Smend das Institutionengefüge des Staates weitgehend ignoriert und die Kollektivität ganz auf das „Einheitsgefüge des Sinnerlebnisses der Individuen“ zurückführt.302 Sinnerlebnisse können Verbindungen stiften, aber die Einheit eines Organisationszusammenhangs wird sich daraus allein nicht ergeben. Wenn ein Staat, wie Heller for299 300 301 302
Smend 1928, S. 40 f. Smend 1928, S. 46. Heller 1971, S. 164. Smend 1928, S. 6.
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dert, als „organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit“303 zu begreifen ist, dann ist es notwendig, in der Beschreibung der Integrationsprozesse die Institutionen zu berücksichtigen, in deren Strukturen sich diese vollziehen. Allerdings wird durch die Fokussierung auf den Aspekt der Integration deutlich, dass nicht allein die explizit und formal ausgewiesene politische Willensbildung und die Entscheidungsfindung als Beitrag zur Integration zu berücksichtigen sind, sondern auch die informellen Beziehungen und Verhältnisse, die das gemeinschaftliche Leben prägen. Zwar betont auch Smend im Kontext der Darstellung der sachlichen Integration, dass das Staatsleben „eine individuelle Einheit, eine Totalität“ ist,304 aber dieser Zusammenhang verwirklicht sich als „einheitlicher motivierender Erlebniszusammenhang für die ihm Angehörenden“305. Smend spricht in diesem Zusammenhang von „Wertverwirklichung“ oder „Sinnverwirklichung“,306 konzediert aber, dass in der modernen Staatlichkeit dieser Sinn extensiv nicht erfassbar sei. Deshalb muss die Komplexität des Sinns durch repräsentative Vorgänge erfahrbar gemacht werden. In dem Maße, in dem diese Sinndimension unübersichtlich wird, bedarf es undifferenzierter Symbolgehalte, um die ansonsten überkomplexe Fülle erfahrbar werden zu lassen. Ob sich diese Sinnbeziehungen allerdings mit der Kategorie des Symbolischen angemessen erfassen lassen, ist fraglich. Der Begriff selbst ist diffus und so elastisch, dass er ebenso für sinnhafte wie für obskure Narrative in Anschlag gebracht werden kann. Wie bereits in der Analyse der funktionellen Integration sucht Smend auch im Falle der sachlichen Integration die Integrationsleistung der Verfassung durch Rekurs auf den Handlungszusammenhang zu rekonstruieren, der das Leben der Mitglieder einer Gemeinschaft ausmacht.307 Aber sowohl der Begriff der Werte als auch der des Symbolischen sind nicht dazu angelegt, die Wirkungszusammenhänge zu beleuchten, die den Prozess der Integration ausmachen. Sie können lediglich vorläufig als Platzhalter dienen, um die Integrationsfaktoren zu identifizieren, die in der politischen Theorie in der Regel nicht mit der Verfassung in Verbindung gebracht werden. Smends Blick auf die Verfassung zeigt trotz der Defizite den Ansatzpunkt für die Rekonstruktion der Prozesse politischer Integration, die eine Verfassung im gelungenen Falle kennzeichnen. Im Weiteren sollen die beiden wesentlichen Funktionen der politischen Integration, die Willensbildung, die insbesondere auf den Formen der
303 304 305 306 307
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Heller 1971, S. 339 ff. Smend 1928, S. 47. Smend 1928, S. 47. Smend 1928, S. 47. Diesen Weg verfolgt auch die kulturtheoretisch ausgerichtete Verfassungstheorie von Peter Häberle, der den Ansatz Smends im Kontext einer Hermeneutik von Verfassungstexten fruchtbar macht (Häberle 1998).
funktionellen Integration beruht, und die Einheitsbildung, die Smend als Modus der sachlichen Integration beschreibt, genauer verfolgt werden. Die persönliche Integration ist im modernen Staat nicht dispensiert, wird aber von den beiden anderen Formen moderiert. Eine Verselbständigung persönlicher Integration gilt zumindest nach Maßgabe demokratischer Verfassungen als suspekt und ist ein deutliches Indiz einer Krise der Verfassung, sofern sich damit autoritäre Verhältnisse zu entwickeln drohen. Eingebunden in die institutionellen Strukturen kann sich indes persönliche Integration als produktiv erweisen. Sowohl auf der Basis offizieller Ämter als auch im Rahmen zivilgesellschaftlichen Engagements bieten sich vielfach Möglichkeiten der integrativen Wirkung individuellen Handelns, sofern die Personen die entsprechende öffentliche Aufmerksamkeit genießen. Die Integrationswirkung muss unter Voraussetzung einer Verfassung aber immer nach den Standards dieser Verfassung beurteilt werden. Insofern erweist sich die persönliche Integration als sekundär gegenüber den beiden institutionell orientierten Funktionen der funktionellen und der sachlichen Integration. Hermann Hellers Ansatz bietet sich als Korrektiv an, um die begrifflich vagen und suggestiven Seiten der Integrationslehre Smends einer Revision zu unterziehen und eine genauere Analyse der Integrationsleistungen zu fundieren. Kern seines Verfassungskonzepts ist das Prinzip der Organisation. Wenn der Staat als Einheit in der Vielheit zu begreifen ist, und das ist die Prämisse, von der Heller ausgeht, dann kann dies weder mit der Vorstellung einer Wertegemeinschaft noch durch die Einheit eines Sinnerlebnisses glaubhaft gemacht werden.308 Die Einheit des Staates ist durch die Form seiner Organisation zu klären. Drei Momente sind für eine Organisation kennzeichnend: das Handeln einer Pluralität von Menschen, eine regelbestimmte Ordnung und besondere Organe, die konkrete Aufgaben wahrnehmen können.309 Indem die Handelnden und die Organe auf Grund der Ordnung regelhaft zusammenwirken, entsteht die Einheit einer Wirkungsmacht. Sie erschöpft sich nicht in der Summe der Kräfte der Einzelnen noch wäre sie dadurch zu begreifen, dass der Staat mit verselbständigten Institutionen identifiziert würde. Hellers zum Teil schroffe Abgrenzung zu Smend ist vor diesem Hintergrund rhetorisch bedingt. In der Tat bietet die Idee der Organisation den realistischen Rahmen für die Beschreibung der Prozesse, die Smend als Weisen der Integration eruiert. Die Einheit der Organisation ist die Einheit des normativen Sinnzusammenhangs, den Smend in einer zu voraussetzungsbelasteten und unscharfen Begrifflichkeit skizziert. Dieser Zusammenhang überwölbt jedoch die konkrete Einheit eines Wirkungszusammenhangs, der sich aus dem organisierten Zusammenleben der Einzelnen ergibt. Beide verbindet die Einschätzung, dass die Willens- und Entscheidungsbildung zwar ein wichtiges Element der politischen Prozesse ist, dass diese aber nicht 308 Heller 1971, S. 340. 309 Heller 1971, S. 342.
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den logischen Schlussstein des Staates bilden. Die Verfassung hat gegenüber den Entscheidungen der Organe einschließlich der Entscheidungen des Souveräns eine klare Priorität nicht nur im normativen Sinne, sondern insbesondere im Hinblick auf die integrative Funktion. Nur so ist es zu erklären, dass Mehrheitsentscheidungen integrativ wirken können, obwohl sie im Ergebnis explizit dissoziativ sind. Diese Funktion wird verkannt, wenn die juristische Theorie der Staatlichkeit ganz um die Frage nach der Souveränität zentriert wird. Dies ist der gemeinsame Ausgangspunkt der Kontrahenten Hans Kelsen und Carl Schmitt. Schmitts Polemik gegen Kelsens reduktionistische Betrachtung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide durch die Überzeugung verbunden sind, dass die Einheit des Staates über die Idee von Souveränität zu konstruieren sei. Kelsen glaubt dieser Prämisse durch eine Beschränkung auf die Normenlogik gerecht werden zu können, die von der Handlungswelt und den konkreten Organisationen abstrahiert. Die Normenhierarchie mündet in eine letzte fiktive Norm, die Grundnorm,310 die dann die Verfassung als Rechtsordnung sanktioniert. Aufgrund der normenlogischen Systematik, so Kelsen, kann ein Staat als Einheit betrachtet werden. Wie sich dieses reine Normensystem zur politischen Wirklichkeit verhält, kann nicht geklärt werden. Dagegen sperrt sich das erkenntnistheoretische Postulat, dass Normen nur auf Normen zurückgeführt werden können. Es führt aber, wie Schmitt zurecht moniert,311 in eine monistische Metaphysik, die der Wirklichkeit einer Verfassung nicht gerecht werden kann. Schmitts eigene Lösung der Souveränitätsfrage ist jedoch keineswegs befriedigender. Er sieht den logischen Schlusspunkt in der Entscheidung mit der Zuspitzung, dass das ultimative Recht der Entscheidung darin besteht, sich über alle Normen hinwegzusetzen. Souveränität zeigt sich in der Kompetenz der Entscheidung über den Ausnahmezustand. Aber weder der normenlogische Monismus noch der Dezisionismus können einen geeigneten Begriffsrahmen bieten für die Rekonstruktion der integrativen Leistung der Verfassung. Die rein juristische Betrachtung führt vielmehr dazu, gerade die Faktoren auszublenden, die konstitutiv sind für die Entstehung und Aufrechterhaltung der politischen Einheit. Die integrative Funktion einer Verfassung ist jedoch nur dann zu erschließen, wenn diese nicht als bloßes Rechtskonstrukt, sondern als Ordnung der praktischen Welt begriffen wird. Dabei ist nicht nur generell an die sozialen Bedingungen zu denken, deren Gesamtheit die gesellschaftliche Wirklichkeit prägt, sondern vor allem an diejenigen Strukturen, die dem Bereich des Politischen zuzuordnen sind. Die Eingrenzung des Politischen innerhalb des weiten Feldes sozialer Verhältnisse ist nicht einfach. Die soziologische Theoriebildung belässt es daher auch meist 310 Kelsen 1979, S. 206 f. 311 Schmitt 1934, S. 29.
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bei einer allgemeinen Kartierung des Sozialen, um im Einzelfall auf politische Institutionen zu rekurrieren, die dann innerhalb des sozialen Systems verortet werden.312 Eine anschlussfähige Differenzierung bietet der Ansatz von Bernhard Peters, der drei Dimensionen sozialer Integration unterscheidet. Die erste Form, die „funktionale Koordination“,313 umfasst alle Aktivitäten, die so aufeinander abgestimmt sind, dass daraus ein erwünschtes Gesamtergebnis resultiert. Darunter fallen alle kooperativen Tätigkeiten, die selbst bei unterschiedlichen Einzelinteressen zu einem positiven Gesamtergebnis führen. Es ist deshalb unerheblich, ob sich die Akteure auf ein gemeinsames Ziel einigen, oder ob sich das Ziel nicht-intentional ergibt. Nach Peters deckt diese Kategorie auch die ökonomische Handlungswelt ab, in der die Verfolgung unterschiedlicher und teilweise konkurrierender Interessen zu einem insgesamt wünschenswerten Gesamtzustand führt. Es ist insbesondere durch die Nähe zur ökonomischen Welt leicht ersichtlich, dass diese Form der Integration ihre Grenze darin findet, dass sie sich nur auf äußerliche Handlungsziele erstreckt und nicht auf die Akteure selbst bezieht. Dies gilt insbesondere für das ökonomische Handeln nach Prinzipien des freien Marktes unter Bedingungen der Konkurrenz, aber auch für kooperatives Handeln, das auf gemeinsame Aktivitäten zielt. Die zweite Dimension bildet die Sphäre der „moralischen Integrität“.314 Diese basiert auf der Prämisse unparteilicher Lösungen für Handlungskonflikte und statuiert Schutzrechte für die Akteure unerachtet ihrer konkreten Absichten. Unverkennbar rekurriert Peters dabei auf einen grundlegenden Konsens hinsichtlich der Geltung universaler menschenrechtlicher Bestimmungen. Interessant ist dabei, dass Konflikte nicht notwendig als dissoziativ eingeschätzt werden müssen, sondern durchaus integrative Wirkung haben, sofern sie sub specie der allgemeinen Normen ausgetragen werden. Die dritte Dimension wird durch Kategorie der „expressiven Gemeinschaft“ charakterisiert.315 Diese basiert auf nicht universalisierbaren Wertmaßstäben, Tugenden, Lebenskonzepten und den kulturell geprägten Sinnressourcen. In dieser Sphäre bildet sich die individuelle und kollektive Identität. Diese Dimension kennzeichnet eine nicht zu verleugnende Ambivalenz, sofern in ihr sich einerseits der normative Fundus einer Gesellschaft abzeichnet, aus dem sich die wesentlichen Ziele und das Selbstverständnis sowohl der Einzelnen als auch des Kollektivs speisen, und andererseits diesem nur der Status des Expressiven zugesprochen wird, der sich epistemologisch von den beiden anderen rationalen Formen der Integration absetzt. Funktionale Integration rekurriert auf explizites Wissen, moralische Integration auf 312 Einen gut strukturierten und immer noch repräsentativen Überblick über die soziologischen Ansätze gibt Münch 1998. 313 Peters 1993, S. 96 ff. 314 Peters 1993, S. 100 ff. 315 Peters 1993, S. 104 ff.
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implizites normatives Wissen, expressive Integration auf Werturteile der Beteiligten, die den Status ästhetischer Präferenzen haben.316 In dieser Einteilung spiegelt sich unverkennbar die Schematisierung, die Habermas in Orientierung an Max Webers Modell der abendländischen Rationalisierung vorgenommen hat.317 Darin schlägt sich nicht nur die methodisch petrifizierte neukantianische Opposition von Norm und Faktizität nieder, sondern auch das Verdikt über jede Form von Rationalität, die sich nicht dem Maßstab rein zweckrationalen Handelns oder dem Ideal universaler Normen fügt. Die Entwicklung der Identität, die Konzeption des guten Lebens, die kollektiven Ziele und Wertstandards, fallen durch dieses Raster und lassen sich nicht unter das Rubrum des Expressiven subsumieren, ohne den mit ihnen verbundenen Rationalitätsanspruch zu unterschlagen. So plausibel die Unterscheidung der Sphären zunächst erscheint, kann das ihnen zugrunde liegende methodische Schema der Rationalitätstypen, das letztlich auf der metaphysischen Prämisse eines ontologischen Dualismus von Normen und Tatsachen beruht, nicht aufrechterhalten werden. Es bedarf einer alternativen Fundierung, die den Status der Akteure berücksichtigt. Dafür kann die Unterscheidung von „Mensch“, „Person“ und „Individuum“ Orientierung bieten, die im Weiteren mit den drei Sphären in Bezug gesetzt wird. Darin liegt auch die Chance, den engen soziologischen Rahmen, der nur das Handeln in den Blick nimmt, zu transzendieren und die institutionellen Strukturen, die Organisationen der Handlungswelt in den Blick zu nehmen, die Peters notorisch ignoriert oder nur als Randphänomen erwähnt. Schließlich lässt sich erst damit die politische Dimension von Integration erschließen. Der Terminus der „expressiven Integration“ erweist sich aus dieser Perspektive als Ausdruck einer Verlegenheit, in die Peters gerät, weil ihn das von Habermas vererbte Schema daran hindert, die Welt des Politischen einzubeziehen.318 Genau dies wäre jedoch entscheidend für die begriffliche Erschließung der Sphäre, die mit dem Etikett des Expressiven versehen ist, aber in Wahrheit die Handlungswelt beschreibt, in der sich die Akteure über die grundlegenden Fragen der Orientierung und Organisation ihres Handelns verständigen. Es gibt indes keinen einfachen Index des Politischen. Gewiss kann in einer ersten Annäherung behauptet werden, dass sich politische Verhältnisse dadurch auszeichnen, dass sie Macht manifestieren. Wenn sich also Funktionen politischer Integration identifizieren lassen, ist zumindest im Hinblick auf die demokratisch verfassten Staaten davon auszugehen, dass sie durch Macht integrieren.319 Darunter sind, wie bereits bemerkt, nicht nur die Herrschaftsstrukturen zu verstehen, sondern ebenso 316 Peters 1993, S. 109. 317 Habermas 1981, S. 299 ff. 318 Eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit dem Ansatz von Peters findet sich auch Schaal 2000, S. 52 ff. 319 Münch 1998, S. 31.
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und mit nicht geringerer Bedeutung hinsichtlich der praktischen Auswirkungen die Handlungsmacht, die sich im Können der Einzelnen und ihrer Kooperationen abzeichnen sowie die konstitutive Macht, die sich in der Verfassung als Inbegriff der Organisation des Handelns manifestiert.320 Im Konzept der Verfassung verbinden sich normative Prinzipien, organisatorische Strukturen und konkrete Machtverhältnisse. Insofern zeigt sich in der Verfassung, verstanden als Ordnungszusammenhang einer Gemeinschaft, der höchste Intensitätsgrad des Politischen. Aufgrund der rechtsstaatlichen Ausrichtung der modernen Verfassungen bieten diese die Grundlage für genau die Differenzierung, die vorläufig durch die Unterscheidung von moralischen, funktionalen und, mit Vorbehalt gegenüber der epistemologischen Reduktion, expressiven Formen der Integration skizziert wurde. Die moderne Verfassung setzt durch die verbürgten Grundrechte den Rahmen für moralische Integration, der dann informell ausgestaltet werden kann. Die zeitgenössischen Gesellschaften sind nicht durch einen einheitlichen Moralkodex integriert, sondern lassen unterschiedliche und miteinander konkurrierende Auffassungen zu, fordern aber die Berücksichtigung der Grundrechte als Minimalstandards ein. Ebenso bietet die Verfassung den organisatorischen Rahmen für die funktionale Integration, die sich im koordinierten Handeln der Einzelnen einstellt. Sie statuiert die Differenz und den Zusammenhang zwischen der Welt des gesellschaftlichen Handelns und der politischen Sphäre des Staates. Hier etabliert sich durch die arbeitsteilig organisierte Wirtschaft, die freie Realisierung privater Interessen, interessenbasierte Assoziationen und zivilgesellschaftliches Engagement in unterschiedlichsten Formen der Kooperation die Sphäre der funktionalen Integration, die nicht direkt politisch ausgerichtet, aber durch politisch gesetzte Rahmenbedingungen koordiniert und normativ eingehegt wird. Die Gesellschaft ist der Spielraum der Entfaltung gesellschaftlicher Aktivitäten, die durch das Recht als abstraktes, aber allgemein verbindliches Regelsystem ermöglicht und koordiniert wird. Der dritte Bereich, die politische Welt, ist mit dem Terminus der expressiven Gemeinschaft nur unzureichend charakterisiert. Auch das Spektrum der Aktivitäten, das Peters vor allem um die individuelle Lebensführung zentriert und eher mit dem Lebensstil von Einzelnen oder Kollektiven verbindet, ist zu eng konzipiert, um diese Sphäre auszuleuchten. Zwar ist es angemessen, neben der moralischen und der funktionalen Integration die der Entfaltung von Individualität vorbehaltene Sphäre zur Sprache zu bringen, doch beschränkt sich diese nicht nur auf die ästhetische Gestalt der Lebendbedingungen, sondern umfasst die vitalen Fragen der individuellen und kollektiven Identität, der Lebensführung, der Orientierung und der Zielsetzungen. Immer dann, wenn diese Fragen die Organisation der Gemeinschaft betreffen, eröff-
320 Zenkert 2004.
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net sich damit der Spielraum des Politischen. Anstelle der expressiven Integration ist folglich als Koinzidenzpunkt dieser Sphäre die genuin politische Integration anzusetzen. Während die anderen beiden Formen indirekt durch die Verfassung als deren Garant bedingt sind, ist der Handlungsraum des Politischen die Manifestation der Verfassung selbst. Er ist die Erscheinung der konstitutiven Macht der Verfassung. Worin genau die integrative Funktion dieser Dimension besteht, liegt jedoch nicht auf der Hand. Auch die neuere politiktheoretische Diskussion spricht hier von einer symbolischen Funktion der Verfassung.321 Was ist eine symbolische Integration? Vorländer erläutert den Begriff des Symbolischen im Rückgriff auf Ernst Cassirer und versteht darunter „die Vermittlungsformen zwischen der politischen Kultur, in der die politischen Ordnungsvorstellungen enthalten und verhandelt werden, und der Verfassung, in der diese Ordnungsvorstellungen zu einem normative Verbindlichkeit beanspruchenden Regelwerk verdichtet werden.“322 Diese an Hegels Begriff des objektiven Geistes erinnernde Erläuterung verweist auf die sinnstiftende Bedeutung von Verfassungen. Symbole sind nicht nur der Ausdruck expressiver Funktionen, die dort wirken, wo die diskursive Vernunft nicht hinreicht, sondern sie wirken als sinnstiftende Deutungsmuster, die Wirklichkeit strukturieren durch ihre normative Kraft. Dieses Konzept der symbolischen Funktion der Verfassung scheint sich anzubieten, um den Blick auf die Integrationswirkung der Verfassung zu erschließen. Unklar bleibt zunächst jedoch die Lokalisierung dieser Funktion. Einerseits zitiert Vorländer die symbolischen Formen als „Vehikel der Sinnbildung“, als Formen, die zwischen den Ordnungsvorstellungen und der Verfassung vermitteln; andererseits adressiert er die Verfassung selbst als symbolische Ordnung.323 Diese oszillierende Charakteristik ist Indiz einer nach wie vor bestehenden Unklarheit im Gebrauch des Begriffs des Symbolischen. Vermitteln die symbolischen Formen zwischen der politischen Kultur, in der die politischen Ordnungsvorstellungen enthalten sind, und der Verfassung, die das normative Gerüst dieser Ordnung formulieren, so ist doch zugleich deutlich, dass es die Repräsentation der Verfassung selbst ist, die diesen Zusammenhang stiftet. Es ist daher angemessener, von einer repräsentativen statt von einer symbolischen Funktion der Verfassung zu sprechen, auch wenn dabei symbolische Handlungen die affektive oder habituelle Aneignung der Verfassung stützen können.324 321 Exemplarisch Hans Vorländer, Integration durch Verfassung? Die symbolische Funktion der Verfassung im politischen Integrationsprozess, in: ders. (Hg.) Integration durch Verfassung, Wiesbaden 2002. 322 Vorländer, a. a. O., S. 18. 323 Vorländer, a. a. O., S. 19. 324 Vorländer selbst spricht von einem symbolischen Repräsentationszusammenhang (a. a. O) und konzediert, dass genau dieser Zusammenhang die Verfassung erst zu dem macht, was sie eigentlich ist und sein kann. Diesen Zusammenhang trifft der Terminus der Repräsentation eher als die mehrdeutige Rede von der symbolischen Form.
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In dieser Betrachtung ist die Verfassung nicht nur ein Text oder eine Sammlung normativer Sätze, sondern ein Dokument der Konstitution einer politischen Gemeinschaft und die Verfassungsgeschichte ein wesentlicher Bestandteil der Geschichte dieser Gemeinschaft. Repräsentativ ist die Verfassung dadurch, dass sie nicht nur symbolisch mit einer ihr gegenüberstehenden Wirklichkeit vermittelt wird – auch wenn es symbolische Akte und Rituale gibt, die diese Funktion erfüllen – sondern diese Wirklichkeit selbst durch ihre Vergegenwärtigung entscheidend prägen. So erübrigt sich auch das Changieren zwischen der Beschreibung der Verfassung als symbolischer Form und der symbolischen Form, die eine Verfassung mit der politischen Ordnungsvorstellung vermittelt. Im Prinzip der Repräsentation fallen beide Momente in eins, sofern die Verfassung erst durch die Vermittlung Wirklichkeit gewinnt, also selbst zur Ordnungsvorstellung wird, indem sie sich vermittelt. Das bedeutet nicht, dass eine Verfassung nur Gestalt gewinnt durch eine „Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“.325 Die Möglichkeiten der Verfassungsrepräsentation sind vielfältig und finden sich genauso in bestimmten Formen gesellschaftlicher Praxis wie in expliziten Interpretationsbemühungen. Versteht man Repräsentation als Vergegenwärtigung dessen, was ohne diesen Prozess keine Gegenwart hätte, dann lässt sich damit der irritierende Doppelsinn, der in der Formel der Verfassung als symbolischer Form mitschwingt, auflösen. Die Verfassung repräsentiert zum einen den Ordnungszusammenhang einer konkreten Gemeinschaft. Darunter ist nicht nur das Institutionengefüge zu subsumieren, sondern das Spiel der gesellschaftlichen und politischen Praxis, dessen elementare Regeln sich in der Verfassung abbilden. Es geht dabei also nicht nur um eine statische Ordnung, die sich in normativen Sätzen erfassen ließe, sondern um den geschichtlichen Vollzug des Lebens einer Handlungsgemeinschaft, die sich selbst in diesem Verlauf ändert und sich der Kontinuität und der Änderung stets neu versichern muss. Die Verfassung wird aber andererseits auch repräsentiert durch Symbole, Feste, Rituale, affektbezogene Handlungen und durch explizite Interpretation. In dieser Form der Repräsentation dokumentiert und bekräftigt sich die Anerkennung, die eine Verfassung erfährt. Beide Repräsentationsbeziehungen lassen sich analytisch unterscheiden, überlagern sich freilich in der Praxis und beeinflussen sich wechselseitig. Sie sind deshalb aufeinander angewiesen, weil die Anerkennung der Verfassung voraussetzt, dass das, was die Verfassung repräsentiert, auch sichtbar und gegenwärtig ist. Es versteht sich nicht von selbst, welche Bedeutung eine Verfassung für das konkrete Gemeinwesen besitzt. Deshalb bedarf sie der Repräsentation, einer Darstellung, auf die sich die Individuen beziehen können.
325 Häberle 1975.
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Dies gilt auch für die fachkundige Verfassungsinterpretation. Dieses Verhältnis ist nicht mit der im 20. Jahrhundert zementierte Unterscheidung von Verfassung und Verfassungswirklichkeit zu verwechseln,326 das auf der Opposition von Norm und Faktizität ruht. Die Verfassungswirklichkeit ist eine von Normen konstituierte Wirklichkeit, die wie ein Spiel nicht ohne die Spielregeln existiert und nicht ohne diese zu begreifen ist. Die Verfassung wiederum ist nicht nur eine Kodifikation von Normen, sondern das Konzept einer Praxis, die aus Institutionen und Handlungen besteht, die es nicht nur zu limitieren, sondern vor allem zu konstituieren gilt. In diesem Sinne wird vor allem in der amerikanischen Verfassungsdiskussion darauf aufmerksam gemacht, dass Normen und Machtkonfigurationen in der Verfassung verschränkt sind.327 Der funktionale Beziehung der Repräsentation bietet die begrifflichen Ansatzpunkte für eine Untersuchung der Integrationswirkung, die nicht nur die eine Seite, die Prozesse der Gemeinschaftsbildung in den Blick nimmt, sondern auch die Pluralität der Einzelnen zu thematisieren erlaubt, die sich im gelungenen Fall integrieren. Neben Institutionen, Organisationen, wirtschaftlichen und sonstigen korporativen Akteuren sind es vor allem die Einzelnen, die als Subjekt und Objekt der Integration in Frage kommen. Sie sind die entscheidenden Spieler, durch deren Beteiligung erst eine Handlungsgemeinschaft Realität wird. Das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft ist der Dreh- und Angelpunkt des Politischen. Dabei geht es nicht nur um die spezielle Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen, obwohl diese ein wichtiges Indiz einer stabilen politischen kollektiven Identität ist, sondern um die Formen der Integration. Dadurch rückt die Organisationsform der Gemeinschaft in das Zentrum der Aufmerksamkeit. In den gegenwärtigen Theoriediskussionen lassen sich drei Grundmodelle registrieren, die das Spektrum der Integration ausmessen,328 Integration durch Neutralität, durch Wertkonsens oder durch Diskurs. Das erste Modell steht für das liberale Verständnis, das vom unaufhebbaren Pluralismus der Meinungen und Perspektiven ausgeht und diesen durch unanfechtbare allgemein akzeptierte Regelungen bändigt. Ziel und Erfolgskriterium dieses Modells ist die Garantie subjektiver Freiheit unter der Bedingung der Limitierung des Handelns zum Schutz der Individuen gegenüber den Aktivitäten anderer.329 Dabei zeigt sich, dass der übergreifende Konsens sich nicht reiner Vernunft verdankt, sondern eingespielte Vorstellungen von Gerechtigkeit und von unverzichtbaren Grundrechten voraussetzt. Rawls Konzept der Gerechtigkeit als 326 S. dazu die kritischen Betrachtungen von Hennis 1968. 327 Ely, 1986, Kap. 4. Holmes 1988. 328 Die Darstellung folgt der Schematik von Schaal 2002, S. 75 ff. Das vierte Paradigma nach Schaal ist das republikanische Modell, dass jedoch keine klare Kontur besitzt und durch die Konzentration auf das Prinzip des Konflikts eher unterkomplex bleibt. 329 Vor allem John Rawls hat diesem Modell im 20. Jahrhundert zu neuer Aufmerksamkeit verholfen (Rawls 1993).
