In (Ge)schlechter Gesellschaft?: Politische Konstruktionen von Männlichkeit in Texten und Filmen der Romania [1. Aufl.] 9783839431740

When are »men« a political issue? This volume investigates texts and films which get to the bottom of the crisis-laden n

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German Pages 290 Year 2015

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Table of contents :
INHALT
Vorwort. Die ‚einzigartige Situation‘ von Männern: Warum Masculinity Studies?
Einleitung: Zur politischen Mythologie des Geschlechts
Männlichkeiten: Ein Forschungsüberblick
Heldendämmerung: Männlichkeit und Impotenz im französischen und spanischen Fin de Siècle-Roman (Huysmans/Clarín)
Bedingungslos bartlos: Travestie, Hysterie und Staat in Tirsos Don Gil de las calzas verdes
Apoll und Hyazinth: Erotische Herrschaftsphantasien bei María de Zayas
Die Geburt der Republik aus dem Geiste des Genies: Politische Souveränität und Genieästhetik in Schillers Die Verschwörung des Fiesco zu Genua
Amputierte Männlichkeit und die Wundermittel der Julimonarchie: Balzacs Passion dans le désert, L’Élixir de longue vie und César Birotteau
Der männliche Protest von Emma Bovary und einiger ihrer Nachfolgerinnen
Gefährliche Penetration: Bilder von Männlichkeit auf französischen Kolonialplakaten
Montage macht den Mann. Wie das Erzählkino Geschlecht konstruiert – und wie der Filmschnitt dabei hilft
Das Ende der Utopie: Homosoziales Framing und Klassenkonflikt in Alfonso Cuaróns Y tu mamá también
On ne naît pas homme, on le devient ? Jugend und schwule Männlichkeit im frankokanadischen Gegenwartskino
Autorinnen und Autoren
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In (Ge)schlechter Gesellschaft?: Politische Konstruktionen von Männlichkeit in Texten und Filmen der Romania [1. Aufl.]
 9783839431740

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Julia Brühne, Karin Peters (Hg.) In (Ge)schlechter Gesellschaft?

Mainzer Historische Kulturwissenschaften | Band 27

Editorial In der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften werden Forschungserträge veröffentlicht, welche Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften in Verbindung mit empirischer Forschung entwickeln. Zentraler Ansatz ist eine historische Perspektive der Kulturwissenschaften, wobei sowohl Epochen als auch Regionen weit differieren und mitunter übergreifend behandelt werden können. Die Reihe führt unter anderem altertumskundliche, kunst- und bildwissenschaftliche, philosophische, literaturwissenschaftliche und historische Forschungsansätze zusammen und ist für Beiträge zur Geschichte des Wissens, der politischen Kultur, der Geschichte von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie anderen historisch-kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsfeldern offen. Ziel der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften ist es, sich zu einer Plattform für wegweisende Arbeiten und aktuelle Diskussionen auf dem Gebiet der Historischen Kulturwissenschaften zu entwickeln. Die Reihe wird herausgegeben vom Koordinationsausschuss des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften (HKW) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Julia Brühne, Karin Peters (Hg.)

In (Ge)schlechter Gesellschaft? Politische Konstruktionen von Männlichkeit in Texten und Filmen der Romania

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3174-6 PDF-ISBN 978-3-8394-3174-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT

Vorwort Die ‚singuläre Situation‘ von Männern: Warum Masculinity Studies? ............ TODD W. REESER

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Einleitung: Zur politischen Mythologie des Geschlechts ........................................................ 17 KARIN PETERS / JULIA BRÜHNE Männlichkeiten: Ein Forschungsüberblick .............. 33 STEFAN HORLACHER Heldendämmerung: Männlichkeit und Impotenz im französischen und spanischen Fin de Siècle-Roman (Huysmans/Clarín) .................. 57 GREGOR SCHUHEN Bedingungslos bartlos: Travestie, Hysterie und Staat in Tirsos Don Gil de las calzas verdes ..... 87 JULIA BRÜHNE Apoll und Hyazinth: Erotische Herrschaftsphantasien bei María de Zayas .............. 117 TIMO KEHREN

Die Geburt der Republik aus dem Geiste des Genies: Politische Souveränität und Genieästhetik in Schillers Die Verschwörung des Fiesco zu Genua ......................................................... 137 MAHA EL HISSY Amputierte Männlichkeit und die Wundermittel der Julimonarchie: Balzacs Passion dans le désert, L’Élixir de longue vie und César Birotteau .. 155 LISA ZELLER Der männliche Protest von Emma Bovary und einiger ihrer Nachfolgerinnen ............................ 183 THORSTEN SCHÜLLER Gefährliche Penetration: Bilder von Männlichkeit auf französischen Kolonialplakaten........................... 201 TIMO OBERGÖKER Montage macht den Mann. Wie das Erzählkino Geschlecht konstruiert – und wie der Filmschnitt dabei hilft ......................... 213 WIELAND SCHWANEBECK Das Ende der Utopie: Homosoziales Framing und Klassenkonflikt in Alfonso Cuaróns Y tu mamá también ................... 241 KARIN PETERS

On ne naît pas homme, on le devient ? Jugend und schwule Männlichkeit im frankokanadischen Gegenwartskino .................................. 265 FRANK REZA LINKS Autorinnen und Autoren ............................................ 285

Vorwort Die ‚einzigartige Situation‘ von Männern: Warum Masculinity Studies? TODD W. REESER Aus dem Englischen von Jan Schönherr

Männlichkeit war lange die ‚schweigende‘, die ‚abwesende‘ Form von Geschlecht, die Kategorie, die nicht als Kategorie gesehen wurde. In den bekannten Worten Simone de Beauvoirs aus Das andere Geschlecht (1949): „Ein Mann käme gar nicht auf die Idee, ein Buch über die einzigartige Situation der Männer innerhalb der Menschheit zu schreiben [un livre sur la situation singulière qu’occupent dans l’humanité les mâles] […]. Ein Mann beginnt nie damit, sich als Individuum eines bestimmten Geschlechts darzustellen: daß er ein Mann ist, versteht sich von selbst.“1 Jeder Äußerung eines Mannes ist das Universelle eingebaut – das, was Beauvoir die „Wahrheit“ nennt –, und es fehlt jede Möglichkeit einer relationalen „Situation“, in der er verschiedene Positionen einnehmen könnte. Im Gegensatz zu Männern muss Beauvoir erst ihr Geschlecht verkünden, bevor sie sprechen oder ihren Text schreiben kann: „Wenn ich mich definieren will, muß ich zuerst einmal klarstellen: ‚Ich bin eine Frau‘. Diese Wahrheit ist der Hintergrund, von dem sich jede weitere Behauptung abheben wird.“2 Will ein Mann sich definieren, so Beauvoir, kann er zu Definitionen greifen, die 1 2

BEAUVOIR, 2009, S. 11. EBD.

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Todd W. Reeser

nicht auf Geschlecht beruhen: Er kann seine ethnische Zugehörigkeit, seine Nationalität, seine Philosophie oder seinen Beruf bekanntgeben und davon ausgehend weitersprechen, ohne je eine feste „Wahrheit“ des Geschlechts als wesentliches Element benennen zu müssen. Er braucht kein Geschlecht, um Deutscher zu sein, und er kann sich als Geschäftsmann beschreiben, ohne sich geschlechtlich zu bestimmen. Wie seinen Äußerungen keine Wahrheit des Geschlechts zukommt, ist auch sein Sein nicht wesentlich geschlechtlich bestimmt. Sein Geschlecht bleibt jenseits der Kategorisierung. Wenn es aber keine Wahrheit der Männlichkeit gibt, wie soll man dann dagegen argumentieren oder Einspruch erheben? Wie soll man beklagen, dass Männlichkeit zu Krieg, Vergewaltigung, Kolonialismus, Homophobie, Rassismus und allerlei anderen gesellschaftlichen Problemen führen kann? Wie soll man Männlichkeit infrage stellen? Wie kann ihr Wert relativiert statt bloß vorausgesetzt werden? Ohne Geschlecht zu sein, bedeutet, einen Schlüsselstein der Macht zu verbergen und der Kritik zu entziehen. Wenn der männliche Körper nur der ‚menschliche‘ ist, statt ein Geschlecht zu haben, wenn es keine Wahrheit des männlichen Körpers gibt und er sich nicht als männlich ausweisen muss, sondern schlicht ‚der Körper‘ sein darf, dann bleibt kein Raum dafür, männliche Körper als wehrlos oder verletzlich zu denken. Mit Beauvoir gesagt: „Der Mann sieht großzügig darüber hinweg, daß zu seiner Anatomie auch Hormone und Testikel gehören.“3 In seinen Augen ist der weibliche Körper ein Hindernis, sein eigener dagegen eine „direkte, normale Verbindung zur Welt, die er in ihrer Objektivität zu erfassen glaubt“.4 Indem sie ihre Männlichkeit vergessen, können männliche Körper leichter in den Krieg ziehen, hegemoniale Handlungen gegen andere vollbringen oder sich selbst als mächtig vorstellen. Solche Handlungen sind dann nämlich notwendig objektiv, nicht situativ. Männer müssen sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, wie ihre Biologie sie beeinflusst. Beauvoirs Männerbegriff lässt sich anhand der semantischen Kategorien des Markierten und Unmarkierten begreifen, die der französische Theoretiker Roland Barthes in Elemente der Semiologie (1965) formuliert. Mit Saussure entsteht Bedeutung aus dem Gegensatz von Signifikanten – so verstehen wir ‚dick‘ als nicht ‚dünn‘. Im Hinblick auf Ge3 4

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EBD., S. 12. EBD.

Vorwort: Die ‚einzigartige Situation‘ von Männern

schlecht allerdings ist ‚männlich‘ unmarkiert, während ‚weiblich‘ markiert und sichtbar ist.5 Beauvoirs Geschlecht muss markiert werden, und diese Markierung lässt sich nicht wieder aufheben. Freilich kann eine Frau beschließen, sich nicht zu definieren und überhaupt außerhalb von Diskurs und Subjektivität zu bleiben, aber sofern es um Fragen der Identität geht, kann sie nicht als unmarkierte Kategorie funktionieren. Sich zu identifizieren bedeutet für sie folglich notwendig, als geschlechtlich bestimmtes menschliches Wesen zu sprechen. Doch heute hat die Lage sich geändert. In der akademischen Welt des 21. Jahrhunderts kommen plötzlich doch Männer auf die Idee, ein „Buch über die einzigartige Situation der Männer innerhalb der Menschheit“ zu schreiben. Wissenschaftler aller Geschlechter untersuchen die Besonderheiten von Männern als geschlechtlich bestimmte Wesen so genau wie nie zuvor. Männlichkeit wird in Situationen betrachtet und als geschlechtliche Kategorie markiert. Diese Bewegung folgt der zunehmend verbreiteten Einsicht zumindest einiger Kulturen, dass Männer geschlechtlich bestimmt sind, und konkretisiert diese zugleich. Männliche Körper werden als geschlechtlich bestimmt begriffen, nicht als universell. Statt die Verletzlichkeit von Körper, Penis und Sperma zu ignorieren, stellt man sie in den Mittelpunkt der Betrachtung. In den Gender Studies untersuchen wir heute spezifische Weisen der Markierung von Männlichkeit. Wir untersuchen, wie sie immer schon markiert wurde, egal, ob die Menschen früherer Epochen diese Markierung bemerkt haben oder nicht. Indem wir den Mann als Mann untersuchen, beteiligen wir uns selbst am Prozess der Markierung und daran, Männer als geschlechtlich bestimmte Wesen sprechen zu lassen. Ihr Geschlecht als Teil ihres Seins zu denken, bedeutet, Männer selbst anders zu denken. Haben wir Männer einmal als Männer identifiziert, muss jede weitere Diskussion dieses Element ihrer Identität berücksichtigen. Beauvoir bemerkt, dass sie ihren männlichen Kritikern nicht entgegnen konnte: „Und Sie denken das Gegenteil, weil Sie ein Mann sind.“6 Heute jedoch, im Licht der Masculinity Studies, können wir uns vorstellen, dass Männer aufgrund ihres Geschlechts – oder in Bezug darauf – auf bestimmte Weise denken. Wir können uns vorstellen, dass 5 6

Vgl. BARTHES, 1993, Bd. 1, S. 1509. Für mehr zu Barthes und markierter Männlichkeit, vgl. REESER/SEIFERT, 2008, S. 22f. BEAUVOIR, 2009, S. 11.

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Todd W. Reeser

sie etwas denken, weil sie Männer sind. Männer als relative Subjekte zu betrachten, nicht mehr als Verweise auf das Allgemeine, über das Besondere hinausgehende, bedeutet, ihnen eine vorgeblich natürliche Verbindung zur Objektivität zu nehmen. Ist die Unsichtbarkeit ihres Geschlechts erst ans Licht gebracht, werden ihre Positionen anfechtbar. Vielleicht ist diese Wahrheit nicht „der Hintergrund, von dem sich jede weitere Behauptung abheben wird“, doch immerhin manche Behauptungen können dann vielleicht als dem Geschlecht geschuldet verstanden werden. Was aber ist diese „einzigartige Situation“? Freilich gibt es auf diese Frage keine einfache Antwort, und es gibt keinen Königsweg, Männlichkeit zu verstehen, theoretisch zu durchdenken oder zu kontextualisieren. Ein paar Jahrzehnte Masculinity Studies haben uns gelehrt, dass Männlichkeit ein derart kompliziertes, historisch und geografisch derart vielseitiges Phänomen ist, dass kein einzelner Ansatz, keine einzelne Männlichkeitstheorie universal anwendbar ist. Tatsächlich kann man Männlichkeit sogar als grundsätzlich bewegungsbasiert begreifen.7 Mag es auch kulturelle Kategorien oder Morphologien geben, die Männlichkeit und die Gruppe der Männer organisieren, so spricht doch jeder spezifische Mann notwendig im Singular, sodass man von ‚Männlichkeiten‘ sprechen muss. So wie diese Männlichkeiten sich über Zeit und Raum hinweg verändern, hat auch die wissenschaftliche Betrachtung der Männlichkeit sich transformiert. Connells ursprünglicher Gedanke einer „hegemonialen Männlichkeit“, wie sie ihn zunächst in den Achtzigern und dann 1995 in ihrem bekannten Werk Der gemachte Mann formulierte, ist immer wieder benutzt, zitiert, erneuert, problematisiert, neu gedacht und kritisiert worden – auch von Connell selbst.8 Der immer wieder neue Umgang mit diesem zentralen Begriff kann als emblematisch dafür angesehen werden, wie sich die Zugänge dazu veränderten, was es heißt, Masculinity Studies zu betreiben – und damit auch als emblematisch für deren Lebendigkeit. Was heute Masculinity Studies oder Critical Masculinity Studies heißt, ist ein international fest 7 8

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Vgl. z. B. REESER, 2010. Vgl. CONNELL, 1995. Für frühere Fassungen des Begriffs vgl. C ONNELL, 1983; CONNELL, 1987; CARRIGAN u. a., 1987. Für jüngere Neufassungen des Begriffs vgl. z. B. YANCEY MARTIN, 1998; WETHERELL/EDLEY, 1999; DEMETRIOU, 2001; FLOOD, 2002. Vgl. auch C ONNELL/MESSERSCHMIDT, 2005.

Vorwort: Die ‚einzigartige Situation‘ von Männern

etablierter Zweig der Gender Studies, besonders in der englischsprachigen Wissenschaft.9 Gehörten Rasse und Homosexualität schon in Connells Forschung von Anfang an zu den Masculinity Studies, haben heute auch weibliche und Transgender-Männlichkeiten einiges Gewicht darin gewonnen und bilden ein Herzstück des Feldes, das nicht nur den Begriff der Männlichkeit, sondern auch die Formen ihrer Untersuchung vor neue Herausforderungen stellt.10 Diese Entwicklungen bedeuten, dass Männlichkeit nicht mehr exklusiv in den Bereich von cisgender (oder nicht-transgender) Männern fällt. Die neuere Forschung bezieht außerdem verstärkt transnationale und globale Weisen ein, Männlichkeit zu denken.11 Dieser immer größer werdende Korpus verschiedener Arbeiten bringt die immer dringlicher werdende Frage mit sich, was Männlichkeit überhaupt ist oder bedeuten kann – eine unendliche Frage, deren kritische Kraft gerade auf ihrer Unabschließbarkeit beruht. Männlichkeit nicht zu stabilisieren bedeutet, sie nicht hegemonial werden zu lassen. Ein Ergebnis des Gedeihens der Masculinity Studies ist, dass die Forschenden heute einstmals übersehene Elemente nicht nur von Männlichkeit, sondern von Kultur überhaupt, besser lokalisieren und analysieren können. Männlichkeit hat die Tendenz, im Reich der Repräsentation per Analogie zu funktionieren. Wird Männlichkeit als ‚wie‘ oder ‚parallel zu‘, sagen wir, der Nation konstruiert, und wenn diese Parallele weiterhin konstruiert wird, eröffnet sich die Möglichkeit zum Verständnis einer der Arten, wie Nationen operieren. Männlichkeit zu untersuchen bedeutet dann auch, Staatlichkeit zu untersuchen, und beide Bereiche zu trennen macht sie jeweils besser sichtbar und öffnet sie wissenschaftlicher Betrachtung. Wir können dann gleichzeitig zeigen, wie die Nation und wie Männlichkeit funktionieren. Rasse und Ethnizität können mit Männlichkeit oder einem Mangel an Männlichkeit verknüpft sein, und auch diese Analogien decken die Funktionsweisen auf 9

Für eine Geschichte der Männlichkeitsforschung in der englischsprachigen Welt vgl. REESER, im Erscheinen. Für historische Darstellungen der Männlichkeitsforschung in anderen kulturellen Kontexten, vgl. die anderen Essay im selben Band. 10 Vgl. z. B. die Essays über Männlichkeit in STRYKER, 2006; HALBERSTAM, 1998. Für einen Überblick über solche Zugänge, vgl. Kap. 6 in REESER, 2010. 11 Vgl. z. B. Connell, 1998; JACKSON/BALAJI, 2011; CONNELL, 2014.

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Todd W. Reeser

Rasse oder Ethnie basierter Ideologien auf. Selbstverständlich sind solche Analogiekonstrukte ebenfalls für unzählige weitere kulturelle Kategorien relevant (z. B. Klasse, Behinderung, Sexualität). Solche Analogien zu Männlichkeit bringen uns sogar noch über die Bücher hinaus, von denen Beauvoir sich nicht vorstellen konnte, dass Männer sie schreiben würden. Tatsächlich ist diese Vorstellung des Mannes, der nicht auf die Idee käme, „sich als Individuum eines bestimmten Geschlechts darzustellen“, selbst Element der Kultur. Auch die Weise, wie man sich daran erinnert, auf welche spezifische Arten Männlichkeit vergessen wird, verändert sich über Raum und Zeit. Wir müssen tun, wozu Simone de Beauvoir uns aus heutiger Sicht aufgefordert zu haben scheint: uns an die einzigartigen Situationen erinnern, in denen Männlichkeit vergessen wird, und auch an die Gründe dieses Vergessens. So bezeichnet Beauvoir selbst einen wichtigen kulturellen Moment im diskursiven Ausdruck der Erinnerung daran, was wir Männlichkeit nennen. Rückblickend ist ihre Kritik an den Männern als Aufforderung an uns Forschende zu verstehen, Bücher und Artikel über Männlichkeiten in ihrer Einzigartigkeit zu schreiben.

Lit er at ur BARTHES, ROLAND, Œuvres complètes, Bd. 1, Paris 1993. BEAUVOIR, SIMONE DE, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, übers. von Uli Aumüller und Grete Osterwald, Hamburg 2009. CARRIGAN, TIM u. a., Toward a New Sociology of Masculinity, in: The Making of Masculinities. The New Men’s Studies, hg. von HARRY BROD, Boston 1987, S. 63-102. CONNELL, R. W., Which way is up? Essays on Sex, Class and Culture, Sydney 1983. DERS., Gender and Power. Society, the Person and Sexual Politics, Stanford 1987. DERS., Masculinities, Berkeley 1995. DERS., Masculinities and Globalization, in: Men and Masculinities 1, 1 (1998), S. 3-23. DERS./MESSERSCHMIDT, JAMES W., Hegemonic Masculinity. Rethinking the Concept, in: Gender and Society 19, 6 (2005), S. 829-859.

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Vorwort: Die ‚einzigartige Situation‘ von Männern

CONNELL, RAEWYN, Margin Becoming Centre. For a World-Centered Rethinking of Masculinities, in: NORMA: International Journal for Masculinity Studies 9, 4 (2014), S. 217-231. DEMETRIOU, DEMETRAKIS Z., Connell’s Concept of Hegemonic Masculinity. A Critique, in: Theory and Society 30 (2001), S. 337-361. FLOOD, MICHAEL, Between Men and Masculinity. An Assessment of the Term ‘Masculinity’ in Recent Scholarship on Men, in: Manning the Next Millennium: Studies in Masculinities, hg. von SHARYN PEARCE/VIVIENNE MULLER, Bentley 2002, S. 203-213. HALBERSTAM, JUDITH, Female Masculinity, Durham 1998. JACKSON, RONALD L. II/BALAJI, MURALI (Hgs.), Global Masculinities and Manhood, Urbana 2011. REESER, TODD W./SEIFERT, LEWIS C., Introduction: Marking French and Francophone Masculinities, in: “Entre hommes”: French and Francophone Masculinities in Culture and Theory, hg. von DIES., Newark 2008. REESER, TODD W., Masculinities in Theory. An Introduction, Malden 2010. DERS., Männlichkeitsforschung in der englischsprachigen Welt, in: Männlichkeit: Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. von STEFAN HORLACHER u. a., Stuttgart/Weimar 2015 [im Erscheinen]. WETHERELL, MARGARET/EDLEY, NIGEL, Negotiating Hegemonic Masculinity. Imaginary Positions and Psycho-Discursive Practices, in: Feminism and Psychology 9, 3 (1999), S. 335-356. YANCEY MARTIN, PATRICIA, Why Can’t a Man Be More Like a Woman? Reflections on Connell’s Masculinities, in: Gender and Society 12 (1998), S. 472-474.

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Einleitung : Zu r po litischen Mytho lo gie des Gesch lechts KARIN PETERS / JULIA BRÜHNE „All nationalisms are gendered.“

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In (Ge)Schlechter Gesellschaft: Die übergeordnete Klammer, unter der die hier vorliegenden Beiträge präsentiert werden, ist nicht ohne Grund in Form einer Frage formuliert. Sie zollt dem Umstand Rechnung, dass Gesellschaft ohne die Kategorie des Geschlechts nicht zu denken ist, Gesellschaften aber auch dazu neigen, sich Gender-Metaphern zu suchen, um die eigene Geschichte, Gegenwart oder Zukunft begreif- oder manipulierbar zu machen (und sich dabei bis heute der Rhetorik der ‚Krise‘ 2 bedienen). Weibliche Allegorien der Nation sind hier hinreichend bekannt; das Potenzial einer im gesellschaftlichen Imaginären 3 politisch symbolisierten Männlichkeit wurde hingegen bisher nicht gleichermaßen in den Mittelpunkt gerückt. Die politische Konstruktion des Geschlechts ist aber vor allem dort unter Ideologieverdacht zu stellen, wo mit Metaphern oder Allegorien von Männlichkeit Diskurse eine

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MCCLINTOCK, 1998, S. 89. Vgl. zur Rhetorik der Krise von Männlichkeit die Beiträge von Stefan Horlacher und Gregor Schuhen in diesem Band sowie zur Erzählung ‚kritischer‘ Männlichkeit als affektischer Prothese der Imagination und Erinnerung einer politischen Gemeinschaft PETERS, 2014. „Unter dem sozialen Imaginären wird […] der Schatz all jener strukturgebenden Bilder und Narrative, politischen Mythen und Verfahren der Identitätsrepräsentation verstanden, durch die ein Gemeinwesen sich selbst inszeniert – und sich selbst als Eines inszeniert.“ KOSCHORKE u. a., 2007, S. 62 (Herv. im Original).

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Karin Peters / Julia Brühne

scheinbare ‚Natürlichkeit‘ 4 von politischen Mythen behaupten, der männlich besetzte Mythos also nicht als solcher erkannt, sondern als Realität akzeptiert wird. Der amerikanische Western Bad Company (In schlechter Gesellschaft, Robert Benton, 1972), auf den sich unser Titel bezieht, exponiert diese mythologische Verschmelzung von Geschlecht und Politik auf eindrückliche Weise und zeigt dennoch, wie im Medium Film (ebenso wie in der Literatur) die Funktionsweise von politischen Mythen offengelegt werden kann. Der Film spielt von Anfang an mit der Auflösung traditioneller Geschlechterrollen und deren politischer Kontextualisierung, wenn in der ersten Szene ein weinender Armeeflüchtiger an die Öffentlichkeit gezerrt wird. Denn die politische Struktur ist es, die hier zahllose junge Männer effeminiert: Erfolglos verstecken sie sich in Frauenkleidern und werden schließlich doch für den Bürgerkrieg zwangsweise in die Männlichkeitsmaschine Militär gesteckt. Einige wenige fliehen daraufhin in den wilden Außenraum jenseits der Grenze, nur um dort von älteren männlichen Banditen immer wieder, zum Beispiel durch den Verlust ihrer Waffen, symbolisch kastriert oder schlichtweg umgebracht zu werden.5 Zuletzt schließt die homosoziale Initiationsreise dieser adoleszenten ‚schlechten Gesellschaft‘ mit der Produktion eines zwar offensiv männlichen, aber nicht minder devianten Subjekts: Die beiden moralischen Antipoden und Helden, verkörpert von Jeff Bridges und Barry Brown, wechseln selbst – vergrößert durch die Potenz ihrer Schusswaffen – auf die Seite der outlaws und schwingen sich zu Beherrschern eines politisch prekären Raumes auf: des ‚wilden Westen‘, einer zur amerikanischen Nation inzwischen quer stehenden Anti-Gesellschaft. Die Ideologie eines Staates, der sich auf männliche Tugenden berufen will, einer nationalen Geschichte, die den Bürgerkrieg heroisiert oder die Eroberung des Westens als positives 4

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Roland Barthes erklärt 1957 die semiotische Funktionsweise von Mythen mittels des Konzepts der Naturalisierung und erläutert: „le mythe est constitué par la déperdition de la qualité historique des choses : les choses perdent en lui le souvenir de leur fabrication“; BARTHES, 2002, S. 853f. Zuvor spricht er von den dabei suggestiv hergestellten Naturbeziehungen („rapports de nature“) zwischen Signifikant und Signifikat, die eine angebliche Motivierung von Zeichen unterstellen; EBD., S. 845. Siehe zur Erzähldynamik aus „humiliation“ und „hope“ im nationalen Krisennarrativ von Männlichkeit ENLOE, 1989, S. 44.

Einleitung: Zur politischen Mythologie des Geschlechts

Gründungsmoment zelebriert – diese Ideologie wird hier als eine verführerische Ideologie des ‚Mannwerdens‘, aber zugleich als Zerfall sozial verbindlicher (Rechts-)Strukturen vorgeführt. Mythisch ist der outlaw des Western Roland Barthes zufolge schließlich deshalb, weil seine Codierung ein sekundäres semiologisches System6 ausbilden kann: Der filmische Signifikant des outlaw hat demzufolge nicht nur ‚eine‘ Bedeutung, nämlich die des männlichen Rechtlosen, sondern die Verbindung Mann-Rechtloser wird zum Signifikant zweiten Grades und produziert ein zusätzliches, mythisches Signifikat: jenes des ‚amerikanischen Mannes‘. Dass die Filmhandlung diesen Mythos sowohl mit einer Dekonstruktion des amerikanischen Rechtsraums als auch einer Karikatur von Männlichkeit koppelt und so den Prozess der Erzeugung des Mythos sichtbar macht, erlaubt es dem Zuschauer, hinter die Naturalisierung des Mythos zurück zu gehen und ihn auf seine ideologischen Codes hin zu befragen. Diese kulturelle Arbeit mit der politischen Symbolkraft des Geschlechts ist es, die unser Band aus historischer und systematischer Perspektive beleuchten will. Wenn dies nun aus romanistischer Sicht geschehen soll, so aus dem Grunde, dass das sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Forschungsfeld der Masculinity Studies – auch dies zeigt das Beispiel von Bad Company – bisher vor allem in der Nordamerikanistik angesiedelt war. Diese rekurriert neben der Literatur inzwischen verstärkt auf Populärmedien wie Film, TV und Musik.7 Frühere Arbeiten aus dem Bereich der internationalen Männlichkeitsforschung verorteten sich dagegen vorrangig in der Sozialwissenschaft: Maßgeblich waren hier die Theorien von Michael Kimmel8, Matthew C. Gutmann 9 und Pierre Bourdieu 10 zur männlichen Herrschaft, ihrer gesellschaftlich internalisierten, 6 7

Vgl. BARTHES, 2002, S. 841. Vgl. hier bes. die Arbeiten von Stefan Horlacher, zuletzt etwa HORLACHER, 2013; sowie das gemeinsam mit Bettina JANSEN und Wieland SCHWANEBECK herausgegebene Metzler-Lexikon Männlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch (im Erscheinen). Zum Film siehe PEBERDY, 2011 sowie KORD/K RIMMER, 2011. Für einen einlässlichen Forschungsüberblick aus Sicht der Anglistik/Amerikanistik siehe den Beitrag von Stefan Horlacher in diesem Band. 8 Vgl. etwa KIMMEL, 1995, 2011, 2012 sowie KIMMEL/ARONSON, 2004 und KIMMEL u. a., 2005. 9 GUTMANN, 1996. 10 BOURDIEU, 1998.

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Karin Peters / Julia Brühne

‚mythischen‘ Vernunft aber auch zur Dekonstruktion klassischer Dichotomien wie etwa dem stereotypen Bild des mexikanischen Macho. Zentrum der Diskussion war dabei immer wieder das (wenn auch kritisch reflektierte) Konzept der „hegemonialen Männlichkeit“, das Robert W. Connell (später: Raewyn Connell) ab Ende der 1980er Jahre zur Diskussion stellte.11 Darüber hinaus entstanden im Zuge der Gender und Queer Studies bereits seit Mitte der 1980er Jahre im englischsprachigen Raum Studien aus dem Bereich der Kultur- und Literaturwissenschaft, die sich mit Konzeptionen von Männlichkeit auseinandersetzen; zu nennen ist hier vor allem Eve Kosofsky Sedgwick, deren Untersuchung des homosozialen Begehrens in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts 12 heute als Grundlagenwerk bezeichnet werden kann. Die Rolle des Kolonialismus für das sexuelle (und damit verbundene homosoziale Imaginarium) wurde ihrerseits von Anne McClintock überzeugend analysiert,13 die besonders auf die Triangulierung von gender, race und class im nationalistischen Diskurs abhebt. Systematische Studien, die die Erträge der Gender Studies für die Masculinity Studies fruchtbar machen wollten, erschienen ab den späten 1990er Jahren ebenfalls verstärkt in den USA. Dort widmete sich Lawrence R. Schehr zunächst dem männlichen Körper und seiner Repräsentation in der Literatur namentlich des 19. Jahrhunderts,14 um dann 2009 seine Geschichte der Männlichkeit auch auf das postmoderne Frankreich15 auszuweiten. Für die Frühe-Neuzeit-Forschung und die Romanistik besonders bedeutsam sind schließlich die Arbeiten von Todd W. Reeser, dessen Dissertation über die differentiell und im Sinne aristotelischer Mäßigung gedachte männliche Tugend bei Autoren der französischen Renaissance wegweisend für die frühmoderne Männlichkeitsforschung gewesen ist,16 und dessen neuere Forschungen einer Auseinandersetzung mit der heteronormativen Transformation Platons in der Frühen Neuzeit17 gewidmet 11 12 13 14 15 16 17

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Vgl. zuletzt etwa C ONNELL/MESSERSCHMIDT, 2005 und DINGES, 2005. SEDGWICK, 1985. MCCLINTOCK, 1995. SCHEHR, 1997. SCHEHR, 2009. REESER, 2006. Siehe dazu ebenfalls die Beiträge in SOUDAN, 2010. Das Buch erscheint in Kürze unter dem Titel Setting Plato Straight: Translating Ancient Sexuality in the Renaissance bei der Univ. of Chicago P.

Einleitung: Zur politischen Mythologie des Geschlechts

sind. Seine Einführung Masculinity in Theory18 kann als eine der ersten auf die Lehre und ein studentisches Publikum ausgerichteten Überblickswerke der Masculinity Studies bezeichnet werden. Sie beweist zudem, inwiefern die Männlichkeitsforschung durch den Methodentransfer aus French Theory, Poststrukturalismus und Literaturwissenschaft an Komplexität gewonnen hat. Die französischsprachige Forschung blieb dagegen lange Zeit recht verhalten, was die Auseinandersetzung mit diskursiven Setzungen von Männlichkeit anbelangt. Aus philosophisch-soziologischer Perspektive machte hier Élisabeth Badinter im Jahre 1992 den Auftakt.19 Erst deutlich später wird das Phänomen auch aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Sicht beleuchtet, wobei wesentliche Impulse zur Frankreichforschung wiederum aus den USA kamen.20 Zu neueren Forschungsansätzen aus historischer Perspektive21 kam dann die Forschung zu Einzelliteraturen wie etwa der Québecs22 hinzu. Der französischsprachige Diskurs oszilliert indessen zwischen den Begriffen masculinité und virilité, wie die 2011 erschienene monumentale Histoire de la virilité23 in drei Bänden bezeugt. In der Forschung zu Spanien, Lateinamerika24 und Italien war die konstruktivistische Männlichkeitsforschung zunächst ebenfalls im Bereich der Anthropologie, Soziologie und Sozialpsychologie angesiedelt.25 Verbunden war dies mit einer kritischen Reflexion des stereotypen Machismo-Konzepts (u. a. bei Matthew C. Gutmann und Norma Fuller 26), der Vaterschaft,27 familiärer Gewalt28 oder des kulturellen Malinche-Komplexes in Mexiko.29 Hinzu kommen inzwischen verstärkt

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REESER, 2010. Vgl. ergänzend ADAMS/SAVRAN, 2002. BADINTER, 1992. Vgl. etwa LONG, 2002; FORTH/TAITHE, 2007; LYFORD, 2007. Vgl. LE GALL, 2011; SOHN, 2009 sowie die Beiträge in REVENIN/CORBIN, 2007. Vgl. BOISCLAIR, 2008. CORBIN, 2011. Siehe für einen guten Überblick VIVERSO VIGOYA, 2003. Vgl. NOLASCO, 1993. GUTMANN, 1998; FULLER, 1998. HENAO, 1997. Vgl. RAMOS, 2006. MONTECINO, 1995.

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historische Studien aus dem Bereich der Gender30 und Queer Studies.31 In den letzten Jahren schließen daran vermehrt Auseinandersetzungen zur Poetik des männlichen Geschlechts32 und zum Zusammenhang von Nationalismus und Geschlecht33 an. Die akademische Diskussion wird dabei allerdings oft weiterhin über die amerikanischen Kontinente hinweg geführt, weniger hingegen mit Europa. Aufgrund der starken Verortung der Masculinity Studies im angelsächsischen Raum nimmt es nicht Wunder, dass auch deutsche Studien zur Repräsentation von Männlichkeit zunächst in der Anglistik/Amerikanistik beheimatet waren.34 Andernorts hingegen war neben dem Feld der Queer Studies in der Germanistik 35 und Lateinamerikanistik 36 der romanistische Blick auf die erotische Maskerade bei Marcel Proust von großer Bedeutung.37 Hieran schließt sich eine vertiefende Beschäftigung mit dem Männlichkeitsdiskurs im Fin de siècle38 an. Spätestens seit 2008 schließlich sind auch in Deutschland die Masculinity Studies fächerübergreifend präsent: ob in der Geschichtswissenschaft,39 Diskursgeschichte,40 queeren Romanistik,41 Emotionsforschung und Germanistik 42 oder aus genuin interdisziplinärer Perspektive,43 zweifelsohne hat die Debatte über Konstruktionen von Männlichkeit auch hierzulande einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Die Debatten über Geschlechtlichkeit haben sich dabei deutlich verschoben: An die Stelle eines eindimensionalen Fokus auf Fragen weiblicher Emanzipation tritt die Diskussion über ein Verhältnis der Geschlechter, das sich durch neue Konzepte sowohl von Weiblichkeit als auch von Männlichkeit herausbildet. Mehr noch als bisher geschehen 30 STOLL/SMITH, 2000. 31 ARMENGOL-CARRERA, 2012; BENADUSI, 2012. 32 Vgl. MILLIGAN/TYLUS, 2010 sowie MARTÍNEZ-ZALDE/GUTIÉRREZ LASCO, 2008. 33 ARESTI, 2012. 34 Vgl. bes. HORLACHER, 2006 und SCHWANEBECK, 2014. 35 Vgl. den Band K RASS, 2003. 36 Vgl. INGENSCHAY, 2006. 37 SCHUHEN, 2007. 38 SCHUHEN, 2014. 39 Vgl. MARTSCHUKAT, 2008. 40 Vgl. BRUNOTTE, 2008. 41 Vgl. WEICH, 2005 und SCHUKOWSKI , 2013. 42 Vgl. THOLEN, 2013. 43 Vgl. FENSKE/S CHUHEN, 2012.

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erlaubt dies jedoch auch einen neuen Fokus auf das Politische des Geschlechts. Denn der komplexe Zusammenhang, der im sozialen Imaginären einer dominant homosozialen Gesellschaft zwischen staatstheoretischen Metaphern und Genderkategorien hergestellt wird, reicht vom republikanischen Gründungsphantasma der jungfräulichen Nation44 bis zur sexuellen Kodierung kolonialistischer und imperialistischer Projekte.45 Seit einiger Zeit bereits steht die Frage nach „politischen Figurationen im Ästhetischen“46 fächerübergreifend im Zentrum der literaturund kulturwissenschaftlichen theoretischen Forschung, ohne den hier aufgezeigten Schwerpunkt weiter verfolgt zu haben. Aus dieser Perspektive wird ein Blick zurück auf die Geschichte kultureller und künstlerischer Entwürfe bzw. Konstruktionen von Männlichkeit möglich und notwendig, der die ästhetische Figuration des Politischen im Modus eines ‚mythischen‘ Geschlechts näher betrachtet. Für die Romania ist dies schon deshalb von zentraler Bedeutung, da dort die Kreuzung von Politik und Gender, Raum der Nation und Geschlecht oft das Ergebnis von konfliktreichen politischen Konstellationen wie der (Ent-)Kolonialisierung, sowohl in den Amerikas als auch in Afrika und Ostasien, ist. Auch insofern ist Roland Barthes hier ein geeigneter Stichwortgeber, hat er doch seine eingangs zitierte Theorie mythischer Signifikation bekanntlich an einem Bild entwickelt, das die Visualisierung und Internalisierung des französischen Imperialismus veranschaulicht.47 Die Lateinamerikanistik ihrerseits hat im Übrigen die historische Forschung oft auf die Phase der Kolonialisierung konzentriert, in der Effeminisierung oder die inszenierte Performanz von Männlichkeit politisch instrumentalisiert wurden.48 44 Vgl. MATTHES, 2000 und den Beitrag von Maha el Hissy in diesem Band. 45 Vgl. MCCLINTOCK, 2013. 46 Siehe den gleichnamigen Forschungsbereich an der Universität Luxembourg und die in diesem Rahmen entstandene Publikation DOLL/KOHNS, 2013; sowie KOSCHORKE, 2007 und LÜDEMANN, 2004. 47 Es handelt sich dabei um ein Titelbild der französischen Zeitschrift Paris Match. Die Darstellung eines jungen salutierenden Farbigen in französischer Uniform gerinnt hier zum Zeichen zweiten Grades: Es zeigt die erfolgreiche Identifikation der Unterworfenen unter die Vorherrschaft des europäischen Empire. Frankreich als Imperium: Das ist die sekundäre Konnotation der Darstellung. 48 Vgl. GARZA CARVAJAL, 2000; DONNELL, 2003; CARTAGENA CALDERÓN, 2008.

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Der vorliegende Band will deshalb unter diesen Prämissen für die romanistische Forschung verschiedene Fäden zusammenspinnen: Systematisch widmet er sich dabei dem disziplinären Theorientransfer, weshalb dezidiert auch Beiträger aus dem Feld der Amerikanistik und Germanistik gebeten wurden, ergänzende Analysen mit Blick auf die Romania anzuschließen. Historisch stehen wiederum von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart einzelne Interpretationen im Mittelpunkt, etwa zur Theatralität des Geschlechts im spanischen Barocktheater, zur Reflexion demokratisch-republikanischer Gründung als Männerbund in der französischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts, zur Bildsprache des französischen Kolonialismus um 1900 oder zum queeren comingof-age im zeitgenössischen kanadischen Autorenfilm. Sie zeigen allesamt, wie das politische Imaginäre – teils klischeehafte – Männlichkeiten immer wieder produziert und reproduziert, konsumiert und demontiert. Aus der produktiven Verknüpfung von sozial- und kulturwissenschaftlichen Ansätzen, die für den interdisziplinären Bereich der Masculinity Studies maßgeblich sind, wollen die Herausgeberinnen insofern neue methodische Zugriffe für die historischen literatur-, kultur- und filmwissenschaftlichen Forschungen innerhalb der Romanistik anstoßen. Den Impuls dafür gab eine Ringvorlesung, die im Wintersemester 2012/2013 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz veranstaltet wurde. Mit den vorliegenden Aufsätzen liegen nun ausführliche und für das Problemfeld neu hinzugekommene Ergebnisse vor. Zum Auftakt zeichnet TODD REESER in seinem Vorwort „Die ‚singuläre Situation‘ von Männern: Warum Masculinity Studies?“ nach, wie der Körper des Mannes von einem als universell gedachten zu einem gegenderten, spezifischen, verwundbaren Körper wird. Das Verdienst der Masculinity Studies liegt in der Sichtbarmachung der Spezifika des männlichen Körpers jenseits des Universellen, von dem Simone de Beauvoir noch im Zweiten Geschlecht sprach. In seinem breit angelegten Überblick über die internationale Masculinities-Forschung zeigt STEFAN HORLACHER im Anschluss die sozio-politische Notwendigkeit auf, Männlichkeitskonstruktionen mit gesellschaftlichen Diskursen engzuführen, mutiert doch der (westliche) Mann in der postmodernen Cyborg-Gesellschaft immer mehr zum ‚schwachen Geschlecht‘: Die gegenüber Frauen vielfach erhöhte Anfälligkeit des Mannes für Herzinfarkte, Alkoholsucht, Obdachlosigkeit oder Selbstmord ist statistisch

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belegt; die hiermit einhergehende Krise des Männlichen sowohl im 21. wie auch schon im 19. Jahrhundert indes am Kunstwerk ablesbar, wie GREGOR SCHUHEN in einem Vergleich der Krisendiskurse damals wie heute belegt. Anhand von Fin de Siècle-Romanen von Huysmans oder Clarín verweist er auf die Kontinuität problematischer Männlichkeit und auf die hiermit einhergehenden ironischen Dekonstruktionen hegemonialer Männlichkeiten wie derjenigen des Dandys oder des Don Juan vom 19. Jahrhundert bis zu Michel Houellebecq. Wie eng die Krisen des männlichen und des politischen Körpers bereits seit der spanischen Frühen Neuzeit miteinander verwoben sind, zeigt JULIA BRÜHNE in ihrer Analyse des Travestie-Topos in Tirso de Molinas Don Gil de las calzas verdes (1615). Dort bringt die mujer vestida de hombre – eine als Mann verkleidete Frau, die in Spanien zum Standardinventar der comedia gehört –, ein imaginäres Unbehagen mit dem ‚zwitterhaften‘ Zustand der spanischen Monarchie zum Ausdruck. TIMO KEHREN setzt sich in seinem Beitrag mit den prekären Männlichkeitsdarstellungen bei der spanischen Autorin María de Zayas auseinander. Ihre Novelle La burlada Aminta y venganza de honor (1634) entschlüsselt er als Allegorie, die das Unbehagen an der männlichen Herrschaft im Spanien der späten Habsburgerkönige zum Ausdruck bringt und mit der Ermächtigung einer Frau zugleich einen Ausweg aus der politischen Krise imaginiert. Die transnationale Verschränkung von Krisendiskursen am Übergang von monarchischen zu republikanischen Staatsordnungen bereichert MAHA EL HISSY anschließend aus germanistischer Perspektive durch ihre Lektüre von Schillers Die Verschwörung des Fiesco zu Genua (1783). Jenes späte Sturm und Drang-Zeugnis nimmt seinen Ausgang von zwei historischen Gründungsnarrativen, die in der Romania angesiedelt sind: dem Lukretia- und dem Verginia-Mythos der römischen Republik. Polis und eros werden in beiden Gründungsmythen verschränkt und auch in deren Neuauflage bei Schiller politisch lesbar gemacht, nämlich im Zeichen einer neuen, vorrevolutionären Epoche. Sie führt das Ideal der Fraternität und des männlichen Genies mit geistiger ‚Zeugungskraft‘ gegen eine Monarchie ins Felde, die allegorice mit dem Blut der bürgerlichen Jungfrau besudelt ist und sich als brutaler ‚Vergewaltiger‘ des Bürgertums erwiesen hat. Der Revolutionstopos, der bei Schiller zunächst lediglich im Rahmen des Kunstwerks

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ausgetragen und verlautbar gemacht werden kann, ist knapp 50 Jahre später bei Balzac bereits traumatisch erfahrene Geschichte. LISA ZELLER analysiert davon ausgehend detailliert die Problematik politischer Souveränität, die 1830 gleichsam zwischen Vater (dem Bürgerkönig Louis-Philippe) und Sohn (dem Volk als gleichwertigem Souverän) changiert. In ihrer Lektüre beleuchtet sie dazu das von Balzac in Passion dans le désert (1830), L’Élixir de longue vie (1830) und César Birotteau (1837) ausgestellte Dilemma der Juli-Monarchie, die sich zwischen Vatermord und Erbgenealogie anzusiedeln hat und dabei jene „amputierte Männlichkeit“ zu kaschieren sucht, die der Tod des Königs unweigerlich mit sich bringen muss. Wird bei Balzac in erster Linie der Mann in seiner postrevolutionären Virilität verhandelt, die sich des Makels der Kastration nicht mehr entledigen kann, so ist ab Flauberts Madame Bovary (1857) eine Tendenz zur Beschäftigung männlicher Autoren mit der Auflehnung des buchstäblich ‚kastrierten‘ Geschlechts gegen seine marginale Rolle in der Gesellschaft zu beobachten: THORSTEN SCHÜLLER nimmt sich dieses Phänomens an und liest die Auflehnung der Protagonistinnen Flauberts, Bretons und Djians als Zeichen eines „männlichen Protests“ im Sinne Alfred Adlers. Adler, der sich im Gegensatz zu Sigmund Freud mit der sozialen Komponente psychischer Erkrankungen befasste und dargestellt hat, wie gesellschaftliche Missstände zu Pathologisierungen beim Individuum führen mögen, kann in gewisser Hinsicht als Gewährsmann der Notwendigkeit allegorischer Lektüren in Anschlag gebracht werden, verleihen seine Theorien der Kausalitätsbeziehung von Krankheit und Gesellschaft doch den hier untersuchten politischen Männlich- bzw. Weiblichkeiten gewissermaßen ihre medizinische Nobilitierung. Dass Männlich- und Weiblichkeitskonstrukte nicht nur literarisch inszeniert werden, sondern gerade in Zusammenhang mit hegemonialen Machtansprüchen häufig Bestandteil des alltäglichen ‚visuellen‘ Diskurses sind, belegt TIMO OBERGÖKER in seiner Auseinandersetzung mit französischen Kolonialplakaten des frühen 20. Jahrhunderts. Er zeigt dabei auf, dass gerade der afrikanische Mann als Resonanzraum für einen phantasmatischen Diskurs dient, der sich auf den Beginn der Kolonisation zurückführen lässt. Wie die Kolonie häufig als Frau dargestellt wird, die vom weißen kolonialen Mann penetriert und damit gebändigt wird, so verkörpert der schwarze Mann ste-

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reotyperweise das Unheimliche, Ungebändigte. Damit geht eine deutliche Sexualisierung einher. Reist der Afrikaner indessen nach Europa, gilt es, dieses erotisch-unheimliche Potential zu neutralisieren – indem er symbolisch kastriert oder der Lächerlichkeit preisgegeben wird. WIELAND SCHWANEBECKS Überlegungen zur Rolle von Schnitt und Montage bei der Konstruktion (hegemonialer) Männlichkeit bildet den Ausgangspunkt für eine Reihe von Filmlektüren, die diesen Band beschließen. Ausgehend von Sylvester Stallones Rocky (1976) identifiziert der Autor einen im gesellschaftlichen Imaginären brodelnden gender trouble. Während dieser in den Stallone-Filmen noch narrativ gekittet und der männliche Held mittels gezielter Montage revirilisiert wird, stellen die französischen Komödien mit Louis de Funès im Gegenteil den Bruch im Männlichkeitsdiskurs aus und geben alle Versuche, den potenten Helden und mit ihm das klassische Rollenmodell zu reaktualisieren, der Lächerlichkeit preis. Mit ihrer Interpretation des mexikanischen Jugendfilms Y tu Mamá también (2001) verlegt KARIN PETERS anschließend das Problem politischer Desillusionierung ins ‚post-utopische‘ Mexiko des neoliberalen Zeitalters. Dort werden die Mittel der Filmsprache immer wieder dafür eingesetzt, um die drei Hauptfiguren im filmischen Raum als Akteure einer politischen Mythologie in Szene zu setzen. Durch homosoziale Frames und die (wenngleich scheiternde) visuell inszenierte triadische Vermittlung von Männerbünden über eine Frauenfigur wird hier eine Überwindung mexikanischer Klassenkonflikte imaginiert, zuletzt aber als unerreichbar ausgestellt. FRANK REZA LINKS Beitrag schließt die ‚Reise‘ durch die Männlichkeiten der Romania ab und führt uns vom mexikanischen Roadmovie zum kanadischen Autorenkino und damit gleichsam von der ‚beschlafenen‘ (Y tu Mamá también) zur ‚getöteten‘ Mutter: Links untersucht Xavier Dolans J’ai tué ma mère (2009) und Jean-Marc Vallées C.R.A.Z.Y. (2005) hinsichtlich der jeweiligen Schwulenidentität des jugendlichen Protagonisten. Er zeigt, dass selbst eine als höchst individuell inszenierte sexuelle Identitätsfindung im coming-of-age-Film ebenfalls als politische Männlichkeit zu lesen ist, werden doch hier Homosexuellenemanzipation und Werterneuerung mit der Herausbildung einer neuen québecitude kurzgeschlossen, die sich vom englischsprachigen Teil Kanadas abheben und ein eigenes frankophones Heterotop, gleichsam eine neue, freiheitliche Nation innerhalb jener alten

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schaffen will, die auf Repression, Spießbürgerlichkeit und katholischer Bigotterie beruht. Abschließend wollen wir all jenen danken, die neben den AutorInnen dazu beigetragen haben, dass das vorliegende Projekt gelingen konnte: insbesondere dem Romanischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, dem Schwulenreferat der JGU und dem Forschungsschwerpunkt SOCUM, die unsere Ringvorlesung durch eine großzügige finanzielle Unterstützung ermöglicht haben. Darüber hinaus sind wir insbesondere dem Koordinationsausschuss und Geschäftsbüro des Forschungsschwerpunktes HKW der JGU für die Finanzierung und Betreuung des Bandes sowie die Aufnahme in die Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften sehr dankbar. Für viele hilfreiche Hinweise zur Layoutgestaltung geht unser Dank an Cathleen Sarti und für die gründliche Überarbeitung der Manuskripte an Simona Crocco und Isabella Vergata, deren gewissenhafte und stets gut gelaunte Unterstützung diesem Band zu seiner endgültigen Form verholfen hat.

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Männlichkeiten: Ein Forschungsüberblick STEFAN HORLACHER

Seit etwa 20 Jahren wird Männlichkeit in der westlichen Welt nicht nur aufgrund von Gewaltexzessen als ein ernstzunehmendes soziales Problem wahrgenommen. Wie ein Verweis auf die U-Bahn-Attacken (bspw. 2007 in München und 2011 in Berlin) oder die Erinnerung an die gewalttätigen Zwischenfälle an der Columbine High School, der Virginia Tech University, der Northern Illinois University (DeKalb), der Chardon High School (Ohio), der Berliner Rütli-Schule, dem Erfurter Gutenberg-Gymnasium oder der Jokela Schule in Tuusula, Finnland, belegt, konzentriert sich die öffentliche Aufmerksamkeit – sicherlich auch mediengelenkt – immer stärker auf männliche Straftäter und männliche Gewalt.1 Dass diese sich in Deutschland erst in den letzten Jahren verschärft abzeichnende Thematik keinesfalls völlig neu ist, belegt ein Blick in die USA, wo der Psychiater William Pollock von der Harvard University bereits 1998 eine „nationale Krise des Knabenalters“ ausrief. Nachdem „[j]ahrelang […] in den USA die Förderung von Mädchen Priorität“ hatte, offenbarten die Statistiken eine erschütternde Bilanz: „Im Pubertätsalter begehen in den USA fünfmal so viele Jungen wie Mädchen Selbstmord. Jungen machen 90 Prozent der Disziplinarfälle aus und

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Dieser Beitrag ist eine überarbeitete und erweiterte Version von: HORLACHER, 2013b.

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brechen viermal häufiger die Schule ab“.2 Doch dies war – und ist – nur die Oberfläche: Aktuelle Daten 3 belegen, dass die Zahl der unter Alkoholismus leidenden Männer doppelt so hoch ist wie die der Frauen,4 und dass auch beim Krankheitsbild der Antisozialen Persönlichkeitsstörung die Männer zahlenmäßig weit führend sind.5 In Deutschland lag im Jahr 2006 die altersspezifische Sterblichkeit der Männer um 57% höher als die der Frauen. Die statistische Lebenserwartung der Männer war mit 77,2 gegenüber 82,4 Jahren um 5,2 Jahre niedriger und die Zahl der Sterbefälle vor dem 65. Lebensjahr pro 100.000 Personen betrug 139 auf weiblicher gegenüber 238 auf männlicher Seite. Ähnlich unausgeglichen verhält es sich bei Sterbefällen aufgrund chronischer Erkrankung (♀82 zu ♂142 auf jew. 100.000 Personen), der Sterberate durch Krebs (♀130,1 zu ♂206,4 auf jew. 100.000

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„Psychiater: Amerikas Jungen in der Krise“, in: Die Welt, 02.06.1998, S. 12. Siehe auch HORLACHER, 2004; HORLACHER, 2006; NEUBAUER/WINTER, 2013; CDC, 2015. Natürlich muss man sich vor allem angesichts der Erkenntnisse der Transgender- und Intersex-Forschung wie auch der Bio-Medizin fragen, welche Definitionen von Männlichkeit und Weiblichkeit diesen wie auch den folgenden Statistiken zugrunde liegen, doch ist diese Fragestellung bisher kaum in der Gesellschaft angekommen. So bedeutet die Berücksichtigung der folgenden Daten auch nicht, dass auf eine Dekonstruktion der Geschlechterdichotomie verzichtet werden kann oder sollte, an dieser Stelle meiner Argumentation geht es jedoch primär darum aufzuzeigen, dass durchaus ein öffentliches und institutionelles Bewusstsein bzgl. der Problematik von Männlichkeit (wie auch immer diese letztlich zu definieren ist) existiert – und nicht etwa um eine unhinterfragte oder gar positivistisch-affirmative Übernahme dieser Zahlen, Statistiken und der ihnen zugrundeliegenden Definitionen. Die Angabe bezieht sich auf die USA; vgl. CDC, 2012. Zwar gilt die geistige Gesundheit bei Frauen laut aktuellen Zahlen der World Health Organisation als anfälliger, jedoch werden Männer bei gleichen Symptomen weit seltener als depressiv diagnostiziert. WHO, 2012. Für weiteres aktuelles Zahlenmaterial siehe BARDEHLE, 2013. Auch die Zahlen einer etwas älteren kanadischen Studie sprechen eine deutliche Sprache: Demzufolge leiden im Kindes- und Jugendalter deutlich mehr Männer als Frauen an Beeinträchtigungen bzw. Erkrankungen wie langsamer geistiger Entwicklung, Verhaltensstörungen, Überängstlichkeit oder schizoiden Tendenzen. Im Erwachsenenalter weisen Männer besonders häufig Persönlichkeitsstörungen wie bspw. Paranoia und zwanghaftes oder antisoziales Verhalten auf. Vgl. O’NEIL, 1988, S. 27.

Männlichkeiten: Ein Forschungsüberblick

Personen), den Neuerkrankungen an Krebs (♀197.600 zu ♂229.200)6 sowie dem Anstieg der voraussichtlichen Pflegebedürftigkeit bis 2030 von ♀58% zu ♂74%. In Zusammenhang mit Alkohol starben, gerechnet auf 100.000 Personen, im Jahr 2005 31 Frauen im Vergleich zu 86 Männern, in Folge von Rauchen starben 153 Frauen im Vergleich zu 297 Männern.7 Auch die Selbstmordrate ist in Deutschland bei Männern unabhängig von der Alterskohorte in der Regel mindestens dreimal so hoch wie bei Frauen.8 Angesichts dieser gleich aus mehreren Gründen mit sehr viel Vorsicht zu betrachtenden Statistiken und Zahlen könnte man fast den Eindruck haben, als mutiere das ehemals starke nun zum „mit zahlreichen physischen und psychischen Anfälligkeiten“9 behafteten schwachen Geschlecht, zumal die Medien beständig daran erinnern, that men [...] are three times more likely to be murdered, more frequently die of heart attack, AIDS, and cancer, are more often homeless, are forced to go to war, become criminals and terrorists in much larger numbers, are expected to perform sexually, but also to repress emotions, suffer circumcision, [and] have their pain trivialized.10

Zwar scheint aus biologischer Sicht bereits das reine Überleben für das männliche Wesen schwieriger zu sein als für das weibliche, doch wäre es voreilig, die in Industriegesellschaften um etwa fünf Jahre geringere

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Siehe auch die etwas aktuelleren Zahlen in K REBSGESELLSCHAFT, 2014: 2010 wurden 252.930 Männer in Deutschland mit Krebsneuerkrankungen diagnostiziert, während 224.910 Frauen betroffen waren, d. h. 12,5% mehr Männer als Frauen. Zwischen 2006 und 2010 erfolgte eine Zunahme der Krebsneuerkrankungen bei fast allen Krebsarten, wobei die häufigste Krebsart bei Männern der Prostatakrebs ist mit 26% aller Krebsdiagnosen. 7 MCCARTNEY, 2012. 8 In Deutschland töten sich von 100.000 Menschen durchschnittlich 17,9 Männer und 6,0 Frauen (2006), in den USA 17,7 Männer und 4,5 Frauen (2005); vgl. WHO, 2012; vgl. auch: BARDEHLE, 2010 sowie BARDEHLE, 2013. Für die Zuarbeit zum statistischen Überblick danke ich Dr. Wieland Schwanebeck. 9 BADINTER, 1993, S. 49f. 10 EMIG/ROWLAND, 2010, S. 7f.

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Lebenserwartung der Männer allein auf die Biologie zurückzuführen,11 beträgt die Differenz in klösterlicher Umgebung doch nur ein Jahr.12 Dies lässt erkennen, dass Männlichkeit nicht nur höchst problematisch, sondern sogar bis hin zur Lebenserwartung kulturell determiniert ist. Martin Dinges argumentiert diesbezüglich, dass „traditionelle Leitbilder ‚hegemonialer Männlichkeit‘“, die im 19. Jahrhundert geprägt wurden und auf „harte, schmerzunempfindliche, [...] besonders wehrfähige Jungen“ abzielten, die „normativ erwünschte Trennung der Sphären von Frau und Mann“ sowie „die zunehmende Verbreitung haushaltsferner Arbeitsplätze der Männer [...] auch heute noch zu Gesundheitsgefährdungen im männlichen Lebenslauf“ führen: Jungen spielen gefährlicher. Pubertierende männliche Jugendliche verhalten sich risikoreicher als Mädchen – zwar nicht mehr beim Rauchen, aber immer noch beim Konsum von Drogen und harten Alkoholika. Auch die Unfallrate und die Suizidrate von jungen Männern sind höher als die gleichaltriger Frauen. Darüber hinaus fügen sich junge Männer gegenseitig viel häufiger Verletzungen zu.13

Dies führt zur Frage nach Verletzungsmacht und Verletzungsoffenheit14 als grundlegende, wechselseitig aufeinander verweisende Modi von Vergesellschaftung, zur Frage nach einer kulturellen Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit, die den männlichen Körper als verletzungsmächtig, den weiblichen Körper als verletzungsoffen konzipiert und Gegenevidenzen, die sich nicht der binären Klassifikation fügen, ausblendet. In der Tat hält das „Muster der hegemonialen Männlichkeit [...] für die Wahrnehmung einer verletzungsoffenen Männlichkeit bzw.

11 So schreibt Markus S CHUBERT, 2015 [im Erscheinen], dass die niedrigere Lebenserwartung von Männern gegenüber Frauen zwar den „Ausgangspunkt der sog. Männermedizin bildet“ und „[k]ardiovaskuläre Ereignisse wie z. B. Herzinfarkte […] beim Mann ca. zehn Jahre früher […] als bei der Frau“ auftreten, dass für dieses Phänomen jedoch „im Wesentlichen gesundheitsschädliche Verhaltensweisen des Mannes verantwortlich gemacht [werden] (insbesondere Tabakkonsum).“ 12 Vgl. DINGES, 2010, S. 5, sowie LUY, 2002. 13 DINGES, 2010, S. 7. 14 Vgl. POPITZ, 1986.

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von Männern als Opfer von Gewalt kein Vokabular bereit“.15 Hinzu kommt, dass Gewalt in der Erziehung von Jungen eine größere Rolle spielt und „auch bei von Gewalt Betroffenen die Annahme“ fördert, „dass Gewaltwiderfahrnisse völlig normal seien. [...] Die[se] Gewöhnung an Gewalt als normales Mittel des Umgangs erfolgt bei Jungen recht früh.“16 Bei den oben genannten handelt es sich jedoch nur um einige von zahlreichen Faktoren, die zur geringeren Lebenserwartung und höheren Krankheits- und Unfallanfälligkeit von männlichen Jugendlichen beitragen und Männlichkeit als ein fragiles Phänomen bzw. als „eine Konfliktdynamik“17 erkennen lassen. Diskutiert die Medizin, ob die bei männlichen Jugendlichen deutlich höhere gesundheitliche Anfälligkeit vielleicht auch auf eine weniger redundante genetische Kodierung zurückzuführen ist,18 so kommt vor allem der Tatsache, dass – wie die Kulturanthropologie belegt19 – Männlichkeit auch im 21. Jahrhundert noch durch Initiationsriten erworben bzw. erkämpft und immer wieder bestätigt werden muss, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Nicht zu Unrecht argumentiert Vera Nünning, dass Männlichkeit als Thema nicht nur „am Schnittpunkt von Literatur- und Kulturgeschichte“ steht, sondern dass die durch Literatur und nicht-fiktionale Schriften „verbreiteten, teilweise aber auch kritisierten Männlichkeits15 AIM GENDER, 2012. „Ein Blick in die alljährlich erscheinende Polizeiliche Kriminalstatistik zeigt mit großer Regelmäßigkeit, dass bei den dort aufgeführten Gewaltdelikten Männer und insbesondere junge Männer sowohl die Täter- als auch die Opferstatistik dominieren. Lediglich bei den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sind Männer nur selten unter den Opfern. Auch wenn man berechtigterweise die Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik nicht als getreues Abbild der gesellschaftlichen Verbreitung und geschlechtlichen Verteilung abweichenden Handelns begreift, verweisen sie darauf, dass der Zusammenhang von Männlichkeit und Gewalt nur dann angemessen erklärt werden kann, wenn man den Fokus nicht nur auf Männer als Täter, sondern auch als Opfer von Gewalt richtet.“ 16 DINGES, 2010, S. 7. 17 BERESWILL, 2009, S. 106. 18 Einen solchen Schluss legt etwa eine kürzlich von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der University of California vorgelegte Untersuchung zu Autoimmunerkrankungen nahe. Siehe SMITH-BOUVIER, 2008. Eine Übersicht gegenwärtiger medizinischer Debatten rund um die Geschlechterdifferenzen aus neuronaler und genetischer Perspektive bietet GERSCHICK , 2005. 19 Siehe GILMORE, 1990; HABEGGER, 1982; BADINTER, 1993.

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vorstellungen eine große gesellschaftliche und kulturelle Relevanz“ besitzen, denn „obgleich Männlichkeitsideale Konstrukte darstellen, haben sie aufgrund ihrer normativen Funktion Auswirkungen auf Eigenschaften und Handlungsweisen, die Jungen schon früh anerzogen werden“.20 Gerade die sich in den Massenmedien wie in der modernen Prosaliteratur niederschlagenden Geschlechtervorstellungen genauso wie die von männlichen Jugendlichen ausgehende Gewalt bezeugen, dass Männlichkeit einen ungewissen und mehrdeutigen Status hat und etwas ist, das durch einen Kampf, eine schmerzhafte Initiation oder eine lange und manchmal demütigende ‚Lehrzeit‘ erworben werden muss. Die in dieser ‚Lehrzeit‘ allgemein akzeptierten Risiken sind immens hoch, und je höher sie sind, desto größer scheint der Anspruch der Betroffenen auf einen männlichen Habitus21 zu sein. Doch sind die erforderlichen inneren Kräfte und die notwendige Entschlossenheit, die als Voraussetzung dieser „Draufgängerdynamik mit ihrem großen Nachdruck auf materiellem Erfolg“ gelten, keinesfalls natürlich vorhanden, sondern werden den Jungen „künstlich durch eine harte Periode der Indoktrination“22 eingeprägt. Männlichkeit stellt also eine durchaus ernste Angelegenheit dar: „Sie ist nicht einfach natürlich, denn wie die meisten charakteristischen Eigenschaften einer zivilisierten Gesellschaft muss sie gelehrt werden“,23 kann also auch einem Scheitern unterworfen sein. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt bis zur gegenwärtig so häufig proklamierten Krise von Männlichkeit. Zwar scheint das Krisenkonzept auf viele Typen von Männlichkeit anwendbar zu sein, doch stellt sich nicht zuletzt aufgrund seiner – auch und vielleicht vor allem medialen – Dominanz als vermeintliches Erklärungsmodell die Frage, ob es nicht sowohl auf der Objekt- als auch der Beobachtungsebene angesiedelt ist und welche Konsequenzen daraus resultieren. Problematisch ist zudem, dass das geradezu inflationäre Postulieren einer Krise implizit die Idee einer nicht-krisenhaften, nämlich starken Männlichkeit als ‚normal‘ befördert und somit nicht selten traditionell hegemoniale Strukturen weiter verfestigt.24 20 21 22 23 24

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NÜNNING, 2002, S. 301. Vgl. BOURDIEU, 1997. GILMORE, 1990, S. 120. Siehe auch STEARNS, 1979. STEARNS zit. n. GILMORE, 1990, S. 120. Siehe HORLACHER/JANSEN/SCHWANEBECK, 2015.

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Egal, was man von dem Krisendiskurs halten mag, es bleibt zu konstatieren, dass nach Jahrzehnten, in denen der weiblichen Lebenswelt und Psyche vollkommen zu Recht verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet wurde, seit 15 bis 20 Jahren die männliche Psyche und Subjektkonstitution zunehmend in den Blickpunkt wissenschaftlicher Beobachtung rücken. Doch selbst wenn die Forschung im Bereich der (New) Men’s Studies oder (Critical) Masculinity Studies signifikant zugenommen hat, so stellt sie im Vergleich zur Frauenforschung (im weiteren Sinn) gleich aus mehreren Gründen immer noch eine deutliche Minorität dar: Einerseits dominieren nach wie vor Arbeiten über Weiblichkeit die Forschungslandschaft, andererseits rücken viele Arbeiten aus dem Bereich der Männlichkeitsforschung homosexuelle Aspekte in den Vordergrund.25 Noch in den späten Neunzigerjahren beklagten viele Kritikerinnen und Kritiker, die „literature on men and masculinity“ sei „hopelessly at odds with itself“ und die Forschung theoretisch schlecht abgesichert und in sich widersprüchlich, so dass die gesamte Problematik sowohl in breiten gesellschaftlichen als auch wissenschaftlichen Kreisen als „unsurveyed“ oder „shifting territory“ galt, das auch heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, nur ansatzweise erschlossen ist.26 Kenneth Clatterbaugh konstatiert, „[that s]o much of the current writing about men and masculinity is anecdotal“,27 und Raewyn Connell kritisiert, „[dass d]ie meisten Männerbücher [...] voll wirrem Gedankengut [stecken], das den Stand der Forschung entweder ignoriert oder verzerrt darstellt“.28 Was für die (anglo-)amerikanische29 bzw. englischsprachige Männlichkeitsforschung des ausgehenden 20. Jahrhunderts galt, gilt für weite

25 26 27 28

Vgl. ERHART, 2005, S. 162. CLATTERBAUGH, 1990 und 1997. CLATTERBAUGH, 1990, S. 159. Raewyn Connell hat auch als Robert W., R. W. und Bob Connell publiziert. Im Folgenden werden die ursprünglichen Publikations- bzw. Namensangaben beibehalten. Für das Zitat siehe CONNELL, 1999, S. 16. Zusammen mit Tim Carrigan und John Lee schreibt Connell, wenn auch deutlich früher, „[that t]hough most social science is indeed about men, good-quality research that brings masculinity into focus is rare.“ CARRIGAN u. a., 1987, S. 64 (Herv. im Original). 29 Hier wie auch im Folgenden umfasst der Begriff ‚anglo-amerikanische Männlichkeitsforschung‘ auch britische sowie australische Arbeiten (bspw.

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Teile des deutschsprachigen Bereichs der Männlichkeitsforschung noch heute. So kritisiert Mechthilde Vahsen, dass „die interdisziplinäre Verknüpfung mit anderen Analysekategorien, z. B. Klasse oder Ethnie“ fehlt und dass „sich der Austausch mit neuen Forschungsrichtungen [...] noch in den Anfängen“ befindet.30 Therese Frey Steffen spricht in ihrem Sammelband Masculinities – Maskulinitäten stellvertretend für viele andere Kritikerinnen und Kritiker von einem in den vergangenen 15 Jahren „im anglo-amerikanischen Raum exponentiell gewachsene[n] Interesse an ‚Masculinities‘“, das sich im deutschen Sprachraum nur zögerlich artikuliert: [...] sei es, dass man(n) sich nicht (schon wieder) mit Gewalt auseinandersetzen oder als Prügelknabe dienen mochte, sei es, dass die Frauenforschung hart erkämpften Boden ungern teilt, oder Europa US-amerikanischen Entwicklungen nicht folgen will, ihnen vielleicht ganz einfach nachhinkt.31

Auch der Historiker Wolfgang Schmale – als letzter hier exemplarisch angeführter Kritiker – argumentiert ähnlich, wenn er fragt: Hat die Männergeschichte in der deutschen Geschichtswissenschaft [...] einen sicheren Platz? Nein. Das hat vielerlei Gründe [...]. Die men’s studies, ob mit oder ohne historische Fragestellung, sind bekanntermaßen keine Erfindung deutscher Wissenschaftsdisziplinen, sie müssen erst noch integriert, möglicherweise erst noch verstanden werden. Ihre Notwendigkeit, um nicht zu sagen Legitimität, gehört noch nicht zum allgemeinen Wissensgut. [...] Der einzige Bereich der Männerforschung, in dem bisher eine langfristige Perspektive von der Antike bis heute verfolgt wurde, ist die Geschichte der Schwulen und der männlichen Homosexualität(en).32

Ungeachtet dieser negativen Einschätzungen hat jedoch nicht nur die anglo-amerikanische, sondern auch die europäische und deutsche Connell), da diese schon aufgrund der Publikationssprache primär in die nordamerikanische Diskussion einfließen. 30 VAHSEN, 2002, S. 249. 31 FREY STEFFEN, 2002, S. 270. 32 SCHMALE, 1998, S. 7 (Herv. im Original).

