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German Pages 340 Year 2015
Myriam Rutschmann Andere Weiblichkeiten
Gender Studies
Myriam Rutschmann ist Dozentin an der Höheren Fachschule für Sozialberufe Zürich (agogis). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Geschlechterforschung, soziale Ungleichheit, Armut, Devianz und rekonstruktive Sozialforschung.
Myriam Rutschmann
Andere Weiblichkeiten Biographische Geschlechter(re)konstruktionen katholischer Ordensschwestern
Gefördert durch das Marie Heim-Vögtlin-Programm des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Frühjahrssemester 2013 auf Antrag von Prof. Dr. Reinhard Fatke und Prof. Dr. Birgit Bütow als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Einleitung | 9
TEIL I KONTEXT : RELIGIÖSE FRAUENKONGREGATIONEN FRÜHER UND HEUTE 1
Die Geschichte der katholischen Frauenkongregationen von der frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert | 17
1.1
1.3 1.4
Zur Entstehung katholischer Frauenkongregationen im 16. bis 18. Jahrhundert | 18 Die religiösen Frauengemeinschaften in der Zeit der Aufklärung, der Französischen Revolution und der Säkularisation | 22 Die „Blütezeit der Kongregationen“ im 19. Jahrhundert | 24 Die Frauenkongregationen im 20. Jahrhundert | 28
2
Katholische Frauenkongregationen heute | 33
2.1
Die innere Struktur der Kongregation: Ein hierarchisches Ordnungsprinzip | 33 Aufnahmebedingungen: Wer darf Schwester werden? | 35 Aufnahmeverfahren: Von der Kandidatur zur ewigen Profess | 35 Evangelische Räte: Ein Leben nach den Gelübden | 37 Der klösterliche Alltag: Tagesstruktur zwischen Gebet, caritativer Tätigkeit und Entspannung | 38
1.2
2.2 2.3 2.4 2.5
TEIL II THEORETISCH-KONZEPTIONELLE RAHMUNG, FORSCHUNGSPERSPEKTIVE UND METHODISCHE HERANGEHENSWEISE 3
Umriss eines biographietheoretischen Zugangs zu Geschlecht und den Geschlechterverhältnissen | 43
3.1 3.2 3.3 3.4
Kongregationen als konjunktiver Erfahrungsraum | 43 Zum Verhältnis von Frauenforschung und Biographieforschung | 46 Unterschiedliche Betrachtungsweisen der Kategorie Geschlecht | 49 Ein biographietheoretischer Zugang zu Geschlecht und den Geschlechterverhältnissen | 51
4
Präzisierung der Perspektiven und Fragestellungen für die empirische Untersuchung | 59
5
Methodologie und Methoden | 63
5.1 5.2
Rekonstruktive Sozialforschung | 63 Zur Arbeit im Feld: Zugang, Auswahl der Interviewpartnerinnen, Kontaktaufnahme und Interviewsituation | 66 Biographie und konjunktiver Erfahrungsraum | 69 Biographische Interviews | 71 Dokumentarische Methode und Konstruktivismus | 74 Analyseverfahren und Auswertungsschritte | 76 Verallgemeinerung der Ergebnisse | 79
5.3 5.4 5.5 5.6 5.7
TEIL III EMPIRISCHE STUDIE 6
Fallrekonstruktionen | 83
6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3
Schwester Inge: mehrfache Grenzgängerin | 84 Biographische Kurzbeschreibung | 85 Reflektierende Interpretation | 88 Zusammenfassende Darstellung biographischer Muster | 145 Schwester Heidi: Geschlecht als riskante Erfahrung | 148 Biographische Kurzbeschreibung | 148 Reflektierende Interpretation | 151 Zusammenfassende Darstellung biographischer Muster | 223