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Fairness rekurriert auf die in der amerikanischen Gesellschaft mehr oder weniger verbreiteten Intuitionen von persönlicher Integrität, die selbst nicht zur Diskussion stehen. Gerade die Selbstverständlichkeit, die hier unterstellt wird, macht deutlich, dass diese Voraussetzungen äußerst fragil und gerade in Konfliktfällen politisch nicht belastbar sind. Sie zu thematisieren oder in Frage zu stellen heißt, sie aufzugeben. Davon abgesehen sind die institutionelle Infrastruktur und der Prozess der politischen Willensbildung in diesem Modell ausgeblendet. Eine moralphilosophische Reflexion ist kein tragfähiges Fundament für den Staat als politische Wirkungseinheit. Das zweite Modell umfasst die sogenannten kommunitaristischen Konzepte, die das integrative Potenzial der Verfassung darin sehen, dass die vorpolitischen Werte einer politischen Gemeinschaft den Rahmen der Willensbildung stiften, indem sie in der Verfassung symbolisch zur Darstellung kommen.330 Diese in polemischer Absicht erfolgte Benennung einer Gruppe ganz disparater Ansätze basiert auf dem Prinzip, dass auch ein moderner säkularer Verfassungsstaat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann.331 In dieser Beleuchtung werden vor allem die Defizite des Liberalismus hervorgehoben. Die Kritik setzt auf zwei Ebenen an. Erstens lassen sich die Verwerfungen registrieren, die liberale Politik verursacht. Diese zeigen sich vor allem in den desintegrativen Auswirkungen der den Individuen abverlangten Mobilität und der Entwertung verbindender Traditionen und Überzeugungen durch das Dogma der Wertfreiheit.332 Zweitens argumentieren die unter dem Label des Kommunitarismus adressierten Theorien mit dem Legitimationsdefizit, in das der Liberalismus gerät. Der Irrtum der liberalen Programme ist die Vernachlässigung des Unterschieds zwischen negativer und positiver Freiheit.333 Der Liberalismus begreift Freiheit primär oder ausschließlich als Abwesenheit äußerer Willkür. Dieser Auffassung liegt nicht nur ein extrem reduziertes Verständnis des Selbst zugrunde; sie bietet auch keinen Ansatz, um übergreifende Zielsetzungen und kollektive Entscheidungen anders als instrumentell zu begreifen und damit dem Zufall der subjektiven, in Kantischer Terminologie pathologischen Willkür anheim zu stellen. Das Dilemma dieser Konzepte besteht darin, dass sie, in Anknüpfung an das antike Ethos-Konzept, Traditionen voraussetzen, deren erfolgte Auflösung sie registrieren. Das verlorene Ethos lässt sich jedoch nicht wieder herstellen. So besteht ihr Beitrag primär darin, Defizite der modernen Gesellschaften zu diagnostizieren. Das dritte Modell bietet die deliberative Demokratietheorie, deren elaborierte Version Jürgen Habermas vorgelegt hat. Der Ansatz basiert auf der Annahme, 330 Schaal 2002, S. 79. Schaal korrigiert diese pauschale Charakterisierung durch den Hinweis auf die Diversität der Ansätze. 331 Dieses Prinzip hat in der verfassungstheoretischen Diskussion prominent Ernst-Wolfgang Böckenförde vertreten (Böckenförde 1976). 332 Walzer 1990, S. 6-23. 333 Taylor 1992.
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dass die Sozialintegration moderner Gesellschaften sich nicht mehr mit den traditionellen lebensweltlichen Ressourcen bewältigt werden kann, sondern weitgehend systemisch erfolgt. Demokratische Verfassungen können aber ein integratives Potential entfalten, wenn sie die Bürger und Bürgerinnen nicht nur als Adressaten, sondern auch als Autoren und Autorinnen des Rechts in den demokratischen Prozess einbinden. Das bedeutet, dass sie einerseits den unverbrüchlichen Status von Rechtssubjekten genießen, der durch die universalen Grundrechte verbürgt wird, und andererseits in den Kontext der geschichtlich sich konkretisierenden Willensbildung eintreten und damit, gemäß dem Prinzip der Volkssouveränität, die demokratische Selbstbestimmung vollziehen. Die Partizipation am demokratischen Diskurs kann indes nicht die Spanne zwischen idealer Norm und Faktizität überbrücken, die nach wie vor das politische System durchzieht. Dazu bedarf es eines tiefergehenden grundsätzlichen Konsenses, der die Akzeptanz der Verfassung garantiert. Der sogenannte Verfassungspatriotismus,334 ein Begriff, den Dolf Sternberger in der Phase der Gründung der Bundesrepublik geprägt hat, ist weder soziologisch zu identifizieren noch begrifflich genau zu fassen. Seine Sterilität ist der Prämisse geschuldet, eine Identifikation mit der politischen Gemeinschaft ohne den historischen Ballast des Nationalstaats zu insinuieren. Er steht für die Anerkennung einer politischen Verfassung und Rechtsordnung und distanziert sich zugleich von jedem Bekenntnis zu einer historisch etablierten Handlungsgemeinschaft. Habermas muss sich deshalb, um diese Lücke zu füllen, mit der Konstruktion einer politischen Kultur behelfen, die als zivilgesellschaftlich fundierte Öffentlichkeit dem Prozess der Vermittlung von Einzelnem und Gemeinschaft vorausgeht.335 Das heißt aber, dass die entscheidenden Schritte der Integration bereits vollzogen sind, ehe die Integration durch die Verfassung in den Blick kommt.336 Dieser kursorische Überblick macht deutlich, dass das Zentrum des Prozesses der Integration ebenso wie seine Relate nicht wirklich erkennbar werden, weil Integration in keinem dieser Modelle als politischer Prozess gefasst wird. Dieses Phänomen taucht lediglich am Rande auf als Postulat eines Bekenntnisses zur Verfassung oder in der Surrogatform eines vorgängigen Ethos, das sich dann in den konkreten Verhältnissen artikuliert. Politische Integration dagegen realisiert sich als Machtprozess, in dem die Einzelnen sich organisieren als Gemeinschaft und dadurch einerseits die organisierte Wirklichkeit der Institutionen generieren und andererseits sich dadurch deren Wirkungen unterstellen. Dabei ist nicht an eine zeitliche Folge zu denken, weil diese Prozesse nur in der Verschränkung des Organisationszusammenhangs mit dem Status der Einzelnen überhaupt konzeptionell fassbar sind.
334 Sternberger 1990. 335 Jürgen Habermas 1992, S. 435 ff. 336 Ähnlich urteilt Schaal 2002, S. 86.
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Die hier zitierten prominenten Modelle unterscheiden sich im Wesentlichen durch die inhaltliche Bestimmung der Voraussetzungen, die Bedingung der Integration einer Gemeinschaft sind, und durch deren Stellenwert. Bei liberalen und deliberativen Ansätzen wird die inhaltliche Bestimmung dieser konsensstiftenden Prämissen aus abstrakt-universalistischen Grundrechten deduziert, während die kommunitaristischen Modelle von der konkreten politischen Gemeinschaft ausgehen, deren Bestand durch eine normative Interpretation gewürdigt wird. Die kommunitaristische Kritik thematisiert indes, anders als die liberalen und deliberativen Ansätze, den Status der Einzelnen, um deren Integration es geht. Michael Sandel hat exemplarisch die bei Rawls und Nozick zugrunde liegenden Konzeptionen des Selbst einer eingehenden Kritik unterzogen.337 Ziel der Kritik ist die in der liberalen Theoriebildung stillschweigend vorausgesetzte Idee eines Subjekts, dessen intersubjektive Bedingtheit ebenso unterschlagen wird wie der historische Kontext, der für die Bildung des Selbst unverzichtbar ist. Diese atomistische Anthropologie ist der blinde Fleck des Liberalismus. Die liberalen Konzeptionen können insofern nicht den theoretischen Rahmen für eine aussichtsreiche Interpretation politischer Integration bieten, weil in ihren Prämissen der per definitionem desintegrierte Einzelne, das Subjekt, als Grundlage der normativen Rekonstruktion der politischen Institutionen festgeschrieben wird. Die deliberativen und kommunitaristischen Ansätze beleuchten unterschiedliche Facetten des Integrationszusammenhangs und blenden andere aus. Sie sind auf selektive Weise um die funktionale Integration zentriert, können aber weder deren Leistung noch deren Grenzen klar benennen. Dies liegt darin begründet, dass der Status des Selbst, das in dieser Konstellation vorausgesetzt wird, unklar bleibt. Der Liberalismus und daran angelehnt die Diskursethik abstrahieren von allen lebensweltlichen, kulturellen und politischen Bedingungen und rekurrieren auf ein reines Subjekt, in der ökonomischen Variante auf den homo oeconomicus,338 dem die verfasste Gemeinschaft notorisch fremd bleiben muss. Der Kommunitarismus beschwört eine durch Überzeugungen und Traditionen garantierte Gemeinsamkeit und diagnostiziert doch zugleich deren unwiederbringlichen Verlust. Tatsächlich ist es nahezu aussichtslos, diesen ethischen Hintergrund angemessen zur Sprache zu bringen. Unerachtet seiner Wirksamkeit wird er sichtbar nur dort, wo er artikuliert wird. Meinungen bilden das Medium, in dem Konsens und Dissens gleichermaßen ihren Ausdruck finden. Die Diskreditierung der Meinungen in der Neuzeit, die sich durch Platons Verachtung der doxa autorisiert glaubt, ist ein Resultat der neuzeitlichen Dichotomie von Wahrheit einerseits, die auf das Kriterium der Gewissheit reduziert wird, und bloßem Fürwahrhalten andererseits, das auf pathologische Ursachen zurückgeführt werden kann. Wissenschaft und Vorurteil bilden die 337 Sandel 1998. 338 Faber, Petersen, Schiller 2002. S. 323-333.
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beiden Pole, zwischen denn die politische Meinung zu verschwinden scheint. Die Rehabilitierung der Meinung in ihrer politischen Funktion, unabhängig vom Ideal szientifischer Wahrheit oder einem daran abgelesenen Konsensideal, ist deshalb eine unverzichtbare Voraussetzung für einen Zugang zum Phänomen politischen Integration.
3.) Prozesse der Meinungsbildung Die Lebenswelt und das System des Rechts bilden zwei grundlegende Sphären der Integration, die sich auf den Status des Menschseins und des Personseins beziehen. Diese beiden Rollen decken jedoch nicht das ganze Spektrum des Selbst ab. Partizipation lässt sich in diesen Kategorien nur unvollständig begreifen. Menschsein ist gegenüber den Institutionen und Rechtsprinzipien, solange sie nur den formalen Bedingungen genügen, indifferent. Auch wenn die Beteiligung an der politischen Willensbildung, genauer das Recht auf Beteiligung an politischen Wahlen, als ein Menschenrecht betrachtet wird, ist damit nur die formale Idee einer Beteiligung zum Ausdruck gebracht. Wahlen setzen eine politische Organisation voraus, die Machtkonstellationen verkörpern und darin nach bestimmten Regularien die Besetzung von Ämtern veranlassen. Damit dieser Akt integrative Wirkung entfalten kann, muss er in Meinungs- und Willensbildungsprozesse münden, die dann über institutionalisierte und informelle Wege Einfluss auf die Gestaltung der kollektiven Entscheidungen nehmen. Ähnliches gilt für den Status der Person. Wer als Person seine Interessen äußert, kann nicht damit rechnen, dass er damit eine direkte Wirkung auf politische Entscheidungen ausübt. Seine Initiativen tragen bei zum gesellschaftlichen System der Bedürfnisse und prägen insofern, wenn auch nur marginal, zunächst die sozialen Verhältnisse. Initiativen der politischen Einflussnahme aus der Gesellschaft heraus münden in den Lobbyismus. Der Lobbyist vertritt Interessen einer Gruppe, der er selbst angehört oder die er advokatorisch vertritt. Es ist nicht zwingend, dass es sich mit diesen Interessen identifiziert. Er kann sich davon distanzieren und rein geschäftsmäßig dafür einsetzen. In beiden Fällen betrachtet er die Interessen als Tatsachen, denen Rücksicht geschuldet werden soll. Ganz anders ist die Rolle der Meinungen zu veranschlagen. Beteiligung an der politischen Willensbildung setzt voraus, dass die Interessen transformiert werden in Meinungen, dass politische Anliegen artikuliert und zur Disposition gestellt werden. Erst indem diese Schwelle zur Meinungsbildung überschritten wird, kann sich das ansonsten idiosynkratische Interesse als ein allgemeines Interesse, als eine res publica, eine öffentliche Angelegenheit präsentieren. Meinungen bilden das Medium der politischen Verständigung. Ihr Kriterium ist nicht der Wahrheitswert, sondern die
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Richtigkeit und Angemessenheit im Blick auf das Ganze einer Gemeinschaft und deren Selbstverständnis. Charakteristisch für die Meinung ist die Identifikation der Protagonisten mit ihrer Meinung und die gleichzeitig damit verbundene Bereitschaft, die eigene Meinung im Licht anderer Meinungen zu relativieren. Dass man nur die eigene Meinung vertrete, bedeutet nicht, dass diese deshalb falsch sei, sondern dass andere eine andere Meinung mit dem gleichen Anspruch vertreten können. Es gibt keinen idealen Standpunkt, vom dem aus über die Wahrheit befunden werden könnte, und doch kann die Richtigkeit unterschiedlicher Meinungen behauptet werden, ohne in einen fundamentalen Wiederspruch zu geraten. Epistemologisch lässt sich dies aufheben durch den Hinweis auf die Perspektivität der Meinungen. Von unterschiedlichen Standpunkten lassen sich unterschiedliche Meinungen vertreten. Anders als bei unterschiedlichen Interessen, die wie Kräfte aneinander zu messen sind oder im strategischen Kalkül im Blick auf einen Kompromiss ausgehandelt werden, lassen sich Meinungen nicht verrechnen. Aber sie lassen ich gleichwohl der Kritik und gegebenenfalls der Revision unterziehen. Zur Diskussion steht dabei das Individuum selbst, das eine Meinung vertritt. Je fundamentaler eine Meinung ist, desto weniger kann ein Individuum diese zur Disposition stellen, ohne sich selbst dabei in Frage zu stellen. Meinungen repräsentieren den Standpunkt des Individuums und damit dessen eigentliches Selbst. Wenn eine politische Gemeinschaft aus der Verbindung der Individuen besteht, dann muss sich deutlich machen lassen, inwiefern diese Verbindungen sich im Medium der Meinungen nicht nur abbilden, sondern letztlich ausbilden. Ein wichtiger Anstoß für die Rehabilitierung der Meinung im politischen Denken kommt von Hannah Arendt.339 Ihr Ausgangspunkt ist die zunächst irritierende These, dass jeder Wahrheitsanspruch hinsichtlich seiner politischen Wirkung despotisch sei, dass diejenigen, die den Anspruch auf Wahrheit erheben, sich außerhalb des politischen Bereichs stellen. Damit verbindet sich die Kritik der geläufigen Auffassung, „dass es um die Wahrheit in der Politik schlecht bestellt“, dass Wahrheit ohnmächtig ist und dass Lüge und politische Macht Hand in Hand gehen,340 ein Verdacht, der angesichts der Erfahrungen mit politischen Akteuren, die bedenkenlos Tatsachen in Frage stellen oder ignorieren, stets neu bekräftigt wird. Und doch ist dies nur eine oberflächliche Beobachtung. Auch eine scheinbar konträre Gegenwartsdiagnose kann Plausibilität beanspruchen: Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Handlungsfeld der Politik mit hohen normativen Erwartungen belegt ist. In der Gesamtwirkung kann eine hypertrophe Moral die Praxis durch Überdeterminierung individueller oder kollektiver Verantwortung bis zur Selbsttäuschung verzerren.341 Das Phänomen der political 339 Der folgende Abschnitt basiert auf Zenkert 2020. 340 Arendt 1987, S. 44. 341 Gehlen 2004, S. 141 ff.
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correctness ist ein Ergebnis dieser Moralisierung der Politik. Die mediale Präsentation politischer Ereignisse bietet dem hochentwickelten moralischen Reflexionsvermögen der interessierten Öffentlichkeit ein unerschöpfliches Reservoir an Beispielen moralischer Verfehlungen. Dass moralische Sensibilisierung eine zunehmend pessimistischere Sicht auf Politik zur Folge hat, dürfte insofern nicht überraschen. Zugleich sind politische Entscheidungen in der Regel durch überprüfbares und öffentlich zugängliches Tatsachenwissen fundiert. Politische Professionalität wird im Allgemeinen mit Sachkenntnis gleichgesetzt, verkörpert von rational organisierten Administrationen. Politik mutiert unter deren Einfluss in die Exekution des Sachzwangs. Diese ganz unterschiedlichen Diagnosen verbinden sich zu einem Amalgam diffuser Politikverdrossenheit. Verkompliziert wird die Situation durch die poststrukturalistische Dekonstruktion von Normen und die konstruktivistische Verflüssigung von Tatsachen, die dann in der Tat, unerachtet ihrer aufklärerischen Intention, delegitimierende Wirkung entfalten. Eine desillusionierte Moral, die sich in ihren unterschiedlichen und teils widersprechenden Ausprägungen darauf verständigt hat, dass Politik ohne Werte und Wahrheitsbezug agiert, bricht sich an der postulierten Relativität von Normen und quittiert auch diesen Umstand mit dem Urteil, dass Politik heillos sei. Gleichzeitig droht sich der stabilisierende Bezug auf Tatsachen in sein Gegenteil zu verkehren, indem die Inanspruchnahme alternativer Fakten politisch hoffähig wird. Wenn der Wahrheitsdiskurs als Machtspiel diskreditiert ist, haben auch alternative Fakten ihre Berechtigung. Hier offenbart sich die Ohnmacht einer Invektive, die im Namen einer emanzipatorischen Praxis ihre eigenen Voraussetzungen untergräbt. Arendts Überlegungen öffnen in dieser Verwirrung neue Blickachsen, die dazu angelegt sind, die Ursachen dieser Irritation aufzudecken. Arendts Konzeption von Politik setzt nicht, wie in der politischen Wissenschaft üblich, mit Herrschaftsbeziehungen oder der institutionellen Infrastruktur an, sondern geht von der Idee kollektiven Handelns aus. Der neuralgische Punkt ist dabei der Modus der Verständigung. Nach Arendt sind es die Meinungen, die politische Entscheidungsprozesse prägen, indem sie Orientierung stiften. Darin folgt Arendt dem Modell von Politik, das maßgeblich Aristoteles entwickelt hat. Ihm gilt der rhetorisch geprägte Austausch von Meinungen als Daseinsform einer dem Gemeinwohl verpflichteten politischen Verfassung. Mit der These, dass Meinungen das Medium des Politischen sind, setzt sich Arendt gegen die platonische Tradition ab, der zufolge Politik auf Wahrheit gegründet werden muss. Mindestens so wirkungsmächtig wie Platon ist das seit Descartes und Bacon geltende Verdikt über die Meinung als unzureichende Form der Erkenntnis. Dass Meinungen das Handeln prägen, ist zumindest als alltägliche Erfahrung kaum zu bestreiten. Die neuzeitliche Auffassung von Politik ist jedoch durchdrungen von der Überzeugung, dass Meinungen als bloße Vorurteile vernünftiger Einsicht
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weichen sollten.342 Mit dem Vorurteil wird nicht nur der Irrtum, sondern das rhetorische Fundament der Willensbildung eskamotiert. Deutlich zeigt sich dies etwa in Hobbes‘ Leviathan, dessen Begründung von den divergierenden Meinungen abstrahiert und auf eine unbezweifelbare Voraussetzung, auf das Interesse an Selbsterhaltung rekurriert. In dieser Perspektive ist die rhetorisch geprägte Meinungsbildung nichts anderes als ein Konvolut von Irrtümern und Differenzen, die, sofern sie nicht neutralisiert werden durch die Rationalität der Macht, dissoziative Tendenzen entwickeln. Praxis muss der Vernunft subsumiert werden, lautet die Losung der neuzeitlichen Staatskonstruktion. Kants fundamentale Unterscheidung des theoretischen und des praktischen Gebrauchs der Vernunft stellt hier insofern eine Zäsur dar, als damit die Unterordnung des praktischen Wissens unter die theoretische Erkenntnis aufgehoben wird. Praxis ist nicht der Anwendungsfall theoretischen Wissens, sondern steht unter dem Gesetz der genuin praktischen Vernunft. Der Preis für diese Autonomie der praktischen Vernunft ist jedoch die Begrenzung des praktischen Wissens auf rein normative Sätze der Moral oder des Rechts, die ihre Dignität der Entkoppelung von allen empirischen Fragen verdankt. Auch das Kantische Modell ist noch geprägt von der Diskreditierung der Meinungen, die nach aristotelischer Auffassung das Orientierungspotential der Praxis bilden. Die von Kant inspirierte und seinem epistemischen Schema folgende Diskursethik adressiert Meinungen entweder unter dem Manipulationsverdacht oder als vorläufiges Statement, das diskursiver Läuterung unterzogen wird. Zwischen subjektiver Kontingenz des Meinens und vernünftiger, konsensorientierter Ermittlung wahrer Interessen erstreckt sich ein Bereich eingespielter Praxis, in dem die Mechanismen der Macht ihre eigene Legimitation durch eine manipulativ inszenierte öffentliche Meinung schaffen.343 Die diskurstheoretische Reduktion der Meinung schlägt sich in der Konzentration des praktischen Diskurses auf den Modus der Rechtfertigung nieder. Damit soll ein der theoretischen Wahrheit analoger Geltungsanspruch erhoben werden, der Meinungen ihrerseits als praktisches Prinzip rechtfertigt. Mit dem Selbstverständnis dessen, der eine Meinung äußert, hat diese artifizielle Inanspruchnahme des praktischen Wissens jedoch nichts gemeinsam. Die massive Aufmerksamkeit, die Meinungen in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung gleichwohl finden, hebt diese reduktionistische Perspektive nicht auf. Diese löst Meinungen aus ihrem Kontext und identifiziert sie als Indikatoren von sogenannten Einstellungen (attitudes).344 Mit den Einstellungen soll die psychische Ebene der Verhaltensinvarianzen wissenschaftlich zugänglich werden. Meinungen gelten demnach nicht als Medium der Orientierung und der Verständigung, 342 S. dazu insgesamt Ptassek, Sandkaulen-Bock, Wagner, Zenkert 1992. 343 Habermas 1962; s. dazu Ptassek et. al. 1992, S. 220 f. 344 Ptassek et. al. 1992, S. 237 ff.
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sondern als Ausdruck von Dispositionen, die den Handelnden selbst nicht unbedingt zugänglich sein müssen. In dieser Form wird der Begriff der Meinung operationalisierbar für die empirische Meinungsforschung. Dabei gerät aber in der Tat die praktische Bedeutung der Meinungen aus dem Blick. Die Demoskopie hat Meinungen gänzlich vom Wahrheitsanspruch entkoppelt; sie wird zum bloßen Faktor für eine wissenschaftliche Erschließung des Verhaltens. Meinungen werden in diesen Deutungsschemata entweder dem diskurstheoretischen Paradigma wahrheitsähnlicher Rechtfertigung untergeordnet oder für die sozialwissenschaftliche Analyse funktionalisiert. Demgegenüber zielt Arendts Ansatz auf eine Rehabilitierung der Meinungen in ihrer praktischen, handlungsleitenden Bedeutung. Irritierend für die Rezeption ist bis heute die schroffe Absetzung vom Anspruch theoretischer Wahrheit, die Meinungen als infallibel erscheinen lässt. Wer Wahrheitsansprüche erhebt, so Arendt, steht außerhalb der politischen Praxis.345 Wenn sie Madisons Diktum zitiert, das jede Regierung auf Meinungen beruht,346 dann versteht sie darunter nicht nur eine empirische Feststellung, sondern die legitimatorische Grundlage des Staates. Wer sich von Meinungen zugunsten eines Wahrheitsanspruchs distanziert, setzt sich damit vom Orientierungskontext der Praxis ab. Worauf beruht die Differenz von Meinung und Wahrheit? Sind Meinungen nicht Annäherungen an Wahrheit im Sinne der Wahrscheinlichkeit? Ein Wahrheitsanspruch innerhalb der Praxis zu erheben ist deshalb problematisch, weil er auf der prinzipiellen Distanz zu Meinungen basiert. Descartes und Bacon haben diese methodische Reinigung als Frage der moralischen Haltung betrachtet. Wissen definiert sich durch Absetzung von bloßer Meinung. Wer Wissen sucht, muss sich von allem Meinen befreien. Eine bloße Meinung ist gleichbedeutend mit Irrtum, so wie Vorurteile nicht nur als unvollkommene oder vorläufige Urteile gelten, sondern als Täuschungen, die den Zugang zum Wissen verstellten.347 Älter als diese epistemische Disqualifikation der Meinung ist die metaphysische, die Parmenides und Platon vollziehen. Platon reserviert den Terminus Wahrheit für den übermenschlichen Bereich, während die Sphäre des kontingenten Handelns nicht wahrheitsfähig ist. Arendt bezieht sich auf diese Unterscheidung, wenn sie Meinung als die für den menschlichen Bereich spezifische Wissensform charakterisiert. Unter dem menschlichen Bereich versteht sie nicht eine bestimmte Sphäre der Wirklichkeit, sondern die zukunftsoffene Perspektive des Handelns.348 Meinungen sind das Wissen, mit dem sich die Welt der Möglichkeiten erschließen lässt. Sie eröffnen Räume individuellen und kollektiven Handelns; insofern sind Meinungen
345 346 347 348
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Arendt 1987, S. 86. Madison, Hamilton, Jay 1987, Nr. 49. Bacon 1990, I, 29. Arendt 1987, S., 69.
zukunftsbezogen. Wer Wahrheitsansprüche erhebt, bezieht sich dagegen auf die Vergangenheit. Auffällig ist, dass Arendt in diesem Zusammenhang nicht das spezifisch normative Wissen thematisiert, das mit moralischen Urteilen verbunden ist, sondern ein Wissen, das sich eher an Geschmacksurteile anlehnt. Deshalb kann sie auch in Kants Kritik der Urteilskraft dessen eigentliche politische Philosophie vermuten. Hier erwägt Kant die Möglichkeit von Urteilen ohne vorausgesetzte objektive Prinzipien. Urteilen bedeutet dann nicht einfach die Anwendung einer Norm, sondern die Überprüfung der inneren Stimmigkeit, die sich im Falle der reflektierenden Urteilskraft durch die zwanglose Harmonie mit den Verstandeskräften anzeigt. Diese Koinzidenz lässt auf die Idee eines Gemeinsinns schließen.349 Auf das politische Urteil kann dieses Schema jedoch nur bedingt übertragen werden, denn hier liegen, anders als im Falle von Geschmacksurteilen, in der Regel explizite und implizite Normen vor. Allerdings sind diese Normen nicht sakrosankt, sondern selbst Gegenstand der Auseinandersetzungen. Urteilskraft wird insofern entweder als Regelanwendung unter Voraussetzung geltender Normen veranschlagt oder sie operiert als reflektierende Urteilskraft, die Richtigkeit ohne Normen statuiert beziehungsweise normative Orientierung stiftet. Entscheidend ist dann, dass der postulierte Gemeinsinn die normative Ausrichtung erst ermöglicht. Abgesehen von Diskursen, die Legitimationsfragen betreffen, sind Meinungen nicht ausschließlich mit Normen befasst, sondern stellen eine Beziehung zwischen Normen und Sachverhalten her. Auch hier ist die Analogie zum Geschmacksurteil nur bedingt erhellend. Geschmacksurteile beziehen sich auf den ästhetischen Schein, politische Urteile auf die Wirklichkeit und Möglichkeit des Handelns. Im Unterschied zum rein ästhetischen Urteil also ist das politische Urteil, das sich in Meinungen niederschlägt, eine Proposition, die sich einerseits auf Sachverhalte bezieht, und andererseits auf normativen Prämissen beruht. Diesen Zusammenhang gilt es im Auge zu behalten, wenn Meinungen und Tatsachen voneinander abgegrenzt werden. Tatsachenwahrheiten, die Arendt in Orientierung an Leibniz von Vernunftwahrheiten unterscheidet,350 sind das Feld, in dem sich die politische Wirklichkeit abzeichnet. Tatsachen, „die Ergebnisse menschlichen Zusammenlebens und Zusammenhandelns“,351 stellen den Bereich des Politischen dar. Die von Arendt betonte Differenz zwischen der Sphäre der Wahrheit und der Welt der Politik betrifft nur die Vernunftwahrheiten. Eine Inanspruchnahme von Vernunftwahrheiten seitens der Politik ist ebenso unangemessen wie eine vom Standpunkt der Theorie unternommene politische Intervention im Namen der Wahrheit. 349 Kant 1913b, §§ 20-22. 350 Arendt 1987, S., 48; die Definition findet sich in Leibniz' Monadologie: „Vernunftwahrheiten sind notwendig, und ihr Gegenteil ist unmöglich; die Tatsachenwahrheiten sind zufällig, und ihr Gegenteil ist möglich.“ (Leibniz 1985, § 33.). 351 Arendt 1987, S. 49.