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Männlichkeitsforschung in den letzten 15 Jahren deutliche Fortschritte gemacht, wobei im Folgenden die wichtigsten Grundlagen kurz dargelegt werden sollen. Auf internationaler Ebene haben sich die Arbeiten von Harry Brod, Michael Kimmel oder Pierre Bourdieu und vor allem Raewyn Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit als prägend erwiesen. Connell versteht Geschlecht als körperreflexive Praxis, „die sich in den Körper einschreibt und gleichzeitig auf ihn bezogen ist, ohne sich auf ihn zu reduzieren“,33 und schlägt ein Modell vor, in dem sie zwischen Machtbeziehungen, Produktionsbeziehungen, emotionalen Bindungsstrukturen sowie Symbolisierung als kulturelle symbolische Repräsentanz der Geschlechter unterscheidet. Hegemonie wird dabei als eine sich historisch verändernde Relation aufgefasst, die nicht nur das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, sondern auch das Verhältnis zwischen Männern beschreibt, wobei als strukturelle Prinzipien diejenigen der Hegemonie, Unterordnung, Komplizenschaft und Marginalisierung beziehungsweise Ausgrenzung gelten. Hegemoniale Männlichkeit ist folglich die in einem gegebenen setting kulturell dominante Form von Männlichkeit und kann „als jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis“ definiert werden, „welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimationsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet (oder gewährleisten soll)“.34 Des Weiteren gilt es zu berücksichtigen, [that t]he idea of hegemony signals a position of cultural authority and leadership, not total dominance; other forms of masculinity persist alongside. The hegemonic form need not be the most common form of masculinity. A hegemonic masculinity is, however, likely to be highly visible. Hegemonic masculinity is hegemonic not just in relation to other masculinities, but in relation to the gender order as a whole. It is an expression of the privilege men collectively have over women. The hierarchy of masculinities is an expression of the unequal shares in that privilege held by different groups of men.35

33 WALTER, 2000, S. 100. 34 CONNELL, 1999, S. 98. 35 CONNELL, 2015, S. 43f.

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Als neue, gegen Ende des 20. Jahrhunderts auftauchende hegemoniale Form innerhalb der globalen Geschlechterordnung identifiziert Connell eine „auf den multinationalen Unternehmen und internationalen Kapitalmärkten“ basierende Männlichkeit. Diese wird von transnationalen Geschäftsleuten, Politikern, Bürokraten und Militärs verkörpert, die sich durch eine „immense Erhöhung ihrer körperlichen Macht durch Technologie“ auszeichnen. Durch ihre enge Einbindung in Aviation, Computertechnologie und Telekommunikation entwickeln sie eine „Cyborg-Männlichkeit“, bei der sich ihre „körperlichen Lüste“ genauso „der sozialen Kontrolle lokaler Geschlechterordnung entziehen [...] wie ihre transnationalen Geschäfte“ der nationalstaatlichen Kontrolle.36 Von der Kritik wird Connell vorgeworfen, dass sie sich „nicht konsequent von einer dichotomen Patriarchatskonzeption“ löst und ihre Konzeptualisierung von Geschlecht „noch sehr stark in einem Zweigeschlechtermodell verhaftet“ bleibt.37 Genau dies gilt auch für die meisten von Clatterbaugh in Contemporary Perspectives on Masculinity38 unterschiedenen Ausprägungen oder Perspectives der amerikanischen Men bzw. Masculinity Studies, die im Folgenden kurz vorgestellt werden sollen. So wird aus der Profeminist Perspective argumentiert, das herrschende Männlichkeitsideal schade zwar den Männern, stelle jedoch auch ein patriarchales, gegen die Frauen gerichtetes Macht- und Unterdrückungsinstrument dar. Die Men’s Rights Perspective stimmt mit dieser Ausrichtung teilweise überein, verschiebt jedoch den Fokus und sieht eher die Männer als die Frauen als Opfer.39 Aus der häufig von den Arbeiten des Psychoanalytikers C. G. Jung beeinflussten Mythopoetic Perspective wird für eine Rückkehr zu einem im männlichen Unbewussten gespeicherten archetypischen Männlichkeitsmuster plädiert40 – Robert Blys Iron John. A Book About Men 41 war ganze 62 36 CONNELL, 2000, S. 84. 37 WALTER, 2000, S. 102. Siehe auch BERGMANN/MOOS, 2007, S. 16-19. 38 CLATTERBAUGH, 1997; siehe auch B RISTOW, 1996; FREY STEFFEN, 2002, S. 280f. 39 „The goals of the men’s rights perspective are to create an awareness of the hazards of being male and to build a substantial movement among men that recognizes the costs and discriminations of being masculine.“ C LATTERBAUGH, 1990, S. 153. 40 „Archetypes play the same role for the spiritual perspective as nature plays for conservatism [...]. Masculinity, then, is the product of these deep psy-

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Wochen auf der Bestsellerliste der New York Times –, und aus der Socialist Perspective erweist sich Männlichkeit als ‚soziale Realität‘ und als durch wirtschaftlich bestimmte Klassenstrukturen präformiert, wenn nicht sogar determiniert, so dass sich Männlichkeit von Klasse zu Klasse und von ‚Rasse‘ zu ‚Rasse‘ unterscheidet, da diese verschiedene Rollen im kapitalistischen System einnehmen. Ebenso massentauglich wie wissenschaftlich fraglich ist die Conservative Perspective, die in eine soziobiologisch- und eine moralischkonservative Ausrichtung unterteilt werden kann. Hier entspricht die Rolle des Mannes als ‚Versorger‘ und ‚Beschützer‘, als ‚Besitzer‘ und ‚Beherrscher‘ entweder seiner durch den Prozess der Evolution geförderten Natur (biological conservatives) oder sie ist insofern ‚natürlich‘, als sie das gesellschaftlich bestverträgliche Produkt ist, um die dem Mann vermeintlich inhärenten antisozialen Tendenzen zu überwinden (moral conservatives) und zur Entwicklung der Gesellschaft beizutragen. Sowohl der moralisch- als auch der biologisch-konservative Standpunkt sind essentialistisch, insofern sie Mann und Frau „intrinsically different natures“ unterstellen und die gesellschaftlichen Rollen von Männlichkeit und Weiblichkeit als Manifestationen dieser „intrinsic natures“ auffassen.42 Auch wenn in weiten Teilen der Gender Studies die Einsicht vorherrscht, dass es wissenschaftlich unhaltbar ist, komplementäre Geschlechterrollen (rein) auf die Biologie zurückzuführen, so muss doch eingeräumt werden, dass die biologisch (mit)fundierten Hypothesen nicht ausdiskutiert sind und in den letzten fünf bis zehn Jahren vor allem in den Medien und der Öffentlichkeit deutlich an Popularität gewonnen haben. Als weitere wichtige Ausprägungen der Männlichkeitsforschung müssen genannt werden: Die Gay Male Perspective, die sich nicht nur gegen eine Feminisierung Homosexueller wendet, sondern auch die „viability of hegemonic masculinities and the morality of these masculinities“43 genauso wie die rigide Trennung zwischen männlich und chological scripts, which are selectively played out according to social structures that appear at different historical moments.“ EBD., S. 90. 41 BLY, 1990. 42 Vgl. CLATTERBAUGH, 1990, S. 15-36. Siehe auch CLATTERBAUGH, 1997, S. 17-40. 43 CLATTERBAUGH, 1997, S. 13.

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weiblich hinterfragt, die African American Men’s Perspective, die sich mit der Verbindung von Rasse, Ethnie und Männlichkeit beschäftigt und argumentiert, „that antiblack racism is a formative feature of hegemonic masculinities“,44 sowie das Evangelical Christian Men’s Movement, das sich auf eine enge und konservative Bibelauslegung stützt und traditionelle Rollen fortschreibt beziehungsweise wieder einfordert.45 Gerade in den letzten Jahren sind in den USA die auf das patriarchale Männererbe aufmerksam machenden, für traditionelle, konservative Geschlechterrollen stehenden und den weißen heterosexuellen Mann zur Norm erhebenden Promise Keepers zunehmend ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Von Bedeutung für die Entwicklung der Masculinity Studies ist auch, dass sich die internationale Männlichkeitsforschung 46 seit den frühen 1990er Jahren ausdifferenziert hat und zunehmend Kriterien wie Ethnie, soziale Schicht, Nationalität, Altersgruppe, Marginalität sowie weitere intersektionelle Dimensionen berücksichtigt. Wurde nämlich in der Frühphase Männlichkeit in den meisten Studien noch im Singular gedacht, indem auf abstrakter Ebene eine generelle Art von Männlichkeit im nationalen Kontext oder bspw. in den Werken kanonisierter Autoren untersucht wurde, so betont die aktuelle, vor allem angloamerikanische Männlichkeitsforschung die Heterogenität von Männlichkeit, ihre Differenz und Vielfalt. Dies führt zur Dekonstruktion einer in der früheren Forschung implizit dominant weiß gedachten hegemonialen Männlichkeit zugunsten asiatischer, lateinamerikanischer, arabischer oder ‚schwarzer‘ Männlichkeiten sowie zur Ausbildung einer neuen, mit Comparative Masculinity Studies umschriebenen Forschungsrichtung.47 Auch in der deutschen Männlichkeitsforschung hat diese Ausdifferenzierung inzwischen eingesetzt. Nachdem in einer frühen Phase48 vor 44 EBD. 45 „Society is taken to be in moral crisis in part because men have abdicated their responsibilities and in part because women, influenced by feminism, have taken on the man’s role.“ CLATTERBAUGH, 1997, S. 14. 46 Für einen Überblick siehe HORLACHER, 2011, S. 3-18, sowie HORLACHER/JANSEN/S CHWANEBECK, 2015; zum folgenden Abschnitt siehe ausführlich HORLACHER, 2010, S. 212-214. 47 Siehe hierzu HORLACHER, 2013a; CONNELL/MESSERSCHMIDT, 2005. 48 Für einen Überblick siehe BERGMANN/MOOS, 2007.

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allem „auf die Bereiche Beruf und Karriere, sexuelle Orientierung, Militär, Gewalt sowie Körperbilder und Sport fokussiert wurde“,49 haben inzwischen literatur-, soziohistorisch und soziologisch ausgerichtete Ansätze deutliche Fortschritte erzielt.50 Zwar besteht noch erheblicher Nachholbedarf – Hans-Joachim Lenz spricht noch 2007 nicht ohne Grund von der „kurzen Geschichte der Männerforschung in Deutschland“51 –, doch existieren durchaus bemerkenswerte Ansätze. Wie Walter Erhart exemplarisch argumentiert, bringen vor allem einer entmythologisierenden Alltagsgeschichte gewidmete mikrostrukturelle und sich einer ‚dichten Beschreibung‘52 bedienende Untersuchungen nicht nur eine große Anzahl „kleiner Erzählformen“ hervor, die den relativ wenigen makrostrukturell dominanten master narratives gegenüberstehen, sondern sie machen auch deutlich, dass Männlichkeit weder als ein „‚Bild‘ stereotyper Eigenschaften“ noch als ein „Bündel abrufbarer ‚Männerphantasien‘“ hinreichend erfasst werden kann, sondern als eine sich jeweils historisch verschieden formierende narrative Struktur verstanden werden sollte.53 Durch diese mikrologisch erfaßte Vielfalt der Geschlechter ergibt sich, daß die Vielfältigkeit und Variabilität der historischen Geschlechterpraxis [...] demnach in einem Gegensatz zu jenen präskriptiven Normen, Theorien, Bildern und Erzählungen [stehen], auf die sich bislang das Interesse der Geschlechtergeschichte [...] vorrangig gerichtet hat. [...] Ebenso wie das Bild einer hegemonialen, auf Herrschaft bedachten Männlichkeit scheint sich nun allerdings auch das Gefüge der Geschlechterordnung in einem patchwork alltäglicher und vielfältiger Lebenszusammenhänge aufzulösen, und das hier praktizierte historiographische Modell einer ‚dichten Beschreibung‘ droht mit den Mythen der Geschlechtergeschichte zugleich auch die Wirksamkeit und Wirk54 mächtigkeit aller kulturellen Geschlechternormen zu relativieren.

49 BERGMANN/MOOS, 2007, S. 23. 50 Siehe hierzu allgemein die Überblicke bei WALTER, 2000; ERHART, 2005; FREY STEFFEN, 2002; HORLACHER, 2010; KRAMMER, 2007. 51 LENZ, 2007. 52 Siehe GEERTZ, 1973. 53 ERHART, 2005, S. 203f. 54 EBD., S. 190f.

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Aus einer solchen geschichts-, aber auch literatur(geschichts)wissenschaftlichen Perspektive erscheinen die Geschlechter als „ebenso narrativ konstruiert wie [...] die Realität“, da ihr Selbstverständnis „auf narrativen stories und plots beruht“.55 Zusammenfassend kann man angesichts der bisher dargelegten Entwicklungen durchaus mit Jeff Hearn argumentieren, „the broad, critical approach to men and masculinities developed in recent years“ sei charakterisiert durch: • • • •



• • •

a specific, rather than an implicit or incidental, focus on the topic of men and masculinities; taking account of feminist, gay, and other critical gender scholarship; recognizing men and masculinities as explicitly gendered rather than non-gendered; understanding men and masculinities as socially constructed, produced, and reproduced rather than as somehow just ‚naturally‘ one way or another; seeing men and masculinities as variable and changing across time (history) and space (culture), within societies, and through life courses and biographies; emphasizing men’s relations, albeit differentially, to gendered power; spanning the material and the discursive in analysis; interrogating the intersecting of the gender with other social divi56 sions in the construction of men and masculinities.

Zumindest im Bereich der Literaturwissenschaft orientiert sich ein Großteil der avancierteren Ausprägungen der gegenwärtigen Männlichkeitsforschung an den Erkenntnissen des dekonstruktiven Feminismus, der Diskursanalyse und Narrativik sowie der postfreudianischen Psychoanalyse, während sie Männlichkeit als ein jeweils historisch verschieden verkörpertes variables Bündel kultureller Normen zu fassen sucht.57 55 ERHART, 2005, S. 215f. 56 HEARN, 2011, S. 197 (Herv. im Original). 57 Vgl. FELDMANN/SCHÜLTING, 2008.

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Als vorläufiges Fazit konstatiert Harry Brod, dass die Männlichkeitsforschung in der anglo-amerikanischen Welt einen ersten ‚Sättigungsgrad‘ erreicht habe und an einem wichtigen Wendepunkt58 stehe bzw. „that some critical mass has been achieved, allowing for the kind of overview self-reflection that is possible only when at least the initial trajectory of a field’s development has reached some sort of intellectual maturity“.59 Hierbei stellt sich natürlich auch die Frage, wie sich die Männlichkeitsforschung weiter entwickeln bzw. welchen neuen oder alternativen Perspektiven sie sich öffnen sollte. Dies kann im Folgenden allerdings nur exemplarisch und stark verkürzt angedeutet werden. Wenn auf die ‚Singularisierung‘ der frühen Phase der Männlichkeitsforschung eine ‚Partikularisierung‘ und Ausdifferenzierung von Männlichkeit gefolgt ist, so stellt sich aus einer komparatistischen Perspektive durchaus die Frage nach commonalities bzw. danach, was Männlichkeiten, bspw. als mentale Konfigurationen oder soziale Praxen, überhaupt noch gemeinsam haben bzw. wie sie identifiziert werden können. Zudem ist es innerhalb des deutschen Forschungskontextes von Bedeutung, auf einer trans- wie auch interdisziplinären Ebene kritisch auf das Wissen der englischsprachigen Masculinity Studies einzugehen, es aber um das spezifische in Europa, aber auch Asien, Afrika und Südamerika existierende Wissen zu erweitern.60 Diese Erkenntnisse können 58 „I believe that the time is now right for a retrospective consideration of the field of masculinity studies because its initial intellectual trajectory has indeed reached some sort of completion, and it therefore now stands on the brink of a critical turning point.“ BROD, 2011, S. 24. 59 EBD. Brod belegt dies u. a. durch die Tatsache, dass innerhalb von sieben Jahren nicht weniger als fünf neue Fachzeitschriften erschienen sind, während ältere Fachzeitschriften wie Men & Masculinities oder das Journal of Men’s Studies selbstverständlich weiter existieren. Gleichzeitig erschienen in den USA auch mehrere Nachschlagewerke und Enzyklopädien, die den Anspruch erheben, global gültige Aussagen zur Erforschung von Männlichkeit zu treffen, zumindest aber die ersten 20 bis 30 Jahre USamerikanischer Männlichkeitsforschung einer gründlichen Bilanzierung unterwerfen. 60 Gerade für die anglo-amerikanische Männlichkeitsforschung gilt, dass sie außeramerikanische und vor allem europäische Kontexte und nicht englischsprachige Forschungsarbeiten kaum zur Kenntnis nimmt und sich die vermeintliche Selbstreflexion in der Regel auf die (New) Men’s Studies bzw. (Critical) Masculinity Studies sowie eng verwandte Fachdisziplinen

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dann um das häufig implizite Wissen über Männlichkeit aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen sowie der Kunst supplementiert und in einen hierarchiefreien Dialog gebracht werden, so dass die von Brod angesprochene Reflexion über Männlichkeit auf einer ganz anderen, ein nicht-lineares, komplexes und hybrides Querdenken ermöglichenden Ebene fortgeführt würde.61 Ergänzt werden sollte dies durch ein weiteres Stärken der bereits angesprochenen intersektionellen Dimension männlicher Identität, bspw. durch die Berücksichtigung von sozialen Differenzkategorien wie ethnische Zugehörigkeit, soziale Schicht, Religion, Alter, sexuelle Neigung oder Region, wobei die aus diesem Defizit resultierende Notwendigkeit, Männlichkeitsforschung transdisziplinär zu betreiben, sicher eine der wichtigsten Herausforderungen der kommenden Jahre darstellt. Ähnliches gilt für aus den Queer Studies entlehnte Perspektiven, die in den unterschiedlichsten kulturwissenschaftlichen Disziplinen auftauchen und durchaus Sprengkraft besitzen. So wäre eine vertiefte Auseinandersetzung mit homosexuellen Männlichkeiten, bspw. mit Eve Kosofsky Sedgwicks Vorschlag, Männlichkeit und Homosexualität nicht als getrennte Elemente zu behandeln, sondern „to hypothesize the potential unbrokenness of a continuum between homosocial and homosexual“,62 um zu einem „movement-centered approach“ zu gelangen, der „queerness within heterosexual masculinity“63 einschließt, sicherlich lohnenswert.

wie bspw. die Soziologie beschränkt. Noch viel zu wenig wird gefragt, welches Wissen zu Männlichkeit in anderen Disziplinen, aber auch Kunstformen existiert. Siehe hierzu HORLACHER/JANSEN/SCHWANEBECK, 2015. 61 In Anlehnung an die Arbeiten von Jürgen Mittelstraß wird hierbei von der Notwendigkeit einer transdisziplinären Perspektive ausgegangen, die über das gemeinsame Vorgehen der Einzelwissenschaften hinaus die Einheit der Wissenschaften in einem Punkt (d. h. in Männlichkeit als Untersuchungsgegenstand) herzustellen sucht. Siehe FEICHTINGER u. a., 2004, S. 13. 62 SEDGWICK, 1985, S. 1. 63 REESER, 2015, S. 30. Siehe auch EBD.: „If one of the presuppositions of queer theory is that male homophobia is attempting to expel the abject queer from within, then there is necessarily something queer about or within masculinity in the first place. Or, alternately, excessive forms of masculinity may point to an instability of masculinity that contains something queer.“

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Viele Arbeiten aus dem Bereich des dekonstruktiven Feminismus und der Transgender- und Intersex-Forschung – beide besitzen ein enormes Potential, nicht nur wichtige biopolitische Fragen aufzuwerfen, sondern auch wesentliche Kategorien und Grundannahmen der Geschlechterforschung inklusive der Konzeption und Bedeutung des Körpers zu hinterfragen – haben die vermeintlich gesellschaftsbegründende Gender-Binarität nachhaltig ins Wanken gebracht,64 so dass sich die Frage stellt, ob man, wie dies in einigen Ausprägungen der Männlichkeitsforschung durchaus geschieht, die binäre Opposition von männlich und weiblich als Ausgangspunkt nicht dekonstruieren und ‚Geschlecht‘ als einen performativen Akt auffassen sollte,65 „der in der Übernahme und im wiederholten Vollzug geschlechtlich kodierter Erscheinungen und Verhaltensweisen das jeweilige ‚Geschlecht‘, die Geschlechtsidentität und auch die geschlechtlichen Körper der Akteure immer schon (mit-)hervorbringt“.66 Obwohl diese auf Judith Butler zurückgehende Position in der Geschlechterforschung keineswegs neu ist, setzt sie sich in der Männlichkeitsforschung bedeutend langsamer durch, wird aus Butlerscher Perspektive Gender doch zu einem Produktionsmechanismus, „whereby the sexes themselves are established“,67 und Männlichkeit zu einem corporeal style. In diesem Sinn argumentiert Todd Reeser, dass Männer sich nicht männlich verhalten „because of something in their genes or in their blood, but by virtue of the fact that their gendered acts implicitly refer to or cite innumerable actions that others have already undertaken – actions that provide authority, meaning, and stability for the current act“,68 und Rachel Adams sieht Männlichkeit unter explizitem Rekurs auf Judith Halberstams Female Masculinity „[as] most complicated and transgressive when it is not tied […] to the straight, white male body.“69 64 Siehe FLOYD, 2011; HALBERSTAM, 1998 und 2005; HENRY RUBIN, 2003; GAYLE RUBIN, 2006; GREEN, 2000. 65 Dies mag u. a. an der Popularität der oben anhand von Clatterbaugh dargelegten konservativen, aber eben massentauglichen Perspektiven liegen. Ich verweise diesbezüglich nur auf die evolutionsbiologische Argumentation oder auf die immer wieder angeführte „two-brain hypothesis“. 66 ERHART/HERRMANN, 1997, S. 15. Siehe auch BUTLER, 1990 und 1993. 67 BUTLER, 1990, S. 7. 68 REESER, 2015, S. 31. 69 ADAMS, 1998, S. 468 (Herv. von S. Horlacher). Reeser spricht von einem ernsten Mangel in der Männlichkeitsforschung „particularly with respect to

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Männlichkeit und Weiblichkeit würden dabei endgültig von der Sphäre der Biologie losgelöst und als „Positionen innerhalb eines historisch und sozial wandelbaren Kontinuums“70 aufgefasst, wodurch tradierte Normen und Restriktionen nicht mehr aufrechterhalten werden könnten und sich dem Individuum (neben einem Verlust an Sicherheit) völlig neue Freiräume fern der sonst bei Devianz üblichen Diskriminierung böten. Inwiefern sich aber ‚radikale‘, auch (de)konstruktivistische Positionen nicht selbst wieder einen Essentialismusund Binarismusvorwurf gefallen lassen müssen,71 und auch die Bedeutung, Konzeption und Rolle des Körpers als bedeutender Faktor geschlechtlicher Identität in einigen Bereichen der IntersexualitätsForschung wie auch – paradoxerweise – in der gemeinhin als konstruktivistisch geltenden Transgender-Forschung zunehmend an Bedeutung gewinnt,72 dies ist eine ebenso offene wie spannende Frage, die ganz sicher nicht ohne Auswirkungen auf die Männlichkeitsforschung und ihr Verständnis von Männlichkeit bleiben wird.

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heterosexual female masculinities“ und argumentiert, dass „a complete study of masculinity“ nicht nur die Rolle von Frauen, sondern auch „disabled, gay male, and transgender subjects“ untersuchen sollte; REESER, 2015, S. 32. 70 ERHART/HERRMANN, 1997, S. 15. 71 Siehe FUSS, 1997. 72 „Frequently, many non-trans theorists have used trans identities to support constructivist arguments. But increasingly, trans people are questioning whether the deeply held self-understandings they have can be entirely due to nurture and environment.“ WHITTLE, 2006, S. xiii. Siehe auch Jay Prossers Kommentar: „Transsexuality is a narrative of essentialist constructionism: its aim is to reconstruct the fleshly body.“ PROSSER, 1995, S. 491; siehe auch DREGER/HERNDON , 2009; LANG, 2006, S. 166; sowie PROSSER, 1998.

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Heldendämmerung: Männlichkeit und Impotenz im französischen und spanischen Fin de Siècle-Roman (Huysmans/Clarín) GREGOR SCHUHEN

M ä n n er d ä m mer u n g Das Jahr 2013 eröffnet der SPIEGEL mit einem Titel, der dem Thema des vorliegenden Bandes seine massenjournalistische Nobilitierung zu erteilen scheint:

Abbildung 1: Titelbild DER SPIEGEL 1/2013

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Auch das Jahr 2014 beginnt unter ähnlichen Vorzeichen: DIE ZEIT titelt „Not am Mann. Das geschwächte Geschlecht“1 und bietet ein bezüglich des Tenors nahezu identisches Dossier. Wer sich in den letzten Jahren häufiger mit dem Themenkomplex ‚Moderne Männlichkeit/Aktuelle Krise der Männlichkeit‘ beschäftigt hat, wird in den dazugehörigen Reportagen kaum Neues entdecken: Die geschlechtlichen Rollenbilder haben sich verändert, der Sektor der Erwerbsarbeit befindet sich in einem dramatischen Wandel, der Mann ist zu unflexibel, sich diesem Wandel anzupassen; die männlichen Adoleszenten sind die Problemfälle unserer Gesellschaft, etc. – kurz: es geht steil bergab mit der Spezies ‚Mann‘. Aufhänger der SPIEGEL-Titelgeschichte ist die 2013 erschienene deutsche Übersetzung des Buches The End of Men der US-amerikanischen Journalistin Hanna Rosin, das im Jahr zuvor bereits, genauer: am 11. September 2012, erstveröffentlicht wurde.2 Trotz der seit einigen Jahren allgegenwärtigen Krisenrhetorik, mit der sich der heutige Mann konfrontiert sieht, schafft es Rosins Studie, die sich primär dem Niedergang der nordamerikanischen Industrie und den dadurch hervorgerufenen Auswirkungen auf das kollektive männliche Selbstbewusstsein widmet, eine lebhafte Debatte auszulösen, die sich vor allem dem plakativen Titel des Buches verdankt. Die Essenz ihrer Kritik lautet: Wenn der Mann tatsächlich am Ende ist, warum merkt man im Alltag nichts davon? Sowohl die SPIEGEL-Reportage als auch Rosins streitbares Buch bemühen sich, mit Statistiken die These von der Krisenhaftigkeit sowie der gesellschaftlichen Gefährdung des Mannes zu unterfüttern – unterm Strich dokumentieren die herangezogenen Daten jedoch nur eines: Aller Schwanengesänge zum Trotz lässt sich anhand des empirischen Materials bestenfalls ein sich vollziehender Wandel diagnostizieren. Im Rahmen der Historisierung prekärer Repräsentationen von Männlichkeit, die ich im Folgenden vornehmen möchte, interessieren mich vor allem zwei Beobachtungen, die sich anhand der beiden Beispiele ableiten lassen: Erstens die Relation von historischen Umbruchssituationen und damit einhergehenden Männlichkeitskrisen, was vor allem der SPIEGEL-Artikel mit Blick auf die Gegenwart nahelegt. Zweitens die durch den bewusst ambivalenten Titel The End of Men 1 2

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RAETHER/STELZER, 2014. ROSIN, 2012.

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evozierte, im Englischen (aber auch im Französischen) auf rein sprachlicher Ebene bestens funktionierende Hypostasierung des Männlichen zum Allgemein-Menschlichen, die bereits 1911 von Georg Simmel erkannt wurde.3 So erschließt sich die genaue Bedeutung von Rosins Studie erst durch den hinzugefügten Untertitel: And the Rise of Women. Beide Beobachtungen passen gut zusammen, wenn man bedenkt, was auch die Kritik an Rosins Buch zum Ausdruck bringen möchte, dass die intermittierend auftretenden Krisen von Männlichkeit zuallererst durch ihr Aussprechen, d. h. ihre mediale Konstruktion virulent werden, weniger durch empirisch-repräsentative Beobachtungen im gesellschaftlichen Alltag. Ferner drängt sich durch den solcherart konstruierten Konnex von gesellschaftlicher Krise einerseits und krisenhafter Männlichkeit andererseits der Verdacht auf, dass das männliche Prinzip ganz in Simmels Sinne die Norm darstellt, die durch historische Umbrüche ins Wanken gerät – denn wer würde schon oder hat jemals von einer Krise der Weiblichkeit gesprochen? Insofern ist Krisenhaftigkeit, so paradox es klingen mag, nachgerade als Privileg zu betrachten, als Privileg der Mächtigen.4 Wirft man nun einen Blick in die Geschichte und schaut sich besonders epochale Umwälzungsprozesse an, wie etwa die Französische Revolution, wird man feststellen, dass am Ende solcher Prozesse häufig ein neues, hegemoniales Männlichkeitsbild steht, so der bürgerliche 3

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Vgl. SIMMEL, 1985; darin bes. S. 201: „Daß das männliche Geschlecht nicht einfach dem weiblichen relativ überlegen ist, sondern zum Allgemein-Menschlichen wird, das die Erscheinungen des einzelnen Männlichen und Weiblichen gleichmäßig normiert – dies wird, in mannigfachen Vermittlungen, von der Machtstellung der Männer getragen. [...] Es ist gar nicht zu verkennen, daß die Frau außerordentlich viel seltener ihr FrauSein aus dem Bewußtsein verliert als der Mann sein Mann-Sein. [...] Da das differentielle, das Männlichkeits-Moment in den Vorstellungsbildern und Normsetzungen, in den Werken und Gefühlskombinationen, dem Bewußtsein seiner Träger leichter entschwindet, als das entsprechende an dem Weiblichkeitsmoment geschieht – denn für den Mann als den Herrn knüpft sich innerhalb seiner Lebensbetätigungen kein so vitales Interesse an seine Relation zum Weiblichen, wie die Frau es an ihrer Relation zum Männlichen haben muß – so heben sich die männlichen Wesensäußerungen für uns leicht in die Sphäre einer überspezifischen, neutralen Sachlichkeit und Gültigkeit (denen die spezifisch männliche Färbung, wo sie etwa bemerkt wird, als etwas Individuelles und Zufälliges subordiniert wird).“ Vgl. dazu sehr erhellend HASCHEMI YEKANI, 2011, S. 14-18.

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Mann zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Damit ließe sich vorläufig konstatieren, dass in ähnlichem Maße wie Geschichtsschreibung allgemein die Geschichte historischer Krisen erzählt, sich auch die Geschichte der Männlichkeit als genuine Krisenerzählung lesen lässt.5 Insofern bietet sowohl die SPIEGEL-Reportage als auch Rosins Studie wenig Neues über die vermeintliche Essenz von Männlichkeit – beide perpetuieren lediglich das – zumindest in diachroner Betrachtung – allzu Offensichtliche: Männlichkeit ist Wandel, was keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal darstellt, denn auch Weiblichkeit ist Wandel. Allerdings evoziert der erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eindeutig negativ besetzte Begriff der „Krise“, dass es gleichwohl einen kategorialen Unterschied zwischen den Geschlechtern zu geben scheint, den ich gerade genannt habe: Männer kriegen die Krise bzw. Männlichkeit ist krisenhaft, während Frauen sich verändern, d. h. Weiblichkeit unterliegt lediglich einem ‚natürlichen‘ Wandel. Häufig genug, auch das suggeriert Rosins Buchtitel, werden beide Entwicklungsprozesse in einen Kausalzusammenhang gebracht: Die Krise des Mannes resultiert nicht zuletzt auch aus dem Wandel – durch den plakativen Begriff ‚Rise‘/‚Aufstieg‘ eindeutig positiv markiert – der Frau. Es verwundert daher kaum, dass die männliche Krisenrhetorik sich erstmalig um 1900 zu einem eigenständigen Diskurs verdichtet, in jener Zeit also, in der durch den Beginn der Frauenbewegung die zunehmende ‚Bedrohung‘ des Mannes – sozusagen The Beginning of the End of Men – durch das aufstrebende weibliche Geschlecht ihren Ausgang nimmt. Bevor ich mich mit zwei literarischen Beispielen aus der Zeit um 1900 beschäftigen werde, die mir im Hinblick auf den seinerzeit einsetzenden Krisendiskurs als besonders aussagekräftig erscheinen – Huysmans’ À rebours (1884) sowie Leopoldo Alas’ bzw. Claríns Su único hijo (1890)6 –, möchte ich zunächst unter Rückgriff auf Reinhart Kosellecks historische Semantik den Krisen-Begriff näher betrachten. Daran anknüpfend sollen skizzenhaft die wesentlichen Krisensymptome der Männlichkeit um 1900 dargestellt werden, bevor schließlich die Literatur – genauer gesagt: die Erzählliteratur – auf ihre Funktion als Krisen5 6

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Vgl. u. a. ERHART, 2005, S. 218-225; SCHUHEN, 2014. Alas hat bekanntlich seine literarischen Texte unter dem Pseudonym Clarín veröffentlicht. Ich werde daher im Folgenden von Claríns Werken schreiben.

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Narrativ überprüft wird. Die beiden genannten Beispiele von Huysmans und Clarín dienen der Exemplifizierung von Walter Erharts aufgestellter Beobachtung, dass „Männlichkeit [...] nur in Form von Erzählungen [vorliegt]“, ja dass es sich bei der Männlichkeit um nichts als eine „narrative Struktur“7 handele.

Z u m B e gr i ff „ Kri se“ Wie bereits angedeutet, existiert der Begriff „Krise“ in der eher negativen Bedeutung, wie wir sie heute kennen, erst seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit Blick auf die historische Semantik gilt immer noch der Artikel „Krise“ des Geschichtsphilosophen Reinhart Koselleck aus dem Wörterbuch geschichtlicher Grundbegriffe als zentral. Mit Kosellecks Begriffsgeschichte der „Krise“ liegt der Versuch einer Systematisierung vor, der vor allem zeigt, wie unbestimmt und je nach Kontext unterschiedlich der semantische Wandel des Krisen-Begriffs seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert verlaufen ist. Mit der Einsicht in diese offenkundige Mehrdeutigkeit schließt der Artikel: Die alte Kraft des Begriffs, unüberholbare, harte und nicht austauschbare Alternativen zu setzen, hat sich in die Ungewißheit beliebiger Alternativen verflüchtigt. So mag denn dieser Wortgebrauch selber als ein Symptom einer geschichtlichen „Krise“ gedeutet werden, die sich einer exakten Bestimmung entzieht. Um so mehr sind die Wissenschaftler herausgefordert, den Begriff auszumessen, bevor er terminologisch verwendet wird.8

Mit diesem Schlussakkord erinnert Koselleck noch einmal an den Anfang seiner Begriffsgeschichte, d. h. die „alte Kraft des Begriffs, harte und nicht austauschbare Alternativen zu setzen“ verweist auf die etymologischen Wurzeln des Krisen-Begriffes im Griechischen, wo das Verb χϱίνω noch für „scheiden“, „trennen“, „entscheiden“, „urteilen“ und „anklagen“ stand und „relativ klar abgrenzbare Bedeutungen im 7 8

ERHART, 2005, S. 207 u. 215. KOSELLECK, 1982, S. 649f.

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juristischen, theologischen und medizinischen Bereich“9 besaß. Den Beginn der inflationären und ubiquitären Verwendung des KrisenBegriffs datiert Koselleck auf die Zeit um 1780, d. h. mitten in die von ihm so genannte Sattelzeit. Seitdem, so Koselleck, „diene ‚Krise‘ als geschichtsimmanenter Übergangsbegriff, wobei es von der Diagnose abhängt, ob die Übergangsphase zum Besseren oder Schlechteren führt und wie lange sie dauert“10; ‚Krise‘ sei „Ausdruck einer neuen Zeiterfahrung, Faktor und Indikator eines epochalen Umbruchs.“11 Damit setzt Koselleck die Französische Revolution auf eine semantische Stufe mit der epochalen Krisenerfahrung der Neuzeit und führt als weiteren Terminus den „Umbruch“ ins Feld, den er im Artikel durchgängig als der „Krise“ übergeordnet verwenden wird. Die Krise leite demzufolge den Umbruch ein, ob zum besseren oder schlechteren, d. h. „‚Krise‘ kann sowohl, als ‚chronisch‘ begriffen, Dauer indizieren wie einen kürzer- oder längerfristigen Übergang zum Besseren oder Schlechteren oder zum ganz Anderen hin“12 – hier ist der Verweis auf den antiken Ursprung des Begriffs deutlich zu beobachten. Dass Koselleck an diesem Verständnis bis kurz vor seinem Tod (2006) festgehalten hat, beweist ein Interview aus dem Jahr 2005, das erst 2010 in der FAZ abgedruckt wurde. Eingangs äußert sich Koselleck zu den gegenwärtigen Konflikten „zwischen Islamisten und amerikanischem Missionarsgebaren“ und konstatiert: „Das ist eine echte Krise, die sogar auf Tod und Leben hinausläuft, wenn man diese ursprüngliche Bedeutung von Krise verwenden will.“13 Interessant an dieser Stelle ist die Rede von der „echten Krise“, was freilich suggeriert, dass es auch so etwas geben muss wie ‚unechte‘ oder ‚herbeigeredete‘ Krisen.14 Letzteres könnte man wohl aus heutiger Sicht mit medial oder diskursiv konstruierten Krisen übersetzen, was nicht zuletzt für die Krisen von Männlichkeit eine zentrale Frage darstellt. Koselleck bemisst den Grad der Krisenhaftigkeit im Folgenden nach ihrer Objektivierbarkeit, was er 9 10 11 12 13 14

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EBD., S. 617. EBD., S. 627. EBD., S. 617. EBD. MARTIN, 2010, S. N4 (das Interview stammt aus dem Jahr 2005). Auch der Historiker Rudolf Vierhaus trifft diese Unterscheidung und kommt gar zum Ergebnis, dass es „die große, ‚echte‘ Krise“ nur selten gebe. Vgl. seine Ausführungen in VIERHAUS, 1978, S. 316.

Heldendämmerung

sowohl für das bereits geschilderte Beispiel des Islamismus in Rechnung stellt als auch für die wirtschaftlichen Krisen, die anhand von Zahlen, Statistiken und Kurven objektiviert werden können.15 Dem gegenüber stellt er die „subjektive Wahrnehmung [der] Krise“, die er als Ausdruck einer „geistigen Krise“16 bewertet. Beides kann, muss aber nicht zwangsläufig miteinander zusammenfallen, was bereits durch die Opposition von „objektivierbar/subjektiv“ angedeutet wird. Koselleck ist nun aber, und darauf legt er in diesem Gespräch auch höchsten Wert, zuallererst Historiker, womit er deutlich machen will, dass Krisen ohnehin erst im Nachhinein, d. h. aus einer historiografischen Perspektive heraus, objektiviert werden können.

Kri se n der Mä nnli c hkei t Die mediale Darstellung von gegenwärtigen Situationen, die als krisenhaft erlebt werden, wird zwar ebenfalls anhand von empirischem Datenmaterial möglichst objektiv vorgenommen, aber fehlt der Zeitdiagnose doch ein entscheidender Faktor, um die Krise als Ganzes in den Blick zu nehmen, nämlich das Wissen um deren Ausgang. Niemand kann sagen, inwieweit die zurzeit allerorts diskutierte Krise der Männlichkeit das vorherrschende hegemoniale Männerbild dauerhaft verändern wird. Für die Historie lassen sich solche Übergangsprozesse sehr viel besser beschreiben, so z. B. am Ende des Mittelalters, als das Ende des feudalen Ständesystems auch das Ende der ritterhaften Männlichkeit besiegelt oder nach den bereits erwähnten Umwälzungen in der Folge der Französischen Revolution, als der Aufstieg des Bürgertums auch das Leitbild des bürgerlichen Mannes – Familienvater und Ernährer – hervorbrachte. Claudia Opitz-Belakhal fragt sich in einer Studie zum Nutzen des Konzeptes der Männlichkeitskrise(n), ob eine veränderte Geschlechterordnung immer nur der Effekt gesamtgesellschaftlicher Umwälzungen ist oder ob nicht auch eine veränderte Geschlechterordnung als Motor solcher Umbrüche verstanden werden kann.17 Diese Frage lässt sich nur sehr schwer beantworten, da die Akteure – 15 Vgl. dazu LINK, 2013. 16 MARTIN, 2010, S. N4 (Herv. von G. Schuhen). 17 Vgl. OPITZ-BELAKHAL, 2008.

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oder besser: die Subjekte – innerhalb der Geschichtsschreibung ohnehin größtenteils männlich sind, so dass die bereits erwähnte Hypostasierung des männlichen Prinzips zum Allgemein-Menschlichen hier bestens funktioniert, was zur allgemeinen Formel führt: Steckt die Gesellschaft in der Krise, tut der Mann es auch. Ob diese Formel auch umgekehrt gilt – darauf hebt Opitz-Belakhals Frage ab – lässt sich wohl guten Gewissens bejahen. Vor diesem Hintergrund wird nur allzu deutlich, dass Männlichkeit gleichsam das Krisenbarometer einer Gesellschaft darstellt bzw. dass sich an den jeweils vorherrschenden Männlichkeitsbildern eine Menge über den gesellschaftlichen Ist-Zustand ablesen lässt. Im wissenschaftlichen Diskurs zu den Krisen der Männlichkeit gilt es als gesichert, dass die Jahrhundertwende 1900 als besonders radikale und folgenschwere Phase des Übergangs betrachtet werden muss.18 Beispielhaft seien einige wenige Punkte skizziert:

1. allgemeine Zukunftsängste angesichts des neuen Jahrhunderts führen zu einer generellen Unsicherheit;

2. die beginnende Frauenbewegung regt zum Überdenken tradierter, androzentrischer Rollenmuster an;

3. ein durch die zunehmende Industrialisierung völlig verändertes Arbeitsleben erschüttert die Identität und das Selbstwertgefühl des Arbeiters; 4. die zunehmende wissenschaftliche Forschung zur Nervosität fördert die Erkenntnis zutage, dass es nicht nur die hysterische Frau gibt, sondern mit dem Neurastheniker auch ihr männliches Pendant; 5. das Thema der männlichen Homosexualität nimmt immer mehr Raum ein (sowohl in der Psychopathologie als auch innerhalb öffentlicher Debatten); 6. speziell in Frankreich sorgt 1871 die Niederlage im DeutschFranzösischen Krieg für düstere Endzeitstimmung, man spricht hier vom Fin de Siècle; 18 Die Fülle an Forschungsliteratur zur Jahrhundertwende 1900 ist inzwischen kaum noch überschaubar. Daher sei an dieser Stelle nur eine Auswahl vorgenommen: ERHART, 2005, S. 218-222; BRUNOTTE/HERRN, 2007; IZENBERG, 2000; SCHUHEN, 2014.

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7. in Spanien kratzt der Verlust der letzten Überseekolonien nach der Niederlage des Spanisch-Amerikanischen Krieges 1898 erheblich am nationalen Selbstbewusstsein. All diese Faktoren haben massiven Einfluss auf das hegemoniale Männlichkeitsbild der Jahrhundertwende – die allgemeine Krisenstimmung kulminiert schließlich im Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der wiederum dem Idealtypus soldatischer Männlichkeit die Vorherrschaft erteilt. Damit wird vorübergehend der Pluralisierung von Männlichkeiten um 1900, die von den Zeitgenossen als genuines Krisensymptom bewertet wird, ihr Ende bereitet. Diese Pluralisierung und Auffächerung in hegemoniale und untergeordnete bzw. marginalisierte Männlichkeiten ist das Kennzeichen moderner Maskulinität, wie vor allem Robert W. Connell in seinen Pionierarbeiten aus dem Bereich der Masculinity Studies immer wieder betont hat.19 Daher ist der Übergang zum 20. Jahrhundert so wichtig und folgenreich für die Konstruktion des modernen Mannes. Auch heute noch wird dieser plurale Charakter von Männlichkeit nicht selten als krisenhaft bewertet, vor allem dann, wenn über die Orientierungslosigkeit von heranwachsenden Männern gesprochen wird, die durch das Überangebot an möglichen männlichen Vorbildern hervorgerufen wird.

M ä n nli c h kei ts kr is e n i n d er Lit er at ur Die Frage lautet daher, anhand welcher Materialien sich solche Diagnosen vornehmen lassen. Als Literaturwissenschaftler möchte ich mich nun Texten zuwenden, in denen das Thema Männlichkeit und deren Krisen zumindest mitverhandelt wird. Literarische Texte, insbesondere Erzähltexte, sind an der Schnittstelle von gesellschaftlicher und subjektiver Ebene zu verorten, d. h. in ihnen gelangt häufig sowohl die normative Dimension zum Ausdruck als auch deren Auswirkungen auf die

19 Vgl. CONNELL, 1999. Connell lebt seit einigen Jahren als Frau und publiziert seither unter Raewyn Connell.

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psychische Disposition der Figuren.20 Bezogen auf das Thema Männlichkeit sind auf der gesellschaftlichen Ebene Stereotype, Leitbilder und binäre Ordnungsmuster zu nennen, die an der Konstruktion von Maskulinität maßgeblich beteiligt sind. Auf der psychischen Ebene der Figuren lassen sich im Krisenfall Konflikte, Identitätskonfusionen oder – im schlimmsten Fall – pathologische Auswirkungen beobachten. Es ist sicherlich unbestreitbar, dass in Zeiten epochaler Umbruchs- bzw. Krisensituationen Narrative entwickelt werden, um die unmittelbaren Erfahrungen beschreibbar zu machen, d. h. um der – wie Koselleck sagt – „subjektiven Wahrnehmung der Krise“ Ausdruck zu verleihen. Unter Narrativ verstehe ich mit Walburga Hülk: […] eine Erzählung, mündlich oder schriftlich, Alltagsbericht oder Dichtung, in der Faktum und Fiktion vielfach nicht getrennt sind. Narrative sind sinnstiftend, das heißt sie überführen Erlebtes in bekannte Kategorien, stellen vertraute Kontexte her. Elemente werden verknüpft, ausgewählt, weggelassen und auf das Narrativ hin zugespitzt. Das Narrativ erklärt und interpretiert bereits, setzt häufig Neues in Bezug mit Altem und führt zu etwas hin. Narrative sind kulturspezifische, individuelle und kollektive Denkmuster, die Wahrnehmungen und Verhalten bilden und ausdrücken. Das Narrativ „Krise“ reagiert auf ein unerwartetes, unübersichtliches Geschehen, dessen Folgen noch nicht abzuschätzen sind.21

Häufig, und hier kommt ein weiterer begriffsgeschichtlicher Teilbereich der Krisensemantik ins Spiel, nämlich der theologische, werden apokalyptische bzw. eschatologische Szenarien entworfen, wodurch der Ernst der aktuellen Lage, die unsichere Zukunft und die Tragweite solcher Krisen ins Visier genommen werden soll; hier sei erneut auf The End of Men verwiesen – um 1900 ist Oswald Spenglers Zeitdiagnose vom „Untergang des Abendlandes“ besonders einflussreich.22 Aber auch wohlbekannte Mythen werden häufig als Narrativ von Krisenhaftigkeit herangezogen. So rekurriert z. B. Paul Valéry in seiner kulturkritischen 20 Walter Erhart spricht vom „Innen“ der Figuren und dem „Außen“ der Gesellschaft und bestimmt die Literatur als bevorzugten Austragungsort dieses Konfliktes; vgl. ERHART, 2005, S. 178. 21 HÜLK, 2013, S. 118. 22 SPENGLER, 2006.

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Schrift La crise de l’esprit (1919) auf den Hamlet-Mythos, um die intellektuelle Krise Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu charakterisieren.23 In der Zeit um 1800 ist es der Faust-Mythos, der die nachrevolutionäre Krisen-Zeit paradigmatisch kennzeichnet und das nicht nur aus der Feder von Goethe – um 1800 herrscht ein wahrer Faust-Boom. Zu beobachten ist hier bereits, dass beide Denkfiguren der Krise – Hamlet und Faust – männlich sind, in ihrer Zeit überaus populär und darüber hinaus kulturspezifischen Charakter besitzen. Im spanischen Kontext erfüllt der Don Juan-Mythos eine ähnliche Funktion, worauf ich noch zurückkommen werde. Die Literatur stellt, verstanden als Medium subjektiver Wahrnehmung par excellence, einen wichtigen Austragungsort verschiedenster Krisenerfahrungen zur Verfügung,24 ja Dichtung arbeitet, darauf hebt auch Hülks Narrativbegriff ab, an deren Diskursivierung und Semantisierung aktiv mit. Nicht von ungefähr zitiert Koselleck in seiner historischen Krisen‐Semantik neben Wörterbuch-Artikeln nahezu ausschließlich literarische Quellen von Rousseau über Diderot bis Chateaubriand. Konkret für das Thema Männlichkeit ist freilich eine Figur besonders aussagekräftig, nämlich der Männerheld im Roman. Anhand der männlichen Protagonisten lassen sich, so meine Beobachtung, allgemeine gesellschaftspolitische Krisen in Augenschein nehmen. Die Literatur wird dergestalt zum Medium von Kulturkritik und -diagnostik, das auf der Basis von künstlerischen Repräsentationen von Männlichkeit entweder die als krisenhaft empfundene Gegenwart kommentiert oder aber literarisch vermittelte Praktiken inszeniert, die der Überwindung dieser Krise, d. h. der Resouveränisierung von Männlichkeit dienen. Die literarische Repräsentation von Männlichkeit wird demnach funktionalisiert als pars pro toto gesamtgesellschaftlicher Problemlagen. Um das Ausmaß der „Heldendämmerung im Fin de Siècle-Roman“ um 1900 zu verstehen, sei zunächst kurz der Normaltypus des Männerhelden, wie wir ihn z. B. aus dem realistischen Roman des 19. Jahrhunderts kennen, skizziert: Der Held muss zuallererst die Handlung vorantreiben, also aktiv am Geschehen beteiligt sein. Er sollte sich gegenüber Vertretern seines eigenen Geschlechts entweder solidarisch-hilfsbereit (Homosozialität) verhalten oder im Fall von Konkurrenz als tapferer 23 VALÉRY, 1957. 24 Vgl. die Ausführungen von MELLMANN, 2012, S. 174-190.

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Sieger aus den ‚ernsten Spielen des Wettbewerbs‘ (Bourdieu) hervorgehen, um seine männliche Ehre zu verteidigen. Er sollte Anziehungskraft auf das weibliche Geschlecht ausüben, d. h. ohne Zweifel heterosexuell sein, sexuell potent und die Rolle des Verführers beherrschen, ohne sich selbst verführen zu lassen. Des Weiteren sollte er das weibliche Geschlecht im Falle einer Bedrohung beschützen: er das Subjekt, sie das Objekt. Der Männerheld sollte darüber hinaus unabhängig sein, rational, abenteuerlustig, moralisch integer sowie physisch und psychisch unversehrt, d. h. stark sein. Freilich entspricht kaum ein Männerheld all diesen Anforderungen – genauso wie kein realer Mann dem Connell’schen Konzept hegemonialer Männlichkeit entsprechen kann. Es handelt sich in beiden Fällen um normative Formulierungen idealtypischer Männlichkeit. Für den Männerhelden in der Literatur gelten zusammengefasst die Parameter Aktivität, Tapferkeit, Potenz (nicht nur sexuelle!) und Heterosexualität als maßgeblich. Als Prototypen seien Balzacs Protagonisten Eugène de Rastignac und Henri de Marsay genannt oder aber Jean Valjean, der nachgerade übermenschliche Protagonist aus Victor Hugos Monumentalepos Les misérables (1862). Der Männerheld muss am Ende nicht als Sieger aus seinen Konflikten hervorgehen, aber er darf keinesfalls seine Männlichkeit einbüßen. Hybris, d. h. männlich codierte Selbstüberschätzung, gehört spätestens seit dem Heldentod Rolands aus der mittelalterlichen Chanson de Roland zu den Ingredienzien literarisch vermittelter Maskulinität. Der durch Hybris herbeigeführte Heldentod stellt die Männlichkeit des Protagonisten nicht in Frage, sondern veredelt diese sogar noch. Dieses Porträt des idealtypischen Männerhelden ist bewusst schablonenhaft gehalten, um im Folgenden seine Dekonstruktion anhand der beiden Beispiele besser nachvollziehen zu können. Wie ich zeigen werde, setzt bereits bei Flaubert eine Demontage literarisch repräsentierter Männlichkeit ein, die jedoch bei seinem Nachfolger Huysmans, dem Mitbegründer der europäischen Dekadenzliteratur, noch erheblich radikalisiert wird.

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M ä n nli c h kei t z wi s c he n D e k a de n z u n d D e g e n er a ti o n: H u y s ma n s’ À r e bour s Paris um 1880: Kurze Zeit bevor sich der junge Aristokrat Jean des Esseintes in sein selbsterwähltes künstliches Exil-Paradies am Rande der Stadt zurückzieht, macht er noch einmal im beau monde der Metropole von sich reden. Seit langem schon hatte sich der Vorzeigedandy durch allerlei bizarre Allüren, Outfits und Events den „Ruf des Exzentrikers“ erworben. Dieses Mal jedoch soll alles bislang Dagewesene in den Schatten gestellt werden: Jean des Esseintes lädt ein zum Leichenschmaus. Dans la salle à manger tendue de noir, ouverte sur le jardin de sa maison subitement transformé, montrant ses allées poudrées de charbon, son petit bassin maintenant bordé d’une margelle de basalte et rempli d’encre et ses massifs tout disposés de cyprès et de pins, le dîner avait été apporté sur une nappe noire, garnie de corbeilles de violettes et de scabieuses, éclairée par des candélabres où brûlaient des flammes vertes et, par des chandeliers où flambaient des cierges. Tandis qu’un orchestre dissimulé jouait des marches funèbres, les convives avaient été servis par des négresses nues, avec des mules et des bas en toile d’argent, semée de larmes. On avait mangé dans des assiettes bordées de noir, des soupes à la tortue, des pains de seigle russe, des olives mûres de Turquie, du caviar, des poutargues de mulets, des boudins fumés de Francfort, des gibiers aux sauces couleur de jus de réglisse et de cirage, des coulis de truffes, des crèmes ambrées au chocolat, des poudings, des brugnons, des raisinés, des mûres et des guignes.25

Warum zum Auftakt diese kurze Episode aus dem Schlüsselwerk des französischen Fin de Siècle? Aufschlussreich ist der Anlass dieses opulenten Leichenschmauses. Der Hausherr hatte seinen Gästen vorab kleine Einladungskarten, die wie Todesanzeigen gehalten waren, geschickt, auf denen der zu betrauernde Grund mitgeteilt wurde: „dîner de faire-part d’une virilité momentanément morte“ – „Diner anlässlich einer vorübergehend verstorbenen Männlichkeit.“ 25 HUYSMANS, 1977, S. 89f.

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Nimmt man den Roman À rebours („Gegen den Strich“) von JorisKarl Huysmans als Ganzes in den Blick, liest sich diese retrospektiv dargestellte Anfangsanekdote wie ein antizipatorisches amuse-gueule, ja die kulinarische Ouvertüre zur Kernerzählung um den dekadenteskapistischen Anti-Helden, welcher der Pariser Gesellschaft aus Ekel, Überdruss und Blasiertheit den Rücken zuwendet. Die unbestreitbare Handlungsarmut des Romans, die so gar nicht zu heutigen Lesegewohnheiten passen mag, spielt eine wichtige Rolle im Hinblick auf das repräsentierte Männlichkeitsbild in À rebours. Ich begreife nämlich Huysmans’ Roman als wichtigen, vielleicht einflussreichsten Basistext für das literarisch repräsentierte Männlichkeitsbild um 1900 – zumindest im europäischen Kontext. Die insinuierte Handlungsarmut ist dafür ein erster Hinweis: Ich habe Des Esseintes bereits als Anti-Helden charakterisiert und das betrifft zunächst einmal die deutliche Abgrenzung vom klassischen Männerhelden in der Literatur. Dass tatsächlich in À rebours auf der Ebene der histoire nicht viel passiert, wird besonders deutlich, wenn man den Protagonisten etwa mit den bereits genannten Männerfiguren aus den ‚klassischen‘ Romanen des 19. Jahrhunderts vergleicht. Flauberts Helden nehme ich, wie bereits angedeutet, aus diesem Männerbund bewusst heraus und auch die Figuren der französischen Frühromantik, so Benjamin Constants Adolphe oder Chateaubriands René, entsprechen diesem Bild sicherlich nicht. Handlungsarmut ist insbesondere dem sogenannten realistischen Roman völlig fremd – selbst die weiblichen Hauptfiguren der Gattung sind tendenziell alles andere als passive Objekte männlichen Begehrens oder gar die Unterdrückung durch das Patriarchat stillschweigend erduldende Naturgeschöpfe, wie Flauberts Madame Bovary wohl am eindrücklichsten unter Beweis stellt. Im direkten Vergleich mit seinen Vorgängerromanen muss demnach die Handlungsarmut in À rebours als Novum innerhalb der Literaturgeschichte erscheinen: ein im doppelten Sinne experimenteller Roman, der einzig den Fokus auf die Geschichte eines jungen Mannes legt, der jedoch nicht als typischer movens des Plots auftritt, sondern sich gleichsam in der kontemplativ-stagnativen Atmosphäre seines künstlichen Laboratoriums wohlig einnistet. Die „vorübergehend verstorbene Männlichkeit“ wird detailverliebt angereichert mit selbstdiagnostischen Beobachtungen zur eigenen Impotenz, mit unwillkürlichen Erinnerungsfragmenten, die um frustrierende Erlebnisse mit Pros-

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tituierten oder androgynen Zirkusakrobatinnen kreisen – kurz: die beiden Zeitebenen fügen sich zusammen zu einem Gesamtbild antihegemonialer Männlichkeit, das sich mit den Adjektiven passiv, misogyn, asozial, schwach, impotent und krank bzw. degeneriert umschreiben lässt. Bezeichnenderweise gibt es aber doch so etwas wie einen roten Handlungsfaden, der dem Roman, dessen Einzelkapitel recht lose nebeneinander stehen, eine gewisse narrative Kohärenz verleiht, nämlich der durch die soziale Isolation und die damit einhergehende sinnliche Überreizung ausgelöste und vorangetriebene Krankheitsverlauf Des Esseintes’. War es zu Beginn nur eine nervöse Reizung, so steigert sich vor allem ab der zweiten Hälfte des Romans die Symptomatik um ein vielfaches: Magenprobleme, Trübsinn, Alpträume, Melancholie, Müdigkeit und Erschöpfung, Willensschwäche, Nervenkrisen, Gesichtsneuralgie, Kopfschmerzen, Impotenz, Angstzustände, Ohnmachtsanfälle, Blutarmut, Schweißausbrüche, Sodbrennen, Fieber, Husten, Verdauungsstörungen und Brechreiz. Dieser überbordende Symptompool würde aufgrund der darin versammelten Vielzahl und gleichzeitigen Diffusität der Erscheinungen in das etwa zur gleichen Zeit von George Miller Beard in New York ‚erfundene‘ Krankheitsbild der Neurasthenie passen. Signifikanterweise wurde die Neurasthenie in Europa vielfach als männliche Hysterie rezipiert, d. h. als diagnostisches Instrument, das es erlaubt, den hysterischen Mann in den Patientenstamm der Nervösen aufzunehmen, ohne ihm jedoch mit der Diagnose „Hysterie“ seine Männlichkeit abzuerkennen; der Neurastheniker wird um 1900 zur neuen Sozialfigur im Gefüge krisenhafter Männlichkeiten.26 Noch einmal zurück zu À rebours: Die zusehends bedrohte Gesundheit Des Esseintes’ schafft aufgrund ihres Leitmotivcharakters das pathologische, mithin psychosomatische Dispositiv prekärer Männlichkeit und somit den Zusammenhang von abnehmender Vitalität und degenerierter Virilität, der den Roman von Beginn an rahmt. Ein letzter Punkt, auf den ich aufmerksam machen möchte, führt von der Pathologie hin zur Soziologie: Nicht unwichtig bei der Auseinandersetzung mit der ruinösen Männlichkeit in À rebours ist die Tatsache, dass sich Des 26 Vgl. zur Kulturgeschichte der Neurasthenie: FISCHER-HOMBERGER, 2010; vgl. zur Neurasthenie speziell in À rebours: KRAMER, 2010; vgl. zum Verhältnis von Neurasthenie und Männlichkeit um 1900: KOTTOW, 2006.

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Esseintes aus der Gesellschaft zurückgezogen hat. Wir wissen nicht erst seit Connells Konzeption pluralisierter Männlichkeiten, dass Männlichkeit – wie Weiblichkeit im Übrigen auch – nur als relationale Kategorie zu denken ist. Männlichkeit konstituiert sich sowohl in Relation zum weiblichen Geschlecht als auch in Relation zu anderen Männlichkeiten. Ich habe bereits angedeutet, dass À rebours ein im doppelten Sinne experimenteller Roman ist. Damit ist einerseits seine Form und sein paradigmatischer Status als genrebegründend gemeint. Andererseits jedoch schildert er eine radikale Versuchsanordnung bzw. ein soziales Experiment, das den modernen Menschen in seiner Zurückgeworfenheit auf sich selbst gleichsam seziert. Es war Flaubert, dessen Werke in À rebours mehrfach auftauchen und der in seinen Romanen, insbesondere in der Éducation sentimentale, wie Barbara Vinken aufgezeigt hat, den modernen Menschen des Zweiten Kaiserreichs als mit sich selbst entzweite, selbstsüchtige Bestie beschrieben hat.27 Das soziale Miteinander steht dort, so Vinken, im Zeichen von Brudermord, Prostitution und Inzest – Flaubert entlarvt die jüngere Geschichte Frankreichs als Wiederkehr spätrömischer Dekadenz, als düstere translatio Romae mit durchaus apokalyptischem Ausmaß. À rebours setzt, so mein Eindruck, diese Form der Geschichtsschreibung fort. 1884 erschienen, geht ihm mit der Niederlage des Deutsch-Französischen Krieges ein weiteres zerstörerisches Ereignis voraus, das zwar im Hinblick auf den von Flaubert geschilderten Bürgerkrieg innerhalb der Gesellschaft – Flaubert beschreibt die 1848erAufstände – vielleicht weniger mit Selbstzerstörung zu tun hat, aber doch hinsichtlich der daraus resultierenden Endzeitstimmung sicherlich nicht minder folgenreich für die gesellschaftliche Befindlichkeit innerhalb der Grande Nation ist. Im Bezug auf die literatursoziologischen Entwicklungslinien von Flaubert zu Huysmans sei zunächst vermerkt, dass die dazwischen liegenden 15 Jahre historisch betrachtet zwar eine recht kurze Zeitspanne markieren, aber gleichwohl entscheidende Weiterentwicklungen mit sich bringen. Überspitzt formuliert ließe sich sagen: Wo bei Flaubert noch der Brudermord am Ende der gesellschaftlichen Unheilsgeschichte stand, fehlt bei Huysmans selbst der letzte Bruder, der noch gemordet werden könnte. Auch das nimmt der Roman 27 Vgl. VINKEN, 2009, S. 226-294.

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bereits im Vorbericht in bester naturalistischer Manier vorweg, indem der Protagonist als letzter „rejeton“,28 sprich Abkömmling eines Adelsgeschlechts eingeführt wird, als im buchstäblichen Sinne bruderlos. Auch in seiner Schulerziehung und darüber hinaus bleibt er der antisoziale Einzelgänger ohne homosoziale Verbrüderung mit Gleichgesinnten. Selbst die von Barbara Vinken für das Flaubert’sche Gesellschaftsbild ebenfalls als grundlegend beschriebenen Eckpfeiler Inzest und Prostitution tauchen bei Huysmans auf, aber eben nur noch als Erinnerungsfragmente im Plusquamperfekt, d. h. als längst abgelegte Reliquien in den introspektiven Exerzitien des Protagonisten, als blinde Flecken. Demnach muss À rebours – auch dadurch erklärt sich seine Handlungsarmut – unbedingt als memento mori der französischen Gesellschaft gelesen werden, deren Agonie wiederum von Flaubert mit jedoch überbordendem Handlungsreichtum erzählt wurde. Die Bezüge von Flaubert zu Huysmans lassen sich auch für das Thema Männlichkeit ausfindig machen. Histoire d’un jeune homme heißt Flauberts Paris-Roman im Untertitel. Frédéric Moreau ist der Protagonist, jener ‚junge Mann‘, der von Anfang an als passiver Antiheld eingeführt wird: Sein erster Auftritt zeigt ihn, wie er auf dem Schiff, das ihn von Paris in die Heimat bringt, regungslos neben dem Steuer steht,29 abgeschmackte romantische Lebensentwürfe durchdenkt – Schriftsteller, Maler oder leidenschaftlicher Liebhaber zu werden – und dabei schwermütige Verse vor sich hin deklamiert. Keines davon wird eintreffen; Frédéric wird Spielball des babylonischen Tumults innerhalb von Paris bleiben und am Ende des Romans gemeinsam mit seinem Freund Deslauriers feststellen, dass ein gemeinsamer Besuch im Bordell, wo es nicht mal zum Äußersten gekommen war, das Beste war, was ihm im Leben passiert sei. Frédérics Vorgänger in den Romanen von Balzac oder Stendhal mögen am Ende ihrem tragischen Schicksal erliegen, aber sie haben doch niemals wirklich das Steuer aus der Hand gegeben und das tragische Ende – z. B. eines Julien Sorel oder selbst eines Lucien de Rubempré – liest sich eher als Adelung ihrer Männlichkeit, weniger als deren Auslöschung – selbst einen solchen spekta28 HUYSMANS, 1977, S. 78. 29 FLAUBERT, 1998, S. 15: „Un jeune homme de dix-huit ans, à longs cheveux et qui tenait un album sous son bras, restait auprès du gouvernail, immobile.“

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kulären Tod verweigert Flaubert seiner Figur: Frédéric wird weiterleben müssen und zwar, so bleibt zu vermuten, im Angesicht desselben bürgerlich-resignativen ennui, der seine Lebensbilanz am Ende der Éducation signiert. Huysmans nun radikalisiert Flauberts Männlichkeitsbild, indem er es einerseits noch weitaus passiver ausgestaltet – und das auf der Basis zeitgenössischer Degenerationsmodelle – und es andererseits jeglicher Soziabilität beraubt. Dabei kann man im engsten Sinne nicht einmal sagen, dass Des Esseintes gar nicht mehr handelt, denn er gestaltet immerhin mit obsessiver Akribie und ästhetischem Kalkül sein künstliches Universum, was ihn gleichsam zur Künstlerfigur à rebours werden lässt. Aber auch dieser Künstlerstatus erweist sich letzten Endes als prekär: Die vergoldete Schildkröte verendet und die eigens importierten tropischen Pflanzen gehen allesamt ein. Wurden bereits die sexuellen Eskapaden der Vergangenheit im Bewusstsein der einsetzenden Impotenz in die Welt des unwiderruflich Vergangenen verbannt, so steht nun auch die letzte Bastion männlicher Schöpfungskraft – das Künstlertum – im Zeichen zunehmender Erosion. Dass nun mit À rebours gleichsam die Heldendämmerung innerhalb der gesamteuropäischen Literatur einsetzt, mag vielleicht eine kühne These sein, aber ich gebe zu bedenken, dass diese ‚Mutter aller Dekadenzromane‘ eine enorme, die Nationalstaatsgrenzen überschreitende Strahlkraft besaß. Damit ist nicht nur die direkte Wiederaufnahme von À rebours in Form des yellow book in Oscar Wildes Picture of Dorian Gray (1890) gemeint. Denn auch wenn sich, so könnte man sagen, Des Esseintes als literarische Figur dem Primat der Reproduktion verweigert, so kann man doch in der europäischen Literatur um 1900 eine Fülle von männlichen Nachkommen beobachten. Für Deutschland müssen freilich Thomas Manns prekäre Männerhelden angeführt werden – der Einfluss der Dekadenzliteratur lässt sich wie ein roter Faden in seinem Gesamtwerk nachweisen. Gabriele D’Annunzio und vor allem Italo Svevo stehen repräsentativ für die italienische Literatur der Jahrhundertwende, auch wenn der männliche Protagonist aus D’Annunzios Il fuoco sicherlich bereits den Versuch darstellt, den dekadenten AntiHelden, wie er in Svevos typischer Figur des inetto zum Ausdruck gelangt, zu überwinden, was dann erst im Futurismus mit der Konzeption des hypermaskulinen, präfaschistischen super uomo gelingt. In Spa-

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nien ist der Geist der Décadence, worauf ich noch näher eingehen werde, sowohl in den Romanen des Naturalismus als auch in den Texten der Generación del 98 deutlich nachweisbar. Für Frankreich sei noch auf das Frühwerk André Gides und Maurice Barrès’ hingewiesen sowie auf das Gesamtœuvre von Marcel Proust – drei exemplarische Autoren, die sich jeweils auf vielerlei Weise an den ästhetischen sowie motivischen Kategorien der Dekadenzliteratur, speziell auch Huysmans À rebours, abarbeiten. Auch im außerliterarischen Kontext findet diese Auseinandersetzung statt, sowohl ganz prominent in der Lebensphilosophie von Nietzsche als auch in dezidiert kulturkritischen Texten, deren bekanntester wohl die überaus einflussreiche Schmähschrift Entartung von Max Nordau (1892-93) darstellt. Darin ist auch À rebours ein Kapitel gewidmet, in dem Nordau in Bezug auf die männliche Hauptfigur zu folgendem Urteil kommt: Da haben wir ihn nun, den ‚Uebermenschen‘, den Baudelaire und seine Schüler träumen und dem sie ähnlich zu werden suchen: Körperlich krank und schwach; sittlich ein abgefeimter Schurke; geistig ein namenloser Idiot, der seine ganze Zeit damit zubringt, die Farben für seine Stoffe zur Austapezierung seines Zimmers künstlerisch auszuwählen. [...] Ein Schmarotzer der niedrigsten Rückbildungsstufe, eine Art menschlicher Sacculus, müsste er, wenn er arm wäre, elend verhungern, sofern ihn die Gesellschaft in ihrer unangebrachten Güte nicht in einer Idiotenanstalt mit dem Nöthigen versorgen würde.30

Für mich zentral ist die Beobachtung, dass sich die Konstruktion dieser ‚neuen‘ Männlichkeiten in der Zeit um die Jahrhundertwende sowohl auf dem literarischen als auch außerliterarischen Feld zu großen Anteilen aus dem medizinischen Wissen der Zeit speist. Ob es zunächst das Morel’sche Degenerationsmodell ist, später dann die Neurasthenieforschung Miller Beards oder Paul Solliers, die Psychopathologie KrafftEbings – die zunehmende Prekarisierung der Männlichkeiten um 1900 ist ohne deren Pathologisierung nicht zu denken, auch wenn der degenerative Interdiskurs häufig genug dazu dient, gesamtgesellschaftliche Befindlichkeiten und nicht zuletzt auch die Krise der Künste um 1900 30 NORDAU, 1893, S. 107f.

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zu illustrieren. Dieser Prozess ist jedoch ebenfalls in umgekehrter Richtung zu denken, denn auch die Mediziner – Nordau ist hierfür ein besonders düsteres Beispiel – schöpfen ihrerseits aus den Texten der Dichter, um ihre Theoriebildung weiter voranzutreiben, was nichts anderes bedeutet, als dass Literatur trotz allem „l’art-pour-l’art“Anspruch niemals nur Literatur ist, sondern aktiv mitarbeitet an soziokulturellen Konstruktionsprozessen, die nicht zuletzt auch die Männlichkeit zum Gegenstand haben.

M ä n nli c h kei t u n d Z e u g u n g s u n fä h i gk eit b ei Cl arí n 31 Nicht weniger pathologisch geht es bei Clarín zu, dem prominenten Vertreter des spanischen Naturalismus. Nachdem Spanien über Jahrzehnte hinweg den Anschluss an die europäische Literatur verloren hatte, holt es zum Ende des 19. Jahrhunderts den Rückstand zum europäischen Literaturbetrieb, speziell im Bereich des Romans, langsam auf.32 Auch wenn sich der naturalistische Roman dort erst etabliert, als die Strömung in Frankreich und anderen Ländern bereits so gut wie vorbei ist, lassen sich durchaus eigenständige Akzente ausmachen. Hauptvertreter ist neben Clarín, der selbst nur zwei Romane geschrieben hat, Benito Pérez Galdós. Beiden Autoren ist eine liberalrepublikanische Gesinnung gemein, was ihren Texten von vornherein kulturkritischen Charakter verleiht – sowohl in der Auseinandersetzung mit Spaniens Vergangenheit und Traditionen als auch mit der instabilen Gegenwart der Restaurationszeit. Ein weiterer Berührungspunkt ist die Erschaffung starker Frauenfiguren, womit sie einen Beitrag zur beginnenden Emanzipationsbewegung der Frau aus männlicher Perspektive leisten.33 Dies wiederum hat unmittelbare Auswirkungen auf die Repräsentationen von Männlichkeit wie z. B. in Claríns berühmtesten Werk, dem Provinz-Ehebruchsroman La Regenta (1885) oder in Galdós’ 31 Einige der nun folgenden Analysen orientieren sich an Überlegungen aus: SCHUHEN, 2013. 32 Vgl. dazu WOLFZETTEL, 1999. 33 Vgl. zu Männlichkeiten und dem emanzipatorischen Modell von Weiblichkeit im Werk von Galdós: VON TSCHILSCHKE, 2014.

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kammerspielartigem Frauendrama Tristana (1892). Die Fokussierung auf die weiblichen Hauptfiguren, die – bei Galdós stärker als bei Clarín – als Opfer der von machistischer Doppelmoral beherrschten Gesellschaftsstrukturen vorgeführt werden, lässt die männlichen Figuren in den Hintergrund treten. Dabei dekonstruieren beide Autoren auf schonungslose Weise den Don Juan-Mythos, jenen urspanischen Männlichkeitsmythos. Galdós’ Don Lope, der die verwaiste Tristana bei sich aufnimmt, um sie zunächst zu behüten, später dann sexuell auszubeuten, und am Ende zum väterlichen Pantoffelhelden mutiert, wird durch seine väterlich-inzestuösen Eroberungsbemühungen als in die Jahre gekommene Don Juan-Figur charakterisiert. Ähnlich verfährt Clarín: Gleich zwei seiner männlichen Figuren stehen dem Don Juan-Mythos auf je unterschiedliche Weise nahe. Don Victor, der gutmütige Ehemann der Protagonistin Ana Ozores, ist passionierter Jäger und Theaterliebhaber mit einer besonderen Schwäche für spanische Ehrendramen im Stil von Calderón; Anas sexuelle Bedürfnisse interessieren ihn aufgrund seiner Impotenz nur wenig. Sein Widersacher Don Álvaro Mesía wiederum ist ein reichlich großspuriger Provinz-Don Juan, dargestellt als schlechtes Imitat des Pariser Dandytypus, dessen schalem Charme die Präsidentin schließlich erliegt und damit ihre gesellschaftliche Degradation besiegelt und die ihres Ehemanns gleich mit.34 Sowohl bei Galdós als auch bei Clarín erfahren demnach die typisch spanischen Männlichkeitstopoi zum Ende des 19. Jahrhunderts eine derbe Dekonstruktion: Sowohl der Don Juan-Mythos als auch der kastilische Ehrenkodex sind nur noch zu denken als wirkungslose, intertextuell vermittelte Echos aus längst vergangenen Zeiten. Auch in Claríns zweitem vollendeten Roman, Su único hijo (1890), sucht man den klassischen Männerhelden vergebens: Wie in La Regenta zeichnet Clarín hier ein ironisch überzeichnetes Porträt der spanischen Provinzgesellschaft des 19. Jahrhunderts. Der Protagonist Bonifacio Reyes, ein willensschwacher romantischer Träumer mit einer großen Vorliebe für die italienische Oper, ist verheiratet mit der launischen, herrischen und hysterischen Emma Valcárcel, die wiederum Liebe für nichts und niemanden empfindet. Ihre kinderlose Ehe ist eine tägliche Arena des Kampfes, in welcher der Mann der klar Unterlegene 34 Vgl. zur Parodie und Dekonstruktion des Don Juan-Mythos bei Clarín und Galdós SCHWAN, 2014.