7
Vergleichende Reflexionen und theoretische Weiterführungen | 227
7.1
Biographische Konstruktionsprozesse von Geschlecht: Klosterfrau werden | 228 7.1.1 Geschlecht und Geschlechterverhältnisse im Herkunftsmilieu | 229 7.1.2 Zur Bedeutung der Religion für die Konstruktionsleistungen von Geschlecht | 236 7.1.3 Zum Spannungsverhältnis zwischen subjektivem Lebensentwurf und gesellschaftlichen (geschlechtercodierten) Erwartungen und Erwartungsfahrplänen | 242 7.2 Biographische Konstruktionsprozesse von Geschlecht: Klosterfrau sein | 246
7.2.1 Weiblicher Sozialraum Kloster als Insel der Gesellschaft und der Verhältnisse | 247 7.2.2 Weiblicher Sozialraum Kloster im Kontext der Kirche und der Gesellschaft | 253 8
Andere Weiblichkeiten – eine Verortung | 259
Dank | 263 Literatur | 265 Anhang | 277
Biographische Kurzbeschreibungen | 277 Transkriptionsnotation | 283 Übersetzungen | 285
Einleitung
Seit geraumer Zeit beschäftigt sich die Religionswissenschaft vermehrt mit der Kategorie Geschlecht, die Ethnologie und andere Kultur- und Sozialwissenschaften mit dem Thema Religion (vgl. Hüwelmeier 2004, S. 11). In den letzten Jahren sind denn auch zahlreiche Arbeiten, die sich mit „Geschlecht und Religion“ auseinandersetzen, erschienen (vgl. op. cit. S. 12).1 Katholische Frauengemeinschaften wurden in diesem Zusammenhang bisher jedoch kaum untersucht.2 Die stiefmütterliche Behandlung der Frauengemeinschaften insbesondere seitens der Geschlechterforschung hängt vermutlich damit zusammen, dass die relativ abgeschlossene Lebenswelt der Ordensgemeinschaften einen Zugang von außen erschwert. Zusätzlich gehören katholische Frauengemeinschaften zu einer männlich dominierten Sondergesellschaft und nehmen damit eine doppelte Minderheitsstellung ein. Ein Desinteresse seitens der Frauen- und Geschlechterforschung könnte
1
Vgl. u.a. Scheiterbauer 2014; Ammicht Quinn 2013, Gamper 2011; Lanwerd/Moser 2010; Ziebertz 2010; Heller 2008; Höpflinger et al. 2008; Potts/Kühnemund 2008; Glawion et al. 2007; Reese 2006; Kaupp 2005; King 2005; King/Beattie 2004; Heiniger et al. 2004; Heiniger 2003; Klinger et al. 2003; Franke et al. Sommer 2002; Lukatis et al. 2000; Ammicht Quinn 1999; Hoyer 1999; Sommer 1998; Götz von Olenhusen 1995; King 1995; Maaßen 1993; Pahnke, 1993; Lukatis 1988.
2
Ausnahmen aus dem deutschsprachigen Raum sind die Arbeiten von Hüwelmeier 2008; Vorburger-Bossart 2008; Hüwelmeier 2006; Hüwelmeier 2004; Vorburger-Bossart 2004; Deisser 1999; Isenring 1996. Weitere Untersuchungen zu weiblichen katholischen Ordensgemeinschaften sind folgende: Burke 1993; Campbell-Jones 1979; William 1975. Eine historische Aufarbeitung des Frauenkongregationswesens im 19. Jahrhundert wurde von Relinde Meiwes (2000) unternommen. Darin findet sich auch ein Überblick zu weiteren Arbeiten aus historischer Perspektive. Darüber hinaus sind Arbeiten zu einzelnen Frauengemeinschaften zu finden, z.T. im Auftrag der jeweiligen Klöster angefertigt: Schwegler 1997; Bucher 1991; Haselböck 1991; Vock 1969.