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Das bedeutet nun nicht, dass Tatsachenwahrheiten der Beliebigkeit des Meinens ausgeliefert wären. Tatsachen sind zwar Gegenstand des Meinens, aber im Unterschied zu Fiktionen sind sie nicht dem Meinenden zur Disposition gestellt. Tatsachen sind Fixpunkte des Handelns, auf die sich Handelnde im Modus des Meinens beziehen können. Dass Tatsachen, wie in den gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen, als deutungsabhängig, als Ergebnisse von Interpretationen präsentiert werden, ist nach Arendt ein Indiz dafür, dass Politik ihre Würde verloren hat. Die Relativierung der Tatsachen ist zweifellos ein Ergebnis postmoderner Dekonstruktion des modernen Wissensparadigmas. Dass Tatsachen als die solide Basis des Wissens gelten und zugleich im Sinne Foucaults als Produkt der „Wahrheitsregime“ verstanden werden können, ist auf der Folie der epistemischen Vorgeschichte des Begriffs besser zu verstehen. Das deutsche Wort „Tatsache“ taucht zum ersten mal 1756 in theologischem Kontext auf als Übersetzung des Ausdrucks matter of fact (in Entsprechung zum lateinischen res facti) im Kontext einer Abhandlung, in der die heilsgeschichtlich bedeutsamen Handlungen Gottes dargelegt werden. Tatsachen sind verbürgte, wirklich geschehene Handlungen. Vor allem durch Hamann und Herder gewinnt das Wort Publizität und avanciert schließlich zu einer unverzichtbaren Kategorie historischen Denkens. Tatsachen sind nach säkularer Auffassung die unwiderruflichen Ereignisse der Geschichte. In diesem Sinne kann der Begriff auch im Rahmen der Naturgeschichte auf natürliche Prozesse übertragen werden. Mit dieser Übertragung verblasst jedoch der ursprünglich konstitutive Handlungskontext. Tatsachen werden zum Gegenstand theoretischen Wissens, obwohl sie sinngemäß dem Handlungszusammenhang angehören. Das lateinische factum ist in der Sprache des Römischen Rechts in der Regel als Tat ausgewiesen. Der philosophische Gebrauch des Begriffs knüpft daran an, jedoch mit einer signifikanten Bedeutungsverschiebung. In der Maxime verum et factum convertuntur, die von Vico und sinngemäß auch von Hobbes verteidigt wird,352 ist factum, wie der Kontext zweifelsfrei ergibt, im Sinne des Gemachten zu verstehen. Das Faktum können wir deshalb begreifen, weil wir es selbst herstellen. Das Ideal dieser Wissensform bietet die analytische Geometrie, die insofern das neuzeitliche Methodenideal verkörpert. Diese Verschränkung von Handlung und Wissen prägt den Begriff des Faktums beziehungsweise der Tatsache. Eine Tatsache in diesem Sinne ist eine Handlung, diese aber nun nicht wörtlich verstanden, sondern als eine Handlung des Verstandes, als die Form, in der ein Sachverhalt sich im Medium des Verstandes konstituiert. Mit den Versuchen, eine verlässliche Methode des Wissens zu finden, die von Bacon und Descartes initiiert werden und seit dem 18. Jahrhundert das Selbstbild der modernen Wissenschaften prägen, wird die Opposition von natürlichen Fakten und Artefakten,
352 Löwith 1968.
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natürlichen Sachverhalten und menschlichen Erfindungen festgeschrieben.353 Die Grenzziehung betrifft unmittelbar das menschliche Denken selbst, sofern zwischen methodisch vorgehendem Verstand und freier Einbildungskraft unterschieden wird. Im Grunde ist damit das heute einschlägige Verständnis von „Tatsache“ bereits vorgeprägt: Als Tatsache gilt eine durch Vernunftgründe oder durch Erfahrung abgesicherte Wahrheit, die zur Gewissheit wird. Dass Fakten als Basis empirischen Wissens betrachtet werden ist ein Ergebnis dieser neuzeitlichen Reduktion des Bereichs der Erfahrung auf sogenannte Tatsachen. Sie gelten als Gegenstände von Begriffen, deren objektive Realität bewiesen werden kann. Damit kommen als Tatsachen nur einfache Sachverhalte in Frage, elementare Beobachtungen, die dem menschlichen Einfluss entzogen sind. Tatsachen präsentieren sich als irreduzible Atome des Wissens. Die epistemische Purifikation der Tatsachen im Interesse einer Neubegründung der empirischen Wissenschaft entzieht die Tatsachen der Welt des menschlichen Handelns und der Urteilskraft und lässt einzig den Akt des Erkennens als valides Faktum gelten. Dieser Schritt erweist sich als produktiv für die empirischen Wissenschaften, aber als problematisch für die politische Welt, die sich damit am Maßstab methodisch erworbenen Wissens messen lassen muss. Politisch relevante Ereignisse sind jedoch eher historischen oder juristischen Tatsachen verwandt als wissenschaftlichen Sachverhalten. Der Bezug auf wissenschaftliche Tatsachen im politischen Kontext erweist sich daher häufig als irritierend. Wissenschaftliches Wissen im Sinne der Naturwissenschaften wird unvermeidlich ambivalent, sobald es für politische Absichten zitiert wird, weil es einerseits kraft seines Anspruchs auf Gewissheit unbedingte Anerkennung fordert und andererseits im politischen Austausch der Meinungen in den rhetorischen Sog des Überredens und Überzeugens gerät. Eine Tatsache wird zum Motiv eines Plädoyers, das im Interesse einer politischen Zielsetzung vorgetragen wird. Das macht die Tatsache nicht weniger gewiss, aber es könnten auch andere Tatsachen erwähnt oder der Hinweis auf die Tatsache zu einer anderen Schlussfolgerung geführt werden. Tatsachen nehmen in Verbindung mit Meinungen ganz unterschiedliche Färbungen an. Die prekäre Verbindung von Tatsachenwahrheiten und Meinungen in praktischer Absicht lässt sich nicht durch eine Beschwörung unbestechlicher Tatsachenwahrheiten unterlaufen. Die praktische Wirklichkeit erschöpft sich nicht in der Summe aller Tatsachen, weil Tatsachen nur Vergangenes betreffen,354 eine Handlungssituation aber auch die Gegenwart und Zukunft einschließt. Um ihre praktische Relevanz zu behaupten, müssen Tatsachenwahrheiten im Medium der Meinungen aktualisiert werden. Damit sind sie aber auch der Arbitrarität des Meinens ausgesetzt.
353 Daston 2001, S. 103 ff. 354 Arendt 1987, S., 84.
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Es ist diese Ambivalenz, die den Bezug auf Tatsachen im politischen Kontext belastet. Tatsachen stehen nicht für sich, sie sind keine Argumente und der Bezug zum Handeln muss eigens hergestellt werden. Diese Beziehung ist brisant. Mit der Unterscheidung von Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten, die sich Arendt zu eigen macht, betont sie zunächst, dass der Anspruch auf absolute Wahrheit im politischen Raum absolut destruktiv ist.355 Zugleich wird deutlich, dass der mit Tatsachenwahrheiten erhobene Wahrheitsanspruch sich auf Sachverhalte und Umstände bezieht, die dem Bereich des Veränderlichen angehören. Der Status der Tatsachenwahrheiten ist nun nicht allein dadurch gekennzeichnet, dass diese weniger gewiss sind, wenngleich empirisches Wissen prinzipiell fallibel ist. Entscheidend für den politischen Kontext ist vor allem, dass Tatsachen erst durch Meinungen in ein Urteil hinsichtlich der Einschätzung der politischen Situation eingebunden werden müssen. Damit droht die Differenz zwischen wahrheitsbezogenem Wissen und Meinung zu verschwimmen. Führt dies zu einer Auflösung von Tatsachen in Meinungen, dann wird jeder Wahrheitsanspruch desavouiert. Die Dignität der Meinung selbst hängt jedoch von der Inanspruchnahme der Tatsachen im politischen Diskurs ab. Es ist ein gravierender Unterschied, ob Tatsachen als bloße Meinungen behandelt werden oder ob Meinungen sich auf Tatsachen beziehen in einer Weise, die immer auch andere Bezugnahmen als möglich erscheinen lässt. Die Differenz schlägt sich im Umgang mit Meinungen und Tatsachen nieder. Tatsachen lassen sich überprüfen und jede Tatsachenbehauptung impliziert die Bereitschaft, sich einer idealiter neutralen Überprüfung zu stellen. Meinungen dagegen werden beurteilt. Wer eine Meinung äußert, nimmt Stellung und fordert andere zur Stellungnahme heraus. Es handelt sich also um unterschiedliche epistemische Einstellungen, um unterschiedliche Sprachspiele. Werden die Differenzen verwischt, so führt dies zu einem Verfall der politischen Kommunikation, da jede Äußerung sich als bloße Ansichtssache darstellt, die sich vernünftiger Beurteilung entzieht. Dann beschränkt sich die praktische Funktion auf die Frage der Durchsetzung der eigenen Meinung. Die Gefahr einer Fehlentwicklung droht aber auch von der anderen Seite, wenn Meinungen als Tatsachen behandelt werden und diese damit ihren intentionalen Akzent verlieren. Ein methodisch ermitteltes Meinungsbild kann so zur Verfügungsmasse manipulativer Kräfte werden, dass sich jede Debatte erübrigt. Sollen Meinungen ernst genommen werden, dann muss deutlich werden, dass sich mit ihnen Handelnde positionieren und damit am Prozess der Meinungsbildung beteiligen wollen. Ein inflationärer Einsatz von Meinungsforschung kann sich diesen Prozess durch den Wechsel zu einer überwiegend strategischen Einstellung unterminieren.
355 Arendt 1987, S. 51.
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Sie ersetzen politische Partizipation durch das factum brutum statistisch erhobener Präferenzen, die Individuen auf den Status von Klienten reduzieren. Urteilen ist ein Akt, der Tatsachen mit normativen Sätzen verbindet. Dieser elementaren Struktur folgt auch in der Regel die Äußerung einer Meinung in praktischer Absicht im politischen Umfeld. Meinen, dass etwas der Fall sei, wäre dann genauso ein Grenzfall wie die Meinung bezüglich der Geltung einer Norm. Reine Tatsachenbehauptungen dagegen sind kategorial den empirischen Wissenschaften zuzuordnen oder lehnen sich an diese an im Modus der Wahrscheinlichkeit. Eine Norm zu konstatieren ist als Sprechakt einer Autorität denkbar, bildet aber ansonsten den Übergang zu Verfahren der Normenbegründung sei es im institutionellen Sinne wie bei Rechtsnormen oder im Sinne diskursiver Normenbegründung wie bei moralischen Normen. Arendt betrachtet die Verbindung von Tatsachen und Meinungen als Standardfall und eruiert die Verbindungen beider und deren Pathologien. Da Meinungen im politischen Denken diskreditiert sind, so ihre Diagnose, kommt es häufig zu einer Verzerrung im Verhältnis von Fakten und normativer Disposition. Wenn der Gegensatz einer Tatsachenwahrheit die Lüge ist, dann ist diese Differenz der neuralgische Punkt der politischen Verständigung. Eine Verwischung der Grenzen zwischen Tatsachen und Lügen glaubt sich auf die unvermeidliche Perspektivität aller politischen Meinungen berufen zu können und modelliert Tatsachen nach eigenem Gutdünken und politischer Interessenlage. In der Tat aber ist nicht das Faktum, sondern die Einschätzung des Faktums eine Frage der Disposition. Die Manipulation von Fakten, genauer deren verzerrende oder missbräuchliche Darstellung gehört zum traditionellen Repertoire politischer Auseinandersetzungen. Neu ist im zwanzigsten Jahrhundert, dass nicht die Verheimlichung von Tatsachen, der arcana imperii gemäß der Lehre der Staatsräson, sondern die erkennbar falsche Behauptung sich als effektivstes Mittel politischer Manipulation durchsetzt. Arendts Diagnose, die politische Lüge der Gegenwart tendiere dazu, offenbare Tatbestände zu verleugnen,356 ist angesichts der jüngeren Entwicklung der politischen Verhältnisse von verblüffender Aktualität. Die Täuschung hinsichtlich eines offenbaren Sachverhalts funktioniert nur als kollektive Selbsttäuschung, indem die Differenz von Meinungen und Tatsachen nivelliert wird. Die Auflösung von Tatsachen in Meinungen scheint den Befund zu bestätigen, dass jeder Bezug auf Tatsachen letztlich arbiträr ist, dass Tatsachen aus unterschiedlicher Perspektive sich unterschiedlich präsentieren. Die Diskreditierung der Meinungen bedeutet folglich nicht, dass Meinungen nicht mehr Gehör finden oder erst gar nicht mehr geäußert werden. Vielmehr zeichnet sich eine Inflation der Meinungen ab, die immer unüberschaubarer und hinsichtlich ihrer Wirkung unberechenba-
356 Arendt 1987, S. 76.
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rer werden. Der entscheidende Effekt besteht vielmehr darin, dass Meinungen in der Selbstwahrnehmung der Akteure zwischen Fakten und Werturteilen oszillieren. Die Ambivalenz der Fakten kommt darin zum Ausdruck, dass sie einerseits in der Entgegensetzung zu bloßen Werturteilen als unverrückbare Grundpfeiler politischer Entscheidungen und andererseits selbst als Produkte eines bestimmten Wahrheitsregimes gelten. Ein Fetischismus der Tatsachen, der sich politischer Auseinandersetzungen entzieht und politische Weichenstellungen als alternativlos betrachtet, wird unvermittelt mit der ebenso zwingenden Einsicht in die Perspektivität jeder Darstellung konfrontiert. Komplementär dazu findet sich im zeitgenössischen Diskurs wie schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine moralische Überdeterminierung, die sich mit dem nietzscheanischen Credo eines Werterelativismus überkreuzt. In dieser Konstellation, die zu unterschiedlichen Kombinationen führen kann, finden politische Auseinandersetzungen statt. Ob sich der Relativismus auf Fakten und Werte gleichermaßen bezieht oder nur ein Moment betrifft, ob sich die Position zu einem Chiasmus von Faktengläubigkeit und Wertelativismus oder im schlimmsten Fall zu der Verbindung von Tatsachenskeptizismus und Wertefanatismus verhärtet, in allen Fällen ist die Sphäre der Meinungen als Medium der politischen Verständigung verkümmert. Dass Normen im Prinzip der Rechtfertigung zugänglich sein sollten, gilt im philosophischen Diskurs als ebenso selbstverständlich wie die Erwartung, dass Tatsachen empirischer Überprüfung standhalten. Aber im praktischen Kontext, im Zusammenhang der Erörterung von Handlungsmöglichkeiten, stehen Tatsachen nicht für sich; sie sind „Söldner der Argumentation“,357 und müssen sich im Gewebe der Meinungen als Träger von Gründen bewähren. Ebenso sind Normen nicht mit Sanktionsgewalt ausgestattet, sondern können nur im Umfeld des Handelns die Funktion praktischer Orientierung übernehmen. Arendt lässt beide Seiten der Überprüfung, die der reinen Tatsachen und die der Normen auf sich beruhen und konzentriert sich stattdessen auf den in praktischer Hinsicht allein relevanten Zusammenhang von Tatsachen und Normen, der durch Meinungen gestiftet wird. Ein Zusammenhang kann aber logischerweise nur unter der Voraussetzung der Differenz beider Wissensformen gestiftet werden. Gewiss sind auch Tatsachenwahrheiten nicht infallibel, aber ein Streit um Tatsachen stellt sich anders dar als ein Streit um Meinungen oder Urteile, da sich Tatsachenbehauptungen falsifizieren lassen. Eine Meinung dagegen muss sich argumentativ absichern; sie stützt sich auf die Plausibilität von Gründen; sie lässt sich durch übergreifende Ziele, durch normative Annahmen oder Grundüberzeugungen rechtfertigen. Dabei spielen Tatsachen die Rolle von Ausgangspunkten, auf die sich Meinungen beziehen können. Der Sinn einer politischen Auseinandersetzung basiert auf der Möglichkeit der Unterschei-
357 Daston 2001, S. 29.
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dung von Tatsachen und Meinungen. Eine Tatsache in Frage zu stellen bedeutet, auf andere Tatsachen zu verweisen; eine Meinung lässt sich durch den Verweis auf Tatsachen oder den Bezug auf andere Meinungen kritisieren. Im ersten Falle wird die Meinung in Frage gestellt, sofern sie auf falschen Voraussetzungen beruht. Wenn eine Meinung durch Konfrontation mit anderen Meinungen herausgefordert wird, zielt diese Invektive darauf, die Folgerungen und Konsequenzen zu modifizieren. Tatsachen stehen für den status quo; sie gehören der Vergangenheit an; Zukunftsbezug haben sie nur insofern, als sie Möglichkeiten ausschließen. Was unabänderlich eintreten wird, entzieht sich dem Handeln. Der Streit um Meinungen betrifft dagegen Handlungsmöglichkeiten. Darin zeigt sich die praktische Funktion der Meinungen. Sie eröffnen Handlungsräume. Im Medium der Meinungen zeigen sich Möglichkeiten des Handelns. So konstituiert sich im Prozess der Kommunikation die Gegenwart politischen Handelns. Für politisches Handeln sind Meinungen deshalb schlechterdings fundamental, da insbesondere gemeinsames Handeln auf den Möglichkeitsspielraum angewiesen ist. Nur im Horizont von Meinungen können sich politische Handlungsperspektiven ergeben. Durch Meinungen erschließen sich Handlungsfelder und Meinungen stiften Handlungszusammenhänge. Dies sind die fundamentalen praktischen Funktionen der Meinung. Grundsätzlich sind Handlungen nicht isoliert zu betrachten, sondern verweisen gewissermaßen von sich aus auf einen Zusammenhang, in dem sich Voraussetzungen und Ziele sinnvollen Handelns abzeichnen. Dies gilt nicht nur im Sinne einer linear weiterführenden Handlungskette, sondern auch für Handlungstypen, die sich nach dem Verhältnis von speziellem Fall und allgemeinem Schema zuordnen lassen und damit eine Hierarchie von Zwecken bilden. Schließlich ist die eigentliche Absicht konkreter Handlungen im seltensten Falle im unmittelbaren Resultat zu finden. Erst der übergreifende Zusammenhang, der bleibende Zweck, der nicht im Augenblick seiner Realisierung schon wieder obsolet ist, verbürgt die Rationalität des Handelns. Dies ist das Erbe der Aristotelischen Ethik. Sie setzt auf diesen Fundus praktischen Wissens. Meinungen repräsentieren dementsprechend nicht nur punktuelles Hintergrundwissen; sie beschreiben insgesamt den Standpunkt des jeweiligen Akteurs. Mit der Standorthaftigkeit oder Perspektivität des Handelns ist insofern nicht nur die individuelle Besonderheit des Handelnden gekennzeichnet, die bei fortschreitender Entwicklung der Persönlichkeit im Idealbild eines rationalen Handlungssubjekts aufzuheben wäre; Perspektivität steht vielmehr für die Kompetenz, überhaupt handeln zu können und Stellung zu beziehen, weil man dazu über Orientierungen verfügen muss, die für ganz konkrete Verhältnisse spezifiziert sind. Wer um der Objektivität willen auf den eigenen Standort verzichten will, täuscht sich über die Unvermeidbarkeit von Perspektivität ebenso wie über den Charakter des Handelns. Nicht die Verallgemeinerbarkeit der Meinungen ist das Kriterium praktischer Rationalität, sondern deren praktische Funktion, die darin besteht, Handlungs-
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möglichkeiten zu eröffnen, Entscheidungen herbeizuführen und einen kontinuierlichen Handlungszusammenhang zu erschließen. Nur Meinungen können mithin den Orientierungsrahmen bieten, der es erlaubt, so zu handeln, dass sich die einzelnen Handlungen zum Sinnzusammenhang eines kohärenten Lebens fügen. Die einzelne Handlungsperspektive ist dabei freilich nicht von einem Kontext kollektiven Handelns zu lösen. Im Gegenteil ergibt sich gerade aus dem Zusammen der unterschiedlichen Perspektiven eine besondere Qualität der Orientierung. Orientierung stellt sich dadurch ein, dass sich Handlungsperspektiven überschneiden und zueinander in Beziehung treten. Nicht ein vorgegebenes Prinzip, sondern das freie Zusammenspiel der Einzelnen bietet die notwendige Sicherheit im Handeln. Auch Normen können in diesem Zusammenhang die Funktion übergreifender Verbindlichkeiten einnehmen, die Orientierung stiften. Verfolgt man diese Thematik in ihrem historischen Wandel, so wird daraus die rhetorische Form des Meinungsaustausches, auf deren Grundlage sich das Paradigma des Geschmacks entwickelt. Dessen ursprünglich genuin praktische Bedeutung verliert sich jedoch bald und wird ausdifferenziert zu einer rein ästhetischen Konzeption, die ihre prägnanteste Formulierung in Kants Kritik der Urteilskraft findet. Die unterschiedliche Qualität des Meinungsaustausches wird bestimmt durch die Kompetenz der Teilnehmer, sich eines gemeinsamen Horizontes zu versichern. Weniger der Bildungsstand der Einzelnen als deren Fähigkeit, Gemeinsamkeit ins Werk zu setzen und zu bekräftigen, ist die Bedingung einer gelungenen Verständigung im Handeln. Aber das Paradigma des Geschmacks verlegt die Urteilsbildung ganz in den Bereich des Subjektiven. Aristoteles vertritt eine andere Perspektive, die sich am Paradigma der Rhetorik orientiert. Er erwägt die Möglichkeit, dass die Menge, von der kein einzelner wirklich tugendhaft ist, in der Gesamtheit bessere Entscheidungen fällt als der einzelne Beste.358 So beurteilt auch die Menge die Werke der Musik oder Dichtkunst angemessener, indem jeder einen anderen Aspekt der Sache betrachtet. Dadurch entsteht auf elementare Weise die Situation, der in der Rhetorik durch die Gattung der Beratung (genus deliberativum)359 entsprochen wird. Nicht erst das Zusammentreffen der Fachleute bedeutet Beratung, sondern die wechselseitige Beleuchtung der Lage in Fragen des gelungenen Lebens, für die jeder irgendeine Kompetenz besitzt. Der Einzelne muss dabei weder als besonders aufgeklärte Person vorgestellt werden noch erschöpft sich die Orientierungsleistung in der Vermittlung und Reproduktion vorgegebener Schemata. Was als Maßstab vorauszusetzen ist, wird genau genommen selten eigens sichtbar. Es sind die fundamentalen Orientierungen und Überzeugungen, die als Ethos, als Sittlichkeit in Erscheinung treten. Sie artikulieren sich in den besonderen Lebensentwürfen, erschöpfen sich darin freilich umso weniger, als 358 Aristoteles 1991, 1281a 38 ff. 359 Aristoteles 1987, 1359a 30 ff.
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umgekehrt die Besonderheit der unterschiedlichen Auslegungen zum eigentlichen praktischen Problem wird. Im politischen Maßstab werden Meinungen zu einem Phänomen, das sich von ihren individuellen Trägern ablöst. Virulent wird diese Verselbständigung erst mit der neuzeitlichen Individualisierung, die den Kontrast von individueller Meinung und kollektivem Meinungsbild erfahrbar macht. Das Singularetantum „Öffentliche Meinung“ referiert auf eine unüberschaubare Vielzahl von Einzelmeinungen, die aufeinander bezogen, teils gleichförmig, teils sich überschneidend ein im Ganzen diffuses Bild ergeben.360 Die öffentliche Meinung zu identifizieren ist selbst eine Frage der Meinungsbildung. Die Demoskopie verspricht zwar, ein objektives Bild der öffentlichen Meinung zu liefern, ermittelt aber in der Tat nur die Häufung isoliert erhobener Einzelmeinungen, die auf vorgegebene Fragen zugeschnitten sind.361 Damit wird jedoch gerade ihre rhetorische Qualität unterschlagen, die darin besteht, durch die Überschneidung und wechselseitige Beeinflussung der Meinungen einen Handlungsraum zu erschließen, der so möglicherweise in keiner der Einzelmeinungen schon angelegt war. Die Orientierungsfunktion der öffentlichen Meinung basiert darauf, dass sie mehr bietet als die Summe der Einzelmeinungen. Der Preis dieser Orientierungsfunktion ist die Opazität der öffentlichen Meinung. Die Momentaufnahme des Meinungsbilds enthält die fundamentalen Grundüberzeugungen ebenso wie die Tendenzen volatiler Stimmungen. Die moderne Erscheinungsform der öffentlichen Meinung ist gezeichnet von dieser Ambivalenz, die Hegel begrifflich prägnant registriert: „Das an und für sich Allgemeine, das Substantielle und Wahre ist darin mit ihrem Gegenteile, dem für sich Eigentümlichen und Besonderen des Meinens der Vielen, verknüpft“.362 Einerseits ist die öffentliche Meinung Ausdruck der substantiellen Sittlichkeit als der wahren Grundlage vernünftiger Verhältnisse, andererseits ist sie qua Meinung ihrem Inhalt nicht angemessen, sofern im subjektiven Räsonnement die Zufälligkeit individueller Ansichten durchschlägt. Deshalb verbinden sich in der öffentlichen Meinung ununterscheidbar Wahrheit und endloser Irrtum. Ungeachtet der systematischen Konsequenzen Hegelscher Philosophie trifft seine Charakterisierung den Nerv eines Phänomens, das zunächst als theoretisches Konzept, aber auch als politische Kampfparole in dieser paradoxalen Erscheinungsform fixiert wurde.363 Der Vorgeschichte der Meinung ist es zu verdanken, dass subjektives Urteilen und normative Grundprinzipien in Opposition treten und zu unvereinbaren Extremen stilisiert werden, ein Problem, das auch noch die zeitgenössischen Auffassungen der öffentlichen Meinung prägt. Auf eine Formel gebracht besteht das Dilemma 360 361 362 363
S. dazu Zenkert 1992. Hennis 1957; Ptassek et. al. 1992, S. 261 ff. Hegel 1970c, § 316. Prägend ist Habermas 1962. Die öffentliche Meinung wird darin nach dem Ideal eines rationalen Diskurses taxiert.
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darin, dass die öffentliche Meinung, vom Kontext traditioneller Lebensformen abgelöst, einerseits zum Inbegriff blinder Gewohnheit degradiert wird, andererseits als Vehikel legitimer demokratischer Entscheidungen gilt und damit als Legitimationsinstanz beansprucht wird. Beide Funktionen hängen jedoch zusammen. Dem freien subjektiven Urteil, dem Recht auf eine eigene Meinung, wird ein Wert zugebilligt unerachtet seiner inhaltlichen Qualität. Zugleich sind Meinungen einem pauschalen Manipulationsverdacht ausgesetzt. Am Standard überprüfbaren Wissens gemessen diskreditiert sich das bloße Meinen, sofern es ebenso blind in Kritik umschlägt wie zur schlichten Affirmation tendiert. Die Erwartung, dass der Austausch der Meinungen in einen Konsens geläuterter Meinungen mündet, ist nicht nur illusionär, sondern unangemessen, weil damit die Bedeutung pluralistischer Meinungsbildung in Frage gestellt wird. Die öffentliche Meinung kann weder als Legitimationsgrund politischen Handelns noch als Instanz der Wahrheit dienen. Beide Erwartungen verzerren die Prozesse der Meinungsbildung und depravieren dadurch die praktische Funktion, die Meinungen als Orientierungsinstanz unverzichtbar erscheinen lassen. Dabei ist es gerade die von Arendt immer wieder hervorgehobene Pluralität der Meinungen, der die öffentliche Meinung ihren Status als Medium politischer Willensbildung verdankt. Im Modus der Pluralität tauchen unterschiedliche Möglichkeiten auf, die den Raum des Handelns ausmessen. Denn nur dort, wo sich Alternativen anbieten, kann von Handlung die Rede sein. Durch die Pluralität der Meinungen zeichnen sich auch Zusammenhänge ab, die von den einzelnen Akteuren so nicht avisiert waren. So verbinden sich spezielle Ansichten und Interessen mit übergeordneten Gesichtspunkten; und umgekehrt können auch Widersprüche und Handlungskonflikte zum Vorschein kommen, die in der Betrachtung einzelner Akteure nicht präsent waren. Meist sind Handlungssituationen so komplex, dass sie mit einer Ansicht allein nicht angemessen erfasst werden. Eine Handlungssituation lässt sich im politischen Maßstab nicht zureichend von einem einzigen Standpunkt aus erschließen und beurteilen. Deshalb hat die Beteiligung Vieler an der Willensbildung außer der Legitimationsfunktion auch darin ihre politische Berechtigung, dass erst durch die Überschneidung der Perspektiven die eigentliche Lage erkennbar wird. Die Regel des Römischen Rechts quod omnes tangit ab omnibus approbari debet, die im kanonischen Recht verallgemeinert wurde und sich unter den demokratischen Verhältnissen der Moderne zum Leitsatz politischer Partizipation entwickelt hat, spricht zwar von der allseitigen Zustimmung aller Betroffenen. Damit ist jedoch nicht der reine Konsens zu verstehen, sondern die Repräsentation der Vielfalt der Perspektiven, die sich im Urteil über eine Angelegenheit artikulieren.364 Konsensbildung und Dissens zusammen ergeben das demokratische Grundmuster der
364 Teubner 2018.
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Meinungsbildung. Demokratische Verfassungen sind darauf angelegt, diese beiden widersprüchlichen, aber zugleich komplementären Tendenzen zu verbinden und den Prozess der Meinungsbildung so zu moderieren, dass Entscheidungen auch dann akzeptabel sind, wenn sie nicht die direkte Zustimmung aller Betroffenen finden. Arendts grundsätzliches Misstrauen gegenüber der öffentlichen Meinung, in der sie das Gegenteil echter pluralistischer Meinungsbildung zu erkennen meint, folgt der von Tocqueville stammenden Einschätzung, dass die öffentliche Meinung der Mehrheitsmeinung entspricht.365 Tocqueville diagnostiziert jedoch gleichzeitig die problematischen Folgen des in der amerikanischen Gesellschaft kultivierten Individualismus, den er als direkte Auswirkung der sozialen und rechtlichen Gleichheit deutet. Die Gleichheit trennt und isoliert die Individuen und so konterkariert sie alle Versuche gemeinsamen politischen Handelns, die eine demokratische Gesellschaft ausmacht. Dieser Tendenz wirken laut Tocqueville die Zeitungen entgegen, die kraft ihrer meinungsbildenden Wirkung Gemeinsamkeit stiften und damit die politische Handlungsfähigkeit sichern können.366 Die mediale Moderation von Meinungen charakterisiert die Entstehung der öffentlichen Meinung besser als die Idee einer homogenen Mehrheitsmeinung. Beide Aspekte, die Entfaltung der individuellen Meinungen und die Bildung der öffentlichen Meinung, die keineswegs einheitlich sein muss, gehören zum Prozess pluralistischer Meinungsbildung, die politischem Handeln zugrunde liegt. In diesem dynamischen Gebilde situiert Arendt das Phänomen der Lüge. Ihre Diagnose gipfelt in der These, dass gerade die erfolgreichen Lügen letztlich auf einer Selbsttäuschung des Lügners beruhen.367 Politische Lügen sind nicht nur Ausdruck fehlender Wahrhaftigkeit, sondern mangelnder Kenntnis der Lage und der Handlungswirklichkeit. Sie zielen auf die öffentliche Meinung, die im Falle einer erfolgreichen Lüge eine Modifikation erfährt, die sich von bloßer Täuschung unterscheidet. Hierin sieht Arendt die größte Gefahr für die politischen Verhältnisse. Dass die öffentliche Meinung den Formen der Selbsttäuschung recht tolerant gegenübersteht,368 macht sie anfällig für die Deformationen, die durch eine Pervertierung des Wirklichkeitsbezugs entstehen. Die politische Täuschung dieses Stils beschränkt sich meist nicht auf eine Einzelmeinung, sondern attackiert die Meinungsbildung insgesamt, indem sie anderen die Fähigkeit, eine qualifizierte eigene Meinung zu vertreten, abspricht. Die Lüge gründet auf der Verachtung und Diskreditierung der anderen, die nicht als gleichberechtigte Akteure anerkannt werden. Die Lüge gleicht in diesem Punkt dem despotischen Wahrheitsanspruch. Während aber der Vertreter der Wahrheit sich außerhalb des politischen Bereichs stellt,369 365 366 367 368 369
Tocqueville 1987, Bd. I, II. Teil, Kap. 7, S. 378. Arendt 1974, S. 290 ff. Tocqueville 1987, Bd. II, II. Teil, Kap. 6, S. 160 ff. Arendt 1987, S., 78. Arendt 1987, S., 79. Arendt 1987, S. 86.