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ist, bis eines Tages eine Operngruppe in der Kleinstadt gastiert. Bonifacio verliebt sich in die Sopranistin der Gruppe, betrügt mit ihr seine Frau, während Emma, wie ausgewechselt, für den Bariton Minghetti schwärmt. Durch die Musik erotisch aufgeheizt, verbringen Emma und ihr Ehemann eine Liebesnacht miteinander – kurze Zeit später ist die nicht mehr ganz junge Tyrannin schwanger. Damit scheint sich Bonifacios großer und einziger Lebenstraum zu erfüllen, nämlich Vater eines Sohnes zu werden, und tatsächlich gebärt Emma am Ende des Romans diesen Sohn. Wie in La Regenta versieht Clarín seine – diesmal männliche – Passionsgeschichte mit einer besonders maliziösen Schlusspointe, denn es stellt sich ganz am Ende heraus, dass der „único hijo“ keineswegs von Bonifacio stammt, sondern die Frucht ist von Emmas Seitensprung mit dem Bariton – damit ist Bonifacio am Ende nicht nur der gehörnte Ehebrecher, sondern erweist sich darüber hinaus als die zeugungsunfähige Witzfigur der Kleinstadt. Die Beobachtung, dass Emma als hysterisch beschrieben werden kann, bedeutet nicht, dass ihr Psychogramm in irgendeiner Weise mit dem von Ana Ozores aus La Regenta vergleichbar wäre. In La Regenta versäumt es Clarín nicht, ausführlich die Vorgeschichte der Protagonistin zu erzählen. Hier ist besonders ein Ereignis zu erwähnen, nämlich die sogen. „Bootsepisode“, die sich in ihrem Leben als absolut prägendes Erlebnis erweisen wird: Ana wird in ihrer Jugend verdächtigt, nachts auf einem Boot Sex mit einem etwa gleichaltrigen Jungen gehabt zu haben; ihr ganzes Umfeld tyrannisiert sie in der Folge, die Wahrheit findet nirgends Gehör. Clarín lädt diese Episode derart dramatisch auf, dass man als Leser nicht umhin kann, darin ein traumatisches Kindheitserlebnis zu wittern. Interessant ist, dass Clarín hier in gewisser Weise mit der Ursünde spielt, dem Verlust der Unschuld, der jedoch Ana lediglich von der Gesellschaft unterstellt wird – eine Insinuierung mit durchaus pathologischen Folgen. Des Weiteren schildert Clarín, darin wieder Flaubert ähnlich, die exzessiven Lektüren Anas, die ebenfalls an ihrer Pathogenese mitwirken – zuletzt sei noch die sexuelle Frustration zu nennen, die sie an der Seite ihres impotenten Ehemanns durchleidet. Damit erfährt das Leid der Präsidentin eine narrative Ausgestaltung, die durch ein psychosomatisches Krankheitsmodell hergestellt wird; ihre Passionsgeschichte wird zur präfreudianischen Krankengeschichte.

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Ganz anders Emma Valcárcel in Su único hijo: Hier verzichtet Clarín bei der Figurenmodellierung nahezu vollkommen auf biographische Rückblicke, d. h. seine Protagonisten werden im Hier und Jetzt dargestellt. In Bezug auf Emmas vermeintliche Hysterie bedeutet das, dass ihre eigene Vergangenheit hier kaum eine Rolle spielt. Emma benutzt vielmehr ihr hysterisches Talent, um ihren willensschwachen Gatten auf sadistische Weise zu geißeln. Clarín setzt mithin bei seiner abermaligen Darstellung weiblicher Hysterie weniger auf medizinische Implikationen als auf das theatralisch-inszenatorische Potenzial dieser Störung, das spätestens seit Charcots Hysterieforschungen in den 1870er und 1880er Jahren in ganz Europa wohlbekannt ist. Clarín seinerseits ironisiert diese ambivalente Beobachtung, indem er aus seiner Protagonistin eine hypochondrische Furie macht, die ihrem verachteten Ehemann das Leben zur Hölle macht. Symptomatisch dafür ist das 10. Kapitel, das im Hinblick auf Emmas Wesen den Wendepunkt des Romans markiert und in der Liebesnacht mit ihrem verdutzten Gatten endet. Wie schon unzählige Male zuvor schickt Emma zunächst nach ihrem Mann, damit er für sie einen Arzt konsultiere. Doch Bonifacio, gebranntes Kind, gibt sich skeptisch: No se le pasó por las mientes que se pudiera necesitar al médico para curar algún mal; la experiencia le había hecho escéptico en este punto; ya suponía él que su mujer no estaba enferma; pero Dios sabía qué capricho era aquél, para qué se quería al médico a tales horas y cuál sería el daño, casi seguro, que a él, a Reyes, le había de caer encima a consecuencia de la nueva e improvisada y matutina diablura de su mujer.35

Emma wählt aus ihrem „ministerio de doctores“ ihren Lieblingsarzt Don Basilio Aguado aus, seines Zeichens „especialista en enfermedades de la matriz, y en histérico, flato y aprensiones, total flato“ – „Spezialist für Erkrankungen der Gebärmutter und Hysterie, Blähungen und Angstvorstellungen, also Blähungen in jeder Hinsicht.“36 Aguado, der Emmas bewusst inszeniertes Leiden nicht durchschaut, verordnet seiner ‚Patientin‘ Vergnügungen, frische Luft und ‚viel Fleisch auf englische Art‘. Emma vermisst zunächst verärgert das Verschreiben von Medi35 CLARÍN, 1996, S. 109. 36 EBD., S. 112 und CLARÍN, 2002, S. 126.

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kamenten, lässt sich jedoch schließlich auf die Therapie ein, und im Hause Reyes-Valcárel vollzieht sich nichts weniger als eine „revolución“, deren erste Auswirkungen in Emmas vampiresker Vergewaltigung ihres Gatten, später im Seitensprung mit Minghetti bestehen und schließlich gipfeln in der eigenen Schwangerschaft sowie der Geburt ihres einzigen Sohnes. Auch wenn der Titels des Romans Su único hijo mit SEIN einziger Sohn ins Deutsche übersetzt wurde, ist doch das genusneutrale „su“ höchst doppeldeutig, denn eigentlich ist aufgrund von Bonifacios Zeugungsunfähigkeit deutlich, dass der Roman eigentlich „IHR einziger Sohn“ heißen müsste.

Sc hl u s s: M ä n n er o hn e P ot e nz Auf den ersten Blick erscheinen die beiden vorgestellten literarischen Beispiele des ausgehenden 19. Jahrhunderts weitaus mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten aufzuweisen. Hier die Welt des untergehenden Pariser Hochadels, dort die spanische Provinz. Hier das sterile OneMan-Kammerspiel um den antisozialen, hypersensiblen Ästhet, dort die bürgerlichen Familiendramen um Hysterie, Ehebruch und provinzielle Dummheit. Hier der handlungsarme, amoralische Kunstroman, dort der religionskritische, vor Ironie strotzende Gesellschaftsroman. Gleichwohl gibt es signifikante Gemeinsamkeiten und die betreffen vornehmlich die Darstellung der Männlichkeit: Sowohl Huysmans als auch Clarín präsentieren in ihren Romanen Anti-Helden, die in keinerlei Weise mehr dem hegemonialen Typus des klassischen Männerhelden entsprechen. Jean des Esseintes erweist sich als lebensuntauglicher décadent, dessen einzige Handlungsmacht sich im Eskapismus und der Anleitung zum Immoralismus erschöpft. Er arbeitet nicht, er liebt nicht, er begehrt androgyne Wesen und lebt im Bewusstsein spätrömischer Dekadenz. Dem von ihm konstatierten gesellschaftlichen Niedergang, ausgelöst durch die bürgerliche Vermassung, begegnet er mit geradezu physischem Ekel, der sich bis zu einer Neurose steigert, die ihn beinahe das Leben kostet. Claríns schwache Männerfiguren scheitern hingegen nicht am Aufbegehren gegen die zunehmende Verdummung des Bürgertums, sondern gerade deshalb, weil sie sich darin auf überaus passive Weise widerstandslos einfügen. Die Verweise auf Spaniens traditio-

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nelle Modelle des Ehrenmannes sowie des Verführers werden nur noch als effektlose Zitate ausgestellt, als bloße Rollen aus klassischen Theaterstücken, die bestenfalls noch das Provinzpublikum zum Träumen von der Vergangenheit anregen, aber in der Gegenwart (und noch viel weniger in der Zukunft) kaum noch Einfluss auszuüben vermögen. Beiden Autoren gemein ist zudem der Einbezug medizinischer Diskurse: Huysmans setzt bei der pathologisierenden Inszenierung von Männlichkeit auf das bereits im Naturalismus vorherrschende Degenerationsmodell sowie auf das Neurasthenie-Konzept vom nervösen Mann, während Clarín eher den Frauen genuine, zeittypische Krankheitssymptome andichtet: Ana Ozores als Verkörperung der hysterischen Frau und Emma Valcárcel als strategische Hypochonderin. Die Männer in deren Umfeld werden größtenteils als Spielbälle weiblicher Neurosen und Psychosen vorgeführt, wodurch sich die Dichotomie männlich/aktiv vs. weiblich/passiv empfindlich umkehrt. Die entscheidungsverhindernde Handlungsohnmacht, die sogenannte Abulie, nimmt ebenfalls breiten Raum in den Werken der spanischen Generation von 1898 ein, also bei den direkten Nachfolgern des Naturalismus. Dort wird die abulia männlicher Protagonisten als zeittypisch für das gespaltene Spanien um 1900 und damit als Medium der Kulturkritik eingesetzt.37 Im Zusammenhang der Pathologisierung von Männlichkeit sei auf einen letzten Berührungspunkt hingewiesen, der den Schwanengesang auf den klassischen Männerhelden zur Vollendung bringt: die sexuelle Impotenz der zentralen männlichen Figuren. Sowohl Huysmans’ Des Esseintes’ als auch Claríns Ehemänner Don Victor und Bonifacio Reyes teilen die Schmach der Zeugungsunfähigkeit. Selbst wenn die sexuelle Potenz des klassischen Männerhelden nicht immer explizit thematisiert wird – man denke an Hugos Jean Valjean, der auf den immerhin 1300 Seiten der Misérables nicht ein einziges Mal Sex hat –, so führt doch eine dezidierte Feststellung ihres Fehlens automatisch zur Aberkennung von Männlichkeit. Die Fähigkeit zur Fortpflanzung bildet – häufig unausgesprochen – die conditio sine qua non hegemonialer Männlichkeit. Ende des 19. Jahrhunderts entsteht mit der Psychopathologie ein – 37 Typische Vertreter dieser Strömung sind Pío Baroja und José Martínez Ruiz („Azorín“). Insbesondere Azoríns Roman La voluntad (1902) gilt als Paradebeispiel der Literarisierung einer chronischen abulia.

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mit Foucault gesprochen – sexualwissenschaftliches Dispositiv, das vor allem darum bemüht ist, die Normierung der menschlichen Sexualität vorzunehmen 38 – an den Folgen arbeitet sich die moderne Sexualforschung bis heute ab. So wird alles, was nicht der Norm, d. h. der bürgerlichen Sexualmoral entspricht, pathologisiert. Paradebeispiel ist Richard von Krafft-Ebings Studie Psychopathia Sexualis aus dem Jahr 1886, die bis 1924 in 17 erweiterten Auflagen erscheint und in sieben Sprachen übersetzt wurde – ein veritabler Bestseller der Jahrhundertwende. In der Einleitung zu seiner Sexualfibel schildert Krafft-Ebing zunächst die vorherrschende Norm, so z. B. die ‚natürlichen‘ Unterschiede von Mann und Frau, das Primat der Heterosexualität und nicht zuletzt auch den Sinn und Zweck sexueller Praktiken, die einzig im institutionalisierten Rahmen der Ehe und im Dienste der Fortpflanzung stattzufinden haben.39 Den weitaus breiteren Raum nimmt die Darstellung der sexuellen Abweichungen ein, die im Folgenden katalogartig aufgelistet werden und vom Fußfetischismus bis zum Lustmord reichen. Auf die Wichtigkeit sexueller Potenz für den Mann hebt Krafft-Ebing gleich in der Einleitung ab, wo er über das Wesen von Männlichkeit räsoniert: Bemerkenswert ist die Rolle, welche für die Entstehung und Erhaltung des Selbstgefühls beim Manne das Verhalten seiner sexuellen Funktionen spielt. An der Einbusse von Männlichkeit und Selbstvertrauen, die der nervenschwache Onanist und der impotent gewordene Mann bieten, lässt sich die Bedeutung jenes Faktors ermessen.40

Des Weiteren beobachtet er bei den Betroffenen eine massive Schädigung ihrer „Lebensfreude, geistigen Frische, ihrer Tatkraft und des Selbstvertrauens“ und empfindet deren Charakter häufig als „moros [i. e. missmutig], missgünstig, egoistisch, eifersüchtig, energielos, feige und von geringem Selbst- und Ehrgefühl“.41 Deutlich wird an dieser Diagnostik vor allem eines: Der Mann kann seine Männlichkeit nur behaupten, wenn er in der Lage ist, Nachwuchs zu zeugen, also für den 38 39 40 41

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Vgl. FOUCAULT, 1976, S. 121-135. VON KRAFFT-EBING, 1997. EBD., S. 12 (Herv. von G. Schuhen). EBD.

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Fortbestand der Kultur zu sorgen. Andernfalls büßt der Mann sämtliche Merkmale seiner Virilität ein. Damit sind die Männerfiguren bei Huysmans und Clarín – schon lange vor Rosins Diagnose der modernen Männerdämmerung – an einem Tiefpunkt angelangt, der im Rahmen der Endzeitstimmung des Fin de Siècle als radikale Kulturkritik gelesen werden muss. Denn wenn eine vitale Männlichkeit tatsächlich, wie eingangs dargestellt, als Chiffre für das Allgemein-Menschliche, also als Voraussetzung für die Überlebensfähigkeit der Kultur apostrophiert wird, dann muss das Unvermögen der Männer folgerichtig als Indikator einer grundlegenden Kulturkrise verstanden werden. Durch den unmittelbaren Zeitbezug beider Autoren liegt diese Deutung nahe, wodurch nicht zuletzt auch die gemeinsame Etymologie der beiden Begriffe „Krise“ und „Kritik“, auf die auch Koselleck immer wieder abhebt, einmal mehr offenkundig wird. Dass solche Krisenzeiten keineswegs einzigartig in der Geschichte sind, sondern gleichsam zyklisch wieder auftreten können, beweist der eingangs präsentierte Ausschnitt aus dem aktuellen medialen Krisendiskurs über das männliche Geschlecht. In ähnlicher Weise wie der Zeitraum um 1900 als symbolisch verdichtete Umbruchsphase charakterisiert wurde, wird auch unsere Zeit um 2000 als düstere Übergangsperiode bewertet: Globalisierung, Klimawandel, Finanzkrisen, Dauerüberwachung, neue Medien und Terrorismus sind die Symptome dieser umfassenden Milleniumskrise. Abermals spricht das Krisenbarometer Männlichkeit eine überaus deutliche Sprache: The End of Men naht. Wie es mit den Männerhelden unserer Zeit aussieht, kann ich nur noch in Form einer kurzen Bestandsaufnahme skizzieren. Zwei Autoren stechen besonders hervor: Der US-Amerikaner Philip Roth, der seinerseits durch und durch marode Männerfiguren erschaffen hat, die dem Fortpflanzungsgebot längst nicht mehr standhalten können. Für die Romania steht zweifellos Michel Houellebecq stellvertretend für diesen ‚Trend‘. Wenn um das Jahr 2000, wie häufig behauptet wird, eine existentielle Krise des männlichen Geschlechts zu konstatieren ist, dann liefert der französische Starautor für diese Stimmung zweifellos den düsteren Soundtrack. Insbesondere seine ersten drei Romane – Extension du domaine de la lutte (1994), Les particules élémentaires (1998) und Plateforme (2001) – lesen sich wie der nihilistisch-phlegmatische Abgesang auf die Spezies Mann: Houellebecqs Männerfiguren sind

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postmoderne Anti-Helden in einer Welt des kulturellen EndzeitPessimismus, in der alles zur Ware geworden ist, vor allem der Sex und die Frauen. Männlichkeit ist in Houellebecqs lebensverneinendem Kosmos lediglich noch eine funktionslose Kategorie in einer Zeit, in der selbst die Fortpflanzung demnächst in die Hände der Gentechnik übergeben wird, wie das futuristische Ende von Les particules élémentaires unmissverständlich und schicksalsergeben prognostiziert.

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Bedingungslos bartlos: Travestie, Hysterie und Staat in Tirsos Don Gil de las calzas verdes JULIA BRÜHNE K ör p er kr i s e – Kr i s e n h er r sc h a ft Tirso de Molinas Don Gil de las calzas verdes (1615)1 ist eine überaus ingeniöse comedia de enredo: Eine vor Intrigen und Verwirrungen strotzende Verwechselungskomödie, in der untreue Liebhaber, verschmähte Verlobte, wankelmütige Damen, hellsichtige graciosos und ahnungslose Vaterfiguren sich an einer Figur abarbeiten, die nicht nur scheinbar mühelos das soziale Gefüge dominiert, sondern auch das Symptom einer kollektiven Hysterie des Imaginären ist – die als Mann in grünen Hosen verkleidete Titelfigur Juana/Gil. Dabei geht es um weit mehr als nur gender trouble. Anhand der typischen frühneuzeitlichen Figur der mujer vestida de hombre inszeniert Tirso einen fundamentalen phobos, der erheblich über die Angst des Mannes vor der grenzüberschreitenden Frau hinaus geht und stattdessen eine Monarchiekrise zur Reaktualisierung bringt, die ihren Ausgang bei Johanna der Wahnsinnigen nimmt und in der Frage nach der Natur der Monarchie unter Philipp III. kulminiert. Gender wird hier, so die These, ontologisch mit dem symbolischen Körper des Fürsten verschwistert und erweist sich so als fundamentale politische Kategorie. Zum Politikum wird das Gender der mujer varonil schon deshalb, weil es zur Legitimation der Frage 1

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dient, wie die Frau an Haus und Herd gebunden werden kann; zugleich aber kann es, zumindest auf der Bühne, zum Ausdruck einer tiefergreifenden politischen Krisensituation avancieren, die am Körper der hermaphroditischen Figur ihre metaphorale Ausgestaltung findet. Don Gil de las calzas verdes beginnt damit, dass sich Doña Juana Solís, als Mann verkleidet, gemeinsam mit ihrem Diener Quintana von Valladolid nach Madrid begibt, um ihren Geliebten Don Martín zu finden. Dieser hat sie verführt und anschließend verlassen, um auf Wunsch seines Vaters die ebenso adlige, aber im Gegensatz zu Juana reiche Doña Inés zu heiraten. Sie weiß, dass Don Martín geplant hat, sich bei Inés und deren Vater für Don Gil de Albornoz auszugeben, um nicht unter seinem eigenen Namen wegen der Liaison mit Juana in Misskredit zu geraten. Um Martín zuvorzukommen, nennt diese sich in Madrid nun selbst Don Gil: Inés soll sich statt in Martín/Gil in die verkleidete Juana/Gil verlieben und Martín als Ehemann ablehnen, so dass dieser wieder frei für Juana wird und sein Eheversprechen doch noch einlöst. Der gracioso Caramanchel, den Juana in ihrer Identität als Don Gil in ihre Dienste nimmt, erkennt sofort, dass er offenbar einen capón, einen ‚Kastrierten‘ vor sich hat, verfügt Juana doch weder über eine tiefe Stimme noch über einen Bart.2 Doch gerade dieser ‚Makel‘ führt dazu, dass Juana sofort bei Inés und auch bei deren Cousine Clara reüssiert, die sich beide in den mysteriösen, bartlosen Don Gil de las calzas verdes verlieben und jeweils ihre Väter bestürmen, ihn heiraten zu dürfen. Juanas vermeintlicher Makel, ihre Kastration, lässt daher Martín ebenso wie Inés’ bisherigen Geliebten Juan kastriert erscheinen, denn diese können Juana/Gil nicht das Wasser reichen und sind sofort bei Inés ausgestochen. Juana, die sich vom Imaginären, dem gewöhnlichen Raum der Frau, an den Ort der Sprache begeben hat,3 verkörpert fortan

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„Ninguno ha habido / de los amos que he tenido / ni poeta ni capón / pareceisme lo postrero [...].“ (EBD., V. 504-507) sowie: „Capón sois hasta en el nombre […].“ (V. 519) Laura Mulvey bezieht sich in ihrer klassischen Analyse der Geschlechterrollen und der männlichen Kastrationsangst im Hollywoodkino auf Jacques Lacans Unterscheidung zwischen dem vorsprachlichen Raum des Imaginären (mithin dem Ort der ursprünglichen Mutter-Kind-Dyade) und dem traditionell von Männern dominierten Raum des sprachlich strukturierten Symbolischen. Vgl. MULVEY, 1999, S. 833-834.

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den Nom-du-Père:4 Sie lässt geschickt Briefe mit verschiedenen, teils widersprüchlichen Informationen zirkulieren, lenkt damit das (Sprach-) Spiel zu ihren Gunsten und gewinnt: Martín muss Juana am Ende heiraten; ihre zerstörte Ehre ist somit wiederhergestellt. Tirso verfasst seinen Don Gil etwa 15 Jahre nach Beginn des Regnums Philipps III. Besonders aus Sicht heutiger Historiker, aber auch schon in der Perspektive vieler Zeitgenossen ist jene Epoche als eine Ära zu verstehen, die sich im Vergleich zu den vorangegangenen Monarchien unter Karl V. und Philipp II. als krisenhaft und im Zerfall begriffen erlebt. Das Gefühl der Krisenhaftigkeit ist zunächst mit der schon gegen Ende der Regentschaft Philipps II. spürbaren finanzwirtschaftlichen Misere, den sozialen Spannungen in der polyethnischen frühneuzeitlichen Gesellschaft und dem vehementen gegenreformatorischen Diskurs zu erklären.5 In seiner Studie über den Ursprung des deutschen Trauerspiels6 sieht Walter Benjamin den Grundstein der barocken Krise in einem kategorialen Split: zwischen einer von der Renaissance auf den Weg gebrachten modernen und säkularen Sicht auf Geschichte einerseits und der ersehnten Reaktualisierung des mittelalterlichen Geschichtsverständnisses andererseits, das jede historische Entwicklung als teleologisch notwendigen Schritt auf dem Weg zum Heil betrachtet. Das Problem mit dem mittelalterlichen Geschichtsverständnis beginnt Benjamin zufolge mit dem Zusammenbruch der christlichen Einheitskirche und erreicht mit der Konfessionsspaltung und dem 30-jährigen Krieg seinen Höhepunkt. Die Aufgabe des Dramas war es in dieser Situation, die mentale und politische Spaltung im Modus des Kunstwerks zu bannen: „[D]ie Immanenz der Bedeutungen [schlägt] in Transzendenz, Beliebigkeit in Offenbarung, […] Verfallsin Heilsgeschichte […] um.“7 Hieraus ergibt sich eine fundamental allegorische Logik des (spanischen) Barock – eine Lektüre, auf die auch

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Der Nom-du-Père, der Name- oder auch das Gesetz-des-Vaters ist für Lacan die gesetzgebende Instanz der symbolischen Ordnung, die wesentlich durch „l’intervention de l’ordre de la parole, c’est-à-dire du père“ gekennzeichnet ist. LACAN 1981, S. 111. Zur Krisenhaftigkeit des Barock vgl. grundlegend WEISBACH, 1921, CASTRO, 1972 sowie MARAVALL, 1975. Vgl. BENJAMIN, 1990. ALT, 1995, S. 142.

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rezentere Studien, wie etwa diejenige Sofie Kluges, aufbauen.8 Die Problematik der Benjaminschen Lektüre ist seine Überzeugung, der spanische Barock zeichne sich durch die affirmative Inszenierung der gegenreformatorisch-absolutistischen Position aus. Dass dem nicht so ist, belegen zum Beispiel Kluge, Melveena McKendrick oder Xuan Jing, die in ihrer wegweisenden Calderón-Studie gezeigt hat, wie wenig sich dessen weltliche Dramen in die Schablone gegenreformatorischer Ideologie pressen lassen.9 Auch Don Gil ist keinesfalls ein affirmatives, sondern vielmehr ein konterdiskursives Stück, das gleichwohl auf einer in der Forschung bislang nicht berücksichtigten doppelten allegorischen Konstruktion beruht und damit Benjamins Verständnis barocker Kultur prinzipiell einlöst. Jene Allegorie hat jedoch, wie zu zeigen sein wird, mitnichten christlichen Charakter, ist also nicht darauf angelegt, eine transzendentale Ordnung zu ‚wieder-holen‘, sondern dient vielmehr der Aushöhlung performativer Strategien von Kontingenzbewältigung. Tirso als Allegoriker erwacht daher mitnichten „[i]n Gottes Welt“10, wie Benjamin es formulierte, sondern vielmehr in der Welt eines königlichen Hermaphroditen, der seine ‚Körperwelten‘ nicht mehr miteinander zu vereinen versteht.11 Die Krise, die durch jene Allegorie sichtbar wird, ist daher auch weniger abstrakt denn konkret: Für die dysphorische Wahrnehmung der Epoche zeichnet nämlich nicht nur das gegenreformatorische Problem verantwortlich, sondern auch das Günstlingssystem unter der Regentschaft Philipps III. (und später Philipps IV.), das mit dem Duque de Lerma, dem privado Philipps III., eine bis dahin nicht gekannte Qualität erreicht und die Struktur der spanischen Monarchie in erheblichem Maße beeinflusst.12

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Vgl. KLUGE, 2010. Vgl. MCKENDRICK , 1989, DIES., 2000 sowie XUAN, 2004. BENJAMIN 1990, S. 208. Ernst Kantorowicz vergleicht in seiner Studie zur Zwei-Körper-Lehre des Monarchen die Vereinigung von natürlichem und politischem Körper mit dem Hermaphroditen, der beide Geschlechter in sich vereint. Siehe auch unten, Anm. 26. KANTOROWICZ, 1992, S. 32f. Zur Verbindung der hermaphroditischen Juana/Gil mit den zwei Körpern des Königs vgl. ausführlich weiter unten. 12 Zur Günstlingspolitik unter Philipp III. hat sich am ausführlichsten FEROS, 2000 geäußert.

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Im Mittelpunkt meiner Lektüre steht, wie so oft in der Forschung zu Don Gil, die Hauptfigur Juana Solís, die unbestritten eine der schillerndsten und faszinierendsten mujeres varoniles des spanischen Barocktheaters ist.13 Es nimmt daher nicht Wunder, dass die emanzipative, gesellschaftskritische Kraft jener Figur eine Fülle an Literatur hervorgebracht hat, die sich mit der Beschränkung des Weiblichen auf den Innenraum beschäftigt und untersucht, wie Juana/Gil als mujer varonil aus jenem Innenraum heraustritt, um die in mehrerlei Hinsicht unterlegenen männlichen Figuren zu unterwerfen.14 Die Gender-Revolte Juanas ist jedoch meines Erachtens nur ein Aspekt dieser vielschichtigen Figur und erschließt deren revolutionäres Potential nur zum Teil. Liest man die Zwitterhaftigkeit der Juana hingegen als politische Allegorie, so eröffnet sich eine weit brisantere Dimension der comedia: Dann nämlich steht der Zwitterkörper der mujer varonil für den gleichfalls zwitterhaften Staatskörper. Wenn die Figuren auf der Bühne hysterisch nach der Beschaffenheit des androgynen Körpers der Juana/Gil fragen, so spiegeln sie die implizite Frage der Zeitgenossen nach der Essenz des (absolutistischen) Staates und seines Fürsten und die Zweifel an der Legitimation und politischen Potenz Spaniens unter Philipp III. und Lerma wider. 2006 hat Jelena Sánchez eine Lektüre des Don Gil veröffentlicht, in der sie die Bedeutung der Hofkultur unter Philipp III. betonte. Im Anschluss an Zamora Vicente erklärt sie Juana zur Verkörperung des neuen effeminierten spanischen Männlichkeitsideals, dessen Prototyp der pretendiente sei, ein aufgrund des majoratischen Erbsystems oft verschuldeter adliger Anwärter auf einen gut dotierten Posten bei Hofe:15 Juana boldly appropriates masculine attire, rhetoric, code of behavior and class distinction representative of the pretendiente. […] Juana’s scheme to outsmart and sabotage her rival Martín’s marital aspirations in Madrid articulates her own desire to overpower male social preroga-

13 Zu den verschiedenen Ausprägungen der mujer varonil in einer Vielzahl frühneuzeitlicher Theaterstücke siehe MCKENDRICK , 1974. Zur Genealogie des Themas der als Mann verkleideten, kämpferischen Frau siehe außerdem grundlegend BRAVO-VILLASANTE, 1955. 14 Vgl. zum Beispiel GALOPPE, 2001; BAYLISS, 2007; SPADA SUÁREZ, 1998. 15 SÁNCHEZ, 2006.

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Julia Brühne tives as well as illustrates her mimetic performance of the self-indulgent 16 pretendiente.

Sánchez betont, dass die Ära der pretendientes zeitgleich mit der Monarchie Philipps III. und seiner Günstlingspolitik aufkam: This new auspicious court attracted many indebted and desperate nobles to the city in the hopes of acquiring monies or titles from increased services to the King. […] Her [Juanas] trip from Valladolid to Madrid historically outlines the same path that many struggling or impoverished 17 nobles undertook.

Mit ihrer Lesart schließt Sánchez auch an Anita K. Stoll und Dawn L. Smith an, die in ihrer Einleitung zu dem Sammelband Gender, Identity, and Representation in Spain’s Golden Age eine zunehmende Feminisierung Spaniens und die wachsende Sorge der männlichen Bevölkerung über die Festschreibung von Geschlechtergrenzen als Paradigma der barocken Krise bezeichnen.18 Der Versuch, Juana in ihrer Verkleidung als Don Gil zum Inbegriff des erfolgreich-skrupellosen pretendiente zu stilisieren, hinkt meines Erachtens jedoch aus mehreren Gründen. Zum einen ist Juana, die ja nur in ihre Rolle als Don Gil de las calzas verdes geschlüpft ist, weil Martín sein matrimonium-clandestinum-Versprechen ihr gegenüber nicht eingelöst hat, sicherlich nicht der Inbegriff der „entarteten“ (deteriorated) Persönlichkeit eines intrigenschmiedenden pretendiente. Was sie außerdem vom pretendiente, der ja ausschließlich auf die Gunst des Königs angewiesen ist und mitunter jahrelang auf eine Audienz wartet,19 unterscheidet, ist der Umstand, dass Juana bei all jenen Figuren, mit denen sie in Madrid zusammenkommen möchte, unmittelbar reüssiert: Die reiche Inés, die Martín zur Frau nehmen will, verliebt sich postwendend in sie und bittet ihren Vater, Juana/Gil ehelichen zu dürfen – eine Heirat, die Juana/Gil, wäre sie möglich, sofort an einen Platz 16 17 18 19

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EBD., S. 127. EBD., S. 129. STOLL, 2000. Dies berichtet Angel Valbuena Prat, den Sánchez sogar zuvor mit dem Satz zitiert: „Madrid es también el lugar de los pretendientes de palacio siempre esperando, y oyendo siempre ‚mañana‘ […].“ SÁNCHEZ, 2006, S. 130.

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im sozialen Gefüge versetzen würde, von dem jeder pretendiente träumen würde. Auch die These, dass Juana/Gil durch ihre Verführungsmächtigkeit als typische Vertreterin trivialer weiblicher Sprache bzw. des neuen effeminierten ‚Männlichkeitsideals‘ angesehen werden kann, scheint mir durchaus strittig. Argumentiert man nämlich an dieser Stelle mit Huarte de San Juan und dessen ‚Männlichkeitsskala‘ von 1575, so würde Juana, die über eine helle Stimme und ein schönes, vor allem aber vollkommen bartloses Antlitz verfügt, zu jenen Männern gehören, „[que] no son muy amigos de las mujeres, ni las mujeres de ellos.“20 Sie wäre also keine besonders anziehende Gestalt und untauglich für Inés’ und Claras erotische Ambitionen. Dass sie dennoch ideales Liebesobjekt jener damas wird, scheint mir weniger dem von Sánchez ins Spiel gebrachten Ideal des pretendiente geschuldet als vielmehr der allegorischen Logik der Figur, die im Sinne barocker Mehrdeutigkeit nicht nur auf die Staatskörperkrise der Günstlingsmonarchie, sondern auch auf den leeren Platz der Königin verweist, die uns zu Juana la Loca führt.21 Zuzustimmen ist Sánchez allerdings darin, dass sie Tirsos Plot unmittelbar mit der ambivalent besetzten Monarchie Philipps III. in Verbindung bringt. Jener Herrscher setzt ein phobisches politisches Imaginäres frei, das mit einer möglichen Kastration der königlichen Macht zusammenhängt. Die hysterische Frage „Y ¿sois hombre o sois mujer?“22 ist dann nicht eigentlich eine Frage nach dem Geschlecht, sondern nach der Natur des zeitgenössischen monarchischen Staatskörpers. 20 HUARTE DE SAN JUAN, 1989, S. 622. 21 Siehe hierzu unten, „Die Performanz der Königinnen“. 22 TIRSO, 2009, V. 3261. Matthew Stroud hat aus dieser Frage des gracioso Caramanchel eine Lektüre entwickelt, die in Lacanianischen Termini nach der schwer entscheidbaren Gender-Identität der Figuren fragt. Auch wenn für seine Analyse einiges spricht, bin ich dennoch der Ansicht, dass die aus jener Unsicherheit erwachsene Problematik bei einem ‚politischen‘ Autor wie Tirso eher eine Frage des political denn des private gender ist. Vgl. STROUD, 1991, S. 67-82. Tirso wird gemeinhin als einer der politischsten und gesellschaftskritischsten Bühnenautoren des Siglo de Oro verstanden (vgl. z. B. MCKENDRICK, 1989, S. 119). Auch Tirsos kritische Einstellung gegenüber dem valido-System wurde häufig bemerkt – interessanterweise jedoch fast ausschließlich in Zusammenhang mit dem Conde-Duque de Olivares und Stücken, die den valido mehr oder weniger offen im Titel tragen, wie z. B. Privar contra su gusto (1632). Mit der Darstellung des privado hier und in Cautela contra cautela hat sich kürzlich RONCERO LÓPEZ, 2013 auseinandergesetzt.

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Die Legitimation des Herrschers speist sich auch in Spanien grundlegend aus der sogenannten Zwei-Körper-Lehre, die Ernst Kantorowicz hinlänglich dargelegt hat. Zwar gab es im Unterschied zum französischen Habitus weder ein Interregnum noch ein ausgewiesenes Krönungszeremoniell mit Empfängnis der heiligen Salbung. Dennoch ging die zeitgenössische Hermeneutik von einer grundsätzlichen Dualität des monarchischen Körpers aus, der sich, analog zur englischen oder französischen Tradition, in einen natürlichen, potentiell schwachen und einen öffentlichen, vollkommenen und überzeitlichen Körper aufspaltet.23 Auch im spanischen Monarchieverständnis gilt des Fürsten Macht als von Gott verliehen, da der überzeitliche Körper des Königs selbst göttlicher Natur war.24 Wie Xuan ausführt, war die Zwei-Körper-Lehre gerade zu Zeiten des sich verfestigenden (konfessionellen) Absolutismus unter Karl V. und Philipp II. ein probates Mittel zur Untermauerung der königlichen Souveränität und somit ein auch später noch notwendiges Legitimationsinstrument.25 Don Gil allerdings stellt den Bruch der zeitgenössischen Monarchie Philipps III. mit der monarchischen Vergangenheit von Vater und Großvater aus: Die Diskontinuität mit der eigenen Geschichte, also die mangelnde Anknüpfungsfähigkeit an die starken Vorgänger, setzt Tirso meines Erachtens in Beziehung zur gleichfalls gebrochenen Kontinuität der normalerweise aufeinander vereinten zwei Körper des Königs.26 Denn eigentlicher König ist mit 23 Vgl. FEROS, 2000, S. 72. 24 Vgl. EBD. Gleichwohl weist das frühneuzeitliche Spanien die Besonderheit auf, dass die königliche Macht, wenn auch göttlichen Ursprungs, so doch erst durch das Volk dem Herrscher rechtmäßig verliehen werden konnte: „[…] monarchs obtained their power and authority not directly from Him but through the community.“ EBD. Der Gedanke, dass der König der Stellvertreter Gottes auf Erden war, war dennoch tief im kollektiven Imaginären verwurzelt und gerade deswegen ein beliebter Gegenstand komischer Dekonstruktion auf der Siglo de Oro-Bühne. Vgl. MCKENDRICK, 2000, S. 1920. 25 Vgl. XUAN, 2004, S. 27. 26 Kantorowicz bemerkt, dass die zwei königlichen Körper im Frühneuzeitlichen Rechtsverständnis als untrennbare Einheit verstanden wurden: So zieht der stärkere politische Körper aufgrund seiner höheren dignitas den schwächeren natürlichen Körper an sich und kompensiert die geringere dignitas des letzteren. Interessanterweise hatte dieses Konzept sein Pendant ausgerechnet in der Bewertung des hermaphroditischen Zwitterkörpers durch den italienischen Juristen Baldus: So wie beim Hermaphroditen das

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Philipp III. nicht mehr der Monarch selbst, sondern sein valido, Francisco Gómez de Sandoval y Rojas, alias Duque de Lerma.27 Der König ist mehr und mehr schwacher corpus naturale, während der valido sich, mit Kantorowiz gewendet, illegitimerweise ein corpus politicum aneignet, das er nicht ausfüllen kann. Diese staatskörperliche Krise, die sich im allmählichen Zerfallen des rex mixtus äußert, und der hieraus erwachsene phobos vor der Hybridität des spanischen Absolutismus – eine Regierungsform, die idealerweise einen absoluten Alleinherrscher erfordert –, wird von Tirso allegorisch umgelegt auf eine andere ‚Körperkrise‘. Der Körper, der sich in Don Gil stellvertretend für den monarchischen corpus seiner festgelegten Grenzen entzieht, gehört der mujer varonil. Es mag in diesem Zusammenhang nicht weiter verwundern, dass jene ‚Staatskörperkrise‘ durch ein kollektives Unbehagen mit dem OneSex-Model noch befeuert wird, das Thomas Laqueur für das 16. und 17. Jahrhundert feststellt. Demnach waren die sozio-politischen Zuschreibungen des Gender zu diesem Zeitpunkt wichtiger als das biologische Geschlecht (sex), gab es doch aufgrund der Annahme, Männer und Frauen verfügten grundsätzlich über die gleichen Geschlechtsorgane, keine festen körperlichen Grenzen, an denen die Geschlechtsidentität ablesbar war, wie es ab dem 18. Jahrhundert praktiziert wurde.28 Die Einhaltung der Vorgaben eines kulturell zugeschriebenen Gender wurde daher besonders scharf überwacht. Zugleich geht die Sorge, eine Frau könnte sich wie ein Mann kleiden und verhalten (oder umgekehrt), mit einer generellen Furcht vor gesellschaftlicher Umwälzung einher: It is almost as if the more general early modern concern about comporting oneself above one’s place, born of the breakdown of patronage netstärker ausgeprägte Geschlecht das schwächer ausgeprägte an sich ziehe und dominiere, so überstrahlt der politische Körper des Königs seinen defektanfälligen natürlichen Körper. Vgl. KANTOROWICZ, 1992, S. 32-33. Dies lässt den über Juana/Gil inszenierten Hermaphrodismus Tirsos äußerst sinnfällig erscheinen, ist doch damit die von mir postulierte Verbindung von Hermaphrodit und politischer Allegorie schon in den Wissensepistemen der Epoche angelegt. 27 FEROS zitiert z. B. Fray Jerónimo de Sepúlveda, der in seiner Historia de varios sucesos schreibt, Lerma habe nicht nur die Unterstützung des Königs, sondern er sei der König. Vgl. FEROS, 2000, S. 114. 28 Vgl. LAQUEUR, 1992, bes. S. 122-142.

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Julia Brühne works, the insidious workings of money, and the rise of new state29 sponsored positions, was transferred to the world of gender.

Sex, Gender und Politik und der mit dem Bruch der jeweiligen Kategorien einhergehende phobos werden hier miteinander verschwistert. Der Zwitterkörper der Juana/Gil stellt allegorisch die Brüchigkeit und Zwitterhaftigkeit des Staatswesens aus, das corpus politicum und corpus naturale nicht mehr vereint, sondern in einen schwachen legitimen Herrscher (analog zu Juanas ‚legitimer‘ Identität als Frau) und einen stärkeren illegitimen Herrscher (analog zur ‚illegitim‘ angeeigneten Identität eines Mannes) aufgespalten ist. Eine potentiell auf das Politische hin zu lesende, den Körper Juanas überschießende Zwitterhaftigkeit ist bereits in den drei längeren Monologen angelegt, die das Stück einleiten. Die erheblichen Redeanteile der zwei graciosos – Quintana und Caramanchel –, die die expositorische Rede der Juana einrahmen, dienen einerseits der komischen Dynamisierung der comedia, die bereits in den ersten Minuten des acto primero gewaltig Zug aufnimmt und sich durch den slapstickartigen Wechsel von einem gracioso zum nächsten die Aufmerksamkeit des Zuschauers sichert. Andererseits werden hier vermittels weitgehend stereotyper Figurenrede verdeckte Kommentare zu jener Hybridität eingeschoben, die die comedia paradigmatisch einzirkelt und die erst durch den Zusammenschluss der drei Wortbeiträge aufgedeckt werden kann. So spricht Quintana gracioso-typisch vom Esgueva, einem schmutzigen Nebenfluss des valladolidischen Pisuerga, der sich hauptsächlich durch den Gestank der Kloake auszeichnet, die die pincianos regelmäßig in ihn ablassen: QUINTANA:

29 EBD., S. 136.

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[...] Esgueva, con todo aquello que lleva, por ser como Inquisición de la piniciana nobleza, pues cual brazo de justicia, desterrando su inmundicia califica su limpieza; 30 [...]

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Das Wortspiel, das den dreckigen Fluss mit der von der Inquisition überwachten limpieza de sangre zusammenbringt,31 ruft ein Ereignis auf, das dem zeitgenössischen Zuschauer sicher gut im Gedächtnis war, und in direktem Zusammenhang mit der Politik Philipps III. und Lermas steht: Die zwischen 1609 und 1614 (ein Jahr vor Uraufführung des Stücks) massiv betriebene Moriskenvertreibung. Erweitert man die limpieza de sangre-Ideologie allerdings auf die ‚Blutreinheit‘ – mithin die edle Abstammung – des Höflings, so wird man kaum umhin kommen, zugleich an die nicht weniger massiv betriebenen Anstrengungen des Duque zu denken, seine angeblich bis zu Adam und Eva zurückreichende Genealogie zu propagieren. Wie Feros belegt, versuchte Lerma seine bis dato einzigartige Rolle am Hof als königliches ‚Double‘ unter anderem dadurch zu legitimieren, dass er seine Familie als Nachfahren königlichen Geblüts inszenierte und sogar verbreiten ließ, er stamme von Aeneas ab 32 – eine Dreistigkeit, die ihn in unmittelbare Nähe zum „rey emperador“33 Karl V. stellt, der sich seinerseits gern als Aeneas stilisierte.34 Der Moriskenvertreibung unter dem Gespann Philipp III.Lerma ist somit immer schon ein Drittes eingeschrieben, das auf die Frage der Legitimation von Herrschaft verweist und als solches Signifikant eines zwischen legitimem und illegitimem Körper aufgespaltenen, ambivalenten Herrschaftszeichens ist. Eine Bemerkung des Caramanchel, der Quintana an der „Puente Segoviana“35 als Diener ablöst, ist in dieser Hinsicht nicht minder aufschlussreich: CARAMANCHEL:

Un mes serví no cumplido a un médico muy barbado,

30 31 32 33

TIRSO, 2009, V. 6-12. Vgl. GARCÍA SANTO-TOMÁS in TIRSO 2009, S. 96. FEROS, 2000, S. 102. Ich beziehe mich hier auf den nicht eben unpathetischen Titel der spanischen Serie Carlos, Rey Emperador, die als Fortsetzung der Erfolgsserie Isabel 2015 beim spanischen Fernsehsender RTVE anläuft. 34 Vgl. TANNER, 1993. Besonders pikant wird diese Analogie, wenn man sich vor Augen führt, dass es sich – zumindest in den Augen vieler Zeitgenossen – auch bei Karl V. selbst um einen nicht unbedingt legitimen Herrscher handelte, der sich die spanische Krone vielmehr performativ aneignete. Siehe hierzu unten, „Die Performanz der Königinnen“ und „What’s a name? Juana/Gil zwischen Hülle und Substanz“. 35 TIRSO, 2009, V. 2.

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Julia Brühne belfo, sin ser alemán 36 [...]

Was in Quintanas Rede noch ausgespart und lediglich über das Wortspiel vermittelt war, kommt hier deutlicher zum Vorschein: der habsburgische Königsreferent, unmissverständlich angelegt im Adjektiv „belfo“, das auf die hängende Unterlippe bzw. das vorstehende Kinn der Angehörigen der casa de Austria verweist.37 Die beiden graciosoReden schaffen eine Rahmung für Juanas eigenen Monolog. Dieser hat in der Handlungspragmatik den Sinn, den Zuschauer über die im Vorfeld stattgefunden Geschehnisse, die zu ihrer Verkleidung als Mann geführt haben, zu informieren. Die Worte der graciosos vermögen jedoch einem Element jener Rede, die zunächst Gemeinplätze unmöglicher Ehe und verletzter Ehre darlegt, einen Zweitsinn zu geben, der die latent aufgerufene Zwitterthematik auf das Problem königlicher Legitimität hin zuschneidet. Juana berichtet, wie Martín, indem er ihr die Hand reichte, als sie – durch seinen Anblick in Bann gezogen – stolperte und zu stürzen drohte,38 ihr folgende Worte sagte: JUANA:

Y diciéndome: “Señora, tened; que no es bien que así imite al querub soberbio, cayendo, tal serafín”, 39 [...]

Was zunächst lediglich Martíns recht uninspirierte Art des Flirts zu belegen scheint, ist weit vielschichtiger. Der „querub“ oder querubín ist ein ursprünglich zwitterhaft dargestelltes Engelswesen: eine Mischung aus Mensch und Löwe, Stier oder Adler.40 Betrachtet man die mit die36 EBD., V. 274-276. 37 Hierauf verweist auch GARCIA SANTO-TOMÁS in TIRSO, 2009, S. 106. 38 Der Sturz ist im Theater des Siglo de Oro üblicherweise als Kontrollverlust über die eigenen Leidenschaften semantisiert; etwa Dianas Straucheln im Angesicht des von ihr geliebten Sekretärs Teodoro in Lopes El perro del hortelano oder der Pferdesturz der Rosaura zu Beginn von Calderóns La vida es sueño. 39 TIRSO, 2009, V. 89-92. 40 Vgl. MICHL, 1962, S. 62.

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sen Tieren jeweils verknüpfte Symbolkultur, so stellt man fest, dass man es hier gleich drei Mal mit einem Königssignifikanten zu tun hat: Der Adler wurde Covarrubias zufolge gerne als Waffenträger des Jupiter imaginiert,41 der Stier ist eine der bekanntesten Gestalten, in die der Göttervater Zeus – die personifizierte Hybridität schlechthin – schlüpfte, während der Löwe „símbolo del rey“42 ist. Adler und Löwe sind nun im spanischen Kontext des Siglo de Oro besonders interessant. Denn wenn der Adler als Waffenträger des Jupiter gilt, so ist er damit Gehilfe des späterhin als Júpiter de España betitelten spanischen Königs. Der Löwe wiederum galt besonders unter Philipp II. als Herrschaftssymbol – so existiert ein Stich, auf dem ein gekrönter Löwe mit Szepter den allegorisch für Portugal stehenden Drachen mit der Pranke unterwirft und so die spanische Einverleibung Portugals 1580 illustriert.43 Wird der „querub“ bei Tirso nun als „soberbio“ bezeichnet, so ließe sich folgern, dass der bescheidene Waffenträger des Königs, der valido, selbst zum König werden, sich den spanischen Thron also gleich der portugiesischen Krone in einem absolutistischen Machtgestus performativ einverleiben will. Angesichts der beunruhigenden ikonographischen Darstellungen Lermas, der sich beispielsweise als erster NichtMonarch von keinem geringeren als Rubens zu Pferde portraitieren ließ und 1602 Pantoja de la Cruz ein Gemälde anfertigen hieß, das in Pose, Ausdruck und Gesichtszügen einen Zwilling des ‚Schwester-Porträts‘ Philipps III. abgibt,44 scheint diese Bedrohung auch noch 1615 äußerst real. Wenn also in den (zitierten) Worten Juanas nun gleich drei Königsreferenten verborgen sind, die im Verein mit den Reden der graciosos sowohl auf die Hybridität des monarchischen Körpers als auch auf das Problem von Absolutismus und Legitimation verweisen, so liegt es nahe, die Expositionsszene als Auftakt einer allegorischen Diegese zu verstehen, in deren Zentrum sowohl das Unbehagen angesichts eines illegitimen ‚zweiten Königs‘ als auch das grundsätzliche Legitimationsproblem der Habsburgerdynastie zu suchen sind. Bezeichnet Cara-

41 Vgl. den Eintrag zu „Águila“ in COVARRUBIAS HOROZCO, 2006, S. 61. 42 So der Eintrag zu „León“, in EBD., S. 1183. 43 Vgl. CERVERA, 2014, gefunden unter: http://www.abc.es/espana/201411 30/abci-leon-hispano-simbolo-ignorado-201411291840.html. 44 Zur Selbstinszenierung des Duque de Lerma vgl. ausführlich FEROS, 2000, S. 91-109.

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manchel seinen neuen Herrn dann auch noch als „amo hermafrodita“45, so wird mittels dieses grammatikalischen Zweigeschlechts das Zeichen der doppelten und damit fragilen Natur des Staatskörpers, den Kantorowicz mit dem Hermaphroditen zusammenbringt,46 direkt auf den Körper der Juana/Gil zugeschnitten. Verweist bereits die Figurenrede auf die Schwierigkeiten von absolutistischer Macht und Kontinuität, so wird man wohl auch die räumliche Bewegung der Figuren, näherhin die Versetzung Quintanas und Juanas von Valladolid nach Madrid, in diesem Sinne zu deuten haben. Anders als Sánchez vorschlägt, wäre diese dann nicht Sinnbild für den klassischen Weg eines pretendiente, sondern stünde vielmehr für die von Philipp II. im Rahmen der neuen zentralistisch-absolutistischen Herrschaft erwirkte Verlegung des Hofes und der Hauptstadt von Valladolid nach Madrid 1561.47 Juana geht diesen Weg im Rahmen ihrer neuen ‚männlichen‘ Unabhängigkeit, die analog zur Unabhängigkeit des absolutistischen Königs von den cortes steht. Zugleich aber bedeutet das Verlassen Valladolids, so wie Tirso es inszeniert, auch die Aufkündigung der Kontinuität mit der Monarchie Philipps II. und damit die Anzweifelung der absolutistischen (Allein-)Herrschaft Philipps III. QUINTANA:

Ya que a vista de Madrid y en su Puente Segoviana olvidamos, doña Juana, huertas de Valladolid, 48 Puerta del Campo, Espolón, […]

Quintana nennt einige neuralgische Punkte des Valladolider Stadtbildes, die auf verschiedene Phasen der spanischen Monarchie hinweisen. So war die Puerta del Campo jener Ort, wo Militärparaden zu Ehren des Herrschers abgehalten wurden und wo Isabel de Valois, Philipps II.

45 TIRSO, 2009, V. 724. 46 Vgl. oben, Anm. 26. 47 1601 verlegte Philipp III. auf Betreiben der Lermas den Hof zurück nach Valladolid, bevor dieser 1606 erneut nach Madrid umzog und dort verblieb. 48 TIRSO, 2009, V. 1-5.

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dritte Ehefrau, empfangen wurde.49 Die Huertas de Valladolid hingegen sind Zamora Vicente zufolge berühmt für ein Fest, das Königin Margarete 1604 zu Feier der Rückkehr ihres Ehemanns Philipp III. aus Valencia gab.50 Verlässt Juana also Valladolid, so folgt sie damit zwar dem Pfad, der für Philipp II. Wegbereiter für Zentralismus und Absolutismus war. Durch die Rede Quintanas werden jedoch vor allem Orte ins Zentrum gerückt, an denen jener starke Monarch zur Demonstration seiner königlichen Macht Paraden abhalten ließ und die somit die Abgrenzung von seinem Sohn markieren. Jener hatte nämlich bereits zum Zeitpunkt des Einzugs von Königin Margarete in Madrid 1599 bei den zeitgenössischen Beobachtern den Eindruck hinterlassen, nicht (nur) er selbst sei königlicher Souverän, sondern auch sein valido: So wurden die riesigen Statuen zweier Monarchen mit Weltkugeln auf den Schultern, die eigentlich Philipp III. und seinen Vater darstellen sollten, stattdessen für Bildnisse Philipps III. und Lermas gehalten.51 Der neue spanische Absolutismus steht daher nicht mehr im Zeichen von Philipp II., der validos – zumindest offiziell – kurz hielt und die zwei Körper des Königs auf sich vereinte, sondern im Zeichen des Duque de Lerma, der den bigotten, schöngeistigen Philipp III. sinngemäß in sein corpus naturale verabschiedet (statt ihn wie damals Margarete in den huertas ‚willkommen zu heißen‘) und sich das corpus symbolicum königlicher Macht selbst einverleibt. Die von Philipp III. besonders zu Beginn seines Regnums immer wieder propagierte Kontinuität zwischen ihm und seinem starken Vater,52 ist von Anbeginn seiner Regentschaft durch die starke Präsenz des valido kontaminiert. Wenn Juana daher maskiert als zwitterhafter Don Gil den Weg von Valladolid nach Madrid geht, so wird man hier nicht nur an die fragwürdige absolute Souveränität des aktuellen Herrschers, sondern auch an den sich 49 Vgl. GARCÍA SANTO-TOMÁS in TIRSO, 2009, S. 95-96. Erst aus Philipps vierter Ehe, der mit seiner Nichte Anna von Österreich, ging schließlich Philipp III. als wegen des laufenden Inzests körperlich bereits degenerierter Thronfolger hervor. Zu Zeiten von Philipps Ehe mit Isabel de Valois, so ließe sich folgern, war, uneingedenk der innen- und außenpolitischen Probleme, für die Philipp III. beileibe nicht verantwortlich gemacht werden kann, die Hoffnung auf einen gesunden und damit evtl. ‚stärkeren‘ Erben und Thronfolger noch gegeben. 50 Vgl. EBD., S. 95. 51 Vgl. FEROS, 2000, S. 108. 52 Vgl. EBD., S 76.

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das corpus politicum einzuverleiben geneigten Lerma zu denken haben, der den Königshof 1606 abermals nach Madrid verlegte.53 Juana/Gils Auszug aus Valladolid, ist somit gleichbedeutend mit der ersten allegorischen ‚Schicht‘ dieser Figur, die auf den souveränen valido verweist und zugleich Martín, der sich ihr von Anfang an unterlegen zeigt, allegorisch in die Nähe des schwachen corpus naturale Philipps III. rückt. Sobald Juana in Madrid angelangt ist, beweist sie denn auch sogleich ihre Fähigkeit zur souveränen Machtausübung. Sie begibt sich mit Caramanchel in einen Park („bello jardín“54). Hier begegnet sie Inés, Juan und Clara. Sie stellt sich gegenüber Inés als Don Gil aus Valladolid vor und wird von der dama mit spürbarem Wohlgefallen sofort eingeladen, auf der Bank Platz zu nehmen. DOÑA INÉS: DON JUAN:

DOÑA INÉS:

Don Juan, haced lugar a este caballero. Pues que mi lado le doy, con él cortesano estoy. [Aparte] Ya de celos desespero. [Aparte] ¡Qué airoso y gallardo talle! 55 ¡Qué buena cara!

Inés, die zuvor von ihrem Vater informiert wurde, dass ein Don Gil aus Valladolid (gemeint ist natürlich Don Martín) kommen werde, um um ihre Hand anzuhalten, ist merklich entzückt vom Anblick des falschen Don Gil und imaginiert ihn kurze Zeit später schon als ihren dueño: „Este es sin duda el que viene a ser mi dueño; y es tal, que no me parece mal.“56 Dueño spielt hier auf den zu erwartenden Ehegatten, also auf Don Gil de Albornoz alias Don Martín an. Betrachtet man diesen, der ja gleichsam ‚off-screen‘ ebenfalls den Weg von Valladolid nach Madrid angetreten hatte, als configuratio des schwachen Königs Philipp III., so lässt sich folgern, dass er seinen Anspruch, dueño über die Frau zu sein, nicht einlösen kann: Juana ist ihm zuvorgekommen und Inés besteht

53 54 55 56

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Vgl. EBD., S. 86-88. TIRSO, 2009, V. 756. EBD., V. 789-793. EBD., V. 836-838.

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kurz darauf gegenüber ihrem Vater auf der Heirat mit dem falschen Don Gil. Die Szene im „jardín“ unmittelbar nach Juanas Ankunft in Madrid verweist in dieser Konstellation auf die „‘communitarian’ facet of kingship, [seen] as a reenactment of the union between the king and his kingdom, represented […] by the city“:57 Wurde der royale Einzug in eine Stadt (z. B. nach Madrid) verstanden als performative Nachstellung der Vereinigung zwischen König und Reich, so figuriert Inés hier als Allegorie der spanischen Königreiche. Jedoch verweigert diese sich offen der Vermählung mit dem ebenfalls kurz zuvor in Madrid ‚eingezogenen‘ Martín und optiert stattdessen für Juana. Juana, die eine Maske angelegt hat, welche dazu angetan ist, ihr corpus naturale zu verbergen, ist jedoch – dies ist bedeutsam für ihre allegorische Funktion als valido – nicht in der Lage, ihre Maskenidentität qua Vermählung mit dem symbolischen Körper der Inés zu vereinen. Ihr corpus naturale würde einer solchen Vereinigung letztlich entgegenstehen. Indem hier eine Figur als potentieller dueño und Souverän auftritt, deren natürlicher Körper nicht halten kann, was er verspricht, während gleichzeitig einer Figur, die über den ‚passenden‘ corpus naturale verfügt, von vornherein jede (amouröse) Souveränität abgesprochen wird, stellt Tirso aus, wie die Monarchie, ist die Figur des rex mixtus einmal gespalten, unweigerlich auseinanderfallen muss: Denn nur der legitime Herrscher von Gottesgnaden, sei er auch noch so schwächlich, ist rechtmäßiger ‚Ehemann‘ der Nation und Träger des corpus politicum – nicht aber ein valido, der sich jenen politischen Körper gleichsam maskenhaft lediglich übergestreift hat.

Di e P er f or ma nz der Köni gi nne n Wie oben bereits angedeutet, ist die allegorische Dimension der Juana hiermit allerdings noch nicht erschöpft. Denn gerade dort, wo sich eine vermeintlich klare Dichotomie von illegitimer, aber souveräner Maskenidentität und legitimem, aber schwachen corpus naturale zu zeigen scheint, bringt Tirso eine neue Schwierigkeit ins Spiel, die die Figur der

57 FEROS, 2000, S. 78.

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Juana ein weiteres Mal durch das barocke Drehkreuz allegorischer Bedeutungen jagt. Denn Martín ist nicht nur eine schwache Figur mit einem nicht ausreichend verführerischen corpus naturale. Er wäre auch, würde er Inés’ Wohlgefallen erlangen und sie heiraten, ein tatsächlich illegitimer dueño: Schließlich ist er qua matrimonium clandestinum eigentlich bereits mit Juana verheiratet. Martín ist also gar nicht frei für Inés und wäre somit, käme es zu einer Heirat, im Grunde Bigamist. Unter dem Gesichtspunkt der doppelten Illegitimität betrachtet, lässt sich Juana Solís nun als Juana la Loca deuten, die Tochter der katholischen Könige.58 Jene Johanna hätte nach dem Tod der Eltern und ihrer männlichen Geschwister eigentlich direkten Anspruch auf die Krone gehabt, wurde jedoch aufgrund ihrer bis heute ungeklärten Geisteskrankheit von der Thronfolge ausgeschlossen. Nutznießer dieser Entscheidung wurde Johannas Sohn aus ihrer Ehe mit dem Habsburger Philipp I., Karl. Jener Karl, der durch die Zusammenführung der beiden Adelshäuser unter Ferdinand und Isabella nicht nur über die spanischen Königreiche, sondern als Karl V. auch über die Kaiserwürde verfügte, kam 1516 als neuer König auf den Thron. Von den spanischen Untertanen aufgrund seiner habsburgischen Herkunft und seiner burgundischen Erziehung als Fremdherrscher wahrgenommen, löste seine Thronbesteigung 1520 den Aufstand der comuneros aus: Die Cortes von Avila kündigen in einem Dokument dem flämischen Gouverneur Adrian von Utrecht, von Karl während seiner Abwesenheit von Spanien als Stellvertreter eingesetzt, die Treue auf. Einige Städte bekennen zudem, unter der Federführung von Alonso de Zuñiga, ihre Treue zu Johanna, die 1505 offiziell zur legitimen Königin ernannt worden war. Zuñiga vertritt in dem Schriftstück die These, „dass Karl nicht als legitimer König angesehen werden kann, solange seine Mutter Johanna lebt.“59 58 Darauf dass Tirsos Juana zwei allegorische Dimensionen eingeschrieben sein könnten, mag schon die doppelte Maskierung Juanas verweisen: So tritt sie im Laufe der comedia nicht nur als Don Gil, sondern auch als Doña Elvira in Erscheinung. Letztere mimt sie, um sich nicht ständig als Don Gil verkleiden zu müssen und auch um sich ihrer Rivalin Inés als vermeintliche Freundin annähern und ihr Dinge erzählen zu können, die Don Martín in ein noch ungünstigeres Licht rücken. So berichtet sie Inés, in Abwandlung ihrer eigenen Geschichte, Don Martín alias Don Gil de Albornoz heiße eigentlich Miguel und habe sie, Elvira, verführt und verlassen, um nun unter falschem Namen um Inés werben zu können. 59 CAMPAGNA, 2013, S. 32-35 sowie S. 35, Anm. 15.

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Steht nun Tirsos Juana nicht nur für das Auseinanderbrechen des rex mixtus und die hiermit einhergehende Stärkung einer illegitimen ‚Königskopie‘, sondern zugleich für die Tochter der reyes católicos, so bekommt auch der Nachname der Figur, Solís, einen entsprechenden Sinn: Isabel de Solís war eine kastilische Adelige und Zeitgenossin von Juana la Loca, die im 15. Jahrhundert als Sklavin in den Sultanspalast von Granada verschleppt wurde. Dort verliebte sich der Sultan so sehr in sie, dass er sie heiratete und zu seiner ersten Ehefrau und damit zur Königin machte. Isabel konvertierte zum Islam und nahm den Namen Zoraida an. Nach dem Tod ihres Mannes trat sie erneut zur katholischen Religion über. Erst durch diese zweite Referenz erklären sich die Figur der Juana und die ihr zugeschriebenen verführerischen Attribute vollständig. Ist nämlich Juana Solís durch ihre Namensvetternschaft sowohl mit der Tochter der katholischen Könige als auch mit jener grenadinischen Königin ‚verwandt‘, so ist sie geradezu prädestiniert, durch die Annahme eines neuen Namens (hier Gil, dort Zoraida) die Thronfolge, die Juana la Loca verwehrt geblieben ist, doch noch für sich zu beanspruchen – zumindest für die Dauer der Intrige. Wie Isabel de Solís sich ‚verkleidete‘, also zum Islam konvertierte und zu Zoraida und damit zur Königin wurde, bevor sie späterhin wieder ihre ‚katholische Identität‘ annahm, so gelingt es Tirsos Juana ebenso, durch die Annahme einer anderen Kleidung und Identität vorübergehend zu einer königlichmächtigen Figur zu werden. Ist Juana Solís somit durch gleich zwei Referenzen an das 15. und 16. Jahrhundert gebunden, so müssen in der Konsequenz auch ihre Verführungskünste aus einer vergangenen Epoche stammen (und sind mitnichten mit denen des pretendiente gleichzusetzen, wie Sánchez vorgeschlagen hat). Juanas Männlichkeitsmaskerade wäre dann in Beziehung zur Maskulinität des adligen Ritters am Hofe zu setzen. Das Ziel der ritterlichen Verführungskunst war es nicht primär, Frauen für sich zu gewinnen, sondern andere Männer mit der eigenen Wirkung auf Frauen zu beeindrucken.60 So war es die Pflicht des höfischen Ritters, sich zu verlieben oder doch zumindest Verliebtheit zu fingieren, und seiner Leidenschaft in Gedichten öffentlich Ausdruck zu verleihen. Unter diese fingierte Liebe kann selbst der amor hereos, die unter Umständen tödliche Liebeskrankheit fallen:

60 Vgl. FOLGER, 2006, S. 138.

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Julia Brühne Der cortesano, der Liebeskrankheit fingiert, beweist somit paradoxerweise seine überlegene Rationalität: er bekämpft unablässig erfolgreich seine niederen, tierischen Instinkte (appetitus). Er ist ein Held der Enthaltsamkeit. Mehr noch: In der Phänomenologie der Passion ist der Grund dafür zu suchen, dass hereos zu einer Affirmation des Selbst des 61 Patienten führt.

Als fingierter Liebesdiener, der sieht und gesehen wird, der sich standesgemäß zu kleiden, zu bewegen und auszudrücken vermag, generiert sich, so Robert Folger, die vormoderne Subjektivität jenes Subjekts. Das Selbst entsteht somit aus der Dialektik von Sehen und Gesehenwerden. Juana, die jene männlichen Privilegien der Dichterliebe, des fingierten amor hereos, für sich in Anspruch nimmt und aus ihrem begrenzten Raum der weiblichen Innerhäusigkeit heraustritt – also gesehen wird – wird somit in einer neuen Subjektivität des Hermaphroditen, des perfekten Mannes sin barba, generiert. Sie wird von Inés und ihrer Cousine Clara als ideales Liebesobjekt wahrgenommen: Als ein caballero, der noch nach alter Rittermanier petrarkistisch Schönheit zu preisen vermag. Dass Juana ein Subjekt der Sprache ist, beweist sie bereits in der ersten Szene auf der Puente Segoviana, als sie Quintana erklärt, wie sie Don Martín begegnet ist. Demzufolge wurde sie seiner zu Ostern gewahr und verliebte sich auf den ersten Blick in ihn, seine Schönheit, seine elfenbeinfarbene Haut und so weiter. DOÑA JUANA:

Dos meses ha que pasó la pascua […]. Iba yo con los demás […] junto a la Vitoria un Adonis bello vi que a mil Venus daba amores 62 y a mil Martes celos mil.

Indem Juana sich hier als weiblicher Petrarca entwirft, der das Objekt seines Begehrens, Laura, ja ebenfalls zu Ostern zum ersten Mal erblickte, stellt sie sich an die Position des männlichen Dichters und bereitet damit ihren amor hereos gegenüber Inés vor. Letzterer wird rein fikti61 EBD., S. 141. 62 TIRSO, 2009, V. 61-62, 69, 73-76.

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ver Natur sein, Juanas Subjektivierung innerhalb des Madrider Beziehungsgefüges dienen und ihren Aufstieg vom wahrhaftig an der Liebeskrankheit leidenden ‚Petrarca‘ zum die Liebeskrankheit lediglich fingierenden Don Gil de las calzas verdes bedeuten. Während sie dieser Umstand einerseits wieder in die Nähe des valido rückt – wer überzeugend fingieren kann, verliebt zu sein, der kann auch fingieren, König zu sein –, eröffnet Juanas Spiel mit dem amor hereos zugleich Raum für nostalgische Projektionen. Diese nehmen ihren Ausgang bei der Frage, was gewesen wäre, wenn Juana la Loca – die Gerüchten zufolge aufgrund der Affären ihres Mannes Philipp I. und dessen frühem Tod liebeskrank gewesen ist und infolgedessen wahnsinnig geworden sein soll – ihren echten amor hereos wie Tirsos Juana in einen fingierten Liebesschmerz und mithin in selbstbewusste Subjektivität hätte umwandeln können: Wäre sie dann eine den Männern überlegene, souveräne Herrscherin und Nachfolgerin ihrer Mutter Isabela católica geworden? Tirso stellt diese subtile, aus rein geschichtswissenschaftlicher Sicht wenig relevante Frage nicht vom Standpunkt des nostalgischen Subjekts aus. Indem er Quintana in den bereits zitierten ersten Sätzen des Stücks Fixpunkte der spanischen Monarchie, die monumentalisch in Valladolid zu bewundern sind, emphatisch-ironisch deklamieren lässt, stellt Tirso vielmehr die Irreversibilität des historischen Verlaufs aus und enttarnt jede nostalgische Rückkoppelung an bessere Zeiten als eine Jagd nach dem objet petit a, wie Jacques Lacan es definiert hat.63 In einer Auseinandersetzung mit Kantorowiczs Zwei-Körper-Lehre setzt Slavoj Žižek den mystischen Königskörper in Beziehung zum objet petit a (der Objekt-Ursache des Begehrens).64 Das Verhältnis zwischen corpus naturale und corpus mysticum beschreibt Žižek als das 63 Wenn das Subjekt in die symbolische Ordnung eingetreten ist, also die imaginäre Dyade mit der Mutter infolge der Anerkennung des Nom-duPère verlassen hat, sucht es Lacan zufolge fortan nach dem augenscheinlich fortgenommenen, nie mehr wieder zu erreichendem Genießen – die jouissance, die deswegen unmöglich, impossible – ist, weil sie per definitionem nicht erreicht werden kann. Sie ist ein retrospektiv konstruiertes Verlangen nach einer Fülle, die nie existiert hat und daher nur in der Rückschau möglich ist. Über das Begehren diverser objets petits a versucht das Subjekt, den Mangel zu füllen, den die impossible jouissance hinterlassen hat – ein freilich unmögliches Unterfangen. Vgl. hierzu STAVRAKAKIS, 2007, S. 239, sowie LACAN, 2007, S. 197-281. 64 Vgl. ŽIŽEK, 2008.

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einer Maskerade: Dem neuen König fällt das corpus mysticum mit dem Tod des bisherigen Herrschers nicht einfach zu – sein natürlicher Körper muss zunächst einige Transsubstantiationen durchmachen, damit das corpus mysticum vom verstorbenen König auf ihn übergeht. Jene Transsubstantiationen verwandeln das königliche corpus naturale in einen faszinierenden, sublimen Körper, das objet petit a. Juanas Körper erfährt durch ihre Männerverkleidung, allen voran jedoch durch die offenbar ins Auge stechenden grünen Hosen jene Transsubstantiation, durch die ihr Körper zum objet petit a, zum Ding wird. Juana la Locas Körper war jene Transsubstantiation nicht beschieden – durch ihre vermeintliche Geisteskrankheit ist sie stets ein regierungsunfähiger corpus naturale geblieben; ihr Geist und ihr Körper sind gleichermaßen verfallen, ohne je die Dignität des sublimen Dings erreicht zu haben. Wenn Juana la Loca auch nicht zum souveränen Königskörper geworden ist, so holt Tirsos Juana dies nun zumindest für die Dauer des enredo an ihrer Stelle nach: Sie wird ein souveräner, sublimer Körper und somit objet petit a für Inés und Clara. Ausgerechnet dem Körper, dem aufgrund seiner Weiblichkeit immer schon ein Mangel und die Frage eingeschrieben ist, ob eine Frau überhaupt Königin von Gottes Gnaden sein kann, schreiben die damas verklärende Attribute zu, die in der zeitgenössischen spanischen Finanzsituation auf eine längst vergangene Ära hinzuweisen scheinen: brinquillo, perlas, esmeraldas, oro.65 Liest man diese Worte als Verweise auf das herbeigesehnte neue ‚goldene Zeitalter‘, so ist es äußerst bezeichnend, dass Tirso jene ‚goldenen‘ Attribute ausgerechnet mit einem weiblichen ‚Königskörper‘ verknüpft. Denn das Ende des ‚goldenen Zeitalters‘ wird im spanischen 17. Jahrhundert häufig mit dem Tode der katholischen Könige assoziiert. Der Untergang jener sprichwörtlichen Epoche ist als direkte Folge des Endes der Trastámara-Linie und der Besteigung des spanischen Throns durch das Haus Habsburg, den ‚Fremdherrscher‘ Karl V., diskursiviert.66 Der ‚goldbringende‘ Körper ist also nicht der Körper des mächtigen Habsburgerkönigs und seiner Nachfahren, sondern derjenige der androgynen Frau. Juana/Gils hermaphroditische Körperlichkeit ist somit ein weiteres objet petit a innerhalb des objet petit a des sublimen Königskörpers. 65 Vgl. TIRSO, 2009, V. 863, 912, 981, 990. 66 Vgl. XUAN, 2004, S. 16.

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Es ist ihre androgyne Weiblichkeit, ausgedrückt durch Bartlosigkeit und weiche Stimme, die das Begehren von Inés und Clara auslöst und zugleich ein wichtiges Distinktionsmerkmal ist, um den echten von den falschen Don Giles zu unterscheiden. Der fehlende Bart, sonst Merkmal viriler Männlichkeit schlechthin,67 fungiert hier als objet-cause-dudésir.68 Der Königskörper, so ließe sich folgern, wird erst dann tatsächlich zum objet petit a, wenn er ein weiteres objet petit a in sich trägt, das in einem Diskurs, der – obschon unter den Habsburgern die lex salica nicht galt – lieber männliche Herrscher auf dem Thron sieht, auf einen Mangel verweist: die Weiblichkeit. Ein wahrhaft sublimes und legitimes königliches corpus mysticum, das auch noch Reichtum und Wohlstand verspricht (oro, perlas, esmeraldas) wäre dann nur in der Person einer Königin zu finden: Johanna. Doch eine Rückkehr zu dieser Möglichkeit kann 1615 nurmehr nostalgisches Wunschdenken sein. Daher endet Tirsos comedia mit einem klassisch normativen HappyEnd: Juana/Gil gibt sich als Juana Solís zu erkennen und heiratet Martín, während Inés Juan ehelichen wird, den sie zuvor für Juana/Gil verstoßen hatte. Die Körperkrise wird daher nur auf der Ebene des seine eigenen Grenzen überschießenden weiblichen Körpers gelöst: Das Problem des Staatskörpers und seines Auseinanderdriftens sowie die Frage nach dessen Legitimation bleibt nach wie vor ungeklärt.

W h a t’s i n a na m e ? J u a na/ Gil z wis c h e n H üll e u n d S u b s ta nz Auf welch unsicheren Füßen jenes Happy Ending steht, wird deutlich, wenn man sich eine Szene vor Augen hält, die Tirso als Höhepunkt der Maskenverwirrung inszeniert und die kurz vor dem denouement stattfindet. In der besagten Szene tritt nicht nur Juana/Gil in ihrer Kostümierung mit den charakteristischen grünen Hosen auf, sondern auch Mar67 Zur Bedeutung des Barts als Distinktionsmerkmal des Mannes vom Jüngling bzw. des schwachen vom starken Mann in der englischen Renaissance, siehe FISHER, 2001. 68 „Comprenez que l’objet du désir, c’est la cause du désir, et cet objet cause du désir, c’est l’objet de la pulsion – c’est-à-dire l’objet autour de quoi tourne la pulsion.“ LACAN, 1973, S. 220.