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auch darin begründet liegen, dass den Klosterfrauen eine Befürwortung der patriarchalen Autoritätsstrukturen innerhalb der katholischen Kirche unterstellt wird. Weiter werden Ordensschwestern oftmals als Frauen dargestellt, die vor der Gesellschaft flüchten. Von daher könnte vermutet werden, dass sich Klosterfrauen gesellschaftlichen Fragen nach Geschlecht und den Geschlechterverhältnissen nicht stellen, sich im Gegenteil in die relativ abgeschlossene weibliche Lebenswelt des Klosters zurückziehen. Weibliche Glaubensgemeinschaften der katholischen Kirche sind also weitgehend unbekannte Orte (vgl. op. cit., S. 9), Klosterfrauen unbekannte Wesen. Eine Ausnahme neueren Datums ist die 2004 erschienene Habilitationsschrift „Närrinnen Gottes. Lebenswelten von Ordensfrauen“ von Gertrud Hüwelmeier. Es handelt sich dabei um eine ethnologische Untersuchung der deutschen Frauenkongregation „Arme Dienstmägde Jesu Christi“. Hüwelmeier teilte mehrere Monate das Alltagsleben mit den Schwestern. Dank dem einzigartigen Zugang, den ihr die Ordensfrauen gewährten, ist es der Autorin gelungen, deren Lebenswelt, Wahrnehmungen, Deutungsmuster und soziale Praktiken differenziert zu analysieren. Hüwelmeier interessiert sich vor allem für die subjektiven Erfahrungen von Ordensfrauen in einer sich transformierenden Welt, aber auch, auf welche Weise sich die Gemeinschaft vor dem Hintergrund eines sich wandelnden Verständnisses von weiblichen Rollenkonzeptionen und Geschlechterverhältnissen transformiert (vgl. op. cit., S. 10f.). Sie dokumentiert in ihrer Studie außergewöhnliche Persönlichkeiten der Gemeinschaft, die Suche der Schwestern nach einer Neudefinition der Gelübde, deren Beschäftigung mit der Frage nach Gleichheit und Differenz untereinander sowie deren Auseinandersetzung mit dem Status ihrer Frauengemeinschaft in der männerdominierten katholischen Kirche. Im Zentrum ihrer Auseinandersetzung steht aber nicht das Machtverhältnis zwischen Frauen und Männern, sondern die „Frage nach der Herstellung und Aufrechterhaltung ‚patriarchaler‘ Autoritätsstrukturen in einem ausschließlich von Frauen gestalteten Raum“ (op. cit., S. 13). Das vorliegende Forschungsinteresse gilt, wie bei Hüwelmeier, den sogenannten „offenen“ Frauenklöstern, den Frauenkongregationen. Im Gegensatz zu den „geschlossenen“ Klöstern, den kontemplativen Orden, gehören bei den Kongregationen nicht ausschließlich die Beschauung und die Betrachtung, sondern ebenso die (oft caritative) Tätigkeit zur religiösen Lebensführung. Deshalb werden Kongregationen auch apostolisch-tätige Orden genannt. Die Entstehungsgeschichte der Frauenkongregationen ist denn auch eine andere als diejenige der kontemplativen Gemeinschaften. Obwohl es bereits seit den Anfängen des Christentums Frauen gab, die eine religiös-tätige Lebensform wählten (vgl. Conrad 1991, S. 230-232), entstanden die meisten heute noch existieren-
E INLEITUNG
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den Frauenkongregationen im deutschsprachigen Raum im Laufe des 19. Jahrhunderts. Relinde Meiwes (2000, S. 310) zeigt in ihrer historischen Untersuchung über die Frauenkongregationen im 19. Jahrhundert auf, dass die Gründe für deren Aufschwung in der Wiederentdeckung des religiösen Lebens, der sozialen Frage und der Frauenfrage zu suchen sind. In dieser spezifisch historischen Situation bot die Organisationsform der Kongregationen für religiöse katholische Frauen oftmals die einzige Alternative zur traditionellen Frauenrolle als Gattin, Hausfrau und Mutter. Die Schwestern hatten die Möglichkeit, jenseits eines ehelichen und familiären Lebensentwurfs einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit nachzugehen, ohne ihr gesellschaftliches Ansehen zu verlieren. Oft waren sie in helfenden Berufen wie denjenigen der Armenpflegerin, Krankenschwester, Kindergärtnerin oder Lehrerin tätig. Durch ihr Engagement in Bildung und Erziehung trugen sie zur Verbreitung einer verbesserten Mädchenbildung bei. Insofern können die Tätigkeiten der Frauenkongregationen als wesentlicher Beitrag zur Frauenförderung verstanden werden (vgl. op. cit., S. 156-198; Isenring 1996, S. 39-41). Die große Zeit der Orden und damit auch der