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agiert der Lügner im Medium der öffentlichen Meinung. Die Verfälschung von Tatsachen kann hier im Gesamtzusammenhang eine fatale Wirkung entfalten. Arendt spricht davon, dass – im Extremfall – die Vernichtung des politischen Gegners vorbereitet wird. Auch in weniger dramatischen Szenarien wirkt sich die Lüge im Resonanzraum der öffentlichen Meinung dahingehend aus, dass die Orientierungsleistung der Meinung einschränkt wird. Dies betrifft die Urheber der Lüge ebenso wie die Opfer. Wenn Tatsachen manipuliert werden, können Meinungen keine Handlungsoptionen mehr erschließen. Indem Meinungsbildung sabotiert wird, verliert die politische Urteilskraft ihren Boden. Im Unterschied zur strategischen Lüge der alltäglichen Handlungssituationen, die durchaus für bestimmte Handlungsabsichten eingesetzt werden kann, verengen Lügen im Medium der öffentlichen Meinung den Handlungsspielraum, weil sie die konstitutive Differenz zwischen Tatsachen und Meinungen verwischen. Praktische Orientierung dagegen lebt von der wechselseitigen Korrektur und Relativierung der vielen Einzelmeinungen, die sich in übergreifenden Perspektiven und festen Topoi manifestiert. Die Orientierung, die öffentliche Meinung im gelungenen Falle bieten kann, besteht darin, dass sich unterschiedliche Perspektiven auf einen Bestand allgemein anerkannter Tatsachen beziehen, um sich in einem Wettbewerb differierender Interpretationen zu messen. Es gibt keine Garantie, dass dabei tatsächlich die beste, qualifizierteste Meinung obsiegt. Dennoch ist die Korrekturwirkung dieses Abgleichs der Meinungen nicht zu unterschätzen, zumal in der Regel nicht feste Positionen gegeneinander ins Feld geführt werden, sondern diese selbst sich erst im öffentlichen Austausch konturieren, in größere Zusammenhänge einfügen und möglicherweise in Kompromisse oder übergreifende Perspektiven eingehen. Ein in diesem Sinne flüssiges Spiel der öffentlichen Meinung muss kein definites Ergebnis einer kollektiven Gesamtmeinung liefern. Wichtig ist vielmehr, dass die unterschiedlichen Meinungen sich trotz bestehender Differenzen im Gefüge des Ganzen verorten lassen und Unterschiede deutlich werden, die das Verhältnis der Akteure untereinander indizieren. So besitzt die öffentliche Meinung, weit davon entfernt, als Organ der Wahrheit zu gelten zu können, eine insgesamt integrative Funktion. Manipulative Maßnahmen wirken desintegrativ, indem sie Pluralität unterlaufen und auf Homogenität zielen, in der alle Unterschiede unter Einebnung der Differenz von Tatsachen und Meinungen sich in diffusem Konsens verlieren. In dieser Funktion kann die öffentliche Meinung als politische Instanz betrachtet werden, die zwar selbst keine Herrschaftsfunktion ausübt, aber Herrschaft prägt und im Wechselspiel mit den Institutionen der Herrschaft geprägt wird. Dies konstatiert Madison in einer Notiz zur Bedeutung der öffentlichen Meinung in der modernen Demokratie: „Public opinion sets bounds to every government, and is the real sovereign in every free one. As there are cases where the public opinion must be obeyed
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by the government; so there are cases, where not being fixed, it may be influenced by the government.“370
4.) Majorität und Entscheidung Die Idee der Demokratie basiert auf der Möglichkeit kollektiver Willensbildung, die als Entscheidung aller ausgegeben werden kann. Einstimmigkeit dürfte jedoch in den seltensten Fällen erzielt werden. Ein faktischer Konsens gehört zu den Ausnahmeerscheinungen in der politischen Welt. Die Demokratietheorie kennt zwei Strategien, um angesichts der herrschenden Meinungs- und Interessenvielfalt eine demokratische Entscheidung herbeizuführen: die Annäherung an einen Konsens oder die Festlegung von Verfahren, die auf dem Mehrheitsprinzip beruhen. Das Konsensprinzip ist mit starken normativen Erwartungen unterlegt und scheint ein Maximum an Legitimität anzustreben. In der Tat aber kann ein Konsens den Unterschied zwischen allseitiger Zustimmung kraft Einsicht und totaler Verblendung nicht artikulieren. Konsensbildung steht häufig unter explizitem oder implizitem Erwartungsdruck. Bisweilen wird der Dissens dadurch einfach verdeckt. Vereinzelt streben Gremien und Konsilien einen Konsens an, in dem die Minderheit sich der Mehrheitsmeinung unterwirft. Hier fungiert das Mehrheitsprinzip als interne Übergangsregel zu einem der Außenwelt präsentierten Konsens.371 Das Konsensprinzip prägt bis ins 19. Jahrhundert das Leitbild der Demokratie, hinter dem das Verfahren der Entscheidung kraft Majorität zurücktritt. Das Ziel einer realen Konsensbildung kann auch utopisch als Ideal vertreten werden. Die Vorstellung, einen Konsens auf rationalem Wege, durch Begründung und Überzeugung herzustellen, basiert auf der Annahme, dass sich alle Differenzen auf rationalem Weg aufheben lassen. Diese Hypothese ist so unbegründet wie die gegenteilige, die von unaufhebbaren Gegensätzen ausgehen. Die Doxa, in deren Sphäre Entscheidungsbildung stattfindet, ist das fluide Medium, in dem Möglichkeiten der Übereinstimmung ebenso angelegt sind wie die Differenz von Standpunkten, die sich nur unter Verleugnung der fundamentalen Überzeugungen auf einen Nenner bringen lassen. Auch konsensorientierte Verfahren werden mit der Pluralität der Meinungen konfrontiert und müssen sich auf Verfahren der Entscheidungsfindung unter realistischen Bedingungen verständigen. Die soziale Welt ist geprägt von unterschiedlichen Perspektiven, die sich teils in einem gemeinsamen Horizont lokalisieren lassen, teils diesen in Frage stellen. Das Mehrheitsprinzip wird unter der Voraussetzung und Anerkennung dieses Pluralismus in der sozialen Welt in Anschlag gebracht. Es fungiert in dieser Situation als prag370 Madison 1906, S. 70. 371 S. dazu Rosanvallon 2013, S. 26 ff.
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matische Lösung der demokratischen Entscheidungsfindung. Unerachtet der rechtlichen Komplexität der unterschiedlichen Verfahren, in denen Mehrheitsverhältnisse ausschlaggebend sind,372 ist deren Kern die Annahme, dass das Mehrheitsvotum als legitimes Ergebnis für alle Beteiligten Geltung beanspruchen kann. Dem Dissens in der Sachfrage muss also ein Konsens in Verfahrensfragen voraus gehen. Unbestreitbar ist eine Mehrheitsentscheidung, die mit Legitimitätsanspruch durchgesetzt wird, eine Vollzugsform von Macht. Mit der Festlegung auf ein Verfahren der Entscheidungsfindung durch Mehrheitsbeschluss, wie immer dieser auch en détail qualifiziert sein mag, vollzieht sich eine Transformation der konstitutiven Macht des Kollektivs in regulative Macht oder Herrschaft über die Minderheit und diejenigen, die sich von ihrer früheren Zustimmung vorübergehend oder auf Dauer distanzieren. Nur dadurch, dass die machtstiftende Funktion in den Blick kommt, zeigt sich die politische Dimension der auf Mehrheit basierenden Entscheidungsverfahren.373 In dieser Transformation überlagern sich der genetische Prozess der Manifestation von Herrschaft und die Legitimation von Herrschaft, die sich auf diesen ursprünglichen Akt beruft. Es ist erstaunlich, dass es für das demokratietheoretische fundamentale Mehrheitsprinzip keine restlos plausible Begründung gibt. In der attischen Demokratie wurde dieses Prinzip praktiziert und es hat sich, trotz aller zeitgenössischen Kritik, in der Praxis durchaus bewährt. Deshalb jedoch dieses Modell als Paradigma aller Demokratie zu definieren ist nicht plausibel.374 Der Idee einer Herrschaft des Volkes wurde in der Antike nicht nur durch das Mehrheitsprinzip, sondern auch durch die Einrichtung eines repräsentativen Rats (boule), durch das Losverfahren, durch die Einteilung in Phylen und andere Verfahren Rechnung getragen. Aristoteles sieht den Vorteil der Demokratie bei Abstimmungen darin, dass auf diese Weise die Vielfalt der Ansichten und Aspekte einer Sache zusammengetragen werden, wodurch
372 Über die unterschiedlichen Varianten des Mehrheitsprinzips und seine Grenzen informiert Heun 1983. 373 Luhmanns Formel der "Transformation politischer Macht durch das Mehrheitsprinzip" (Luhmann 1983, S. 176) gibt nicht zu erkennen, dass es sich hier um einen Wechsel des Machtmodus handelt. Stattdessen betont er die Umstellung auf eine Machtsummenkonstanz, in der alle Entscheidungen sich als bloßes Nullsummenspiel erweisen. Die Fixierung auf das formale Verfahren übersieht nicht nur den politischen Effekt von Entscheidungen für das Selbstverständnis einer Gemeinschaft, sondern auch den Machtzuwachs, den diese Transformation bewirkt. 374 Flaig (2012) betrachtet das Mehrheitsprinzip als schlechterdings entscheidend für die demokratische Qualität von Herrschaft. Seine These, jede Demokratie basiere auf der Mehrheitsregel, lässt sich zwar empirisch unterstützen, eine Rechtfertigung ist daraus jedoch nicht abzuleiten. Auch in nichtdemokratischen Verhältnissen wird auf die Mehrheitsregel zurückgegriffen. Auch aus dem Gleichheitsprinzip lässt sich die Mehrheitsregel nicht deduzieren. Gänzlich unplausibel ist die Behauptung, dass der moderne Parlamentarismus sich von der Mehrheitsregel verabschiedet habe. Die Polemik in Bezug auf die zeitgenössische Identitätspolitik überschattet die ansonsten instruktive und materialreiche historische Untersuchung.
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ein qualitativ besseres Ergebnis möglich ist.375 Genuin demokratisch ist nicht die Mehrheitsentscheidung als solche, sondern das auf alle sich erstreckende Recht, an der Beratung teilzunehmen.376 Die allgemeine Beratung rechtfertigt sich durch das zu erwartende bessere Ergebnis, nicht aus formalen Gründen. Dass die Mehrheit herrscht, gilt Aristoteles als ungerecht, weil sie ein strukturelles Ungleichgewicht herstellt, und die auf dieses Prinzip gegründete Regierungsform, die Demokratie, ist eine der drei schlechten Verfassungen im Unterschied zur Politie, die diesen Mangel durch eine Kombination mit aristokratischen Strukturen kompensiert. Eine Begründung der Mehrheitsregel ist aus der Antike nicht überliefert. Auch die mittelalterliche Rechtspraxis bleibt im Rahmen einer pragmatischen Auffassung der Annäherung an eine vom Konsens getragenen Entscheidung, die in der Regel die Approbation der Mehrheitsmeinung durch die Minderheit verlangt. Die neuzeitliche politische Philosophie macht indessen eine Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips aufgrund der Zuspitzung der Frage nach der Legitimation von Herrschaft unumgänglich. Eine plausible Begründung findet sich jedoch bei den Klassikern des politischen Denkens nicht. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Mehrheitsentscheidung als Funktion eines ideellen Konsenses betrachtet wird. Deutlich sichtbar wird dies bei Hobbes, der diese Koppelung mit der Struktur des Vertrages vornimmt, der in einem Akt den Staat begründet und den Souverän einsetzt. Wer sich auf den Vertrag einlässt, unterwirft sich eo ipso der Mehrheit.377 Mit dieser pragmatisch begründeten fiktiven Zustimmung der einzelnen scheint sich eine Rechtfertigung des Prinzips der Majorität zu erübrigen. Die naturrechtliche Begründung basiert auf einem vorlaufenden Konsens, der das Mehrheitsprinzip billigt. Zwingend ist diese voluntaristische Begründung freilich nicht, denn es könnten auch alternative Entscheidungsverfahren wie beispielsweise eine qualifizierte Mehrheit oder das Losverfahren beschlossen werden. Rousseau geht ebenso vom fiktiven Konsens aus mit dem Unterschied, dass das Konsensprinzip auch in politischen Verhältnissen in der Funktion der volonté générale aufrechterhalten und stets aktualisiert wird. Unter dieser Prämisse erscheint es Rousseau unproblematisch, die Mehrheit bei Abstimmungen kurzerhand zum Indikator des Gesamtwillens zu erklären. Der abweichende Wille irrt, lautet die Antwort auf die Frage nach dem Recht der Minderheit.378 Damit schließt Rousseau an eine Tradition an, die bis auf das mittelalterliche Kirchenrecht zurückreicht, in dem die Mehrheit als einsichtig, als sanior pars gedeutet wurde, ein Prinzip, das freilich nicht immer geeignet war, schwelenden Dissens zu absorbieren, weil es die abweichende Meinung diskreditiert. Das Abstimmungsverfahren dient bei Rousseau 375 376 377 378
Aristoteles 1991, 1281a38 ff, 1286a25 ff. Aristoteles 1991, 1298a10. Hobbes 1839, § 97. Rousseau 1964, Kap. 2.
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als Methode, um den Konsens zu ermitteln, hat also keine legitimatorische Funktion. Es geht nicht um das Votum der einzelnen, um das Recht auf Partizipation, sondern um die Freilegung des allgemeinen Willens. Dass weder Hobbes noch Rousseau auch nur im Ansatz eine inhaltliche Begründung des Mehrheitsprinzips versuchen, erklärt sich dadurch, dass sie Mehrheit auf einen Konsens zurückführen. Trotz der Erfahrungen mit dem parlamentarischen System in England bietet auch Locke keine schlüssige Erklärung für den Einsatz des Mehrheitsprinzips. Die Behauptung, dass ein Körper, also auch ein politischer Körper sich notwendigerweise dahin bewegt, wohin die stärkere Kraft ihn treibt,379 beruft sich nicht nur auf eine fragwürdige Analogie von physischer Kraft und politischer Macht, sondern ist auch physikalisch nicht korrekt, weil auch eine schwächere Kraft noch auf die Bewegung Einfluss nimmt. Zwei entgegengesetzte Kräfte mit nur geringem Unterschied würden nur eine minimale Bewegung erlauben. Eine dritte Kraft könnte dadurch eine überproportionale Einwirkung erlangen. Genau dieser Effekt stellt sich tatsächlich dann in politischen Konstellationen ein, in denen kleine Parteien bei einer Pattsituation eine Machtfülle erreichen, die arithmetisch nicht gedeckt ist. Letztlich orientiert sich auch Locke, unerachtet der Anerkennung des gesellschaftlichen Pluralismus, an der Idee der durch Konsens gestifteten Einheit der politischen Gemeinschaft. Das ohnehin schwache formale Argument der größeren Zahl wird durch Condorcets mathematische Untersuchungen der Mehrheitswahl noch unterminiert.380 Seine Überlegungen, die durchaus realistische Abstimmungsszenarien durchspielen, zeigen unter anderem, dass bei mehrstufigen Abstimmungen ein Ergebnis erzielt werden kann, dass nur von einer Minderheit favorisiert wird. Dass auch bei komplexen Wahlsystemen der Ausgang bisweilen zu bizarren Resultaten führt und damit alles andere als legitimitätsstiftend ist, zeigen auch neuere Analysen der Logik von Kollektiventscheidungen.381 Die Paradoxien der Mehrheitsregel sind hinlänglich bekannt. Die neueren Versuche einer Begründung der Mehrheitsregel dagegen haben eher den Charakter einer Beschwörung.382 Ausgangspunkte sind in der Regel die Prinzipien der individuellen Freiheit und der Gleichheit. Aus beiden Prinzipen lässt sich aber nur auf das Konsensgebot schließen; im Übrigen lassen sich daraus nur negativ einschränkend Konsequenzen ableiten. So führen sowohl Freiheit als auch Gleichheit auf einen umfassenden Minderheitenschutz, aber nicht positiv auf das
379 380 381 382
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Locke 1960, § 96. Condorcet 1785. Leininger 2016. S. die unkritisch affirmative Darstellung Böckenförde 1991, S. 337 ff. Vom Freiheitsprinzip geht Hans Kelsen aus, vom Gleichheitsprinzip z. B. G. Leibholz.
Mehrheitsprinzip.383 Es bleibt ein Notbehelf, der überall dort in Kauf genommen wird, wo der Konsens zu schwierig, utopisch oder freiheitsgefährdend erscheint. Trotz der mangelnden Fundierung wird seit dem 18. Jahrhundert das Mehrheitsprinzip als genuin demokratisches Instrument betrachtet, aber die einschlägigen Traktate konzentrieren sich meist auf das Problem der Tyrannei der Mehrheit. Stichwortgeber ist Tocqueville, in dessen hellsichtiger Diagnose der jungen Demokratie in Amerika die Gefahr einer Allmacht der Mehrheit besondere Aufmerksamkeit findet.384 Dass die Mehrheitsregel zum Wesen demokratischer Regierung gehört, steht auch für ihn außer Frage und wird nicht eigens beleuchtet. Die Herausforderung, die sich der modernen Demokratie mit dem Mehrheitsprinzip stellt, hat indes bereits Madison formuliert: „If a majority be united by a common interest, the rights of the minority will be insecure.“385 Ist hier zunächst von einer Mehrheit im soziologischen Sinne die Rede, so lässt sich doch daraus ableiten, dass eine einfache Anwendung des Mehrheitsprinzips bei Entscheidungen nicht statthaft wäre. „There are but two methods of providing against this evil: the one by creating a will in the community independent of the majority that is, of the society itself; the other, by comprehending in the society so many separate descriptions of citizens as will render an unjust combination of a majority of the whole very improbable, if not impracticable.“386 Madison sieht die Lösung des Problems der Tyrannei der Mehrheit in der Vielzahl der Perspektiven und Meinungen, die für eine Diversifizierung der Ansichten sorgt. Mehrheitsentscheidungen gewährleisten dann, dass die Republik handlungsfähig bleibt. Unter den Bedingungen einer Pluralität von Interessen und Meinungen ist die Gefahr, dass eine Mehrheit sich programmatisch auf lange Frist etabliert, deutlich geringer. Das Mehrheitsprinzip muss überdies eingebettet sein in repräsentative Strukturen, die ebenfalls den Effekt haben, eine Unterdrückung der Minderheit zu vermeiden. Durch das Prinzip der Repräsentation lässt sich Demokratie im Maßstab eines Flächenstaats realisieren. Im Blick auf das Problem der Tyrannei der Mehrheit erweist sich die repräsentative Demokratie in den Augen ihrer Gründerväter der direkten Demokratie der Griechen als überlegen. Diese Skepsis gegenüber der Mehrheit vererbt sich bis in die Gegenwart. Die Gegenüberstellung einer majoritären und einer partnerschaftlichen Demokratie, wie sie Dworkin mit einem Plädoyer zugunsten der letzteren vorschlägt,387 setzt auf die Möglichkeit, Entscheidungen zugunsten des Volkes als Ganzem zu treffen. Sofern Demokratie als Volkssouveränität verstanden wird, ist diese Interpretation plausibel. Wenn dazu jedoch weder auf autokratische Regierungsformen noch auf Konsensmo383 Dass eine bündige Ableitung des Mehrheitsprinzips aus dem Prinzip der Gleichheit bislang nicht vorliegt, bestätigt auch Saunders 2010. 384 Tocqueville 1987, II, 7. 385 Hamilton, Madison Jay 1987, Nr. 51. 386 Hamilton, Madison Jay 1987, Nr. 51. 387 Dworkin 2012, S. 646 ff.
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delle zurückgegriffen werden soll, müssen Verfahren institutionalisiert werden, in denen sich die unterschiedlichen Interessen und Meinungen artikulieren können. In diesem Effekt liegt, neben der Funktion einer Transformation von Macht, eine weitere wichtige Bedeutung des Majoritätsprinzips. Eine tragfähige Begründung ist mit dieser Funktionslogik jedoch nicht gegeben. Aber auch die isolierte Betrachtung des Prinzips kann dessen Legitimität nicht ans Licht bringen. Carl Schmitts Analyse des Mehrheitsprinzips zeigt, dass es in abstrakter Betrachtung, und das heißt als rein arithmetische Formel, nur einen äußerst schwachen Anspruch auf Legalität erheben kann. Der Satz „Mehrheit entscheidet“ kann in dieser rohen Form kein Charakteristikum der Demokratie sein, weil die Entscheidung auf Voraussetzungen beruht, die dabei verdeckt werden. Dass eine Entscheidung per Mehrheitsbeschluss getroffen werden kann, hängt, wie Schmitt mit Recht bemerkt, „von der Richtigkeit und Möglichkeit einer einfachen, alternativen Fragestellung ab“.388 Ein wesentlicher Bestandteil der Entscheidung ist die Festlegung der Agenda und die Definition des zur Abstimmung vorgelegten Sachverhalts. In diesem Akt verbinden sich die Einschätzung der politischen Lage, die Entscheidung über die Relevanz, die rhetorische Strategie der Darstellung politischer Fragen und die Fähigkeit, realistische Alternativen zu entwerfen. Bei Personalwahlen geht der Wahl die oft viel wichtigere und strittigere Entscheidung über die Auswahl und Reihenfolge der Kandidatinnen und Kandidaten voraus. Wesentliche Aspekte der Entscheidung müssen folglich bereits vorentschieden sein, ehe es zum formellen Vorgang der Abstimmung kommt. Davon abgesehen bietet das Prinzip auch nur eine sehr dürftige Grundlage für die Legitimität der Entscheidung. Dass insbesondere bei knappen Abstimmungen in einer Konstellation mit mehr als zwei Lagern eine kleine Gruppe den Ausschlag gibt, kann bereits als problematisch im Hinblick auf die Legitimität des Ergebnisses betrachtet werden. Schmitt spitzt die Fragestellung dadurch zu, dass er das Mehrheitsprinzip aus dem Kontext einer Verfassung herauslöst, in dem es üblicherweise veranschlagt wird, und so in die Nähe tyrannischer Entscheidungen rückt. Wer Macht unterhalb einer Zustimmung von 51% ausübt, ist ein Tyrann, wer sie mit 51% ausübt, kann alles, was er tut, in legale Akte verwandeln.389 Ein rein formalistisches Legalitätsprinz führt sich nach Schmitt selbst ad absurdum. Weder Grundrechtsgarantien noch Minderheitenschutz können das Legitimitätsdefizit kompensieren, weil eine Entscheidung ja eine Veränderung bewirken soll und wirkungsvolle inhaltliche Zugeständnisse an Minderheiten gleichbedeutend wären mit einer Rücknahme oder Relativierung der Entscheidung. Schmitt glaubt, aus seiner Analyse die Konsequenz ziehen zu können, dass die Mehrheitsregel in der Tat nicht zu politisch relevanten Entscheidungen führt, sondern nur den 388 Schmitt 1989, S. 278. 389 Schmitt 1988, S. 33.
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status quo bestätigt. Dies ist eine empirische These, die ebenso gut belegt wie widerlegt werden kann. Die lapidare Bemerkung, dass das Mehrheitsprinzip nur ein begrenzt wirksames politisches Mittel sei, „alle Staatsbürger am politischen Leben zu beteiligen“390 gibt indessen einen wichtigen Hinweis auf die Funktion des Prinzips, die Schmitt deshalb nicht weiter interessiert, weil er sie nicht innerhalb seiner Topologie der Verfassung verorten kann. In der Tat führt erst die Betrachtung des Funktionszusammenhangs des Mehrheitsprinzips auf die Spur seiner legitimationsstiftenden Wirkung. Wenngleich partizipatorische Maßnahmen nicht in den Skopus verfassungstheoretischer Betrachtungen fallen, sind sie doch ein wichtiges Bindeglied zwischen der verfassungsrechtlichen Struktur einer Gemeinschaft und den darin stattfindenden Prozessen der Meinungs- und Willensbildung. Partizipation ist jedoch ein schillerndes Phänomen. Es kann rein prozedural als Teilnahmerecht verstanden werden, das auf die Artikulation individueller Interessen zielt, es kann in einem sozialpsychologischen Sinne als Anerkennung der Meinungen der Individuen gedeutet werden oder es bezieht sich auf die Chance einer faktischen Teilnahme an Entscheidungsbildungsprozessen mit der Pointe, dass damit unabhängig vom Ausgang auch die Zustimmung zum schließlich getroffenen Beschluss verbunden ist. Nur in dieser dritten Bedeutungsvariante kann der Anspruch erhoben werden, dass Partizipation die Legitimität der Entscheidung stiftet. Partizipation kann aber auch in dieser Form die Funktion der Entscheidung nicht ersetzen. Die Idee der Demokratie führt vielmehr unter Voraussetzung der idealiter angenommenen Beteiligung aller zu der Situation, in der entschieden werden muss. Bekanntlich lassen sich Entscheidungsprozesse unterschiedlich gestalten. Die einfache Mehrheit ist nur die schlichteste, aber deshalb nicht weniger akzeptable Form. Andere Formen wie die qualifizierte Mehrheit, bestimmte Quoren, zweistufige Wahlprozesse mit einer Stichwahl und vergleichbare Verfahren relativieren zwar die schroffe Entgegensetzung von zwei Parteien und suchen der schließlich erfolgenden Mehrheitsentscheidung eine höhere Legitimation zu geben, aber letztlich münden sie in die allen partizipativen Entscheidungen zugrunde liegende Relation von Wahlsiegern und Wahlverlierern, von Mehrheit und Minderheit. Komplizierter ist die Situation, wenn sich in einem Mehrparteiensystem unterschiedliche Koalitionen anbieten. In der Regel sind die Koalitionen nicht Gegenstand einer Wahl, obwohl sie ex post als Resultat der Wahl dargestellt werden. Die Lautstärke der Legitimationsrhetorik steht in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur Legitimation durch den Willen der Wählerinnen und Wähler. Sie hat die Funktion einer nachträglichen Approbation dessen, was gar nicht zur Wahl gestanden hat. Eine Entkoppelung der politischen Entscheidung vom Wahlverfahren besteht schließlich auch in der meist unklaren Kombination von Person und Programm.
390 Schmitt 1989, S. 282.
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Handelt es sich vorrangig um einen Personenwahl, dann stellt die demokratische Wahl eine Delegation von Entscheidungsbefugnis dar. Es wird keine direkte politische Entscheidung gefällt, sondern verfügt, wer entscheiden soll. Die Vereinbarung lautet dann, dass diese Folgeentscheidungen pauschal und vorab als legitim zu erachten sind, wie auch immer sie ausfallen. Die damit verbundenen Erwartungen und ebenso die Enttäuschungsgefahr sind außerordentlich hoch. Stehen Programme im Vordergrund, so lasse sich damit Entscheidungsspielräume definieren, die jedoch erfahrungsgemäß nicht notwendig dazu führen, dass Entscheidungen tatsächlich gefällt werden. Am Ende einer Wahlperiode ist in der Regel der bilanzierende Vergleich zwischen angekündigtem Programm und Ergebnis sehr ernüchternd und zeigt nicht nur eine Reihe abweichender, sondern vor allem nicht vollzogener Entscheidungen. Dem damit verbundenen Vertrauensverlust versuchen die Parteien in der Regel durch eine möglichst unverbindliche und diffuse Formulierung des Programms zu entgehen. Direktdemokratische Entscheidungen können zwar im Einzelfall einen höheren Legitimitätsanspruch erheben, bezahlen dies aber damit, dass die eigentliche Entscheidung bereits mit der Themensetzung und der Formulierung von Alternativen gefallen ist. Es verwundert deshalb nicht, dass die Ergebnisse tendenziell den status quo stabilisieren und wirkliche Initiativen nur sehr schwer auf den Weg gebracht werden können. Das Beispiel der Schweiz zeigt, dass direktdemokratische Wahlentscheidungen primär eine pädagogische Bedeutung besitzen. Die elementare Form der Teilnahme stabilisiert den Zusammenhalt und das Bewusstsein der kollektiven Verantwortung, lässt aber kaum Innovationen zu.391 Das Mehrheitsprinzip ist im Wahlrecht moderner Verfassungen auf unterschiedliche Weise umgesetzt. Idealtypisch lässt sich das Mehrheitswahlrecht vom Verhältniswahlrecht unterscheiden. Ihr Legitimitätsanspruch differiert deutlich. Während das Verhältniswahlrecht der Idee einer politischen Einheit verpflichtet ist, die im Ergebnis der Wahl zum Ausdruck kommen soll, verbindet sich mit dem Mehrheitswahlrecht die Idee formaler Gleichheit aller Wahlberechtigten, aus deren Stimmenzahl sich das Ergebnis ablesen lässt. Das Verhältniswahlrecht setzt stärker auf den Gedanken der Repräsentation, in der sich das Meinungsbild der Wählerschaft zeigt. Im Ergebnis zeigt sich dann auch die Vielfalt der Dispositionen. Vom Wahlergebnis bis zur Etablierung einer arbeitsfähigen Regierung ist es deshalb auch oft noch ein langer Weg. Ob das Ergebnis sich durch den Wahlausgang legitimiert, ist nicht per se gesichert, weil sich das Meinungsspektrum, das sich in den unterschiedlichen Gruppierungen ausdrückt, selten im Gesamtergebnis widerspiegelt, das nur durch Kompromisse oder wechselseitige Zugeständnisse zustande kommt. Das Mehrheits391 Im Übrigen profitiert die Schweiz vom Sonderstatus eines Landes, dass sich in vielen relevanten Bereichen jeder Entscheidung entzieht und die Entscheidungsrisiken anderen Nationen überlässt.