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tín, Juan und Clara betreten die Bühne als vermeintliche Don Giles verkleidet. Alle drei reüssieren zunächst in ihren Rollen. So ist Inés zuerst überzeugt, Don Gil vor sich zu haben, als Don Juan ihr verkleidet gegenüber tritt; als sie jedoch die kostümierte Clara sieht, bemerkt sie ihren Irrtum und glaubt es, aufgrund der sanften, weiblicheren Stimme, mit ‚ihrem‘ Don Gil (also Juana) zu tun zu haben. Juan wiederum meint, Juana/Gil gegenüberzutreten, als er tatsächlich mit dem verkleideten Don Martín spricht. Die Maskerade der drei Figuren führt jedoch nicht zum gewünschten Ergebnis: Martín und Juan gelingt es nicht, sich mit jenem Don Gil, den sie jeweils als Rivalen um Inés begreifen, zu duellieren und Inés so (zurück) zu gewinnen. Clara indes, deren Absichten der Kostümierung nicht ganz eindeutig sind, wird am Ende kurzerhand unschädlich gemacht und ihres subversiven Potentials – immerhin stellt auch sie einen androgynen Körper dar, der über das objet petit a der hohen Stimme verfügt – beraubt, indem sie mit Don Antonio, einer bislang gänzlich unbekannten Figur, verheiratet wird. In der multiplen Kostümierungsszene zeigt sich meines Erachtens die charakteristische „Wesensidentität von höfischem Zeremoniell und Theater“69, auf die Xuan hinweist: Da sich der Hof im 16. und 17. Jahrhundert zunehmend als ein Ort der Mimikry darstellt, wo Herrschaft weniger substantiell denn Schauspiel ist, stellt sich immer weniger die Frage nach der tatsächlichen, göttlichen Legitimation des Herrschers, sondern nach der Fähigkeit des Fürsten zur imitatio. Das corpus mysticum des barocken Herrschers entbehrt daher von vornherein, so Xuan, einer „garantierten Realität“.70 Nichtsdestoweniger braucht es einen König, der das corpus mysticum trotz des imitatio-Primats ausfüllen kann. Hierzu dienen ihm die königlichen Insignien – gleichsam die Verkleidung des Herrschers, die sein corpus politicum sichtbar machen soll. Eben jene Verkleidung sind nun aber die männlichen Figuren Martín und Juan nicht imstande auszufüllen. Der Name des Don Gil fungiert bei Tirso als Analogon zu den Insignien des Herrschers: Auch er ist eine leere Hülle, ein Name ohne Referent, der erst mit einem Signifikat aufgeladen werden muss. Weder Martín noch Juan gelingt es, jenen Namen auszufüllen und sich selbst zu seinem Referenten zu machen – wohl aber Juana, deren Körper alle notwendigen Transsubstanti69 XUAN, 2004, S. 29. 70 EBD.

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ationen durchgemacht hat, damit ihm das corpus politicum ‚passt‘ und er zum sublimen objet petit a aufsteigen kann. Hierfür ist noch nicht einmal ein Nachname vonnöten: Juana nennt sich lediglich Don Gil und da ihre Performanz derart überzeugend ist, verleiht ihr Inés selbst den Beinamen „de las calzas verdes“, der auf eben jener perfekten Performanz beruht und darauf verweist, dass Juana/Gil zwar eine Hülle trägt, diese jedoch – und das ist weit wichtiger – auch ausfüllen kann. Ich würde daher an dieser Stelle Matthew Stroud nicht zustimmen wollen, der konstatiert hat, „Inés is in love with Juana’s clothes“.71 Wäre dem so, könnte Martín, wie er es Inés anbietet, fortan einfach grüne Hosen tragen 72 und das Problem seiner mangelnden Anziehungskraft auf sie wäre gelöst. Gelungene Verführung – und überzeugende Herrschaft – ist daher nicht einfach eine Frage der Kleidung, sondern der Performanz. Die Frage des performativen Moments von Herrschaft fällt nun bezeichnenderweise mit jenem neuralgischen Punkt in der spanischen Monarchie zusammen, der das Haus Trastámara vom Hause Habsburg, Juana la Loca mithin von Karl V. und seinen Nachfolgern trennt und damit den Kern der doppelten allegorischen Faltung Juana/Gils offenlegt. Ich beziehe mich auf den Tod Ferdinands des Katholischen im Jahr 1516 und die anschließenden Trauerfeiern in Granada und Brüssel. Während das Zeremoniell in Spanien gemäß des Status Ferdinands, der seit dem Tode seiner Gemahlin 1504 zwar weiterhin König von Aragonien, aber lediglich Regent von Kastilien gewesen war, eher bescheiden ausfiel, waren die Trauerfeierlichkeiten am Hofe seines Enkels Karl weitaus pompöser: Am 14. März 1516 hielt der Bischof von Bajadoz eine Meßfeier in der Kathedrale von Brüssel ab, in deren Verlauf ein Herold vortrat und dreimal in französischer Sprache das ausrief, was sich in der späteren lateinischen Druckfassung folgendermaßen liest: „Ferdonandus [sic.] Catholicus Hispaniarum rex mortuus est“. Gleichzeitig wurde eine Fahne mit den Wappen der diversen spanischen Königreiche zu Boden gesenkt. Nachdem die Fahne wieder aufgerichtet worden war, rief der Herold aus: Uiuat Hispaniarum Rex Carolus“. Danach legte Karl das Trau71 STROUD, 1991, S. 71. 72 TIRSO, 2009, V. 1012-1014.

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Julia Brühne ergewand ab und empfing das königliche Schwert, sowie die Kette des 73 Ordens vom Goldenen Vlies.

Durch diesen performativen Sprechakt reklamierte Karl auch jene Königreiche für sich, die ihm rein hereditorisch gar nicht zustanden; wurde doch hier eine Kontinuität zwischen Großvater und Enkel (von einem „hispaniarum rex“ zum nächsten) performativ erschaffen, die faktisch nicht vorhanden war, konnte sich Ferdinand doch mitnichten als ‚König Spaniens‘ bezeichnen, sondern nur als König von Aragonien, Neapel und Sizilien.74 ‚Performatives Herrschertum‘ beginnt also ausgerechnet mit jenem König, der Juana la Loca den Thron im Grunde entrissen hat. Hätte Johanna nun damals ebenso performieren können wie ihr Sohn, so wäre sie womöglich doch Königin geworden und Performanz und Legitimität wären aufgrund der natürlichen Erbfolge innerhalb der Trastámara-Linie nicht allzu weit voneinander entfernt gewesen. So aber markiert der Umschlag zum Habsburger-König Karl auch den Umschlag von substantieller zu performierter Monarchie und Machtausübung. Tirsos Juana ist nun nachgerade auf der Schnittstelle zwischen Performanz, Mangel und Substanz angesiedelt und daher der ideale Körper für die doppelte Allegorie: An ihrem Leib entfalten sich sowohl der phobos angesichts des illegitimen Königsdoppelgängers, des valido, der für das Auseinanderdriften von corpus mysticum und corpus naturale steht und die Zwitterhaftigkeit der Monarchie bewirkt, als auch ein eros, die nostalgische Rückschau auf einen ‚goldenen‘ weiblichen Königskörper, der zunächst 1516 und schließlich endgültig 1520 mit der Niederschlagung des comuneros-Aufstands zum immer schon verlorenen objet petit a geworden ist. Diese verfahrene Situation wird nun im Stück dadurch gelöst, dass den gleichsam hysterischen Männerfiguren Martín und Juan, die weder mit ausreichender Legitimität noch mit gelungener Performanz aufwarten können, Rettung auf dem Weg der durch die alternden Väter Juanas und Inés’ installierten Ehebünde ereilt. Durch die Ehe ist jede Figur wieder in der symbolischen Ordnung installiert – sie weist Mann und Frau feste Plätze zu und duldet keine Gender-Transgressionen wie diejenige Juanas. 73 XUAN, 2004, S. 251. 74 Vgl. EBD.

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Bleibt jedoch die Frage offen, wie beruhigend dieses Ende wirken kann und wie realistisch es für Juana, ehemalige Trägerin eines sublimen Körpers, und den durch seine überlegene Ehefrau symbolisch kastrierten Martín ist, eine konventionelle Ehe nach katholischen Prinzipien zu führen. So bleibt dem zeitgenössischen Zuschauer vermutlich weniger das standardisierte Ende in Erinnerung als der phobos, den die Staatskörperkrise inszeniert und der in einer grundlegend hysterischen Frage gipfelt, die erst Lacan mehrere hundert Jahre später formuliert. Anlässlich seiner Auseinandersetzung mit Freuds berühmter Patientin Dora interpretiert Lacan 1956 die neurotische Störung der Dora als Frage nach der Essenz von Weiblichkeit.75 Was Dora aus der Position des Mannes heraus in Erfahrung zu bringen suche, sei die Antwort auf die Frage „Qu’est-ce qu’être une femme ?“ Die wenig virilen Männer der krisenhaften Monarchie, die sich bei Tirso als Hysteriker klassifizieren und erfolglos versuchen, Mimikry am sublimen capón zu betreiben, stellen sich analog hierzu die Frage nach der Natur des zwitterhaften, nicht ohne Weiteres im symbolischen Register unterzubringenden Körpers der Juana/Gil. Die Frage lautet jedoch nicht nur „Was ist der capón“, sondern auch „Was ist unsere Monarchie?“76 Ebenso wie der hermaphroditische Körper der Juana ist auch die Natur der Monarchie ambivalent und fragwürdig geworden. Sie lässt sich nicht mehr über die religiöse Einheit des rex mixtus fassen, hält aber auch einer Mimikry nicht stand, die Voraussetzung für das Funktionieren des Absolutismus ist.

Lit er at ur ALT, PETER-ANDRÉ, Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller, Tübingen 1995.

75 LACAN, 1981, S. 181-193 u. 195-205. 76 Ich schließe hier strukturell an Lisa Zeller an, die in ihrer Analyse von J.K. Huysmans À rebours die hysterische Frage der Dora und Lacans Entschlüsselung politisch gewendet und auf die Frage des Protagonisten Des Esseintes nach der Natur der Republik umgelegt hat. Vgl. ZELLER, 2014 (noch unveröffentlichte Dissertationsschrift, Johannes Gutenberg-Universität Mainz).

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Apoll und Hyazinth: Erotische Herrschaftsphantasien bei María de Zayas TIMO KEHREN Z er s t ört e I d ylle, l eer e s Ze n tr u m Die Novellistik der María de Zayas ist aufgrund der für ihre Zeit ungewöhnlichen Geschlechterdarstellungen seit längerer Zeit im Fokus der Siglo de Oro-Forschung. Dass diese nicht nur gesellschaftliche Sprengkraft enthalten, sondern auch auf konkrete politische Konflikte verweisen, ist hingegen bisher weitestgehend unbeachtet geblieben. Bereits die Rahmenerzählung der beiden 1634 und 1647 erschienenen Novellensammlungen erweist sich in diesem Zusammenhang als überaus aufschlussreich. Weil Lisis hoffnungslos in Don Juan verliebt ist, kommt eine Abendgesellschaft am spanischen Königshof zusammen, um sie aufzuheitern. Im Rahmen eines sarao – einer Feier mit Musik, Tänzen und opulenten Speisen – wollen sich die jungen Männer und Frauen einander Geschichten erzählen. Quedaron avisados que al recogerse el día, descoger la noche el negro manto, luto bien merecido por la ausencia del rubicundo señor de Delfos [...], se juntasen todos para solemnizar la Nochebuena, con el concertado entretenimiento, en el cuarto de la hermosa Lisis, en una sala aderezada de unos costosos paños flamencos, cuyos boscajes, flores y

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Timo Kehren arboledas parecían las selvas de Arcadia o los pensiles huertos de Babi1 lonia.

Was an dieser Beschreibung zunächst auffällt, ist der besondere Stellenwert der Bukolik: Man will sich die ‚novelas amorosas‘ in einer angemessenen Umgebung erzählen und wählt aus diesem Grund die Wälder Arkadiens. Doch sind diese auf Tüchern abgebildet und somit auf eine eindimensionale Oberfläche gebannt, die den Substanzverlust der Schäferdichtung poetologisch anzeigt. Die Welt der Schäfer ist hier keine in Opposition zur Realität stehende Repräsentation mehr, wie es noch in der Bukolik der Renaissance üblich war,2 sondern wird gleichsam in die Realität hineingeholt. Arkadien ist zur Requisite geworden, die der dramatischen Inszenierung dient. Dass auch der topische locus amoenus nicht länger Bestand hat, wird zum Ausdruck gebracht, indem er zu Babylon, dem biblischen Ort der Sünde, in Bezug gesetzt wird. An die Stelle der ‚gestörten Idylle‘, von der in wissenschaftlichen Abhandlungen zur Bukolik häufig die Rede ist, tritt somit eine ‚zerstörte Idylle‘. Der Übergang von Arkadien zu Babylon enthält aber auch ein politisches Moment, wird letzteres Toponym in der Literatur des Siglo de Oro doch häufig als Synonym für Spanien gebraucht.3 Indem es dem harmonischen Arkadien gegenübergestellt wird, wird die Dekadenz des Landes deutlich markiert. In dieser Hinsicht erweist sich auch die Aufrufung Apolls, des „rubicundo señor de Delfos“, als bedeutsam. Im Spanien der Habsburger wurde er als Figuration des Königs verwendet, wie es die Imprese illustri (1566) von Girolamo Ruscelli exemplarisch aufzeigen. Dort wird Philipp II. zu einem christlichen Apoll stilisiert, dem die Devise „iam illvstrabit omnia“ eignet.4 Mit der Abwesenheit des Sonnengotts – und zwar in dem ‚Reich, wo die Sonne niemals un-

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ZAYAS, 2010, S. 169. Vgl. ISER, 1991, S. 68. Vgl. synekdochisch: „Don Cleofás, desde esta picota de las nubes [sc. la torre de San Salvador], que es el lugar más eminente de Madrid, malaño para Menipo en los diálogos de Luciano, te he de enseñar todo lo más notable que a estas horas pasa en esta Babilonia española, que en la confusión fué esotra con ella segunda deste nombre.“ GUEVARA, 1941, S. 30. Vgl. RUSCELLI, 1566, S. 232ff. Die erwähnte Devise befindet sich auch auf einer 1555 geprägten Münze mit dem Antlitz des Königs, die im Museo Nacional del Prado in Madrid aufbewahrt ist.

Apoll und Hyazinth

tergeht‘ – wird nun auch die Ursache für den Niedergang Spaniens angegeben. Mit Philipp III. hatte 1598 der erste der so genannten „Austrias menores“ den spanischen Thron bestiegen. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern, den großen Habsburgerkönigen Karl V. und Philipp II., galt er als überaus schwacher Herrscher. Anstatt das Land selbst zu führen, betraute er Don Francisco Gómez de Sandoval y Rojas, den Herzog von Lerma, mit den Regierungsaufgaben, womit das Zeitalter des valimiento, der Herrschaft der Günstlinge, eingeläutet wurde.5 Das Machtzentrum der spanischen Monarchie war nicht länger durch den König besetzt. Jedoch war der Herzog von Lerma in erster Linie an seinem gesellschaftlichen Aufstieg sowie an persönlicher finanzieller Bereicherung interessiert. Er übernahm die Kontrolle über die Regierungsorgane und beeinflusste den König bei sämtlichen Entscheidungen. Gleichzeitig holte er seine Vertrauensmänner an den Hof, mit denen er eine skandalumwitterte Machtclique bildete.6 Die Königin, Margarete von Österreich, die den wachsenden Einfluss des Günstlings mit Argwohn beäugte, stellte sich seinem Machtstreben entgegen. Sie war darum bemüht, seine Machenschaften ans Tageslicht zu bringen, um ihn auf diese Weise aus seinem Amt zu treiben und selbst die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Doch blieben dem Herzog von Lerma ihre Absichten nicht verborgen. Besorgt um seinen Machteinfluss, betraute er einen ganzen Stab an Verbündeten damit, sie im Zaum zu halten und darauf Acht zu geben, dass sie auf die betrügerischen Geschäfte nicht aufmerksam werde.7 Von der Schwäche des Königs schließt María de Zayas in einem weiteren Schritt auf eine tief wurzelnde Krise des spanischen Patriarchats. Wo kein starker König ist, kann es offenbar auch keine anderen starken Männer geben. So wendet sich Lisis, nachdem sie ihren ‚desengaño amoroso‘ überwunden hat, direkt an die spanischen Männer, um sie zur Rede zu stellen. 5

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Die Gründe für die Einführung des valimiento sind in der Forschung umstritten. Wurde sie traditionell auf die Schwäche des Königs zurückgeführt, gehen neuere Ansätze angesichts der zunehmenden Komplexität des Staatswesens von ihrer institutionellen Notwendigkeit aus. Vgl. BRAVO, 2009, S. 7-12. Vgl. EBD., S. 38-42 u. S. 51-53. Vgl. FEROS, 2000, S. 95-98.

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Timo Kehren ¿Pues qué ley humana ni divina halláis, nobles caballeros, para precipitaros tanto contra las mujeres, que apenas se halla uno que las defienda, cuando veis tantos que las persiguen? Quisiera preguntaros si cumplís en esto con la obligación de serlo, y lo que prometéis cuando os ponéis en los pechos insignias de serlo, y si es razón que lo que juráis cuando os las pretendéis, sino por gala, como las medias de pelo y las guedejas. ¿De qué pensáis que procede el poco ánimo que hoy todos tenéis, que sufrís que estén los enemigos dentro de España, y nuestro Rey en campaña, y vosotros en el Prado y en el río, llenos de galas y trajes femeniles, y los pocos que le acompañan, suspirando por las ollas de Egipto? De la poca estimación que hacéis de las mujeres que a fe que, si las estimarais y amárades, como en otros tiempos se hacía, por no verlas en poder de vuestros enemigos, vosotros mismos os ofreciérades, no digo yo a ir a la guerra, y a pelear, sino a la muerte, poniendo la garganta al cuchillo, como en otros tiempos, y en particular en el del rey don Fernando el Católico se hacía, donde no era menester llevar los hombres por fuerza, ni maniatados, como ahora [...].8

Lisis scheint die Provokation nicht zu scheuen, wenn sie die spanischen Männer hier mit einer scharfzüngigen Schmährede anklagt.9 Deren Kampfesunlust und Müßiggang gibt sie als Ursachen für den Niedergang Spaniens an. Sie wirft ihnen vor, dass gegenwärtig nur noch Insignien an ihre Ritterlichkeit erinnerten. Anstatt das Land und seine Frauen, wie es sich gezieme, vor dem Feind zu beschützen, zögen sie es vor, im Prado oder am Manzanares ihre prachtvollen Weibstrachten zur Schau zu tragen. In der Tat tritt Spanien unter Philipp III. in eine längere Phase des Friedens ein, die maßgeblich durch die Aussöhnung mit England (1604) und das Waffenstillstandsabkommen mit den Niederlanden (1609-21) bestimmt ist. Doch ist diese Politik letztlich auch nur ein Ausdruck der Schwäche, denn angesichts der allgemeinen Kriegsmüdigkeit sowie der prekären Finanzlage des Landes scheint die pax hispanica unausweichlich.10 Darum verwundert es auch wenig, dass 8 9

ZAYAS, 2009, S. 504. Zur ähnlich motivierten Schmährede der Laurencia in Lope de Vegas Fuente Ovejuna (1613) vgl. PETERS, 2014, S. 69-94. 10 Vgl. BRAVO, 2009, S. 59-74. Feros hat die Verwendung des Begriffs pax hispanica kritisiert: Anders als im Falle der spanischen Monarchie sei die durch Kaiser Augustus erzielte pax romana, an die der Terminus angelehnt

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Lisis die wenigen, die dem König noch in den Krieg folgen, ebenfalls als schwach und wehmütig bezeichnet. Sie ständen nicht etwa ihren Mann und blickten dem Tod ins Auge, sondern sehnten sich nach dem ausschweifenden Leben in der Heimat, wie einst das Volk Israel nach seinem Auszug aus Ägypten.11 Indem sie dem Patriarchat einen Spiegel vorhält, bringt Lisis einen Wunsch nach starken Männern zum Ausdruck, von dessen Erfüllung sie sich die Genesung des Gemeinwesens verspricht. Das Ideal des starken Mannes glaubt sie in Ferdinand II. von Aragonien zu erkennen. Der Katholische König, der gemeinsam mit seiner Gemahlin Isabella I. von Kastilien das spanische Territorium geeint hatte, galt nicht nur als Inbegriff der Männlichkeit, sondern auch als Meister der Kriegskunst. Aus diesem Grund hatte der italienische Staatsdenker Niccolò Machiavelli ihn auch zum Prototyp seines Herrscherideals des principe novo auserkoren.12

Tri a ngul äre s Be ge hre n, b uk ol i s c he Fi g ur ati o n Die beiden Novellensammlungen der María de Zayas folgen einer komplexen Verschachtelungsstruktur, die sich als fortgesetzte mise en abyme erweist. Wie bei Matrjoschkas, die sich gemäß ihrer abnehmenden Größe ineinandersetzen lassen, können die verschiedenen Erzählebenen zueinander in Bezug gesetzt werden. Der ‚desengaño amoroso‘ der Lisis wird in den einzelnen Novellen auf verschiedene Weise immer wieder durchgespielt. Innerhalb dieser Novellen kommt es zu weiteren Erzähleinschüben, die sich wiederum als Spiegelung der übergeordneten Ebene erweisen. Den Binnenerzählungen kommt dabei eine päda-

ist, Ausdruck der Überlegenheit des Römischen Reichs gewesen. Vgl. FEROS, 2000, S. 205. 11 Das Proverb ‚suspirar por las ollas de Egipto‘ geht auf das Buch Exodus 16,3 zurück. 12 Vgl. „Nessuna cosa fa tanto stimare uno principe, quanto fanno le grandi imprese e dare di sé rari esempli. Noi abbiamo ne’ nostri tempi Ferrando di Aragona, presente re di Spagna. Costui si può chiamare quasi principe nuovo, perché, di uno re debole, è diventato per fama e per gloria el primo re de’ Cristiani; e se considerrete le azioni sua, le troverrete tutte grandissime e qualcuna estraordinaria.“ MACHIAVELLI, 1986, S. 172. Zum nostalgischen Blick auf die Katholischen Könige vgl. KAMEN, 2008, S. 38-73.

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gogische Funktion zu, denn sie sollen Lisis und ihren Wiedergängerinnen helfen, ihre Liebeskrankheit zu überwinden. Doch bleibt es nicht bei der bloßen Spiegelungsfunktion: Jede Novelle ist in sich geschlossen und weist eine komplexe Tiefensemantik auf. Im Mittelpunkt von La burlada Aminta y venganza del honor steht die wunderschöne Aminta, die zwecks der Vermählung mit ihrem Cousin Don Luis ihre Heimatstadt Vitoria verlässt und nach Segovia zieht. Da ihr Verlobter sich im Krieg in Italien befindet, soll sie bis zu seiner Rückkehr bei ihrem Onkel weilen. Der Galan Don Francisco hält sich unter dem Pseudonym ‚Jacinto‘ ebenfalls in der Stadt auf. Als er auf Aminta aufmerksam wird, beginnt er, ihr nachzustellen und kann sie schließlich verführen. Allerdings hält er sich nicht an das Eheversprechen, das er ihr gemacht hat, und ergreift post coitum die Flucht. Als die junge Frau sich ihres Ehrverlusts bewusst wird, zieht sie zunächst einen Selbstmord in Erwägung, entscheidet sich dann aber, die Schmach nicht auf sich sitzen zu lassen und Rache an ihrem Peiniger zu nehmen. Im Männergewand begibt sie sich nach Madrid, wo sie unter dem Namen ‚Jacinto‘ als Diener bei Don Francisco und dessen Gespielin Flora anheuert. Als die Zeit reif ist, tötet sie die beiden und nimmt kurz darauf ihren Komplizen Don Martín zum Mann. Die trianguläre Struktur, die sich aus den Hauptfiguren Don Luis, Aminta und Don Francisco ergibt, entspringt einem désir mimétique, der gemäß René Girard eine durch einen Mittler generierte Rivalität zur Folge hat.13 Don Francisco begehrt Aminta vor allem deshalb, weil sie Don Luis versprochen ist. Das Gefüge erweist sich in diesem Fall jedoch als weitaus komplexer, denn das wahre Objekt der Begierde ist nicht Aminta, sondern das Zeichen der Macht, das Don Luis als ihr Verlobter innehat. Don Francisco macht ihm seine Souveränität streitig, als er seine Verlobte beschläft und sie auf diese Weise entehrt. Die Rivalität zwischen den beiden Männern wird also über eine Frau ausgetragen, was, wie Eve Kosofsky Sedgwick betont hat, ein wesentliches Merkmal patriarchalischer Gesellschaften ist. Gayle Rubin has argued in an influential essay that patriarchal heterosexuality can best be discussed in terms of one or another form of the traffic in women: it is the use of women as exchangeable, perhaps sym13 Vgl. GIRARD, 2010, S. 15-67.

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Apoll und Hyazinth bolic, property for the primary purpose of cementing the bonds of men 14 with men.

Das Sujet der Novelle ergibt sich nun daraus, dass das Patriarchat gleich zweifach herausgefordert wird: zum einen durch das maßlose Verhalten Don Franciscos und zum anderen durch die sich daraus ergebende Handlungsbefähigung Amintas. Indem er die Verlobte eines anderen Mannes verführt, gefährdet Don Francisco den auf Solidarität beruhenden „bond of men“. Aminta wiederum stellt das Prinzip des „traffic in women“ infrage, indem sie sich von dem Männerbund lossagt und unabhängig zu handeln beginnt. Wie schon in der Rahmenhandlung lässt sich auch hier ein politisches Moment ausmachen. Das Motiv der Verkleidung, das aus der Schäferdichtung stammt, zeigt an, dass die Figuren mit politischen Akteuren zu identifizieren sind. Dass die Hirten nicht sich selbst, sondern anderes bezeichnen, ist – wie Wolfgang Iser es formuliert hat – eine „traditionsbefestige Rezeptionsbedingung bukolischen Dichtens“15. Als prominentes Beispiel kann hier Lope de Vegas Arcadia (1598) angeführt werden, wo der Schäfer Anfriso eine Figuration des Herzogs von Alba darstellt. In der vorliegenden Novelle erweist sich eine Identifizierung des Personals mit Philipp III., Margarete von Österreich und den Herzog von Lerma als stichhaltig. Die Kongruenz des Liebesdreiecks aus Don Luis, Aminta und Don Francisco mit dem Machtdreieck aus König, Königin und Günstling wird zunächst durch Don Luis’ metonymische Beziehung zu Philipp III. nahegelegt: „[P]asó a Italia a servir a su rey en la famosa guerra que tenía con el Duque de Saboya.“16 Kriegsbedingt halten sie sich gemeinsam in Italien auf und befinden sich somit außerhalb des Machtzentrums. Darüber hinaus ist die Konsanguinität von Don Luis und Aminta anzuführen, die bei dem Habsburger Königspaar ebenfalls gegeben war. Als ausschlaggebend erweist sich jedoch die Onomastik: Der Herzog von Lerma trägt, wie seine Figuration, den Namen Don Francisco. Der Hinweis, dass Don Francisco ein wichtiges Geschäft in Valladolid zu erledigen habe („iba a un negocio im14 SEDGWICK, 1985, S. 25f. 15 ISER, 1991, S. 78. 16 ZAYAS, 2010, S. 214.

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portante a Valladolid“17), bestätigt seine Identität mit dem Herzog von Lerma, der dort gewissermaßen das ‚Geschäft seines Lebens‘ gemacht hatte. Auf sein Anraten war der Königshof 1601 vorübergehend an die Stadt am Pisuerga zurückverlegt worden. Die Grundstücke, die er dort besaß, verpachtete er an den Hofstaat, wodurch er zu einem der reichsten Männer Spaniens aufstieg.18 Doch ist das Pseudonym Don Franciscos ebenfalls vielsagend: ‚Jacinto‘ ist die spanische Entsprechung von ‚Hyazinth‘, dem Namen des Geliebten des auf den König bezogenen Sonnengotts Apoll.19 Setzt man nun Apoll mit Philipp III. gleich, entspricht Hyazinth seinem Günstling. ‚Jacinto‘ ist also nicht nur der Deckname Don Franciscos, sondern auch des Herzogs von Lerma. Somit erweist sich ‚Jacinto‘ als Signifikant des Machtstrebens, was auch erklärt, warum sich Aminta, die Stellvertreterin der Königin, diesen Namen gibt, als sie das Männerkostüm anlegt. Dass die Beziehung zwischen König und Günstling erotisch ausphantasiert wird, ist keineswegs ungewöhnlich. Bereits im Rahmen des Kastilischen Erbfolgekriegs zwischen 1457 und 1474 war König Heinrich IV. eine Liaison mit seinem Günstling Beltrán de la Cueva nachgesagt worden. Mit diesem Gerücht suchten seine Gegner ihn als rex inutilis auszuweisen. Denn wer sich wegen sodomitischer Praktiken des peccatum nefandum schuldig machte, konnte unmöglich in der Lage sein, ein Königreich anzuführen.20 Schlimmer noch als ein schwacher war ein sodomitischer Herrscher, da er das phallische Herrschaftszeichen nicht einfach nicht gebrauchte, sondern sogar missbrauchte, indem er es zu anderen Zwecken als zur Prokreation einsetzte. In La burlada Aminta bleibt eine Liebesgeschichte von solch skandalösem Ausmaß aus.21 Stattdessen wird das konfliktgeladene Verhältnis zwischen dem 17 EBD., S. 230. 18 Vgl. FEROS, 2000, S. 86-90. 19 Für die gewöhnliche Sagenversion siehe Apollodor, Bibliotheke, I, 16-17 u. III, 116. 20 Vgl. FIRPO, 1984, S. 217-227 und DERS., 1985, S. 145-158. 21 Wer auf die erotische Ausgestaltung der Beziehung zwischen Fürst und Günstling nicht verzichten will, sei auf die Novelle Mal presagio casar lejos verwiesen. Hierin wird die Tochter eines kastilischen Adligen mit einem flämischen Prinzen verheiratet. Die Inversion der höfischpetrarkistischen Liebe (die Frau ist diejenige, deren Liebesklagen vom ‚dulce enemigo‘ unerhört bleiben) gipfelt darin, dass die Kastilierin ihren Gatten in flagranti mit dessen Günstling Arnesto erwischt: „Vio acostados

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Günstling und der Königin in den Vordergrund gerückt und in eroticis ausphantasiert.22

Kri se de s P a triar c hat s Zu Beginn der Erzählung wird Aminta mittels einer hyperbolischen, sublimierenden Sprache zur petrarkistischen Dame und somit traditionsgemäß zum passiven Liebesobjekt stilisiert. Bei ihrem Einzug in Segovia sind die Bewohner der Stadt angesichts ihrer hoheitsvollen Erscheinung von Stupor ergriffen, weshalb sie binnen kürzester Zeit zu Ruhm und Ehre gelangt: „[E]n pocos días se llenó la ciudad de su fama, no teniéndose por dichoso quien no la había visto, alabando cada uno lo que más en ella estimaba: unos la hermosura, otros la discreción, éste la riqueza y el otro la virtud.“23 Als Don Francisco beginnt, Aminta den Hof zu machen, wird diese Semantik fortgesetzt und weiter ausgestaltet. Zum ersten Mal begegnet er ihr beim Gebet in einem Kloster. Sofort trifft ihn der Liebespfeil, wohingegen die junge Frau ihm gegenüber erwartungsgemäß völlig gleichgültig bleibt. Der zeitgenössische Leser dürfte hierin eine Anspielung auf Petrarca, der die Laura erstmals bei der Karfreitagsandacht erblickte, erkannt haben. Im Anschluss an die Begegnung mit Aminta scheint Don Francisco einer tiefen Melancholie, die Folge seines amor hereos ist, zu verfallen. In Anbetracht der Vollkommenheit der jungen Frau scheint ein Liebesbund unmöglich, die Seele des Liebeskranken für immer verloren: „[C]onsiderando […] ser imposible sus pensamientos, pues el ser quien era Aminta y su estado de él lo dificultaban todo, le traía fuera de sí que

en la cama a su esposo y a Arnesto, en deleites tan torpes y abominables, que es bajeza, no sólo decirlo, más pensarlo.“ ZAYAS, 2009, S. 360. 22 Die Steigerung ins Erotische der Beziehung zwischen Günstling und Königin hat ihren Ursprung ebenfalls im Kastilischen Erbfolgekrieg. Beltrán de la Cueva soll nämlich nicht nur mit dem König verkehrt, sondern auch die Königin beschlafen haben. Auf dieses Gerücht geht der Beiname der Infantin Johanna zurück. Als ‚Juana la Beltraneja‘ wurde sie in der Auseinandersetzung um den Thron von Kastilien zur Tochter des Günstlings und somit unrechtmäßigen Thronerbin erklärt. Vgl. FIRPO, 1985, S. 150. 23 ZAYAS, 2010, S. 125.

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no parecía hombre con alma sino cuerpo o fantasma sin ella.“24 Allerdings stellt die Anmerkung, er habe sich eingehend über Adelsstand, Reichtum und Aufrichtigkeit Amintas informiert („que de todo se informó“25), einen Störfaktor dar, der auf ein Kalkül schließen lässt, das jenseits der Sublimation der petrarkistischen Schule liegt. Um sein Liebesleid dennoch glaubwürdig erscheinen zu lassen, zieht Don Francisco alle Register, die das frühneuzeitliche Repertoire an Liebeskonzeptionen zu bieten hat. So greift er beispielsweise auf den sentimentalen Roman zurück, als er Aminta einen Liebesbrief schreibt, in dem er sie für seinen bald eintretenden Liebestod verantwortlich macht: „[N]o quiero morir sin que sepas que eres la causa.“26 Auf diese Weise schreibt Don Francisco sich in eine Traditionslinie ein, deren Begründer Don Juan aus dem Tirso de Molina zugeschriebenen Drama El burlador de Sevilla (1630) darstellt. Dieser verführt, neben zahlreichen anderen Frauen, bezeichnenderweise auch eine Schäferin namens Arminta. Aus den lexikalischen Übereinstimmungen lässt sich schließen, dass die ‚Arminta‘, die auf den ‚burlador‘ hereinfällt, das Modell der ‚burlada Aminta‘ ist. DON JUAN.

Torciendo el camino acaso llegué a verte, que Amor guía tal vez las cosas de suerte que él mismo de ellas se admira. Vite, adoréte, abraséme, tanto, que tu amor me obliga a que contigo me case.27

Nachdem Don Juan sein innamoramento mithilfe einer Klimax („ich erspähte dich, verehrte dich, verzehrte mich“) prägnant zusammengefasst hat, versichert er der Schäferin, sie zu heiraten, wenn sie auf sein Werben eingeht. Doch wird er das Eheversprechen genauso wenig einhalten wie sein Wiedergänger.

24 25 26 27

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EBD., S. 216-217. EBD., S. 216. EBD., S. 221. MOLINA, 2007, V. 2163-2169.

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Die figurative Dimension Don Franciscos offenbart sich, als er sich im Stile eines liebeskranken Hirten zurückzieht, um auf einer Laute von seinem Liebesleid zu klagen („creyendo estar solo, tomando un laúd“28). Sein Gesang bildet eine dritte Erzählebene, die sich auf die Karthago-Episode aus Vergils Aeneis bezieht. In der Liebesgeschichte von Aeneas und Dido laufen Erotik und Politik exemplarisch zusammen, weshalb sie seit dem Mittelalter immer wieder herangezogen wurde, um Machtdiskurse allegorice zu verhandeln. Die Gründung von ‚Roma‘ ist von Beginn an libidinös motiviert, ist der Name der Stadt doch das Anagramm von ‚Amor‘. Hinzu kommt, dass Aeneas, der den Gründungsauftrag von Jupiter erhält, der Sohn der Liebesgöttin Venus ist. Nach seiner Flucht aus Troja erliegt er jedoch den Reizen der Karthagerkönigin Dido und vergisst darüber seine politische Pflicht. Als der Götterbote Merkur ihn daran erinnert, entsagt er der Dido und verlässt ihr Reich. Aus Verzweiflung wählt die Königin den Freitod und führt damit den Untergang Karthagos herbei. Aeneas hingegen verrichtet seinen Auftrag und heiratet Lavinia, die Tochter des Königs Latinus, womit die Gründung Roms in eroticis bestätigt wird.29 In seinem Lied konzentriert sich Don Francisco zunächst auf die Wut, die Dido angesichts der Verachtung, die Aeneas ihr durch seine Flucht entgegenbringt, empfindet: „Del fugitivo Eneas llora Dido / el desprecio cru[ë]l30 de su partida / de rabia ciega, en cólera encendida / maltrata el rostro por vengar su olvido.“31 Der Freitod, zu dem sich Dido daraufhin entschließt, wird dann aber als Zeichen der Treue zu Aeneas gedeutet, weshalb der Königin der Lorbeerkranz gebühre: „[C]ortando en flor su triste vida, / ganó el laurel a su lealtad debido.“32 Daraufhin äußert Don Francisco den Wunsch, an ihre Stelle zu treten („yo trocara mi vida por tu muerte“33), denn sein Leid sei im Gegensatz zu ihrem unrühmlich und deshalb noch viel unerträglicher: „Aquésta sí que es pena, / que la tuya lo fue de gloria llena.“34 Angesichts der Zurückweisung durch Aminta versinkt Don Francisco in ein Selbstmitleid, 28 29 30 31 32 33 34

ZAYAS, 2010, S. 217. Vgl. LEOPOLD, 2014, S. 62-77. Das Trema fehlt in der verwendeten Ausgabe. EBD., S. 217, V. 1-4. EBD., V. 7-8. EBD., V. 11. EBD., S. 218, V. 23-24.

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das sich zu einem für den Petrarkismus typischen Genuss des Schmerzes steigert.35 Doch setzt sich das Spiel von Sein und Schein in seinen Klagen fort. Im Sinne einer mise en abyme de l’énoncé, die Lucien Dällenbach als „citation de contenu ou un résumé intertextuels“36 definiert, kann die dritte Erzählebene als allegorische Prolepse der zweiten Erzählebene ausgelegt werden. Identifiziert man Don Francisco nämlich nicht mit dem lyrischen Ich, sondern mit Aeneas, ergibt sich das gleiche Schema wie in der Rahmenhandlung: Ebenso wie Aeneas Dido verlässt, um Rom zu gründen, wird Don Francisco Aminta verlassen, um ins spanische Zentrum der Macht, den Königshof von Madrid, zu drängen. Ebenso wie Dido sich für den Freitod entscheidet, wird auch Aminta diesen Schritt in Erwägung ziehen. Schließlich erweist sich der Rückgriff auf die Karthago-Episode auch als mise en abyme du code, die „la possibilité consentie au récit de définir ses signes par ses signes mêmes et d’expliciter ainsi son mode d’opération“37 bezeichnet. Als Stammvater der Römer ist der trojanische Prinz Aeneas, auf den die Habsburger bekanntermaßen ihren genealogischen Ursprung zurückführen, der Archisignifikant der Herrschaft. Folglich zeigt Don Franciscos Inszenierung als Aeneas an, dass sich hinter seinem Pseudonym ‚Jacinto‘ auch der reale Don Francisco verbirgt. Ebenso wie Aeneas strebt der Herzog von Lerma danach, das Zentrum der Macht zu besetzen und ist bereit, dafür die Ausschaltung der Königin in Kauf zu nehmen.

P ha nt asi e wei bli c her Herr s c haft Mit dem Tod der Königin im Jahre 1611 nahm ihr Machtkampf mit dem Herzog von Lerma ein jähes Ende. Sofort erzählte man sich, dass Rodrigo Calderón, einer der Gefolgsmänner des Günstlings, ihren Tod zu verantworten habe. In Wahrheit war sie an den Folgen der Geburt 35 Ernst A. Schmidt hat der abendländischen Bukolik eine Sentimentalität und Melancholie bescheinigt, wie sie in antiken Quellen nicht vorzufinden sei. Diese erfolge aus der Einbeziehung der römischen Elegie, die allerdings durch die seit dem 15. Jahrhundert vorherrschende petrarkistische Lyrizität überformt sei. Vgl. SCHMIDT, 1987, S. 239-264. 36 DÄLLENBACH, 1977, S. 76. 37 EBD., S. 127-128, Fußnote 2.

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ihres achten Kindes gestorben.38 Doch verdeutlicht das Gerücht, wie es um das Verhältnis zwischen der Königin und dem Günstling bestellt war. Anders als die Königin kann ihre Wiedergängerin Aminta dem Tod entrinnen. Dem Beispiel der Felismena aus Los siete libros de la Diana (1559) von Jorge de Montemayor folgend, verkleidet sie sich als Mann, um ihrem Peiniger an den Königshof zu folgen. Um Mobilität zu erlangen, die ihr als Frau gemäß der frühneuzeitlichen Geschlechterordnung nicht zusteht, legt sie den disfraz varonil an.39 Der Rückgriff auf das Motiv der Verkleidung erweist sich als eine Taktik, derer sich zuvor bereits Don Francisco bedient hat. Ihr ‚desengaño amoroso‘ erlaubt es Aminta also, zu Bewusstsein zu kommen und durch die sich daran anschließende Imitation des männlichen Habitus Selbstbestimmung zu erlangen. Ihre neu erlangte Handlungsfähigkeit reflektiert die junge Frau in einem für die Schäferdichtung ebenfalls typischen Madrigal, das sie Don Francisco und Flora als deren Diener vorträgt. Geschildert wird eine Begebenheit, die der Gott der Träume Morpheus höchstpersönlich geträumt hat. Angesichts der Abwesenheit ihres Geliebten Jacinto macht sich die Schäferin Matilde auf, ihn zu suchen. Sie durchstreift Arkadien („las flores del florido prado pisa“40), doch ahnt sie bereits, dass diese heile Welt dem Untergang geweiht ist („ya el corazón su mal le avisa“41). Tatsächlich erblickt sie den Schäfer schließlich beim Liebesspiel mit der Isbella („vio a Jacinto en Isbella divertido“42). Nachdem sie dem Treiben eine Weile zugesehen hat, entlädt sich ihre Wut. Sie gibt sich den beiden zu erkennen und droht ihnen, sie zu töten („yo os quitaré la vida“43). Doch bevor es zur Umsetzung der Tat kommt, erwacht Morpheus aus seinem Traum.

38 Vgl. FEROS, 2000, S. 226-227. Sieben Jahre nach dem Tod Margaretes hatte der Herzog von Lerma jeglichen Rückhalt verloren, sodass er den Hof Philipps III. verlassen musste. Rechtliche Folgen hatte er keine zu befürchten, war ihm doch noch kurz zuvor die Kardinalswürde, die ihm Immunität zusicherte, verliehen worden. Vgl. EBD., S. 230-246. 39 Der disfraz varonil ist auch ein beliebtes Motiv im spanischen Barockdrama. Vgl. hierzu den Beitrag von Julia Brühne in diesem Band. 40 ZAYAS, 2010, S. 242, V. 10. 41 EBD., V. 12. 42 EBD., V. 16. 43 EBD., S. 243, V. 59.

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Ein weiteres Mal erweist sich die dritte Erzählebene als mise en abyme de l’énoncé, die die Handlung der zweiten Erzählebene in einer bukolischen Sequenz spiegelt. Dabei entspricht Matilde der Aminta, Isbella der Flora und Jacinto dem gleichnamigen Schäfer. Doch wird nicht nur die bisherige Handlung allegorisch aufbereitet, auch ihr weiterer Verlauf wird angekündigt. Während aber die Tötung des Schwindlers und seiner Gespielin im Madrigal durch das Erwachen aus dem Traum lediglich eine Absicht bleibt, wird sie in der Rahmenhandlung tatsächlich umgesetzt, und zwar ebenfalls nachdem die Heldin ihm bei seinem zügellosen Liebesspiel zugesehen hat („viendo a don Jacinto gozar tan libremente de Flora“44). Dass die Repräsentation Arkadiens mit einer Traumsituation verglichen wird, kennt man bereits von Miguel de Cervantes, bei dem die Schäferromane als „cosas soñadas“45 bezeichnet werden. In der Tat ist der locus amoenus bei María de Zayas nicht mehr als ein Traum, aus dem Aminta gewaltsam herausgerissen wird. Die einprägsame Metapher der Hirschkuh von Keryneia, die, vom Jagdspieß des Herakles getroffen, die Felder Arkadiens verwüstet46, bringt nicht nur den Furor der Matilde – und somit der Aminta – zum Ausdruck, sie kündigt auch die ‚Metamorphose‘ der Schäferin in ein unabhängiges, selbstbestimmtes Subjekt an: „[D]e rabia perdida / salió cual cierva del venablo herida.“47 Die Tatsache, dass die Ermordung Don Franciscos durch eine ‚venganza de honor‘ motiviert wird, setzt die Novelle in direkten Bezug zu Torquato Tassos Hirtenspiel Aminta (1580), dessen Titel bereits vermuten lässt, dass es sich hierbei um einen Hypotext handelt. Angesichts seiner zunächst unerwiderten Liebe zur Nymphe Silvia, wünscht sich der Schäfer Aminta die Liebesfreiheit, wie sie im Goldenen Zeitalter geherrscht hatte, zurück. In dem Gesang des Chors am Ende des ersten Akts hallen seine Klagen wider. Tu prima, Onor, velasti la fonte de i diletti,

44 EBD., S. 244. 45 CERVANTES, 2001, S. 309. 46 Vgl. APOLLODOR, Bibliotheke, II, 81-82 sowie HYGINUS, Fabeln, XXX, V. 5. 47 ZAYAS, 2010, S. 243, V. 55-56.

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Apoll und Hyazinth negando l’onde a l’amorosa sete; tu a’ begli occhi insegnasti di starne in sé ristretti, e tener lor bellezze altrui secrete; tu raccogliesti in rete le chiome a l’aura sparte; tu i dolci atti lascivi festi ritrosi e schivi; a i detti il fren ponesti, a i passi l’arte: opra è tua sola, o Onore, che furto sia quel che fu don d’Amore.48

Der Chor wendet sich in diesem Textausschnitt an die personifizierte Ehre und wirft ihr vor, den „dolci atti lascivi“ ein Ende bereitet zu haben, indem sie den Frauen das Ehrgefühl auferlegt habe. Genau dieses Ehrgefühl macht die Zayassche Aminta nun aber zur Tugend. Don Francisco, der sich das Recht auf Liebesfreiheit ungeachtet des weiblichen Ehrgefühls anmaßt, muss für sein Verhalten büßen und wird von seinem Opfer selbst für seine Missetaten bestraft. Auf diese Weise antwortet Zayas’ weibliche Aminta auf das patriarchalische Begehren nach der frei verfügbaren Frau, wie es Tassos männlicher Aminta hegt. Die Novelle deckt auf, dass die Liebesfreiheit ein ausschließlich männliches Privileg ist, was ihre Hauptfigur nicht länger hinnehmen will. Die dem disfraz varonil geschuldete Geschlechterambivalenz kommt bei Berücksichtigung der favola boschereccia voll zum Tragen: Indem sich Aminta das Schäfergewand ihres Modells überstreift, erlangt sie nicht nur einen Handlungsspielraum, der sonst nur Männern vorbehalten ist, sie rückt zugleich an die Stelle des Schäfers und tilgt durch die damit einhergehende Neubesetzung des Signifikanten ‚Aminta‘ das patriarchalische Begehren, das mit dem exzessiven Verhalten Don Franciscos seinen Höhepunkt erreicht.49 48 TASSO, 1976, V. 695-707. 49 Bereits bei Vergil tritt ein Hirte namens Amyntas in Erscheinung: „[N]ec te paeniteat calamo trivisse labellum: / haec eadem ut sciret, quid non faciebat Amyntas?“ Eklogen, II, 34-35. Als Lustknaben des Corydon wohnt ihm auch schon eine grundlegende Ambivalenz in Hinblick auf seine Geschlechtlichkeit inne. Zu weiteren antiken Zeugnissen von Amyntas vgl. SENG, 2015 (in Vorbereitung).

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Durch die Tötung ihres Peinigers und seiner Gespielin restituiert Aminta nicht nur ihre eigene Ehre, sondern auch diejenige, die Don Juan der Schäferin Arminta genommen hatte. Bei María de Zayas wird der burlador ein weiteres Mal ins Jenseits befördert, allerdings hat sich das Ziel nun grundlegend verändert. Don Juan muss sterben, weil er das Patriarchat gefährdet, indem er die Frauen anderer Männer beschläft. Als er mit Don Gonzalo die Vaterfigur des Dramas tötet, droht dieses endgültig zu zerbrechen. In Reaktion darauf schickt Gott, die oberste Instanz der patria potestas, den Geist Don Gonzalos zurück ins Diesseits, damit er Don Juan in die Hölle befördere und auf diese Weise das Patriarchat rette.50 DON GONZALO.

Las maravillas de Dios son, Don Juan, investigables, y así quiere que tus culpas a mano de un muerto pagues; y así pagas de esta suerte las doncellas que burlaste. Esta es justicia de Dios, quien tal hace, que tal pague.51

Im Gegensatz zur Höllenfahrt Don Juans ist die Ermordung Don Franciscos von jeglicher Transzendenz entbunden. In Anbetracht eines völlig handlungsunfähigen Patriarchats – Don Luis weilt in Italien, dessen Vater ist aufgrund der ungeheuren burla verschieden und auf seine Rückkehr als Geist ist auch nicht zu hoffen – muss Aminta den Entehrer selbst beseitigen. Dabei wird er ebenso um die letzte Beichte gebracht wie sein Vorbild: „Y sacando la daga, se la metió al traidor don Jacinto por el corazón dos o tres veces, tanto que el quejarse y rendir el alma fue todo uno.“52 Angesichts ihres Verstoßes gegen die Geschlechterordnung erweist sich die Rückkehr nach Segovia für die mujer varonil als ebenso unmöglich wie ungewollt. Deshalb beschließt sie, aus der Not eine Tugend zu machen: Sie lässt sich in Madrid nieder und ehelicht ihren 50 Vgl. LEOPOLD, 2014, S. 280-292. 51 MOLINA, 2007, V. 2942-2949. 52 ZAYAS, 2010, S. 244-245.

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Komplizen Don Martín, um vom Hab und Gut seiner Familie zu zehren: „[E]nvió don Martín por su madre, la cual con su casa y hacienda se vino a Madrid [...].“53 Es zeigt sich, dass der Bund der Ehe, in den Aminta eintritt, grundlegend anderer Natur ist als für die Frühe Neuzeit üblich. Die junge Frau entscheidet weiterhin eigenständig über ihr Schicksal, während ihr Mann zu einer reinen Begleitfigur wird, dessen Dienste sie schon bei ihrem Entschluss, Rache zu nehmen, verweigert hatte: „[S]upuesto que yo he sido la ofendida y no vos, yo sola he de vengarme […].“54 Um unerkannt zu bleiben, wechselt sie schließlich ein weiteres Mal ihre Identität. Sie gibt sich den Namen ‚Vitoria‘, der nicht nur auf ihren baskischen Herkunftsort verweist, sondern zugleich Ausdruck ihres Triumphs über die patria potestas ist. Schließlich ist Amintas Handeln als Phantasie weiblicher Ermächtigung im Spanien der späten Habsburgerkönige zu deuten. Wird die dysphorische Erfahrung des Tods der Königin im ersten Durchlauf der Novelle im ‚gesellschaftlichen Tod‘ der Aminta gespiegelt, besteht ihr zweiter Durchlauf aus der euphorischen Erzählung des Aufstiegs eines weiblichen Souveräns, wie er der beim Volk überaus beliebten Margarete von Österreich hätte widerfahren können, wäre sie nicht verfrüht im Kindbett gestorben. In den disfraz varonil gehüllt, erweist sich Aminta als der bessere Hyazinth, der nicht nur sein Alter Ego beseitigen kann, sondern auch das Machtvakuum zu füllen weiß. Das Unbehagen am valimiento, das bis zum Ende der spanischen Habsburgermonarchie im Jahre 1700 fortbestehen wird, spiegelt sich bei María de Zayas nicht nur in effeminierten (bzw. abwesenden) und korrumpierten Männern wider. Mit dem Siegeszug einer weiblichen Figur wird zugleich ein Ausweg aus der Herrschaftskrise imaginiert. Nur eine Frau, so scheint es, vermag das im Niedergang befindliche Gemeinwesen noch zu retten. Einmal mehr lässt sich hier auch eine Reminiszenz an die Herrschaft der Katholischen Könige erkennen. Ebenso wie Ferdinand galt auch seine Gemahlin Isabella als vorbildliche Herrscherin, die in ihrem Reich nicht nur Frieden gestiftet, sondern ihm zu einer kulturellen Blüte verholfen hatte.55

53 EBD., S. 246. 54 EBD., S. 236. 55 Vgl. hierzu ergänzend PETERS, 2015 (in Vorbereitung).

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Die Geburt der Republik aus dem Geiste des Genies: Politische Souveränität und Genieästhetik in Schillers Die Verschwörung des Fiesco zu Genua MAHA EL HISSY Es ist sehr bezeichnend, dass die Beschreibung von politischen Entwicklungen in Schillers Drama Die Verschwörung des Fiesco zu Genua (1783) mit einer Geburts- und Fruchtbarkeitsmetaphorik verschränkt ist. Da ist etwa die Rede vom „erstaunlichen Werk der Verschwörung“, das „[i]n den Windeln der Üppigkeit [gewickelt] lag.“1 An anderer Stelle diagnostiziert das Haupt der Verschwörung und die Titelfigur Fiesco den heiklen, pränatalen Zustand eines bevorstehenden politischen Umbruchs: „Die Frucht ist ja zeitig. Wehen verkündigen die Geburt.“2 Ganz gewiss gibt die Metapher das Pathos des Neuen wieder. Sie führt außerdem das Politische auf einen kreatürlichen, geheimnisvollen Ursprung zurück und wirft indirekt die Frage nach der Elternschaft dieses „erstaunlichen Werk[s] der Verschwörung“ auf. In der Metapher sind das Sexuelle und das Politische verklammert, was in Schillers Trauerspiel allgegenwärtig ist. Da verflechten sich Erotik und Herrschsucht, Entjungferung und Verschwörung, Tyrannei und Begehren, Liebe und Politik in einem Geschehen, in dem sexuelle Triebe das 1 2

SCHILLER, 2004b, S. 693. EBD., S. 689.

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Feuer der Revolution entfachen. Im Allgemeinen lässt sich beobachten, dass die revolutionäre Bewegung in Analogie zur natürlichen Prokreation erfolgt und in mancher Hinsicht einigen Stadien der natürlichen Fortpflanzung ähnelt. Sicherlich steht diese Phantasie im Zeichen des dichterischen Zeitgeists in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Eine Generation von ,Stürmern und Drängern‘ lehnt sich gegen väterliche Autoritäten und das Regeldiktat der älteren Generation auf. Für Jakob Friedrich Abel, dem Schiller sein ,republikanisches Trauerspiel‘, so die außergewöhnliche Bezeichnung des Fiesco, widmet, müsse das Genie den vorgeschriebenen Weg verlassen und dies im Unterschied zum Genielosen, der „matt und kraftlos, nie ohne die Krücke der Regeln und Gesetze gehen [kann], kraftlos und elend nie über die vorgezeichnete Bahn wegspringen oder mit Heldenkühnheit sie durchbrechen, um sich selbst schöpferisch eine neue Bahn zu finden“.3 Die neue Generation von ,Stürmern und Drängern‘ emanzipiert sich von allen Vorgaben der handwerklichen Dichtung, weshalb Originalität „die erste Eigenschaft“,4 so Kant in Kritik der Urteilskraft, eines Genius sei: Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. Da das Talent, als angeborenes produktives Vermögen des Künstlers, selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborene Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.5

Mit dieser göttlichen Position kommt dem Genie eine lebensspendende Kraft zu. Daraus entspringt die Phantasie vom Kunstwerk als Lebewesen,6 weshalb eine Ähnlichkeit zwischen Kunst und Prokreation bzw. Dichtungs- und Zeugungstheorien konstatiert wird,7 die das Phantasma der Selbstgeburt des genialen Autors nachzeichnet.8 Gerade in der 3 4 5 6 7 8

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ABEL, 1955, S. 31. KANT, 1983, S. 405f. EBD. (Herv. im Original). Vgl. PFISTERER/ZIMMERMANN, 2005. Vgl. PARNES/VEDDER/WILLER, 2008, S. 120. Vgl. hierzu: BEGEMANN, 2002, S. 44-61. Relevant für die Thematik sowie die Analogie zwischen Zeugung und Dichtung sind außerdem: Willer 2005 sowie BEGEMANN/WELLBERY, 2002.

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zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden diese Themen vehement von den damaligen biologischen Erkenntnissen über die Embryologie beeinflusst. Es ist eben die Zeit, in der die Epigenesis sich durchsetzt und die bis dahin einflussreiche Präformationslehre allmählich ablöst. Wurde bis dahin angenommen, dass alle Keime der Lebewesen schon vorgeformt seien und im Akt der Zeugung ,lediglich‘ zum Leben erweckt werden, entsprechend der Grundannahme der Präformation, so wird dies von Vertretern der Epigenesis revidiert. Diese gehen nämlich davon aus, dass die Strukturen aller Organismen erst im Akt der Zeugung geformt werden.9 In Schillers Fiesco, das der Hamburger Regisseur Friedrich Ludwig Schröder 1784 in einem Brief als Erneuerung des schon überwundenen Geistes des Sturm und Drang kritisierte,10 bringt das Genie Fiesco, „ein großer fruchtbarer Kopf, der […], gleich dem gebärenden Geist auf dem Chaos, einsam und unbehorcht eine Welt ausbrütet“,11 kein literarisches, sondern ein politisches, „reife[s] vollendete[s] Werk“12 hervor: die Verschwörung. Schiller zelebriert den Protagonisten seines ersten historischen Dramas als den lang ersehnten Schöpfer: „Fiesco, der, lange genug mißkannt, endlich einem Gott gleich hervortritt, das reife vollendete Werk vor erstaunende Augen stellt […].“13 Schon in der ersten Szene des Dramas spricht Fiescos Frau Leonore von ihrem Gatten als „Genuas größte[m] Mann! [d]er vollendet aus dem Meißel der unerschöpflichen Künstlerin [sprang].“14 Gemeint ist die Natur, die als Bildhauerin ein erhabenes Werk erschaffen hat. Ihr Gemahl sei außerdem „ein blühender Apoll“, den Winckelmann in Geschichte der Kunst des Altertums als „das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Altertums“15 bezeichnet hat. Fiesco kommt als Original-Genie ohne biologische Vorfahren auf die Welt, erfährt keinerlei väterliche Autorität und gebiert sich stattdessen selbst zu einer solchen, wobei er als Schöpfer des besagten politischen Kunstwerks ein diktatorisches Prin9 Vgl. auch: WILLER u. a., 2013, S. 18-20. 10 Friedrich Ludwig Schröder an Wolfgang Heribert von Dalberg, 22. Mai 1784; zit. in: HESSELMANN, 2002, S. 117. 11 SCHILLER, 2004a, S. 752. 12 EBD. 13 SCHILLER, 2004a, S. 752. 14 SCHILLER, 2004b, S. 645. 15 WINCKELMANN, 1964, S. 309.

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zip befolgt. Seine Vorstellung von einer unumschränkten Machtposition und seine Selbstgeburt als Souverän stehen nämlich dem Ideal der Fraternität und der republikanischen Gleichheit gegenüber. In Schillers Trauerspiel tritt dieses Dilemma interessanterweise in Szenen der Entjungferung hervor, in denen die beiden Regierungsformen miteinander konkurrieren. Generell markiert das Phantasma von der Schändung eines weiblichen Körpers einen entscheidenden Moment vor allem der Republikgründung. Diese Beobachtung stellt Matthes in Form einer Frage an den Anfang ihres Buches The Rape of Lucretia: Why is sexual violation of a woman found at the republican origin; that is, why are republics, rather than tyrannies or monarchies, established as a result of the rape of a woman? How does that fact reconfigure one’s consequent understanding of republican virtù? How does rape secure a 16 fraternal bond?

Anhand von zwei Szenen, in denen es um Jungfräulichkeit geht, soll im Folgenden zum einen demonstriert werden, wie bei Schiller die Selbstgeburt eines genialen Staatssouveräns erfolgt. Damit wären die anfangs zitierten Stellen über die bevorstehende Geburt nicht nur als ,bloße‘ Metapher zu betrachten. Der sexuelle Akt markiert hierbei vielmehr die Eskalation des dramatischen und revolutionären Geschehens und dient somit als libidinöse Energie theatralischer und politischer Geschehnisse. Zum anderen exponiert sich an der Entjungferung nicht die Rivalität unter den männlichen Verschwörern, sondern zwischen der Herrschaft eines genialen Monarchen und der Republikgründung. Diese zwei konkurrierenden Regierungsformen sind Dreh- und Angelpunkt der dramatischen Handlung, die Schiller aus dem historischen Sujet schöpft, das im Jahre 1547 in der Stadtrepublik Genua anzusiedeln ist. Dort verletzt Gianettino Doria die Rechte der Senatoren und will seinen Onkel Andreas Doria, den herrschenden Dogen von Genua, stürzen und die Macht an sich reißen, was für politischen Zündstoff

16 MATTHES, 2000, S. 5. Matthes geht in ihrer Studie der Geschichte von der Vergewaltigung Lukretias bei Livius nach, um von da aus zu untersuchen, wie die spätere Nacherzählung dieses Mythos durch Machiavelli und Rousseau divergiert und inwiefern dies jeweils einer bestimmten Auffassung von Republikanismus entsprechen soll.

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sorgt. Sowohl der Neffe als auch der Onkel geben vor, eine republikanische Regierungsform zu vertreten, während beide jedoch die Herrschaft eines Einzelnen anstreben. Unter der Führung des 60-jährigen Republikaners Verrina verschwören sich junge Missvergnügte und wollen Fiesco, den Grafen von Lavagna, zum Haupt ihres Umsturzplanes gegen den Usurpator der Macht, Gianettino Doria, ernennen. Verrina befürchtet jedoch, dass Fiesco nach gelungenem Aufstand die Macht an sich reißen würde: „Den Tyrannen wird Fiesco stürzen, das ist gewiß! Fiesco wird Genuas gefährlichster Tyrann werden, das ist gewisser!“17 Man erlebt den Grafen wahrhaftig als Figur der dissimulatio, die ihre Souveränität darin sieht, ihr Tun und ihre Absichten herunterzuspielen, sie ambivalent zu halten und die Zuschauer bzw. Leser dabei mit der Frage auf die Folter spannt, wie Fiesco nun politisch handeln wird. Walter Müller-Seidel bezeichnet ihn zutreffend als einen „erhabenen Verbrecher“.18 In einem pathetischen, ostentativen Monolog gibt Fiesco sich als „der größte Mann […] im ganzen Genua“, beschreibt sich als „erhabene[n] Kopf“19 und fährt mit megalomanen Vorstellungen von einer Alleinherrschaft fort: „Diese majestätische Stadt! […] Mein! […] drüber zu brüten mit Monarchenkraft.“20 „Gehorchen und Herrschen! – Sein und Nichtsein!“,21 so lautet die geheime Maxime, mit der Fiesco die Verschwörung anzettelt. Nachdem diese ihren Lauf genommen hat, Söldner sich der Hauptplätze der Stadt bemächtigt haben, Gianettino erdolcht wurde, und das Volk Fiesco als den neuen Herzog bejubeln möchte, vollendet Verrina seinen Plan und stürzt Fiesco nach dem beinahe gelungenen Aufstand im Namen der Freiheit ins Wasser. So zumindest die Buchfassung, die vom realhistorischen Sujet entscheidend abweicht. Nach dem fast gelungenen Aufstand stürzte der historische Fiesco nämlich von einer Schiffsplanke und ertrank aufgrund seiner schweren Rüstung im Wasser. Ein politisch völlig unspektakuläres Ende also, das Schiller mit seiner dichterischen Autorität ändern will, „denn die Natur des Dramas duldet den Finger des Ohngefährs oder der unmittelbaren Vorsehung nicht“,22 womit der Autor sich vom Lessing17 18 19 20 21 22

SCHILLER, 2004b, S. 697. MÜLLER-SEIDEL, 1990, S. 428. SCHILLER, 2004b, S. 698. EBD. EBD. EBD., S. 640.

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schen Diktum der exakten Übernahme der geschichtlichen Quelle abkehrt. In der letzten Szene eilen einige Verschwörer herbei, die auf der Suche nach Fiesco sind, und berichten von der Rückkehr des greisen Andreas Doria, womit die alte politische Ordnung wiederhergestellt wird. Was die Verschwörung bei Schiller in die Wege leitet, ist eine Szene, in der eine Geschichte aus Livius’ Ab urbe condita inkorporiert ist. In Anlehnung an das Vorbild des römischen Gründungsgeschehens nämlich, das auf das Jahr 448/447 v. Chr. datiert ist und mit der Wiederherstellung der römischen Republik endet, zitiert das Bühnengeschehen die legendäre Geschichte von der Schändung Verginias, Tochter des Armeeoffiziers Verginius, die der Patrizier Appius Claudius begehrt und in Besitz nehmen will. Gleich im ersten Akt im Fiesco ahmt Gianettino das römische Modell nach, usurpiert die Grenze der Familie und vergewaltigt, eine Maske tragend, die jungfräuliche Bertha, einzige Tochter des Republikaners Verrina. Schon ab einem frühen Zeitpunkt geht also die Dramenhandlung mit einem Konflikt schwanger und lädt sich ab diesem Moment sukzessive auf. Als der Vater von der Schändung seiner Tochter erfährt und über ein adäquates Handeln nachsinnt, zitiert Schillers Drama sogar die historische Quelle explizit herbei: „was tat jener eisgraue Römer, als man seine Tochter auch so – wie nenn ichs nun – auch so artig fand, seine Tochter? Höre Bertha, was sagte Virginius zu seiner verstümmelten Tochter? […] Nichts sagte er. […] Nach einem Schlachtmesser griff er –“,23 wobei Verrina die Quelle nicht ganz getreu übernimmt. Denn anders als Bertha blieben die römische Jungfrau sowie ihre in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bekannte ,Nachfolgerin‘ Emilia Galotti unberührt, was auch in der Ermordung der beiden Protagonistinnen gesichert bleiben sollte.24 Da 23 EBD., S. 663 (Herv. im Original). 24 In seinem Buch Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters macht Christopher Wild auf die Paradoxie aufmerksam, die der theatralischen Darstellung von Keuschheit inne wohnt. Denn sobald diese zum Bühnensujet wird, d. h. bezeugt wird, führt sie sich selber ad absurdum: „Sobald die Unschuld mit Zeichen markiert, als solche kenntlich gemacht wird, geht sie verloren. Noch paradoxer ausgedrückt: Die Unschuld wird schon durch ihre sichtbare Erscheinung kompromittiert.“ Denn im Moment, in dem das weiblich Unberührte zum Bühnensujet wird und von einem Publikum bezeugt wird, geht seine Unberührtheit verloren. WILD, 2003, S. 28f.

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die patria potestas des Vaters bei Schiller schon verletzt ist, wird die Tötung der geschändeten Tochter überflüssig. Anstatt nach dem Muster des römischen Verginius zu handeln, wendet der Republikaner das Schwert deswegen nicht gegen seine Tochter, sondern will sie verpfänden und bis zu „Genuas Erlösung“ einsperren: „Genuas Los ist auf meine Bertha geworfen, mein Vaterherz meiner Bürgerpflicht überantwortet. […] Genuas Despot muß fallen, oder das Mädchen verzweifelt. Ich widerrufe nicht […].“25 Wenn sich daraufhin eine Gemeinschaft von vier Verschwörern gründet, dann könnte man meinen, dass damit das Ideal der Fraternität realisiert wird.26 Dennoch tritt es sogleich in Konkurrenz mit der Herrschaft des Einzelnen. Denn der Umsturzplan wird erst dann abgeschlossen, als die Verschwörer Fiesco zu ihrem Oberhaupt ernennen. Seine Geburt als genialer Herrscher geht somit aus dieser Szene der Entjungferung hervor. Zwar markiert die Phantasie der virgo intacta den Anspruch auf eine Ursprungsposition des Original-Genies. Gleichzeitig fußt aber der geplante Aufstand auf einer prekären Angelegenheit: auf der Übersetzung von Gewalt in Macht, bis man gar in der Mannheimer Fassung des Dramas liest, dass das Schwert zum Gesetzbuch geworden sei.27 Diese Analogie zwischen dem corpus virgineum und dem corpus politicum durchzieht den Dramentext bis zum Ende der Handlung.28 Berthas Schicksal wird dabei mit demjenigen Genuas in einer Fusion 25 SCHILLER, 2004b, S. 666. 26 Einige wenige Jahrzehnte später wird Kleist dieses Motiv aufnehmen und zur dramatischen Wende in der Hermannsschlacht machen. Dabei führt die Vergewaltigung und Erdolchung der Jungfrau Hally dazu, dass die germanischen Stämme sich gegen Varus und die römischen Truppen verbünden. Koschorke et al. begründen diese Konstellation – d. h. das Bedürfnis nach einem weiblichen Gründungsopfer, damit Männer sich verbünden – damit, dass „die Polis selbst, obwohl sie doch nur aus männlichen Subjekten besteht, sich in Bildern des unversehrten weiblichen Geschlechtskörpers spiegelt.“ KOSCHORKE u. a. 2007, S. 38. 27 SCHILLER, 1985, S. 102f. 28 In ihrem Aufsatz über das Geschlecht des politischen Körpers spricht Ethel Matala de Mazza von einer „Geschlechterindifferenz des politischen Körpers“ sowie einer „sexuelle[n] Gleichgültigkeit des politischen Körpers“, was sicherlich für viele Beispiele gilt, die die Autorin untersucht, etwa die Fabel des Patriziers Menenius Agrippa über den Magen und die Glieder, die den Hunger „als einziges Begehren des sozialen Körpers“ in den Blick rückt. Siehe hierzu: MATALA DE MAZZA, 2004, S. 284.

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des Privaten mit dem Politischen zusammengeführt. Der politische Aufstand wurzelt demnach in der häuslichen Sphäre, wobei Schiller eindeutig mit Lessings Entpolitisierung des Privaten bricht. Während Lessing in der Neubearbeitung des Verginia-Mythos die Heldin seines Trauerspiels Emilia Galotti von all dem absondern wollte, „was sie für den ganzen Staat interessant macht“29 (auch wenn ihm dies nicht gänzlich gelungen ist), ist die geschändete Tochter Verrinas in Schillers Drama ganz und gar nicht mehr nur Teil des häuslichen Bereichs, sondern gehört eindeutig in die politische Sphäre. Sobald die Grenze des Häuslichen übertreten und die Familie als Institution von einem Despoten attackiert wird, wird das Private zum Organisationsprinzip des Politischen. Verginia und Bertha werden beide zur res publica, zur öffentlichen Sache, zum Spektakel, das männliche Aufrührer, die in ihrer Verschwörung das Prinzip der Fraternität realisiert sehen wollen, zum Aufstand motiviert. Auch hier dient das römische Sujet als Vorlage, denn es ist erst die Zurschaustellung des mit Blut beschmierten Dolchs des Verginius, die die Masse zur Auflehnung gegen die Regierung der Decemvirn zu bewegen vermag. Im vorrevolutionären Europa – liest man den Fiesco vor einem zeitgenössischen Hintergrund – soll hiermit das republikanische Ideal der Brüderlichkeit eingeführt werden, das die monarchische und patrilineare Regierungsform ersetzen soll und daran erinnert, dass der Begriff des Politischen selten ohne eine Rückbindung des Staates an die Familie auftrete.30 Neben der unvermeidlichen Politisierung des Privaten verhandelt die Bertha-Szene die Frage der Emotionalisierung des Staates. Das Pathos dieser Szene wirft nämlich die Frage nach dem Einfluss des Affekts auf das politische Geschehen auf. Schließlich ist es der väterliche Gemütszustand Verrinas, der zwischen Betroffenheit, Erregung und Wut wechselt – in der Szene beschreiben zahlreiche Regieanweisungen sein Rasen, Taumeln, Stillstehen – und ihn dazu bewegt, eine kleine Gemeinschaft von männlichen Verschwörern zu gründen. Jetzt kann nur noch die Rache den Weg zur Befreiung ebnen. Im dritten Akt werden tatsächlich „alle Verschworene“ – so die Regieanweisung – gemeinsam und determiniert „Rache! Rache! Rache!“31 rufen – ein Ruf, 29 LESSING, 1839, S. 104. 30 DERRIDA, 2002, S. 11. 31 SCHILLER, 2004b, S. 706.

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der das Chorlied in Gryphius’ Catharina von Georgien. Oder bewehrete Beständigkeit zitiert. Das Gebot, das in der Wiederholung ein Ausharren bis zur Erlangung der Rache verspricht, wendet sich im Barockdrama an den „Richter“ und „Herr[en] der Welt“32 in der Hoffnung, dass er mit Wache und Rache die tugendhafte christliche Königin Catharina vor Chach Abas, dem „König der Persen“, errettet. Bei Schiller gleicht Fiesco der Figur der unumschränkten Allmacht, an die sich die Anbetenden wenden, und er verlangt in eben dieser Szene von ihnen „Subordination!“33 Zudem droht Fiesco, die Anführung des Komplotts zu verweigern, solange er nicht Alleinherrscher bleibt: „Wenn ich nicht der Souverän der Verschwörung bin, so hat sie auch ein Mitglied verloren.“34 Neben dem Affekt liegt auf einer weiteren Ebene der sexuelle Trieb dem revolutionären Geschehen zugrunde. Die politische Produktivität des Sexuellen bzw. der Wunde am jungfräulichen Leib zeigt sich namentlich in noch ausgeprägterer Form in einem weiteren Zitat der bereits erwähnten antiken Vorlage: Auf die Frage hin, ob vier Patrioten ausreichen würden, um einen Tyrannen zu stürzen,35 überrascht Verrina sein Gegenüber mit einer Antwort, die ein Kunstwerk in das politische Geschehen einbettet und bringt das Gemälde eines Malers namens Romano ins Spiel, das „die Geschichte der Verginia und des Appius Claudius“36 darstellt, und zwar genau jenen Moment, in dem der Vater die Tochter in Anwesenheit des Despoten Claudius erstechen will. Mit diesem Motiv wollen die Verschwörer Fiescos Empathie gewinnen. Als „Anbeter der Kunst“, der sich „gern an erhabenen Szenen [erhitzt]“, erhofft sich Verrina, „[v]ielleicht, daß der Anblick seinen [Fiescos, M. EH.] Genius wieder aufweckt – Vielleicht –“.37 Ein Kunstwerk ist es also, das revolutionäres Handeln motivieren soll und mit dem Verrina Fiesco zum Anführer der Verschwörung gewinnen möchte. Beim Anblick des Gemäldes klaffen die Reaktionen des Republikaners Verrina und die des adeligen Fiesco weit auseinander: Zwar erhitzen sich beide am Malsujet, allerdings aufgrund der Identifikation mit verschiedenen 32 33 34 35 36 37

GRYPHIUS, 1882, S. 198. SCHILLER, 2004b, S. 707. EBD. EBD., S. 667. EBD. EBD.

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der abgebildeten Figuren, wie Lüdemann in ihrer Analyse dieser Szene feststellt.38 Während der entehrte Vater sich beim Anblick des Bildes in die römische Tyrannei hineinsteigert, sogleich aufwieglerisch zum Sturz der Doria aufruft und sich an der Inszenierung von politischem Enthusiasmus ,erschöpft‘, so die Regieanweisung, ist Fiescos Blick auf den begehrenswerten weiblichen Körper fixiert und dies, während eine Gräueltat an diesem begangen wird, womit er sich „mit dem Blick des Tyrannen selbst“39 identifiziert:40 Diesen Römerkopf findest du bewundernswert? Weg mit ihm. Hier das Mädchen blick an. Dieser Ausdruck, wie weich, wie weiblich! Welche Anmut auch aus den welkenden Lippen? Welche Wollust im verlöschenden Blick? […] Und noch die weiße blendende Brust, wie ange41 nehm noch von des Atems letzten Wellen gehoben!

Wenn Fiesco direkt auf diese Stelle folgend ein Loblied auf seine politische Größe anstimmt und diese Episode darüber hinaus von den Metaphern der Wehen, die die Geburt ankündigen und der Verschwörung, die in Windeln gewickelt liegt, umrahmt wird, dann erscheint Fiescos Genie aus dem Anblick eines sexuell aufgeladenen Kunstwerks bzw. des abgebildeten Objekts der Begierde geboren. Kunst soll demnach 38 Vgl. LÜDEMANN, 2007, S. 305. 39 EBD. 40 Auch in Lessings Emilia Galotti findet sich die Figur eines Malers, der die keusche Titelfigur dem Prinzen von Guastalla zum ersten Mal in Form eines Gemäldes vorführt und sein Begehren weckt. Damit würde Fiesco eine Parallele zum Usurpator des Bürgertums Hettore Gonzaga bilden, dessen Handeln sich an der Bildbetrachtung entzündet. Dies würde Schillers Text eine neue Dimension verleihen. Die Forschung über Fiesco ist sich nämlich darin einig, dass es Gianettino Doria war, der die Ehre der jung-fräulichen Tochter geschändet hat, wobei kein handfester Beweis dafür vorhanden ist. Auf die Frage nach dem Täter antwortet Bertha lediglich: „Eine Maske“. Wenn man außerdem bedenkt, dass Fiesco bis zu diesem Moment zwei Mal mit Gianettino Doria verwechselt wurde (einmal können die Stimmen der beiden nicht voneinander unterschieden werden, das andere Mal wird Fiescos Auftritt auf der Bühne antizipiert, stattdessen erscheint Gianettino), dann könnte man annehmen, dass es möglicherweise Fiesco gewesen ist, der die häusliche Grenze des Bürgerlichen übertreten hat. 41 SCHILLER, 2004b, S. 692.

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das Werk der Verschwörung inspirieren, hat mithin in mancher Hinsicht die Funktion einer Muse, die nach dem Erfüllen ihrer Rolle überflüssig und von der Bühne des Politischen verwiesen wird. Die Szene endet tatsächlich mit Fiescos Verwerfung der Kunst, ähnlich wie man sie aus dem zehnten Buch von Platons Politeia kennt, sowie ihrer Verbannung aus der Sphäre des Politischen: Du prahlst mit Poetenhitze, der Phantasie marklosem Marionettenspiel, ohne Herz, ohne tatenerwärmende Kraft; stürzest Tyrannen auf Leinwand – bist selber ein elender Sklave? Machst Republiken mit einem Pinsel frei – kannst deine eigene Ketten nicht brechen? (Voll und befehlend.) Geh! – Deine Arbeit ist Gaukelwerk – der Schein weiche der Tat – (Mit Größe, indem er das Tableau umwirft.) Ich habe getan, was du – nur maltest. (Alle erschüttert. Romano trägt sein Tableau mit Bestür42 zung fort.)

Kein Kunstwerk also, sondern ein Werk der Verschwörung – davon ist die Rede in der direkt darauf folgenden Szene –, das sich an dessen Stelle installiert. Dabei dient das Gemälde dazu, das revolutionäre Handeln ex negativo zu definieren, das von keiner Poetenhitze motiviert wird, keine Befreiung von Republiken mit Pinseln anstrebt und mithin kein Gaukelwerk sein wird. Fiescos politisches Tun ist edler, viel erhabener als diese Kunst. Betrachtet man seine Reaktion in Relation zur abgebildeten Szene, dann ist sein geheimer Plan leicht absehbar: Fiesco strebt keine Wiederherstellung der Republik an, wie etwa das auf dem Gemälde dargestellte römische Szenario endete, sondern einen Umsturz, einen Bruch mit der Herrschaft der Doria, womit seine politische Autorität über genealogische Diskontinuität etabliert werden soll. Die Selbstzeugung des männlichen Verschwörers ist mithin mehrfach mit der Verletzung der virgo intacta verschränkt, weshalb Fiesco in mancher Hinsicht einem Salvator gleichen soll. Gleich von Anbeginn der Ereignisse (die sich in der Zeit um den Jahreswechsel erstrecken) erinnert sich Fiescos Frau an eine Vision vor dem Altar am Tag ihrer Hochzeit, in der sie prophezeit, dass ihr Gemahl Genua erlösen werde.43 In einer Geste der Anbetung werden sich die Verschworenen (außer 42 EBD., S. 692f. 43 EBD., S. 645f. (Herv. von M. El Hissy).

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Verrina) Fiesco sprachlos zu Füßen werfen und zwar in jener Szene, in der er seine Teilnahme an der geplanten Verschwörung kundgibt. In einer öffentlichen Inszenierung von Gnade vergibt der Anführer der Verschwörung außerdem dem Mohr Hassan, der im Auftrag von Gianettino Doria Fiesco ermorden sollte, allerdings auf frischer Tat ertappt wird und nun ein vorgetäuschtes Verhör mitspielen soll. Dabei tritt die theologische Dimension des Politischen hervor. Schillers Rückgriff auf religiöses Vokabular legt nahe, dass der Erretter der Gemeinschaft von Verschwörern sakrale Züge tragen muss: „[…] er sprach wenig, aber streifte den blutenden Arm auf, das Volk schlug sich um die fallenden Tropfen, wie um Reliquien“, bevor er „auf tausendstimmigem Vivat nach Hause getragen [wurde]“.44 Fiesco wird zu einem christomimētēs, „the impersonator and actor of Christ“,45 und will somit genau die sakrale Funktion einnehmen, die ihm Ewigkeit verspricht. Das Haupt der Verschwörung ahmt dabei die väterliche Autorität des herrschenden Andreas Doria nach, die er eigentlich untergraben möchte, was Fragen nach dem Erbe aufkommen lässt. Wenn Genies nämlich, wie anfangs skizziert, im ausgehenden 18. Jahrhundert sich zunehmend von der älteren Generation emanzipieren und sich als Figuren des Anfangs phantasieren, dann werden Themen wie Genealogie, Vererbung und überhaupt die Kontinuität beim Übergang von einer Generation zur nächsten aktuell.46 Schon der Zankapfel zwischen Onkel und Neffe, der den Startschuss für die politischen Unruhen in Genua abfeuert, wirft Fragen nach dem politischen Erbe und der Genealogie des Staates auf. Wenn man bedenkt, dass dem Onkel der Ehrentitel „Vater des Vaterlandes“ verliehen wurde, womit der Greis als einzig wahrer Ursprung verewigt und die Legitimität jedes anderen Herrschers bestritten wird, dann unterbricht der Neffe mit seinem Umsturzversuch die Genealogie dieser Herrschaft. Dabei beschreibt Andreas Doria seine Vorstellung von Macht in einer Terminologie, die dem entspricht, was Ernst Kantorowicz in seiner einflussreichen Studie über The King’s Two Bodies als die Funktion des Herrschers im mittelalterlichen Europa nachgezeichnet hat: als heiliger Vermittler zwischen Himmel und Er-

44 EBD., S. 685f. 45 KANTOROWICZ, 1997, S. 65. 46 Vgl. hierzu vor allem: WILLER u. a. 2013, S. 14-25.

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de.47 In einem Disput wirft der herrschende Greis seinem Neffen vor, er habe „das schönste Kunstwerk der Regierung“ verletzt, „das ich selbst den Genuesern vom Himmel holte, das mich so viele Nächte gekostet, so viele Gefahren und Blut. Vor ganz Genua hast du meine fürstliche Ehre besudelt, weil du für meine Anstalt keine Achtung zeigtest. Wem wird sie heilig sein, wenn mein Blut sie verachtet?“48 Der regierende Doge von Genua führt mithin seine Macht auf einen heiligen Ursprung zurück und hat in seiner fürstlichen Funktion eine Position zwischen Gott und Mensch inne. Umso skandalöser wirkt damit die von Gianettino beabsichtigte Schandtat, mit der er die eigentlich unantastbare Regierungsform entwürdigen will. Bezeichnend an diesem Zitat ist die Funktionsweise der rhetorischen Stilfigur der repetitio, wie man sie in der Wiederholung des Possessivpronomens „mein“ beobachten kann („meine fürstliche Ehre“, „meine Anstalt“, „mein Blut“). Sie stiftet eine kausale Beziehung zwischen der Verletzung der fürstlichen Ehre und der Missachtung der politischen Anstalt, wobei zutage kommt, wie beide in der monarchischen Regierungsform zusammenfallen. Die Stilfigur lässt den begangenen Frevel allerdings in der dritten Wiederholung kulminieren, da darin zum Ausdruck kommt, dass der umstürzlerische Vorstoß dem Haus der Doria selbst entstammt. Die Frage nach dem Erbe wird durch das Genie radikalisiert. Denn als Figur, die ganz dem Geiste der Genieästhetik entspricht, setzt sich Fiesco über den „Vater der Genueser“ und „Vater des Vaterlandes“ hinweg und will sich in das Staatsgefüge einschalten, die seit Jahren bestehende Generationenfolge beenden und die Erbfolge der Doria durchbrechen. Die Republikgründung würde das Prinzip der Blutsverwandtschaft ersetzen, das heißt, „das Werk der Regierung“ der herrschenden Familie entreißen. Als Staatsoberhaupt und durch den Bruch mit der herrschenden Ordnung hat Fiesco keinen Vater, ist ursprungslos, ist selber Ursprung seines Selbst. Aus diesem Grund schlägt er das politische Erbe der eigenen Familie aus und wertet im Zeichen des politischen Aufstiegs die einfache Übernahme des Vermächtnisses vollkommen ab: „Ich bin zu stolz, mir etwas schenken zu lassen, was ich noch selbst zu erwerben weiß. Heute nacht werf ich meinen Ahnen 47 Kantorowicz bezieht sich an dieser Stelle auf eine Schrift des Normannischen Anonymus. KANTOROWICZ , 1997, S. 88. 48 SCHILLER, 2004b, S. 684 (Herv. im Original).

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den geborgten Schmuck in ihr Grab zurück – Die Grafen von Lavagna starben aus – Fürsten beginnen.“49 Mehr noch: Der Graf von Lavagna hinterlässt selbst kein Erbe. Er gebiert das Werk der Verschwörung, das sich allerdings nicht verselbständigt, sondern zusammen mit ihm untergeht und dies im Gegensatz zu dem, was Humboldt über die Trennung des Kunstwerks von seinem Urheber äußert: „Hat die Phantasie des Künstlers einmal das Bild lebendig geboren, so ist das Meisterwerk vollendet, wenn auch seine Hand in demselben Augenblick erstarrte.“ 50 Im Fiesco hingegen ist eine solche Ablösung kaum denkbar. Wohl kaum zufällig bezeichnet „Genie“ gleichermaßen einen Menschen mit überragender Begabung sowie die Geisteskraft selbst, so dass das Subjekt und das Objekt der Hervorbringung zusammenfallen und das Neue „in eine enge Beziehung zu dem gesetzt wird, woraus es hervorgeht […].“51 Fiescos Tod markiert jedoch die Rückkehr zur Herrschaft von Andreas Doria. Die Verschwörung kann also nicht ohne ihren Anführer fortbestehen. Den bisherigen Ausführungen war zu entnehmen, wie wenig Fiesco als Original-Genie mit einer demokratischen Regierungsform vereinbar sein kann. Dies stellt ein Dilemma dar, das Müller-Seidel anspricht: „Der Versuch, Demokratie zu retten, ist gebunden an eine wie immer beschaffene Größe des Menschen; aber diese Größe ist auch der Grund dafür, daß Demokratie und Republik scheitern.“52 In den zwei Monologen, in denen sich Fiescos gespaltene Einstellungen zu seiner Rolle manifestieren – soll er Republikaner werden oder Tyrann – prahlt er mit seiner Größe und gelangt zur Erkenntnis, dass er über dieser majestätischen Stadt mit Monarchenkraft brüten müsse.53 In der Mannheimer Bühnenfassung wird jedoch eine Möglichkeit für die Vereinbarkeit von politischer Größe und republikanischer Gleichheit dargeboten. Als Schiller nämlich vom Intendanten Dalberg aufgefordert wird, grundsätzliche Änderungen am Fiesco vorzunehmen und das Theaterstück besser an die Bühnenpraxis anzupassen, bevor es erneut zur Aufführung gebracht werden kann, entsteht die Mannheimer

49 50 51 52 53

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EBD., 2004b, S. 730 (Herv. im Original). HUMBOLDT, 1960, S. 277. Vgl. PARNES/VEDDER/WILLER, 2008, S. 123. MÜLLER-SEIDEL, 1990, S. 431. Vgl. SCHILLER, 2004b, S. 694f. u. S. 697-699.

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Fassung, die im Januar 1784 uraufgeführt wird, und in der das Ende der Handlung von der ursprünglichen Fassung enorm abweicht. In einer pathetischen und wenig glaubhaften, versöhnlichen Szene wird der Titelheld in einen Erlöser des Volkes, in den „glücklichsten Bürger“54 einer restituierten Republik verkehrt. Das Drama endet nämlich, nachdem der Aufstand gelungen ist, Fiesco sich mit Verrina versöhnt und nach republikanischem Vorbild die monarchische Gewalt zurückgewiesen, das Zepter zerbrochen und die Stücke unter das Volk geworfen hat, das den Namen Fiescos in Verbindung mit der Freiheit bejubelt. „Fiesco selbst mußte der Schöpfer sein“,55 spricht er, während er als vom Volk begrüßter Machthaber den Thron besteigt. Dabei deklariert er sich nicht als Usurpator, sondern als Vater der Revolution, dessen Geist in seiner eigenen politischen Schöpfung fortzuleben habe. Dabei hatte er erst einige Szenen zuvor auf sein Schwert gezeigt, das jetzt, wie bereits zitiert, das Gesetzbuch sei. Aus diesem Grund erscheint das plötzliche Bekenntnis zur republikanischen Freiheit eher unglaubwürdig, wobei man außerdem bedenken muss, dass Schiller sich deswegen genötigt sah, das Ende des Dramas zu modifizieren, zumal das Ertrinken sich technisch schwer und nur mit viel Aufwand auf der Theaterbühne hätte darstellen können. Fiescos Ingenium lässt also im Zeichen der dramatischen Überarbeitung nach; sein Geist sprüht keine Funken mehr und mündet in keine Selbstgeburt. Ähnlich ging es seinem Erschaffer Schiller, der zunächst keine zweite Hand an das Theaterstück legen wollte, um es „dem Handwerksmäßigen des Theaters“56 angemessen zu machen, wie es in der zeitgenössischen Dokumentation der Arbeit an der Zweitfassung heißt. Hinzu kommt der Umstand, dass Schiller das Theaterstück überarbeiten musste, während er an Nervenfieber erkrankt war und sich damit in einem Gesundheitszustand befand, der ihn sogar daran hinderte, nach Vollendung der dichterischen Arbeit die Abschrift selbst anzufertigen, weshalb er einem Regiments-Fourier die geänderte Fassung diktieren muss. Dabei soll das Diktat – berücksichtigt man die Polysemie dieses Wortes, die gleichermaßen Nieder- und Vorgeschriebenes bezeichnet – das diktatorische Prinzip des Original-Genies aufrechter54 SCHILLER 1985, S. 108. 55 EBD. 56 STREICHER, 1959, S. 183f. Das Buch ist ursprünglich anonym erschienen.

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halten, diesmal verkörpert in der Person des genialen Autors selbst. Die Trennung der Niederschrift von ihrem Urheber spiegelt allerdings in diesem Fall das Dilemma wider, das dem Anspruch auf geniale Ursprungsposition und dichterische Größe innewohnt. Denn das hervorgebrachte Kunstwerk steht hier nicht mehr in unmittelbarer Verbindung mit dem Verfasser, sondern kann nur über die Einschaltung eines ‚Mediums‘ vollendet werden; Schöpfung und Erschöpfung treten hierbei miteinander in Konflikt. Am Ende ist Schiller allerdings nicht nur wegen des Regeldiktats der Väter oder der Instruktionen der Intendanten verbittert, sondern zudem wegen der mangelhaften Rechtschreibung, die er in der diktierten Fassung entdeckt: „Als aber der Mann weggegangen war, wie entsetzte sich Schiller, als er seinen ihm so wert gewordenen Helden Fiesco in Viesgo, die liebliche Leonore in Leohnohre, Calcagne in Kallkahnia verwandelt und in den übrigen Eigennamen falsche Buchstaben, sowie die meisten Worte der gewohnten Rechtschreibung entgegen fand.“57 Der Geist der Genie-Ära duldet kein Diktat, instituiert aber im Zeichen der Auflehnung gegen Autoritäten selber ein diktatorisches Prinzip.

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Amputierte Männlichkeit und die Wundermittel der Julimonarchie: Balzacs Passion dans le désert, L’Élixir de longue vie und César Birotteau LISA ZELLER D a s V ol k u n d d er B ür g er k ö ni g : U n e pa s si o n d a n s l e d és er t Balzacs Comédie Humaine ist bevölkert von potenten Aufsteiger- oder Verbrechertypen, von Dandys und von beschädigten Männern, die in einer verweiblichten Welt leben. Die Zeichen der Männlichkeit, die letztere am Körper tragen, sind leer und verweisen auf keine Substanz mehr. Es sind Spuren der Kastration, die seit der Gründung der Julimonarchie immer nur an die Französische Revolution erinnern und offenbaren, dass Frankreich mit dem Scheitern Napoleons impotent geworden ist: Die Körper von Balzacs Figuren wollen semiotisch gelesen werden und ihre Männlichkeitszeichen sind stets politisch.1 Enttäuscht von der Herrschaft des Bürgerkönigs, der es nicht gelang, das revolutionäre Potenzial des Volkes und die von Napoleon freigesetzte Energie umzusetzen, meinte Balzac schließlich, dass nur die alten Werte einer

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Siehe hierzu DANGER, 1989, bes. S. 159-165; BROOKS, 1993; CREECH, 2002 und ELDRIGE, 2009.

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geordneten Welt die Einheit und die Potenz der Nation garantieren könnten. Dennoch zeigt sich nicht zuletzt an seinen Konstruktionen von Männlichkeit, dass unter der Oberfläche dieser Überzeugung andere Bilder brodeln. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, solche Zeichen der Männlichkeit auf ihr politisches Substrat zu befragen, deren Referenz nicht eindeutig ist und die damit den Blick auf eine Reflexion über das Politische und seine Konflikte und Widersprüche eröffnen. Ein Beispiel für ein solches mehrdeutiges Zeichen findet sich in der kurzen Novelle Une passion dans le désert (1830). Sie erzählt von einem napoleonischen Soldaten, der bei der Ägyptenexpedition 1798 seine Kameraden verliert, gefangengenommen wird, schließlich freikommt und sich alleine in der Wüste verirrt. Nachdem er eine als „roi du désert“2 bezeichnete Dattelpalme gefällt und sich in einer Höhle versteckt hat, erlebt er Unerhörtes: Beim Erwachen findet er den Eingang von einem Pantherweibchen versperrt. Er merkt schnell, dass dieses gesättigt ist und ihn nicht bedroht. Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, es zu töten und der Angst davor, dass dies misslingen könnte, beginnt er, den Panther zu streicheln. Es entwickelt sich eine leidenschaftliche Liebe, die jedoch tragisch mit einer ambivalenten Situation endet, in der der Soldat sich bedroht fühlt, weil die Pantherin ihn leicht in den Oberschenkel beißt, woraufhin er sie mit seinem Dolch tötet. Über den Verlust seiner Gefährtin ist er untröstlich. Eingebettet ist die Erzählung in eine Rahmenhandlung, in der der Erzähler nach einer Vorstellung des berühmten Tierbändigers Henri Martin in Paris seiner Begleiterin von der unerhörten Begebenheit berichtet, die ihm ein beinamputierter Soldat erzählt habe – der Protagonist der Binnenerzählung. Die Ursache für die Beinamputation bleibt in der Novelle ausgespart. Sie kann erzähllogisch nicht eindeutig hergeleitet werden, denn da der Soldat nach der Wüstenexpedition unter Napoleon noch viele Schlachten gekämpft hat (vgl. RP 216 u. 228), kann sie nicht Folge des leichten Bisses der Pantherin gewesen sein. Die Verstümmelung bleibt ein ambivalentes Zeichen, das Jean-Marie Roulin im Anschluss an Peter Brooks als Kastrationszeichen deutet, als Zeichen für den Verlust vor-

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BALZAC, 1830, S. 219. Ich zitiere diese Ausgabe im Folgenden mit der Sigle RP sowie den Seitenzahlen.

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maliger Potenz, das den Körper des Soldaten in die postnapoleonische Gegenwart einschreibt.3 Pierre Laforgue stellt die Novelle in den Kontext einer ganzen Reihe von Texten um 1830, die Geschichten von unmöglicher Liebe und absoluter Alterität erzählen. Er liest sie als metaphorischen und symbolischen Ausdruck für die Unmöglichkeit einer neuen Gesellschaft in einer materialistischen und von bürgerlichen Partikularinteressen bestimmten Zeit, deren einziger gemeinsamer Bezugspunkt das Geld ist.4 In Une passion dans le désert sieht er mit dem Bild der Wüste, in der sich die unmögliche Liebe entwickelt, die Kehrseite der Gesellschaft symbolisiert.5 Da er diese Liebesgeschichte als Symbol bzw. Metapher deutet, valorisiert er die paradigmatische Ersetzung gegenüber einer Lektüre, die das Syntagma der Narration stärker mit einbeziehen würde. Die Frage nach der Bedeutung dieser besonderen Passion im Kontext von 1830, das heißt die Fragen danach, welche Gesellschaft diejenige hätte gewesen sein können, die durch die Liebe zwischen Soldat und Panther symbolisiert wird, und wodurch sie zerstört wird, versucht er nicht zu beantworten. Ähnlich verfährt Sandy Petrey, der die monströse Identität der anthropomorphisierten Pantherin mit der Identitätskrise Frankreichs nach der Julirevolution in einen abstrakten paradigmatischen Bezug zur Identitätskrise Frankreichs nach der Julirevolution setzt. Ihm zufolge wurde Louis-Philippe, der „roi des barricades“, mit seiner Vereinigung der Gegensätze von Revolution und Monarchie als ein phantasmatisches Zwitterwesen erfahren, das, wie Balzacs Pantherfrau, zur verstörenden Wirklichkeit geworden sei.6 Anders als Laforgue und Petrey, die das Motiv der Beinamputation außer Acht lassen und das narrative Syntagma vernachlässigen, bieten Dorothy Kelly und Kathleen Hart allegorische Lektüren an. Sie deuten die Novelle als fiktionale Reflexion über Kolonialbeziehungen und Unterdrückung im eigenen Land und beziehen das amputierte Bein auf 3

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Siehe B ROOKS, 1993, S. 79-82 und daran anschließend ROULIN, 2005, S. 8-10. Janet Beizer liest die Novelle als Ödipusgeschichte und die ,Kastration‘ als Strafe für den Vatermord und den Inzest mit der Mutter (BEIZER, 1986, S. 48-99, bes. S. 77-78, 84-85 u. 92). LAFORGUE, 1998, bes. S. 10-58. Er spricht in Bezug auf die Passion vom „envers de la société“, vom „écart radical“. E BD., S. 17, siehe zur Analyse der Novelle S. 147-162. PETREY, 2001. Das Zitat befindet sich auf S. 180.

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das Scheitern von Napoleons kolonialistischem Projekt.7 Hart findet überzeugende Parallelen der Novelle zur Invasion in Algerien 1830, ihre Deutung beantwortet allerdings nur teilweise die Frage danach, warum Balzac gerade nach der gelungenen Einnahme Algiers unter Karl X. noch im Dezember 1830 über den Imperialismus nachdenkt. Verknüpft man ihre Lektüre mit den früheren Deutungen der Amputation als Kastrationszeichen, so ließe sich dieses als Ausdruck der Angst davor lesen, dass die Potenz der französischen Nation, die in der Restauration noch hatte bewiesen werden können, nach der Julirevolution wiederum in Frage steht. Die Vielzahl von Deutungen zerstört jedenfalls die Illusion einer eindeutigen politischen Referenz des Männlichkeitszeichens. Ich möchte im Folgenden das Syntagma der Novelle in seinem Bezug zur Innenpolitik, der sich Balzac mit seiner journalistischen Tätigkeit im Herbst 1830 vorrangig widmet, fokussieren und dabei eine Fährte verfolgen, auf die die zeitgenössischen Leser geschickt worden sind. Die Novelle erscheint erstmals am 24. Dezember 1830 in der Revue de Paris, gefolgt von einem anonym publizierten Essay mit dem Titel „De notre royauté en 1830. De notre position politique après les journées de décembre“. Der Autor drückt dort seine Erleichterung über die Rettung seines Landes aus, nachdem sich die konstitutionelle Monarchie etabliert hat und die Nationalgarde die Volksaufstände der vorangegangenen Wochen eindämmen konnte. Im Oktober hatte es Aufstände gegeben, bei denen die Pariser Öffentlichkeit die Todesstrafe für die ehemaligen Minister Karls X. in den für Dezember anberaumten Prozessen forderte. Am 21. Dezember wurde das Urteil verkündet, das jedoch milder ausfiel und nicht auf Todesstrafe lautete, weil die neue Regierung gemäßigt bleiben und sich nicht in die Tradition von 1793 stellen wollte – so sollte etwa auch die Entscheidung für Louis-Philippe als neuem König dem Innenminister Guizot zufolge die Revolution in ihrem ersten Stadium bannen und ein neues 1793 verhindern. Da das Urteil nicht dem Volkswillen entsprach, wurden außerordentliche Maßnahmen ergriffen, um auf die erwarteten Unruhen reagieren zu können. 7

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Für Kelly ist es außerdem Symbol dafür, dass die Franzosen die Gewalt ihrer eigenen Dominationsgeste auf den Anderen – hier den zu domestizierenden Panther – projizieren; Hart liest es als symbolischen Ausdruck einer Trauer über den Verlust vertrauensvoller Beziehungen. KELLY, 2011/12, S. 2-3, 9 und HART, 2012, S. 414f.

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Die Presse hatte im Herbst das Bild eines beunruhigenden, bedrohlichen und rachsüchtigen Volkes verbreitet und damit Erinnerungen an die Terreur geweckt, sodass ein neues Bild des Volkes als souveräne, politisierte Furie das Bild des politisch desinteressierten Volkes vom Juli ablöste. Unter die Diskurse über bevorstehende Massaker und Revolutionen mischten sich immer wieder idealisierende Stimmen, die an das gemäßigte, ‚gute‘ Volk vom Juli erinnerten und erklärten, dass es nur vom rechten Weg abgekommen sei, aber leicht beherrscht werden könne. Es müsse dennoch als politische Macht wahrgenommen und berücksichtigt werden.8 Der Kommentator der Revue de Paris äußert sich wenige Tage nach dem Urteilsspruch folgendermaßen: „La semaine a commencé dans des angoisses d’inquiétude, elle finit dans des transports de joie. C’est une ivresse et un enthousiasme général. Nous sommes sauvés ! entend-on dire partout, nous sommes sauvés !“9 Auf ein Lob der neuen, auf Legalität und die Unterstützung des Volkes gegründeten Regierung und des neuen Königs folgen Überlegungen über die Aufstände der „canaille“, der „partie inférieure et honteuse de la nation de juillet qui vient de se remuer dans les rues de la ville“ (RP 233). Volk und Regierung haben zwischen Juli und Dezember nicht gewusst, welchen Teilen der liberalen Partei sie vertrauen konnten. Diese Frage sei im Dezember gelöst worden, indem man das gute vom bösen Volk getrennt habe: „Il y a un esprit de désordre qui vient d’éclater et d’être vaincu ; c’est cet esprit qu’il s’agit de terrasser tout-à-fait. Il faut donc continuer contre cet ennemi de la révolution de 1830, qui s’en disait l’allié jusqu’au jour où il s’est armé contre elle […].“ (RP 235) In diesem Kontext liest sich Balzacs Novelle über ein gefährliches Stelldich-ein zwischen einem Soldaten und einem weiblichen Panther als Allegorie auf die politischen Ereignisse und als Gegentext zum zitierten Essay: Der Leser der Erzählung ist am Ende ebenfalls zumindest teilweise erleichtert über den Ausgang einer Handlung, deren Spannung trotz der starken Zuneigung der beiden Akteure nie ganz aufgelöst wor8

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Siehe zu den Ministerprozessen, den Volksaufständen sowie den Pressestimmen in deren Kontext JAKOBOWICZ, 2009, S. 301-312. Jakobowicz’ Beispiele zeigen, dass das Thema im Herbst 1830 stets auf den ersten Seiten der Zeitungen behandelt wurde. „De notre royauté de 1830“, 1830, S. 229 (Herv. im Original). Ich zitiere den Essay im Folgenden ebenfalls mit der Sigle RP, gefolgt von den Seitenangaben.

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den war. Anders als im Essay wird die Erleichterung hier jedoch ambivalent besetzt: Die Liebe hatte die Gewalt bis dahin verhindern können und der gewaltsame Tod der Raubkatze erscheint als ein unglücklicher Unfall bzw. als eine übertriebene Reaktion, die nicht notwendig gewesen wäre. Die Verkörperung des Volkes als wilde, irrationale, phallische und kastrierende Frau gehört zum Inventar der politischen Bildlichkeit der Revolution.10 Balzac verwendet diese Bilder später selbst mit der Bäuerin Catherine in Les Paysans (1844) sowie der Revolutionsverliererin Bette in La Cousine Bette (1846), wo die Assoziation von revolutionärer Weiblichkeit und Animalität auch paronomastisch – la bête – angedeutet ist. In seiner dritten „Lettre sur Paris“ vom Oktober 1830, in der er sich mit den Volksaufständen und den Prozessen der Minister beschäftigt, vergleicht Balzac das Volk explizit mit dem berühmten Löwen des Dompteurs Henri Martin: „N’est-ce pas effrayant d’entendre des voix vengeresses demandant des têtes aux murs du Palais-Royal ! J’ai pensé au lion de M. Martin, tranquille tant qu’il ne goûtera pas au sang !“11 Er spricht sich selbst dafür aus, die Forderungen der Nation zu berücksichtigen: Si le gouvernement protège ses anciens ministres, il est perdu. La force qui l’a élevé le détruira. Si le gouvernement les abandonne à la fureur d’une vengeance populaire, où sera la justice, la dignité ? […] Condamnera-t-elle [sc. la Cour des Pairs] à mort des hommes condamnés par toute la nation ? […] Pour ceux qui ont l’habitude à juger les hommes et les choses, ces événements disent à haute voix que les ministres doivent 12 être sacrifiés hardiment.

Die Rahmenerzählung der Novelle setzt die Liebe in der Wüste in Bezug zur Ménagerie in Paris und erwähnt Henri Martins Hyänenspekta10 Siehe hierzu etwa HERTZ, 1983, bes. S. 27-31 und KADISH, 1991, S. 151, passim, zu Balzac bes. S. 37-38. u. 59-61. 11 BALZAC, 1996, S. 867-981, hier S. 883. Ich zitiere diesen Band der Œuvres diverses im Folgenden im Fließtext mit der Sigle ŒD gefolgt von den Seitenzahlen. 12 EBD. Balzac kommt mehrfach auf das Thema zurück. Vgl. etwa die „Lettre VII“ vom 29. November, in der er einen „conflit dangereux entre la garde nationale et le peuple“ (ŒD 913) vorhersieht.

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kel (RP 215), das Balzac selbst gesehen hat.13 Als blutrünstige Hyäne wiederum bezeichnet schon Hugo das Volk in Le Dernier Jour d’un condamné (1829).14 1830, als man beginnt, die basses classes diskursiv vom Volk zu unterscheiden, wird in der Passion dans le désert also noch phantasmatisch-imaginär überschrieben, was in den Jahren vor 1848 zum explizit ausgestalteten Bild gerinnen kann. In seiner „Enquête sur la politique des deux ministères“ (1831) vertritt Balzac außerdem die Meinung, dass man wegen der Inkompatibilität der königlichen Souveränität und der Volkssouveränität eine vermittelnde Ebene zwischen König und Volk benötige, um zu verhindern, dass beide sich gegenseitig zerfleischen (dévorer15). Die Angst davor, „dévoré“ zu werden, verfolgt nun den Soldaten aus der Passion, seitdem er alleine in der Wüste ist, besonders aber, seit er mit dem Pantherweibchen konfrontiert worden ist (RP 219 u. 228). Wie der Bürgerkönig angesichts des Volkes muss sich der Soldat die zentrale Frage stellen, ob die Raubkatze Feindin oder Freundin, wild oder zahm ist.16 Das Tier ist nicht nur anthropomorph, weiblich und erinnert den Soldaten an seine eifersüchtige und bedrohliche frühere Geliebte Virginie, die er Mignonne genannt hatte, sondern wird auch in Metaphern beschrieben, die es zu einer Königin machen: Die Pantherin erscheint wie reich gekleidet und geschmückt (vgl. RP 221), sie ist „courtisane“ (RP 222), „sultane“ (RP 223 u. 227), „princesse“ (RP 223) und „reine“ (RP 224 u. 228). Beizer deutet sie deswegen als Mutterfigur, die der ödipale Soldat begehrt, nachdem er mit der königlichen Palme symbolisch den Vater getötet hat.17 Weil sie der psychoanalytischen Deutung den Vor13 Siehe hierzu KELLY, 2011/12, S. 7. 14 Darauf weist JAKOBOWICZ, 2009, S. 302 hin. 15 „[Q]uand un roi se trouve en présence d’une nation, il est bientôt dévoré par elle. Il doit nécessairement périr […]. Mettre un roi seul devant son peuple, c’est le livrer à de prochaines fureurs, le prédestiner au martyre ; car sa souveraineté et celle de la masse sont incompatibles. L’une des deux est la plus forte et tue l’autre. Égales, il y a une lutte perpétuelle dans laquelle les avantages remportés mènent à une haine qui se termine par un duel à mort.“ (ŒD 1009) Balzac stellt die Monarchie auf der Basis der Volkssouveränität deswegen jedoch nicht in Frage. Es geht ihm an dieser Stelle vielmehr darum, seine Leser von der Notwendigkeit einer vermittelnden Instanz zu überzeugen. Vgl. hierzu GUYON, 1967, S. 401f. 16 BEIZER, 1986, S. 80 hebt diese Frage hervor, ohne auf den politischen Kontext einzugehen. 17 EBD., S. 86.

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rang vor einer politischen gibt, lässt sie die Analogie zum souveränen und deshalb königlichen Volk außer Acht: Letzteres hat sich – wie die phallische Pantherin – soeben ,ermannt‘ und ist deshalb bedrohlich, andererseits wird es immer wieder infantilisiert und idealisiert und damit seiner Bedrohlichkeit zu berauben versucht. Die Novelle lässt sich insofern nicht nur als Reflexion über die Repression eines ,Anderen im Innern‘ unter anderem in Form des unkontrollierbaren, wachsenden Proletariats in Analogie zur Unterdrückung des kolonialen Anderen lesen,18 sondern auch als Allegorie der Beziehung zwischen den beiden neuen Souveränen. So fürchtet der Soldat beim Anblick des Panthers in der Höhle um sein Leben: „[S]a terreur fut au comble, car il ne pouvait plus révoquer en doute l’existence de son terrible compagnon, dont il avait sans doute usurpé l’antre royal…“ (RP 220, Herv. von L. Zeller). Der König von Volkes Gnaden knüpft 1830 an die Enthauptung Ludwigs XVI. an, usurpiert jedoch in gewisser Weise im gleichen Moment die Volkssouveränität und muss deshalb um seinen eigenen Kopf fürchten – bezeichnenderweise hat Balzac den letzten Nebensatz nach seiner ,Konversion‘ zum Legitimismus in der auf 1832 datierten Fassung der Furne-Ausgabe von 1846 getilgt und durch den Passus „dont l’antre royal lui servait de bivouac“19 ersetzt. Der Aspekt einer Usurpation der Souveränität geht dabei verloren. Louis-Philippe kann sich des Verhältnisses seiner Macht zu der des souveränen Volkes in den Monaten nach der Julirevolution ebenso wenig sicher sein wie der Soldat, der zum Sklaven der Raubkatze wird („La sultane du désert agréa les talens [sic] de son esclave […].“ RP 223) und doch immer wieder einen wohlwollenden Blick in ihren Augen zu erkennen meint (vgl. ebd.). Dank der guten Erfahrungen mit dem friedlichen Tier, das statt seiner sein verendetes Pferd verschlingt und ihn sogar aus dem Treibsand rettet, wagt der Soldat die deutlich erotisierte Annäherung. Er 18 HART, 2012, S. 412. Auch D. Kelly macht mit Verweis auf Edward Said auf die Analogie der Domestizierung von Frauen, Proletariat und kolonialem Anderen aufmerksam, ohne die Bedeutung der Königsmetaphorik, mit der die Pantherin besetzt wird, näher zu befragen (KELLY, 2011/2012, S. 712). 19 BALZAC, 1977, S. 1224. Vgl. zu den verschiedenen Fassungen EBD., S. 1839-1840. Patrick Berthier, der die Pléiade-Ausgabe besorgt hat, notiert diese Änderung allerdings nicht. Ich zitiere die Comédie Humaine in der Pléiade-Ausgabe im Folgenden unter der Sigle CH sowie der Angabe des Bandes und der Seitenzahlen.

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gibt dabei zuerst nicht den Gedanken auf, es zu töten (vgl. RP 224-228), hat allerdings Angst, in der „derniere convulsion qui l’agiterait“ (RP 224) selbst getötet zu werden. Dies setzt ihn wiederum in Analogie zu Louis-Philippe, der im Dezember 1830 fürchten muss, dass ihn die juristische Entscheidung gegen das Volk das Leben kosten kann. Die Aggression des Volkes richtet sich jedoch in erster Linie gegen die längst abgesetzte Regierung, ähnlich der des Panthers, der das tote Pferd anstelle des Soldaten verspeist. Balzac kritisiert in seiner „Enquête“ die Uneinigkeit der Minister der neuen Regierung – „Les uns voulant s’appuyer sur la révolution, les autres cherchant à la comprimer. C’était se défier du peuple.“ (ŒD 1011) Dieses Misstrauen kommt in der Novelle zum Ausdruck. Insofern muss das Bild des verlorenen Beines nach der Tötung des Panthers nicht allein als metonymisches Kastrationszeichen gelesen werden. Es ist auch eine Metapher: Der neue Souverän verliert mit der Entscheidung gegen das Volk die Machtbasis, auf der er steht. Mit der überzogenen Reaktion auf die Forderungen des Volkes zerstört er seine eigene Legitimitätsgrundlage und beschneidet damit selbst seine Souveränität. Vor diesem Hintergrund sind die Reue und die Trauer des Soldaten angesichts der toten Geliebten umso gerechtfertigter. Ich würde die Passion in der Wüste, die über die Pariser Ménagerie und den Dompteur in Analogie zur zeitgenössischen Gesellschaft gesetzt wird, deshalb als Symbol für eine absolut neue Gesellschaft lesen, für deren Konzeptualisierung es neuer Kategorien bedarf. Ihre Allegorisierung kann daher nicht auf tradierte erotische Schemata zurückgreifen. Da sie als Reflexion über eine Alternative, die 1830 durchaus möglich gewesen wäre, gelesen werden kann, ist sie meines Erachtens mehr als ein Symbol für das „dysfonctionnement“20 der Gesellschaft. Die Liebe zwischen Soldat und Panther ist der Entwurf einer neuen Gesellschaft, die die Wüste, in der der Soldat seit dem Verlust der napoleonischen Gemeinschaft umhergeirrt war, zu einem lebenswerten und lebensbejahenden Ort macht. Nachdem der Soldat im Sand der Wüste nur eine „lame d’acier“ (RP 218) zu erkennen vermag, die an die Guillotine erinnern kann, träumt er von Frankreich, das ihm in den Farben der Trikolore erscheint: „Le ciel et la terre étaient en feu. […] Regardant tour à tour

20 LAFORGUE, 1998, S. 35.

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l’espace blanc et l’espace bleu, il rêvait à la France […].“ (RP 218) 21 Der Revolutionsbezug ist über die Metaphorisierung der gestürzten Palme als König der Wüste hinaus auch durch die Herkunft des Soldaten aus der Provence und damit dem revolutionären Midi gegeben.22 Der Soldat findet in der Höhle schließlich ein Asyl, eine neue Heimat (vgl. RP 219) und in der Pantherfrau Gesellschaft: „Le désert était comme peuplé.“ (RP 225) Die Liebe zwischen den beiden ist damit keine unmögliche Liebe, sondern steht in direktem Bezug zur absolut neuen politischen Institution, die dem Kommentator der Revue de Paris zufolge auf der „heureuse égalité du roi et du peuple“ (RP 231) gründet. Die neue Gesellschaft steht schließlich nicht nur im Zusammenhang mit einer revolutionären Bildlichkeit, die auf die innenpolitischen Ereignisse in Frankreich verweisen. Mit dem Soldaten, der sich aus der Gefangenschaft der „Maugrabins“ (RP 216) befreien und seine Fesseln durchtrennen konnte, kommt auch die Hoffnung auf die wiedererlangte nationale Souveränität und die Befreiung aus den Fesseln von 1815 zum Ausdruck, deren Enttäuschung einer der Gründe für Balzacs Abwendung von der neuen Regierung sein wird.23 In diesem Zusammenhang sei noch erwähnt, dass die Verknüpfung des kolonialistischen Sujets mit der französischen Innenpolitik auch historisch begründet ist, hatte doch die erfolgreiche Einnahme Algiers keinen geringen Anteil am Ausgang der Julirevolution: Weil die wichtigsten französischen Offiziere in Algerien weilten, konnte die Armee den Aufständen keinen Einhalt gebieten und nicht verhindern, dass der absolute König abgesetzt wurde.24 Mit den Ereignissen vom Herbst 1830 wird die neue Form des corpus politicum sowie der Einheit der Nation zerstört. Nicht nur die Muti21 Auch dieses Bild hat Balzac für die Furne-Ausgabe verändert. Er schreibt dort: „Regardant tour à tour l’espace noirâtre et l’espace bleu, le soldat rêvait à la France“. (CH VIII 1222) In der Fassung von 1836/37 hatte Balzac hinzugefügt, dass der Soldat sich in der Convention engagiert habe, diesen Zusatz jedoch für die Furne-Ausgabe wieder getilgt (vgl. CH VIII 1842). 22 In Hugos Misérables (1862) etwa kommen die Wegbereiter der Revolution von 1830 und des Volksaufstandes vom Juni 1832 allesamt aus dem Midi (vgl. HUGO, 1995, S. 818). 23 Dieses Thema beschäftigt Balzac vorrangig in der „Enquête“ von 1831, wo er die Rückerlangung der nationalen Unabhängigkeit sogar zum primären Grund für die Julirevolution erklärt (ŒD 989 u. 998-1000). 24 Dies erwähnt B ROOKS, 1999, S. 32.

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lation des Soldaten, sondern auch die Fragmentierung des elliptischen Textes zeugen von der Desillusionierung.25 Harts Feststellung, dass die Äußerungen der Gefährtin des Erzählers in der Rahmengeschichte immer wieder unterbrochen werden,26 lässt sich auch auf die Stimme des Volkes beziehen, dem mit der neuen politischen Entwicklung das Wort abgeschnitten wurde.27 Die Verbindung zwischen Regierung und Volk, die der Essayist der Revue de Paris ausdrücklich als den Garanten der Stärke der neuen Staatsform lobt,28 wird damit in Frage gestellt. Während der Journalist die „canaille“ als den Abschaum der Gesellschaft aus der Nation ausschließen muss, um jeden Zweifel an der neuen Eintracht auszuräumen, antwortet Balzacs Novelle mit Melancholie auf das Geschehen: [J]’ai lu votre plaidoyer en faveur des bêtes ; mais comment deux personnes si bien faites pour se comprendre ont-elles fini ?... Ah ! voilà !... Elles ont fini comme finissent toutes les grandes passions, par un malentendu ! On croit de part et d’autre à quelque trahison, l’on ne s’explique pas par fierté, l’on se brouille par entêtement. (CH VIII 29 1231)

Balzac empört sich in seiner ersten „Lettre sur Paris“ vom 26. September über die belgische Bourgeoisie, die mit Bürgerwehren die 25 Auf die elliptische Struktur hat insbesondere J. Beizer hingewiesen (1986, S. 50-57, 66-67 u. 97). 26 HART, 2012, S. 405. 27 Vgl. dazu folgendes Zitat aus dem Journal des ouvriers vom 10. Oktober 1830: „Avant, la classe ouvrière avait un bâillon ; pendant, elle la retire ; après, on veut lui remettre son bâillon.“ (Zit. nach JAKOBOWICZ , 2009, S. 301, Herv. im Original) 28 „[Le gouvernement] est le plus fort peut-être de toute l’Europe : car il est au lendemain des révolutions, tandis que tous les autres sont à la veille. Il a l’assentiment des deux chambres, l’amour de la France, l’appui décidé et résolu de la garde nationale. Ce qu’il veut, ce qu’il médite, les chambres le votent de bonne et libre volonté, et la garde nationale le fait exécuter avec une infatigable fermeté. Où y a-t-il donc plus de puissance véritable ? L’union des peuples avec leur gouvernemens [sic] ne fait-elle pas la grande force des états ? […] [N]ous avons un roi selon le cœur et selon l’esprit du peuple ; qui a fait et qui a pensé ce qu’a fait et ce qu’a pensé le peuple, un roi simple et bourgeois. C’est là un grand bonheur […].“ (RP 230) 29 Diese Passage hat Balzac 1845 hinzugefügt (vgl. CH VIII 1844).

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Volksaufstände unterdrückt hatte, zu denen es im Anschluss an die französische Julirevolution kam und die schließlich zur Unabhängigkeit Belgiens führen sollten.30 Die Passion dans le désert suggeriert mit der Mutilation des Soldaten, dass der Gewaltakt gegen die neue Einheit von Regierung und Volk, die die Spaltung der Nation seit 1789/93 hätte überwinden können, auf die Stärke der politischen Macht selbst zurückwirkt. Da sie auf ambivalente Weise mit dem Missverständnis zusammenhängt, lässt sich die Amputation als Zeichen dafür lesen, welche Konsequenzen die Ausgrenzung des als Bedrohung erfahrenen Volkes mit sich bringt.31 Kurz vor dem tragischen Missverständnis zeigt sich die Pantherin eifersüchtig auf einen Adler, dem der Soldat nachblickt (vgl. RP 227) und der nur allzu deutlich auf die napoleonische Ära und den Vol de l’Aigle von 1815 anspielt. Hier scheint das Modell des potenten Kaiserreichs auf, das Balzac nach der Julirevolution in Aussicht gestellt sah: „[L]a nouvelle dynastie […] se serait popularisée, aurait recommencé Napoléon sans la tyrannie.“ (ŒD 999) Während sich schon in der Eifersucht des Panthers eine Skepsis gegenüber der Möglichkeit ausdrückt, das autokratische Kaiserreich mit der Anerkennung des Volkes als neuem politischen Partner zu vereinigen, suggeriert die Verstümmelung des Soldaten im zeitgenössischen Paris, dass beides gescheitert ist: Die neue Macht hat das Volk als ihre Basis verloren und der napoleonische Adler ist vorbeigeflogen. Erst nachdem oder weil die neue Verbindung von Volk und König gescheitert bzw. in Frage gestellt ist, so ließe sich schließen, bleibt 1830 als Mutilation und als Wiederholung von 1793 im Gedächtnis. Die neue Form der polis scheitert an der Erinnerung an 1793 – die Erinnerung des Soldaten an seine bedrohliche frühere Geliebte – und damit in gewisser Weise am Überleben tradierter Ängste und alter Denkstrukturen. Diese lassen neue politische Formen ebenso undenkbar erscheinen wie die Erotik

30 „Nous avons été presque tous dégoûtés en apprenant que la bourgeoisie trahissait le peuple […].“ (ŒD 872) Vgl. hierzu sowie zu Balzacs Kritik an der Repression von Volksaufständen GUYON, 1967, S. 389-394. 31 Vgl. zum Ausschluss des Volkes aus der Volkssouveränität in der Julimonarchie, der im Vautrin-Zyklus konterkariert wird, LEOPOLD, 2011. Das Modell des herkulischen Supermannes Vautrin zeigt, dass Volkssouveränität bei Balzac energetisch besetzt ist (E BD.).

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zwischen Mensch und Tier,32 die vom Rahmenerzähler nie wirklich ausgesprochen werden kann und immer im Impliziten verbleibt. Damit ist die Frage nach der Bedeutung der sexuellen Zähmung gestellt, die die Rahmen- mit der Binnenerzählung verbindet und die das eigentliche Skandalon der Novelle darstellt. Kaum implizit wird suggeriert, dass Henri Martin und der Soldat die Raubtiere sexuell befriedigen, damit sie sich ihnen unterwerfen.33 Man wird das erotische Geheimnis der männlichen Dominanz über Frau und Tier, das im Vordergrund der Fiktion steht, im Kontext dieser Lektüre als Frage nach dem Grund für das Wohlwollen des Volkes gegenüber Louis-Philippe lesen können. Während der Essayist der Revue de Paris betont, dass der neue König die Passionen des Volkes anders als etwa Cromwell gerade nicht bedient habe (vgl. RP 230), suggeriert die Novelle, dass das Volk auf irgendeine Weise verführt werden muss. Auch wenn nicht immer klar ist, was der Panther gefressen hat, scheint er in Gegenwart des Soldaten satt zu sein. Da die Vereinigung von königlicher und Volkssouveränität nicht durch eine materielle Verführung möglich wird, die in Analogie zu einer Zähmung durch Futter stehen würde, bleibt die Art der Betörung im Unbestimmten. Man könnte die Erotik deshalb als Chiffre für das Versprechen von Gleichheit und Respekt deuten, das LouisPhilippe dem Volk im Juli 1830 gibt, wobei Balzacs Text offenbart, dass dieses Versprechen nur der Kontrolle und der Bannung möglicher Aggressionen dient und die neue Macht jede bedrohliche Emanzipation des Volkes sofort mit militärischer Gewalt beantwortet. Dass neue politische Formen am Überleben von Traditionen und alten Denkstrukturen scheitern, zeigt sich schon vor der Begegnung des Soldaten mit der Pantherin in dem Moment, in dem jener die Palme zu Fall gebracht hatte: Quand, vers le soir, ce roi du désert tomba, le bruit de sa chute retentit au loin, et ce fut comme un gémissement poussé par la solitude. Le soldat en frémit comme s’il eût entendu quelque voix lui prédire un malheur…..

32 Vgl. hierzu Leopold, der die Häufung von deviantem Gender bei Balzac als Symptom der verdrängten Volkssouveränität deutet, wobei er insbesondere die Figur des Vautrin im Blick hat (LEOPOLD, 2011, S. 97). 33 Vgl. hierzu BEIZER, 1986, S. 52-54.

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Lisa Zeller Mais, comme un héritier, qui ne s’apitoie pas long-temps [sic] sur la mort d’un parent, il dépouilla ce bel arbre des larges et hautes feuilles vertes qui en sont le poétique ornement, et s’en servit pour en réparer la natte sur laquelle il allait se coucher (RP 219).

Der aus der Ferne gehörte Sturz der Palme öffnet den Schallraum der Revolution, in dem sich die Handlung der Novelle situiert. Indem der Soldat von den Blättern der gestürzten Palme profitiert, unter der er kurz zuvor noch Zuflucht gesucht und die er dann zu fällen versucht hatte, steht er auch hier in Analogie zu Louis-Philippe, der sich nach der Julirevolution mit den Überresten der Monarchie in seiner neuen Macht eingerichtet hat. Das Urteil des Erzählers, der den Soldaten wegen dieser Plünderung als pietätslosen Erben bezeichnet, knüpft die Assoziation zur Figur des Don Juan aus L’Élixir de longue vie. An dieser Erzählung, die ebenfalls im Herbst 1830 entstanden ist, lassen sich die an Une passion dans le désert entwickelten Fragen noch weiterverfolgen.

L’ Élixir de l ongue vi e u n d di e w u n d er b ar e Ge ne al ogi e der J uli m onar c hi e Der libertine und materialistische Don Juan Belvidéro, Protagonist der am 24. Oktober 1830 unter dem Titel Festin/Fin ebenfalls in der Revue de Paris publizierten Novelle, hat einen äußerst langlebigen Vater („[I]l n’y a qu’un père éternel dans le monde, et le malheur veut que je l’aie“, CH XI 475), der dem Tod unbesorgt ins Auge blicken kann, besitzt er doch ein kleines Kristallfläschchen mit einer wundersamen Flüssigkeit, die ihn wieder zum Leben erwecken soll. Er ist sich seiner Sache so sicher, dass er behaupten kann: „Dieu, c’est moi“ (CH XI 480), hat jedoch nicht mit dem Egoismus seines Sohnes Juan gerechnet, den er darum bittet, ihn nach seinem Ableben mit dem Elixier einzureiben. Nachdem dieser das Wundermittel am Auge des verstorbenen Vaters getestet hat, tötet er das zum Leben erweckte Auge und reißt das väterliche Vermögen und dessen Balsam an sich. Juan lebt ein ausschweifendes Leben und versteckt sein Vermögen, als er das Nahen des eigenen Todes spürt, um in seinem zweiten Leben darauf zurückgreifen zu

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können. Seinen gehorsamen Sohn Philippe bittet er um das, was er selbst seinem Vater verweigert hat. Als Philippe Kopf und Arm des Leichnams eingerieben hat und vom wiedererweckten Arm ergriffen wird, erschrickt er und lässt den Flakon zu Boden fallen. Die Zeugen der unvollständig gebliebenen Wiederauferstehung feiern das Ereignis als Wunder, bis der fluchende und gotteslästernde Kopf während der Messe vom toten Körper stürzt und den Kopf des predigenden Priesters verschlingt. Balzac prangert im Avis au lecteur den unmoralischen Umgang mit dem Erbe als grundlegendem Prinzip der europäischen Kultur an und betont ausdrücklich, dass das Veröffentlichungsdatum der Erzählung bei deren Deutung zu berücksichtigen sei (vgl. CH XI 474). Vor diesem Hintergrund ist das Motiv des Elixiers, an dem sich die Referenz auf den zeitgenössischen Materialismus auf das Wunderbare hin öffnet, äußerst ambivalent: Indem es zum Instrument wird, mittels dessen die Väter versuchen, ihr eigenes Leben zu verlängern und damit den Söhnen ihr Erbe vorenthalten, zerstört es den Gedanken von Genealogie und Erbe. Gleichzeitig konkretisiert es die auf dem Prinzip des Gottesgnadentums beruhende Idee des unsterblichen politischen Körpers des Königs (,Der König ist tot, es lebe der König!‘). Seinen historischen Referenten besitzt es mit der sainte ampoule, die das geweihte Öl enthielt, mit dem die französischen Könige gesalbt wurden. Insofern verweist das Elixier auf den politischen Glauben an eine ungebrochene Genealogie und Juans langlebiger Vater, der sich mit Gott vergleicht, lässt sich in Bezug zum absolutistischen Königtum des Ancien Régime setzen. Auch das Bild der zersplitterten Phiole hat Balzac nicht erfunden, wurde doch die sainte ampoule am 7. Oktober 1793 feierlich zerbrochen. Für die Salbung Karls X. im Jahr 1825 musste man der Legende Glauben schenken, dass einige Tropfen des 1793 vergossenen Balsams hatten gerettet werden können.34 Tim Farrants nicht weiter ausgeführter These, der zufolge die drei Generationen aus dem Élixir de longue vie sinnbildlich für die drei Generationen französischer Könige – Ancien Régime, Restauration, Julimonarchie – stehen, 35 34 Siehe zur sainte ampoule, ihrem legendären Ursprung und ihrem Ende LE MOËL, 1983, S. 10-15. 35 FARRANT, 2002, S. 87. Farrant liest die Erzählung in erster Linie als Projektion von Balzacs persönlichen ödipalen Phantasien und psychischen Konflikten (EBD., S. 88).

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möchte ich mich dennoch nicht anschließen. Eine solche Lektüre würde erstens den gotteslästernden und libertinen Don Juan mit Ludwig XVIII. oder Karl X. und Juans gottesfürchtigen Sohn Philippe mit dem Antiklerikalismus unter Louis-Philippe in Analogie setzen und zweitens suggerieren, dass Louis-Philippe an den politischen Körper der Restauration anzuknüpfen versuche. Dies steht jedoch im Widerspruch zur Abkehr vom Gottesgnadentum und der Hinwendung zum Prinzip der Volkssouveränität. Das zentrale Thema der Gottlosigkeit sowie Balzacs Lektürehinweis deuten jedoch offenkundig auf diese Problematik hin.36 Farrants Lektüre blendet außerdem die Widersprüche aus, die die Erzählung in Szene setzt und nur oberflächlich mit dem Rückgriff auf das Wunderbare überschreibt. Schon der Titel des ersten Teils der Fassung von 1830, Festin, ist ambivalent. Über den Bezug auf Molières Dom Juan ou le Festin de pierre stellt er die Handlung in die Tradition des revolutionären, demokratischen Libertinismus.37 Die Assoziation mit dem traditionellerweise auf die Königssalbung folgenden Festin royal,38 die über das Motiv des Elixiers ausgelöst wird, verknüpft die Thematik des Vatermords dagegen mit der Frage nach dem Fortbestand dynastischer Vorstellungen. Don Juan wünscht den Tod seines Vaters und strebt danach, das Elixier an sich zu reißen. Trotz seines atheistischen, diabolischen Libertinismus glaubt er an die Wirkung des Wunderöls. Die politisch lesbare Referenz auf das Elixier unterläuft insofern Juans revolutionäre Absichten: Die Problematik der Erzählung besteht darin, dass der Vatermörder das Prinzip der dynastischen Unsterblichkeit fortzuführen versucht. Während Balzac sich in seiner siebten „Lettre sur Paris“ über den Vorwurf gegenüber Louis-Philippe, „le fils du régicide“ zu sein, empört hatte, 39 gestaltet er ihn hier fiktional aus. Dabei setzt er den Fluch ins Bild, den der Volksvertreter Philippe Rühl im Oktober 1793 formuliert hatte: 36 Auf den politischen Kontext des Antiklerikalismus und des Verlusts des Transzendenzbezugs hat die Forschung vielfach hingewiesen. Siehe etwa GUYON, S. 16, 23-25 u. 27 und GUISE, 1977, S. 470. 37 Siehe zur revolutionären Transgressionsthematik des Don Juan-Stoffes bei Molière und Mozart LEOPOLD, 2014, S. 293-308. 38 Siehe zum Festin royal JACKSON, 1984, S. 22. 39 So deuten Roland Chollet, Christiane und René Guise Balzacs Äußerung bezüglich eines „mot qui est un crime“ des Grafen von Kergorlay in der „Lettre VII“ vom 29. November (ŒD 913, vgl. die Fußnote 1, ŒD 16721673).

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Amputierte Männlichkeit und die Wundermittel der Julimonarchie [J]’ai brisé en présence des autorités constituées et d’un peuple nombreux, sous les acclamations répétées de Vive la République une et indivisible, le monument honteux créé par la ruse perfide du sacerdoce, pour mieux servir les ambitions du trône ; en un mot j’ai brisé la sainte ampoule sur le piédestal de Louis le Fainéant, quinzième du nom. La tête du tyran est tombée, toutes celles qui voudront s’élever au-dessus du Français redevenu libre doivent tomber de même. Ce peuple immense et généreux ne verra plus désormais la farce du sacre d’un brigand heureux, tout ce qui a trait à ce sacre, tout ce qui entretenait le fanatisme du peuple pour ses oppresseurs, en lui faisant croire que le ciel avait choisi des mortels plus favorisés que lui pour le mettre aux fers, doit disparaître. La sainte ampoule n’existe plus…40

Da die sainte ampoule zerbrochen ist und Louis-Philippe die Dynastie der Bourbonen zusammen mit dem Gottesgnadentum verabschiedet hat, bleibt der literarischen Repräsentation des Fortwirkens genealogischer Konzeptionen von Dynastie und politischer Macht nur der Rückgriff auf das Wunderbare. Meine These ist deshalb, dass das Élixir die Inkohärenzen inszeniert, die mit dem Übergang vom Prinzip des Gottesgnadentums zur Volkssouveränität zusammenhängen. Die Erzählung reflektiert darüber, dass man an der Idee eines (politisch-genealogischen) Erbes festhält, obwohl die sainte ampoule längst zerbrochen ist, dass also die Selbstermächtigung der Söhne, die ihre Väter beerben wollen, deren Machtstrukturen perpetuieren. Sie stellt damit den fundamentalen Widerspruch der Julimonarchie aus, die das Prinzip der Erbmonarchie mit dem Prinzip der revolutionären Volkssouveränität zu verknüpfen versucht.41 In seiner „Enquête“ thematisiert Balzac die neue Doppelfundierung der Julimonarchie: „Le principe de la révolution de Juillet, relativement à la royauté, n’était-il pas de substituer l’hérédité à la légitimité, l’élection au droit divin ?“ (ŒD 1008, Herv. im Original) Er stellt die Vereinbarkeit des Erbprinzips mit dem Prinzip der Wahl hier nicht in Frage, notiert jedoch die grundsätzlich problematische Kompatibilität

40 Zit. nach LE MOËL, 1983, S. 14 (Herv. von L. Zeller). 41 Diese widersprüchliche Legitimation der Julimonarchie beschreibt etwa MARGADANT, 1999, S. 1464 u. 1467.

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von königlicher Souveränität und Volkssouveränität.42 Das Ende des Élixir zeigt, dass es, wenn man (im politischen Sinne) nicht mehr an Gott glaubt, auch keine Erbmonarchie und keine Dynastie mehr geben kann. Den Fokus auf die Inkompatibilität macht der Text sogar explizit: „[J]e pensais à l’incompatibilité de deux puissances aussi étendues que celles du diable et de Dieu…“ (CH XI 491) In einer Passage aus dem Einschub, mit dem Balzac in der Revue de Paris den Teil Festin vom Teil Fin trennte und den er der Erzählung später zu großen Teilen als Avis au lecteur voranstellte, kontrastiert Balzac die europäische Zivilisation, die auf dem Prinzip des Erbes gründet, mit der amerikanischen Gesellschaft: Il existe un pays dans le monde où chaque citoyen peut disposer de sa fortune comme bon lui semble, sans être tenu d’en laisser une obole à ses enfants. Là seulement il ne s’élève pas, entre les plus doux sentiments, des murs d’argent et d’or. À Washington, ce principe paraît simple ; mais en Europe, toute la civilisation repose sur un pivot : l’HÉRÉDITÉ !... (CH XI 143243)

Über die vordergründige Reflexion über soziale Strukturen und die Verurteilung des Egoismus hinaus vergleicht Balzac hier implizit die Julimonarchie mit dem republikanischen System der USA, das auf dem Mandatsprinzip beruht und sich von den genealogischen Strukturen Alteuropas gelöst hat. Die Julimonarchie kann sich nicht entscheiden zwischen der Freiheit der Söhne und dem Vatermord auf der einen und einer Erbgenealogie auf der anderen Seite, zwischen der Anerkennung der Revolution und der Distanzierung von 1793. Dieser Konflikt offenbart sich insbesondere im Kontext der Debatten um die Minister Karls X. René Guise hält die Kombination der Themen des Donjuanismus und der Langlebigkeit sowie des Erbes im Élixir für nicht gelungen, weshalb das einzige Thema, das die Einheit der Narration wahre, der Tod sei.44 Meines Erachtens wird man dem Text und seiner Struktur 42 Vgl. oben Anm. 15. 43 Ich zitiere die Passage aus der Rubrik „Notes et variantes“. Den Vergleich mit den USA hat Balzac in der Furne-Fassung von 1846 getilgt. 44 GUISE, 1980, S. 466-472.

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gerechter, wenn man die Narration um das wunderbare Öl als strategy of containment im Sinne Fredric Jamesons beschreibt.45 Der Tod ist deswegen das einzige Thema, das die Novelle zusammenhält, weil das Élixir, wie Une passion dans le désert, seinen Protagonisten als Projektionsfläche sowohl der Wünsche von 1830 als auch der Legitimationsprobleme politischer Macht in der Julimonarchie inszeniert. Der Körper Don Juans wird zur Bühne für das Schauspiel der Politik und für die scheiternde Übernahme des unsterblichen Körpers des Königs durch die Söhne. Insofern bezeichnen die Namen der beiden Figuren, Juan und Philippe, nicht zuletzt die beiden Aspekte der Herrschaft LouisPhilippes: Juan knüpft an den revolutionären Liberalismus Don Juans und damit nicht zuletzt an das Bild von dessen attraktiver Maskulinität an, Philippe trägt den traditionellen Namen der Orléans-Prinzen und verweist damit auf eine alternative monarchische Genealogie. Durchkreuzt wird dieser Bezug jedoch durch seinen Namensvetter Philippe Rühl, denjenigen also, der für das endgültige Ende der Erbmonarchie einsteht. Es reicht deshalb meines Erachtens auch nicht aus, auf einen fortwährenden Wiederholungszwang zurückzugreifen, aufgrund dessen das 19. Jahrhundert immer wieder Geschichten abgeschlagener Köpfe erzählt, um die Revolution zu verstehen und zu bannen.46 Es scheint hier um die Labilität neuer Formen politischer Macht zu gehen, die auch daran scheitern, dass alte Denkstrukturen und Legitimationsmodelle gleichzeitig mit neuen Entwürfen politischer Formen am Leben zu halten versucht werden. Der (politische) Vater will die Söhne nicht nachfolgen lassen und versucht immer wieder, mitsamt seinen Legitimationsmodellen selbst zurückzukommen. Balzac findet im Élixir eindrucksvolle Bilder für die Erfahrung der Zwischenstellung der neuen Regierung zwischen Revolution und Restauration sowie der Problema45 Der Begriff der strategy of containment, den Jameson unter anderem an Balzacs Vieille fille exemplifiziert, beschreibt eine symbolische Handlung, bei der nicht aufzulösende, unvereinbare Gegensätze formal-ästhetisch gebannt werden. Jameson beschreibt Kunstwerke als „symbolic act, whereby real social contradictions, insurmountable in their own terms, find a purely formal resolution in the aesthetic realm. […] [T]he production of aesthetic or narrative form is to be seen as an ideological act in its own right, with the function of inventing imaginary or formal ,solutions‘ to unresolvable social contradictions“. JAMESON, 2002, S. 64. 46 So Daniel Sangsue, der exemplarisch auch Balzacs Élixir anführt. SANGSUE, 2010, S. 76.

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tik einer Dynastie, die sich zwar auf die „hérédité“ beruft, nicht aber auf das Gottesgnadentum.

Wi r k un g sl o se K o s m eti k a: C é sar Bi r o tt e a u u n d d er W er b e b etr u g d er C o m é di e H u m ai ne Nachdem Balzac die Phiole mit dem Lebenselixier 1830 erneut hat zerbersten lassen, lässt er sie einige Jahre später abermals rekonstruieren. L’Histoire de la Grandeur et de la Décadence de César Birotteau (1837) erzählt von einem royalistischen Parfümeur und Kosmetikfabrikanten, der an seinen Aufstiegsambitionen scheitert, tief fällt und seinen Bankrott schließlich dank der tatkräftigen Unterstützung seiner Familie sowie des Erlöses aus dem Verkauf eines von ihm erfundenen Öls, das Haarausfall verhindern soll, in ein Martyrium der Rechtschaffenheit umzuwandeln vermag. Das ideologische Restitutionssujet inszeniert einen allegorischen Kampf zwischen der modernen Gesellschaft, deren Vertreter Kinder von 1793 sind und der freien Zirkulation der Zeichen und des Geldes frönen und Banker zu Gegenkönigen machen, sowie der Restauration, deren Vertreter Birotteau in den Abgrund stürzt, der sich zwischen den Signifikanten der Finanzwelt und ihren Signifikaten öffnet. Auslöser des Sujets ist César Birotteaus Versuch, das Alte mit dem Neuen zu verbinden, wobei das Alte zum reinen Schein verkommt: Seine revolutionären Ambitionen lassen ihn die Grenzen seines Status als Parfümeur und damit die gesellschaftlichen Implikationen seines Royalismus vergessen. Dieser wird zum reinen „décorum“ (CH VI 77) ähnlich seiner Kosmetikprodukte, als er mittels besagten Haaröls auf der Basis von profanem Haselnussöl aus eigener Kraft aufsteigen will: „Sans doute l’aide de Dieu ne nuit à rien, dit gravement Birotteau. Mais l’essence de noisettes est aussi une puissance, ma femme !“ (CH VI 52)47 In seiner Hybris will er die napoleonischen Vorgaben seines Namens erfüllen und nennt seine Frau bei ihren drei Vornamen, deren dritter Joséphine lautet (vgl. CH VI 51). Nachdem Césars kopfloser Aufstieg zur Katastrophe geführt hat, ist die moralische Rehabilitation, 47 Siehe zum revolutionären Vokabular des Royalisten auch CH VI 95: „Enfin, nous aborderons la droguerie en la révolutionnant […].“ sowie CH VI 132: „[C]ette noisette est cause d’une révolution au logis.“

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die mit seiner sozialen Restitution einhergeht, der Treue gegenüber der von Balzac später im Avant-Propos der Comédie Humaine proklamierten ordnungsgarantierenden Wertetrias von Religion, Monarchie und Familie geschuldet.48 Insofern lässt sich der Roman als mise en abyme des Kampfes gegen die revolutionären Ambitionen lesen, den der nunmehr legitimistische Balzac mit den kompensatorischen Normen der Comédie Humaine führt.49 Dass der Kampf zu Gunsten der Moral ausgehen kann, verdankt man allerdings eben jenem Produkt, das die revolutionäre Grenzüberschreitung erst ausgelöst hatte: dem Haaröl. Scott Carpenter hat die Symbolik des Huile Céphalique – „huile pour la tête“ (CH VI 155) – im Roman verfolgt und die wiederholten Verknüpfungen des Haareschneidens mit dem Rollen von Köpfen – die Werbetexter machen bei der Suche nach geeigneten Slogans für das Produkt einen Calembour nach dem anderen mit der Assoziationskette Haaröl-Haare-Kopf-Guillotine (vgl. CH VI 158f.) – auf tradierte Vorstellungen zurückgeführt, die insbesondere in der Revolution bildlich ausgestaltet wurden. Er liest Birotteau, dessen Kopf angesichts der Verschwörung gegen ihn immer wieder zu rollen droht, als Figuration des Ancien Régime und findet überzeugende Äquivalenzen zu konterrevolutionären Diskursen, wenn der Parfümeur zum Opfer einer Verschwörung stilisiert wird und sein finanzieller Bankrott, der zu seinem physischen Tod führt, von seiner moralischen Überhöhung konterkariert wird. Das Haaröl, dem die Erlösung zu verdanken ist, setzt Carpenter dann auch in Analogie zum heiligen Chrisam der sainte ampoule: „[T]he hair tonic, much like the balm of the sainte ampoule, serves as a guarantee of moral rectitude and divine right, securing a form of spiritual redemption.“ Die Nachahmung des exemplarischen Modells „could leave the door ajar for the return, indeed the restoration, of what Balzac sees as an enviable past“.50 Carpenter notiert Bruchstellen des 48 Vgl. zum ideologischen Kampf im Birotteau etwa FALCONER, 2002, S. 5565 und, allerdings anders perspektiviert, CARPENTER, 1996, S. 83 u. 95-98. Für eine einlässliche Analyse der Zirkulation von Geld und Zeichen im Birotteau siehe GOMART, 2004, besonders S. 55-85. 49 Zu Balzacs Verschränkung des alltäglich gewordenen gesellschaftlichen Auf- und Abstiegs mit einem kompensatorischen moralischen Wertesystem siehe WARNING, 1999, S. 40-56. 50 CARPENTER, 1996, S. 83-99. Die Zitate befinden sich auf S. 97 (Herv. im Original).

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mitunter allzu offensichtlich geglätteten ideologischen Erzähldiskurses, verfolgt aber deren politische Implikationen nicht, weil er Balzacs Roman als Beispiel für einen reaktionären Umgang mit dem postrevolutionären Zerfall einer göttlich garantierten Zeichenordnung liest.51 Die Symbolik des zentralen Dingsymbols ist allerdings äußerst ambivalent. Balzac entweiht das säkularisierte Chrisma im märchenhaften César Birotteau, der ursprünglich in den Études philosophiques direkt auf L’Élixir de longue vie hätte folgen sollen,52 wo er schon auf das Wunderbare zurückgegriffen hatte, endgültig. Birotteau verleiht dem Öl, das ihm vor allem finanziellen Erfolg bringt und die wenig christliche „vanité“, den „amour-propre“ sowie die „envie de paraître“ (CH VI 52) seiner Zeitgenossen bedient, explizit eine politische Bedeutung: „Depuis la paix, les hommes sont bien plus auprès des femmes, et elles n’aiment pas les chauves, hé ! hé, mimi ! La demande de cet article-là s’explique donc par la situation politique.“ (Ebd.) Das heilsame Huile Céphalique, das die „chevelure publique“ (CH VI 170) konservieren soll und als Segen der ganzen Nation verkauft wird, soll weniger Chrisma als Potenzmittel sein und die Franzosen vor der postnapoleonischen Impotenz schützen sowie implizit auch vor dem kopflosen – azephalen – Staat und der Eunuchenregierung53 der Julimonarchie: Es weckt sogar die Hoffnung, dass es sich gleich einer Invasion in Deutschland ausbreitet (vgl. CH VI 287). Mit der ambivalenten Symbolik des Haaröls, heißt es nun Huile Céphalique oder Huile césarienne (CH VI 141), offenbart der Text, dass es weniger um eine gottgewollte Ordnung und die moralische Rehabilitation der Nation in der korrumpierten Moderne zu gehen scheint als um die nationale Potenz, für die ein legitimer König in Ermangelung eines Napoleon einstehen soll. 51 Carpenter vertritt die These, dass Balzac mit seinem physiognomischen Projekt gegen die Instabilität der Zeichen seit der Revolution ankämpft und beweisen will, dass diese gerade nicht leer sind, sondern eine ,Wahrheit‘ verbergen. EBD., S. 36-41, 67-99, besonders 99. 52 Siehe hierzu die „Histoire du texte“, in: CH VI 1119-1133, hier 1123. Den märchenhaften Charakter des César Birotteau hebt WARNING, 1999, S. 53 hervor. 53 In der „Enquête“ erklärt Balzac, dass die Regierung keine einzige „loi […] virile“ (ŒD 1000) verabschiedet habe und schließt: „[L]a France est lasse des embrassements de tant d’eunuques politiques.“ (ŒD 1012) Auf Birotteaus eigene erst fragwürdige und schließlich restituierte Potenz weist H. Gomart hin. GOMART, 2004, S. 92-93, 105.