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wahlrecht dagegen wirkt strukturierend mit der Fokussierung auf eine dominierende und deshalb entscheidungsbefugte Gruppe. Dieses Wahlverfahren zwingt im Vorfeld der Wahl zu Kompromissen und starker rhetorischer Vereinheitlichung. Idealiter konzentriert sich die Wahlstrategie auf eine Person. Das Ergebnis der Mehrheitswahl lässt sich direkt in Entscheidungen ummünzen, die zumindest bei einer halbwegs aufgeklärten Wählerschaft auch Akzeptanz finden sollte. Trotz der unterschiedlichen Ausrichtung beider Verfahren koinzidieren sie darin, dass sie der Einheit der Nation Ausdruck zu verschaffen suchen und damit die Legitimität der Entscheidungsbefugnis begründen. Beide generieren dabei aber eine Konstellation, die dieser Absicht diametral entgegensteht. Das Verhältniswahlrecht schafft eine Zersplitterung in Gruppeninteressen, die nur notdürftig durch die recht willkürliche Hürde eines bestimmten Quorums limitiert werden kann. Das Mehrheitswahlrecht wirkt exklusiv, weil es die Stimmen der Minderheit neutralisiert und Differenzen absorbiert. In beiden Verfahren erweist sich das Mehrheitsprinzip als ein äußerst unvollkommenes Mittel der Legitimation politischer Entscheidungen. Ein deutlicher Vorzug eines der beiden Verfahren ist nicht erkennbar. Die Herstellung von Mehrheiten ist nicht demokratischer als die Erhebung von Gruppeninteressen, aus denen dann durch Parteidiplomatie eine entscheidungsfähige Koalition geschmiedet werden muss. Das in Deutschland praktizierte personalisierte Verhältniswahlrecht bietet eine Kombination beider Verfahren, die deshalb nicht die Defizite vermeidet, aber in ihrer Wirkung abschwächt. In allen westlichen Demokratien lässt sich beobachten, dass die Legitimationswirkung von Wahlentscheidungen sinkt. Das lässt darauf schließen, dass sich die politische Repräsentation, deren Krise sich unverkennbar abzeichnet,392 nicht allzu sehr auf das den Wahlverfahren in allen Varianten zugrunde liegende Prinzip der Mehrheit stützen kann. Als nüchternes Ergebnis muss festgehalten werden, dass die Legitimität einer durch Mehrheitsbeschluss herbeigeführten Entscheidung nicht sehr hoch angesetzt werden kann. Das bedeutet nicht, dass Mehrheitsentscheidungen deshalb überflüssig wären. Sie sind vielmehr ein Instrument demokratischer Entscheidungsfindung, das unverzichtbar ist. Ihre demokratische Qualität ist jedoch nicht wirklich zufriedenstellend geklärt.393 Sie bilden das Pendant zu den Zeremonien höfischer Repräsentation, die in Europa seit der römischen Kaiserzeit kultiviert werden und in den Protokollen des sogenannten Absolutismus ihren glanzvollen Höhepunkt finden, aber auch in außereuropäischen Herrschaftsformen von tragender Bedeutung sind. Es wäre einseitig, darin nur den Täuschungscharakter und die ideologische Funktion sehen zu wollen, die freilich auch zu registrieren ist. Ihre Legitimationswirkung ist indes nicht zwingend geringer als die demokratischer Wahlen, deren manipulatives 392 Manow 2020. 393 Pierre Rosanvallon spricht davon, dass das Majoritätsprinzip als praktische Notwendigkeit in die demokratischen Verfassungen fast hineingeschmuggelt wurde (Rosanvallon 2013a, S. 41).
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Zustandekommen hinlänglich bekannt ist. Wahlen sind die nüchternen, im Stil von Verwaltungsakten durchgeführten Rituale der modernen Massendemokratie, die ihre Bürgerinnen und Bürger bezeichnenderweise im Akt der Entscheidung isoliert und anonymisiert. Erst durch entsprechende mediale Einbettung erhält die Wahl den Rang eines kollektiven Ereignisses, in dem sich das Ganze zu erkennen gibt. Unter bestimmten Voraussetzungen kann jedoch der Legitimationsanspruch demokratischer Entscheidungen höher sein als der anderer Herrschaftsordnungen. Das wichtigste Moment ist die Veränderung der Machtbasis selbst. Regelmäßige Wahlen sorgen für eine Neubesetzung der politischen Ämter, für eine Korrektur der Programme und zumindest im Ansatz für ein Feedback. Im Vergleich zu dieser Wirkung ist das Ergebnis einer Wahl unter normalen Bedingungen, das heißt, solange keine extremistischen Kräfte im Spiel sind, zweitrangig. Diese Diagnose ist kontraintuitiv, da natürlicherweise alle Beteiligten am Output einer Wahl interessiert sind. Wenn dennoch behauptet werden kann, dass der Prozess einer Wahl, die vorausgehende Meinungsbildung, die Deliberation, die Beratung, die Absprachen und Verständigung im Blick auf mögliche Koalitionen letztlich entscheidend sind, so sind dabei auch die möglichen Ergebnisse, die durch diesen Prozess vorgeprägt werden, miteinbezogen. Aber demokratisch im strengen Sinne ist nicht die Anwendung der Mehrheitsregel, sondern der Prozess, in den sie eingebettet ist. Nicht zufällig findet die Frage der Einschränkung des Mehrheitsprinzips in den einschlägigen Abhandlungen mehr Aufmerksamkeit als die Versuche der Begründung selbst. So ergibt sich der Eindruck, dass im strengen Sinne demokratisch weniger das Majoritätsprinzip selbst als die spezifische Form seiner Begrenzung und Modifikation ist Der Prozess demokratischer Entscheidung beginnt bereits im Vorfeld mit dem Agenda Setting, der rhetorischen Modellierung und den Versuchen, einem Thema durch Information und andere Maßnahmen die erwünschte Aufmerksamkeit zu verschaffen, falls nicht die Situation selbst dafür sorgt, dass sich ein mobilisierender Effekt einstellt. Die Ausbildung von Optionen und die Rekrutierung von engagierten Mistreitern ist ebenso wichtig wie die Orientierungsfunktion für diejenigen, die sich nicht aktiv beteiligen, aber sich im Hinblick auf die Wahl selbst positionieren. Mehrheitsverhältnisse sind in den seltensten Fällen schlicht gegeben, sie müssen sich vielmehr ausbilden durch die Sondierungen und Gruppenbildungseffekte, die ein umstrittenes Thema auslöst. Mehrheiten sind kein Faktum, sondern das Ergebnis eines komplexen und nur begrenzt beeinflussbaren Prozesses der Meinungsbildung. Dies gilt natürlich ebenso für die Minderheiten, die sich in Bezug auf eine Mehrheit etablieren. Anders verhält es sich mit Gruppen, die aus historischen Gründen, sei es aufgrund ethnischer oder Prägungen oder Sprachgrenzen habituell dazu tendieren, sich als Minderheit zu begreifen oder von der Mehrheit als Minderheit stigmatisiert werden. Die Differenz zwischen anlassbezogenen Minderheiten und
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strukturellen Minderheiten wird üblicherweise mit dem Konzept der Identität indiziert. Demokratietheoretisch ist es höchst problematisch, den Minderheitsstatus als unantastbares und absolutes Recht zu behandeln. Die Berufung auf eine sogenannte Identität hat immer auch Segregationswirkung. Die ausufernde Debatte über Multikulturalismus394 hat gezeigt, dass es ein breites Spektrum an Organisationsformen gibt, die es erlauben, Differenzen zu wahren und die Anerkennung unterschiedlicher Identitäten so zu gestalten, dass die Aufrechterhaltung der Differenzen im Rahmen akzeptierter Spielregeln integrativ wirkt. Angesichts der realen Gefahr der Stabilisierung von Parallelgesellschaften, die zweifellos als desintegrativ einzuschätzen sind, wird meist übersehen, dass auch die Bildung von Mehrheiten und Minderheiten eine unverzichtbare integrative Funktion besitzt. Rousseaus Vision einer Suspendierung aller Tradition und Verbindlichkeiten zugunsten der restlosen Identifikation mit der Allgemeinheit kann jedenfalls kein Maßstab sein, weil darin unverkennbar eine totalitäre Tendenz liegt. Die Erzwingung der Allgemeinheit durch die Absorption der Individualität ist nicht nur nicht demokratisch, sondern markiert den Umschlag von Politik in Gewalt. Auch die Bildung einer Minderheit ist ein integrativer Akt. Ausgehend von einer zersplitterten Szenerie unendlicher Einzelmeinungen befördert ein Mehrheitsbeschluss die Bildung von übergreifenden Clustern. Im Unterschied zu strukturellen Minderheiten sind meinungsbasierte Minderheiten Teil der Dynamik der Gesellschaft und können sich leichter umorientieren. Aber auch im Falle struktureller Minderheiten ist nicht von einer essentialistischen Fixierung auszugehen. Hier kommt es vielmehr darauf an, die traditionalistischen Muster in Meinungsbilder zu übersetzen, die eine Disponibilität und die Verständigung im Medium der Meinungen ermöglichen. Obgleich es unrealistisch wäre, dadurch einen Konsens zu erreichen, lassen sich doch Differenzen so zumindest darstellen und verhandeln. Die wohlfeile Mahnung, Differenzen zu akzeptieren und Identitäten anzuerkennen, ist nur im Kontext einer Transformation von Differenzen in Meinungsunterschiede berechtigt und sinnvoll. Auf der Folie ethnischer oder traditionsbedingter Differenzen stellt diese Transformation eine Internalisierung und Verflüssigung ansonsten statischer Unterschiede dar. Dazu leisten die Prozesse der Meinungsbildung, die Mehrheitsentscheidungen vorausgehen, einen wertvollen Beitrag. Aus dem factum brutum einer Mehrheit kann nicht auf ein absolutes Recht geschlossen werden. Oft besteht nur ein marginaler Unterschied zwischen Mehrheit und Minderheit. Es wäre absurd, daraus eine uneingeschränkte Entscheidungsbefugnis zu deduzieren. Die in Verbindung mit dem Mehrheitsprinzip nachgeschobene moralische Verpflichtung, die Anliegen der Minderheit wahrzunehmen, kann die
394 Exemplarisch Kymlicka 1999. Taylor 2009.
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Fragwürdigkeit eines Mehrheitsrechts nicht kaschieren. Bei harten, binären Entscheidungen ist dies ohnehin kaum möglich. Allerdings ist es nicht bedeutungslos, dass die unterlegene Ansicht rhetorisch gewürdigt wird. Aber dies ist ein symbolischer Akt, der seine Wirkung indirekt entfaltet. Er ist der äußere Reflex der Akzeptanz der Entscheidung durch die Unterlegenen. Die Anerkennung der Entscheidung durch die Minderheit bezieht sich nicht auf den Inhalt der Entscheidung, wie in der Folgepflicht des kanonischen Rechts, sondern auf das Procedere der Abstimmung im formalen Sinne. Sie lässt den Dissens bestehen. Sie ist im Grunde nichts anderes als die Bekräftigung der Voraussetzungen, die der Wahlentscheidung zugrunde liegen. Wie bei einer Wette akzeptieren die Teilnehmer den Ausgang, auch wenn er hinsichtlich seiner inhaltlichen Ausrichtung nicht erwünscht ist, da sie den Ausgangsbedingungen des Verfahrens zugestimmt haben. Neben der oben genannten meinungsbildenden Funktion ist dieser Akt der Versittlichung von Differenzen ein wesentlicher Bestandteil des Wahlverfahrens. Der potentielle Feind wird zum politischen Gegner, ein Verhältnis, das als eine konstruktive Auseinandersetzung gestaltet, zumindest aber im Raum des Rechts kanalisiert werden kann. Der Status des Mehrheitsprinzips im Rahmen einer demokratischen Verfassung wird folglich nicht dadurch definiert, dass sich aus der zahlenmäßigen Überlegenheit eine Entscheidungsbefugnis ableiten lässt, sondern durch seine faktisch und normativ ausgewiesene Integrationsfunktion. Dieser Effekt zeitigt sich indes nicht unter allen Bedingungen. Bei ungünstiger Ausgangslage und mangelnder politischer Kompetenz der Protagonisten können Mehrheitsentscheidungen Dissens verstärken oder zementieren und damit das Gegenteil von Integration bewirken. Insgesamt aber ist die Modellierung des Verfahrens ausschlaggebend für den Integrationseffekt und damit für die Legitimität nicht nur der einzelnen Entscheidung, sondern des institutionellen Rahmens. Es lassen sich drei unterschiedliche Typen identifizieren.395 Wenn die Entscheidungsfindung dem Modell der consociation folgt,396 das die Integrität der Gruppen bestätigt und einen Proporz aller anstrebt, ist damit zwar dem demokratischen Ideal einer einvernehmlichen Entscheidung Rechnung getragen, die Entscheidung selbst lässt sich dann aber nur im engen Rahmen fällen. Die einzelnen Gruppen agieren im Bewusstsein ihrer Vetomacht und blockieren alle Lösungen, die sie nicht als vorteilhaft im Sinne ihrer speziellen Interessen begreifen. Das Modell befördert und zementiert die Segmentierung der Gesellschaft. Der Staat agiert als Moderator, der die gemeinsamen Anliegen so aufbereiten muss, dass er dafür Mehrheiten findet. Dieses Modell der Entscheidungsfindung bildet föderative Strukturen 395 Die Darstellung folgt dem Überblick von Obrecht 2013. Obrecht unterscheidet zwischen Konsoziation, Integration und Assimilation, behandelt die Modelle aber aus der Perspektive der Einschränkung des Mehrheitsprinzips. Das Problem der Legitimität bleibt dabei im Hintergrund. 396 Lijphart 1977; s. auch Lijphart 2008.
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ab und kann im optimalen Fall zu einer Kooperation der Gruppen führen, eine Einheit im Sinne des in der Ausübung der Volkssouveränität sich artikulierenden Gesamtwillens rückt damit in weite Ferne. Das andere Extrem ist die Subordination gemäß der strengen, direkten Anwendung der Mehrheitsregel. Hier wird die Mehrheitsentscheidung kurzerhand als Äquivalent einer konsensuellen Entscheidung deklariert. Die Erfolgsgeschichte des Nationalstaates hängt wesentlich davon ab, dass gruppenspezifische Eigenschaften hinter dem Gleichheitsprinzip zurückgetreten sind. Dieses Modell kann beanspruchen, einerseits den universalen Prinzipien formaler Freiheit und Gleichheit der Einzelnen Rechnung zu tragen und andererseits die Einheit des Volkes als politisches Subjekt zu gewährleisten. Kulturelle Traditionen können sich dann nur noch in den Freiräumen entfalten, die das Rechtssystem erlaubt, aber sie dürfen nicht auf affirmative Maßnahmen hoffen. Die Mehrheitsentscheidung suggeriert Einheit auf Kosten der Besonderheit und widerspricht zugleich der Einheit durch die numerische Teilung der Gesellschaft. Politisch äußert sich dieser Widerspruch darin, dass der von der Mehrheit ausgehende Erwartungsdruck auf Assimilation zielt. Das Integrationsmodell als dritte Variante steht in gewisser Hinsicht zwischen diesen beiden Modellen, ist aber nicht als Kompromiss zu verstehen, sondern zielt auf ein Maximum dessen, was Mehrheitsverfahren im besten Fall zu leisten Vermögen: die Integration der Vielen im Sinne der Vermittlung von Pluralität und Einheit, von Vielfalt der Lebensformen und Überzeugungen auf der einen Seite und entscheidungsfähigem Gesamtwillen auf der anderen Seite. Anders als bei der consociation und der Subordination ist die Integrationswirkung hier nicht ein Nebeneffekt, sondern das eigentliche Ziel. Dabei kommt es vor allem auf die Qualität der Prozesse der Meinungsbildung an. Sie müssen so moderiert werden, dass ethnische, religiöse und sonstige gruppenspezifische Besonderheiten berücksichtigt, aber nicht als feste Größen positiv oder negativ sanktioniert werden. Gruppenidentität wird nicht gefördert, darf aber auch nicht diskriminierenden Maßnahmen ausgesetzt sein. Das leitende Prinzip der Integration ist die Anerkennung der Einzelnen als Mitglieder des Ganzen. Dazu ist es nicht hinreichend, an das Kriterium formaler Gleichheit aller Mitglieder zu appellieren, denn dieses blendet erstens die Besonderheit aus und vermag zweitens den Horizont des Allgemeinen, die gemeinsame Handlungsperspektive nicht darzustellen. Respektierung der besonderen Voraussetzungen im Kontext politischer Auseinandersetzung bedeutet, die Anderen als Individuen wahrzunehmen, nicht nur als Menschen oder Personen, wenngleich diese Kategorien die zivilgesellschaftlichen Voraussetzungen für einen fairen Umgang miteinander abstecken. Die Anerkennung der Individualität bestätigt sich darin, dass der Status der Mitgliedschaft, im politischen Sinne also der Bürgerschaft, eine zentrale Rolle einnimmt sowohl im Vorfeld als auch im Ergebnis der Willensbildung. Strategisch betrachtet
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müssen die Nachteile der Isolierung einer Gruppe ebenso deutlich gemacht werden wie die hohen Kosten und Kollateralschäden einer auf Homogenität und Konsens setzenden politischen Entwicklung. Dies sind jedoch lediglich die negativen Maßnahmen, die eine Desintegration verhindern sollen. Der positive Effekt der Integration ergibt sich daraus, dass die Möglichkeit der Teilhabe als leitender Gesichtspunkt der Auseinandersetzungen fungiert. Mitgliedschaft bedeutet nicht zwingend Partizipation im engeren Sinne, zumal auch diejenigen, die eine Mehrheitsentscheidung unterstützen, dadurch nicht realiter aktiv an der Entscheidung mitgewirkt haben. Dies kann ernsthaft nur von den Protagonisten der Meinungsbildung behauptet werden. Mitgliedschaft bedeutet aber, dass die Position derjenigen, die eine Minderheitsmeinung vertreten, in die Debatten mit einbezogen werden. Öffentliche Meinungsbildung muss deshalb so angelegt sein, dass die Individuen mit ihrer besonderen Prägung, ihrer kulturellen Identität und lebensweltlichen Präferenzen die Chance auf Beteiligung am Diskurs erhalten und wahrgenommen werden. Maßstab der Beteiligung ist nicht zwingend die Partizipationswirkung im Sinne der Durchsetzung der Interessen. Bereits die Konstituierung der Opposition ist ein wichtiger Bestandteil des Integrationsprozesses, denn die opponierende Gruppe wird darin als Teil des Ganzen bekräftigt und muss ihrerseits versuchen, sich so zu präsentieren, dass die eigene Sache auch potentiell als gemeinsames Anliegen registriert werden kann. Minderheitenschutz ist nicht Selbstzweck, sondern Bestandteil des Integrationsprozesses. Es gilt, weder die dominante Kultur noch die Minoritäten zu fixieren; tendenziell ist vielmehr darauf hinzuwirken, dass sich die Identitäten verflüssigen statt zu petrifizieren. Individualität behauptet sich nicht durch bewegungsloses Beharren auf dem je Eigenen, dem idion, sondern durch die Fähigkeit, sich auf dem Forum der Allgemeinheit zu präsentieren. Deshalb kommt dem agonistischen Moment in der Politik, das Chantal Mouffe zu Recht betont, eine besondere Bedeutung zu insbesondere im Hinblick auf die Integrationswirkung der politischen Willensbildung.397 Der Kontrahent der politischen Auseinandersetzung ist nicht nur, wie in der liberalen Auffassung, der Konkurrent, sondern der Opponent, der zu Recht erwarten kann, dass die Anderen sich mit ihrer Meinung in Bezug auf die eigene Meinung positionieren. Unerachtet des Anspruchs auf Richtigkeit wird dadurch deutlich, dass Meinungen keine privilegierten Standpunkte zum Ausdruck bringen, dass sie perspektivisch und parteilich sind und dennoch in dieser Einseitigkeit einen Beitrag leisten können in dem Versuch, das allgemeine Beste zu eruieren. Die Anmaßung einer Partei, das Ganze in einem privilegierten Zugriff darzustellen, ist dagegen das unverkennbare Indiz populistischer Infragestellung des Verfahrens demokratischer Willensbildung. 397 Mouffe 2007; Mouffe 2014. Irritierend an Mouffes Vorschlag ist allerdings die dogmatische Festlegung auf das Hegemonieprinzip, dass sich nicht einer Analyse des Meinungsaustauschs, sondern einer geschichtstheoretischen Konstruktion verdankt.
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Das Mehrheitsprinzip strukturiert Entscheidungsverfahren, indem es politische Auseinandersetzungen kanalisiert und einen friedlichen Wettkampf der Überzeugungen erlaubt. Seine Legitimationsfunktion beruht weniger auf der numerischen Differenz als auf der vorausgehenden Vereinbarung. Oft liegt der Unterschied kaum über der Zufallsmarge von Entscheidungen. Unerachtet dieses dezisionistischen Momentes ist die Entscheidung kraft Mehrheit pazifizierend. Zwar sind die Differenzen damit nicht aufgehoben, aber kanalisiert und strukturiert. Sie werden handhabbar für künftige politische Auseinandersetzungen. Dass die Minderheit zur Mehrheit werden kann, wie oft bemerkt, wäre ein schwacher Trost, wenn es um Entscheidungen geht, die nicht rückgängig gemacht werden können. Politisches Handeln lässt sich nur in seltenen Fällen einfach revidieren. Aber die Formung von Konflikten durch die integrative Kraft der Willensbildung, die auf ein Wahlverfahren fokussiert ist, macht ein Anschlusshandeln möglich. Dass eine nächste Wahl sinnvoll ist und erstrebt wird ist ein Ergebnis der integrativen Wirkung des Mehrheitsprinzips. Der Schutz der Minderheit gegenüber der dominanten Mehrheit ist in der modernen Verfassung auf mehreren Ebenen gewährleistet. Zum einen sorgen die Grundrechte für elementare, unantastbare Standards. Das Prinzip der Gleichheit durchzieht das Recht insgesamt und setzt der Mehrheit enge Grenzen. Ein parlamentarisch organisiertes Repräsentativsystem vermag die Gefahr einer Tyrannei der Mehrheit zu reduzieren. Die Benachteiligung struktureller Minderheiten kann durch rechtstaatliche Prinzipien allerdings nicht völlig ausgeschlossen, aber durch angemessene Formen der Repräsentation und daraus folgende Maßnahmen reduziert werden. Die öffentliche Meinung moderner Gesellschaften zeigt zunehmende Sensibilität für Fragen der Minderheit. Die Grenze zwischen Minderheitenschutz und einer Durchsetzung von Interessen der Minderheiten sind fließend und lassen sich rhetorisch allzu leicht überspielen. Letztlich ist es eine Frage der politischen Repräsentation, wie Mehrheiten und Minderheiten sich im Rahmen einer Verfassung abstimmen. Eine Überdehnung der Grundrechte dagegen zugunsten der Interessen von Minderheiten wirkt meist desintegrativ und untergräbt die Legitimität der politischen Entscheidungen.
5.) Das Drama der Repräsentation Politik ist die Regelung und Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten. Diese Bemühungen sind mehr oder weniger normativ ausgerichtet. In den modernen Staaten verbürgen die Verfassungen das normative Gerüst und hohe rechtliche Standards. Je höher der normative Anspruch, desto höher ist der Organisationsgrad einer Gemeinschaft, weil die Realisierung normativer Vorgaben wie beispielsweise der Gewaltenteilung eine entsprechende institutionelle Infrastruktur voraussetzt. Deshalb steigt
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die Intensität der Macht mit den normativen Erwartungen. Das liberale Misstrauen gegenüber Macht und die utopischen Programme einer möglichst weitgehenden Reduktion von Herrschaft, die auch die Konzepte deliberativer Demokratie bestimmen, sind blind für diesen Zusammenhang. Politik ist die Ausübung von Macht398 und Demokratie gilt als die Herrschaftsform, in der die Macht vom Volk ausgeht. Damit verbindet sich die Hoffnung, ein Maximum an legitimierter Macht zu realisieren, sofern alle an der Gestaltung der gemeinsamen Angelegenheiten beteiligt sind. Macht über sich selbst auszuüben gilt nicht nur als die erträglichste Form der Herrschaft, sondern auch als der einzige Modus, in dem die Individuen frei bleiben, so lautet das Versprechen, dass sich mit der Idee von Demokratie verbindet. Dies ist gewiss eine fast karikaturhaft idealisierte Vorstellung von Demokratie. Ihr Urheber ist Rousseau. Ihm gilt Repräsentation als ein Hindernis wahrer Demokratie und der Begriff einer repräsentativen Demokratie als Widerspruch. Dieses Modell einer identitären Demokratie erscheint auch heute noch attraktiv. Carl Schmitt hat die Identität von Herrscher und Beherrschten zum Definitionskriterium der Demokratie erklärt.399 Aber auch Hannah Arendt folgt Rousseau in der Ablehnung repräsentativer Formen der Demokratie. In jüngerer Zeit treten vor allem die Vertreterinnen und Vertreter der Positionen sogenannter radikaler Demokratie mit Gegenentwürfen zum Konzept repräsentativer Demokratie in Erscheinung.400 Tatsächlich ist Repräsentation kein genuin demokratisches Prinzip. Es findet sich bereits in spätmittelalterlichen Herrschaftskonstellationen und im Absolutismus. Das bedeutet indes nicht, dass Repräsentation Demokratie unterminiert oder einschränkt. Umgekehrt gilt: Wirklich direkt im Sinne der Identität von Volk und Herrscher ist auch eine direkte Demokratie nicht. Die Formel der Identität von Regierenden und Regierten ist nicht wörtlich zu nehmen, weil damit die Idee von Regierung sich erübrigen würde. Herrschaft oder Regierung setzt die Differenz von Regierenden und Regierten voraus, die in der direkten Demokratie durch entsprechende Verfahren statuiert und dann wieder vermittelt wird. Auch in direktdemokratischen Konstellationen gibt es komplexe Meinungsbildungsprozesse, wechselseitige Einflussnahme, Autoritäten und schließlich Instanzen, die den Willen der vielen artikulieren und umsetzen. Rousseau hat keinen Zweifel daran gelassen, dass die volonté générale und die volonté de tous nicht identisch sind. Die Entscheidung des Allgemeinwillens wird erst dadurch zu einem Akt der Herrschaft, dass die vielen nicht per definitionem mit dem Volk identisch sind.
398 Auf diesem Prinzip basieren auch die Überlegungen von Mouffe. Ihr agonistisches Demokratiemodell ist geeignet, das spezifisch Politische der Demokratie zu identifizieren. Sie vernachlässigt dabei jedoch die Bedeutung der institutionellen Infrastruktur. S. bes. Mouffe 2008. 399 Schmitt 1989, S. 234. 400 Einen guten Überblick bieten Comtesse, Flügel-Martinsen, Martinsen, Nonhoff (Hrsg.) 2019.