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Die von Carpenter ermittelten Assoziationen lassen sich im Übrigen auch umkehren. Denn Birotteau nutzt die Erkenntnis der Wissenschaft, dass man Haare nicht zum Wachsen bringen kann, wenn sie erst einmal ausgefallen sind, für die Vermarktungsstrategie seines Öls und die Diffamierung eines Konkurrenzproduktes aus, das als Haarwuchsmittel vertrieben wird. Er täuscht die Kundschaft allerdings selbst, muss er doch erfahren, dass sein Öl keine außergewöhnlichen Qualitäten besitzt und man Haarausfall mit jedem haushaltsüblichen Öl höchstens verzögern, nicht aber verhindern kann.54 Es stellt sich deshalb die Frage, ob der Werbebetrug, der den Erfolg des Huile Céphalique und damit den moralischen Triumph der Restauration über die Revolution begründet, als Metapher für den ,Werbebetrug‘ der Comédie Humaine als legitimistischem Kompensationsprojekt gelesen werden kann. Das nur angeblich wundersame, in Wirklichkeit jedoch wahrscheinlich wirkungslose Öl ist nur ein Kosmetikprodukt und kein Heilmittel. Wie Balzacs Legitimismus ist es eine kompensatorische Täuschung, die verschleiert, dass man nicht verhindern kann, dass Haare ausfallen – und Könige abgesetzt werden. Ist eine Dynastie erst einmal unterbrochen, dann kann man sie nicht wieder zum Leben bringen. Diese Umkehr der Symbolik bleibt im Roman zwar implizit. Sie wird jedoch nahegelegt, wenn das Haaröl ironischerweise „un vrai certificat de vie pour les cheveux morts“ (CH VI 203) genannt wird und über dem Werbetext für das Huile Céphalique eine Medaille mit dem Kopf Ludwigs XVIII. (in der Ausgabe von 1837) bzw. Karls X. (in der Ausgabe von 1839) abgedruckt ist (CH VI 15655), der letzte Bourbonenkönig jedoch bereits ein Jahr vor der Vollendung des Romans verstorben ist. Da das Öl mit den widersprüchlichen politischen Konnotationen ständig seinen Namen wechselt und seinen Preis nicht wert ist, ist es selbst leeres Zeichen – leer wie Balzacs moralische Ordnungsgaranten. Insofern wird der Republikaner Pillerault, der die Wahrheit über Birotteaus finanziellen 54 Carpenter erwähnt dies beiläufig (1996, S. 84, 95), ohne deshalb seine Deutung in Frage zu stellen. Die Forschung hat Birotteaus Werbebetrug häufig als Faktor der Subversion der vom Erzähler postulierten Vorbildlichkeit der Figur gewertet. Siehe etwa GUISE, 1977, S. 30-32 und GREENE, 1999, S. 197-208. Ich schließe mich Greenes Sicht konfligierender Fiktionen an, möchte hier jedoch die politischen Implikationen der autosubversiven Elemente herausstellen. 55 Siehe zu den Varianten CH VI 1192-1193.

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Bankrott ausspricht, die Moral verkörpert und den Parfümeur schließlich bei seiner Rehabilitation begleitet, zur Signatur der Bruchstellen des royalistischen Plots. Eine Antwort auf die Frage nach der selbstreflexiven Ironisierung der legitimistischen Rahmung der Comédie Humaine kann man auch in La Cousine Bette (1846) suchen, mit der César Birotteau über das Motiv des revolutionären Haareschneidens verknüpft ist. Von diesem Roman aus, in dem die Verlierer der Großen Revolution der Bourgeoisie und mit deren Haaren deren symbolischem Kapital auf den Leib rücken,56 erscheint die politisch bedeutsame Werbekampagne um das Huile Céphalique in einem nochmals anderen Licht: Sie kommt vielleicht weniger einer Monarchie im Sinne einer gottgewollten Ordnung zugute als vielmehr dem Schutz der Bourgeoisie vor einer erneuten Revolution, die mit der symbolischen Kastration der momentan dominanten Klasse enden könnte. Balzac verwendet Männlichkeitsbilder einerseits als traditionelle Metaphern für Ermächtigung, Machtverlust und -rekuperation, andererseits lenkt insbesondere ein symbolisch so deutliches wie in seiner Referenz mehrdeutiges Bild wie das des amputierten Beins aus Une passion dans le désert den Blick auf eine Reflexion über das Politische, die noch nicht abgeschlossen ist und sich noch nicht in fixierten Bildern niedergeschlagen hat. Balzac hat zu Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit ein politisches System im Umbruch vor Augen, eine neue Herrschaftsform, die sich, wie es L’Élixir de longue vie zeigt, nicht widerspruchslos unter Rückgriff auf tradierte Legitimationsstrategien stabilisieren kann. Die Heilmittel, die Balzac der emaskulierten Herrschaft später selbst zu verabreichen versucht und die einer Rückkehr zum Ancien Régime das Wort zu reden scheinen, produzieren deshalb, wie das Haaröl des César Birotteau, höchstens trügerische Zeichen einer restaurierten Potenz. 56 Der Text assoziiert die Arbeiterin Bette und ihre kleinbürgerliche Komplizin Valérie Marneffe mit Dalila und stellt fest, dass der weibliche Körper im Verein mit ,dem Bösen‘ ähnlich wirkungsvoll sein kann wie eine Guillotine: „La Vertu coupe la tête, le Vice ne vous coupe que les cheveux“ (CH VII 261). War es der jakobinischen Tugendrepublik noch um die Köpfe der Könige und des Adels gegangen, so bedrohen die Verlierer der Großen Revolution ein halbes Jahrhundert später die ökonomische und politische Macht der Bourgeoisie.

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Der männliche Protest von Emma Bovary und einiger ihrer Nachfolgerinnen THORSTEN SCHÜLLER Ei nf ü h r u n g Der österreichische Arzt und Psychotherapeut Alfred Adler (18701937), Begründer der Individualpsychologie, entwickelt zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Konzept des männlichen Protests,1 das zu einem zentralen Paradigma seines Denken werden soll, und in seinen Hauptwerken wie Über den nervösen Charakter oder Menschenkenntnis genauer entwickelt wird. Er stellt ein weit verbreitetes, oft gesellschaftlich bedingtes, gelegentlich pathologisches Minderwertigkeitsgefühl vor allem bei Frauen fest, entdeckt aber auch eine Kompensationsmöglichkeit, um dieses Gefühl zu überwinden: den männlichen Protest. Unter einem Minderwertigkeitsgefühl leidende Patienten lehnen sich demnach auf und legen aggressive Verhaltensweisen an den Tag, die zur Zeit Adlers als typisch ‚männlich‘ konnotiert sind. Die Idee des männlichen Protests findet sich in oft idealtypischer Weise in literarischen Texten wieder, in denen psychisch kranke Menschen, dabei vor allem Frauen, zentral behandelt werden. Liest man mit den Augen Adlers Romane wie Madame Bovary (Gustave Flaubert), Nadja (André Breton) oder 37,2° le matin (Philippe Djian), dann entdeckt man in all diesen Texten Manifestationen des männlichen 1

ADLER, 1908, S. 577-584.

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Protests. Die Protagonistinnen Emma, Nadja oder Betty versuchen in latent oder manifest gewaltsamen oder aggressiven Handlungen, ihre Krankheit zu überwinden und ihre vorwiegend männlichen Partner damit zu dominieren. Der Protagonist aus Rachildes Monsieur Vénus, ein weiterer Roman, der im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen wird, bildet eine Ausnahme: Jacques Silvert ist männlich und leidet nicht an einer psychischen Krankheit. Die Art und Weise, mit der Rachilde mit Geschlechterstereotypen und Manifestationen des männlichen Protests spielt, macht den Roman dennoch im Rahmen des vorliegenden Beitrags interessant. Die Inszenierung von als männlich konnotierten Handlungen im Krankheitsverlauf weiblicher Protagonistinnen (oder im Falle von Monsieur Vénus von einem effeminierten männlichen Protagonisten) avanciert in den Texten zu einem literarischen Mittel, um Geschlechterrollen und gender-Kategorien im Roman neu zu verhandeln. Wenn in der Folge die vier genannten exemplarischen Texte mit Adler gelesen werden, soll es freilich nicht darum gehen, die medizinische Stichhaltigkeit der Adlerschen Theoreme zu beweisen; ebensowenig darum, die Patientinnen und Patienten einer Diagnose zu unterziehen. Es gilt auch nicht nachzuweisen, dass Autoren bewusst auf den Wiener Psychologen Bezug nahmen. Adlers Theorie des männlichen Protests kann nach jahrzehntelanger Gender-Forschung als obsolet bezeichnet werden, stereotype Zuschreibungen des Maskulinen und des Femininen sind nach der Dekonstruktion nicht länger haltbar. Auch Adler selbst versteht im Laufe seiner Karriere Geschlechtszuschreibungen immer mehr als soziale Setzungen. Vielmehr soll es nun darum gehen, aus einem psychoanalytischen Geschlechtermodell eine philologische Methode zu entwickeln, um literarisch inszenierte Geschlechterstereotype auszuarbeiten und zu beschreiben; und um zu beweisen, dass sich diese Geschlechterstereotype in prominenten Romanen der letzten 150 Jahre kaum geändert haben. Nach der Lektüre der Texte vor der Folie Adlerscher Theoreme lassen sich in der Literatur weiterhin Handlungen ausmachen, die auf stereotypen 2 und performativ inszenierten Geschlechterzuschreibungen beruhen. 2

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Die Begriffe Stereotyp und Klischee sollen in diesem Beitrag – in Anlehnung an das Standardwerk von AMOSSY/HERRSCHBERG PIERROT synonym gebraucht werden. Vgl. AMOSSY/HERRSCHBERG PIERROT, 2005.

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V or st ell ung der The ore m e Alfr e d Adl er s Adler gehört neben Sigmund Freud und Carl Gustav Jung zu den Gründungsvätern der modernen Psychologie. Wenn auch Adler und Freud einige Jahre zusammengearbeitet haben, so unterscheiden sich ihre Modelle doch in wichtigen Punkten, was schließlich zum Bruch der Wiener Kollegen führte. Ohne die Unterschiede der Denkmodelle Freuds und Adlers hier genau zu skizzieren, soll kurz dargestellt werden, mit welchen Schlüsselbegriffen man Adlers Denken umreißen kann. Adler gilt als ein Vertreter der Sozialmedizin und behauptet, dass Krankheiten, dabei insbesondere psychische Krankheiten, gesellschaftliche Ursprünge haben, dass beispielsweise Milieu und Berufsumfeld zu pathologischen Störungen führen können. Zeit seines Lebens erweist er sich als Philanthrop und versucht mit einer Art ‚engagierten Medizin‘ die Lebensumstände des Einzelnen zu verbessern. Das Individuum stellt für ihn die wichtigste Größe seines Denkens dar – so gilt Adler als Begründer der Individualpsychologie. Dem oftmals ins Mythische tendierenden Denken Freuds setzt Adler ein streng individualistisches Modell entgegen. Patienten sind demnach immer in ihrem individuellen Charakter und der Gesamtheit ihrer körperlichen und geistigen Verfassung zu betrachten. Freilich kommt auch Adler nicht ohne statische Modelle aus, wie die Idee des männlichen Protests beweist, die implizit starre Konzepte des Weiblichen und des Männlichen beinhaltet. Dieser Widerspruch in der Betrachtung des Individuellen und das gleichzeitige Verharren in diskursiven Zwängen, die stereotype Dichotomien als gesetzt ansehen, prägt das gesamte Werk Adlers. Er argumentiert zwar oft mit den Begriffen des ‚Weiblichen‘ und des ‚Männlichen‘, stellt dies aber – ganz individual-psychologisch – immer wieder zaghaft in Frage. Wenn die Ausprägungen des Männlichen und des Weiblichen, die jedes Individuum in sich trägt, in ein Ungleichgewicht geraten, dann kann dies nach Adler neurotische Störungen hervorrufen. In dieser Logik zeichnen sich neurotische Patienten durch einen psychischen Hermaphrodismus aus: Adler beobachtet, dass viele neurotische Patienten sekundäre Geschlechtsmerkmale des Gegengeschlechts tragen. Geschlechtsproblematiken und psychische Krankheit bedingen sich demnach. Der Umstand, dominante Ausprägungen des Gegengeschlechts in sich zu tragen, verstärkt ein Gefühl,

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das laut Adler der menschlichen Entwicklung inhärent ist: das Minderwertigkeitsgefühl, das sich bei jedem Individuum in der Kindheit entwickelt. Jedes Kind ist mit einem zunächst überfordernden Lebensziel, einem ‚Willen zur Macht‘, konfrontiert und entwickelt ein völlig normales Minderwertigkeitsgefühl, wenn sich die Macht nicht unmittelbar einstellt. Dieses Minderwertigkeitsgefühl kann sich laut Adler bei einer geschlechtlich bedingten Störung zu einem Minderwertigkeitskomplex entwickeln. Konkret heißt das: Männer tragen weibliche Züge, die in ihrer sozialen Umgebung als unziemlich gelten, und fühlen sich minderwertig, weil sie ihr individuelles Lebensziel schwerer erreichen können; Frauen tragen männliche Züge, die sie in ihrer sozialen Umgebung nicht ausleben können, und fühlen sich gleichfalls minderwertig. Dieses Gefühl des gender trouble wird Adler zufolge durch den männlichen Protest kompensiert. Der männliche Protest äußert sich in unterschiedlichen Verhaltensweisen, die Leopold Schimmer, einer der wenigen Literaturwissenschaftler, die sich mit Adlers Theorien beschäftigen, mit der Formulierung „Ich will ein ganzer Mann sein!“ überschreibt. Was heißt es nun für Adler, ein ganzer Mann zu sein? Er nennt Eigenschaften wie „Herrschsucht, Geiz, Neid, Gefallsucht, Neigung zu Grausamkeit“3 sowie „Verbrechensbereitschaft“4 oder das „Aufsuchen von Qualen“.5 Aggressivität und Egozentrismus sind zusammengefasst die Grundparadigmen, auf die sich die Adlerschen Charakterzüge des Männlichen zurückführen lassen. Beide Paradigmen, die Aggressivität und der IchBezug, unterstützen ein Streben nach Dominanz. Wie erwähnt, trägt in Adlers Modell jeder Mensch ein Minderwertigkeitsgefühl in sich, das aber in einer normalen Entwicklung durch das Erreichen eines Gemeinschaftsgefühls in der Familie oder Gesellschaft aufgelöst werden kann. Im Gegensatz dazu funktioniert der männliche Protest durch eine Auflehnung gegenüber den umgebenden Personen. Das Konzept des männlichen Protests entwickelt sich in Adlers Schriften stets weiter und ist einigen Modifikationen unterworfen. So bezieht er den Protest in späteren Schriften immer mehr auf die Frau

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ADLER, 1908, S. 204. EBD. SCHIMMER, 2001, S. 23.

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allein.6 Um das Konzept für die vorliegende Literaturanalyse nutzbar zu machen, soll der männliche Protest vereinfachend als das gewaltsame Auflehnen eines Individuums verstanden werden, das ausgehend von einer Position der Unterwerfung im Sinne eines Willens zur Macht nach Dominanz strebt. Alfred Adler nimmt durchaus mit seiner psychoanalytischen Theorie Entwicklungen der heutigen Gender Studies vorweg. Denn trotz seines starren Geschlechtermodells ahnt Adler, dass die Begriffe „männlich“ und „weiblich“ keine biologischen Konstanten sind, sondern soziale Setzungen. So benutzt er auch den Begriff des Männlichen eher metaphorisch: Der männliche Protest ist nicht Ausdruck des Männlichen, sondern eine Inszenierung des Männlichen. Die Akzeptanz der Gleichwertigkeit der Geschlechter, deren Merkmale nicht völlig voneinander zu trennen sind, sind für ihn der Garant dafür, von psychischen Störungen verschont zu bleiben: „Nur der ist sicher […] vor der Neurose und Psychose, dem die Gleichwertigkeit aller vollsinnigen Menschen aufgegangen ist.“7 Die gesellschaftliche Geringschätzung der Frau macht ihre Geschlechterrolle zu einer Art Maßstab: Wenn der psychisch Kranke sein Minderwertigkeitsgefühl durch ein Machtstreben kompensieren möchte, dann orientiert er sich an Weiblichkeit: „das weibliche Geschlecht ist minderwertig und dient in seiner Reaktion als Maß der männlichen Kraft.“8 Dass die Frau zu Adlers Zeit ganz besonders unter Geschlechtszuschreibungen und einem Minderwertigkeitskomplex leidet, verleitet Adler zu nahezu feministischen Passagen: „Wer die Frau gering schätzt, Mann oder Frau, wird mit der Neurose bestraft.“9 Wenn in der Folge von maskulinem Protest und von Zuschreibungen von Männlichkeit und Weiblichkeit gesprochen wird, so sollen diese Begriffe deshalb als performative Inszenierung in literarischen Texten verstanden werden.

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Widmet sich ADLER, 1930 in Das Problem der Homosexualität und sexueller Perversionen noch den Geschlechtern ‚Mann‘ und ‚Frau‘ (siehe ADLER, 1977), so fokussiert er ab Der Sinn des Lebens (1933) die Frau, wenn er den maskulinen Protest diskutiert. Adler in HOEFELE, 1986, S. 108. Adler in S CHIMMER, 2001, S. 29. Adler in PFAMMATTER-BRUGGER, 1997, S. 81.

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K or p u s Das Korpus des Beitrags setzt sich aus klassisch gewordenen Frauenromanen zusammen, zuzüglich eines Romans, der das Genre des Frauenromans subversiv bricht. Bei den Protagonistinnen der Texte handelt es sich um ‚hysterische Heldinnen‘, wobei der Begriff der Hysterie hier als historischer Sammelbegriff des 19. Jahrhunderts für jegliche Art der psychischen Störung stehen kann. Das spezifische Interesse des 19. Jahrhunderts für die psychische Krankheit10 bringt mit sich, dass das Motiv der psychisch kranken Heldin einen ersten Aufschwung erfährt. Flauberts Emma Bovary, die 1857 die literarische Bühne betritt, kann dabei als Beginn einer Genealogie der hysterischen Heldin gesehen werden. Ausgangspunkt der Überlegungen soll deshalb die Lektüre von Madame Bovary sein. Das Verhalten Emmas lässt sich als ein männlicher Protest avant la lettre auffassen. 1889 veröffentlicht die Dekadenz-Autorin Rachilde ihren Skandalroman Monsieur Vénus, in dem Geschlechterrollen auf komplexe und subtile Weise verhandelt werden und in dem mit Geschlechterrollen gespielt wird, die mit Adlerschen Paradigmen beschrieben werden können. In André Bretons surrealistischem Anti-Roman Nadja von 1928 wird wiederum eine psychisch kranke Frau inszeniert. In diesem Text ist der männliche Protest eher unterschwellig zu erkennen, ist aber dennoch ein wichtiger Motor der Handlung. Als Schlusspunkt soll Philippe Djians Roman 37,2° le matin aus dem Jahre 1985 untersucht werden, der wiederum implizit Adlersche Theoreme in Romanform bringt.

M a d a me B o v ar y Am Beginn einer Genealogie der hysterischen Heldinnen mit Unbehagen an Geschlechterrollen steht Emma Bovary, die bis heute eine der prominentesten literarischen Patientinnen der französischen Literaturgeschichte ist. Der Roman ist bekanntlich die Chronik einer 10 So konstatiert der berühmte Historiker Jules Michelet im Jahre 1859, dass jedes Jahrhundert seine „grande maladie“ habe, „le dix-neuvième est frappé aux deux pôles de la vie nerveuse“ (MICHELET, o.J., S. 5).

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unglücklichen Ehe, die Emma in Depressionen, in den Ehebruch und letztendlich den Selbstmord treibt. Ihr Leiden, das weder ihr Ehemann Charles, ein Landarzt mit bescheidenen Lebenszielen und Kenntnissen, noch der Priester des Ortes, der sich als Arzt der Seelen bezeichnet, erklären kann, würde man mit heutigem Wissen vielleicht auch als Borderline-Symptom11 bezeichnen. In der Literaturwissenschaft gilt der so genannte bovarysme, von Jules de Gaultier konzeptualisiert12, bekanntlich als psychologisch inspiriertes literarisches Motiv, das eine Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit ausdrückt. Alfred Adler würde das gleiche Phänomen mit seiner eigenen Terminologie beschreiben können: Emma leidet darunter, dass ihr Lebensziel nicht mit ihrer tatsächlichen Situation vereinbar ist, was zu einem Minderwertigkeitskomplex führt, gegen den sie sich vehement auflehnt. Dieser Konflikt Emmas wird von Flaubert mit gestörten Geschlechterstereotypen illustriert. Die männlichen Protagonisten des Romans tragen (bis auf den Geliebten Rodolphe, der als ‚Modellmann‘ gelten kann) durchgehend Attribute von Weiblichkeit, sie sind passiv wie Charles oder effeminiert-verweichlicht wie Léon. Emma scheint unter den gestörten Geschlechterrollen zu leiden, sie ersehnt sich nicht nur Schläge von ihrem Ehemann, sondern hadert auch mit ihrem Geliebten Léon: „Il était incapable d’héroïsme, faible, banal, plus mou qu’une femme […].“13 Das bedeutet nicht, dass Emma zwangsläufig die Rolle des Mannes einnehmen möchte. An vielen Stellen versucht sie sich an Inszenierungen von Weiblichkeit, so ‚spielt‘ sie beispielsweise Empfindsamkeit oder gefällt sich in Schwäche. Paradoxerweise führt nicht hauptsächlich die untergeordnete Rolle als Frau zu Emmas Minderwertigkeitskomplex, sondern vor allem die Unmännlichkeit der Männer. Charles’ Mittelmäßigkeit beeinflusst auf negative Weise ihr eigenes Leben, das nun gleichfalls provinziell und mittelmäßig ist. Aufgrund der gesellschaftlichen Zwänge des 19. Jahrhunderts kann eine 11 Persönlichkeitsstörungen, die sich als Borderline-Erkrankungen deuten lassen, zeichnen sich durch Störungen einer Partner-Beziehung aus und das masochistische Herbeiführen von Schmerzen eines der Partner (siehe KERNBERG , 1983, S. 37). Emma Bovary hat beispielsweise das masochistische Bedürfnis, von ihrem Ehemann Charles geschlagen zu werden, um sich als Person zu ‚spüren‘ (vgl. FLAUBERT, 1972, S. 154). 12 Vgl. die Bemerkungen zu Gaultier in KLINGLER, 1986, S. 63-79. 13 FLAUBERT, 1972, S. 361.

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Frau aus dem Mangel an vorgeblich männlichen Attributen der Männer keinen Profit schlagen: Die Schwäche der Männer führt nicht zu einer Aufwertung Emmas, zu sehr steht eine Frau im Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Mann. Emmas Minderwertigkeitskomplex entlädt sich in einem männlichen Protest. Ihr rüder Umgang mit dem Dienstpersonal14 oder der wenig liebevolle Umgang mit ihrem Kind 15 sind aggressiv und egozentrisch, Grundparadigmen des Adlerschen männlichen Protests. Die Schwangerschaft, die Emma im Laufe der Handlung mit einer typischen Frauenrolle konfrontiert, ist mit einem ständigen Hadern mit ihrer Rolle als Frau verbunden. Folgerichtig wünscht sie sich einen Sohn, auch das ein Phänomen, das Adler als Symptom eines gestörten Geschlechterverhältnisses deutet:16 Elle souhaitait un fils ; il serait fort et brun ; elle l’appellerait Georges ; et cette idée d’avoir pour enfant un mâle était comme la revanche en espoir de toutes ses impuissances passées. Un homme, au moins, est libre […]. Mais une femme est empêchée continuellement. Inerte et flexible à la fois, elle a contre elles les mollesses de la chair avec les dépendances de la loi.17

Eine Frau ist demnach unfrei, sowohl der Körper („la chair“) als auch die gesellschaftlichen Umstände („la loi“) verhindern eine Wunschentwicklung hin zum Lebensziel. Groß ist die Enttäuschung, als sie eine Tochter gebiert. Ihr Verhalten wird daraufhin immer dominanter und aggressiver. Ihren Ehebruch mit Rodolphe empfindet sie als Triumph,18 sie nimmt sich nun, was sie haben möchte, überschreitet damit gesellschaftliche Regeln und kann sich kurzzeitig in den Armen Rodolphes, der als Abenteurer ein Archetyp von Mann ist, wieder als Frau fühlen. Die Geschlechterrollen sind kurzzeitig wiederhergestellt. Ihre Gesamtsituation indes ändert sich kaum, sie nimmt ihren Protest und ihre Auflehnung bald wieder auf. Schon bald findet Rodolphe sie

14 Vgl. EBD., S. 102. 15 Vgl. EBD., S. 162. 16 „Es ist eine allbekannte und allzu häufige Erscheinung, dass Eltern sich lieber wünschen, Knaben zu bekommen.“ (ADLER, 1992, S. 118). 17 FLAUBERT, 1972, S. 130. 18 Vgl. EBD., S. 219.

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tyrannisch 19 und aufbrausend, typische Zeichen eines maskulinen Protests,20 und sehnt eine Trennung herbei. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der in Madame Bovary inszenierte bovarysme, die Diskrepanz zwischen Eskapismus und Realität, das Auflehnen und Resignieren, durch das Verhandeln von Geschlechterrollen ausgedrückt wird. Die gesamte Logik des Romans beruht darauf, dass Geschlechterstereotype inszeniert und hinterfragt werden. Die literarische Inszenierung der Geschlechter ist der Handlungsmotor von Madame Bovary. Flaubert inszeniert unterschiedliche Männerrollen, an denen sich Emma abarbeitet: Während die Kommunikation mit dem aufrichtigen, aber mittelmäßigen Charles „plate comme un trottoir de rue“21 ist, zeichnet sich der sensible, Klavier spielende, aber als effeminiert beschriebene Léon durch seine Liebe zur Musik aus: „La musique allemande, celle qui porte à rêver.“22 Der rauchende und reitende Draufgänger Rodolphe scheint Emma am meisten zu faszinieren; die Trennung von ihm stürzt sie endgültig in eine tiefe Krise. Wird das klassische Geschlechtermodell mit seinen essentialistischen Zuschreibungen durchbrochen (der dominante Mann auf der einen, die dominierte Frau auf der anderen Seite), entsteht ein Minderwertigkeitskomplex, der sich im maskulinen Protest äußert und in Madame Bovary ein tragisches Ende findet.

M o n si e ur Vé n u s Im Roman Monsieur Vénus von Rachilde, der heute leider ein wenig in Vergessenheit geraten ist, deutet schon der Titel an, dass mit Geschlechterrollen und -stereotypen gespielt wird. Auch die Autorin Rachilde selbst illustriert als eine der ersten garçonnes die Neuverhandlung der Geschlechtszuschreibungen und -attribute im öffentlichen 19 Vgl. EBD., S. 252. 20 Vgl. Alfred Adler, nach dem „jede Form der ungehemmten Aggression, der Aktivität, des Könnens, der Macht, mutig, frei, reich, angreifend, sadistisch als männlich, alle Hemmungen und Mängel (auch Feigheit, Gehorsam, Armut usw.) als weiblich aufgefasst werden könne“ (ADLER, 1983, S. 87). 21 FLAUBERT, 1972. 22 EBD., S. 123.

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Leben. Die Handlung ist komplex, verwirrend und nur schwer nachzuerzählen, weswegen nur der Haupthandlungsstrang herausgearbeitet werden soll: Die Adelige Raoule de Vénérande macht die Bekanntschaft mit einem in Armut lebenden jungen Floristen und Hobbymaler und entwickelt eine Leidenschaft für ihn. Während sie durch Kleidung und Lebensgewohnheiten eher männliche Züge trägt (so nimmt sie beispielsweise Fechtunterricht), wird der Florist Jacques Silvert von der Autorin mit weiblichen Attributen und Konnotationen versehen. Was folgt, ist ein Spiel von Dominanz und Unterwerfung, was wiederum an Geschlechterrollen illustriert wird. Raoule, die sich selbst mit männlichen Attributen versieht, beginnt Jacques mit weiblichen Insignien auszustatten; in der Beziehung nimmt sie die Männerrolle ein und macht ihn zur Frau. Er wird zu ihrem Geschöpf, sie staffiert ihn mit Frauenkleidung aus, sie provoziert ihn, wie das folgende Zitat resümiert, zu ‚weiblichem‘ Verhalten. Damit der Gender-Wechsel gelingen kann, geht sie behutsam vor, zeigt sich gelegentlich wieder als Frau, spielt also immer weiter mit Geschlechterstereotypen, um Jacques nicht zu sehr zu verstören: Raoule allait, venait, ordonnait, agissait en homme qui n’en est pas à sa première intrigue, bien qu’il en soit à son premier amour. Elle forçait Jacques à se rouler dans son bonheur passif comme une perle dans sa nacre. Plus il oubliait son sexe, plus elle multipliait autour de lui les occasions de se féminiser, et, pour ne pas trop effrayer le mâle qu’elle désirait étouffer en lui, elle traitait d’abord de plaisanterie, quitte à la lui faire ensuite accepter sérieusement, une idée avilissante.23

Dennoch ist das Ziel klar: Jacques soll sich performativ immer weiter zur Frau entwickeln, während Raoule sich kontinuierlich ‚maskulinisiert‘ (während ihrer späteren Hochzeit tritt sie zum Beispiel mit einer „chevelure de garçon“24 auf). Gender-Switching funktioniert auch in diesem Falle über die performative Inszenierung von Geschlechterstereotypen. Das männliche Moment äußert sich in Kleidung und in bestimmten Frisuren, im kreativ-produktiven Geist und in Dominanz. 23 RACHILDE, 1998, S. 108. 24 EBD., S. 186.

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Weiblichkeit wird gleichfalls durch typische Kleidung, durch Unterwerfung und durch Objektivierung des Individuums erreicht: Jacques ist beispielsweise im obigen Zitat nicht viel mehr als eine Perle in der Muschelschale, ein passives Objekt mit Konnotationen von Schönheit. Auch im Falle von Monsieur Vénus führen die in Unordnung gebrachten Geschlechterordnungen, gekoppelt mit den sozialen Unterschieden zwischen Mann und Frau, zu einem Minderwertigkeitskomplex auf Seiten des effeminierten Protagonisten. Er ist sich bewusst, seine Männlichkeit verloren zu haben, Prostituierte schaffen es nicht mehr, ihn zum Mann zu nehmen.25 In der Folge dieses Minderwertigkeitskomplexes legt Jacques mehr und mehr Verhaltensweisen eines männlichen Protests an den Tag. Er widerspricht, er setzt seine Reize ein, um seinerseits die Macht zu übernehmen und zu dominieren. Sein Protest ist sicherlich weniger aggressiv als der von Emma Bovary, dennoch ändert sich sein Verhalten, sein unterwürfiges Akzeptieren des Geschlechterwechsels wird zum Versuch, eine dominante Position zu erreichen. Der Protagonist, der in dem teilweise sado-masochistischen Verhältnis nicht nur als Frau, sondern auch als hündisch bezeichnet wird,26 schafft es plötzlich, sich unentschuldigt zu entfernen, oder Raoule auf brüske Weise zu behandeln: „[…] Jacques la repoussa brutalement“.27 Jacques Silvert, mit seiner Rolle als Frau mehr und mehr unzufrieden, entwickelt sich in der Folge zu einem wahren homme fatal und stürzt nicht nur die Protagonistin, die eine amour fou für ihn an den Tag legt, ins Unglück. Jacques stirbt, nach einem wegen ständiger Verkleidungen und geschlechtlicher Verirrungen verwirrenden Handlungsverlauf, während eines Duells, was sich auch als klischeehaft inszenierte Geschlechterbeziehung lesen lässt: Sein Rivale Raittolbe, Offizier und Waffennarr, schafft es mit Leichtigkeit, sich des weiblichen Jacques zu entledigen. Ähnlich wie in Madame Bovary scheinen Neuverhandlungen von Geschlechterrollen in einer literarischen Logik stets zu einem tragischen Ende zu führen. Wenn die Ordnung des Geschlechterdiskurses in Unordnung gebracht wird – sei es durch Ehebruch oder gender switching – steht in der Texthandlung am Ende der Tod. 25 Vgl. EBD., S. 209. 26 Vgl. EBD., S. 27. 27 EBD., S. 209.

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N a dj a Im surrealistischen Anti-Roman Nadja von André Breton ist der männliche Protest eher unterschwellig auszumachen. In dem Text, der die gemeinsamen Treffen und Spaziergänge Bretons mit der vorgeblich geisteskranken Nadja zum Thema hat, werden Geschlechterrollen durch die Beschreibung des Verhältnisses der Geschlechter zueinander ausgedrückt. Nadja übt nicht nur auf den Autor-Erzähler (im Falle von Nadja kann man von einer Identität von Autor und Erzähler ausgehen), sondern auch auf andere Männer eine für Breton selbst schwer zu beschreibende Faszination aus. Wieder ist das Verhältnis von Mann und Frau vordergründig von Dominanz und Unterwerfung geprägt. Nadja schafft es jedoch bald, mit Hilfe eines subtilen maskulinen Protests, sich aus dieser Dominanzbeziehung zu befreien. Tritt Nadja am Beginn des Texts noch als hilfsbedürftige und psychisch kranke Frau auf, die auf die Zuneigung und vor allem auf das Geld des Erzählers angewiesen ist, so ändert sich das Machtgefüge doch im Laufe der tagebuchartigen Erzählung. Nadja ist sich zunächst selbst darüber bewusst, dass sie in der Macht Bretons steht. So stellt dieser fest: Elle me parle maintenant de mon pouvoir sur elle, de la faculté que j’ai de lui faire penser et faire ce que je veux, peut-être plus que je ne crois vouloir. Elle me supplie, par ce moyen, de ne rien entreprendre contre elle.28

Breton ist sich folglich sicher: „Il est clair qu’elle est à ma merci.“29 Das Rollenverhältnis scheint, auch wenn der Autor-Erzähler dies nicht zu seinen Gunsten ausnutzt, klassisch zu sein und erinnert fern an das der Prostitution. Doch Nadja ist nicht naiv und übernimmt im Laufe der Erzählung immer stärker eine dominante Position. Dabei wird sie nicht wirklich aggressiv, der männliche Protest ist in diesem Falle ein codierter Protest, die performative Aktualisierung des Männlichen funktioniert unterschwellig und ist für Breton selbst ein Rätsel. Nadja

28 BRETON, 1964, S. 92. 29 EBD., S. 106.

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versetzt den Autor-Erzähler,30 sie wird ihm gegenüber misstrauisch und distanziert,31 sie verunsichert Breton und befiehlt ihm schließlich, einen Roman über sie zu schreiben: „André ? André ? ... Tu écriras un roman sur moi.“32 Breton selbst bemerkt, dass die anfängliche Neugier und Faszination, die er dem Objekt Nadja gegenüber empfindet, allmählich zu einer Art Abhängigkeit wird, die sich in einem pathetischen Schluss äußert, den man als Liebeserklärung an Nadja verstehen kann. Der Autor-Erzähler Breton überwindet die Grenzen zwischen der vorgeblichen Normalität und A-Normalität und wird damit zu einem Vorläufer der Anti-Psychiatrie. Die offensichtliche soziale Außenseiterposition Nadjas erzeugt gerade die Attraktion, die sie auf die beschriebenen Männer im Text erzeugt. Es ist die Umkehrung der Dominanzverhältnisse, die zur Romanze zwischen Autor-Erzähler und Protagonistin führt. Dabei hat Nadja nicht nur Macht über Breton, auch andere auftretende Männer beherrscht sie durch ihre für die Beteiligten schwer zu definierende Wirkung. So beschreibt Breton eine Szene in einem Restaurant, während der allein die Gegenwart Nadjas einen Kellner völlig aus dem Gleichgewicht bringt: „Le garçon se signale par une maladresse extrême : on le dirait fasciné par Nadja.“33 Der Kellner verschüttet Wein, zerstört dutzende von Tellern, „[c]haque fois qu’il vient de la cuisine, il est vrai qu’il se trouve en face de nous, qu’alors il lève les yeux sur Nadja et paraît pris de vertige. C’est à la fois burlesque et pénible.“34 Wenn wir es hier auch mit einer subtileren Form der Auflehnung zu tun haben, lässt sich der Text dennoch mit Adlers Theoremen beschreiben. Eine mögliche Ursache für Nadjas Verhalten ist der Faustschlag, den ihr ein ehemaliger Partner versetzte. Die unterlegene Frau, die Opfer physischer Gewalt wird, schreibt sich in Geschlechterstereotype der Unterlegenheit, der Schwäche und der Passivität ein. Im Sinne Adlers würde sich nun ein Minderwertigkeitskonflikt entwickeln, 30 Breton spielt in Nadja bewusst mit den Konventionen des Genres ‚Roman‘ und versucht, eine Unmittelbarkeit herzustellen, die die Illusion einer wahrhaft erlebten Geschichte suggeriert. 31 Vgl. EBD., S. 88. 32 EBD., S. 117. 33 EBD., S. 114. 34 EBD., S. 115.

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der sich im männlichen Protest ausdrückt. Im Falle Nadjas äußert sich dieser männliche Protest im Ausnutzen ihrer Wirkung auf Männer. Ihr Einfluss auf Männer dekonstruiert Machtpositionen wie die des zahlenden, gut situierten, dominierenden Mannes und der empfangenden, zu Dank verpflichteten und unterwürfigen Frau. Am Ende aber scheitert die protestierende Frau. Nadja wird in ein „asile“ eingeliefert: „On est venu, il y a quelques mois, m’apprendre que Nadja était folle. A la suite d’excentricités auxquelles elle s’était, paraît-il, livrée dans les couloirs de son hôtel, elle avait dû être internée à l’asile de Vaucluse.“35 Wie in den anderen Beispielen führt der maskuline Protest in der Logik der Texte in die Katastrophe.

37, 2° l e ma ti n Der von Philippe Djian 1985 veröffentlichte Roman 37,2° le matin inszeniert wieder eine deutlichere Variante des männlichen Protests. In gewisser Weise lässt sich Betty, die Protagonistin aus 37,2° le matin, als eine Emma Bovary des 20. Jahrhunderts betrachten: Auch die Dynamik ihrer Partnerschaft führt zur Hinterfragung von Geschlechterrollen und endet in einer Katastrophe. Die junge Kellnerin zieht, nachdem sie von ihrem Chef sexuell belästigt wurde, überraschend beim phlegmatischen Ich-Erzähler ein, der sich in einem Ferienort als Hausmeister verdingt. Nebenher ist er Schriftsteller ohne große Ambitionen. Betty findet seine Manuskripte und kämpft darum, diese zu veröffentlichen, kämpft aber auch gegen die Lethargie ihres Partners. Immer wieder ist Betty mit Enttäuschungen und Erniedrigungen konfrontiert, die sich in teilweise gewaltsamen Aktionen entladen. Die gewaltsamen Akte treten dabei stets nach einem Gefühl der Erniedrigung, oft auch nach einem Gefühl der sexuellen Diskriminierung auf. Nachdem beispielsweise der Inhaber der Ferienanlage beim Ich-Erzähler auftaucht und abschätzige Bemerkungen über dessen Arbeitsmoral, aber auch sexistische Bemerkungen über die halbnackte Betty macht, versieht sie sein Auto im Affekt mit einem Eimer Farbe. Dieser Ausbruch gehört noch zu den harmloseren Taten; die Gewalt 35 BRETON, 1964, S. 159.

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gegen einen Verleger, der das Manuskript des Erzählers ablehnt, oder gegen eine Restaurantbesucherin, die die Kellnerin Betty beleidigt, ist aggressiver und für die Beteiligten sehr schmerzhaft. Wieder haben wir es mit einer Umkehrung der Geschlechterrollen zu tun: Während der Ich-Erzähler Diskriminierungen und Enttäuschungen auf geradezu devote Weise erträgt, lehnt sich Betty auf und gebraucht körperliche Gewalt. Ein Satz Adlers kann das Verhalten Bettys erläutern: „Der maskuline Protest führt eine innere Unruhe herbei, die jeden äußeren Zwang, Unbefriedigung, Herabsetzung und Beeinträchtigung als unerträglich empfinden lässt.“36 Die Interaktion der beiden Partner lässt die Situation immer weiter eskalieren. Die Lethargie des Ich-Erzählers provoziert Bettys Minderwertigkeitskomplex (eine Struktur, die wir aus der Beziehung Emma/Charles kennen). Die Liebe der beiden wird im wörtlichen Sinne zu einer amour fou. Trotz aller Liebe sieht sich der Protagonist gezwungen, die gewalttätige Betty zu schlagen: Ça m’a vraiment lessivé de la voir dans cet état là […]. J’ai pas pu supporter ça très longtemps, ni sa rage, ni ses cris, ni la manière dont elle essayait de me planter là avec une fille en pleine crise de nerfs sur les bras, une avec les griffes dehors. Je l’ai giflée pour la ramener sur terre, j’aimais pas ça mais je l’ai giflée à tour de bras comme si j’avais été chargé de chasser le démon […].37

Der männliche Protagonist sieht sich gezwungen, dem gewalttätigen Aufbäumen Bettys – im Sinne Adlers einem männlichen Protest – mit Gegengewalt zu antworten. Im Laufe der Handlung äußert sich immer mehr eine ernsthafte psychische Krankheit Bettys: Sie hört Stimmen, nimmt Psychopharmaka, kommt in stationäre Behandlung und reißt sich am Ende des Romans ein Auge aus. Auch für dieses Ende kann ein Gedanke Adlers als Erklärung dienen. In besonderen Fällen könne sich der Aggressionstrieb des männlichen Protests „gegen die eigene Person“38 richten, was sowohl in Madame Bovary als auch in 37,2° le matin der Fall ist. Wie 36 Adler in SCHIMMER, 2001, S. 227 (aus Adlers Aufsatz „Der psychische Hermaphroditismus im Leben und in der Neurose“). 37 DJIAN, 1985, S. 184. 38 Adler in SCHIMMER, 2001, S. 144 (aus Adlers Aufsatz „Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose“).

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in den anderen besprochenen Texten ist es das Verhältnis von Mann und Frau sowie das performative Inszenieren von Geschlechterrollen, dabei vor allem von Männlichkeit, die die Protagonistinnen in Krankheit und Unglück stürzen.

Sc hl u s sf ol g er u n g Aus den kurzen Betrachtungen der Inszenierung des maskulinen Protests in vier literarischen Texten lassen sich drei Schlussfolgerungen ableiten:







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Das Aufbrechen klassischer Rollenverteilung, meist durch eine Auflehnung der Frau, wird durch Dominanz und Aggression angestrebt und dabei oft durch codierte oder konkrete Gewalt erreicht. Emanzipation bedeutet in den Texten folglich nicht, dass auf vorgebliche ‚Waffen der Frau‘ zurückgegriffen, sondern dass Männlichkeit performativ inszeniert wird. Das Aufbrechen der klassischen Rollenverteilung führt dabei in der literarischen Logik der Texte zur Katastrophe. Das Aufbegehren der Unterdrückten mit Hilfe von gender switching ist stets mit psychischer Krankheit oder mit dem Tod verbunden. Schließlich zeigt das Textkorpus, dass das Thema der konfliktuellen Geschlechterkonstellationen seit 150 Jahren ein Thema ist, das Literaten beschäftigt. Diese Zeitspanne erlebte die Entdeckung des Unbewussten und die Etablierung einer institutionellen Psychiatrie, den Feminismus und dekonstruktivistische GenderTheorien. Dennoch werden Geschlechterstereotype in den Texten aus völlig unterschiedlichen Zeiten ähnlich behandelt und machen einen Vergleich möglich. Auch wenn das Textkorpus nicht für sich beansprucht, repräsentativ zu sein, lässt sich doch erahnen, dass Geschlechterinszenierungen in literarischen Texten von 1857 bis 1985 von Essentialismen geprägt sind, die es erlauben, Adlers in der Psychiatrie längst obsolet gewordenen Theoreme als literaturwissenschaftliche Methode anzuwenden.

Der männliche Protest von Emma Bovary

Lit er at ur ADLER, ALFRED, Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose, in: Fortschritte der Medizin 26 (1908), S. 577-584. DERS., Menschenkenntnis, Frankfurt a. M. 1992. DERS., Der psychische Hermaphroditismus im Leben und in der Neurose. Zur Dynamik und Therapie der Neurose, in: Heilen und Bilden. Ein Buch der Erziehungskunst für Ärzte und Pädagogen, hg. von DERS./CARL FURTMÜLLER, Frankfurt a. M. 1983, S. 85-93. DERS., Das Problem der Homosexualität und sexueller Perversionen. Erotisches Training und erotischer Rückzug, neu hg. und eingel. von WOLFGANG METZGER, Frankfurt a. M. 1977. DERS., Der Sinn des Lebens, Frankfurt a. M. 1973. AMOSSY, RUTH/HERSCHBERG PIERROT, A NNE, Stéréotypes et clichés, Paris 2005. BRETON, ANDRÉ, Nadja, Paris 1964. DJIAN, PHILIPPE, 37,2° le matin, Paris 1985. FLAUBERT, GUSTAVE, Madame Bovary, Paris 1972. GAULTIER, JULES DE, Le Bovarysme. La psychologie dans l’œuvre de Flaubert, Paris 2008. HOEFELE, JOACHIM BERND, Individualpsychologie und Literatur: zur Literaturästhetik Alfred Adlers und seiner Schule, Frankfurt a. M. 1986. KERNBERG, O TTO FRIEDMANN, Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus, Frankfurt a. M. 1983. KLINGLER, BETTINA, Emma Bovary und ihre Schwestern: die unverstandene Frau – Variationen eines literarischen Typus von Balzac bis Thomas Mann, Rheinbach-Merzbach 1986. MICHELET, JULES, L’Amour, Paris o.J. PFAMMATTER-BRUGGER, JOHANNA, Das Frauenbild bei Alfred Adler und seine pädagogischen Konsequenzen, Bern 1997. RACHILDE, Monsieur Vénus, Paris 1998. SCHIMMER, LEOPOLD, Individualpsychologische Literaturinterpretation: Alfred Adlers Individualpsychologie und ihr Beitrag zur Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 2001.

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Gefährliche Penetration: Bilder von Männlichkeit auf französischen Kolonialplakaten TIMO OBERGÖKER Die Entdeckung der Amerikas war nicht nur ein Akt der Inbesitznahme in geopolitischer Hinsicht – sie wurde von einem bedeutenden diskursiven Apparat begleitet, der den politischen Akt der Inbesitznahme für die Bürger der kolonisierenden Nation erfahrbar macht. Karten spielten hierbei eine wichtige Rolle, da sie den eroberten Raum visuell erfahrbar machten. Später kamen Lieder und Bilder hinzu, die geeignet waren, den symbolischen Graben zwischen Mutterländern und den Kolonien zu schließen. Aspekte von Männlichkeit spielten auf diesen Plakaten eine wichtige Rolle und erlauben tiefere Einblicke in das koloniale Mindset, in Vorstellungswelten des Kolonialismus, in denen Bilder von Männlichkeit von Belang waren.1 Seit der Unterwerfung Amerikas durch die spanische Krone war der koloniale Raum ein sexualisierter. Bilder von Jungfräulichkeit, unbefleckter Schönheit, terrae incognitae, in die es einzudringen gilt, um sich ihrer symbolischen und reellen Reichtümer zu bemächtigen, sind Legion im kolonialen Diskurs. Kolonisiert wurde von heldenhaften Männern und die Rolle der Frau beschränkte sich darauf, die kolonialen Eroberungen gleichsam zu ‚domestizieren‘. Das ‚Domestizieren‘ umfasste zunächst praktische Aspekte – in der Regel geduldiges Warten auf den Mann in der Fremde oder aber ein Leben in der Fremde unter 1

Dieser Text greift Ideen aus meinem Buch auf; O BERGÖKER, 2015.

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häufig widrigen klimatischen Bedingungen. Doch gilt es zu berücksichtigen, dass der domus nicht nur auf das ‚Haus‘ verweist, sondern gleichzeitig auch mit Reinheit und somit mit ‚Weißheit‘ in Verbindung gebracht wird. So ist mit dem kolonialen Diskurs häufig ein HygieneDiskurs verbunden – welcher wiederum gegendert wird. Zahlreiche Reinigungsmittel beispielsweise spielen in ihren Werbestrategien mit diesem triangulären Verhältnis zwischen Gender, Rasse und Reinheit.2 Betrachten wir zunächst folgendes Plakat:

Abbildung 1: Werbeplakat für die Firma Dirtoff, unbekannter Autor, 1925 Dieses Plakat der Firma Dirtoff (ein Markenname, dessen Zynismus angesichts des Dargestellten erschaudern lässt), lässt die Beziehung zwischen Gender, Klasse und Hautfarbe deutlich zu Tage treten. Die Homosexualität des Mannes ist nicht nur angedeutet, in seiner Androgynität scheint er der Welt der Cabarets und der Music-Hall entsprungen, durch seine gestreifte Hose hat er etwas beinahe Clowneskes an sich. Sein Penis scheint völlig abwesend; obgleich Geschlechtsteile von Afrikanern in kollektiven Vorstellungswelten in der Regel übermäßig groß sind, zeichnet sich zwischen seinen Beinen ein eher feminines Dreieck ab, ein Eindruck, der durch seine Taille noch verstärkt wird. 2

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Siehe dazu einschlägig: MCCLINTOCK, 1995.

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Dieses Plakat stammt vermutlich aus Großbritannien und greift eine typisch britische Tradition in der Darstellung des afrikanischen Anderen auf, den Golliwogg. Florence Upton machte diese Figur in ihrem Roman The Adventures of Two Dutch Dolls and a Golliwogg (1895) bekannt und er gilt seither als Inbegriff des der Lächerlichkeit preisgegebenen Schwarzen, welcher traditionell eine rote Hose, ein weißes Hemd und eine rote Krawatte trägt. Dirtoff übernimmt dieses wirkmächtige, noch heute in den Köpfen älterer Briten verankerte Bild, ohne es sich völlig zu eigen zu machen. Gleichwohl werden einige Elemente übernommen. Die für den Kontext dieses Bandes sicherlich interessanteste Feststellung ist die, dass der koloniale Diskurs mit Geschlechteridentitäten spielt und der ‚ewige Afrikaner‘, der mit einem unveränderlichen Charakter ausgestattet ist, zumindest in Ansätzen subvertiert wird: Wie wir im Folgenden sehen werden, werden afrikanische Männer in der Regel mit einer überbordenden Sexualität und einem enormen Geschlechtsteil dargestellt. Das Plakat der „Dirtoff“ stellt diese Perspektive in Frage. Dennoch bleibt die Herangehensweise natürlich hochproblematisch: Der Afrikaner, sobald er sein ‚natürliches Umfeld‘ verlässt, wird ‚geweißt‘ und somit domestiziert. Dabei gilt es indessen zu bemerken, dass die ‚Weißwerdung‘ nur unvollständig vollzogen werden kann. Assimilation scheint indes im Ansatz möglich, unter der Bedingung jedoch, dass der Afrikaner sein ‚schädliches Potential‘, welches eben durch überbordende Sexualität verkörpert wird, aufgibt. Afrikanische Männlichkeit im kolonialen Blick ist wild, brutal, ignorant – ein Beispiel dafür werden wir im Folgenden untersuchen. Damit einher geht aber auch ein wichtiger sexueller Aspekt: Trotz oder gerade wegen seiner Wildheit ist der Afrikaner in starkem Maße sexualisiert. Auf dem Dirtoff-Plakat allerdings wird er radikal entmännlicht und diese Emaskulation wiederum geht einher mit dem Versuch, ihn zu domestizieren. Da er sich in Europa befindet, wird gleichsam seine als schädlich und unkontrollierbar angesehene ‚Wildheit‘ neutralisiert. Hinzu kommt noch eine soziale Dimension: Als Dienstbote oder Groom ist er in starkem Maße als Subalterner markiert. Seiner sexuellen Kraft beraubt und nach Europa transportiert, ist er also gleichsam doppelt domestiziert. Die Hand, die er versucht zu weißen, ersetzt sein Geschlechtsteil, seine Arbeitskraft ersetzt gleichsam

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seine Manneskraft. Er ist entmaskulinisiert und somit ‚entafrikanisiert‘ und das wiederum stellt die Grundbedingung für seine Integration im Mutterland da. Frantz Fanon schreibt dazu in Peau noire, Masques blancs unter Bezugnahme auf die Réflexions sur la question juive von Jean-Paul Sartre: Il ne viendrait à l’idée d’aucun antisémite de castrer le Juif. On le tue ou on le stérilise. Le nègre, lui, est castré. Le pénis, symbole de la virilité est anéanti, c’est-à-dire qu’il est nié. […] Mais c’est dans sa corporalité que l’on atteint le nègre. C’est en tant que personnalité concrète qu’on 3 le lynche.

Um Haushalt und Dienstboten konstituieren sich sowohl hetero- als auch homosexuelle Phantasmen, die auch auf folgendem Plakat zu Tage treten:

Abbildung 2: Werbeplakat der Firma SODEX, Gustave Blanchot und Gus Bofa, 1925 3

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FANON, 1952, S. 132-133.

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Auf den ersten Blick ist das Verfahren dem des Dirtoff-Plakats sehr ähnlich. Gebleicht wird nicht nur eine Hand, sondern der ganze Körper – doch auch hier bleibt der Prozess des Bleichens unvollständig. Die Botschaft ist eindeutig: Der Afrikaner wird nie völlig weiß werden, seine ‚Blackness‘ verfolgt ihn unweigerlich, zumal sich gewisse körperliche Merkmale, wie die Form der Lippen und die Beschaffenheit der Haare, eben nicht ‚bleichen‘ lassen. Doch auch das Mädchen wird auf ihre Art ‚weißgemacht‘: Ihr Kleid und ihr Hut haben etwas Viktorianisches. Indem sie also in das bürgerliche Wertesystem eingegliedert wird, wird ihr gleichzeitig jedwede kulturelle Besonderheit genommen. Ihr Kleid verbürgerlicht, verwestlicht sie – obgleich klar ist, dass sie nie völlig weiß werden kann. Deutlich wird, welche Verbindungen zwischen Rasse, Gender, Imperialismus und Domestizität bestehen. Diese Verbindung tritt in beinahe archetypischer Weise im Moment der AIDS-Krise in den 1980er Jahren erneut zu Tage. Nach den ersten massiven Ausbrüchen der Krankheit in den USA stellte sich alsbald die Frage nach dem Verbreiter des Virus, dem Mister X, der diese Krankheit, deren Ursprung in Afrika vermutet wurde, in Europa und den USA gestreut hat. Dieser Mister X war ein Steward, eine Figur der Mobilität, die gleichzeitig mit Homosexualität in Verbindung gebracht wird.4 Auf diese Verknüpfung zwischen Mobilität und Sexualität greift bereits die Kolonialkultur zurück und stellt so eine Verbindung zwischen der Inbesitznahme eines Körpers und der eines Territoriums her. Diese semantische Verbindung ist im Übrigen nicht neu und lässt sich bereits im 15. Jahrhundert identifizieren. Nach der Entdeckung Amerikas im 15. Jahrhundert kam die neue Pathologie der Syphilis auf, die ganz ähnliche Fragen aufwarf wie AIDS in den 1980er Jahren. Einige dieser Paradigmen wurden in den 1920er Jahren aufgegriffen. Obgleich en filigrane immer präsent, wurde schwules Begehren ab den 1920er Jahren ein wichtiger Bestandteil kolonialer Popkultur – es nahm eine Vielzahl an Formen an und beschränkte sich eben nicht mehr auf den weiblichen Körper. Dies ist ein wichtiger Bestandteil kolonialer Kultur, der oftmals verschwiegen wurde. Das folgende Plakat der Fluggesellschaft Aeromaritime ist in dieser Hinsicht aufschlussreich.5 4 5

Vgl. BARTENS, 2010; THOMAS, 2007. ALDRICH, 2003.

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Abbildung 3: Werbeplakat Aéromaritime, Albert Brenet, ca. 1930 Das Plakat von Aéromaritime ist ein Beispiel für eine Tendenz, die man in vielen kolonialen Chansons, aber auch auf zahlreichen Plakaten beobachten kann: Die Fossilisierung des Afrikaners. Der Kolonisierte wird häufig, wenn auch nicht ausschließlich, als Mann dargestellt, was seine Wildheit und Brutalität betont, während die Französische Republik in der Regel als Frau abgebildet wird, was deren Güte und Großzügigkeit unterstreicht. Der Mann hingegen, weit entfernt von der zivilisatorischen Mission Frankreichs, präsentiert sich in all seiner Wildheit. Der Afrikaner, der Schwarze, wie er hier gezeigt wird, wirkt barbarisch. Seine vermeintliche Grausamkeit wird durch zahlreiche Faktoren unterstrichen: seine Nacktheit, seinen aggressiven Blick, seine Armbänder, vor allem aber seinen Köcher. Darüber hinaus ist er mit allerlei archaisch wirkenden Elementen tätowiert. Er ist archaisch, gleich einem ‚ewigen Afrikaner‘, der aus der Vorzeit stammt und zu jeder intellektu-

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ellen oder moralischen Entwicklung unfähig scheint. Das ist jedoch nicht alles: Gleichzeitig ist er bei näherem Hinsehen in besonderem Maße sexualisiert. Seine Muskeln und sein drahtiger Körper wirken überaus erotisch. Die 2012 erschienene Histoire de la virilité beschreibt diese Tendenz folgendermaßen: Odeur, muscles, force, vitalité, capacité sexuelle : tout concourt à faire de l’autre autant un « objet sexuel » fantasmatique – que l’on peut utiliser à son gré – qu’un « animal sexuel » avec qui l’expérience charnelle serait en même temps « bestiale », « diabolique », « monstrueuse », et ce faisant, forcément exceptionnelle. De ce fait, le « Noir » mais aussi l’ « Arabe » sont alors enchâssés dans une compétition sexuelle qui se (re-)joue forcément, entre hommes, sur un mode viril – la taille du sexe, le corps dans l’ensemble de ses dimensions, ainsi que les pratiques sexuelles et la capacité à faire jouir les femmes, réelle ou fantasmée, 6 étant simultanément enjeux de « civilisation » et de virilité.

Als Symbol des Afrikas vor der Kolonialisierung, hat dieser Afrikaner nur sehr wenig mit der Realität Afrikas in den 1930er Jahren zu tun. Er wird hier auf seinen Status als Jäger reduziert, sein Arm und der Bogen bilden eine Einheit, die Grenzen zwischen Körper und Objekt scheinen völlig aufgehoben, was seine vermeintliche Primitivität noch unterstreicht. Seine Repräsentation ist der des Kannibalen noch recht nahe und die schwarze Gefahr, wie sie der Kolonialismus hinaufbeschwor, zeigt sich dabei in all ihrer Brutalität. Die Repräsentation des Afrikaners bildet einen deutlichen Kontrast zu dem Flugzeug, welches sich auf der gleichen Höhe wie der Bogen befindet und das in die gleiche Richtung wie dieser fliegt. Dieser ‚Blitz‘ galt als modern und zukunftweisend – radikale Modernität und radikale Vorzeitigkeit stehen sich hier gegenüber. In den 1920er und 1930er Jahren sahen die westlichen Eliten das Flugzeug als ein Mittel der Okzidentalisierung; im französischen Kontext als ein Mittel, die ‚beiden Frankreich‘, dasjenige in Europa und dasjenige außerhalb Europas, miteinander zu verbinden. Dort wo die Eisenbahn Paris und die Provinzen miteinander verband, vernetzt das Flugzeug nunmehr die Städte der „plus grande France“. Darüber hinaus sind die Farben des Plakates von Belang. Das Dunkle der 6

TARAUD, 2011, S. 380.

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Timo Obergöker

Hautfarbe des Afrikaners kontrastiert mit dem hellen Blau des Hintergrunds, welches sowohl Reinheit als auch Modernität verkörpert. Symbolische Inbesitznahme vollzieht sich auch durch die Farbgebung: Die Trikolore der Französischen Republik ist auf dem Plakat deutlich sichtbar. Gleichzeitig bildet der Kontrast zwischen Schwarz und Weiß die Dichotomie zwischen ‚uns‘ und ‚den Anderen‘ ab. Somit ist die Botschaft des Plakats klar: die französische Präsenz in Afrika bringt Modernität in jeder Hinsicht und bricht mit dem Obskurantismus und dem Primitivismus der Zeit vor der Kolonialisierung. Als komplementärer Ansatz zu dieser Diskussion von Männlichkeit, in dem Flugzeuge eine entscheidende Rolle spielen, dient das folgende Plakat, welches eine Frau darstellt. Die Plakate, die wir bis jetzt studiert haben, präsentierten Afrika als wilden und gleichzeitig zurück gebliebenen Kontinent mit einer Population, die archaische Auffassungen von Männlichkeit hat. Das nächste Plakat ist für diesen Kontext durchaus interessant:

Abbildung 4: Werbeplakat für Air Afrique, Albert Roquin, ca. 1930

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Gefährliche Penetration

Dieses Poster einer Fluggesellschaft stellt die im kolonialen Diskurs verankerte weiße Überlegenheit dar und ‚gendert‘ diese gleichzeitig. Beim ersten Hinsehen stellt sich in der Tat die Frage nach dem biologischen Geschlecht der hier abgebildeten Person – auch wenn beim Blick auf die Hände deutlich wird, dass es sich um eine Frau handelt. Gleichwohl ist dieser „Gender-Trouble“ für den Kontext durchaus von Belang.7 Der Umstand, dass es sich um eine Garçonne handelt, unterstreicht die Tatsache, dass man in Europa bereits von klar abgegrenzten Gender-Konzeptionen abgerückt ist, während diese in Afrika nach wie vor Gültigkeit besitzen. Ferner ist die Frau nicht nur modern, ihre Whiteness wird durch ihre weiße Kleidung noch unterstrichen. Anders als die meisten Europäer in Afrika trägt sie kein Khaki, was ihre Reinheit und Unbeflecktheit unterstreicht. Dieses Plakat ist also nicht nur genderpolitisch relevant, sondern auch vor dem Hintergrund dessen, was in der angelsächsischen Forschung als Whiteness Studies bezeichnet wird. Dieser Forschungszweig geht der Frage nach, welche Privilegien mit der Hautfarbe verbunden sind und aus welchen historischen Konstellationen diese erwuchsen.8 Die Frau auf dem Plakat hält ein Buch in Händen – wohl ein Reiseführer. Dieses Buch dominiert die afrikanische Landschaft und es ist auch weiß. Wissen wird also ebenfalls mit Whiteness in Verbindung gebracht. Schrift war seit den Anfängen der Kolonisation Mittel zur Unterwerfung. Stephen Greenblatt schreibt dazu in den Marvellous Possessions: And because Columbus’s culture does not entirely trust verbal testimony, because its judicial procedures require written proofs, he makes certain to perform his speech acts in the presence of the fleet’s recorder (for a fleet which had no priest had a recorder), hence ensuring that everything would be written down and consequently have a greater authority. The papers are carefully sealed, preserved, carried back across thousands of leagues of ocean to officials who in turn countersign and process them according to the procedural rules; the notarized documents are a token of the truth of the encounter and hence of the legality of the 7 8

Vgl. BERTHIER, 2006, S. 133-147. Sehr schön illustriert wird diese Problematik von Toni Morrisson; MORRISON, 1992.

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Timo Obergöker claim. Or rather they help to produce ‘truth’ and ‘legality’, ensuring that the words Columbus speak do not disappear as soon as their sounds fade, ensuring that the memory of the encounter is fixed, ensuring that there are not competing versions of what happened on the beach on October 12th. [...] A distinction between peoples who have writing and peoples who don’t will, as we have seen, become crucial in the discourse of the New World but in the initial moments with which we are concerned Columbus does not know enough about those he has encountered to make such 9 a distinction.

Das Buch erlaubt es also der europäischen Frau, sich dem dargestellten Raum zu nähern, ohne sich seinen Gefahren auszusetzen. Somit sind das Plakat Aéromaritime und das der Fluggesellschaft Air Afrique komplementär – der Afrikaner bleibt ‚auf dem Boden‘ und wird durch das Flugzeug zivilisiert, indessen die ‚dreifach‘ weiße Frau das Terrain überfliegt. Der Umstand, dass sie sich jenseits etablierter GenderGrenzen bewegt, unterstreicht ihre Modernität. Dem Afrikaner dagegen bleibt diese Möglichkeit verwehrt. Deutlich wurde, dass der afrikanische Mann in der Regel mit gefährlicher überbordender Sexualität in Verbindung gebracht wird. Diese ist insofern ambivalent, als damit eine gewisse Sexualisierung einhergeht. Diese Gefahr gilt es zu neutralisieren, sobald er europäischen Boden betritt. Ein beliebtes Verfahren der Neutralisierung bestand darin, ihn der Lächerlichkeit preiszugeben und ihn zu entsexualisieren – so wie es die Dirtoff-Werbung bezeugt. Daneben existiert ein positiv konnotierter Gender-Trouble, da die Garçonne in ihrem hybriden Spiel mit Männlich- und Weiblichkeit fortschrittlich konnotiert ist. Die Garçonne, dreifach in ihrer Weißheit markiert, darf daher als ideales Studienobjekt der Whiteness Studies gelten. Eingedenk des vielfältigen Korpus und der reichhaltigen Fragestellungen, die sich daraus ergeben, tut sich hier sicherlich ein interessantes und vielversprechendes Forschungsfeld auf.

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GREENBLATT, 1991, S. 57.

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Lit er at ur ALDRICH, ROBERT, Imperialism and Homosexuality, London 2003. BARTENS, W ERNER, AIDS-Viren schon um 1900 in Afrika, Süddeutsche Zeitung, 17.05.2010, in: http://www.sueddeutsche.de/ wissen/hiv-aids-viren-schon-um-1.701298 vom 21.08.2015. BERTHIER, CÉCILE, Quand les garçonnes voyagent, in: Garçonnes à la mode im Berlin und Paris der 1920er Jahre, hg. von STEPHANIE BUNG, Göttingen 2006, S. 133-147. FANON, FRANTZ, Peau noire, Masques blancs, Paris 1952. GILBERT, M. THOMAS P. u. a., The emergence of AIDS in the Americas and beyond, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 104, 47 (November 2007), in: http://www.pnas.org/content/104/47/18566 vom 21.08.2015. GREENBLATT, STEPHEN, Marvellous possessions: The Wonder of the New World, Chicago 1991. MCCLINTOCK, ANNE, Imperial Leather: Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest, New York 1995. MORRISSON, TONI, Playing in the dark. Whiteness and the literary imagination, Cambridge/Ma. 1992. OBERGÖKER, TIMO, Prise de possession. Storytelling, colonialisme et culture populaire, Würzburg 2015. TARAUD, CHRISTELLE, Virilités coloniales et postcoloniales, in: Histoire de la virilité, tome 3 : La virilité en crise, hg. von ALAIN CORBIN u. a., Paris 2011.

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Montage macht den Mann. Wie das Erzählkino Geschlecht konstruiert – und wie der Filmschnitt dabei hilft WIELAND SCHWANEBECK Will man dem zeitgenössischen Kinozuschauer nicht unterstellen, hoffnungslos naiv und ungeübt im Umgang mit den Tropen des Genrekinos zu sein, darf man getrost davon ausgehen, dass er auch mit stereotypen Montagesequenzen vertraut ist. Gemeint sind diejenigen Szenen, in denen eine Leistung, die in realiter über Wochen oder gar Monate erarbeitet wird, in eine diegetische Länge von ein bis zwei Minuten komprimiert wird und die David Bordwell als „summary passages“ bezeichnet.1 Sehr häufig trifft man diese Sequenzen in Sportfilmen an, wo sich der (zumeist männliche) Protagonist auf den ‚großen Kampf‘ vorbereitet, allerdings machen längst auch andere Genres von ihnen Gebrauch. Selbst vermeintliche ‚Kinderfilme‘ wissen in der Rolle des Adressaten mittlerweile einen medienaffinen Konsumenten vor sich, der sämtliche Erzählkniffe mit der Muttermilch aufgesogen hat. Im 2011 angelaufenen Reboot der Muppets-Reihe (The Muppets, Regie: James Bobin) sammelt der Frosch Kermit all seine Freunde zusammen, räumt allerdings ein, dass die komplette Fahrt zu viel Erzählzeit rauben würde und daher „by montage“ absolviert werden müsse, um die Exposition knapp zu halten. Die Zeitraffersequenz hat sich derart ins kultu-

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BORDWELL, 1995, S. 160.

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relle Gedächtnis eingebrannt, dass die Bezeichnung ‚Montage‘ sich gar totum pro parte für diese spezielle Verwendung des Verfahrens in stereotypen Genrekontexten durchgesetzt hat, v. a. im europäischen Kontext.2 Mittlerweile wird die Trainingsmontage von Filmemachern mit einem gebotenen Maß an (Selbst-)Ironie annonciert, als gelte auch hier das von Umberto Eco beschriebene Dilemma der Postmoderne: dass der junge Liebhaber, der sich dessen bewusst ist, dass „er weiß, daß sie weiß (und daß sie weiß, daß er weiß), daß genau diese Worte [‚Ich liebe dich‘] schon, sagen wir, von Liala geschrieben worden sind“, seine Liebeserklärung als Zitat apostrophieren muss, um überhaupt noch ernstgenommen zu werden.3 Auch Regisseure wissen, dass ihre Zuschauer ihre Unschuld verloren, d. h. schon zu oft bezeugt haben, wie die erzählte Zeit den Gesetzen des Filmschnitts und der häufig wenig subtilen kinematographischen Raffung unterworfen worden ist; aber wie Ecos Liebende wollen auch sie trotzdem „noch einmal von Liebe [reden]“.4 Es dürfte sich wohl kaum ein Kinogänger finden, der den GenderSubtext solch stereotyper Montage-Sequenzen (bspw. im klassischen Actionkino) übersehen könnte. Allerdings ist die Frage, wie genau Männlichkeit durch Montagesequenzen im Genrekino produziert wird und wie diese Sequenzen zugleich narrative Brüche kitten, bisher noch nicht systematisch untersucht worden. Um der dabei zur Anwendung kommenden Mechanismen habhaft zu werden, konzentriert sich die folgende Analyse zunächst auf die Verwendung von Trainingsmontagen in Rocky (Regie: John G. Avildsen, 1976): einem der bekanntesten Boxfilme und dem Wegbereiter einer regelrechten Renaissance der Trainingsmontage im Kino der 1980er Jahre, an dem sich paradigmatisch nachvollziehen lässt, wie Montagesequenzen einen im restlichen Film schlummernden gender trouble überspielen helfen, was zunächst eine Kontextualisierung des Films und seiner den Konventionen des Genrekinos unterworfenen Geschlechterpolitik erfordert. Anschließend werden als Gegenentwurf einige komödiantische Montagen in den Blick genommen, in denen die gängigen Geschlechtertropen und Stil2 3 4

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Vgl. einige der gängigen theoretischen Einführungen in den Filmschnitt wie REISZ/MILLAR, 1988, S. 112, oder SCHLEICHER, 2011, S. 453. ECO, 1994, S. 76. EBD.

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mittel parodiert werden. Dabei kommen auch Beispiele aus dem filmischen Schaffen des Komikers Louis de Funès zur Sprache, der ungeachtet der zahlreichen medialen Würdigungen anlässlich seines 30. Todestags (2013) sowie seines 100. Geburtstags (2014) noch immer als geradezu verdächtig populär und nicht als ernstzunehmender Humorist gilt, und der besonders in Frankreich zumindest in der akademischen Wertschätzung im Schatten der komischen Dystopien Jacques Tatis sowie des ungleich stärker verehrten Slapstick-Großmeisters Jerry Lewis steht. Es wird daher abschließend zu zeigen sein, wie in den bislang unterschätzten, doppelbödigen de-Funès-Komödien traditionelle Männlichkeitsentwürfe parodiert werden.