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Bis heute bildet die Idee direkter Demokratie einen Stachel im Fleisch der repräsentativen Demokratie. Zu den zeitgenössischen Erscheinungsformen direktdemokratischer Strategien gehören die in den Verfassungen gegebenenfalls vorgesehenen plebiszitäre Verfahren und die nicht institutionalisierten, aber für die Meinungsbildung unverzichtbaren Aktivitäten der Meinungsforschung. Beide Formen werden in der politiktheoretischen Debatte verbunden mit der Annahme, dass durch direkte, unbeeinflusste und unverfälschte Erhebung der Meinungen, durch isolierte Befragung Einzelner der Wille des Volkes authentischer ermittelt werden kann als durch Wahlen, Abgeordnete und Parlamente. Aber damit wird der Prozess der Meinungsbildung selbst ausgeblendet, der als rhetorisches Geschehen der demoskopischen oder plebiszitären Abfrage vorausgeht. Politisch entscheidend ist, welche Fragen zu welchem Zeitpunkt mit welchen Alternativen gestellt werden. Politische Problemlagen lassen sich selten auf ein binäres Schema reduzieren. Direktdemokratische Verfahren sind deshalb so direkt nicht, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Sie sind repräsentativ, aber verdecken diese Funktion, weil sie die Machtprozesse kaschieren, die der Artikulation der Meinungen vorausgehen und diese begleiten. Ihre Interpretation als sogenannter Wille des Volkes schließlich ist ausnahmslos arbiträr, ihr Zustandekommen meist fragwürdig, intransparent und leicht manipulierbar. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass eine direkte, isolierte Erhebung der Meinungen Einzelner authentischer ist und die Interessen der Betroffenen unverstellt zum Ausdruck bringt. Dies kann allenfalls für Einzelentscheidungen gelten, die auf einer eindeutigen Alternative beruhen und deren Konsequenzen leicht überschaubar sind. Grundsätzlich aber gilt, dass Entscheidungen ein langer teils informeller teils institutionell strukturierter Prozess der Meinungsbildung voraus geht, der ein nicht unwesentlicher Faktor politischer Macht ist. Auch die Meinungsbildungsprozesse direktdemokratischer Entscheidungen basieren auf repräsentativen Strukturen. Selbst die anonymen Befragungen erfolgen in der Regel auf der Folie öffentlicher Diskussionen, einer allgemeinen Aufmerksamkeit und einer besonderen Stimmung unter dem Einfluss von Medien, Meinungsführern und besonderen Umständen, die an der Themensetzung mitwirken. Diese Faktoren prägen Meinungen nicht nur in einem kausalen Sinne, sondern kanalisieren, strukturieren und verstärken Trends, konstruieren sachliche oder strategische Zusammenhänge, setzen Alternativen und konturieren Perspektiven der künftigen Entwicklung. Auch dies sind repräsentative Verfahren, ebenso wie die aufwiegelnden Redner einer Demonstration oder Maßnahmen, die direkt-demokratische Verfahren anregen und moderieren. Allerdings sind diese Strukturen informell und hochkontingent. Direkte Demokratie ist in der Tat diejenige Form der Demokratie, die ihre repräsentativen Strukturen kaschiert und verleugnet, statt sie zur Disposition zu stellen. „Der
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direkt-demokratische Mantel verhüllt die Repräsentationsstruktur“.401 Noch die Diskussion über das Verfahren und die Rolle einzelner Akteure, also das repräsentative Setting einer Auseinandersetzung, gerät in einem spontan organisierten Ambiente zum Kampf um Einfluss, der sich direkt-demokratisch geriert, in Wahrheit aber repräsentative Strukturen nutzt. Damit kommt zum Ausdruck, was auch in explizit repräsentativen Strukturen gilt und von deren Kritikern moniert wird: Repräsentation ist immer auch ein Modus von Macht. Wie sind diese Machtprozesse, die demokratische Willensbildung unweigerlich prägen, einzuschätzen? Meinungsbildung und -äußerung stellen keine Form der Herrschaft dar. Ihre Funktion besteht nach demokratietheoretischer Auffassung in der Legitimation politischer Macht. Wie kann es eine Grundlage von politischer Macht geben, wenn diese Begründung nicht selbst ein Akt der Macht ist? Dieses Rätsel löst sich auf, wenn die fundamentale Unterscheidung realisiert wird zwischen regulativer Macht oder Herrschaft im Sinne Max Webers und operativer Macht oder Handlungsmacht, ein Konzept, das in der Antike terminologisch als dynamis von Herrschaft (arché) unterschieden wird. Von diesen Formen ist wiederum zu unterscheiden der Typus der konstitutiven Macht, der idealiter in der Wirklichkeit der Verfassung verkörpert ist.402 Meinungs- und Willensbildung entsprechen dem Modus der Handlungsmacht. Im Medium der Meinungen werden Handlungsoptionen erwogen, beurteilt, favorisiert oder abgelehnt. Die Sphäre gesellschaftlichen Handelns ist davon geprägt. Dies ist nicht gleichbedeutend mit Herrschaft. Um auf die Sphäre der Herrschaft einzuwirken, bedarf es der Übertragung von Befugnissen, der Transformation von Meinungsmacht in legislative Macht. Demokratie ist keine Identität von Autoren und Adressaten der Gesetze, wie Carl Schmitt insinuiert; zwischen beiden Rollen besteht offensichtlich eine Differenz, auf deren Basis eine Beziehung erst möglich wird. Strukturell ausdifferenziert ist dieses Verhältnis durch Hegels Unterscheidung von Gesellschaft und Staat. Diese Differenz ist ein Garant für Freiheit, denn indem es keine direkte kausale Koppelung gesellschaftlicher Kräfte und staatlicher Maßnahmen gibt, ist auch umgekehrt das Durchgriffsrecht des Staates auf die Gesellschaft beschränkt. Totalitäre Staaten verleugnen diese Differenz, populistische suchen sie zu relativieren. Auch der hemmungslose Lobbyismus unserer Gegenwart ist ein Resultat mangelnder Differenz von Gesellschaft und Staat. Repräsentation an der Nahtstelle von operativer und regulativer Macht dient nicht primär der Verbindung, sondern der Aufrechterhaltung der Trennung beider Sphären. Dies ist der funktionale Sinn politischer Repräsentation, die den Abstand zwischen Gesellschaft und Staat nicht aufhebt, sondern bekräftigt, um ihn zu thema-
401 Böckenförde 1991, S. 385. 402 Dazu grundsätzlich Zenkert 2004.
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tisieren und zu überbrücken.403 Nur so ist die Entfaltung politischer Öffentlichkeit möglich, die dann als Legitimationsinstanz in Anspruch genommen werden kann. Repräsentation dynamisiert die Handlungswelt, setzt Handlungsmacht frei und erschließt den Raum des Möglichen, in dem politische Entscheidungen realisiert werden können. Dabei geht es nicht nur um Konsens oder Dissens, sondern auch um die Frage, welche Themen auf die Agenda gelangen sollen, welche Handlungsoptionen sich bieten und wie die Lage einzuschätzen ist. Dazu ist der Abstand zwischen Herrschaft und Handlungsmacht notwendig, der durch die Formen der Repräsentation gestiftet und stabilisiert wird. Repräsentation ist insofern nicht das Charakteristikum eines bestimmten Typus von Demokratie, sondern ein Prinzip des Politischen überhaupt404 und damit auch fundamental für demokratische Verfassungen. Repräsentation eröffnet den Raum für Deliberation. Meinungsbilder sind nicht nahtlos in Handlungsabsichten oder in einen Willen zu überführen. Plebiszite suggerieren, dass es einen Willen des Volkes gibt, aber dieser wird erst durch die Erhebung konstruiert. Die Wirklichkeit der Meinungen sieht anders aus als eine Entscheidung. Sie sind vielgestaltig, pluralistisch, teils abstrakt-allgemein, teils partikular und bisweilen auch widersprüchlich. Plebiszite reduzieren diese Lage notgedrungen auf einfache Formeln, die sich nach einem binären Schema beantworten lassen. Pragmatisch betrachtet erscheint dies gerechtfertigt und unumgänglich, denn in der politischen Welt müssen unter Zeitdruck Entscheidungen getroffen werden. Aber zu behaupten, dass dies eo ipso demokratisch sei, das heißt demokratischer als explizit repräsentative Entscheidungen, wäre unbegründet. Plebiszite basieren auf isolierten, vom komplexen Wirkungszusammenhang politischer Meinungsbildung abgelösten Alternativen und sind leicht manipulierbar. Sie ersetzen Deliberation kurzerhand durch Dezision. Für die grundlegenden politischen Entscheidungen, die komplexe Programme umfassen, sind Plebiszite ungeeignet. Auch die legitimierende Kraft des Majoritätsprinzips, das Recht der Mehrheit, über die Minderheit zu herrschen, lässt sich mit Bezug auf die Differenz von operativer und regulativer Macht verdeutlichen. Handlungsmacht erscheint im politischen Maßstab vor allem als Meinungsmacht. Der rhetorische Sound der öffentlichen Meinung begleitet zwar die Aktivitäten der Herrschaft. Doch es wäre nicht sinnvoll, von einer Herrschaft durch Meinungen zu sprechen. Meinungen entfalten ihre Wirkung im Modus der Handlungsmacht; sie wirken stimulierend. Herrschaft wirkt regulierend. Wie wirken aber Meinungen? Zu unterscheiden sind – idealtypisch – Meinungsäußerungen, die perspektivisch, als Ausdruck einer individuellen Auffassung oder gruppenspezifischer Zielsetzungen zu verstehen sind, und Äußerungen, die sich 403 Dormal 2017, S. 88. 404 Diese Auffassung hat mit besonderem Nachdruck Siegfried Landshut vertreten. Siehe dazu Landshut 1969, S. 347 ff.
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auf das Gemeinwohl berufen. Es gehört zum rhetorischen Ritual, hinter der Beschwörung des Gemeinwohls partikulare Interessen zu vermuten und umgekehrt die eigenen Interessen mit den allgemeinen gleichzusetzen. Einfach zu unterscheiden sind beide schon deshalb nicht, weil nicht von vornherein festgelegt oder erkennbar ist, worin das Gemeinwohl besteht; dieses ist ja meistens strittig und bedarf der Konkretisierung. Meinungen wirken dann auf das Herrschaftssystem, wenn sich im Prozess rhetorischer Meinungsbildung neue Optionen erschließen, Gemeinsamkeiten und Differenzen abzeichnen, also das abspielt, was nach Aristoteles Beratung und Urteilsbildung ausmacht. Regulative Maßnahmen müssen sich vor diesem Hintergrund als plausibel und realisierbar erweisen. Interessen und Vorschläge sind dann diskutabel, wenn sie sich in Strategien übersetzen lassen, die regulativ, durch Vollzug von Herrschaft, durch Ge- und Verbote in den Formen des Rechts realisiert werden können. Nach klassischer Auffassung kommt die Aufgabe der Vermittlung partikularer und allgemeiner Interessen den Repräsentanten, also den Abgeordneten zu. Sie sind Grenzgänger zwischen operativer und regulativer Macht, eine Funktion, die permanente Loyalitätsprobleme mit sich bringt. Die Situation, einzelnen Interessengruppen, der Partei und der Allgemeinheit gleichermaßen verpflichtet zu sein, führt zu einer Überforderung der Abgeordneten und häufig zur Frustration ihrer Klientel. Isoliert betrachtet müsste ein so angelegtes Repräsentationssystem scheitern. Repräsentation spielt jedoch noch an einer anderen Schnittstelle eine zentrale Rolle im politischen System. Die Konstellation von operativer und regulativer Macht ist nicht stabil und bedarf eines Rahmens, der beide in ein Verhältnis setzt, in dem sie ihre strukturelle Inkongruenz kompensieren können. Dies ist die Verfassung. Eine Verfassung ist nicht nur eine Sammlung von Rechtsregeln, sondern die politische Ordnung und Organisationsform eines Gemeinwesens. Die machtvollste Manifestation einer Verfassung ist unter gegenwärtigen Bedingungen der Staat. Staaten sind trotz der internationalen Verflechtungen und der global agierenden wirtschaftlichen Mächte immer noch konkurrenzlos die entscheidenden politischen Akteure. Die seit mehreren Jahrzehnten zu beobachtende Tendenz, den Staat als obsolete Form politischer Organisation zu diagnostizieren, der sich allmählich in suprastaatliche Verhältnisse auflöst, oder als bloßes Epiphänomen gouvernementaler Strukturen zu degradieren, basiert vor allem auf einem reduzierten Verständnis von Macht. Ein Verfassungsstaat ist nicht nur ein Herrschaftsapparat, sondern die Erscheinungsform einer besonderen Form der Macht, der konstitutiven Macht.405 Volkssouveränität, wenn anders dieser Begriff überhaupt eine klare Bedeutung haben soll, beruht auf diesem Modus von Macht. Volkssouveränität realisiert sich nicht als
405 Zenkert 2004a, S. 216 ff.
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Herrschaft des Volkes, sondern beruht auf der Institutionalisierung der Verfassung als Organisationszusammenhang, der das Ganze umfasst. Die Verfassung repräsentiert das Volk. Die juristische Definition des Volkes als Gesamtheit aller Staatsbürger trifft diesen Sachverhalt nur unvollständig. Staatsangehörigkeit bezeichnet die formale Voraussetzung der Zugehörigkeit zu einem Volk im politischen Sinne. Aber das politische Volk erschöpft sich nicht in der Summe aller Staatsbürgerinnen und Staatsbürger; sie ist das Ergebnis der Integrationsleistung, die eine Menge erst zu einem politischen Volk macht. Das Volk im Sinne des Demos der Demokratie ist nur durch Repräsentation als konstitutive Macht präsent. Volkssouveränität kann als politischer Prozess nur so realisiert werden, dass das Volk im Modus konstitutiver Macht durch die Verfassung des Staates repräsentiert wird. Die rein rechtliche Rekonstruktion des Legitimationszusammenhangs kommt hier an ihre Grenzen. Die juristische Figur der verfassunggebenden Gewalt des Volkes406 suggeriert einen Gründungsakt, der vom Volk vollzogen wird. In der Tat handelt es sich dabei um den auf einen fiktiven Punkt verdichteten repräsentativen Prozess der Wechselbeziehung von Volk und Verfassung. Die Konstituierung des Volkes als Souverän ist eine Daueraufgabe und die Idee der Volkssouveränität insofern, wie Hermann Heller bemerkt, ein „polemisches Prinzip“.407 Für die Vergegenwärtigung dessen, was das Volk ist und was es will, ist Repräsentation unverzichtbar. Die vielzitierte Formel Claude Leforts vom „leeren Ort der Macht“408 zielt auf diese Nichtverfügbarkeit des Volkes, dem keine Gegenwart im unmittelbaren Sinne zukommt. Auch wenn diese Metapher auf die Ablösung des französischen Königtums gemünzt ist und noch in der Negation die Figur der Verkörperung der Herrschaft durch den Regenten festhält, konstatiert sie doch die Nicht-Präsenz der Macht. Daran gemessen ist der Ort in der Tat leer. Das heißt aber nicht, dass er leer bleibt. Im Gegenteil öffnet sich damit die Sphäre, in der sich die Repräsentation abspielt, nun aber nicht durch körperliche Realpräsenz oder symbolische Beziehung, sondern durch die Vergegenwärtigung dessen, was anders nicht präsent ist, die Erscheinung der Macht des Volkes. Diese manifestiert sich in der konstitutiven Macht, deren Rahmen mit der Verfassung vorgezeichnet ist, aber erst durch die Repräsentation als Prozess lebendig wird. Konstitutive Macht muss vergegenwärtigt werden und dieser Prozess ist kontrovers, deutungsabhängig und kommt nie zu einem definitiven Ende. In diesem Sinne erweist sich der Ort der Macht in der demokratischen Verfassung als unverfügbar. Er bleibt jedoch nicht leer, sondern wird zur Bühne für die Vergegenwärtigung des Volkes als Souverän, dessen Präsenz nicht körperlich symbolisiert, sondern durch die Erscheinung der Macht im Sinne der konstitutiven Macht besetzt wird. 406 Böckenförde 1991. 407 Heller 1992. S. 247. 408 Lefort 1999, S. 49.
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Die Diskussionen um die Formen der Repräsentation konzentrieren sich üblicherweise, was die vordemokratischen Verfassungen betrifft, auf die symbolische Darstellung von Herrschaft, die zugleich pauschal unter Ideologieverdacht gestellt wird. In ihrer demokratischen Version rückt dagegen die Vergegenwärtigung des kollektiven Willens in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass der Repräsentationsbegriff in Misskredit gerät, weil er in der ersten Variante als symbolische Darstellung von Herrschaft prinzipiell suspekt und in der zweiten, demokratischen Variante utopisch ist. Beide Auffassungen sind historisch nicht verifizierbar. Weder ist die symbolische Darstellung von Herrschaft nur die ästhetische Verdopplung oder ideologische Verbrämung bestehender Herrschaftsstrukturen, noch lässt sich beobachten, dass ein wie auch immer zu erhebender Wille des Volkes durch Strukturen der Repräsentation transformiert wird in eine konkrete Entscheidung. Das Missverständnis, das dieser Auffassung von Repräsentation zugrunde liegt, besteht darin, dass Repräsentation auf Herrschaft zurückgeführt wird. In der Tat ist Repräsentation weder der Ausfluss noch die Ausübung von Herrschaft. Repräsentation vermittelt die Machtsphären, deren Unterscheidung und Trennung eine wesentliche Qualität der politischen Organisation demokratisch verfasster Gemeinwesen ausmacht. Der systematische Ort der Repräsentation ist die Schnittstelle von operativer und regulativer Macht im Horizont der konstitutiven Macht der verfassten Gemeinschaft. Repräsentation kann folglich nicht als Modus von Herrschaft kodiert beziehungsweise dekodiert werden, sondern ist eine für die Aufrechterhaltung der Differenz dieser Sphären entscheidende Kommunikationsform. Sie bezieht öffentliche Meinung, die Erscheinungsform der operativen Macht im Maßstab staatlicher Organisationen, auf die Instanzen der Herrschaft und umgekehrt. Zugleich werden beide auf Distanz gehalten. Repräsentation ist die Vergegenwärtigung der öffentlichen Meinungen im Verhältnis zur Regierung und der Pluralität der Bürgerschaft im Verhältnis zur Idee des einheitlichen souveränen Volkes. Der funktionale Sinn der Repräsentation liegt nicht in einer herzustellenden Identität dieser Sphären, sondern in deren kommunikativer Verbindung unter Aufrechterhaltung der Differenz. Repräsentation ist daher weder symbolische Wirkung noch ein Prinzip der Willensbildung, sie ist, in der eminent politischen Bedeutung, die Vergegenwärtigung dessen, was sonst nicht sichtbar, nicht präsent ist.409 In der demokratischen Verfassung beruht Repräsentation auf der politischen Einheit des Volkes, genauer gesagt auf der Annahme, dass es eine politische Einheit gibt, obwohl sie soziologisch nicht gegeben ist. Dass der Wille oder die Interessen des Volkes repräsentiert werden, 409 An diese politische Bedeutung von Repräsentation erinnert Schmitt 1989, S. 208 ff. Schmitt betrachtet jedoch die Demokratie ausschließlich unter dem Blickwinkel der Identität, obwohl er zugleich versichert, dass es keinen Staat ohne Repräsentation gebe (S. 206). Der Widerspruch ist durchaus beabsichtigt.
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erscheint unter dieser Voraussetzung als zu eng gefasst. Aber auch das Interesse der Einzelnen ist nicht der Maßstab für gelungene Repräsentation. Repräsentieren bedeutet, wie Hegel bemerkt, nicht, „dass einer an der Stelle eines anderen sei, sondern das Interesse selbst ist in seinem Repräsentanten wirklich gegenwärtig.“410 Die produktive Leistung der Repräsentation besteht in dieser Vergegenwärtigung dessen, was so noch nicht gegeben ist, aber als Fluchtpunkt der Legitimität verstanden werden kann. Pitkins Unterscheidung der Typen von Repräsentation411 bietet mit dem Modell des „acting for“ eine Formel, die eine Annäherung an die genuin demokratische Form der Repräsentation erlaubt. Im Unterschied zum „formalistic view“, der Auffassung, dass jemand zum Handeln autorisiert wurde, und der darstellenden Konzeption, die Pitkin mit dem Terminus „standing for“ bezeichnet, steht „acting for“ für einen Modus der Repräsentation, mit dem innerhalb eines institutionellen Arrangements ein eigenverantwortliches Handeln der Akteure als potentiell umstrittener Ausdruck der Repräsentierten verstanden werden kann.412 Es gibt kein klares Abhängigkeitsverhältnis. Die Beziehung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten ist durch Responsivität charakterisiert. Ergebnis des dabei unterstellten Prozesses wäre demnach, was sich aus der Betrachterperspektive in Beziehung zur Aktivität der Repräsentanten ergibt. Diese Beziehung gestaltet sich weder als reine Deliberation noch in bloß symbolischer Funktion.413 Sie vollzieht sich als rhetorischer Prozess in der Verbindung von logos, ethos und pathos, von argumentativen, normativen und emotionalen Aspekten. Festzuhalten ist, dass diese Prozesse einer differenzierten institutionellen Rahmung bedürfen. Diese bietet die Verfassung. Die konstitutive Macht ist Bedingung des Gelingens von Repräsentation. Repräsentiert wird, nach demokratischem Verständnis, das Volk. Es ist davon auszugehen, dass das Volk nicht präsent ist im Sinne unmittelbarer Anwesenheit. Und doch beruht die Konzeption demokratischer Legitimität auf der Zustimmung des Volkes. Dann kann dies nur bedeuten, dass das Volk im Rahmen der demokratischen Institutionen durch Repräsentation vergegenwärtigt werden muss. Dies lässt sich verdeutlichen durch eine Differenzierung, die den Begriff des Volkes selbst betrifft – in Anlehnung an Pierre Rosanvallons oben erwähnte Unterscheidung zwischen Sozial-Volk, Wahl-Volk und Ideal-Volk.414 Zunächst ist Volk der Name für die soziale Vielheit und wechselhafte Erscheinungsweise
Hegel 1970c, § 311. Pitkin 1967. Buchstein 1997, S. 411 ff. Buchstein erwartet deliberative Prozesse als Ergebnis dieser Beziehung (Buchstein 1997, S. 425). Dies scheint jedoch zu eng gefasst, weil in einem rhetorischen Austausch auch andere Momente wirksam sind. Dormal kritisiert zu Recht, dass die abstrakte Unterscheidung der Typen diese von ihrem politischen Kontext löst (Dormal 2017, S. 73 f.). 414 Ronsanvallon 2013a, S. 160 ff. 410 411 412 413
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derer, die eine Gesellschaft ausmachen, die Personen, die ihren privaten Interessen und Geschäften nachgehen. Hier ist der Ort der Meinungsbildung, der Entfaltung unterschiedlicher und auch gegenläufiger Interessen, von Konsens und Dissens in den Strukturen des Rechts und unter Voraussetzung formaler Gleichheit. Das Volk tritt aber auch kurzfristig als Wahlvolk in Erscheinung und wird als solches wahrgenommen. Es ist in diesem Aggregatzustand die Gesamtheit der in Individuen zerfallenden Gruppen, die regelmäßig ihr Votum abgibt. Die Wählerinnen und Wähler sind Subjekte der Herrschaft im doppelten Sinne, von ihnen geht die Macht aus, aber sie sind zugleich auch der Macht unterworfen. Drittens schließlich ist das Volk, zumindest in einer demokratischen Verfassung, das Idealvolk als Souverän, als einheitliches Ganzes. Es ist bestimmt durch seine Individualität als konkrete, abgegrenzte Gemeinschaft. Seine Identität ist jedoch nicht als Faktum gegeben, aber es ist auch keine bloße Illusion. Es ist zu vergegenwärtigen durch Repräsentation als Bezugspunkt der politischen Auseinandersetzungen. In diesen Formationen spiegelt sich das komplexe Verhältnis der drei Machtsphären, der operativen Macht der vielfältigen Meinungen und Interessen, der regulativen Macht des Regierens und des Einflusses auf die Regierung und schließlich der konstitutiven Macht des Volkes als Ideal eines verfassten Volkes, das sich als Einheit versteht. Nur in den Institutionen der Gemeinschaft kann dieses gegenwärtig sein. Repräsentation ist Kommunikation der Machtsphären unter der Bedingung der Aufrechterhaltung ihrer Differenz. Das Sozialvolk wechselt in die Rolle des Wahlvolkes, um damit Herrschaft zu legitimieren, die im Namen aller ausgeübt wird, faktisch aber doch nur von einem Teil der Betroffenen und meist unter Vorbehalt unterstützt wird. Dieses Verhältnis ist nicht mandatorisch, keine Vertretung, sondern repräsentativ in der Bedeutung, dass die Differenz zwischen Sozialvolk und Herrschaft überbrückt wird durch die Vergegenwärtigung des Idealvolks, der Gesamtheit der Bürgerschaft, die allein die Kraft demokratischer Legitimation besitzt. Das Wahlvolk ist das Gegenteil eines idealen Volkes; es besteht aus isolierten Einzelnen, aus parteilich orientierten Gruppen, aus taktisch manövrierenden Fraktionen. Es ist manipulativ und selbst in hohem Grade der Manipulation ausgesetzt. Und es ist aus sich heraus nicht fähig, eine einheitliche Willens- und Entscheidungsfindung zu bewerkstelligen. Die konstitutive Macht des Volkes als Souverän dagegen, die sich nicht im Ergebnis von Wahlen oder Abstimmungen erschöpft, aber genauso wenig als eine kulturelle Identität abbilden lässt, bildet die Voraussetzung für das Gelingen des demokratischen Machtkreislaufes. Sichtbare Diskrepanzen innerhalb des Volkes sowie zwischen Sozialvolk und Wahlvolk sind insofern wesentlich für die Dignität demokratischer Gemeinwesen. Fatal dagegen wäre jeder Versuch, eine Identität im Sinne einer Homogenisierung anzustreben. Konsens als Maßstab des Politischen auf der Ebene der Meinungsbildung anzusetzen ist desintegrativ. Nur pluralistische Gesellschaften können Volkssouveränität realisieren, indem sie unter
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Aufrechterhaltung der Differenz die reflexive Gestaltung von Macht durch Macht verbürgen. Die gegenwärtig grassierenden populistischen Bewegungen sind Versuche, die Identität von Sozialvolk und Idealvolk manipulativ herzustellen. Populismus ist auf das Versprechen gegründet, unmittelbar im Namen des Volkes zu sprechen und zu agieren. Dies lässt sich im Wettbewerb um die Herrschaft, also in den Wahlphasen im Echoraum der öffentlichen Meinung leicht behaupten. Im Falle der Übertragung von Herrschaftsfunktionen sucht sich dieser Anspruch zu bewähren durch die Prätention, das Mandat als direkte Beauftragung zu verstehen und Handlungsmacht mit der Ausübung von Herrschaft kurzzuschließen. Dies ist eine Usurpation von Handlungsmacht durch deren Reduktion auf eine maßgebliche Meinung. Es ist aber zugleich eine Usurpation von Herrschaft durch die Unterordnung der Organe der Herrschaft, des Rechts und der Verwaltung, unter die volatile Macht der die Bewegung dominierenden Meinungen, die auch bei populistischen und selbst bei totalitären Bewegungen nie wirklich homogen sind. Die ideologische Vereinnahmung der Instanz des Volkes führt dazu, dass dieses zur Fiktion verkümmert. Populismus ist nicht nur antiliberal, wie oft festgestellt, sondern deformiert die Organisation der Macht durch die Entgrenzung von Handlungsmacht und Herrschaft. Deshalb sind populistische Regime zwangsläufig zugleich autoritär und in hohem Maße meinungsabhängig. Vor allem aber destruieren sie die Machtstrukturen, die demokratische Politik ermöglichen. Populismus ist per se antidemokratisch, beruft sich aber parasitär auf demokratische Prinzipien. Deshalb ist dieses Phänomen Ausdruck einer inneren Krise der Demokratien. Es spricht viel für die These,415 dass die gegenwärtige Krise der Demokratie eine Krise der Repräsentation ist. Allerdings ist diese Einschätzung keineswegs neu. In der politikwissenschaftlichen Debatte scheint Repräsentation nahezu ausschließlich im Krisenmodus wahrgenommen zu werden.416 In der Tat sind die Prozesse der Repräsentation gewissermaßen Ausdruck einer perennierenden Krise, sofern die Vergegenwärtigung der nicht unmittelbar gegebenen Einheit des Volkes immer umstritten bleibt und nie befriedigend verifiziert werden kann. Eine Verfassung ohne repräsentative Strukturen ist jedoch undenkbar. Insofern ist die Unterscheidung repräsentativer und direktdemokratischer Verfassungen irreführend. Genauer betrachtet kann es nur um den Modus der Repräsentation gehen, wenn anders die Vergegenwärtigung des Volkes nicht ohne repräsentative Instanzen denkbar ist. Die Gleichsetzung von Parlamentarismus und repräsentativer Demokratie überblendet die alternativen Formen der Repräsentation durch charismatische Führer, Ausschüsse, Diskussionsforen
415 Neuerdings z. B. Manow, (Ent-)Demokratisierung der Demokratie, Frankfurt a. M., 2020, S. 57 ff. 416 Repräsentativ Linden, Thaa (Hrsg.) 2011, Tormey 2015.
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und andere Instanzen, die indes mit dem rhetorischen Topos, den Willen des Volkes unmittelbar zum Ausdruck zu bringen, ihre repräsentative Funktion kaschieren. Es gibt keine Politik ohne Repräsentation. Gelungene Politik setzt eine anspruchsvolle Kultur der Repräsentation voraus, die erstens transparent und zweitens reflexiv angelegt sein muss, das heißt, ihre Strukturen offenlegt und zumindest partiell zur Disposition stellt. Es gibt deutliche Evidenzen dafür, dass die wachsende Abhängigkeit politischer Entscheidungen von demoskopischen Erhebungen und die Etablierung neuer Kommunikationsformen zu einer Entmachtung der parlamentarischen Instanzen geführt haben. Es scheint sich außerdem immer klarer abzuzeichnen, dass die Hoffnungen, die viele auf die neuen sozialen Medien gesetzt haben, nicht nur enttäuscht wurden, sondern dass im Gegenteil deren politische Instrumentalisierung die gegenwärtige Krise der Demokratien mit verursacht, zumindest aber verstärkt hat. Es scheint sich hier um eine Form der Anteilnahme zu handeln die desintegrativ wirkt und – je nach Sichtweise – ein Legitimationsdefizit generiert oder zum Ausdruck bringt. Die Diagnose, dass die fragwürdige Opposition von direkter und repräsentativer Demokratie inzwischen aufgegeben wurde und stattdessen eine Neubewertung der Repräsentation vor dem Hintergrund einer grundlegenden Skepsis gegenüber den Konzepten direkter Demokratie erfolgt, ist in der Tendenz zutreffend.417 Zwar sind die unter dem Etikett „radikaler Demokratie“ firmierenden Ansätze grundsätzlich skeptisch gegenüber den Institutionen des Parlamentarismus, können aber die repräsentativen Strukturen nicht grundsätzlich desavouieren. Die komplexe Begriffsgeschichte des Konzepts der Repräsentation ergibt kein einheitliches Bild.418 Die Typologisierung unterschiedlicher Modelle und der Versuch der Formulierung eines Standardmodells419, das unter Voraussetzung der Volkssouveränität auf die Responsivität der Repräsentanten setzt, ist zu eng gefasst. Repräsentation erschöpft sich nicht in der Vertretung gesellschaftlicher Interessen, wenn anders diese erst artikuliert, identifiziert und in einem institutionellen Forum thematisiert werden müssen, damit dort Entscheidungen gefällt werden. Diese müssen nicht notwendig namhaft gemachte Interessen bedienen, denn es kann sich im Verlauf der kollektiven Willensbildung herausstellen, dass in der Gesamteinschätzung der Lage übergreifende oder möglicherweise ganz andere Interessen berücksichtigt und entsprechende Maßnahmen getroffen werden müssen. Repräsentation in der Standardauffassung ist jedoch zu sehr auf das Moment von Herrschaft konzentriert, um diese Dimension der Willensbildung in den Blick zu nehmen.
417 Diese Einschätzung vertritt Thaa 2008, S. 618-640. 418 Hofmann 1974. 419 Urbinati, Warren 2008.
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Die Ergänzung des Modells um die Formen symbolischer Repräsentation420 in der neueren Debatte verspricht eine Korrektur dieser Fixierung auf Herrschaft. Ob indes der Rekurs auf Castoriadis‘ Begriff des Imaginären diese Öffnung des Blickfelds bietet, muss bezweifelt werden.421 Dieser Ansatz regt dazu an, die für politische Repräsentation nicht unwesentliche Bildlichkeit in die politische Analyse mit einzubeziehen. Allerdings ist der Begriff des Imaginären selbst zu diffus, um operationalisierbar zu sein. Entscheidend ist die Frage nach der Konzeptualisierung von Macht im Kräftefeld repräsentativer Praxis.422 Dass Repräsentation sich in einem Raum zwischen den Instanzen der Herrschaft und dem Volk abspielt, kann angenommen werden. Schmitts insistieren auf einer Konstituierung des Volkes durch Repräsentation hebt, unerachtet der fraglichen Folgerungen, die er daraus zieht, zu Recht diese schon für Hobbes fundamentale Funktion hervor.423 Indem Repräsentation konstitutiv ist für die Erscheinung des Volkes, handelt es sich um eine Form von Macht. Diese unter die Kategorie der Herrschaft zu subsumieren ist nicht statthaft, denn so würde sich die Funktion des Volkes als Souverän in der Machtlosigkeit einer Opposition zu den Instanzen der Herrschaft erschöpfen. Demungeachtet ist mit dem Prinzip der Repräsentation immer auch der Gedanke der Vertretung der im Volk auszumachenden Interessen verbunden und zwar auch dort, wo nicht von einem imperativen Mandat ausgegangen wird. Die Spannung der im Begriff der Repräsentation enthaltenen Momente, der Formierung des Volkes, dass sich als Subjekt der Souveränität konstituieren muss, und der Abbildung gegebener Interessen, führt zu einem unaufhebbaren Widerspruch. Der Antagonismus lässt sich weder vermitteln noch auflösen. Denn demokratische Repräsentation muss bereits auf ein wie auch immer formiertes Volk rekurrieren und eine unverstellte Abbildung wäre nicht nur unmöglich, sondern letztlich sinnlos.424 Repräsentation ist, anders als die Konzepte der Formation und der Abbildung insinuieren, „a public, institutionalized arrangement“.425 Weder die Koordination durch repräsentative Akteure noch die Aggregation der subjektiven Interessen können als Modell für politische Repräsentation dienen. Vielmehr handelt es sich um 420 Göhler u. a. (Hrsg.) 1997. 421 Darauf setzt Diehl 2015. 422 Diehl löst sich nicht von der reduktionistischen Betrachtung der Macht als Herrschaft. Ihre Überlegungen basieren auf einem Demokratieverständnis, dass Macht eskamotiert. In Orientierung an Leforts Diktum vom leeren Ort der Macht konstatiert sie, dass Macht gemäß dem Prinzip der Volkssouveränität von keiner Person oder keiner Gruppe vereinnahmt werden kann (Diehl 2015, S. 358). Der Weg zu einer Klärung der Ausübung von Macht auf dem Boden der Souveränität des Volkes ist damit versperrt. Das Modell bleibt noch in der Negation an ein vorrevolutionäres Verständnis von Herrschaft gebunden. 423 Schmitt 1989, S. 212. Schmitt beschwört dabei eine mystische Einheit des Volkes und leugnet die Pluralität, vor deren Hintergrund die Aufgabe der Formierung des Volkes erst ihren Sinn ergibt. Zu einer Rezeption Schmitts in systematischer Absicht s. Duso 2006. 424 Darauf basieren die Überlegungen von Martinez Mateo 2018. 425 Pitkin 1967, S. 221.