St all o n es M u s k el n u n d di e A m bi g uit ä t d es S p or tfi l m s Nachdem ihm gegen Ende der 1970er Jahre sein Durchbruch als Schauspieler gelungen war, avancierte Sylvester Stallone in den Jahren der Reagan-Regierung zum Weltstar und zur Galionsfigur einer Kino-Ära, die den männlichen Körper maßlos glorifizierte und immer wieder dem Drama des muskulösen Körpers huldigte, d. h. den kathartischen Gewaltexzessen von Ein-Mann-Armeen. Sowohl auf der extra- wie auch auf der intratextuellen Ebene verband sich die Erzählung des muskulösen Helden durchweg mit einer Erzählung von Entbehrung und Selbstbestimmung. Stallone hatte zwar nicht in Vietnam gedient, wurde aber dennoch als glaubwürdige Verkörperung des rauen Söldners akzeptiert – allzu deutlich war das Narrativ der Mannwerdung, das seinen filmischen Gewaltorgien zugrunde liegt, auch an seinem Körper abzulesen. Während diese Erzählung in den Rambo-Filmen (und hinsichtlich der Fetischisierung von Schmerz und Leid z. T. auch in Rocky) deutliche Anklänge vom Martyrium Jesu Christi trägt, fußt sie in der Frühphase von Stallones Karriere (so wie er sie auch immer wieder in Interviews schildert) eher auf dem Masterplot des ‚rags to riches‘-Mythos, der für die amerikanische Kultur konstitutiv ist. Die Initiationsgeschichte des Schauspielers und Actionhelden Stallone betont seine Verwurzelung in der Arbeiterklasse und seine schier übermenschlichen Anstrengungen, um sich aus der Armut nach oben zu arbeiten – ein Motiv, das selbst

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nach einer Zeitraffererzählung verlangt. Stallones gern betonte Bande zum Arbeitermilieu („To me, the ultimate movies are about the workforce“5) tritt nirgends so deutlich hervor wie in der von ihm selbst geschriebenen und zu großen Teilen auch selbst inszenierten RockyReihe,6 die ursprünglich ohne den Siegesimperativ auskommt. Tatsächlich gewinnt der sympathische und bescheidene ‚underdog‘ Rocky Balboa gerade deswegen Sympathien, weil er vom Weltmeister Apollo Creed (Carl Weathers) besiegt wird und so ein glaubwürdiges Identifikationsangebot für seine Zuschauer liefert, sofern diese Rockys Unbehagen an der Moderne („a world dominated by technology and impersonal bureaucracies, in which voiceless, powerless individuals are cut off from meaningful connections with other human beings“7) teilen. Die zivilisatorischen Versprechungen des Fortschritts und der häuslichen Bequemlichkeit sind in Stallones Filmen stets darauf angelegt, vor einer drohenden Effeminierung zu warnen, deren Abwehr im Zweifelsfall wichtiger ist als der Sieg nach Punkten. Das Vorbild für diesen (Anti-)Helden, der symptomatisch für eine Bewegung im Hollywoodkino ab den späten 1970er Jahren steht, ‚working-class heroes‘ zu Trägern maskulin konnotierter Werte zu machen, die in der emanzipierten Mittelschicht in Verruf geraten waren,8 gab der junge Marlon Brando ab, auf den in Rocky wiederholt angespielt wird.9 Trotz dieses unleugbaren Schulterschlusses mit den Verlierern suggeriert die unwahrscheinliche Erfolgsgeschichte von Rocky – bis heute einer der profitabelsten Studiofilme aller Zeiten – und seiner Fortsetzungen (sowie Imitate), dass General Patton Recht behalten haben dürf5 6

7 8 9

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Zit. nach FALUDI, 2000, S. 584. Mit Ausnahme der von John G. Avildsen inszenierten Filme eins und fünf hat Sylvester Stallone bei allen anderen Teilen der Reihe, die aus insgesamt sechs zwischen 1976 und 2006 produzierten Filmen besteht, Regie geführt. Sämtliche Drehbücher stammen ebenfalls von ihm. LESUEUR/REHBERGER, 1988, S. 31. Vgl. BISKIND/EHRENREICH, 1988, S. 206. In Micks (Burgess Meredith) Einschätzung, Rocky sei ein ‚Penner‘ und kein ernsthafter Titelanwärter, klingt Brandos berühmtester Satz aus On the Waterfront (Regie: Elia Kazan, 1954) an: „I coulda been a contender. I coulda been somebody instead of a bum, which is what I am.“ Rockys gequälter Schrei nach Adrian (Talia Shire) im Boxring spielt auf die „Stella!“-Rufe von Stanley Kowalski in A Streetcar Named Desire (Regie: Elia Kazan, 1951) an.

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te: „Americans love a winner!“ Als ein ganz dem Gedanken verschriebener Film, der grün und blau geschlagene amerikanische Staatskörper könne im Schoß der Familie heilen und zu alter Stärke finden (so wie die Nation auch das Vietnam-Trauma überwinden würde), ließ Rocky bei der 49. Oscarverleihung die gesamte Konkurrenz, darunter drei der kritischsten Post-Vietnam-Filme überhaupt (Alan J. Pakulas All the President’s Men, Sidney Lumets Network und Martin Scorseses Taxi Driver) hinter sich. Zudem wird der Film als Ausgangspunkt einer Phase der Restauration im amerikanischen Kino gelesen, d. h. als Initialzündung einer allmählichen Rückkehr zum intakten Familienbild. Dieses nostalgische Narrativ wurde in der Ära Stallone v. a. im Genre des Sportfilms immer wieder bemüht, steht hier doch u. a. die kollektiv geteilte Sehnsucht nach stabiler Männlichkeit und einem um sie herum organisierten sozialen Verbund im Mittelpunkt.10 Neben dem Baseballfilm waren es Box- und andere Kampfsportfilme (z. B. The Karate Kid, 1984 vom Rocky-Regisseur John G. Avildsen inszeniert), die sich hier hervortaten: nicht nur, weil sich der Kampf um Männlichkeit sehr genau mit dem Erzählmotiv des sportlichen Kampfes in eins setzen lässt, 11 sondern auch, weil hier die kulturellen Koordinaten noch stimmen. Der homosoziale Bereich des Sports empfiehlt sich als Metapher für traditionelle „normative masculine values: body-building, aggressive behavior, competition, and domination.“12 Im Bestreben, Männlichkeit wiederherzustellen (oder überhaupt erst hervorzubringen), muss sich Rocky allerdings – ebenso wie andere Vertreter dieses Genres – an einem paradoxen Unterfangen abarbeiten, denn beim Boxen wird Männlichkeit unter Vorzeichen verhandelt, die der heteronormativen Grundstruktur des klassischen Hollywoodfilms eigentlich widersprechen. Um seine Bewährungsprobe als ‚echter Kerl‘ absolvieren zu können, begibt sich der Boxer einerseits auf Tuchfühlung mit dem verschwitzten Körper seines Gegners, und wird andererseits selbst dem potentiell erotisierenden Blick seines Publikums ausgeliefert. Beim Boxen prallen Kontrahenten in einem brutalen Handgemenge aufeinander, doch die physische Nähe hat durchaus homoeroti10 Vgl. KIBBY, 1998, S. 16-28. 11 Vgl. auch die Argumentation zum Nexus zwischen Boxkampf und dem Amerikanischen Traum in ANDREWS, 2003, S. 62-65. 12 LABERGE, 2004, S. 757.

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sches Potential. Im Showdown von Rocky schenken sich der Protagonist und sein Gegner nichts und traktieren einander mit ihren Fäusten, doch sie genießen auch eine versöhnende Umarmung, sobald der Kampf vorbei ist, und der Übergang von einem ins andere ist fließend. Noch mehr Unbehagen verheißt das potentiell erotische Spektakel, das sich dabei dem Zuschauer bietet. In ihrem wegbereitenden Aufsatz über die Schaulust im klassischen Hollywood-Kino argumentiert Laura Mulvey bekanntlich, dass im Film in der Regel Frauen einem kontrollierenden, neugierigen Blick ausgesetzt werden, während für den Blick auf Männer andere Gesetzmäßigkeiten greifen: „According to the principles of the ruling ideology and the psychical structures that back it up, the male figure cannot bear the burden of sexual objectification. Man is reluctant to gaze at his exhibitionist like.“13 Richard Dyer weist darauf hin, dass der nackte weiße männliche Körper vor den 1980er Jahren kaum in der Populärkultur sichtbar war; eine auffällige Absenz, vergegenwärtigt man sich die Dominanz des weißen Mannes in der westlichen Kulturtradition.14 Abgesehen von Tarzan, dem sein animalisches Naturell einen Sonderstatus verleiht, leiteten erst die Bodybuilder Stallone und Arnold Schwarzenegger einen Paradigmenwechsel ein und brachten so den Körperkult in den Mainstream. Um das zwiespältige Unterfangen zu meistern, einerseits maskuline Stärke und Unverwundbarkeit auszustrahlen, sich aber andererseits einem kontrollierenden Blick feilbieten zu müssen, verfügt das Genrekino über Kompensationsstrategien. Zwei von ihnen sind zwar nicht direkt an die Konventionen des Filmschnitts geknüpft, schlagen sich aber dennoch deutlich in Rocky nieder: (1) Einerseits wäre da das Leidensschema, für das Pam Cook Martin Scorseses Boxfilm Raging Bull (1980) als prominentes Beispiel zitiert. Hier wird der Körper des Boxers Jake LaMotta (Robert DeNiro) zwar dem Zuschauer als Objekt der Begierde angeboten, allerdings unterminiert die Brutalität des Kampfes, die weit über die Szenen in Rocky hinausgeht und auch die Ästhetik des Actionkinos der kommenden Dekade prägen sollte, jeglichen Impuls in dieser Richtung. Indem der Zuschauer aufgefordert wird, den Verlust (männlicher) Stärke zu

13 MULVEY, 2012, S. 62. 14 Vgl. DYER, 2002, S. 262.

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betrauern, zentriert der Film seine tradierte Phallizität aufs Neue.15 Da liegt auch das Kreuzigungsmotiv nicht mehr weit: Bereits in Rocky wimmelt es von Christus-Zitaten, und wenn dem Protagonisten im finalen Kampf derartig die Augenlider anschwellen, dass sie mit einer Rasierklinge aufgeschnitten werden müssen, um das Weiterkämpfen noch zu ermöglichen (Abb. 1), hat der Film ausreichend deutlich gemacht, dass der entblößte Leib auf keinen Fall zur Schaulust animieren soll: Der phallische Körper ist aus dem Leid geboren, „tortured into existence.“16

Abbildung 1: Der Leidenskörper des Boxers (Rocky, 1976) (2) Vermittels einer zweiten Strategie wird Rocky ein Kontrahent gegenübergestellt, der seinen Status des Angeschautwerdens nicht bloß notgedrungen akzeptiert, sondern die Blicke der Anderen sogar bewusst provoziert. Als Kontrastfolie für den einsilbigen Protagonisten inszeniert der Film den Boxer Apollo Creed, dessen sportliche Fähigkeiten von seinem Talent zur Selbstvermarktung noch weit übertroffen werden. Creed wird im Geschäftsanzug in den Film eingeführt und außerhalb des Rings niemals in Trainingsanzügen gezeigt, was eher seinen merkantilen Charakter betont. Im Kreis seiner Entourage werden keine Strategien für den eigentlichen Kampf besprochen, stattdessen geht es um die effizienteste Art, eine Unterhaltungsshow rund um die Marke 15 Vgl. COOK, 1982, S. 42f. 16 DYER, 2002, S. 266.

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‚Apollo Creed‘ zu inszenieren, und Creeds Gebaren als eitler Pfau unterstreicht dies mustergültig. Beim Einmarsch in die Arena trägt er, der eher den Gladiatoren extravaganter Wrestlingshows nachempfunden scheint, eine George-Washington-Perücke und einen Stars-and-StripesBademantel, unter dem eine Uncle-Sam-Kostümierung zum Vorschein kommt (vgl. Abb. 2). „He looks like a big flag“, kommentiert Rocky lakonisch den Anblick seines Kontrahenten, dem er schon zuvor in einem Interview einen verbalen Fausthieb versetzt hat: Gefragt, warum er überhaupt boxe, antwortet Rocky (wiederum als indirekte Kritik am Entertainment-Boxer Creed und zugleich als Metakommentar auf das andere große Filmgenre, in dem der Mann dem taxierenden Blick preisgegeben wird, nämlich das Musical), er könne nun einmal nicht singen und tanzen. Eine weitere Szene kurz vor dem Kampf unterstreicht ebenfalls, dass ‚echte Männer‘ nicht angeschaut werden wollen – Rocky verübelt es den Veranstaltern, dass sie ein überdimensionales Plakat von ihm in der Arena drapiert haben.

Abbildung 2: Apollo Creeds Einladung zum Hinschauen (Rocky, 1976) Mehr noch als diese beiden Kontrollmechanismen tragen allerdings der Schnitt und die Montage dazu bei, den potentiell verstörenden Gedanken zu zerstreuen, hier werde ein verschwitzter männlicher Körper der Schaulust unterworfen. Während Stallones Action-Filme diese Diskrepanz normalerweise überbrücken, indem zwischen Männerkörper und spektakulären Kontrastbildern (bspw. Explosionen) hin- und herge-

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schnitten wird,17 ist es im Sportfilm v. a. die Trainingsmontage, die den Helden seine Männlichkeit (zurück-)erobern lässt. Dafür geht der Film sogar das Risiko ein, den Erfordernissen der klassischen Filmnarration und ihrer Schnittkonventionen nicht zu entsprechen, denn unsichtbar ist der Schnitt hier nicht: Statt dessen durchbricht die zu dramatischer Musik gesetzte Montage die obligatorische filmische „harmony of form and content“18 und macht auf sich aufmerksam, während das Hollywood-Erzählkino dies sonst tunlichst vermeidet.19 Dennoch dienen die Zeitraffersequenzen in Rocky der narrativen Agenda des Films.

„M a ki n g- o f“ M ä n nli c h kei t im Sc h n ell ver f a hr e n : M o n t a ge i n R o c k y Besonders klischeehafte Beispiele für eine durch die Montage repräsentierte Phase der Arbeit und Vorbereitung finden sich in maskulin konnotierten Genres wie Abenteuer-, Kriegs- oder Sportfilm. Immer wieder wird hier die Vorbereitung auf den finalen Kampf mit einem übermächtig scheinenden Gegner ins Bild gesetzt; einige der dabei am häufigsten anzutreffenden Stereotype werden im „Montage“-Lied in Trey Parkers satirischem Animationsfilm Team America: World Police (2004) pointiert zusammengefasst. In diesem Film, der u. a. eine Parodie auf den klassischen Söldnerstreifen darstellt, bereitet sich der Held auf eine höchst gefährliche Mission vor und wird von seinem Vorgesetzten darüber informiert, „[that] we have to make you a complete soldier in very little time“. Hieran schließt sich eine vorsätzlich stereotype Sequenz an, die die klassischen Tropen des soldatischen (Film-)Trainings – Schießübungen, Selbstverteidigung, Flugstunden, Bodybuilding, Rasur – abbildet und u. a. von folgenden Versen begleiten lässt: The hour’s approaching to give it your best / And you’ve got to reach your prime. / That’s when you need to put yourself to the test / And show us a passage of time. / We’re gonna need a montage!

17 Vgl. HOLMLUND, 1993, S. 222. 18 REISZ/MILLAR, 1988, S. 122. 19 Vgl. BORDWELL, 1995, S. 160.

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Dass die Filmfigur tatsächlich den Filmschnitt benötigt („need a montage“), war nicht immer selbstverständlich. Sergej Eisenstein schreibt rückblickend über die frühesten Montage-Experimente der russischen Formalisten, dass die Vorstellung des Filmschnitts zunächst höchst umstritten war und die Regisseure lange Zeit gegen das Vorurteil angehen mussten, durch den Schnitt werde die Idee des Menschen im Film an sich zerschnitten und fragmentiert, weswegen das frühe, prä-Eisensteinsche Kino denn auch zur ausgespielten, ungeschnittenen Sequenz tendiert.20 Beispiele wie Rocky suggerieren nun freilich das exakte Gegenteil, nämlich dass der Mann durch die Montage nicht zerstört, sondern vielmehr überhaupt erst gemacht wird. Dies wird bereits im ersten großen Montage-Test von Eisensteins Zeitgenossen deutlich, der bis heute immer wieder in filmtheoretischen Einführungswerken heranzitiert wird, denn was beweist Lew Kuleschows bekanntes Experiment (wo der identische Close-Up eines Mannes gegen eine Reihe verschiedener Inserts geschnitten wird, was jedes Mal eine andere Deutung des Gesichtsausdrucks produziert: Hunger, Trauer, Begehren), wenn nicht die Macht der Montage, effektiv auf der Klaviatur männlicher Emotion zu spielen? Wie Rocky nun eindrucksvoll vorführt, kommt der Montage in der erzählerischen Konstruktion von Männlichkeit eine Schlüsselrolle zu – und das nicht allein deswegen, weil der Film einem Genre angehört, das ohnehin chronisch unter Zeitdruck steht. Die erste Hälfte des Films illustriert eine der Reparatur und einer Injektion von Selbstvertrauen bedürftige Männlichkeit: Vor seinem Makeover zum würdigen Herausforderer ist Rocky Balboa ein sympathischer, allerdings ohnmächtiger Eigenbrötler, der noch nichts von der später folgenden Transformation der Stalloneschen Rollen-Persona zur unbezwingbaren Kampfmaschine verrät – Yvonne Tasker spricht von der „musculinity“21 [sic], also der v. a. durch Muskeln charakterisierten Männlichkeit dieses Typus, auf den sich implizit auch Pierre Bourdieu in seinen Ausführungen zur Somatisierung von Herrschaft bezieht. Bourdieu greift zum Beispiel des Boxers, um zu verdeutlichen, wie sich der männliche Habitus regelrecht als „vergeschlechtlichte“ Wirklichkeit in den Körper einschreibt – so wie der Boxer bei seinen blitzschnellen Abwehrreaktionen gegen geg20 Vgl. EISENSTEIN, 1977, S. 59. 21 TASKER, 1993, S. 237.

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nerische Schläge nicht mehr zu unterscheiden vermag, ob es sich bei ihnen um natürliche Reflexe oder um erlerntes Verhalten handelt, so erlebt der von symbolischer Gewalt Beherrschte den Zwang der Geschlechterordnung auch als biologische Realität.22 Rockys Trainingsregime zur Vorbereitung auf den großen Kampf übersetzt Bourdieus Somatisierungsprozess in Bilder körperlicher Arbeit, die zugleich den ‚primacy effect‘ der vorhergehenden Szenen überschreiben müssen. In den Film eingeführt wird der Protagonist nämlich als ungebildeter Gelegenheitsarbeiter im Italo-Viertel von Philadelphia, der durchaus effeminierte Züge trägt. Seine Tierliebe charakterisiert ihn ebenso als friedliebende Natur wie seine Unfähigkeit, den Schuldnern des Kredithais, für den er arbeitet, Gewalt anzutun. Es sind Rockys schüchterne Annäherungsversuche bei Adrian (der Schwester seines besten Freundes), die die Handlung in der ersten Filmhälfte vorantreiben und eher an eine zeitgenössische Aschenputtel-Adaption erinnern, sowohl mit Blick auf Adrians Verwandlung vom hässlichen Entlein zum schönen Schwan (worin sich der inhärente Konservatismus des Films bestätigt), als auch auf Rocky selbst, dessen Kampf gegen Creed von den Kommentatoren als „Cinderella story“ annonciert wird. Sinnigerweise zeigte das ursprüngliche Poster des Films Rocky Hand in Hand mit Adrian, wogegen in Neuauflagen der geschundene, solitäre Kampfkörper in den Vordergrund gerückt wird, der eigentlich erst in den Fortsetzungen die Oberhand gewinnt. Am Ende von Rocky steigt noch nicht der Kalte Krieger aus Rocky IV (Regie: Sylvester Stallone, 1985) oder Rambo III (Regie: Peter MacDonald, 1988) in den Ring,23 sondern ein sanfter Riese. Das unterwirft das Training, dem sich Rocky in der zweiten Hälfte des Films unterzieht, zusätzlichen narrativen Erfordernissen, denn um als glaubwürdiger Kontrahent in den Ring zu steigen, muss der Film seine bis dahin eingehaltene generische Struktur widerrufen, die Romanze unterbrechen und den Rat des Trainers befolgen: „There’s no foolin’ around during training!“ 22 Vgl. BOURDIEU, 1997, S. 167. 23 Stallone ist für seinen Einsatz als ideologische Kampfmaschine, die etwa in Rambo: First Blood Part II (Regie: George P. Cosmatos, 1985) die Revanchegelüste der in Vietnam unterlegenen Großmacht USA stillt, und als Kino-Ikone der US-Rechten u. a. als „Reagan’s pornographer“ bezeichnet worden (zit. nach LESUEUR/REHBERGER, 1988, S. 25). Vgl. auch HOLMLUND, 1993, S. 214.

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Die drei herausstechenden Montage-Sequenzen in Rocky entledigen sich daher der weiblichen Figur und verfrachten den Helden in die Isolation, um aus dem Romeo eine Kampfmaschine zu formen. Da das Training sich nicht automatisch für die effektvolle Darstellung im Film empfiehlt, wird dem Publikum die eigentliche Arbeit erspart, stattdessen erhält es „a rhythmic summation of events that conveys the idea of hard work.“24 Die fragmentierte Struktur der Montage gestattet dem Zuschauer, das Spektakel des männlichen Körpers und der durch ihn vollführten Kraftanstrengungen in Augenschein zu nehmen, ohne dass dieser Blick zum bohrenden ‚gaze‘ wird, denn die Montage präsentiert ein Mosaik aus mehreren, häufig nur ein bis zwei Sekunden dauernden Einzelbildern. Im Verlauf der drei Sequenzen wird nicht nur Rockys Männlichkeit von Grund auf erneuert, sondern es drängt auch eine emotionale Wucht in den Film, die Eisenstein selbst als Grundfunktion des Filmschnitts charakterisiert.25 Die erste Sequenz dauert 2:10 Minuten und zeigt den Beginn des Trainings. Sie besteht aus lediglich acht Einstellungen in behäbigem Tempo, was zu diesem Zeitpunkt dem Stand von Rockys Vorbereitungen entspricht. In den ersten fünf Einstellungen verlässt er sein Haus, joggt durch die nächtlichen Straßen Philadelphias und entfernt sich dabei von der Kamera, als schäme er sich, seine Runden unter Zeugen zu absolvieren. Die letzten drei Einstellungen, die zusammen eine ganze Minute dauern, deuten auf das später folgende Bild voraus, das sich ins kollektive Gedächtnis einbrennen sollte: Rocky scheitert hier noch daran, die Stufen zum Philadelphia Museum of Art im Laufschritt zu erklimmen, und steigt sie stattdessen, völlig außer Atem, wie ein geprügelter Hund wieder hinab. Der Rhythmus dieser Szene hat noch keinerlei elektrisierenden Effekt auf den Zuschauer, liefert aber die nötige Kontrastfolie, damit die nächste Montage – die am häufigsten parodierte Szene und zugleich das Herzstück des Films – ihre volle Wirkung entfalten kann. In dieser Szene widerlegt Rocky zuvor geäußerte Zweifel an seiner Fitness. Bei nur geringfügig längerer Dauer (2:36 Minuten) besteht die Sequenz aus dreimal so vielen Einstellungen wie die erste, beginnt erneut langsam (die ersten sieben Einstellungen dauern 71 Sekunden), 24 CONSALVO u. a., 2010, S. 388 (Herv. von W. Schwanebeck). 25 Vgl. EISENSTEIN, 1977, S. 57.

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steigert sich allerdings zu einer kraftvollen Klimax. In der sechsten Einstellung (Rocky am Punching-Ball) setzt innerhalb der heroischen Musik (Bill Contis berühmtes Thema, „Gonna Fly Now“) der Gesang ein; ab hier lässt die Sequenz nicht mehr nach. Es folgen 13 Einstellungen, in denen Rocky Liegestützen absolviert, gefrorene Rinderhälften in der Fleischfabrik mit seinen Fäusten bearbeitet und sich selbst Schläge verpassen lässt (vgl. Abb. 3). Der Soundtrack gibt schließlich das Versprechen ab, der vormals Subalterne werde sich Superman-gleich in die Lüfte erheben („Feeling strong now, / Won’t be long now, / Getting strong now, / Gonna Fly now.“), und Rocky schafft die Museumstreppe mühelos. Indem er mit erhobenen Armen diesen symbolischen „working-class victory“ feiert,26 zoomt die Kamera zur Nahaufnahme heran, und die Sequenz kommt nach der orgastischen Klimax in einer Art postkoitaler Verschnaufpause in Zeitlupe zur Ruhe.

Abbildung 3: Trainingsmontage in Rocky (1976) In der dritten, 51 Sekunden langen Sequenz kommt schließlich auch eine Parallelmontage zum Einsatz, die zwischen den beiden Kontrahen26 BISKIND/EHRENREICH, 1988, S. 24.

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ten kurz vor ihrer Begegnung im Ring hin- und herschneidet und ihre Vorbereitungen zeigt: Bandagen werden um ihre Handflächen gewickelt, Muskeln werden massiert. Hier muss der Film, damit sich im abschließenden Kampf überhaupt Suspense einstellt und der Zuschauer des Ausgangs nicht gewiss ist, Apollo Creed, der bis dahin nur als Großmaul in Erscheinung getreten ist, als gefährlichen Champion inszenieren.27 Insgesamt wird Rocky in den drei Montagesequenzen so ökonomisch zum Kämpfer aufgebaut, wie es der restliche Film aufgrund seiner Struktur – eben weil die Elemente der Romanze und des Sozialdramas überwiegen – nicht leisten kann. Im Zeitraffer wird Männlichkeit den Kunstgriffen der Inszenierung unterworfen und in Windeseile aus dem Hut gezaubert, wodurch der Film zwar mit visuellen Belegen postulieren kann, Rocky habe seine Männlichkeit legitim erworben, andererseits diesen Vorgang abkürzt und damit zumindest teilweise seine Repräsentierbarkeit im Film negiert. Die Montage birgt den zusätzlichen Vorteil, dass sie Rocky, der im restlichen Film vor Nervosität ständig ins Plaudern gerät und damit angreifbar wirkt, verstummen lässt und ihn ganz zur Aktion zwingt, anstatt zur Kommunikation. Aus der letzten Szene vor Beginn der Trainingssequenz löst sich Rocky bereits mit einem symbolischen Schweigegelübde, nachdem er seinen Freund Paulie für dessen Geplauder kritisiert hat und selbst beschließt, fortan nur noch seine Fäuste sprechen zu lassen. In allen drei Sequenzen kommuniziert Rocky nur einmal mit seiner Umgebung – ein Beobachter macht ihm ein Kompliment zum Stand seiner Vorbereitungen („You’re gonna kill him.“), und Rocky antwortet mit einer stummen, affirmativen Geste: ‚Richtige‘ Männer schweigen, gemäß Bourdieu wird also ohne verbale Rechtfertigung „das Sein im Modus der Evidenz [ausgesprochen]“,28 das Primat des wortkargen Kämpfers bleibt in der Erzähllogik unbestritten. Die Absage an den ‚logos‘ passt zum ‚back to nature‘-Gestus, den Stallones Kino immer wieder behauptet: Rocky meidet die Menschen und traktiert lieber die leblosen Tierkadaver im Schlachthaus mit Hie27 Zugleich deutet der Film kurz an, Rocky werde sich auf das eitle Niveau seines Gegners begeben, indem er (in der 13. Einstellung) kurz beim Blick in den Spiegel gezeigt wird – der vermeintliche narzisstische Blick erweist sich allerdings als demütige Gebetshaltung. 28 BOURDIEU, 1997, S. 158.

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ben,29 was ihn als gemäßigte Vorstufe der Kampfmaschine John Rambo ausweist. Diese hat ihre animalische Seite weit weniger unter der zivilisatorischen Schutzhülle der Kultur begraben und lockt ihre Gegner am liebsten in den Dschungel, um mit ihnen dort ‚survival of the fittest‘ zu spielen. Soweit treibt es Rocky (noch) nicht, auch wenn die Filme im Boxring auf filigrane Choreographie und kluges Taktieren verzichten und stattdessen im Finale eher einer aus dem Ruder gelaufenen Kneipenschlägerei ähneln. Der Einsatz von Zeitraffersequenzen im neun Jahre später folgenden vierten Teil der Boxersaga bekräftigt diesen Gestus und steigert ihn bis an die Grenzen der Selbstparodie. Rocky IV (1985), der am stärksten von den ideologischen Debatten der Zeit durchwirkt und einer der lupenreinsten Propagandafilme der Schlussphase des Kalten Krieges ist, positioniert den Körper des Boxers als rohe Naturgewalt gegen den sowjetischen Kontrahenten Ivan Drago (Dolph Lundgren), „a technologically efficient but dehumanized tool of the system.“30 Rocky zieht sich als patriotische Allzweckwaffe hier selbst die Stars-and-StripesShorts an (die damit nicht länger der Lächerlichkeit bloßer ‚showmanship‘ preisgegeben werden), um seinen Freund Apollo Creed zu rächen, den Drago im Ring getötet hat. Er reist hinter den Eisernen Vorhang und errichtet seine Männlichkeit im sibirischen Winter aufs Neue. Die politische Topographie des Films verschränkt die Kontrahenten damit durchaus widerspruchsvoll in einem Chiamus: Drago, dessen Heimat im Film propagandistisch v. a. als vorzivilisatorische, bäuerlich besiedelte Steppe charakterisiert wird, wird mittels der Hightech-Ausrüstung, die eigentlich als Vorrecht der westlichen Welt gilt, zum Kampfroboter frisiert; dagegen entzieht sich der Amerikaner Balboa den effeminierenden Einflüssen der Zivilisation, die den Mann ‚ehrlicher‘ Arbeit enthebt, und geht ‚back to nature‘, womit sich Stallone hier näher an seiner Rambo-Reihe als an den vorhergehenden Rocky-Filmen bewegt. In letzter Konsequenz reklamiert Rocky IV damit westliche Hoheit über beide Sphären, denn der technologische ‚state of the art‘ wird in der 29 Im Gegensatz zur wandelnden Litfaßsäule Apollo Creed trägt Rocky nur einen Werbehinweis auf seinem Mantel: den der Fleischfabrik. Nicht nur deswegen sind die Sympathien des Publikums dem „Höhlenmenschen“, als welcher er von den Boxkommentatoren bei seinem Einmarsch bezeichnet wird, sicher. 30 LESUEUR/REHBERGER, 1988, S. 28.

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Hand der Sowjets lediglich zur Wettbewerbsverzerrung missbraucht, während die Taiga in Stallones mit Jesus-Analogien gespickter Montage christianisiert wird – eine Geste, die vor einem mit Ronald Reagans Rhetorik vom gottlosen „evil empire“ vertrauten Publikum auf fruchtbaren Boden gefallen sein dürfte. Wie die finale Montage des ersten Films basiert auch die Trainingsmontage in Rocky IV – die Alain Labelle genauer auf ihre Eisensteinschen Dimensionen hin untersucht31 – auf effektivem Kontrast, der die ideologische Agenda des Films in regelrecht absurde Höhen steigert.

Abbildung 4: Parallelmontage als Propagandawaffe in Rocky IV (1985) Während Balboa in einem bitterkalten russischen Wald sein Lager errichtet, bärtig durch die Taiga joggt, Pferdewagen stemmt, statt der Treppen zum Museum nun verschneite Gebirgskämme erklimmt und vom Gang übers Wasser bis zum Tragen des Kreuzes wiederum keine Heilands-Referenz scheut, bedient sich der blonde Hüne aus dem sowjetischen Lager einer Trainingsapparatur, die von Wissenschaftlern 31 Vgl. LABELLE, 1988, S. 111-122.

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überwacht wird (die ihm zugleich Steroide spritzen) und dem Publikum zugleich den Unterschied zwischen ‚ehrlich‘ erworbener Männlichkeit („ideal, hard, achieved“32) und den als widernatürlich dämonisierten Exzessen des politischen Gegners vor Augen führt (vgl. Abb. 4). ‚Body-building‘ mag noch angehen, so räsoniert der Subtext des Films eingedenk der Praktiken des von Stallone mitgeschaffenen Körperkults (der ebenfalls die ein oder andere Anabolika-Frischzellenkur erhalten haben dürfte), aber rein maschinelle ‚body-fabrication‘ verteufelt sie. Drohender Signale von gender trouble entledigt sich die Sequenz zudem, indem der bewundernde Blick auf Rocky durch den ‚point-of-view‘ der treu an seiner Seite stehenden Ehefrau legitimiert wird, die ihren Mann begleitet – so wärmt der Film das konservative Familienbild aus der Frühphase des Kalten Krieges auf. Indem Rocky dem Goliath aus dem Genlabor im Showdown den K.O. verpasst, begräbt der Film nicht nur die von Drago repräsentierte Männlichkeit, sondern platziert diese sogar gänzlich außerhalb der tradierten Geschlechterordnung. Dies verdeutlicht auch das Erscheinungsbild von Dragos sadistischer Ehefrau (Brigitte Nielsen), die ihrem Mann wie aus dem Gesicht geschnitten scheint und dem Zuschauer ihrerseits suggeriert, dass hinter dem Eisernen Vorhang die verlässlichen Geschlechterkategorien allesamt aufgehoben, gar pervertiert sind – implizit wird damit der von der Familie Balboa vorbildlich (und hierarchisch) dargebotene Geschlechterunterschied, den Bourdieu für die Funktionalität des Habitus als unabdingbar betont, naturalisiert.33 Da lässt sich schwerlich die in einigen Einführungen in den Filmschnitt behauptete Unterscheidung zwischen einem bloß dem Fortgang der Erzählung dienenden Einsatz von Montage im westlichen Kino auf der einen sowie den Propaganda-Montagen von Eisensteins Schülern auf der anderen Seite aufrecht erhalten.34 Auch das US-amerikanische Genrekino 32 DYER, 2002, S. 265. 33 Vgl. BOURDIEU, 1997, S. 169. 34 So behauptet etwa Louis Giannetti in seiner Einführung, die manipulativen Strategien der Eisenstein-Schule ließen keine freie Urteilsfindung des Zuschauers mehr zu, gerade als sei das von D. W. Griffith maßgeblich beeinflusste Hollywood-Erzählkino frei von solchen Tendenzen – was bereits angesichts von Griffiths notorisch geschichtsrevisionistischem Film The Birth of a Nation (1915) kaum aufrechtzuerhalten ist. Vgl. GIANNETTI, 1990, S. 132. Eine ähnliche Einschätzung der US-Montage als lediglich dem Erzählfluss dienend findet sich in REISZ/MILLAR, 1988, S. 112.

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weiß die Montage im narrativen Zusammenhang als ideologische Waffe einzusetzen.

W ei c hei er i m Trai ni ngsl a ger: Par o d is tis c h e M o n ta g e n Rocky mag die Zeitraffersequenz im Genrekino der späten 1970er Jahre wieder salonfähig gemacht haben, erfunden hat sie der Film freilich nicht. Das wird bereits daran ersichtlich, dass vergleichbare Szenen bereits vor Rocky nach Kräften parodiert werden, die Vertrautheit des Zuschauers mit ihnen also vorausgesetzt werden kann. So schöpfen bspw. die frühen Komödien von Woody Allen Pointe um Pointe daraus, dass sich die Trickster-Persona des brillentragenden, pikaresken AntiHelden – der hier noch nicht den intellektuellen Sex-Appeal seiner späteren Rollen verströmt, sondern eher das ‚Weichei‘ und Stehaufmännchen im Rahmen der Slapstickkomödie gibt – in Genrekontexte verirrt, die eigentlich nach der virilen Söldnerfigur verlangen, so etwa den Science-Fiction-Film (Sleeper, 1973) oder den Kriegsfilm (Love and Death, 1975). Fast alle dieser frühen Filme parodieren die maskulin konnotierte Trainingsmontage, geraten Allens Figuren doch zumeist auf allerlei Irrwegen in homosoziale Verbünde, die den ganzen Mann ver-

Abbildung 5: Der künftige Boxgigant trifft das intellektuelle Weichei (Bananas, 1971)

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langen und ihn mit Waffentraining und Kampfausbildung indoktrinieren wollen. Wie sehr Woody Allen dabei dem Muskelprotz-Stereotyp zuwiderläuft, zeigt sich schon daran, dass in Bananas (1971) der junge Sylvester Stallone seinen ersten Filmauftritt hinlegen darf – bewusst als furchteinflößender U-Bahn-Schläger besetzt, gegenüber dessen muskulöser Erscheinung die Versuche des schmächtigen Protagonisten, seinen Mann zu stehen, zum Scheitern verurteilt sein müssen (vgl. Abb. 5). Diejenigen Szenen, in denen sich Allens Figuren zur Vorbereitung auf militärische Schlachten oder vor dem revolutionären Angriff auf korrupte Regimes dem Kasernentraining unterziehen, sind deswegen noch so aktuell und hinreißend komisch, weil die in ihnen satirisch attackierten Tropen im Genrekino weiterhin Gültigkeit besitzen, wie nicht nur Sylvester Stallones Erfolge im Herbst seiner Kinokarriere illustrieren. Seine ironiefrei inszenierte, unverbrüchliche Härte lebt in Filmen mit Vin Diesel oder Jason Statham weiter, teils ist sie (mit Stallone) auch in die Generation der Väter gewandert – sowohl das Augeum-Auge-Ethos als auch der Gestus des Martyriums, die in Rambo oder Rocky IV evident sind, werden in den Filmen der sogenannten „GeriAction“-Welle mit Liam Neeson (Taken-Trilogie, 2008-2014), Denzel Washington (Man on Fire, 2004; The Equalizer, 2014) oder Kevin Costner (Three Days to Kill, 2014) wieder aufgegriffen. Den phallischen Subtext der stereotypen Trainingsmontagen legt Woody Allen dabei in den zahlreichen Kastrationswitzen seiner Filme erbarmungslos

Abbildung 6: Montageparodien in Woody Allens Bananas (1971) und Love and Death (1975)

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offen: Das Gewehr zerfällt in seine Einzelteile; der Säbel bleibt in der Scheide stecken; die gymnastische Übung endet mit dem ersten Versuch; die Guerrilla-Camouflage als Baum funktioniert nur solange, bis sich ein anderer Soldat an diesem erleichtert (vgl. Abb. 6). Ähnlich parodistische Beispiele finden sich in den Komödien mit Louis de Funès, auch wenn dieser, seinem Rollentyp entsprechend, die Schule der Männlichkeit nicht als Lehrling absolviert, sondern stattdessen als autoritärer Übungsleiter in Erscheinung tritt. Rocky Balboa und der aufrechte Gendarm Ludovic Cruchot, den de Funès in insgesamt sechs Folgen seiner Gendarme-Filmreihe (Regie: Jean Girault, 196482) verkörpert, bewohnen verschiedene fiktionale Universen, in denen aber jeweils das gleiche erleichterte Aufatmen zu vernehmen ist: Es ist noch einmal gutgegangen, die Kulturrevolution ausgeblieben. Der Kampftitan Stallone und das sprichwörtlich gewordene „Männlein“ de Funès, deren Zenit in der Gunst der Kinozuschauer sich an der Schwelle von den 1970er zu den 1980er Jahren in Europa kurzzeitig überschnitt, sind damit zwar seltsame Bettgenossen, allerdings durchaus Brüder im Geiste und haben sich auch nicht zufällig an derselben Rolle als schützender ‚pater familias‘ ausprobiert, wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg: Einen seiner wenigen Ausflüge ins komische Fach unternahm Stallone mit einer Adaption von Claude Magniers Erfolgskomödie Oscar (Regie: John Landis, 1991), in ebenjener Rolle, in der Louis de Funès sowohl auf den Boulevardbühnen Frankreichs als auch in der erfolgreichen Kinoversion (Regie: Edouard Molinaro, 1967) über Jahre seine größten Triumphe gefeiert hatte. Augenscheinlich verteidigen beide die Kernfamilie gegen den Klassenfeind bzw. gegen den Fortschritt, Stallone mit den Fäusten, und de Funès, dem „[d]ie Erschütterung des Traditionellen durch Verschiebungen im sozialen Gleichgewicht zwischen Jung und Alt, Arm und Reich, modern und treu […] buchstäblich in den Leib gefahren [ist]“,35 mit dem zur Faust geballten Gesicht. Und doch täte man dem komödiantischen Schaffen von de Funès sehr unrecht, handelte man es unter den gleichen Vorzeichen wie die erzkonservative Boxersaga ab. In der Nachfolge der Molièreschen Charakterkomödie, die zum Protagonisten den widerborstigen Grantler erwählt, der in der klassischen Komödientradition eigentlich nur als 35 DATH, 2014.

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‚blocking figure‘ (d. h. als das misanthropische, patriarchale Hindernis, das die Liebenden überwinden müssen) vorgesehen ist, wagen sich die Filme nämlich zugleich daran, die von dieser Figur repräsentierte Norm zumindest temporär zu verschieben, zu suspendieren und damit selbst am Schluss, wenn sie unweigerlich restituiert wird, fragiler erscheinen zu lassen. In der Uniform des braven Ordnungshüters und Familienvaters, dem permanent „die Kontrolle über seine unmittelbare Umgebung zu entgleiten droht, [und] dessen kleinbürgerliches Minderwertigkeitsgefühl sich in Kriecherei gegenüber den Starken und in autoritärverächtlichem Gehabe gegenüber Schwächeren ausdrückt und der von einem Wutanfall in den nächsten stürzt“,36 steckt ein Abgesandter der Gender-Polizei,37 der den Status quo gegen den Zeitgeist und Eindringlinge verteidigt: Er bewacht die pubertierende Tochter auf Freiersfüßen (Le Gendarme à New York, 1965), setzt sich gegen den Drogenrausch der Achtundsechziger zur Wehr (Le Gendarme en Balade, 1970) und verteidigt bärbeißig das angestammte Revier gegen Veränderungen, so etwa als Frauen in den Polizeidienst vordringen (Le Gendarme et les Gendarmettes, 1982). Im subversivsten Film der Reihe, Le Gendarme et les Extra-Terrestres (1979), beschleicht die Polizeitruppe im Kampf gegen außerirdische Cyborg-Doppelgänger eine Ahnung, vielleicht selbst nur ein Abziehbild zu sein, gleichsam eine Kopie ohne Original. Bereits im ersten Teil ist die Gender-Polizei auf Streife und wahrt Sitte und Anstand gegen die verlotterte Libertinage der Freikörperbewegung, doch sie macht sich in ihrem Kampf zugleich lächerlich und muss sich – als Dauerpointe in de-Funès-Filmen – beständig und widerwillig ins Kostüm derer begeben, die sie eigentlich zu bekämpfen sucht. So wie der Antisemit Pivert (Les Aventures de Rabbi Jacob, 1973, Regie: Gérard Oury) in der Verkleidung eines Rabbiners die Flucht antritt, muss Gendarm Cruchot u. a. im Hippie-Kostüm und in Frauenkleidung Zucht und Ordnung wahren. Damit verwahrt sich die Komödie nicht nur gegen den heiligen Ernst, sondern auch gegen das völlige Aufgehen im restaurativen Schluss, denn selbst in der Rückkehr zur gemäßigten Ordnung liegt immer ein anarchischer Rest, eine Ahnung von Doppel36 MUNDT-ESPÍN, 2009, S. 275. 37 Michael Kimmel beschreibt mit dieser Metapher diejenigen allgegenwärtigen Strukturen, die unsere Genderperformances im Zaum halten und verhindern, dass wir die „well-drawn boundaries of manhood“ nicht überschreiten; KIMMEL, 2009, S. 47.

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bödigkeit und die Möglichkeit einer Verneinung der Norm, zumindest im Rahmen der Ironie – das gilt auch für die filmischen Stilmittel, die zur Konstruktion und Restauration dieser Normen aufgewandt werden, so etwa die Montage. Um im ersten Teil den gerissenen Nacktbadern auf die Schliche zu kommen, die sich dem Zugriff der Polizei durch ein ausgeklügeltes Warnsystem zu entziehen wissen, verdonnert Cruchot seine Untergebenen zu einem Trainingsprogramm: „Ce qui compte, c’est la qualité, ce n’est pas la quantité des hommes“, erklärt er seiner Truppe und leitet mit der Trillerpfeife in der Hand zu einer fast dreiminütigen, aus über 60 Einstellungen bestehenden Sequenz im Zeitraffer über (vgl. Abb. 7).

Abbildung 7: Das Training der Gendarmen (Le Gendarme de St. Tropez, 1964) Diese Szene, gesetzt zum eingängigen Marschmotiv von Raymond Lefèvre, parodiert allerdings die gängigen Erzählkonventionen nach Kräften und subvertiert damit auch den konservativen Grundton des Films. Während die konventionelle Trainingsmontage üblicherweise darauf beharrt, dass sich das zur Schau gestellte Training über Wochen und Monate abgespielt hat – in Rocky u. a. messbar am Bartwuchs des Helden und an der unterschiedlichen Witterung in verschiedenen Einstellungen –, suggeriert die entsprechende Sequenz in Giraults Film eher, dass sich die erzählte Zeit auf allenfalls einen Nachmittag beschränkt. Die erzielten Erfolge werden zudem komisch gebrochen oder

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durch die Stilmittel der Inszenierung ad absurdum geführt: Cruchot heizt seine Männer – die sich den Nudisten zur Tarnung im Adamskostüm nähern sollen – an, ihr Tempo beim Anschleichen und blitzschnellen Ankleiden zu steigern, was der Film in drei Schritten mit slapstickhafter, künstlicher Beschleunigung darstellt. Das Tauchtraining endet in der Ohnmacht aller vier Kandidaten, und beim Nachplärren der quasimilitärischen Kampfparolen („Je suis le plus fort ! Nous sommes les plus forts !“) antworten die Polizisten auch dann noch unisono mit „Oui, chef !“, als aus Cruchots Mund nur noch Nonsens kommt. Der einzige zählbare Erfolg dieses Trainings, das statt ‚echter Männer‘ eher eine brave Schafsherde produziert, besteht darin, dass der Polizist Fougasse im Handumdrehen seine Socken anziehen kann, und was könnte passender sein, bemisst sich die hier produzierte Männlichkeit der Staatsgewalt doch allein an ihren Accessoires. Ohne seine Uniform wäre der Würdenträger selbst nur einer der hilflosen Nackten, weshalb sich de Funès und seine Gendarmen auch derart manisch an die Insignien von Vater Staat klammern, und als perfekt getimte Schlusspointe der FKK-Razzia von den auf frischer Tat ertappten Nudisten unnachgiebig die Papiere („Vos papiers !“) verlangen.

R e s ü me e Als sich Rocky Balboa im sechsten Teil der Reihe (Rocky Balboa, Regie: Sylvester Stallone, 2006) auf seinen letzten Kampf vorbereitet, erklimmt er natürlich noch einmal die Stufen zum Kunstmuseum von Philadelphia, womit sich die Filmreihe ihrer eigenen Geschichte versichert und auch ihr berühmtestes Stilmittel, die Trainingsmontage, noch einmal zum Einsatz bringt, die da längst in die Filmgeschichte eingegangen ist. Am Erfolg von Rocky hatte sie einen immensen Anteil, wie sich nicht nur an der Auszeichnung der beiden Cutter Richard Halsey und Scott Conrad mit einem Oscar ermessen lässt, sondern auch an den zahllosen Imitatoren des Verfahrens. Die Verwendung von Montagesequenzen in maskulin konnotierten Filmgenres unterstreicht, dass die Montage keineswegs, wie etwa Reisz und Millar behaupten, jeglichen

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emotionalen Effekts entbehrt,38 sondern dass sie vielmehr an die Gefühle des Publikums appelliert und damit u. a. auch zum Vehikel für Gender-Ideologie wird. Der zeitgenössische Rezipient mag die Sequenzen in Rocky überholt finden, doch es liegt in der Natur der Populärkultur, die John Fiske als Kultur der Kontraste charakterisiert,39 dass ihre polysemische Qualität verschiedenen Adressaten auch verschiedene Arten von Genuss bietet, sei es durch die Offerte eines Schulterschlusses mit dem dargestellten hegemonialen Ideal oder durch einen unverhofften Blick auf Brüche darin. Der Erfolg des letzten Rocky-Films wie auch der unverblümt nostalgischen Expendables-Reihe (2010-14) rund um Stallone und sein Bataillon von Action-Rentnern zeigt, dass noch immer ein Publikum willens ist, über die antiquierte Weltanschauung hinwegzusehen, auch wenn – um noch einmal Ecos Beispiel zu zitieren – diese sich erst gar nicht bemüht, ihre Zitathaftigkeit und ihre Orientierung an den konservativen Geschlechterbildern der 1980er Jahre (die bereits selbst von Nostalgie durchsetzt waren) zu kaschieren. Die anhaltende Beliebtheit einer unzerstörbaren, muskulösen Männlichkeit und die Notwendigkeit, diese narrativ herzuleiten, dürfte das Überleben der Zeitraffersequenz sicherstellen, die natürlich auch in filmischen Porträts von Weiblichkeit bzw. in weiblich konnotierten Filmgenres eine Rolle spielt, dort allerdings häufiger die Applikation von Kommoditäten auf den weiblichen Körper (z. B. in Makeover-Szenen) zum Inhalt hat und kaum den Körper selbst verändert bzw. einem Arbeitsprogramm unterzieht.40 Anhand der hier ausgewählten Beispiele konnte belegt werden, wie die Montage dabei hilft, diese als exklusiv maskulin gezeichnete Körperarbeit in bewegte Bilder zu übersetzen und wie das Erzählkino damit dem Gender-Imperativ folgt, Männlichkeit als eine Größe zu inszenieren, die „durch einen Kampf, eine schmerzhafte Initiation oder eine lange und manchmal demütigende ‚Lehrzeit‘ erworben werden muß.“41 38 Vgl. REISZ/MILLAR, 1988, S. 113. 39 FISKE, 1995, S. 213. 40 In anderen Fällen wird (mit Judith Halberstam) ‚female masculinity‘ produziert, z. B. in den vielfach analysierten Filmen Terminator 2: Judgment Day (Regie: James Cameron, 1991) oder G.I. Jane (Regie: Ridley Scott, 1997), wo sich die weiblichen Protagonisten in Kampfmaschinen verwandeln. 41 HORLACHER, 2010, S. 196.

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Rocky ist sowohl ein symptomatisches Beispiel für die heteronormative Logik des Hollywood-Kinos, die letztlich diktiert, dass die Brüche im Männlichkeitsbild des Films gekittet werden müssen, als auch eine adäquate Chiffre für das Trainingsregime, dem das Publikum selbst unterworfen wird, bis es die Geschlechterideologie irgendwann als natürlich akzeptiert.42 Ein Weg, der der filmwissenschaftlichen Diskussion bei der Erforschung dieser Prozesse weiterhin offen steht, ist das genauere Studium der Komödie, die – mit Ausnahme der potentiell geschlechtssubversiven ‚drag comedy‘ – innerhalb des Fachs immer noch relativ marginalen Status genießt, was auch symptomatisch für den nur unzureichend erforschten Zusammenhang zwischen Männlichkeit und Komik ist, 43 wiewohl Theoretikerinnen wie Judith Butler wiederholt auf das geschlechtssubversive Potential von Parodie und Humor hingewiesen haben. Die hier exemplarisch diskutierten Beispiele aus einigen Filmkomödien der 1960er und 1970er Jahre mögen Anregung dazu liefern, künftig stärker Komödien zu berücksichtigen, wenn nach Genderangeboten jenseits der rigiden Rollenentwürfe des US-amerikanischen Genrekinos sowie den dabei zur Anwendung kommenden Filmtechniken gefragt wird. Wenn der Filmschnitt, wie Eisenstein in seinen theoretischen Schriften darlegt, der ‚Nerv des Kinos‘ ist,44 dann darf dieser Nerv in einigen der hier diskutierten Beispiele guten Gewissens als überstrapaziert bezeichnet werden – und man sollte jede Gelegenheit ergreifen, ihn zu kitzeln.

42 In seiner nach wie vor lesenswerten Studie zu Männlichkeit im Erzählkino argumentiert Siegfried Kaltenecker, die westliche Gesellschaft gehe „ungeachtet aller Krisen immer wieder in denselben Film“ (K ALTENECKER, 1996, S. 307). 43 So befasst sich der 2009 erschienene Band zu Gender and Laughter v. a. mit Weiblichkeit, Feminismus und queeren Phänomenen (PAILER u. a., 2009); unter den zahlreichen seit 2000 erschienenen Enzyklopädien der Männlichkeitsforschung bietet lediglich die International Encyclopedia of Men and Masculinities einen Eintrag zu Humor, der sich allerdings auf knappe Aussagen zu Humor in der sozialen Interaktion beschränkt (KEHILY, 2007, S. 320-321). 44 EISENSTEIN, 1977, S. 48.

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Lit er at ur ALLEN, WOODY, Bananas, USA, 1971, 78 min. AVILDSEN, JOHN G., Rocky, USA, 1976, 114 min. BOBIN, JAMES, The Muppets, USA, 2011, 103 min. COSMATOS, GEORGE P., Rambo: First Blood Part II, USA, 1985, 96 min. GIRAULT, JEAN, Le Gendarme de St. Tropez, Frankreich/Italien, 1964, 89 min. KAZAN, ELIA, A Streetcar Named Desire, USA, 1951, 120 min. DERS., On the Waterfront, USA, 1954, 108 min. MACDONALD, PETER, Rambo III, USA, 1988, 97 min. PARKER, TREY, Team America: World Police, USA, 2004, 98 min. SCORSESE, MARTIN, Raging Bull, USA, 1980, 124 min. STALLONE, SYLVESTER, Rocky IV, USA, 1985, 88 min. DERS., Rocky Balboa, USA, 2006, 102 min. ANDREWS, MATTHEW, Boxing, in: American Masculinities. A Historical Encyclopedia, hg. von BRET E. CARROLL, Thousand Oaks 2003, S. 62-65. BISKIND, PETER/EHRENREICH, BARBARA, Machismo and Hollywood’s Working Class, in: American Media and Mass Culture. Left Perspectives, hg. von DONALD LAZERE, Berkeley 1988, S. 201-215. BOURDIEU, PIERRE, Die männliche Herrschaft, in: Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, hg. von IRENE DÖLLING/BEATE KRAIS, Frankfurt a. M. 1997, S. 153-217. CONSALVO, MIA u. a., Where’s My Montage? The Performance of Hard Work and Its Reward in Film, Television, and MMOGs, in: Games and Culture 5, 4 (2010), S. 381-402. COOK, PAM, Masculinity in Crisis? Pam Cook on Tragedy and Identification in Raging Bull, in: Screen 23, 3-4 (1982), S. 39-46. DATH, DIETMAR, Unvergängliches Hirnsausen, http://www.faz.net/ aktuell/feuilleton/100-jahre-louis-de-funes-ewiges-hirnsausen-1307 2563.html vom 30.07.2014. DYER, RICHARD, The White Man’s Muscles, in: The Masculinity Studies Reader, hg. von RACHEL ADAMS/DAVID SAVRAN, Malden/Oxford 2002, S. 262-273.

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Das Ende der Utopie: Homosoziales Framing und Klassenkonflikt in Alfonso Cuaróns Y tu mamá también KARIN PETERS M e xik o s u n m ö gli c h e Ut o p ie In Y tu mamá también machen sich der reiche, verwöhnte Tenoch Iturbide (Diego Luna) und sein Schulfreund Julio Zapata (Gael García Bernal) aus der einfachen Mittelschicht gemeinsam mit einer erwachsenen Spanierin, der attraktiven Luisa Cortés (Maribel Verdú), auf, um ein Paradies zu entdecken, von dem sie eigentlich wissen, dass es nicht existiert. Der Film ist an klassische Formate des Roadmovie angelehnt und begleitet die Figuren auf ihrem Weg zum Strand „la boca del cielo“, den sich die jugendlichen Männer spontan ausdenken, um das Interesse Luisas zu wecken. Im Zuge dessen wird die ménage à trois, die zunächst als konventionelles heterosexuelles Lehrstück beginnt, mit einer homoerotischen Szene auf den Höhepunkt gebracht, als die drei das Ziel aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz doch noch erreichen. Luisa selbst weiß – wie bald auch der Zuschauer – zu diesem Zeitpunkt allerdings schon, dass sie aufgrund eines Krebsleidens nur noch kurze Zeit zu leben hat. Die Forschung ist sich darüber einig, dass der Film unter anderem über seine Gattungsbezüge zum Roadmovie darüber reflektiert, wie utopisch anmutende Entwürfe der modernen mexikanischen Nation 241

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funktionieren und wie sie scheitern.1 Im buchstäblichen Sinne sprechend sind hier die Namen der drei Hauptfiguren:2 Der Vorname des einen verweist auf das aztekische Erbe, weil der einflussreiche Vater des Jungen in einem Anfall neu entdeckten Nationalismus sein Kind nicht mehr Hernán (wie den Eroberer Mexikos, Hernán Cortés), sondern Tenoch nennt. Der Nachname des anderen, Zapata, auf die mexikanische Revolution Anfang des 20. Jahrhunderts, und Luisas auf das Erbe des Kolonialismus. Die erotische Konstellation ist also in eine „foundational fiction“3 eingebettet, so dass auch die darin zwischen Machismo, Homoerotik und Kastration oszillierende Männlichkeit eindeutig politisch aufgeladen erscheint. Dennoch wird durch den Plot eine nicht zu unterschlagende Distanz4 zu diesem Nationaldiskurs aufgebaut: Ernesto R. Acevedo-Muñoz spricht daher von einem „counterepic“,5 das dem nationalen Pathos der Gründung zuwider laufe, obwohl die großen nationalhistorischen Achsen des 16. und 20. Jahrhunderts in Gestalt der filmischen Identifikationsfiguren zunächst scheinbar affirmativ eingeführt werden. Insbesondere über den Körper der (bald toten) Frau und mit Blick auf die neoliberale Gegenwart Mexikos wird jedoch nicht die Utopie des zukünftigen Mexiko, sondern vielmehr das Scheitern des revolutionären Projekts als eine Krise der Gegenwart ausgetragen. Maßgeblich ist dafür die scheiternde Allianz zwischen mexikanischer Mittel- und Oberschicht, die in der sexuellen Rivalität der beiden Jugendlichen stellvertretend ausagiert wird. Dies geschieht vor allen Dingen in der Inszenierung konfliktreicher Männlichkeit, da es den Figuren nicht gelingt, innerhalb der Triade über die Vermittlung des weiblichen Objekts eine in die Zukunft weisende Homosozialität zu begründen. Nach der erotischen ‚Offenbarung‘ ist die Freundschaft von Julio und Tenoch, die sich dem homophoben Gebot der Mehrheitsgesellschaft unterordnen, unwiderruflich zerbro1 2 3 4 5

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Vgl. SHAW, 2011, S. 121. Vgl. K ROLL, 2007, S. 39f. Siehe zum Konzept: SOMMER, 1991. Vgl. SANCHEZ P RADO, 2014, S. 192. „[T]he Spanish woman’s body becomes the site where Mexico’s current economic, political, and class tensions are revealed as failures of the revolutionary state [...].“ ACEVEDO-MUÑOZ, 2004, S. 47f. Ähnlich liest LAHRVIVAZ, 2006, S. 89 die Nationalallegorie im Film als scheiterndes Gründungsnarrativ.

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chen, eben in jenem Jahr 2000, als auf der politischen Bühne zum ersten Mal seit 71 Jahren die Revolutionspartei PRI die Wahlen verliert und das revolutionäre Projekt endgültig scheitert. Zur Debatte steht in Y tu mamá también also, mit Vek Lewis gesprochen, „the very Mexicanness of the protagonists’ homosociality“.6 In mehreren Interviews betonte auch der Regisseur Alfonso Cuarón diese Parallelisierung des privaten männlichen Eros, der Rolle der Frau und der politischen Semantik. Er habe, so Cuarón, vor allem das Emotionale als Ausdruck des Politischen einsetzen wollen.7 Two young men seeking their identity as adults; a woman seeking her identity as a liberated woman, more in a spiritual sense than an ideological sense. Together with that is an observation of a country that in our opinion is a teenage country looking for its identity as a grown-up 8 country.

Wenngleich von der Forschung bisweilen als politisch ‚unentschieden‘ 9 bezeichnet, bezieht der Film doch überall dort dezidiert Stellung zur politischen Lage des mexikanischen „teenage country“, wo er in Form eines kritischen Voice-over oder einer ‚streunenden‘ Kamera all jene Hintergrundereignisse und -szenen kommentiert, die den Zuschauern, nicht jedoch den Protagonisten, ins Auge fallen. Themen wie Armut, Emigration, Neoliberalismus, Drogenkonflikte, Demonstrationen und polizeiliche Gewalt treten so am Rande immer wieder auf und scheinen mit der selbstbezüglichen, narzisstischen Erotik der jungen Männer in Kontrast gesetzt.10 Der skandalöse Kern des Plots, der den übersteiger6 7 8 9 10

LEWIS, 2009, S. 185. Vgl. BASOLI/CUARÓN, 2002, S. 27. CUARÓN zitiert nach WILLIAMS, 2007, o.S. SANCHEZ PRADO, 2014, S. 186. Deshalb wurde dem Film verschiedentlich auch eine ‚touristische‘ Perspektive auf Mexiko unterstellt. Gerade dort allerdings, wo diese nationalallegorisch besetzte Erotik in wahrsten Sinne zum Höhepunkt kommt – als in der letzten großen erotischen Szene die beiden Männer einander und nicht mehr Luisa genießen – fiel der Film einer eigentümlichen Kastration zum Opfer. Cuarón musste seinen Film um 5 Minuten kürzen, um ihn als Homevideo vertreiben zu können. Im Zuge dieser Streichung wurde insbesondere der sexuelle Akt zwischen Julio und Tenoch herausgenommen. Obwohl Y tu mamá también als ein großer internationaler Erfolg gelten

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ten Machismo als homosoziale Praxis entlarvt, die an ihrer inneren Logik zerbricht, zeigt dann jedoch deutlich, wie Erotik und die Verhandlung sozialer Männlichkeit hier als Metapher für eine in sich zerrüttete, ökonomisch gespaltene Klassengesellschaft eingesetzt werden. Nick Davis hat aus Sicht der Männlichkeitsforschung deshalb die Instabilität jener „Border-Crossing Bromance“ untersucht. Dabei weist er unter anderem darauf hin, dass durch „Luisa’s agency within the narrative and her alignment with Cuarón’s camera“11 die eigentliche Passivität des weiblichen Objekts, die für Homosozialität nach Eve Kosofsky Sedgwick maßgeblich ist,12 gegen ein dynamisches Verhältnis von männlichen und weiblichen Beteiligten ausgetauscht werde. In der Tat ist die Handlungsfähigkeit oder Ohnmacht der Figuren inhaltlich häufig an die auffällige Konstruktion von Bildausschnitten, an Figurenkonstellationen und doppelte Rahmeneffekte bzw. die Kameraperspektive gekoppelt. Die Forschung hat sich allerdings bisher nur punktuell mit der Frage beschäftigt, inwiefern alle drei Figuren sowohl in ihrer Ausrichtung zur Kamera als auch zueinander auf besonders eindrückliche Weise gerahmt werden. Gerade durch diese Rahmung werden aber innerhalb der homosozialen Konstellation politisch kodierte Geschlechterrollen konstruiert.13 Caetlin Benson-Allott ihrerseits hatte die Rolle von Frames bei den für den Plot wichtigen Hochzeitsfeierlichkeiten betont und des weiteren zwischen der kritischen Erzählkann und sein Schöpfer ja auch aus der Mitte des nordamerikanischen Mainstream-Kinos heraus agiert, ist Cuaróns Zerrspiegel der neoliberal geprägten und politisch zerrütteten Wirklichkeit Mexikos am Ende doch der Logik jener neoliberalen Großkonzerne unterworfen, die er kritisieren wollte, wenn er etwa auf die ökonomischen Auswirkungen von NAFTA und die Übernahme der mexikanischen Küste durch nordamerikanische Hotelketten Bezug nimmt. Vgl. BENSON-ALLOTT, 2009, o.S. 11 DAVIS, 2009, S. 112. 12 Aus Sicht der Masculinity Studies fungieren Frauen im sozialen „traffic“ als symbolisches Kapital, „as exchangeable, perhaps symbolic, property for the primary purpose of cementing the bonds of men with men“. SEDGWICK, 1985, S. 25f. 13 Ein besonders gelungener Befund bei Davis betrifft die Szene, als Julio und Tenoch sich in einem Motelzimmer wütend streiten, nachdem Tenoch mit Luisa geschlafen hat und Julio ihm aus Eifersucht gesteht, dass seine Freundin ihn mit ihm betrogen habe. In der Szene wird die Rahmung der Figuren so eingesetzt, dass der Streit vielmehr als homosoziale Intimität und vergleichbar einer Kussszene erscheint. Vgl. D AVIS, 2009, S. 118.

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stimme als „frame tale“ und der intradiegetischen Handlung unterschieden,14 leitet daraus aber keine übergreifende ästhetische Strategie ab. Bei einem Regisseur freilich, der dem Storyboard15 und insofern der rahmenden Visualisierung seiner Figuren eine besonders große Bedeutung in der Vorbereitung zuschreibt, lohnt es sicherlich, den semantischen Knoten aus Politik, Erotik, Männlichkeit und Mexicanness auch in Hinblick auf die Gestaltung der Bildrahmen und -ausschnitte genauer zu betrachten. Abseits der Filmanalyse ist Framing bekanntlich eine Form der Rezeptionslenkung etwa durch Massenmedien oder Public Relations, die insbesondere die Wahrnehmung politischer Ereignisse beeinflusst. Dabei wird soziale Realität durch die Betonung subjektiver Deutungsrahmen und ausgehend von einer bestimmten Ideologie konstruiert.16 Hierzu zählt – zumal in der medialen Vermittlung – sicherlich auch die Konstruktion einer allgemein anerkannten hegemonialen Männlichkeit, wie R. W. Connell diese versteht.17 Andererseits kann im Kino durch die Sichtbarmachung des Framing der Code hegemonialer Männlichkeit – etwa des mexikanischen Machismo – dekonstruiert werden. Für die Filmsprache hat hier Kaja Silverman am Beispiel von Rainer Werner Fassbinder bereits 1992 wichtige Analyseinstrumente eingeführt, wenn sie Männlichkeit und das kinematographische „field of vision“18 in Beziehung setzt. Nicht nur die Doppelung von Figuren in Spiegeln, die als Rahmen im Bildrahmen fungieren, sondern ebenfalls der Schuss durch Fenster oder Türrahmen kann den männlichen Körper – wie auf einer Bühne – „doubly framed“19 inszenieren. Laut Silverman haben framing shots darüber hinaus grundsätzlich spekularisierende, erotisierende Wirkung, da sie auch das Begehren des Zuschauers lenken. Bei Fassbinder ist deshalb der framing shot mit „social meaning“ aufgeladen, „the very “picture” of social and sexual marginality“.20 14 15 16 17 18 19 20

BENSON-ALLOTT, 2009, o.S. Vgl. WILLIAMS, 2007, o.S. Vgl. SCHEUFELE, 1999. Vgl. CONNELL, 2005. SILVERMAN, 1992, S. 125. EBD., S. 135. EBD., S. 145. Das Beispiel, von dem Silverman hier ausgeht, ist der Körper von Ali in Angst essen Seele auf (1974), der in einer zentralen Szene durch einen Türrahmen zunächst bekleidet und später nackt erscheint.

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Bemerkenswert und für meine Analyse von Y tu mamá también zentral ist dabei die Tatsache, dass framing shots zwar vordergründig eine verbindliche Story anbieten, die „detached mastery“21 des Zuschauers aber verhindern. Anders also als im frame tale des Films, wo über die kontrollierte, ironische Stimme des Erzählers Distanz zu den Hauptfiguren evoziert wird, ziehen die framing shots uns in die Begehrensstruktur innerhalb der dort dargestellten Triade hinein. Indem die Kamera über kulturell normierte Bilderrepertoires unsere Rezeption der Bilder lenkt – „the subject can only be “photographed” through the frame of culturally intelligible images“22 – ist das politische Potential des Films eben gerade nicht allein auf der Ebene einer rationalen Kritik zu suchen. Es ist vielmehr die affektische Investition in Bilder homosozialer Männlichkeit und ihre kulturellen, sozialen Kontexte, die der politischen Erzählung über das teenage country zugrunde liegt. Im Film wird sie dann immer dort ästhetisch verdoppelt, wo Rahmen zweiter Ordnung für den Bildausschnitt an Bedeutung gewinnen.

H o m o s oz i al i t ät u n d w ei bl i c h e s O pf er Auf erster Ebene – der Ebene des Bildausschnittes – spielt die Rahmung im vorliegenden Fall insofern eine große Rolle, als dadurch die homosoziale Triade aus Julio, Tenoch und Luisa visualisiert und ihre Geschichte erzählt werden kann. Sedgwick hat Homosozialität bekanntlich als Grundlage sozialer Männerbünde beschrieben, die sich über den Austausch weiblicher Objekte konsolidieren.23 Im Film beginnt dies mit der Verabschiedung der beiden Freundinnen der Teenager, die zu einer Reise nach Europa aufbrechen. Nicht nur empfinden die jungen Männer die Tatsache als Bedrohung, dass ihre Freundinnen in Europa ihrem erotischen Begehren ‚transnational‘ 24 nachgehen könnten. Darüber hinaus werden sie von den Vätern der Freundinnen dominiert gezeigt. 21 EBD., S. 146. 22 EBD., S. 150. 23 Vgl. SEDGWICK, 1985. Zur Ausweitung auf die Frage einer nationalen Brotherhood oder Imagined Community vgl. PRATT, 1990 und ANDERSON, 2006. 24 Vgl. DAVIS, 2009, S. 124 zur „transnational anxiety“ der beiden.

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Abbildung 1: Der Vater von Anna (00:04:57) Der erste Shot, der hier besonders ins Auge sticht, ist die Szene, als Anna, die Freundin Tenochs, am Flughafen von ihrem Vater verabschiedet wird. Im Verlauf der Szene ersetzt der Vater den Liebhaber nicht nur in der Umarmung seiner Tochter, sondern im Hintergrund werden perspektivisch darüber hinaus die jungen Männer in einer fast identischen Position gezeigt wie Vater und Tochter im Vordergrund. Beide Paare sind sich zugewandt und berühren sich vertraut auf Höhe der Brust. Während also auf den ersten Blick der Vater die Kontrolle über das Objekt des jugendlichen Begehrens zu markieren scheint25 und seine fehlende Anerkennung für Tenoch zum Ausdruck kommt, den er nur „el junior“ nennt, erblickt der Zuschauer im Hintergrund zum ersten Mal sehr deutlich eine neue, homosoziale Verbindung der jungen Generation, die sich der Macht des Vaters entzieht. Durch die Tiefenperspektivik von Vorder- und Hintergrund wird die homosoziale Dyade deutlich von der – Erotik domestizierenden – Einheit der Familie und Heterosexualität abgesetzt, wenngleich über die analoge Position der Körper auf diese bezogen. Wenn in der Folge die homosoziale Dyade sich ein neues Lustobjekt sucht und zugleich zum Homoerotischen tendiert, suggeriert der Beginn, dass dies unausweichlich ist in einer patriarchali25 Silverman bezieht sich in ihrer Theorie auf Jacques Lacan sowie Jacques Rancière und dessen Theorie der ‚dominanten Fiktion‘, wenn sie festhält: „our present dominant fiction is above all else the representational system through which the subject is accommodated to the name-of-the-Father“; SILVERMAN, 1992, S. 34. Die durch den Vater dominierte Familie ist deren zentrale Einheit und der Phallus des Vaters dessen Signifikant.

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schen Kultur, die den ‚Besitz‘ weiblicher Objekte reglementieren will. Nicht zufällig wiederholt die Szene am Ende, als Julio und Tenoch sich zum ersten Mal küssen, durch die Position der stehenden Körper zueinander eben diese Eingangsszene, rückt die jungen Männer aber in den Vordergrund und ‚entfernt‘ neben dem Vater auch das weibliche Vermittlungsobjekt nach unten (vgl. 01:29:35-01:30:25). Die Position der Figuren zueinander und innerhalb des Bildausschnittes wird also von Beginn an tiefensemantisch aufgeladen. Wie bereits angedeutet, ist jedoch die homosoziale Einheit von Julio und Tenoch nicht allein individualpsychologisch zu verstehen. Sie ist ebenso mit dem Politischen verbunden, unter anderem weil das Objekt, das für diese homosoziale Einheit zum Prüfstein wird, gerade dort eingeführt wird, wo eine Hochzeitsfeierlichkeit eine Reihe nationaler Stereotype jener patriarchalen, imaginären Gemeinschaft des Vaters zu beschwören scheint. Als die beiden Jugendlichen Luisa zum ersten Mal begegnen, sind im Hintergrund immer wieder Mariachis, Cowboys oder markante Politiker in einer typischen Arena zu sehen – einschließlich des Präsidenten und seiner Frau, die jedoch nicht von vorne, sondern nur in Rückenansicht gezeigt werden (vgl. 00:14:40). Als Julio und Tenoch dann auf die spanische Frau von Tenochs Cousin Jano treffen, wird schnell durch die mise en scène erkenntlich, welche Bedeutung sie für die homosoziale Einheit haben wird.

Abbildung 2: Julio und Tenoch begegnen Luisa (00:19:04)

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In der Szene lehnen sich die beiden Jugendlichen so weit vor, dass Luisa ihrerseits immer weiter nach hinten zurückweichen muss; dadurch wird nicht nur das Begehren der Männer im Raum, sondern auch die Rolle der Frau deutlich markiert. Luisas Brustwarze ist dabei wohl nicht zufällig durch den Stoff ihres Kleides klar erkennbar, denn sie gerinnt bereits in der ersten Konfrontation der Figuren zur Imago der begehrenswerten Mutter. Luisa erfüllt das Begehren der Jugendlichen auch insofern, als sie – anders als ihr arroganter Ehemann Jano – sich an den kleinen Tenoch erinnert, der bei ihrer letzten Begegnung vor Jahren weinte, weil er eine Spielzeugfigur („un Thundercat“26) verloren hatte. Es ist signifikant, dass Jano als die väterliche Instanz den Namen der Figur vergessen hat – er hält sie für einen Ninja Turtle; im Namen des väterlichen Gesetzes wird also das Objekt des kindlichen Begehrens, das nicht zufällig eine Version des heroischen Ideal-Ichs ist, deformiert. Dass im Gegenzug die mütterliche Luisa aus eigener Erinnerung die Szene und die Figur korrekt erinnern kann, weist sie darüber hinaus als neuen Fetisch des männlichen Subjekts aus, an den sich das ödipale Begehren heften kann. Sie wird also – als mütterliche Figur innerhalb eines ödipalen Dreiecks – zum Ort eines inkarnierten (Selbst-)Genusses, weil sich das männliche Subjekt darin wieder erkennt, und tritt letzten Endes im Hier und Jetzt an die Stelle des Spielzeugs. Der Frame streicht dies in der Übergriffigkeit der männlichen Körper und durch die Betonung der weiblichen „whiteness“27 besonders heraus, die den starren Blick der Jugendlichen bannt. Dabei ist auffällig, dass die spanische Luisa als neues Genussobjekt der jungen Mexikaner ebenso ein Fremdimport ist wie die nordamerikanische Action-Figur aus Tenochs Jugendjahren. Bedenkt man zudem den Hintergrund, vor dem Luisa hier entworfen wird, so entpuppt sie sich auch als ein Fetischobjekt der mexikanischen Nationalgemeinschaft: Die Arena ist eine von mehreren runden Formen, die wie Luisas Brust und der utopische Strand „la boca del cielo“ im Verlauf des Films libidinös aufgeladen werden.28 Luisa steht zur 26 Laura Podalsky hat bemerkt, wie im Film immer wieder anhand der jugendlichen Konsumkultur der Einfluss des Neoliberalismus gezeigt wird; vgl. PODALSKY, 2008. 27 SALDAÑA-PORTILLO, 2005, S. 761. 28 Siehe A CEVEDO-MUÑOZ, 2004, S. 43 zur Parallelisierung von Land und weiblichem Körper im mexikanischen Kino seit den 1930er Jahren.