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integrative Prozesse. Nicht allein die Kräfteverhältnisse und Interessen, die in einer Gesellschaft herrschen, sind ausschlaggebend, sondern insbesondere die Moderation und Gestaltung von Entscheidungsprozessen.426 Dabei werden auch Belange berücksichtigt, die über geäußerte Interessen hinausgehen, übergreifende Interessen artikuliert und Gemeinsamkeiten ausgelotet. „Integrative processes treat conflict of interest as the basis of deliberation and authoritative decision rather than bargaining. They are directed by a logic of unity rather than the logic of exchange.“427 Dieses integrative Konzept der Repräsentation entspricht den demokratietheoretischen Prämissen in der Konstellation von Volkssouveränität, Rechtstaatlichkeit und individuellen Grundrechten, weil dadurch der Dynamik von einheitlicher Willensbildung in einer pluralistischen Gesellschaft Rechnung getragen wird.428 In den Grundzügen entspricht dieses Verständnis dem von den Autoren der Federalist Papers vorgetragenen Konzept von Republik. Deren Auffassung macht deutlich, dass Repräsentation nicht ein Notbehelf angesichts der Unmöglichkeit direkter Demokratie im modernen Flächenstaat ist, sondern strukturelle Vorteile gegenüber einem direktdemokratischen „popular government“ zeigt.429 Der dadurch erhoffte Effekt „to refine and enlarge the public views by passing them through the medium of a chosen body of citizens“ ist das entscheidende Moment der Realisierung von Volkssouveränität.430 Die Überlegenheit des repräsentativen Modells, das die Autoren der Federalist Papers mit der Form der Republik verbinden, besteht in der Steigerung der Rationalität der Entscheidungen und der Entwicklung der Handlungsfähigkeit des Volkes.431 Damit müssen nicht zwingend Partizipationschancen verbunden sein. Die Macht des Volkes im Sinne der Volkssouveränität ist nicht als Herrschaft zu realisieren, sondern als konstitutive Macht, die den Rahmen der Gemeinsamkeit absteckt und damit den Spielraum von Herrschaft als regulativer Macht definiert. Die Pluralität der Ansichten erweist sich vor diesem Hintergrund nicht als Einschränkung, sondern steigert die Chance einer Integration bei gleichzeitiger Wahrung der Vielfalt. So betrachtet ist die Wahrscheinlichkeit, dass deliberative Verfahren erfolgreich sind, in Flächenstaaten höher als in kleinen, auf Homogenität angewiesenen Gemeinwesen. Von demokratisch verfassten Staaten wird erwartet, dass sie nicht nur umlaufende Meinungen und Interessen aggregieren. Die – idealtypisch verstandene – liberale Auffassung lässt zwar Meinungsvielfalt ungehindert zu, setzt aber bei der Entscheidungsfindung auf rein formale Regelung insbesondere auf das Mehrheitsverfahren. 426 Diese Funktion der Institutionen beleuchten im Anschluss an Pitkin March, Olsen 1989. 427 March, Olsen 1989, S. 126. 428 Dass das integrative Modell von Repräsentation auch staatsrechtlich anschlussfähig ist, zeigt die grundlegende Studie von Steinberg 2013. 429 Hamilton, Madison, Jay 1987, Number X, S. 126. 430 Eine kompetente Darstellung aus verfassungsrechtlicher Sicht bietet Brunhöber 2010. 431 Brunhöber 2010, S. 193 ff.
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Dass darüber hinaus Meinungsbildung auch immer auf wechselseitiger Beeinflussung der Akteure, auf der Wirkung autoritativer Instanzen und vor allem auf medialer Vermittlung beruht, wird dabei ignoriert beziehungsweise dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Die Wahrnehmung der Möglichkeiten, die Deliberation im politischen Maßstab bietet, bleibt eine Angelegenheit privater Initiative. Normativen Fragen gegenüber ist die liberale Einstellung neutral, sofern nur bei der Entscheidungsfindung die formalen Vorgaben berücksichtigt wurden. Demgegenüber steht die integrative Auffassung für ein Verständnis von Repräsentation, bei dem der Ausgang der Entscheidung nicht gleichgültig ist. Integration versteht sich nicht als Herstellung einer homogenen Einheit und ist keinem Konsensideal verpflichtet. Doch ist politische Integration nicht neutral in Bezug auf grundlegende normative Fragen. Ob eine Entscheidung richtig ist, lässt sich nicht mit Bezug auf einen absoluten Maßstab beurteilen noch kann das formale Procedere diese Qualität garantieren. Aber das Modell der Integration steht für den Anspruch, dass das Kriterium der Richtigkeit in politischen Auseinandersetzungen in Anschlag gebracht wird unter Einbeziehung aller Gesichtspunkte, die von den Beteiligten verkörpert werden. Integration hat dabei nicht nur die soziale Bedeutung der Einbeziehung der betroffenen Individuen, sondern der Einbeziehung der Standpunkte und der Topoi, die in einer Auseinandersetzung virulent sind. Die richtige Entscheidung zu treffen heißt unter diesen Bedingungen, die unter Einbeziehung der unterschiedlichen Auffassungen bestmögliche Entscheidung zu treffen. Diese muss nicht auf allseitige Zustimmung stoßen, aber sollte grundsätzlich Zustimmungsfähigkeit beanspruchen und so auch präsentiert werden. Damit Entscheidungen diesem Maßstab entsprechen können, bedarf es der Öffentlichkeit als des Raums der Politik. Dies ist der Ort der Macht, an dem die Möglichkeiten politischen Handelns erwogen und austariert werden. Es ist kein leerer Ort, sondern eine Bühne, die genutzt wird und unverzichtbar ist, sofern politisches Handeln möglich werden soll.432 Die Metapher der Bühne ist im Politischen eher negativ konnotiert, weil damit die Vorstellung eines Schauspiels assoziiert wird, das sich den passiven Zuschauern darbietet, während die wirkliche Aktion sich im Hintergrund abspielt. Zweifellos gibt es jenseits dessen, was in der Öffentlichkeit sichtbar wird, hermetische Bereiche, in denen vertrauliche Angelegenheiten behandelt, Absprachen getroffen, Manipulationsversuche unternommen und Intrigen vorbereitet werden. Die Behauptung, dass die sichtbare Politik bloße Inszenierung sei, ist ein Standardvorwurf, der meist in die Forderung umfassender Transparenz mündet.
432 Eine anschauliche Darstellung des Bildes der politischen Bühne anhand der konkreten Situation von Bürgerprotesten bietet Bielefeld 2011, S. 49-64. Im systematischen Kontext entwickelt diese Idee überzeugend Dormal 2017, S. 85 ff.
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Es bedeutet nicht, die Tradition der Arkanpolitik zu beschwören, wenn diese Forderung nach einer radikalen Transparenz abgewiesen wird. Dass politische Entscheidungsprozesse sichtbar sind, gehört gewiss zu den Grundprinzipien demokratischer Gemeinschaften. Demokratie realisiert sich im Raum der Öffentlichkeit. Aber Sichtbarkeit gewinnt politisches Geschehen erst durch Darstellung; sie ist keine natürliche Eigenschaft von Sachverhalten und Ereignissen. Auch der politische Wille der Mehrheit oder des Volkes insgesamt ist keine Tatsache, die nur noch identifiziert werden müsste. Er muss sich herausbilden, artikulieren und strukturieren. Dazu benötige er den Raum des Öffentlichen. Umgekehrt ist real nicht das, was sich jenseits der Bühne abspielt; denn auch das, was dem Blick des Publikums entzogen wird, besitzt nicht den Status einer Sache oder einer Substanz, die unabhängig von ihrer Darstellung existiert. Einzelne Maßnahmen, Verträge, Vereinbarungen, Einflussnahmen können zwar den Charakter des Geheimen annehmen. Unter der Prämisse, dass sie nach den Standards politischer Entscheidungsfindung publik gemacht werden sollten, kann diese Vermeidung der Öffentlichkeit zu einem Legitimitätsdefizit führen. Aber auch hier ist zu registrieren, dass die Sache, um die es geht, nicht unabhängig von ihrer Erscheinung und Darstellung zu sehen ist. Entscheidungsbildung ist ein Prozess, der ontologisch auf Darstellung angewiesen ist. Darin ist er einem Schauspiel vergleichbar, dass erst durch seine Aufführung Realität gewinnt. Die „wahren“ Verhältnisse hinter der politischen Inszenierung sehen zu wollen kann dann nur bedeuten, weitere Aspekte der Tragödie oder Komödie des Politischen auf die Bühne zu holen. Eine Welt jenseits der Bühne der Öffentlichkeit existiert, aber indem sie zur Kenntnis genommen, sichtbar gemacht und thematisiert wird, ist sie ein Teil der Darstellung. Es geht folglich nicht um Realität versus Schein, sondern um die plausible Inszenierung, die Anschlussmöglichkeiten für das Verstehen bietet. Repräsentation ist wesentlich ein performativer Akt. Analog zur Darstellung des Selbst im sozialen Raum433 existiert das politische Subjekt des Volkes nur in der Performativität. Das Gelingen von Repräsentation bemisst sich folglich nicht primär am Kriterium der Kongruenz von empirischen Interessen und politischer Entscheidung, sondern an der Überzeugungskraft der Dramaturgie. Nach einer weit verbreiteten Einstellung spielt sich das reale politische Geschehen hinter den Kulissen ab. Der investigative Enthüllungsjournalismus lebt von dieser Erwartung. Aber auch hier gilt, dass die Bemühungen dieser Akteure genau dann erfolgreich sind, wenn sie die Ergebnisse ihrer Recherchen auf der Bühne der Öffentlichkeit darstellen, also zum Bestandteil der Inszenierung machen können. Die Entlarvung des vorgeblichen Scheins führt nicht in eine andere Realität, sondern verändert und bereichert die Darstellung.
433 Diese Konstellation wird plastisch beschrieben von Goffman 1959 und Goffman 1971.
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Die Öffentlichkeit ist als politische Bühne der Ort, an dem sich Macht entfaltet. Politische Willensbildung rekurriert in den seltensten Fällen auf gegebene identifizierbare Interessenlagen. Diese konturieren sich im Austausch und im Spiel von Erwartungen, Chancen, Angeboten und Entwicklungsperspektiven. Macht zeigt sich nicht nur als Einfluss, den Pressuregroups, Lobbyisten oder Mehrheiten auf Entscheidungen nehmen können. Macht manifestiert sich primär im Prozess der Entwicklung von Handlungsoptionen, die Möglichkeiten erschließen und Anschluss bieten für die Positionierung der Akteure. Trotz aller Versuche der Einflussnahme ist dieser Prozess nicht das Ergebnis strategischer Maßnahmen, sondern ergibt sich aus dem Gesamtgeschehen, das sich planender Rationalität entzieht und dennoch vernünftig sein kann. Die Darstellungen auf der Bühne der Öffentlichkeit folgen keinem festen Skript. Die Gestaltung des Geschehens ist vielmehr kontrovers, umstritten und bietet keine diskursive Abfolge. Was dargestellt wird, die Agenda, ist selbst Thema der Auseinandersetzungen. Die Bühne der Öffentlichkeit ist repräsentativ im doppelten Sinne: hinsichtlich der Auswahl der Themen und der Darstellung der Standpunkte. Da Aufmerksamkeit prinzipiell begrenzt ist, erweist sich Repräsentation als kompetitiver Prozess. „Jede Repräsentationsanspruch muss sich auf der politischen Bühne der Konkurrenz stellen. Dadurch stiftet er öffentliche Bezugspunkte von gewisser Dauer, bietet Möglichkeiten des Anschlusses und der Verallgemeinerung genauso wie Reibungsflächen, an denen sich eine politische Konfliktkonstellation auskristallisieren kann.“434 So ist auch zu erklären, warum Repräsentation häufig als unzulänglich erfahren wird. Die Verlierer des Wettbewerbs machen sich dadurch bemerkbar, dass sie den Repräsentationsmodus und die dafür zuständigen Formen und Institutionen als defizient brandmarken. Mit diesem Topos suchen sie wiederum Aufmerksamkeit zu gewinnen. Repräsentative Verfahren sind deshalb besonders störanfällig, weil sie gegen sich selbst gewendet werden können. Sie befinden sich potenziell in einer Dauerkrise. Das bedeutet nicht, dass Klagen über mangelhafte Formen der Repräsentation unberechtigt wären. Aber auch diese können nur reformiert werden, indem das Anliegen zum Gegenstand der Darstellung in der Öffentlichkeit wird. Dass es überhaupt ein Volk im politischen Sinne gibt, verdankt sich der Institution der Repräsentation und damit der Öffentlichkeit. „Die Repräsentation kann nun in der Sphäre der Öffentlichkeit vor sich gehen.“435 Indem sich die Akteure aus der Gesellschaft, dem Volk im empirischen Sinne bemerkbar machen, betreten sie die Bühne der Öffentlichkeit. Das Idealvolk, die normative Instanz der demokratischen Legitimation, ist damit noch nicht gegenwärtig. Auf der Bühne zeigen sich nur einzelne Ansichten, Deutungen, Appelle, Initiativen und Versuche der Mobilisierung. 434 Dormal 2017, S. 89. 435 Schmitt 1989, S. 208.
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Um wahrgenommen zu werden, bedürfen sie der Zuschauer. Das demokratische Volk kann nicht als Ganzes in Erscheinung treten, weil es keinen Standpunkt gibt, von dem aus es als solches gesehen werden könnte und weil es sich selbst nicht zugleich darstellen und beobachten kann. Nichtsdestoweniger muss es, um als Legitimationsinstanz zu fungieren, lokalisiert werden können. Das Volk ist in einzelnen Erscheinungsformen, in Gestalt einzelner Interessengruppe, Aktivisten und populistischen Sprechern auf der Bühne, als Ganzes aber ist es das Publikum. Das Volk ist in seiner genuin politischen Funktion Appellationsinstanz.436 Das heißt nicht, dass sein Beitrag zum politischen Geschehen auf die bloße Akklamation reduziert wäre, obwohl dies bereits ein genuin politischer Akt sein kann. Das Volk ist Publikum im Sinne der urteilenden und kritisch beobachtenden Zuschauer. Öffentlichkeit bedarf eines Publikums. Ohne Zuschauer gibt es keine Darstellung, keine Aufführung. Das Publikum ist konstitutiv für die Öffentlichkeit; es verkörpert als konstitutive Macht den Souverän. Wenn „ein als politische Einheit existierendes Volk gegenüber dem natürlichen Dasein einer irgendwie zusammenlebenden Menschengruppe eine höhere und gesteigerte, intensivere Art sein hat“,437 dann ist dies nicht auf die mystische Überhöhung des Volkes zurückzuführen, sondern auf den Status des Publikums im Raum der Öffentlichkeit. In der Repräsentation wird das Volk zum politischen Volk. Dabei handelt es sich nicht um eine Transsubstantiation, sondern um den nicht endenden Prozess der Selbstdeutung angesichts der Darstellungen im Raum der Öffentlichkeit. Das „Wir“ des Volkes zeigt sich in der kontroversen und konflikthaften Interpretation, die dargestellt werden muss, um Gegenstand kritischer Beurteilung zu werden. Dabei erweist sich dieses Selbstverständnis als äußerst volatil. Alle Versuche, die Identität eines Volkes festzustellen, sind zum Scheitern verurteilt. Dazu bedarf es keines expliziten Konsenses. Eine Konsenserwartung erweist sich vor dem Hintergrund der repräsentativen Konstitution des Volkes als dezidiert undemokratisch, weil damit die Prozesse der Selbstdeutung limitiert und letztlich stillgestellt werden. Konsens ist das Ideal des totalitären Staates. Der demokratische Verfassungsstaat lebt von Pluralismus und der Dynamik der Interpretation, denn die Differenz der Ansichten, Urteile und Meinungen des Publikums qualifizieren dieses als kritisches Publikum. Allerdings muss sich das Volk als Publikum verstehen und das bedeutet, den gemeinsamen Raum der Öffentlichkeit als Ort des politischen Geschehens akzeptieren. Gemeinsamkeit besteht primär und vor allem darin, dass Einigkeit herrscht in Bezug auf die wesentlichen Fragen, die Handlungsoptionen und die Form der Auseinandersetzung. Das gemeinsame Fundament lässt sich, abgesehen von den tragenden Institutionen und den Strukturen des Rechts, nur über 436 Bielefeld 2011, S. 55 f. 437 Schmitt 1989, S. 210.
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die Lebensformen erschließen. Das bedeutet nicht, dass diese Lebensformen für alle identisch sind. Erforderlich ist jedoch, dass die Schnittmengen der unterschiedlichen Lebensverhältnisse hinreichend groß sind, um Verständigung über die Differenzen hinweg zu ermöglichen. Damit es zu Übereinstimmungen von Meinungen kommen kann, muss es eine Kompatibilität der Lebensformen geben.438 Versuche kollektiver Identifikationen unterminieren jedoch diesen Streit der Meinungen, der das Medium politischer Repräsentation darstellt. Ein Publikum ist keine passive Instanz, sondern ein dynamisches System. Nicht immer sind Akteure und Zuschauer genau zu unterscheiden. Gerade kritische Zuschauer tendieren dazu, sich selbst auf der Bühne zu positionieren. Aber auch im Publikum selbst ist der Einzelne nicht unbeobachtet. Auch Beobachter werden beobachtet, Ansichten werden zur Ansicht gebracht, Einschätzungen anderer eingeschätzt. Die Iteration der Beobachtung führt zu einem hochreflexiven Prozess wechselseitiger Korrektur, in dem grundsätzlich alles zur Disposition gestellt werden kann. Im Zuschauer spiegelt sich nicht nur das Geschehen auf der Bühne der Öffentlichkeit. Erst durch sein Urteilen schließt sich der Kreislauf der Repräsentation. Diesen Zusammenhang hat Arendt im Auge, wenn sie das Urteilen als das Fundament des Politischen ausweist. „Politisches Denken ist repräsentativ in dem Sinne, dass das Denken anderer immer mit präsent ist“.439 In den eigenen Meinungen sind die Meinungen anderer reflektiert als Anregungen, als oppositionelle Meinungen, die dazu dienen, die eigene Meinung besser zu konturieren. Mills Rehabilitierung der falschen Meinung im Dienst der Wahrheit ist ein engagiertes Plädoyer für die Wechselwirkung „wahrer“ und „falscher“ Meinungen, die im Resultat zu einem insgesamt besseren Meinungsbild führen kann.440 Divergierende Meinungen, auch wenn sich darunter zum Teil ungerechtfertigte Ansichten finden, wirken unter günstigen Rahmenbedingungen als Ferment der Entwicklung qualifizierterer Meinungen. So kann innerhalb einer pluralistischen Gemeinschaft Orientierung entstehen, ohne dass ein externer Maßstab vorausgesetzt werden muss. Im Medium der Meinungen zeichnet sich deutlich ab, wie sich das Individuum zur Gemeinschaft verhält. Der politische Raum der Öffentlichkeit lässt sich nicht identifizieren; er ist ein konturloses, in steter Bewegung befindliches Gebilde, das viele Ansichten, aber keine privilegierte Ansicht besitzt. Öffentlichkeit ist kein Referenzsubjekt, auf das sich ein Individuum beziehen könnte. Obwohl sprachlich als Singularetantum ausgewiesen, ist Öffentlichkeit nicht durch Grenzen definiert, sondern durch Teilnehmerschaft und Aufmerksamkeit. Virtuell spannt sich die Öffentlichkeit über die Menschheit, gewinnt aber in dieser Dimension keine konkrete 438 Der "agonistische Pluralismus", den Mouffe konzipiert, beleuchtet diesen Zusammenhang von Meinungsstreit und institutionell gerahmter Praxis (Mouffe 2008, S. 85 ff.). 439 Arendt 2012, S. 342. 440 Mill 1999, Chap. II.
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Gestalt und bleibt ein bloßes Abstraktum. Dennoch sind innerhalb der globalen Öffentlichkeit Gemeinschaftsbildungen möglich. Öffentlichkeit konserviert nicht einzelne Beziehungen zwischen isolierten Individuen, sondern befördert Netzwerke, Kooperationen und Synergien. Öffentlichkeit ist ein Treiber für Kommunalität. Der moderne Nationalstaat behauptet sich in diesem Spannungsfeld und ist dank der Verschränkung von Rechtstaatlichkeit und demokratischer Verfassung zum Modell politischer Gemeinschaft avanciert. Er symbolisiert eine Gemeinsamkeit, die sich im Horizont einer potentiell weiteren Öffentlichkeit auskristallisiert. Wilhelm v. Humboldt hat so, am Paradigma der Sprache orientiert, die Nation als ein Kollektivindividuum dargestellt, das sich als konkrete Gestalt von Sprache überhaupt erweist: „Eine Nation in diesem Sinne ist eine durch eine bestimmte Sprache charakterisierte geistige Form der Menschheit, in Beziehung auf idealische Totalitaet individualisirt.“441 Dabei ist zu betonen, dass trotzt des universalistischen Potentials der Sprache darin kein idealer Universalismus angelegt ist, der eine allmähliche Aufhebung der nationalen Besonderheiten insinuiert. So wenig die Vielfalt der Sprachen nach einer gemeinsamen Universalsprache drängt, liegt in der globalen Form der politischen Öffentlichkeit schon die Tendenz zum Weltstaat. Gemeinschaft kann nur als begrenzte Individualität realisiert werden. Als historische Gebilde sind kollektive Individuen freilich hinsichtlich Ausdehnung und Intensität ihres Zusammenhalts steter Veränderung ausgesetzt. Im politischen Sinne ist insofern von einer Korrespondenz von Individuum und Gemeinschaft auszugehen. Das politische Volk ist die Chiffre dieser Gemeinschaft, die sich im Raum der Öffentlichkeit darstellt. Das entspricht der Diagnose, dass erst im Prozess der Repräsentation der Demos politische Konturen gewinnt.442 Im Medium der repräsentativen Öffentlichkeit etablieren sich kollektive Ziele, geteilte Standpunkte und übergreifende Interessen, die das Handeln im Maßstab des Politischen fundieren. Die fluide Erscheinungsform der Meinungen und Deutungen legt es nahe, darin bestimmte Orientierungspunkte zu verankern, um Stabilität zu garantieren. In diesem Zusammenhang ist, auch in der Öffentlichkeit, besonders in Krisenzeiten der Ruf nach Werten zu vernehmen. Obwohl der Begriff aufgrund der Historizität und Relativität von Werten kaum geeignet erscheint, das Bedürfnis nach Stabilität zu befriedigen, kann doch unter Voraussetzung dieser Charakteristik die funktionale Bedeutung von Werten anerkannt werden. Werte lassen sich als „regulative Fiktionen“443 begreifen, die einen festen Aggregatzustand von Meinungen verkörpern. Sie sind insofern keine externen, überzeitlichen Fixpunkte, sondern teleologische Kondensationspunkte in einem komplexen Austausch von Ansichten, kontroversen 441 Humboldt 1963, S. 160. 442 Dormal 2017, S. 99. 443 Sommer 2016. S. 141.
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Meinungen und widerstreitenden Präferenzen. Der Ruf nach einer Rehabilitierung von Werten, die Beschwörung vergangener Werte ist aber vor diesem Hintergrund offensichtlich sinnlos. Für die Repräsentation als Prozess kollektiver Orientierung sind nicht nur gemeinsame normative Standards wichtig. Fundamental für das Gelingen von Repräsentation ist die Kultur des Konflikts. Pluralität ist in modernen Gesellschaften ein Faktum, das in der Regel als Herausforderung für die Ausbildung gemeinsamer Strukturen betrachtet wird. Dies ist nicht zu bestreiten. Zugleich aber ist festzuhalten, dass sich Orientierung nur im Zusammenspiel unterschiedlicher Ansichten einstellen kann. Geht man davon aus, dass sich Meinungen nicht erzwingen und nur bedingt manipulativ generieren lassen, dann ist die Kontroverse, die Darstellung von Konfliktlinien und die Konturierung von Differenzen mindestens so ergiebig für die Entwicklung politischer Handlungsfähigkeit wie die Appelle an Gemeinsamkeit. Die emphatische politische Rhetorik zielt zwar mit ihren Topoi auf das Gemeinwohl und übergreifende Interessen, riskiert aber damit zugleich, die gegebenen Differenzen zu verleugnen. Der Verdacht ideologischer Vereinnahmung liegt immer dann nahe, wenn Gemeinsamkeit beschworen wird, ohne die Konflikte zu benennen. Die Öffentlichkeit ist jedoch keine Einrichtung, die aus eigener Kraft und nach eigenen Gesetzen operieren kann. Sie ist selbst keine Institution. Die integrative Wirkung der Meinungs- und Willensbildungsprozesse basiert ganz entscheidend darauf, dass sie in eine institutionelle Infrastruktur eingebunden ist, die ihre Wirkungsweise reguliert. Die vor allem von den Vertretern der Diskursethik verbreitete Vorstellung, Öffentlichkeit sei ein machtfreier Raum, ist nicht nur illusionär; sie ließ auch die Frage offen, wie die Meinungsbildungsprozesse politische Wirkung entfalten könnten. Repräsentation ist in der Tat die Vollzugsform reflexiver Macht, nicht nur ein unverbindliches Spiel von Meinungen, ein interesseloser Austausch von Argumenten oder die ästhetische Wirkung von Symbolen. Öffentlichkeit ist ein Raum der Entfaltung und Gestaltung politischer Macht. Weil Öffentlichkeit keine machtfreie Zone ist, sondern ein Ort der Freisetzung politischer Macht, bedarf sie ihrerseits der institutionellen Rahmung. Dies ist erstens deshalb notwendig, um die Transformation von Handlungsmacht, die in den Meinungen zum Ausdruck kommt, in regulative Macht oder Herrschaft zu gewährleisten. Zweitens bedarf die Öffentlichkeit des Schutzes gegenüber den Eingriffen regulativer Macht. Herrschaft betrachtet die Öffentlichkeit nicht nur als Legitimationsressource, sondern sucht auch Einfluss zu nehmen. Drittens ist Öffentlichkeit kein sich selbst steuerndes System, sondern verdankt ihre Existenz institutionellen Rahmenbedingungen. Es sind die Formen der republikanischen Verfassung, die Rechtstaatlichkeit, Grundrechtsgarantien und Gewaltenteilung, die Öffentlichkeit überhaupt erst ermöglichen. Unter diesen Bedingungen kann sich die integrative Macht der Öffentlichkeit optimal entfalten.
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Eine Ausdehnung des Wirkungsbereichs der öffentlichen Meinung, die teils bereits stattgefunden hat, teils aufgrund der bisherigen Entwicklungen extrapoliert werden kann, ist nicht unproblematisch. Die „monitory democracy“, die Keane propagiert,444 soll eine permanente Überwachung der Machtinhaber gewährleisten. Ein Netzwerk von Kontrollfunktionen evaluiert das gesamte Spektrum politischen Handelns. Keane stellt damit eine neue normative Ausrichtung der Demokratie in Aussicht. In diese Richtung, wenn auch weniger radikal, weisen die Überlegungen von Rosanvallon zum Formwandel der Demokratie.445 Der Bedeutungsverlust von Parlamenten und Parteien wird nach seiner Einschätzung kompensiert durch neue Beobachtungs- und Überwachungsstrategien, die durch prinzipielles Misstrauen gegenüber der Macht gekennzeichnet sind. Problematisch ist diese Einschätzung in zweifacher Hinsicht.446 Erstens wird in dieser Einstellung politische Entscheidungsfindung durch eine verstärkt klientenorientierte Ausrichtung zu einer Angelegenheit von Konsumenten. Insbesondere die Ähnlichkeit von internetbasieren Formen des Konsums und manchen experimentellen Formen der Bürgerbeteiligung legen eine Analogie von Konsumentscheidungen und politischen Präferenzen nahe. Politik wird dadurch nach dem Prinzip des Marktes modelliert. Zweitens betrifft diese Entwicklung das Verhältnis der Bürgerschaft zu politischer Macht. Die habituelle Opposition gegenüber politischer Macht führt zu einem Dualismus von Öffentlichkeit und Macht, der eine Beteiligung an der Gestaltung politischer Verhältnisse ausschließt. Während Repräsentation vor allem durch die Konkurrenz um Macht und politische Entscheidungsbefugnis realisiert wird, führt das pauschale Misstrauen gegenüber politischer Macht zu einer Schwächung der repräsentativen Wirkung. Die Oppositionshaltung, die eine „monitory democracy“ kultiviert, zeitigt noch einen weiteren dysfunktionalen Effekt. Die Fixierung auf die Überwachung der Machtinstanzen fokussiert die Aufmerksamkeit auf die politischen Akteure. Ihnen wird alle Verantwortung zugeschrieben, während die eigene Rolle als macht- und damit verantwortungslos eingeschätzt wird. Faktisch ergibt sich diese Wirkung in der Tat dadurch, dass die eigenen Handlungsspielräume, die in der wechselseitigen Auseinandersetzung der Bürgerinnen und Bürger erschlossen werden können, vernachlässigt werden. Das Ergebnis ist die Fragmentarisierung der Bürgerschaft in der Konzentration auf die Kontrolle der Macht. Die neuere Entwicklung der politischen Kommunikation unter dem Einfluss der digitalen Medien bedroht die integrative Kraft der Öffentlichkeit. Die hohen Erwartungen, die auf die neuen Medien insbesondere im Zusammenhang der Demokratisierung autoritär regierter Gesellschaften gesetzt wurden, haben sich bislang
444 Keane 2013. 445 Rosanvallon 2016; Rosanvallon 2017. 446 Dormal 2018, S. 84 ff.
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kaum erfüllt.447 Auch die technologischen Konzepte einer Cyber-Demokratie, die eine intensivere Beteiligung an den Prozessen der Deliberation versprechen, bleiben trotz einiger zaghaften Versuche Utopie. Insgesamt dürften die partizipatorisch ausgerichteten Demokratisierungsbewegungen eher Frustration erzeugen, da sie konkrete Handlungsmöglichkeiten in Aussicht stellen, aber nicht garantieren können. In jüngerer Zeit geht vor allem von den sogenannten sozialen Medien das Signal einer tiefgreifenden Modifikation der Öffentlichkeit aus. Sie sind längst fester Bestandteil von Wahlkämpfen und politischen Kampagnen, die, teils kritisch, teils proaktiv ihre Anliegen vertreten. Der Einfluss dieser Medien ist massiv, aber ihre Wirkung unverkennbar ambivalent. Die technischen Möglichkeiten haben Quantität und Qualität der Kommunikation auch in Bezug auf politische Themen immens verändert, ohne dass für diese Veränderung die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen wurden. Im Vergleich zu den traditionellen Foren, insbesondere den schriftlichen Medien, bilden die neuen Medien einen nahezu rechtsfreien Raum. Dies hat weitreichende Folgen für die weitere Entwicklung dieser Medien auf die Prozesse der Meinungsbildung. Die Effekte der Bildung von Filterblasen, der zunehmenden Bedeutung von Emotionen und die Verstärkung bestehender Überzeugungen durch Abschottung gegenüber Kritik sind nicht von der Hand zu weisen. Insgesamt sind in der Folge dieser Effekte Tendenzen der Radikalisierung zu registrieren. Trotz der Intensivierung des Kommunikationsflusses scheint die Bereitschaft zu sinken, die eigenen Meinung der Kritik durch andere auszusetzen. Die Kritik an den Meinungen anderer bleibt in den geschlossenen Sphären des eigenen gedanklichen Horizonts und verfehlt so ihre Wirkung als Korrektiv. Die Filterfunktion, die Madison der Repräsentation zuschreibt, ist in dieser Konstellation nicht zu beobachten. So verstärkt sich die Fragmentarisierung der Gesellschaft durch die Petrifizierung politischer Standpunkte, indem sich die Kommunikation aus der Öffentlichkeit in die ihrer Struktur nach privaten Echokammern verlagert. In der Summe wirken die neuen Kommunikationsformen deshalb bislang überwiegend desintegrativ. Die paradoxen Konsequenzen, die Manow angesichts der wachsenden Integrationserwartungen zeitgenössischer Demokratien beobachtet, sind vor allem diesem Trend der Reduktion politischer Öffentlichkeit zuzuschreiben.448 Jürgen Habermas identifiziert diese Entwicklung als Entstehung einer „Halböffentlichkeit“, die den inklusiven Charakter der Öffentlichkeit im traditionellen Sin-
447 S. im Blick auf die Prozesse politischer Repräsentation Steinberg 2013, S. 283 ff. 448 Manow 2020, S. 142 ff. Manows These, dass die "Ausweitung der Partizipationschancen die institutionellen Funktionsbedingungen der Demokratie zu sprengen scheint" (S. 171), richtet sich primär gegen die Forderungen radikaler Demokratie. Zu einem Paradoxon wird diese Konstellation aber erst dadurch, dass Manow wie die von ihm kritisierten Vertreter der radikalen Demokratie Repräsentation durch den unaufhebbaren Gegensatz von Macht und Machtunterworfenen definieren und Demokratie als Abstraktum behandeln, das unabhängig von einer politischen Verfassung zu analysieren ist.
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ne vermissen lässt, weil sich in den Echoräumen durch die Abwehr dissonanter konkurrierender Stimmen der von ihm erwartete Prozess deliberativer Klärung von Wahrheitsansprüchen nicht einstellen wird.449 Die dabei zugrunde liegende Erwartung, dass durch die neuen Medien die Emanzipation von der redaktionellen Vormundschaft der traditionellen Medien realisiert und alle die Rolle als Autoren übernehmen könnten,450 ist jedoch ebenso unrealistisch wie unangemessen, da dieses Ideal, das der elitären Welt literarischer Zirkel entstammt, keine politische Relevanz entwickeln kann und Autoritätsverhältnisse genauso wenig ausschließt wie in Wissenschaft und Kultur. Das politische Potential der sozialen Medien lässt sich schwer einschätzen, da die Innovationsgeschwindigkeit hoch ist und die Einsatzmöglichkeiten derselben noch lange nicht ausgeschöpft sind. Zugleich beginnen die Staaten, in denen der Einfluss der Medien auf das politische Geschehen spürbar wird, Maßnahmen zu ergreifen. Dabei schlägt in den Reaktionen eine ambivalente Einschätzung der selbst ambivalenten neuen Medien durch. In freiheitlichen Staaten werden die Chancen, die ein direkter und unzensierter Austausch von Meinungen bietet, geschätzt, aber die Missbrauchsmöglichkeiten, die Verbreitung von Fake News und die Techniken der auf individuelle Rezipienten zugeschnittenen Manipulation gefürchtet. In autoritären Staaten werden die emanzipatorischen Wirkungen unterdrückt und die Portale der Kommunikation als Instrumente der sozialen Kontrolle genutzt. In der kaum übersehbaren Vielfalt der Erscheinungsformen der neuen Medien lassen sich zwei dominierende Tendenzen ausmachen. Zum einen zeichnen sich die sozialen Medien durch die Fähigkeit niederschwelliger Information und kurzfristiger Mobilisierung aus. Im großen Maßstab haben das die Revolten in einigen arabischen Ländern demonstriert. Auch viele spontane Aktivitäten in den westlichen Staaten sind erst durch diese Formate möglich geworden. Für die Organisation von Protesten und Demonstrationen erweisen sich die weit verbreiteten Foren als geeignete Instrumente. Indirekt können sie damit zu einer Beteiligung an der Öffentlichkeit beitragen, wobei die Form des Protests dann wieder in den traditionellen Formen erfolgt und die Wirkung sich erst dann einstellt, wenn sie in den traditionellen Medien wahrgenommen wird.451 Das Instrument eignet sich jedoch gleichermaßen zur Vorbereitung gewaltsamer Proteste, Krawalle und Revolten. Inzwischen machen selbst atavistische Kräfte wie die afghanischen Taliban sich die Wirkungsweise der sozialen Medien zunutze und bereiten ihre Machtübernahme durch eine mediale Kontaktaufnahme mit der Bevölkerung vor, offensichtlich ohne befürchten zu müssen, dass sich in diesem Forum eine Öffentlichkeit artikuliert, die ihre politischen Zielen konterkariert. Entscheidend ist in allen Verwendungsweisen, dass der Erfolg 449 Habermas 2021, S. 497. 450 Habermas 2021, S. 488 f. 451 S. dazu die materialreiche Darstellung von MacKinnon 2012.
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dieser Kommunikationsform darauf beruht, sich der Sphäre des Öffentlichen zu entziehen. Ein politischer Effekt stellt sich erst dann ein, wenn eine Bewegung entsteht, die an die Öffentlichkeit tritt und auf sich aufmerksam macht. Eine zweite, folgenreichere Wirkung erzielen die sozialen Medien durch ihren direkten Beitrag zur Meinungsbildung. Die dominante Kommunikationsform ist hier die autoritäre Struktur nach dem Sender-Empfänger-Modell. Insbesondere die millionenfach verbreiteten Plattformen Twitter und Facebook favorisieren diese Struktur. Auch wenn die Technik ganz unterschiedliche Kommunikationsformen erlaubt, ist diese asymmetrische Kommunikation doch die bei weitem wirkungsmächtigste Form. Der mehr oder weniger prominente Sender sucht öffentliche Aufmerksamkeit und gewinnt durch die wachsende Zahl der Rezipienten, die durch den Status als Follower gekennzeichnet sind, zunehmend an Bedeutung. Auch diese Erscheinungsform ist ambivalent, sofern sie aufklärerisch oder manipulativ eingesetzt werden kann. Diese Grundkonstellation findet sich natürlich auch in der traditionellen Rhetorik und den älteren analogen Medien, doch erreicht diese Kommunikationsform eine bislang nicht gekannte Intensität, weil Manipulation auf Dauer gestellt und durch Strategien des Mikrotargeting mit relativ geringen Ressourcen individuell justiert werden kann. Auch diese Initiativen zielen auf öffentliche Aufmerksamkeit, erreichen sie aber auf dem Weg einer semiöffentlichen und unidirektionalen Kommunikation. Ein qualitativ anspruchsvoller Meinungsaustausch bedarf jedoch der Öffentlichkeit. Dies bedeutet nicht, dass darin nach einem Diskursideal verfahren wird, dass wissenschaftliche Deliberation kennzeichnet. Meinungsbildung in der Öffentlichkeit hat die kommunikative Funktion, komplexe Zusammenhänge zur Darstellung zu bringen, die Artikulation unterschiedlicher Standpunkte zu ermöglichen, gemeinsame Perspektiven aufscheinen zu lassen und Handlungsoptionen zu entwickeln. Die kommunikative Form medialer Vernetzung, die Sandstein in kritischer Betrachtung als Cybercascades beschreibt,452 unterstützt diese Prozesse nur bedingt und trägt häufiger dazu bei, sie zu unterminieren. Um das Potential, das in den neuen Medien liegt, für eine demokratische Öffentlichkeit zu aktivieren, muss die Kommunikation nicht nur, wie oft gefordert, gesetzliche reguliert, sondern vor allem kuratiert werden. Kommunikation in der Dimension der Massendemokratie bedarf der Moderation. Ohne deren mäßigende Wirkung verselbständigen sich die desintegrativen Effekte der Medien. Die Technologien des 21. Jahrhunderts drohen so die düsteren Dystopien der Massenpsychologie des 20. Jahrhunderts zu realisieren.
452 Sunstein 2017, S. 98 ff. Mit diesem Begriff markiert Sunstein die Phänomene von Informations- und Reputationskaskaden, durch deren Wirkung sich die Einstellung einer kleinen Gruppe vervielfacht.
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Schluss
Die Kernfrage der hier vorgelegten Überlegungen lautet: Wie konstituiert sich eine politische Gemeinschaft nach demokratischen Standards? Jede Annäherung an diese Thematik stößt auf die Schwierigkeit, dass die Terminologie historisch belastet ist. Insbesondere im deutschen Sprachraum trägt der Begriff des Volkes eine Hypothek, die nicht übersehen werden kann. Dessen unerachtet ist er der Schlüsselbegriff für das Konzept von Demokratie und insofern nicht ersetzbar. Die Versuche, auf Alternativen zurückzugreifen, machen das Defizit umso deutlicher. Exemplarisch dafür ist der durch Foucaults Schriften propagierte Begriff der „Bevölkerung“ (population), der dezidiert Fragen der politischen Organisation ausweicht beziehungsweise die bestehenden demokratischen Organisationsformen, die institutionelle Wirklichkeit eines Volkes pauschal denunziert. Gewiss ist es nicht statthaft, einen historisch oder idealistisch aufgeladenen Begriff des Volkes vorauszusetzen. Ein Volk ist ein Kompositum, keine homogene Entität. Aber ebenso wenig erschöpft er sich in der bloßen Addition der unbestimmt Vielen. Entscheidend für die politische Dimension ist gerade der Zusammenhalt der Vielen, ihre Beziehungen, die selbst Teil der Realität sind. Diesem Sachverhalt ist nur dadurch Rechnung zu tragen, dass die normativen Prinzipien und politischen Organisationsformen dieses Zusammenhangs rekonstruiert werden. Der Weg führt über eine Analyse des Status der Einzelnen, deren Integration in den Strukturen einer Verfassung ein Volk als politisches Volk ausmacht. Zunächst ist zu realisieren, dass die Einzelnen nicht atomare Subjekte, keine autonomen Monaden sind, sondern Wesen, die ihren Status den sozialen und kulturellen Sinnstrukturen verdanken. Das Selbst der Einzelnen ist kein Produkt einer Autopoiesis, sondern des intensiven Austauschs mit einer sozialen Umgebung, in deren Deutungshorizont sich das individuelle Selbstverständnis entwickelt. Die abendländische Kulturgeschichte hat zu einer Ausdifferenzierung unterschiedlicher Rollen geführt, in denen die Einzelnen sich und ihre Mitwelt verstehen können. Die für das politische Selbstverständnis des menschlichen Daseins entscheidenden Kategorien sind mit den Begriffen „Mensch“, „Person“ und „Individualität“ verbunden, die sich auf jeweils besondere Sphären des Handelns beziehen. In ihnen haben sich die Standards sedimentiert, die das normative Repertoire der rechtlichen und politischen Auseinandersetzungen ausmachen. Dass die Einzelnen ganz unterschiedlich adressiert werden und, abhängig von der jeweiligen Perspektive, in ganz unterschiedlichen Gestalten erscheinen, ist kein Ergebnis einer willkürlichen Wahl der Standpunkte, sondern der begrifflichen Evolution, deren Pointe das Zusammenspiel der Sphären ist. Im Status des Menschseins
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manifestieren sich die abstrakten normativen Bestimmungen, die in den allgemeinen Grundrechten der modernen Verfassungen ausbuchstabiert werden. Das Personsein umfasst die besonderen Interessen und Präferenzen der Einzelnen und realisiert sich in der Handlungswelt der nach allgemeinen Gesetzen geordneten Gesellschaft. Individualität schließlich bezeichnet den Status des Einzelnen, der sich als unverwechselbares Selbst versteht und in einer ebenso einzigartigen, nämlich begrenzten sozialen Welt lebt, die sich als gestaltbare, als politische Welt erweist. Während Menschsein und in geringerem Maße Personsein sich einem Abstraktionsprozess verdanken, der dafür verantwortlich ist, dass die normative Allgemeinheit mit semantischer Unbestimmtheit einhergeht, betont der Begriff der Individualität gerade die konkrete Einzigartigkeit des Einzelnen. Dementsprechend unbestimmt ist aber hier die normative Implikation. Nicht zuletzt deshalb bleibt dieser Begriff in ethischen und politischen Diskursen marginal. In der politischen Philosophie gilt das Individuum als ambivalent. Es dient als Legitimationsgrund, soll sich aber in einem fiktiven Vertragsakt durch den Eintritt ins Kollektiv partiell selbst entmündigen. So wird es der Doppelbedeutung des Begriffs „Subjekt“ gerecht: es ist legitime Grundlage der politischen Herrschaft und zugleich dieser unterworfen. Das Individuum ist jedoch nicht solipsistisch, als isoliertes Subjekt zu verstehen, sondern als Selbst im sozialen Kontext, im gemeinsamen Horizont des Verstehens. Seine Bildung und sein Selbstverständnis setzen eine kollektiv geteilte Lebensform voraus, die durch entsprechende Organisationsformen aufrechterhalten wird. Individualität erschöpft sich nicht in der abstrakten Einzelheit, sondern repräsentiert ein lebendiges Selbst, das sich in der Beziehung zu anderen entwickelt und sich im gemeinsamen Deutungshorizont versteht. Bis zu diesem Punkt können die Schemata „Mensch“, „Person“ und „Individuum“ noch als vorpolitische Konzepte dargestellt werden und verweisen in der semantischen Tiefendimension auch auf eine Begriffsgeschichte, die nicht genuin politisch angelegt ist. Die modernen Instrumente der politischen Verfassungen greifen indes auf das normative Potential, das in diesen Kategorien angelegt ist, zurück und entwickeln daraus die politischen Organisationsformen. Die Grundrechte, die sich am Konzept des Menschseins orientieren, und Kriterien der Rechtstaatlichkeit, die sich auf den Begriff der Person fokussieren, sind essentiell für eine Verfassung, aber nicht ausreichend für deren normative Architektur, weil sich mit ihnen nur der formale Rahmen und die Verfahren der Gemeinschaftsbildung definieren lässt. Für die politische Verfassung entscheidend ist, dass in der Organisation des Gemeinwesens auch dem Status der Individualität entsprochen wird. Die Defizite moderner Staaten betreffen vor allem diesen Bereich. Individualität steht für die Einzigartigkeit des Daseins der Einzelnen, ihre Bildungsgeschichte, ihre kulturelle Prägung und ihr Selbstverständnis. Dazu gehören auch der Sinn für Zugehörigkeit, die Reichweite der Solidarität und der Verantwortung. Vor allem ergibt sich daraus die Definition
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des Subjekts demokratischer Selbstbestimmung, des politischen Volkes in seiner historischen Konkretion. Kennzeichnend für moderne Verfassungen ist die sie tragende Überzeugung, dass sich die Identität eines Volkes nicht allein historischer Kontingenz verdankt, sondern Ergebnis eines Verständigungsprozesses ist, der prinzipiell nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann. So können politische Völker selbst den Charakter von kollektiven Individuen annehmen. Verfassungen, insbesondere demokratische Verfassungen beruhen auf dem Prinzip der Integration. Dieser Prozess erstreckt sich nicht nur auf die Entstehung von Gemeinschaften oder die Einbeziehung neuer Mitglieder, sondern auf ihr Dasein für die Dauer ihrer Existenz. Jedes politische Handeln bedarf, zumal in demokratisch verfassten Gemeinschaften, der Integration unterschiedlicher Ansichten und Interessen, die das Selbstverständnis der Individuen bestimmen. Wenn Demokratie als Herrschaft des Volkes verstanden werden kann, dann ist Integration die Voraussetzung für die legitime Ausübung von Macht. Sie ist der Katalysator der stets fragilen und neu zu etablierenden Verbindung von Macht und Legitimität. Integration ist selbst machtbildend in dem Maße, in dem sich die Gemeinschaft als Ganzes formt. Da sich die Gemeinschaft in stetem Wandel befindet, muss auch Integration permanent aktualisiert werden. Diese Konstitution der Gemeinschaft bedarf der Organisation in den Strukturen einer Verfassung. Die Approbation des Ganzen umfasst die Akteure in allen Dimensionen ihres Daseins. Damit konstituiert sich ein Volk als Volk. Das politische Volk als Subjekt der Demokratie ist nicht identisch mit dem empirischen Volk, der bloßen Vielheit, sondern eröffnet eine neue Dimension des politischen Handelns. Hannah Arendt hat darin den Ursprung politischer Macht gesehen. Wenn Integration bedeutet, dass die Pluralität der Meinungen und Interessen nicht aufgehoben, sondern gewahrt wird, dann ist Demokratie nur als repräsentative Demokratie möglich. Der politische Sinn von Repräsentation besteht darin, Pluralismus zu erhalten und dabei doch gemeinsam getragene Entscheidungen zu ermöglichen, eine Leistung, die auf allen Ebenen und Instanzen der politischen Organisation erbracht werden muss. Repräsentation erschöpft sich deshalb nicht in der Institution eines Parlaments, sondern vollzieht sich im Modus rhetorischer Darstellung des politischen Handelns in unterschiedlichen Szenarien. In diesem Sinne ist auch eine direkte Demokratie stets repräsentativ; ihre Repräsentationsformen sind allerdings in einem weit höheren Maße kontingent als die einer republikanisch verfassten Demokratie. Die Qualität politischer Entscheidungen hängt von der Qualität der Meinungsbildung ab. Die Bildung der Individuen und die Etablierung von Foren des öffentlichen Austauschs sind fundamentale Voraussetzungen dafür, dass politische Entscheidungen eine Vielfalt an Perspektiven berücksichtigen. Damit ist jedoch auch die Gefahr einer populistischen Adaption an zufällige Strömungen und extremistische Propaganda verbunden. Die Verzerrung der öffentlichen Meinung durch die neuen
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Medien wirkt auf eine bedrohliche Weise desintegrativ. Meinungsbildung bedarf der Moderation, sie muss kuratiert und kultiviert werden. Nur so kann sie die bildende Wirkung entfalten, die für die politische Willensbildung im demokratischen Sinne entscheidend ist. Die viel beschworene gegenwärtige Krise der Demokratie ist eine Krise der Repräsentation, die jedoch weniger auf die bestehende repräsentative Infrastruktur zurückzuführen ist als auf das politische Bewusstsein und die politische Bildung. Diese Krise zeichnet sich ab im Verhältnis des Individuums zur politischen Gemeinschaft, eine Beziehung, die sich im Selbstverständnis der Individuen und des Volkes gleichermaßen niederschlägt. Indiz für die Fragilität dieser prekären Beziehung ist die jeweils vertretene Auffassung von Freiheit. Die Verabsolutierung einer gleichsam naturhaft gegebenen individuellen Freiheit, wie sie in den libertären Doktrinen vertreten wird, verkennt die Komplexität dieser Beziehung ebenso wie eine kollektivistische Position, die allein auf die imaginäre Freiheit des Volkes setzt. Beide Extreme verleugnen, dass individuelle Freiheit und politische Freiheit sich wechselseitig bedingen. Individuelle Freiheit kann nur im Klima und im institutionellen Raum politischer Freiheit beansprucht und verteidigt werden; politische Freiheit ist ohne die Freiheit der Individuen nur eine Chimäre, die zur ideologischen Formel erstarrt. Diese Reziprozität wird vor allem erfahrbar, wenn sie gefährdet ist. Die Bedrohung der Freiheit wird zwar meist äußeren Kräften zugeschrieben. Damit aber überhaupt erst Freiheit realisiert werden kann, müssen die Bedingungen ihrer Möglichkeit garantiert werden. Die aus der Naturrechtstradition überlieferte Vorstellung angeborener Freiheit ist nur eine abstrakte Hilfskonstruktion, die den Rahmen skizziert, innerhalb dessen sich individuelle Freiheit entfalten kann. Freiheit ist die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, eine Leistung, die elementarer individueller Bildung ebenso bedarf wie einer ideellen normativen Welt, in der die Ansprüche der Einzelnen artikuliert, kritisiert, verteidigt und im Falle ihrer Verletzung sanktioniert werden können. Das Freiheitspostulat antizipiert damit einen institutionellen Raum des Rechts. Dieser ist keine bloße Fiktion, sondern nimmt Gestalt an in der politischen Realität als Organisationszusammenhang, der selbst von rechtlichen Prinzipien geprägt wird. Politische Freiheit erweist sich in der Liberalität der Gemeinschaft und ihrer Organisation, aber insbesondere auch in der Möglichkeit kollektiver Selbstbestimmung. Da Kollektivität kein Faktum, sondern der Ausdruck und die historische Verdichtung der Integrationsprozesse ist, kann kollektive Freiheit sich nur dort entfalten, wo die individuelle Freiheit gewährleistet ist. Die libertären Modelle subjektiver Freiheit entziehen sich diesem Integrationsprozess ebenso wie die Vorstellungen einer petrifizierten unantastbaren Kollektivität, die Freiheiten allenfalls in Form einzelner Privilegien gewähren. In ihrem Bestreben, sich der politischen Integration zu verweigern, zehrt libertäre Freiheit parasitär von
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den Potentialen kollektiver Freiheit, deren Vorteile und Sicherheitsgarantien sie für sich in Anspruch nimmt und zugleich die Rechtmäßigkeit ihrer Machtgrundlage bestreitet. Desintegrativ ist aber auch die kollektivistische Unterstellung einer homogenen Einheit, die keiner weiteren Integration mehr bedarf. Ihre faktische Wirkung ist die Spaltung der Gesellschaft, denn jede Behauptung von Homogenität geht auf Kosten derer, die sich dem Schema gleicher Gesinnung nicht fügen. Die Frage, wer in einer konkreten politischen Konstellation das Volk ist, kann kein historisches Narrativ beantworten. Sie beantwortet sich allein durch das Gelingen oder Misslingen der Integration. Dabei geht es um mehr als bloß ein direktes Bekenntnis. Integration basiert auf Organisation. Separationsbestrebungen sind deshalb immer zu einer paradoxen Lagebeschreibung gezwungen: Sie bestreiten das Recht der gegebenen, über den eigenen Kulturkreis hinausreichenden Organisationsformen, indem sie ein ursprüngliches Recht des Volkes auf Selbstbestimmung beanspruchen, und fordern zugleich autonome Organisationsformen mit dem Argument, dass erst dadurch die Selbstbestimmung des Volkes realisiert wird, also das Volk sich politisch artikuliert. In friedlichen Zeiten führt jedes Sezessionsbestreben zu einem performativen Selbstwiederspruch. Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um eine Autonomiebewegung innerhalb einer größeren politischen Gemeinschaft handelt oder um grenzüberschreitende Bestrebungen einer Vereinigung von Volksgruppen gleicher Sprache oder Herkunft. Anders ist es einzuschätzen, wenn es sich um eine Bewegung handelt, die sich gegen offensichtliche Unterdrückung richtet. Dann wird Integration unterbunden durch ein hegemonial ausgerichtetes Regime. Die antizipierte Integration innerhalb eines neu zugeschnittenen Gemeinwesens kann zur Legitimationsgrundlage politischer Emanzipation werden. Die Rechtfertigung erfolgt indes immer erst ex post. Angesichts der Ungewissheit volatiler politischer Entwicklungen und der drohenden Kosten im Falle des Scheiterns sind die mit einer Sezession verbundenen Risiken nur dann gerechtfertigt, wenn der Leidensdruck aufgrund der Unterdrückung entsprechend hoch ist. Die Abspaltung und Neuorganisation wird so durch eine Art Notwehrrecht getragen. Nur die explizite Exklusion einer Gruppe innerhalb eines Gemeinwesens rechtfertigt den Versuch, eine autonome Form politischer Integration zu entwickeln. Umgekehrt wäre ein Sezessionsanspruch in dem Maße ungerechtfertigt, in dem der betroffenen Minderheit überzeugende Integrationsangebote unterbreitet werden. Das Selbstbestimmungsrecht als Grundsatz des Völkerrechts konstatiert die Freiheit der Völker. Es ist als universelles Prinzip mit Absolutheitsanspruch anerkannt und bildet eines der Grundaxiome des Zivilpakts der Vereinten Nationen: „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung“ (Art. 1 Abs. 1). Die Bedeutung dieses Prinzips besteht
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gegenwärtig vor allem darin, das Existenzrecht der bestehenden Nationalstaaten zu schützen. Insofern setzt es die politische Existenz der Völker und deren glaubwürdige Selbstdarstellung voraus und erscheint wie ein analytischer Satz, der die Freiheit eines freien Volkes statuiert. Diese Bedingung ist in den unstrittigen Fällen nationaler Souveränität erfüllt, für die der Rechtssatz die Funktion eines defensiven Prinzips besitzt. Die politische Brisanz dieses Rechtsprinzips zeigt sich jedoch in Konfliktsituationen, also dort, wo Staatsgrenzen Volksgruppen zerschneiden oder Völker in größeren Gemeinwesen eingebunden sind. Die disruptive Wirkung, die sich aus der Anwendung dieses Prinzips ergeben kann, ist leicht zu erkennen. Sie hat sich einerseits im Kontext der Dekolonisation des 19. Jahrhunderts als Prinzip der Emanzipation bewährt und wurde andererseits im 20. Jahrhundert als Rechtfertigung von Gewaltexzessen zur Realisierung ethnischer Homogenität, sogenannter „ethnischer Säuberungen“ herangezogen. Trotz der Bedeutung des Prinzips als gewohnheitsrechtlicher Standard ist es der Rechtsdogmatik bislang nicht gelungen, eine Definition des Volkes als des Subjekts der Selbstbestimmung zu entwickeln. Der Rekurs auf ethnische, kulturelle oder historische Gemeinsamkeiten ist offensichtlich nicht ausreichend. In der Durchsetzung des Rechts auf Selbstbestimmung, dem rechtlich der Status eines ius cogens zugesprochen wird, kann es außerdem zu Kollisionen mit dem Gewaltverbot kommen. Die territoriale Unversehrtheit bestehender Staaten stellt jedoch nach geltender Rechtauffassung eine grundsätzliche Schranke der Selbstbestimmung eines Volkes dar. Darüber, was ein Volk zum Volk macht, gibt es in der Anwendungspraxis des Völkerrechts keinen Konsens. Letztlich mündet jeder Versuch einer Antwort in die Frage nach der Repräsentativität der staatlichen Organe. Als repräsentativ gilt eine Herrschaftsordnung dann, wenn diese und die von ihr ausgehenden Entscheidungen im Wesentlichen vom Willen des Volkes getragen werden. Die prozesshafte innere Selbstbestimmung besitzt somit Priorität gegenüber dem Recht auf äußere Selbstbestimmung, auch wenn die Kriterien der politischen Selbstbestimmung sich kaum rechtlich in hinreichender Eindeutigkeit definieren lassen. Die Kategorien innerer Selbstbestimmung markieren den Raum der politischen Freiheit. Die Gestaltung dieses Raums durch verfassungsmäßige Verfahren und durch eine ausgebildete Kultur der Öffentlichkeit kann unterschiedliche Formen annehmen. Freiheit ist immer graduierbar und strittig, aber die Auseinandersetzungen über die Freiheit lassen sich im gelungenen Fall in die politische Willensbildung selbst integrieren. Selbst ein Minimum an Repräsentativität eines politisch organisierten Volkes begründet den Anspruch auf äußere Selbstbestimmung. Die Verletzung der äußeren Selbstbestimmung eines Volkes jedoch ist nach einem eindeutigen Kriterium zu beurteilen. Der Einsatz militärischer Gewalt gegenüber
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einem fremden Volk stellt eine eklatante Rechtsverletzung dar, einen Verstoß gegen internationales Recht und gegen das Recht auf Selbstbestimmung des Volkes gleichermaßen. Das Völkerrecht markiert die Grenze zwischen Krieg und Politik. Damit bekräftigt es seine eigene Daseinsbedingung, denn das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das Prinzip politischer Freiheit, ist Voraussetzung der Anerkennung und Durchsetzung internationalen Rechts und damit auch das Ziel aller Politik.
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