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mexikanischen Arena und dem Ziel der erzählten Suche also in einem metonymischen Verhältnis, woraus sich ableiten lässt, dass hier nicht nur das individuelle Begehren im Mittelpunkt steht, sondern das Begehren der imaginären Gemeinschaft nach sich selbst, das sich seine Vermittlungsobjekte sucht. Mit Slavoj Žižek gesprochen ist Luisa hier eine Verkörperung des nationalen ‚Dings‘ – „enjoyment incarnated“.29 An ihr verkörpert sich erotisch – und durchaus touristisch – der Selbstgenuss der beiden Mexikaner an ihrem eigenen Land und des mexikanischen way of life, den sie im Zuge des Roadtrips erleben. Dabei wird die Tatsache, dass der reiche Tenoch Luisa zuerst ‚genießen‘ darf, zum Auslöser des Konflikts, weil dadurch die soziale Ungleichheit der Freunde auf die erotische Konstellation überschlägt. Die homosoziale Triade, in der über sexuelle Rivalitäten eine Verbindung zwischen den Männern zunächst gefestigt und dann zerschlagen wird, ist also Verhandlungsort jener affektiven Verbindungen und Abgründe, die dem nationalen Selbstgefühl zu Grunde liegen.30 Über glücklich verbundene Triaden wird deshalb zunächst immer wieder die Zusammengehörigkeit der jungen Männer herausgestrichen. Dazu dient zu Beginn noch der Freund Saba, mit dem Julio und Tenoch adoleszenten männlichen Ritualen frönen, später dann Luisa.

Abbildung 3 und 4: Glückliche Triaden (00:09:23, 00:42:22) Obwohl am Ziel angekommen die drei zunächst im Rausch auf die gelungene Verbindung der „hermanos de leche“ anstoßen, die nicht nur Luisa, sondern auch die eigenen Freundinnen mehrfach geteilt haben – 29 ŽIŽEK, 1993, S. 201. Besonders interessant ist an dieser Stelle, dass Luisa ja eigentlich ein fremdes, aus Europa stammendes Objekt ist. Der nationale Selbstgenuss ist damit immer – so verrät auch ihr Name – von der Kolonisation durch die Fremden überschattet. 30 Vgl. HEANEY, 2013, S. 255-259 zum nationalen, emotionalen Habitus.

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„y tu mamá también“31 – ist der utopische Genuss des nationalen Dings allerdings zum Scheitern verurteilt;32 spätestens, als Julio und Tenoch nach gemeinsam verbrachter Nacht schockiert aufwachen und die Reise an ihr jähes Ende kommt. Doch bereits zuvor weist uns die Erzählung darauf hin, wenn immer wieder Luisa fokussiert wird. Die ganze Handlung ist um ihren Einund Ausschluss aus der homosozialen Dyade gestaltet und mit ihrem zuletzt analeptisch erzählten Tod auf die Spitze getrieben, der Film widmet ihr aber dennoch viel Erzählzeit. Der Zuschauer versteht bald, dass sie nicht nur von ihrem Ehemann Jano (zum wiederholten Male) betrogen wurde, sondern soeben eine niederschmetternde Nachricht ihres Arztes erhalten hat. Die Art, wie im Film ihr Leid wiederum visualisiert und an die Kameraperspektive gebunden wird, fungiert quasi als Gegengift gegen die euphorisch in Szene gesetzten glücklichen Triaden der homosozialen Gemeinschaft. So wird die Kamera im ersten Hotel der Reise zum Voyeur, die – länger als die Jungen, die sich schnell zurückziehen – vor einem Loch im Fensterglas verweilt und die weinende Luisa betrachtet (vgl. 00:38:08-00:38:21). Dass hier der Frame durch gebrochene Linien dupliziert wird, gibt einen ersten Hinweis darauf, dass Luisa zum emotional aufgeladenen Symbol des erzählten Konflikts wird. In einer Schlüsselszene gegen Ende des Films wird sie dann in direkte Opposition zur glücklichen homosozialen Dyade gestellt, während sie sich am Telefon von Jano endgültig verabschiedet. So steht zuletzt – scheinbar – der weibliche Schmerz gegen die männliche Lust, jeweils fest in einen separaten, inneren Rahmen gestellt. Der Shot spiegelt die Handlung des ganzen Films, weil hier die beiden Erzählstränge – der um Luisa und der von Julio und Tenoch – mithilfe des framing shot explizit verbunden und doch getrennt werden.

31 Dass Julio damit sein eigenes ödipales Begehren nach der reichen Mutter Tenochs ausspricht, ist für die Inszenierung des Klassenkonflikts zentral, weil mit diesem Satz der Film insgesamt übertitelt wird. 32 Hier lohnt der Vergleich mit Bertrand Bliers Les valseuses (1974), in dem die ‚fetten Jahre‘ des Wirtschaftsaufschwungs in Frankreich (Les Trente Glorieuses) anhand eines männlichen Duos erzählt wird, das auf einem nicht unähnlichen Roadtrip exzessiv seiner erotischen Lust freien Lauf lässt, dabei die väterliche Autorität und die Verfügbarkeit von Frauen innerhalb der Ordnung immer wieder gefährdet und den Fetisch des nationalen Dings anhand eines wirksam in Szene gesetzten Citroën ausspielt.

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Abbildung 5: Luisas Telefonat mit Jano (01:20:40-01:22:32) Das sorglose Spiel der lachenden Jugendlichen im linken Glas und das hell beleuchtete Weinen Luisas im rechten weisen die Frau in dieser Schlüsselszene als das Opfer der homosozialen Ordnung aus – insbesondere durch den Rahmen zweiter Ordnung. Dennoch scheint Luisa gegen Ende jenes neue emanzipierte Selbstbewusstsein zu entdecken, von dem Cuarón gesprochen hatte; gerade indem sie sich aus der erotischen Triade herausnimmt und es den Männern überlässt, einander zu befriedigen. Inwiefern diese Befreiung jedoch fruchtet, bleibt fraglich. Schon am Strand angekommen wird sie immer wieder in stereotype Posen von Mutterschaft verbannt, die ihr ja aufgrund ihrer tödlichen Krankheit verwehrt bleiben wird – und auch das kleine Mädchen, mit dem sie glücklich im Wasser schwimmt, spielt dort ein signifikantes Spiel: „la muerta“.33 So lässt sich kaum leugnen, dass die homosoziale Utopie immer wieder an ein melodramatisches Register gekoppelt erscheint, das die Misogynie, die dem mexikanischen Machismo inhärent ist, entblößt.34 Erst ganz zuletzt wird Luisa selbstbewusst direkt in die Kamera blicken und deren Voyeurismus entlarven (vgl. 01:28:20).35

33 Zur symbolischen Gewalt gegen Frauen im Kino siehe: HERSHFIELD, 2010. 34 Siehe DOMÍNGUEZ-RUVALCABA, 2007, S. 79-86 zu dieser Tradition im mexikanischen Kino. 35 Vgl. DAVIS, 2009, S. 129. Hier wird im Blick der Frau das Begehren des Zuschauers in die Fiktion hineingespiegelt. Vgl. SILVERMAN, 1992, S. 152.

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Kl as s e nri valit ät und das ‚ wei bli c he El e m e nt‘ Über die prägnante Schlüsselszene mit Luisa in der Telefonkabine hinaus kommen auch mit Bezug auf die beiden Männer im Film mehrere Szenen vor, in denen der äußere Rahmen des Bildausschnittes noch einmal innerhalb des Bildes gedoppelt wird. Dazu dienen vor allem das Auto und seine Fensterscheiben, die den Klassenkonflikt als Ausschlussprinzip visuell in Szene setzen. Gleich zu Beginn des Roadtrips wird etwa Tenoch von Julio an einer Tankstelle aufgezogen, indem Julio, dessen Stimme man hört, ohne ihn zu sehen, das Auto immer wieder anfahren lässt, sobald Tenoch einsteigen will. Protestierend erscheint Tenoch anschließend in der Rückscheibe.

Abbildung 6: Ausschluss und mise-en-abyme (00:28:55) Das Auto und insbesondere der Fensterrahmen werden im Zuge dieser mise-en-abyme nicht nur Spiegelungen des Filmrahmens, sondern auch der Filmhandlung. Julio, der selbst nur über seinen Freund beschränkten Zutritt zur Welt der Oberklasse hat und diesen am Ende trotz seines Studiums wohl auch einbüßen wird, okkupiert hier Tenochs Rolle und koppelt außerdem beider Rivalitätsverhältnis an die Verfügungsgewalt über Luisa, die mit ihm im Auto sitzt. Rechts oben in der Fensterscheibe erscheint dabei ein Aufkleber seines Namenspatrons Emiliano Zapata, eines wichtigen Revolutionsführers und Symbolfigur der kritischen

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Zapatistenbewegung.36 Pikanterweise ist somit Julio selbst aus dem Bild ein- und ausgeschlossen; er ist innerhalb des Klassenkampfes gefangen, auch wenn er ihn spielerisch zu manipulieren scheint. Für beide Charaktere gibt es also keinen Weg, die Grenze, die zwischen ihnen verläuft, zu überwinden, oder dem Agon, der zwischen ihrer beider Klassen herrscht, zu entrinnen. Dennoch meinen sie dies zu Beginn in ihrer Gruppenidentität als „Charolastras“, deren Manifest sie stolz zitieren und Luisa im Auto sogar in ganzer Länge vorsprechen, hinter sich lassen zu können. Dieser männliche Ehrenkodex ist, wenn auch subversiv mit Verweis auf Drogenkonsum und sexuelle Promiskuität verpackt, ein deutliches Beispiel dafür, wie die jungen Männer bereits die soziale Regel der hegemonialen Männlichkeit internalisiert haben.37 Die wichtigste Regel daraus wird für sie diejenige werden, an der sich ihr späterer Streit erzündet, nämlich dass kein Charolastra mit der Freundin eines anderen schlafen dürfe. Nachträglich wird klar, dass sie beide dies getan haben, ihr pathetischer Stolz auf das Manifest wird also ironisch entlarvt. Auch wenn die Stimme des Erzählers im Voice-over in dieser Sequenz das Manifest der Charolastras als „el vínculo que les volvía en un núcleo sólido“ bezeichnet, erzählt das dazu geschnittene Bild eine andere Geschichte. Denn wiederum werden die Fensterrahmen des Autos genutzt, um jene sozialen Trennungslinien innerhalb der homosozialen Triade zu betonen, die später den Konflikt auslösen werden (vgl. 00:34:05). Wie so 36 Die echte Zapatisten-Revolution in Chiapas des Sommer 1999 bleibt dagegen weitgehend ausgeblendet, nur die Schwester von Julio engagiert sich dafür. Vgl. SHAW, 2011, S. 124. 37 Der positiv besetzte Begriff steht gewissermaßen für ein zeitgemäßes Konzept des Macho und leitet sich von „charro astral“ oder „space cowboy“ ab, den die Jungen aus dem Lied „The Joker“ von Steve Miller kolportiert haben. Zu dieser Identität zählen Haschischrauchen, Hedonismus, Popkultur und Masturbation. Allem übersteht jedoch die Regel 1, die besagt, dass es keine größere Ehre gäbe, als ein Charolastra zu sein. Mit dieser Regel und dem Verweis auf die Nichtverfügbarkeit der Frauen anderer Charolastras (Regel 5), ist die Gruppe also deutlich als ein Ehrenkodex „männlicher Herrschaft“ ausgewiesen: „Diese Ökonomie, die auf die Akkumulation des symbolischen Kapitals (der Ehre) ausgerichtet ist, verwandelt unterschiedlichste Rohmaterialien, an erster Stelle die Frauen, aber auch alle zum förmlichen Austausch geeigneten Gegenstände in Gaben (und nicht in Produkte), d. h. in Kommunikationszeichen, die untrennbar Herrschaftszeichen sind.“ BOURDIEU, 2005, S. 81.

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häufig wird zwischen Bild und Erzählstimme eine offene Differenz hergestellt; allerdings ist an dieser Stelle das Bild wesentlich ‚klüger‘ als der scheinbar so autoritäre Erzähler. Deshalb handelt es sich hier bei der Stimme allein auch nicht um eine transzendente Manifestation des Vaters oder eine direkte Konstruktion der „hegemonic national memory of Mexico’s contemporary political transition“38, wie Hester Baer und Ryan Long meinen. Vielmehr unterstreicht die Wechselwirkung von Wort und Bild den ironischen Erzählmodus. Ob dieser gegen die Figuren oder aber gegen die Stimme des Erzählers gerichtet ist, bleibt dabei für kurze Zeit in der Schwebe, so dass auch dem Zuschauer eine Position interpretativer Autorität oder mastery verwehrt bleibt.39 Der framing shot nimmt also vorweg, was die Ironie des Erzählers nur indirekt vermuten lässt. So erzählt dieser direkt im Anschluss an den Kommentar, wie auch im alltäglichen Leben der Freunde der Einfluss sozialer Klassenunterschiede spürbar ist. Im Heim des jeweils anderen schämen oder ekeln sich die Jungen bezeichnenderweise auf der Toilette; Tenoch klappt den Toilettendeckel bei Julio nur mit dem Fuß hoch, Julio zündet nach dem Toilettengang bei Tenoch ein Streich38 BAER/LONG, 2004, S. 159. 39 An anderer Stelle entlarvt der Erzähler wesentlich eindeutiger die ‚Lügen‘ der utopischen Nationalgemeinschaft, die aufgrund des unüberwindlichen Klassenkonfliktes zerbricht. SALDAÑA-PORTILLO, 2005, S. 767 erläutert hier außerdem, wie der Fokus auf das pueblo außerhalb des Autos in der Sequenz parallel die Nationalallegorie gelungener mestizaje zwischen politischer Elite und Volk dekonstruiert, weil die Kamera über den Frame des Autos hinaus das echte Elend der Landbevölkerung zeigt. Diese Aufspaltung zwischen Plot und dem, was die Kamera unabhängig von den Hauptfiguren zeigt bzw. der Erzähler im Voice-over hinzufügt, wird im Film immer wieder eingesetzt: wenn im Hinterzimmer einer Bar die Frauen gezeigt werden, die kochen und abwaschen, wenn Straßenkontrollen der Polizei gezeigt oder Ereignisse nacherzählt werden, die im Zeichen des Elends und der wirtschaftlichen Ausbeutung stehen. Signifikant ist auch die Szene, als vom Fischer Jesus „Chuy“ Campos, der das Trio am Ende zur boca del cielo bringt, berichtet wird, dass er nur kurz darauf mit seiner Familie die Heimat am Meer verlassen muss, weil dort ein neuer, großer Hotelkomplex gebaut wird. Der scheinbare Raum der Utopie ist dadurch noch vor dem Scheitern des erotischen Plots über die politische Allegorie desavouriert (vgl. EBD., S. 770f.). Diese Szenen haben alle gemeinsam: „they mark the loss of a national allegory, and with it the egoideal of papa PRI, of a nationalist state that will provide work and protect workers“ (EBD., S. 769).

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holz an, um den Geruch zu überdecken. Im affektiven Register des Ekels40 wird hier insistiert, woran die homosoziale Verbindung scheitern wird. Angedeutet wird dies im Übrigen bereits im ersten Frame, durch den wir Tenoch außerhalb des Autos sehen, weil dort das Toilettenpapier auf die Isotopie des Fäkalen verweist. Insofern kann meiner Meinung nach die Fixierung auf das Anale, das dem Penetrationsmythos des Machismo 41 widerstrebt, aber in der Handlung des Films immer wieder eine Rolle spielt, über die Frage der Homoerotik und Homophobie hinaus auch mit dem sozialen Ekel in Verbindung gebracht werden.42 Sowohl über den erotischen als auch über den grotesken Gebrauch des Anus werden „feelings of homosocial discomfort and engendered ideologies of domination and subordination“43 verkörpert. Der homosexuelle Akt ist deshalb im Film zentral für dessen politische Bedeutung, weil er ein scheiterndes Ideal sozialer mestizaje repräsentiert, wie Caetlin Benson-Allott bemerkt;44 allerdings ist dessen Utopie wohl von Anfang an illusorisch, wie die dysphorische Verbindung des Analen mit dem Fäkalen und dem Klassendiskurs deutlich macht. Der Genuss des Anus ist also nicht nur aufgrund der Homophobie der mexikanischen Gesellschaft unmöglich, sondern auch, weil er eine Überwindung des Klassenekels bedeuten würde. Deshalb überrascht es kaum, dass im Moment, als Luisa die Jungen befragt, ob ihre Freundinnen ihnen beim Geschlechtsverkehr schon einmal den kleinen Finger in den „culo“ gesteckt hätten, der Motor des Autors mit einem

40 Vgl. zur kulturpolitischen Dimension des Ekels, der Intimität, Familiarität und Abjektion zugleich evoziert und „sticky objects“ mit affektiven Werten auflädt, die zur Konstitution einer Gemeinschaft eingesetzt werden können, AHMED, 2014, S. 82-100. 41 „Maricones defined the socially undesirable end of the spectrum of male identities; the abusive macho defined the other end.“ CARILLLO, 2003, S. 352. Vgl. zur soziologischen Forschung GUTMANN, 1996 und zur Kritik des Machismo im mexikanischen Kino DOMÍNGUEZ-RUVALCABA, 2007. 42 In der ersten Szene etwa, in der die beiden Jungen allein auftreten, sind sie im Auto und ärgern sich wechselseitig mit ihren Flatulenzen und den damit auftretenden Gerüchen, weswegen bezeichnenderweise die Fenster geöffnet werden müssen. 43 GUTMANN, 2003, S. 4, mit Bezug auf Michael Kimmel. 44 „Gay sex is thus Y tu’s impossible dream. It represents the film’s allegorical ideal of mestizaje, its utopia, Heaven’s Mouth.“ BENSON-ALLOTT, 2009, o.S.

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lauten Knall versagt, der den Schrecken der beiden Jungen spiegelt: „¡en el culo!“45 Für die Klassenrivalität von Julio und Tenoch sprechen im Film auch jene Szenen, die sich im Wasser, einem traditionell weiblich konnotierten Element, abspielen. Als sie noch in Mexiko Stadt in einem exklusiven Pool baden, zu dem aufgrund von Tenochs Privilegien sie allein Zutritt haben, scheint auf den ersten Blick die mestizaje von Ober- und Mittelschicht möglich. Dennoch wird beim Wettschwimmen unter Wasser gerade durch die Perspektive der Kamera klar, dass Tenoch den benachteiligten Julio weiter überholt (vgl. Abb. 7 u. 8).46

 

Abbildung 7-10: Klassenrivalität (ab 00:10:20 und 00:57:01) Als dann die Krise bereits ausgebrochen ist und die beiden in einem schmutzigen Pool jenes Motels um die Wette schwimmen, in dem Tenoch das erste Mal mit Luisa geschlafen hatte, wird durch die nackten Körper nicht nur das homoerotische Begehren der Männer angedeutet. Durch das trübe, tendenziell ekelhafte Wasser, die Kameraeinstellung

45 „With its counterepic function in Y tu mamá también, the nation is rediscovered as a place of contradictions, where machismo is unveiled as a façade hiding homoerotic desires, where divisions of class are revealed as latent and leading to violent confrontation, and where instead of “treachery” (like Malinche) the woman mediates all meaning.“ ACEVEDO-MUÑOZ, 2004, S. 47. 46 Es handelt sich streng genommen bei der Pool-Sequenz also nicht um ein Klassen überschreitendes Plotelement, wie BAER/LONG, 2004, S. 162 meinen.

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und das Schuss-Gegenschuss-Prinzip wird auch die Distanz gezeigt, die sich zwischen den beiden vergrößert hat (vgl. Abb. 9 u. 10). Weder im ‚weiblichen Element‘ des Wassers noch über den Austausch Luisas gelingt es, eine homosoziale Gemeinschaft zu stiften, die den Klassenkonflikt überwinden könnte – obwohl der Film immer wieder euphorisch glückliche Homosozialität beschwört. Dabei entlarvt die Filmhandlung die Paradoxie, dass eine männliche Gemeinschaft, die sich über traffic in women konstituieren will, dies nur zu Lasten des eigenen Ehrgebots (Regel 5 der Charolastras) erreicht und so den Männerbund beschädigt. In einer ungleichen Gesellschaft sind begehrenswerte Objekte schlechterdings nicht gerecht verteilt. Damit wird auch der utopische Kodex der Charolastras als eine Übersetzung jenes Wunsches lesbar, das ‚nationale Ding‘ gemeinsam genießen zu können. Gerade an der Umsetzung der Regel in die Praxis jedoch scheitern Julio und Tenoch; der Traum einer klassenlosen, mexikanischen Gemeinschaft von Männern zerplatzt.47 Es ist kein Zufall, dass dies in die sexuelle Rivalität um Luisa übersetzt worden ist, denn gerät der Selbstgenuss der Nation ins Wanken, wird tendenziell immer dem Anderen ein exzessives Begehren danach unterstellt. Dies manifestiert sich innerhalb der Handlung als jene nicht einhegbare männliche Sexualität, die – ohne es zu beabsichtigen – der Gemeinschaft schadet.48 Als der Streit zwischen Julio und Tenoch schließlich eskaliert, nachdem Tenoch aus Wut über Julios Revanche mit Luisa dem Freund gesteht, auch mit dessen Freundin geschlafen zu haben, wiederholt sich visuell noch einmal die mise-en-abyme vom Anfang der Reise. Nun ist es Julio, der durch einen Fensterrahmen des Autos hindurch ausgeschlossen ist.

47 „A nation exists only as long as its specific enjoyment continues to be materialized in a set of social practices and transmitted through national myths that structure these practices.“ ŽIŽEK, 1993, S. 202. 48 Julio betont, als er Tenoch den Betrug mit Anna gesteht, „fue sin querer“. Und in Luisas Appartement, aus dem sie nachgerade flieht, nachdem sie von Janos Betrug erfahren hat, lehnt ein Plakat an der Wand, das ebenfalls verkündet: „Fue sin querer“.

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Abbildung 11: Markierung von Klassengrenzen (01:07:27) Dabei wird durch die Aggressivität der Szene das Spielerische der ersten Sequenz unterlaufen und durch die Spucke des wütenden Julio auf der Scheibe der Klassenkontrast hervorgehoben. Tenoch bezeichnet ihn daraufhin stark pejorativ als „pinche naco“, als verdammten Proleten. Mit dieser Zuschreibung spricht Tenoch endlich aus, wofür die Evozierung des Ekels bisher stand. Durch den framing shot wird dabei nicht mehr eine Verbindung zwischen den Figuren und damit glückliche Homosozialität angedeutet, sondern die Figuren werden erneut auf sich gestellt. Außerdem fungiert in Replik auf die erste Sequenz auch hier wieder ein Aufkleber auf der Scheibe als Subtext: Unten links verweist „Mexico“ auf den Traum der Nation, den Julio und Tenoch stellvertretend leben sollten. In diesem Moment entlädt sich die Wut Luisas in einer Schmährede49 und sie verlässt die jungen Männer. Als ironischer Kommentar des framing shot bleibt nur ihr absurdes Doppel, das Stofftier „Luisa“, im Auto zurück (vgl. Abb. 12). Es ist benannt nach dem Mädchen Luisa Obregon, das auf dem Weg durch die Wüste von Arizona in die USA gestorben war. Die spanische Luisa hatte es geschenkt bekommen, als sie aufgrund der Autopanne Rast machen mussten, und darin ihre eigene Sterblichkeit wieder erkannt.

49 Eine sehr negative Lektüre legen hier BAER/LONG, 2004, S. 162 vor, die Luisa als kastrierende Spanierin sehen und insofern stellvertretend für die Gefahr, die vom ehemaligen Kolonisator ausgeht.

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Abbildung 12: Ein- und Ausschluss Luisas (01:08:14) Luisa hat sich innerhalb des Bildrahmens also tatsächlich in ein ‚Ding‘ verwandelt, dessen endgültiger Verlust – die unmögliche Utopie eines Selbstgenusses der mexikanischen Nation – hier bereits angedeutet wird. Dass damit auch auf die ökonomische Abhängigkeit vom großen nordamerikanischen Bruder angespielt wird, der quasi als neuer, stiller Kolonisator fungiert, muss wohl nicht eigens betont werden.50 Y tu mamá también benutzt also die Koppelung von politischer Semantik, erotischem Begehren, Begehren nach der Nation und der Ästhetik des framing shot dazu, um Männlichkeit als Metapher für die Gemeinschaft allgemein und scheiternde Homosozialität im Besonderen als Metapher für die soziopolitischen und ökonomischen Krisen der Gegenwart in Szene zu setzen. Wenn sich in der letzten Szene des 50 María Josefina Saldaña-Portillo hat die Erzählung über das scheiternde trianguläre Begehren im Film deshalb auf den Kontext von Neoliberalismus, Globalisierung und NAFTA bezogen. Zu einem Zeitpunkt als Mexiko die nationale Souveränität zugunsten des Freihandelsabkommens aufgibt, flammt auch der gesellschaftliche Konflikt zwischen der politischen Herrscherriege und den Zapatistas wieder auf, so dass die zunächst gefeierte „fiction of development“ an den Realitäten scheitert. Vgl. SALDAÑA-PORTILLO, 2005, S. 757. Sie ordnet den Figuren innerhalb der politischen Allegorie jeweils recht deutliche Positionen zu: den väterlichen Figuren den Wunsch des Volkes nach PRI papa und einer Identifikation mit dem revolutionären Ideal, der Ersatzmutter Luisa mit ihrer „whiteness“ mama España (EBD., S. 761), und den beiden Jungen die Rolle von ParteiElite einerseits und Arbeiterführer andererseits, an denen sich das Aufstiegsbegehren der Mittelklasse auskristallisiert (EBD., S. 763).

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Films die beiden Männer nach einigen Monaten wieder sehen und vom Tode Luisas erzählen, ist die Kluft zwischen ihnen bereits so tief, dass sie sich nicht einmal mehr einander zuwenden können wie zu Beginn. So hat sich am Ende des utopischen Traums eines Sommers zuletzt die homosoziale Dyade endgültig zerschlagen.

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On ne naît pas homme, on le devient ? Jugend und schwu le Männ lichkeit im frankokanad ischen Gegenwartskino FRANK REZA LINKS On ne naît pas homme, on le devient. So ließen sich – in Anlehnung an Simone de Beauvoirs These aus Le deuxième sexe1 – die Ansätze aus gendertheoretischen Überlegungen resümieren, die in den letzten Jahrzehnten den Blick auf den Mann gerichtet haben. Denn das stereotype und heterozentristisch geprägte Konzept vom ,typisch echten Mann‘ scheint ins Wanken zu geraten. Aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive wird der Versuch unternommen, Männlichkeit als ein gesellschaftliches Konstrukt zu betrachten, das sich in einem dynamischen Prozess entwickelt und immer wieder neu gestaltet werden kann. Die Kritik am patriarchalen Gesellschaftssystem zum einen und die Infragestellung heteronormativer Denkweisen zum anderen haben dazu geführt, dass Männlichkeit im Plural gedacht wird.2 Zur Analyse von

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Beauvoirs Maxime lautet bekanntermaßen: „On ne nait pas femme, on le devient“. Vgl. BEAUVOIR, 1950, S. 13. Darüber hinaus ist bekannt, dass sich dieser Leitsatz an Erasmus von Rotterdams Aussage „Homines non nascuntur, sed effinguntur“ aus dessen Traktat „De pueris instituendis“ anlehnt. Siehe: ERASMUS, S. 31, l.21. Im Folgenden soll das französische Nomen ,homme‘ jedoch nicht als ,Mensch‘ sondern in seiner Bedeutung als ,Mann‘ verstanden werden. Gerade die interdisziplinär ausgerichtete Männlichkeitsforschung trägt dazu bei, dass ,Männlichkeit‘ nicht einer einzig gültigen Definition unterzogen wird. Daher gilt es, wie auch Holger Brandes festhält, den

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Maskulinität und als theoretisches Gerüst dienen im Allgemeinen die Studien von Pierre Bourdieu und Raewyn Connell.3 Während der französische Soziologe das Habituskonzept auf die Ausformung männlicher Handlungsweisen anwendet, stellt Connell vier Ebenen der hegemonialen Männlichkeit vor. Als letzte Komponente dieses hierarchischen Modells führt sie den marginalisierten Mann an, der vom hegemonialen Konstrukt vor allem aufgrund seiner homosexuellen Identität ausgegrenzt wird. Unter Berücksichtigung dieser Tatsache darf mit Blick auf das modifizierte Zitat von Simone de Beauvoir bekräftigt werden, dass das Kindes- und Jugendalter gleichermaßen als eine entscheidende Phase für die Konstruktion männlicher Identitäten zu verstehen ist.4 Gerade für viele junge schwule Männer ist dieses Entwicklungsmoment auch heute noch von ersten Erfahrungen der Ausgrenzung, Scham und Demütigung gekennzeichnet, womit sich der Connellsche Ansatz einzulösen scheint. Heteronormative Diskurse während der Sozialisation im familiären Umfeld, innerhalb der peer groups und in der Schulbildung tragen maßgeblich dazu bei, dass sich die Adoleszenten als ,anders‘ und nicht ,normal‘ wahrnehmen. Die mediale Darstellung homosexueller Lebensentwürfe ist mittlerweile ein alltägliches Bild, das sowohl Errungenschaften in ihrer öffentlichen Akzeptanz aufzeigt als auch die gewaltsamen Auswirkungen der Homophobie diskutiert. So kann als Zeichen der Gleichberechtigung die 2005 in Kanada eingeführte Ehe gleichgeschlechtlicher Partner angesehen werden,5 während Homosexualität in Russland sowie in

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jeweils zugrundeliegenden Ansatz zu erläutern und ,Männlichkeit‘ als Metapher zu verstehen. Vgl. hierzu B RANDES, 2004, O.S. Vgl. BOURDIEU, 1998 und CONNELL, 2000 (Raewyn Connell hat auch als Robert W., R. W. oder Bob Connell publiziert. Es werden daher die ursprünglichen Zitations- bzw. Namensangaben beibehalten.). Einen Überblick über den Forschungsstand aus sozialwissenschaftlicher Perspektive liefern BERESWILL/MEUSER/S CHOLZ 2007, S. 7-21. Vgl. KING, 2000, S. 93. Am 20.07.2005 wird der Gesetzesentwurf in der „loi C-38“ verabschiedet. Damit wird Kanada nach den Niederlanden, Belgien und Spanien der vierte Staat, der die gleichgeschlechtliche Ehe einführt. Vgl. zum Projet de loi C38: „Loi sur le mariage civil“.

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zahlreichen afrikanischen Ländern mit Freiheits- und sogar Todesstrafen geahndet wird.6 Neben den Presse- und Informationsmedien widmet sich auf künstlerisch-ästhetischer Ebene der frankophone Film, insbesondere in Frankreich, seit Mitte der 1990er Jahre vermehrt der Thematik schwuler Identitäten.7 Eine Unterkategorie dieser Produktionen stellt der Coming-of-Age-Film (film d’apprentissage) dar.8 Dieses Genre präsentiert grundsätzlich die Identitätsbildung der Jugendlichen und verhandelt deren Ängste, Bedürfnisse, Entdeckungen und Konflikte. Hierbei kann die Altersmarge von circa elf bis Anfang 30 ausgeweitet werden.9 In Filmen, in denen schwule Adoleszente den Hauptgegenstand der Handlung ausmachen, stehen zumeist problematische Verhältnisse zwischen den homosexuellen Figuren und deren Eltern oder auch innerhalb ihres gleichaltrigen Umfelds, insbesondere im schulischen Kontext, im Vordergrund des Plots. Dramaturgisch werden die Spannungen in den Filmen als Entwicklungswege durch Bewusstwerdung und Akzeptanz oder Zurückweisung des ,Andersseins‘, durch Initiationsriten oder durch Coming out beziehungsweise Outing dargestellt. Oft schließen sie mit einem Happy End, um einen optimistischen Blick in die Zukunft zu werfen. Auf einer übergeordneten Ebene kann somit bereits festgehalten werden, dass heteronormative Leitlinien mit queeren Entwürfen in eine diametrale Opposition gestellt werden und es zu Norm- sowie Tabubrüchen kommt. Das Aufeinandertreffen der beiden konträren Positionen führt zuvorderst zum Überdenken traditioneller Wertesysteme, die mit zeitgenössischen Lebenskonzepten nicht mehr vereinbar 6

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Für ihren Kampf gegen Homophobie in Kamerun wurde die Rechtsanwältin Alice Nkom am 18.03.2014 mit dem Menschenrechtspreis von Amnesty International ausgezeichnet. Vgl. hierzu ebenso: S CHRENK, 2014, S. 20-23. Vgl. LAGABRIELLE, 2011a, S. 193f. Der Forschungsstand zum Coming-of-Age-Film weist noch einige Desiderata auf und bedarf insgesamt einer intensiveren Beschäftigung, denn schließlich bietet er im Kontext der Identitätsbildung der jeweils handelnden Figuren ein interdisziplinäres Interpretationsspektrum, das es auszuloten gilt. Die vorliegende Studie kann daher nur einen kleinen Beitrag dazu leisten. Diese Merkmale sind grundlegend für das Genre, ohne dass es sich dabei zwangsläufig um homosexuelle Jugendliche drehen muss. Vgl. MACIUSZEK, 2010, S. 219.

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scheinen. Die Filme verfolgen daher auch ein didaktisch-aufklärendes Ziel. Unter Berücksichtigung dieser Merkmale des Coming-of-AgeGenres sollen im Folgenden die zwei Autorenfilme aus Québec, C.R.A.Z.Y. (2005) von Jean-Marc Vallée sowie J’ai tué ma mère (2009) von Xavier Dolan näher beleuchtet werden.10 Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass Männlichkeitskonstruktionen von milieu-, kultur- und zeitspezifischen Parametern abhängen.11 Dies ist insofern relevant, als die Filme zwar zeitlich kurz nacheinander entstanden sind, die Plots jedoch in unterschiedlichen Momenten des 20. und 21. Jahrhunderts spielen. In C.R.A.Z.Y. beginnt die Handlung am 25. Dezember 1960 und reicht bis in die 1980er Jahre hinein. Im Zentrum steht die Lebensgeschichte von Zachary, einem von fünf Söhnen der Familie Beaulieu. Er ist in vielerlei Hinsicht ,anders‘: Einerseits ist es für seine streng katholische Mutter ein Zeichen Gottes, dass ihr Sohn am Geburtstag Jesu Christi auf die Welt kommt.12 Andererseits erfährt er sich als ,anders‘, da er als Kind unter Enuresis leidet und zudem Asthmatiker ist. Mit 16 Jahren entscheidet er sich, Atheist zu werden, obwohl er in einem katholischen Elternhaus aufwächst. In diesem Alter wird ihm bewusst, dass er homosexuelle Neigungen hat, was von seiner Familie und Freunden stets in despektierlicher Form als „fif“ abgestraft wird.13 Der historische Moment, in dem der Film spielt, ist nicht zufällig gewählt. Er entspricht einer wesentlichen Phase in der Herausbildung einer ,québécitude‘, die sich als kulturelle Eigenständigkeit im kanadischen Gesamtkontext versteht.14 In J’ai tué ma mère wiederum gibt es keine konkrete historische Verortung, so dass anzunehmen ist, dass der Film zu der Zeit spielt, in der er gedreht wird. Die Diskriminierung Homosexueller in Kanada, 10 VALLÉE, 2005; DOLAN, 2009. 11 Vgl. KING, 2000, S. 94f. 12 So darf auch der Vorname als eine Referenz auf den Priester Zacharias aus dem Neuen Testament verstanden werden. SCHMITT, 2000, Sp. 1577-1578. 13 Unter „fif“ ist der frankokanadische Ausdruck für ,Schwuchtel‘ oder ,Tucke‘ zu verstehen. A RMANGE, 2007, S. 77. 14 Die vollständige kulturelle Eigenständigkeit Québecs wird im November 2006 als „Nation innerhalb einer Nation“ anerkannt. Vgl. hierzu: P ÂQUET/ TOUSIGNANT, 2009, S. 60ff.

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einem globalisierten Industrieland, scheint nun weitaus geringer, als es noch wenige Jahrzehnte zuvor der Fall war. Gleichwohl ist die Entfaltung des jugendlichen Hipsters15 Hubert, der bei seiner alleinerziehenden Mutter Chantale aufwächst, durch ein ausgeprägt katholischkonservatives Elternhaus beeinträchtigt. In beiden Filmen treffen somit zwei Wertesysteme aufeinander: Auf der einen Seite das Moderne, was über die schwulen Protagonisten vermittelt wird, und auf der anderen Seite das Traditionelle, das anhand ihres sozialen Umfelds abgebildet wird. Daher soll in den nachstehenden Ausführungen der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Repräsentation und Verhandlung schwuler Identitätsentwürfe im Jugendalter zugleich als Chiffre soziopolitischer und soziokultureller Umstände in Québec gelesen werden kann.16 Aufgrund der Eltern-Sohn-Beziehung soll gerade der familiäre Nukleus für die hier entworfenen Überlegungen als Folie für kulturspezifische und gesellschaftliche Fragen verstanden werden. Zum einen spielt das vermittelte Wertesystem eine Rolle, zum anderen wird der Wohnraum, in dem die jeweilige Handlung verläuft, unter identitätsstiftenden Faktoren erörtert. Ziel wird es sein, die Kernfamilie als einen Mikrokosmos zu sehen, der soziokulturelle Gegebenheiten in Québec widerspiegelt. Hierbei wird im Vergleich zu den Studien, die sich der Familienthema-

15 Zum Hipster vgl. u. a. G REIF, 2012. In einem Interview auf dem Filmfestival in Cannes 2014 spricht Xavier Dolan ferner über den Bezug zur Hipster-Kultur in seinen Filmen. Siehe den Artikel und die dazugehörige Audiodatei bei KHALDI, 2014. 16 Bereits Maxime Blanchard hält in diesem Zusammenhang fest: „[…] la révolution sexuelle personnifiée par Zac (mais aussi par son frère Raymond) file la métaphore d’une libération nationale : c’est ce qu’analyse d’abord ce texte. Cependant, la douloureuse sortie du placard du personnage gai apparaît aussi comme le coming-out raté d’un Québec inhibé. Car, ces bredouillements de l’homosexualité sont surtout ceux d’un Québec ne parvenant pas à se dire ; progressivement “avouée” l’homosexualité donnera ultimement lieu au refoulement d’une québécitude “désavouée” : c’est ce que pense ensuite ce texte.“ BLANCHARD, 2009, S. 73. Allerdings sollen im vorliegenden Beitrag weitere Parameter des Coming out betrachtet werden. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt ebenso POWELL, 2011, S. 266. So greift Powell zwar die religiösen Elemente auf, stellt diese jedoch nicht in einen Zusammenhang mit der politischen Geschichte Québecs.

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tik im frankokanadischen Kino gewidmet haben, die intermediale Komponente einen besonderen Stellenwert einnehmen.17 Wenn von einer traditionellen Wertevermittlung ausgegangen wird, nimmt vor allem der Katholizismus eine wichtige Position in der Lebenseinstellung und Erziehung der Figuren ein. In C.R.A.Z.Y. wird die Funktion des christlichen Glaubens bereits im Expositionsmoment eingeführt, als Zachary am Weihnachtsabend das Licht der Welt erblickt. Der alljährliche Gang zur Christmesse und das darauf folgende Weihnachtsfest im Kreise der Familie werden insgesamt viermal als Rituale inszeniert. Der wiederholende Akt der religiösen Feierlichkeiten wird auf diese Weise zu einem Strukturelement der Filmhandlung, an dem sich die Identitätsprozesse des Protagonisten erörtern lassen. Denn die ersten drei Weihnachtsfeste, die zugleich auch Zacharys Geburtstag darstellen, werden alle im ersten Drittel des Films inszeniert. Der Weihnachtsabend wird dabei stets vom Besuch der Heiligen Messe eingeleitet. Die erzählte Zeit erstreckt sich von 1960 über 1967 bis 1975, als die Hauptfigur sein 15. Lebensjahr erreicht. Zachary hat sich inzwischen aus eigener Überzeugung vom Katholizismus abgewandt und trägt das Kreuz an seiner Halskette nur noch in Form eines Modeaccessoires, ohne jegliche semantische Aufladung:

Abbildung 1: Zachary, der Atheist (00:26:48-00:28:06) 17 Die Familienthematik als Kernaspekt in C.R.A.Z.Y. wird überdies auch von folgenden Autoren behandelt: NADEAU, 2008, online verfügbar unter www.cinema-quebecois.net; POIRIER 2004, S. 169; SAINT-MARTIN, 2009, S. 95-109.

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In dieser Szene bricht der Film mit der realistischen Handlungsführung und lässt Zachary während der Messe emporsteigen, als würde er gen Himmel fahren. Auch die anderen Kirchgänger begleiten seinen Weg, so dass dieses nahezu phantastische Moment mit christlichen Vorstellungen der Reise ins Jenseits spielt. Allerdings versteht sich dies als Parodie, da Zachary in seiner Erzählerfunktion über die Off-Stimme seine atheistische Überzeugung mitteilt. Dieses voice-over wird ferner durch eine auditive Klammer mit der vorherigen Szene eingeführt.18 Aus dem Off werden die Rolling Stones mit „Sympathy for the Devil“19 eingespielt und das Lied begleitet die gesamte Handlung in der Kirche. Dieses intermediale Zusammenspiel eröffnet mehrere Interpretationswege. Zunächst kann hinsichtlich der ersten drei Weihnachtsfeste in C.R.A.Z.Y. festgehalten werden, dass jede Jahreszahl einem wesentlichen Moment im Verlauf der ,Révolution tranquille‘ entspricht. 1960 kann gemeinhin als Anfangspunkt des ,Revolutionsprozesses‘ verstanden werden; 1967 findet in Montréal die Weltausstellung statt, bei der der damalige französische Staatspräsident Charles de Gaulle in seiner Rede den – bisweilen als provokativ aufgefassten – Appel „Vive le Québec libre !“ ausruft. Weihnachten 1975 hingegen greift bereits auf das voraus, was sich erst im darauf folgenden Jahr mit dem Sieg des Parti Québecois bei den Parlamentswahlen konsolidieren wird. Mitte der 1970er befindet sich Québec folglich seit einigen Jahren im Prozess der ,Stillen Revolution ‘, die entscheidend für die Herausbildung der ,québécitude‘ wird. Die frankophone Gesellschaft in Kanada definiert sich maßgeblich über eine wirtschaftliche und sprachliche Autonomie sowie ein laizistisches System in Politik und Bildung.20 Jedes Weihnachtsfest wird demzufolge eine Chiffre der Geschichte Québecs. Wenn daher Zachary seine persönliche Identität durch die Abwendung vom christlichen Glauben manifestiert, ist dieser Akt gleichermaßen in einen 18 In der vorherigen Sequenz ist Zachary als Kind in einem Ferienlager und wird von den anderen Kindern gemobbt. Nach einem Match-Cut liegt nun der Protagonist in seinem Elternhaus. Ein Albtraum über die Erfahrungen im Ferienlager lässt ihn wach werden. Doch jetzt ist er 15 Jahre alt und leidet nicht mehr unter Enuresis. Dieser Moment des Erwachens wird zugleich zu einem entscheidenden Wendepunkt in Zacharys Entwicklung. Er hört laut die Platte der Rolling Stones und widersetzt sich somit der vom Vater aufgesetzten Ruheordnung. 19 THE ROLLING STONES, 1968. 20 Vgl. BERTHO-LAVENIR, 2008, S. 43f.

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übergeordneten Gesamtzusammenhang zu stellen: Seine Überzeugung kann stellvertretend für die ideologischen Bestrebungen Québecs verstanden werden, die auf diese Weise den Weg in Richtung Moderne einschlagen. Das Emporsteigen des Atheisten wird demzufolge zur Metapher der Entmachtung der Kirche und zeigt zudem das bigotte Verhältnis der Gesellschaft zum Katholizismus auf. Denn Zachary erfährt in seiner ,Himmelfahrt‘ die lautstarke Unterstützung der Kirchgänger, die im Chor den Ausruf „Ooo, who / Ooo, who“ aus dem Refrain in „Sympathy for the Devil“ mitsingen und ihre Körper im Takt wippen lassen. Eine vertikale Kamerafahrt begleitet diesen Aufstieg und verdeutlicht dadurch die Umkehrung des Machtverhältnisses zwischen Kirche und säkularisiertem Staat. Die Kirchengemeinde schaut nun nicht mehr zu Jesus Christus auf, sondern zum Atheisten Zachary Beaulieu, dem die besungene „Sympathy“ zu gelten scheint. Dieser kollektive Akt unterstreicht ferner die Gruppenkohäsion durch die Laizität als eines der Hauptmerkmale der kulturellen Identität. Religiöse Gesinnung weicht profanem Rock’n Roll. Der moderne Québecois, der im jungen Zachary sein Sprachrohr findet, löst demzufolge den Wunsch nach einer säkularisierten Gesellschaft ein. Dieser Eindruck wird noch durch den Umstand gefestigt, dass das vierte Weihnachtsfest 1980 angesiedelt ist, im Jahr des ersten Québec-Referendums. Im Vergleich zu den vorherigen Festlichkeiten wird bei diesem Ereignis der Gang zur Kirche nicht mehr filmisch festgehalten. Das Ende des wiederholten Besuchs der Heiligen Messe wird demzufolge ein Zeichen der Umsetzung laizistischer Bestrebungen in Québec. In Hinblick auf die Szene im Jahr 1975 darf unterstrichen werden, dass sie mit einem der provokantesten Lieder der Rolling Stones unterlegt wird. Die Aufwertung und „Sympathie“ für den Teufel als Antagonist Gottes hat bereits zum Erscheinungsdatum der Single zu einer polemischen Auseinandersetzung geführt. Immer wieder ist der Rockgruppe darin eine satanische Gesinnung vorgeworfen worden.21 Aus heutiger Sicht scheint dieser Vorwurf haltlos, ist doch der Songtext weitaus vielschichtiger als vermutet. So ist gerade der zweite Vers des Liedes „I’m a man of wealth and taste“ für die Herausbildung von Zacharys Identität von Bedeutung. Wie auch Bernhard Siegert konstatiert, 21 Einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung dieses Liedes leistet der Sammelband von KÜMMEL-SCHNUR, 2009.

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verweist der „Geschmack“ im Allgemeinen auf die Distinguiertheit einer Figur.22 Auch der Protagonist in C.R.A.Z.Y. wertet seine ,Andersheit‘, die sich in Atheismus und homosexueller Neigung ausdrückt, auf und begreift sie als positives Distinktionsmerkmal im Verhältnis zur Gesellschaft.23 Appliziert man nun erneut Zacharys Identitätsprozess generell auf die Québecois, findet sich darin die Überzeugung, sich vom anglophonen Teil Kanadas zu unterscheiden. Der Gedanke des Geschmacks als Unterscheidungskriterium zeichnet sich nicht zuletzt in der Privilegierung der französischen Sprache als wesentlicher Teil der ,québécitude‘ ab. Zachary ist somit nicht nur ein junger Mann, der seine Identität während der Adoleszenz ausformt. Die Entwicklung seines Verständnisses von (homosexueller) Männlichkeit ist einer Transition geschuldet, die zugleich als Allegorie der ,Révolution tranquille‘ gesehen werden. Seine persönlichen Entwicklungen und Wertevorstellungen lassen sich gleichermaßen auf die Prozesse der 1960er und 1970er Jahre in Kanada anwenden. Es gilt hierbei, dass Homosexuelle als Metapher des Neuen, des Modernen zu verstehen. Dementsprechend wird der Protagonist zum Bild eines fortschrittlichen Québecs in einer Zeit des soziopolitischen und soziokulturellen Umbruchs. Wie verhält es sich nun mit dem traditionell katholischen Wertesystem in Québec zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Der erste Langfilm von Xavier Dolan (*1989), dem ,enfant terrible‘ der nouvelle vague québecoise,24 inszeniert in J’ai tué ma mère den Jugendlichen Hubert, der seine Homosexualität vor seiner konservativen Mutter geheim hält, was wiederum für reichlich Konfliktpotential zwischen den beiden Figuren sorgt.25 Im Vergleich zu C.R.A.Z.Y. ist die Thematisierung der Kirche im Plot von J’ai tué ma mère weniger präsent, wenngleich der Titel 22 „Der Mann mit Geschmack weiß sich zu unterscheiden, indem er zu unterscheiden weiß. Geschmack haben heißt, einen Unterschied herzustellen, indem man Unterschiede treffen kann, wo andere keine mehr treffen können. Geschmack distinguiert.“ aus: SIEGERT, 2009, S. 33. 23 So hält auch Loic Bourdeau fest: „Zac est alors étranger à la société, de par sa non-conformité […].“ BOURDEAU, 2012, S. 141. 24 Zur ,nouvelle vague québecoise‘ als ästhetische Welle des zeitgenössischen Kinos aus Québec vgl. DEQUEN, 2011, S. 14-22. 25 Gleichwohl ist ihre Beziehung paradigmatisch für die Erziehung und Vermittlung von Traditionen und Werten. Einen ähnlichen Ansatz zur Mutter-Sohn-Beziehung im frankophonen Film aus Afrika verfolgt MIGRAINE-GEORGE, 2003, S. 47.

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gegen das vierte und fünfte Gebot aus dem „Zweiten Buch Mose“ verstoßen mag. In einem Gespräch mit seiner Lehrerin Julie Cloutier manifestiert sich die Macht der katholischen Doktrin in der Sozialisation des Jugendlichen. In der Szene im Diner (00:16:20-00:17:50) nimmt die Kamera eine Normalsicht ein und zoomt von einer Totalen bis zur Großaufnahme heran, um das darauf folgende vertrauliche Gespräch zwischen den Figuren einzuleiten. Sie sprechen über ihr jeweiliges Verhältnis zu den Eltern und dabei zitiert die Lehrerin Jean Cocteau mit „La mère d’un fils ne sera jamais son amie – Cocteau“ woraufhin Hubert ihr entgegnet „Ton père et ta mère tu aimeras – Dieu“ (00:17:20).26 Im shot-reverse-Verfahren werden die beiden Meinungen einander gegenübergestellt, wodurch die diametrale Opposition der Haltungen hervorgehoben wird. Der Bibel als Referenzwerk für die christliche Geisteslehre wird der homosexuelle Autor, Theaterregisseur und Filmemacher Jean Cocteau entgegengesetzt. In einem katholischen Elternhaus aufgewachsen, stehen für Hubert die Maxime der Kirche an oberster Stelle. Doch dieses Wertesystem ist aufgrund seiner sexuellen Identität nicht mehr vereinbar, fühlt er sich doch gerade nicht von seinen Eltern geliebt. So scheint Cocteaus Zitat zugleich eine wesentliche Erkenntnis für eine emotionale Loslösung von der eigenen Mutter. In dieser Szene äußert sich ferner das Spannungsfeld zwischen traditioneller und moderner Weltanschauung, in dem sich die persönliche Identität des jungen Mannes befindet. Inwiefern homosexuelle Lebensentwürfe Opfer konservativer Wertesysteme werden, zeigt sich im Film anhand der Tatsache, dass Huberts Eltern bei der Erziehung resignieren und die Verantwortung an das Internat „Notre-Dame-des-douleurs“ abgeben. Der Name des Internats verweist auf eine katholische Prägung, die den Sohn wieder auf den rechten Pfad bringen soll. Hubert erfährt jedoch, 26 Beide Zitate sind im Film nicht korrekt wiedergegeben und zeigen vielmehr die Tücken des kulturellen Gedächtnisses auf. Das Cocteau-Zitat selbst ist aus dem Theaterstück Les parents terribles (1938) entnommen und hat den Wortlaut: „Aucune mère n’est le camarade de son fils.“ (I2) Siehe COCTEAU, 1948, S. 196. Geht man davon aus, dass das Bibelzitat aus dem 2. Buch Mose stammt, müsste es wiederum in der französischen Fassung wie folgt lauten: „Honore ton père et ta mère, afin que tes jours soient longs dans le pays que Jéhovah, ton Dieu, te donne.“ in: LA SAINTE BIBLE, 1904, S. 69 [Anm.: Der gleiche Wortlaut findet sich ebenfalls im 5. Buch Mose, V, 16. Darüber hinaus kann das Zitat auch auf das 5. Gebot zurückgeführt werden].

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mit Ausnahme des schwulen Mitschülers Éric, keine Integration und wird schließlich Opfer physischer Gewalt durch zwei Internatsbewohner (01:17:13). Selbst wenn die Kirche hier nicht direkt in Bezug zur Nötigung steht, geschieht dies dennoch im räumlichen Umfeld des Internats. Liest man diese beiden Szenen aus J’ai tué ma mère nun allegorisch, ließe sich behaupten, dass die Trennung von Staat und Kirche in Québec zwar politisch umgesetzt, aber noch nicht in den Wertekatalog aller gesellschaftlicher Gruppen aufgenommen worden ist. Doch mit der Inszenierung Huberts als Hipster, einer global verbreiteten, jugendkulturellen Erscheinung, darf die These aufgestellt werden, dass die Repression und Intoleranz gegenüber schwulen Jugendlichen im Speziellen und Homosexuellen im Allgemeinen ein weiterhin präsentes Phänomen in industrialisierten Kulturen darstellt.27 Die mise en scène in Montréal dient daher einerseits als eine lokale Verortung des Films in Québec, doch andererseits kann der verhandelte Konflikt zwischen Akzeptanz und Zurückweisung schwuler Lebensentwürfe ebenso auf eine übergeordnete, ja sogar globale Ebene übertragen werden. Das ,Queere‘ ist nun nicht mehr nur eine Chiffre für den Identitätsfindungsprozess Québecs in der Mitte des 20. Jahrhunderts, wie es in C.R.A.Z.Y. der Fall ist, sondern avanciert in J’ai tué ma mère zu einer konkreten, global gültigen Wirklichkeit. Mit Blick auf die hegemoniale Männlichkeit kann festgehalten werden, dass Connells Modell aufzeigt, dass der Schwule als Teil einer marginalisierten Gruppe ausgegrenzt wird. Die hegemoniale Struktur von Männlichkeit führt damit zur Ausgrenzung nicht normativer oder nicht heterosexueller Entwürfe. Der Katholizismus in C.R.A.Z.Y. und J’ai tué ma mère wird dabei zur Projektionsfläche konservativer und sogar homophober Vorstellungen, die es Jugend-

27 Als Exkurs darf erwähnt werden, dass Xavier Dolan die Regie bei den Dreharbeiten zum Videoclip von „College boy“ geführt hat. Dieses Lied der französischen Musikgruppe Indochine behandelt eben diese homophoben Anfeindungen und Mobbingerfahrungen von Jugendlichen im Schulalltag. Der Filmemacher greift in seinem Clip das Motiv der Kreuzigung Jesu Christi auf, die nun der schwule Protagonist aus „College boy“ erfährt. Das Musikvideo gerät bei Erscheinen im Mai 2013 aufgrund seines expliziten Inhalts zunächst auf dem Index und wird scharf kritisiert. Vgl. hierzu [O.A.], 2013, S. E1. Das Musikvideo kann mittlerweile auch über die gängigen Online-Videoportale angeschaut werden. Die Audioversion findet sich unter INDOCHINE, 2013, 4:47 min.

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lichen erschweren, ihr Schwulsein als Bestandteil ihrer männlichen Identität zu entwickeln. Der Wohnraum als Ort, in dem Identitäten performiert werden, nimmt in beiden Filmen eine elementare Rolle in der Handlung ein. Während im vorherigen Abschnitt traditionelle und moderne Wertevorstellungen im sozialen Kontext erörtert worden sind, sollen nun heterozentristische und ,queere‘ Identitätsräume betrachtet werden.28 Als Zachary seinen 15. Geburtstag feiert, erfährt er seine Initiation über einen Kuss mit dem Freund seiner Cousine. Kurze Zeit darauf wird Zachary in seinem Zimmer zunächst über einen high-angle-Shot gezeigt, wie er auf seinem Bett liegt und in einen Tagtraum versinkt, in dem er sich einen harmonischen Moment gemeinsam mit seiner Cousine und ihrem Freund vorstellt. Als auditive Klammer wird nun „Space Oddity“ von David Bowie eingeleitet und über einen harten Schnitt erblickt man die Hauptfigur, wie sie zu diesem Lied singt und tanzt (00:39:15-00:42:03).29

Abbildung 2: Zacharys Performance zu Space Oddity (00:26:48-00:28:06) Man sieht hier Zachary, der sich wie Ziggy Stardust, das Alter Ego von David Bowie, schminkt.30 Diese Maske dient ihm zugleich, eine schwule Identität anzulegen. Das Bild der Travestie wird zudem ein Sinnbild 28 Als Impuls zu den folgenden Überlegungen diente LAGABRIELLE, 2011b. 29 BOWIE, 1969, 05:14 min. 30 Zur Kunstfigur Ziggy Stardust vgl. BOWIE/CARR, 1993, S. 121ff.

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des Übergangs vom Kind zum Jugendlichen, der seine Homosexualität erfährt. Im Spiegel tanzend kann er sodann über seine Handlung und seine Identität reflektieren. Im Hintergrund ist die violette Zimmerwand zu erkennen, die mit dem Prisma und dem Regenbogen aus Pink Floyds Album The Dark Side of The Moon (1973) bemalt ist.31 Dieses Wanddekor ist wohl nicht nur dem Umstand geschuldet, dass der Protagonist ein Fan der Gruppe ist. Der Regenbogen ist zugleich das Erkennungssymbol der LGBTI-Gemeinschaft. Dank dieser Dekodierung des abgemalten Plattencovers als Zeichen schwuler Identität verleiht Zachary seinem privaten Raum eine kulturelle Zugehörigkeit. Wie eine gehisste Fahne semantisiert der Regenbogen das Zimmer als Ort homosexueller Lebenswirklichkeit. Die Kamera verfolgt Zachary während seiner Performance stets aus der Normalsicht zwischen amerikanischer Einstellung und Großaufnahme. In seinem Zimmer kann er seine Identität in einem geschützten Raum erleben und in gewisser Weise reflektieren. Die Metapher des Weltraums stellt zugleich die Außenwelt dar, von der er sich abgeschottet zu haben scheint. Der zentrale Moment dieser Szene wird mittels des Verses „Now it’s time to leave the capsule“ unterstrichen. Das Bild des ,sortir du placard‘ überträgt sich hier im Vers und wird für Zachary nahezu eine Aufforderung, sein Schwulsein für sich anzuerkennen und nach außen zu tragen. Sein Zimmer dient als Rückzugsort, in dem er seine Art der Männlichkeit konstruieren kann. Denn neben Fanpostern von David Bowie finden sich ebenso Bilder von Bruce Lee, dem der Protagonist durch das Imitieren von Kampfsportgesten nacheifert. Beide werden zu kulturellen Helden, die Zachary dazu dienen, seine Identität zu entwickeln. Betrachtet man nun das Zimmer im Wohnhaus der Familie Beaulieu, so kann dies als ein heterotoper Gegenentwurf zum heterozentristisch geprägten Haus gesehen werden. In diesem Raum werden moderne Lebensentwürfe gelebt, die sich vom traditionellen System abwenden. Doch verbleibt das Zimmer geradezu sinnbildlich weiterhin im Haus, ähnlich der ,Nation innerhalb einer Nation‘. Dieser Vergleich hebt folglich ein Mal mehr hervor, inwiefern Zachary als eine Allegorie der Geschichte Québecs in der Mitte des 20. Jahrhunderts gelesen werden kann. Hubert in J’ai tué ma mère hingegen verbringt verhältnismäßig wenig Zeit in seinem eigenen Zimmer oder im Wohnhaus seiner Mutter. 31 PINK FLOYD, 1973.

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Einblicke in seine Privatheit teilt der Zuschauer stets mit seinem Freund Antonin, da die beiden sich zumeist in dessen Zimmer treffen. Auch Antonins privater Rückzugsort ist mit schwulen Codes aufgeladen:

Abbildung 3: Antonins Zimmertür (00:07:01)

Abbildung 4: Antonins Zimmer (00:06:43) An seiner Zimmertür hängt ein Schwarzweißposter des Dichters Émile Nelligan (1879-1941) aus Montréal (vgl. Abb. 3). Der Poet gilt als einer der wichtigsten Vertreter der frankokanadischen Lyrik des Fin de siècle und ist somit Teil der kulturellen Identität Québecs, doch betrachtet man dessen „Romance du vin“ (1899) genauer, lässt sich folgendes feststellen: Der Vers „Je suis gai ! Je suis gai !“ wiederholt sich insge-

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samt drei Mal über die neun Strophen des Gedichts.32 Bezieht man nun die Reiteration dieses Ausrufs auf die handelnden Figuren, darf die polyseme Auslegung des Begriffs ,gai‘ legitimerweise für die Genderidentität von Hubert und Antonin angenommen werden.33 Eine CampLektüre wiederum erlaubt, die Poster von Coco Chanel und James Dean in Antonins Zimmer (vgl. Abb. 4) als Ikonen der schwulen Männlichkeit zu dechiffrieren. Wie auch in Zacharys Zimmer in C.R.A.Z.Y. wird Antonins Zimmer mit ikonischen Zeichen der homosexuellen Lebenswelt besetzt und erfährt dergestalt seine schwule Prägung. Aufgrund der mise en scène scheint in diesem Raum die Entwicklung der männlichen Identität einen Nährboden zu finden. Denn vergleicht man Antonins mit Huberts Zimmer, lässt sich festhalten, dass darin jegliche Ikonen der Homosexualität in Form von Postern oder Bildern fehlen. Stattdessen hängt in seinem Zimmer ein Abdruck von Edvard Munchs Der Schrei (1893).34 Das expressionistische Bild spiegelt Huberts Gefühl der Ohnmacht und Rebellion gegen das konservative Elternhaus, in dem er lebt. Wenn auch in J’ai tué ma mère das Haus als Mikrokosmos stellvertretend für eine gesellschaftliche Ordnung gedacht werden kann, so darf Der Schrei zugleich als Ausdruck der erfahrenen Marginalisierung und Ausgrenzung verstanden werden, der sich schwule Jugendliche in einem konservativen System ausgesetzt sehen. Die intermedialen Griffe in Xavier Dolans Erstlingswerk dienen infolgedessen als nonverbale Kommunikatoren eines homosexuellen Imaginariums. Das Bedürfnis nach räumlicher Unabhängigkeit und Autonomie manifestiert Hubert indes in dem Wunsch, eine eigene Wohnung beziehen zu dürfen. Obwohl seine Mutter in dieses Projekt einwilligt und er

32 Mit der Rezitation des Gedichtes am 26. Mai 1899 erlangt der junge Dichter seine Anerkennung im Kreise der frankokanadischen Lyriker des Fin de siècle. Vgl. NELLIGAN, 1992, S. 216f. sowie S. 239f. 33 Es darf anhand dieser Abbildung noch erwähnt werden, dass im Bildhintergrund eine Kopie von Gustav Klimts Die drei Lebensalter der Frau (1905, 180x180cm, Öl auf Leinwand. Standort: Galleria Nazionale d’Arte Moderna, Rom) zu sehen ist. Der harmonische Gestus zwischen Mutter und Kind wird zum Abbild von Antonins Verhältnis zu seiner Mutter, das wiederum der Beziehung zwischen Hubert und Chantale diametral gegenübersteht. Zu Gustav Klimts Gemälde siehe u. a. KLIMT, 2006, S. 127. 34 1893, Öl, Tempera und Kreide auf Karton 84cm x 67 cm, Standort: Munch-Museum Oslo. MUNCH, 2003, S. 247.

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ein entsprechendes Objekt besichtigt, wird dieser Autonomieanspruch kurzerhand im Keim erstickt (00:22:20-00:24:20). Hubert ist aufgrund der fehlenden Volljährigkeit gezwungen, weiterhin bei seiner Mutter zu leben und versucht in zwei Szenen durch Zerstörung und Verwüstung der Wohnungseinrichtung das konservative Weltbild seiner Mutter anzugreifen (00:11:20-00:11:32 / 01:13:39-01:15:05). Allerdings kommt es entweder nur in einer imaginierten Situation dazu (vgl. 00:11:2000:11:32) oder Hubert stellt nach dem Chaos die bekannte Ordnung wieder her (vgl. 01:13:39-01:15:05). Die Versöhnung zwischen Konservatismus und homosexueller Lebenswirklichkeit findet in J’ai tué ma mère erst im Schlussakkord statt. Fernab vom Stadt- und Wohnraum treffen sich Mutter und Sohn in dessen „royaume“ (01:26:51), dem früheren Haus der Familie auf dem Land. Mithilfe des Flashbacks und einem Super 8-Filter werden Bilder aus der Kindheit evoziert, in der das Verhältnis zwischen den beiden Figuren noch intakt scheint. Ungeachtet einer schwulen Genderidentität wird dergestalt am Erinnerungsort an die eigentliche, auf Harmonie und Vertrauen basierende Beziehung zwischen Mutter und Sohn gedacht. Es bedarf daher nicht einer „présence masculine dans [leur] maison, une petite touche masculine [qui] lui [sc. Hubert] fera du bien“ (01:27:35), wie es der Schulleiter der Mutter in einem Telefonat vorschlägt, als Hubert aus dem Internat flieht. Diese Schlusssequenz verweist demnach auf eine allgemeine Frage der Eltern-Sohn-Beziehung und ihrer Funktion für die Entwicklung des adoleszenten Individuums.35 Abschließend kann festgehalten werden, dass die zwei Beispiele aus dem frankokanadischen Coming-of-Age-Film einer soziokulturellen und -politischen Lektüre unterzogen werden können. In beiden Filmen werden junge Männer während ihres Identitätsprozesses im familiären Umfeld gezeigt. Der Entwurf schwuler Männlichkeit im Jugendalter erfährt dabei in C.R.A.Z.Y. eine historische und regionale Semantisie35 Verglichen mit den bisherigen Filmen von Xavier Dolan stellt man fest, dass das Mutter-Sohn-Verhältnis nicht nur in J’ai tué ma mère eine wichtige Rolle spielt. In Les amours imaginaires (2010) findet sich ein dysfunktionales Verhältnis zwischen Nicolas und seiner Mutter. In Tom à la ferme (2013) wird die fehlende Kommunikation und das fehlende Vertrauen zwischen der Mutter Agathe und ihrem nunmehr verstorbenen Sohn verhandelt. Sein Film Mommy (2014) stellt die konfliktive Beziehung zwischen der Mutter Diane und ihrem Sohn Steve ins Zentrum.

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rung. Der Protagonist Zachary kann als Chiffre der Geschichte Québecs in der Phase der ,Révolution tranquille‘ gesehen werden. Sein Schwulsein versteht sich daher ebenso als ein modernes Bild Québecs, das einem traditionell-konservativen System diametral gegenüber steht. In J’ai tué ma mère spielt die Konfrontation der Wertesysteme ebenso eine wesentliche Rolle. Allerdings lässt sich dieser Aspekt hierin eher auf einer allgemeinen, überzeitlichen Ebene verhandeln, die Québec zwar als Raum der mise en scène wählt, jedoch auch auf andere soziokulturelle Kontexte angewendet werden kann. Das räumliche Dispositiv in den Filmen dient ferner dazu, schwule Identität in einen Erfahrungsraum heterozentristischer und homosexueller Habitusformen einzubetten. Die Privatheit und Intimität der Jungenzimmer können daher wiederum als Gegenentwürfe konservativer Vorstellungen betrachtet werden. Grundsätzlich darf an dieser Stelle bekräftigt werden, dass in beiden Filmen das ,Mann werden‘ insofern problematisiert wird, als es sich um schwule Männer handelt. Homosexualität war in den 19601970er Jahren keine Selbstverständlichkeit und scheint es sogar in den 2000er Jahren noch nicht zu sein. Trotz zahlreicher politischer und juristischer Errungenschaften können Jugendliche ihre gleichgeschlechtliche Liebe noch nicht frei entfalten. Der Coming-of-Age-Film wird diesen Prozess sicherlich weiterhin dokumentieren.

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A U T O RI N N E N

UND

AUTOREN

Julia Brühne ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Kultur- und Literaturwissenschaft am Romanischen Seminar der Johannes GutenbergUniversität Mainz. Sie schloss 2014 ihre Dissertation zum Neorealismus im spanischen Nachkriegskino ab, die in Kürze in der Reihe Siegener Forschungen zur romanischen Literatur- und Medienwissenschaft bei Stauffenburg erscheint, und beschäftigt sich derzeit vorrangig mit Studien zu jouissance, Souveränität und Allegorie. Maha El Hissy ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Nach ihrer Promotion im Studiengang „Literaturwissenschaft“ an der LMU München war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der DFGForschergruppe „Anfänge (in) der Moderne“. Sie forscht gegenwärtig zu einem Projekt über Jungfrauen als literarische Figuren des Politischen. Stephan Horlacher ist Professor für Englische Literaturwissenschaft an der TU Dresden. Seine neuesten Publikationen sind: Männlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2015; Configuring Masculinity in Theory and Literary Practice, Leiden/Boston 2015; GenderGraduateProjects I – Geschlecht, Fürsorge, Risiko, Leipzig 2015; Post World War II Masculinities in British and American Literature and Culture. Towards Comparative Masculinity Studies, Farnham 2013; Constructions of Masculinity in British Literature from the Middle Ages to the Present, New York 2011. Timo Kehren ist Doktorand und Lehrbeauftragter am Romanischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Das Studium der 285

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Romanistik in Mainz, Dijon und Saragossa beendete er mit einer Staatsarbeit zur Liebessemantik im spanischen Schelmenroman, woran er in seinem Dissertationsprojekt anknüpft. Frank Reza Links ist Dozent am Romanischen Seminar der Universität zu Köln. Er wurde an der Universität Bonn mit einer Arbeit über die Darstellung des Tanzes in Literatur, Stummfilm und Malerei promoviert. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören frankophone und hispanophone Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften vom 18. Jahrhundert bis heute sowie Kultur- und Mediendidaktik. Timo Obergöker ist Senior Lecturer für Französisch an der University of Chester (Großbritannien). Er forscht zu Männlichkeit und Republikanismus in Frankreich nach 1962, zum Verhältnis von Populärkultur und Kolonialismus und zur Gegenwartsliteratur aus Frankreich und Québec. Karin Peters ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für hispanische und französische Literaturwissenschaft am Romanischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Nach ihrer Promotion im Studiengang „Literaturwissenschaft“ der LMU München zu Paul Valéry, Georges Bataille und Adolfo Bioy Casares (Der gespenstische Souverän. Opfer und Autorschaft im 20. Jahrhundert, München 2013) forscht sie inzwischen vorrangig zum Pathos in der spanischen Pastorale und zur politischen Mythologie von Männlichkeit. Todd W. Reeser ist Professor für Französisch am Department für Französische und Italienische Sprachen und Literaturen der University of Pittsburgh. Er ist außerdem Direktor des University of Pittsburgh Gender, Sexuality, and Women’s Studies Program und hat zahlreiche Schriften aus dem Bereich der Masculinity Studies vorgelegt, u. a.: Transgender France, Sonderausgabe der Zeitschrift Esprit Créateur (Frühling 2013); Masculinities in Theory, Malden, MA 2010; “Entre hommes”: French and Francophone Masculinities in Theory and Culture, Newark 2008 (hg. mit Lewis Seifert); Moderating Masculinity in Early Modern Culture, Chapel Hill 2006; French Masculinities, Son-

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Autorinnen und Autoren

derausgabe der Zeitschrift Esprit Créateur (Herbst 2003) (hg. mit Lewis Seifert). Thorsten Schüller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für französische Literatur- und Kulturwissenschaft am Romanischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Nach seiner Promotion zum frankophonen afrikanischen Diaspora-Roman liegt sein Hauptforschungsschwerpunkt weiterhin im Bereich der Afro-Romanistik. Weitere Forschungsschwerpunkte sind die kulturelle Verarbeitung von 9/11 und die Verbindung von Literatur und Populärkultur. Gregor Schuhen ist Juniorprofessor für Romanische und Allgemeine Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Men’s Studies an der Universität Siegen. Seine Forschungsschwerpunkte sind die französische Literatur vom 17. bis zum 20. Jh. im europäischen Kontext, Gender und Masculinity Studies, die spanische Literatur des Siglo de Oro, klassische Avantgarden und Wissenschaftsgeschichte. Seit 2011 ist er Leiter der Forschungsstelle für Literatur & Men’s Studies (LIMES) an der Universität Siegen. Publikationen (Auswahl): Erotische Maskeraden. Sexualität und Geschlecht bei Proust, Heidelberg 2007. Als Herausgeber: Der verfasste Mann. Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900, Bielefeld 2014; Ambivalente Männlichkeit(en). Maskulinitätsdiskurse aus interdisziplinärer Perspektive, Opladen/Berlin/Toronto 2012 (hg. mit Uta Fenske). Wieland Schwanebeck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Technischen Universität Dresden. Promotion über das Hochstaplermotiv im Werk von Patricia Highsmith (erschienen als Der flexible Mr. Ripley bei Böhlau, 2014), aktuelle Forschungsschwerpunkte: Männlichkeit in Literatur und Film, britische Filmgeschichte, Zwillingsmythologie. Lisa Zeller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für französische Literaturwissenschaft am Romanischen Seminar der Johannes GutenbergUniversität Mainz. Nach ihrer Promotion zu Allegorien der Republik im französischen Roman um 1900 verfolgt sie inzwischen ein For-

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schungsprojekt zur Vorgeschichte der Volkssouveränität in spanischer und französischer Literatur der Frühen Neuzeit.

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Mainzer Historische Kulturwissenschaften Verónica Ada Abrego Erinnerung und Intersektionalität Frauen als Opfer der argentinischen Staatsrepression (1975-1983) Februar 2016, ca. 500 Seiten, kart., ca. 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3087-9

Alexander Dingeldein, Matthias Emrich (Hg.) Texte und Tabu Zur Kultur von Verbot und Übertretung von der Spätantike bis zur Gegenwart August 2015, 216 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2670-4

Carsten Jakobi, Christine Waldschmidt (Hg.) Witz und Wirklichkeit Komik als Form ästhetischer Weltaneignung März 2015, 488 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2814-2

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Mainzer Historische Kulturwissenschaften Jutta Ernst, Florian Freitag (Hg.) Transkulturelle Dynamiken Aktanten – Prozesse – Theorien 2014, 376 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2563-9

Alina Bothe, Dominik Schuh (Hg.) Geschlecht in der Geschichte Integriert oder separiert? Gender als historische Forschungskategorie 2014, 268 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2567-7

Ute Frietsch, Jörg Rogge (Hg.) Über die Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens Ein Handwörterbuch 2013, 520 Seiten, Hardcover, 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2248-5

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