katholischen Frauenkongregationen ist mit Sicherheit vorbei. Seit den 1960er-Jahren ist ein bis heute unaufhaltsamer Rückgang des Nachwuchses zu verzeichnen. Derzeit leben in der Schweiz noch rund 1250 Ordensmänner und 4000 Ordensfrauen. Der größere Anteil der Ordensfrauen sind Kongregationsschwestern, aber auch bei ihnen sind die Zahlen seit Jahren rückläufig. Gründe für den Mangel an Neueintritten sind u. a. in den Erfolgen der Neuen Frauenbewegung3 und den damit verbundenen erweiterten Handlungsmöglichkeiten der Frauen, in der Erosion des katholischen Milieus, aber auch im Ausbau des Sozialstaates zu suchen. Der Staat übernahm im Bereich des Sozialen und im Bereich der Bildung immer mehr Aufgaben, welche zuvor von Ordensschwestern ausgeführt wurden. Damit entfiel für die Frauenkongregationen ein wesentlicher Aktivitätsbereich (vgl. Meiwes 2000, S. 314). Ein jüngeres Beispiel hierzu ist die Übernahme der Lehrerinnenbildung in der katholischen Schweiz durch die pädagogischen Hochschulen. Kongregationen wie Menzingen, Heiligkreuz und Baldegg haben dadurch einen ihrer wichtigsten Aufgabenbereiche verloren. Aufgrund des Nachwuchsmangels und der daraus folgenden Überalterung der Gemeinschaften müssen die Schwestern außerdem Tätigkeitsfelder wie das Führen von Bildungshäusern, Spitälern, Pensionen oder heilpädagogischen Schulen aufgeben. Dies führt dazu, dass die verbliebenen Schwestern dazu ge-
3
Die Neue Frauenbewegung entstand in den 1960er-Jahren und dauerte bis in die 1990erJahre. Für einen Überblick zur westdeutschen Geschichte der Neuen Frauenbewegung siehe u. a. Thon 2008. Zur Geschichte der Neuen Frauenbewegung in der Schweiz siehe u. a. Frauen Macht Geschichte 1948–2000; Witzig 2005; Widmer 2005.
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zwungen sind, sich neu zu definieren, neue Ziele für ihr religiöses Dasein zu finden. Gerade dies ist für die Ordensfrauen, zu deren Lebensinhalt nicht ausschließlich die Kontemplation, sondern eben auch die Tätigkeit gehört, nicht einfach. Vor dem Hintergrund dieser Transformationsprozesse, der Anwerbungsprobleme und der Überalterung ist zu vermuten, dass die Aussagen Hüwelmeiers hinsichtlich der Neudefinitionen der Frauengemeinschaften doch etwas zu optimistisch formuliert sind. In Zeiten gesellschaftlicher Veränderungsprozesse hinsichtlich Geschlecht und der Geschlechterverhältnisse scheinen diese Frauen, die bisher kaum sichtbar gemacht wurden, ein interessantes Forschungsfeld zu sein. Zunächst interessiert die Frage, wer diese Frauen sind, die in ein Kloster eintreten und die ewigen Gelübde ablegen, mit der Aussicht, ein Leben zu führen, das der „weiblichen Normalbiographie“ (Levy 1977) so gar nicht entspricht. Weshalb entscheiden sich Frauen bewusst gegen eine gelebte Sexualität, gegen die Ehe, gegen Kinder und für ein Leben in einer weiblichen, von Spiritualität und Arbeit geprägten Gemeinschaft, aber innerhalb einer männlich dominierten Kirche? Daran anknüpfen ließen sich Fragen nach Weiblichkeits- und Männlichkeitskonzepten der Klosterfrauen, Fragen nach der Geschlechterdifferenz in der katholischen Kirche sowie zwischen der katholischen Kirche und der durch Veränderungsprozesse in Bezug auf Geschlecht geprägten säkularen Welt. Werden diese Widersprüche von den Schwestern wahrgenommen, wie werden diese bewältigt? Sind Veränderungsprozesse im Hinblick auf Geschlecht und die Geschlechterverhältnisse in den Klöstern wahrnehmbar? Die Analyseperspektive der vorliegenden, als empirische Untersuchung angelegten Studie richtet sich aber nicht auf das Was der gesellschaftlichen Realität des „kulturellen Systems der Zweigeschlechtlichkeit“ (Hagemann-White 1984) und schon gar nicht auf das Warum bzw. auf die Ursachen der geschlechtlichen Realität. Im Zentrum steht vielmehr das Werden und Gewordensein unter der Perspektive des Wie. Die Studie befasst sich mit der Frage, wie Geschlecht im Verlauf einer individuellen Biographie und im Horizont eines religiös geprägten sozialen Zusammenhangs angeeignet und (re)konstruiert wird. Das Verhältnis von Biographie und Geschlecht wird dabei am empirischen Beispiel lebensgeschichtlicher Erzählungen von Kongregationsschwestern untersucht. Es handelt sich also um eine exemplarische Bearbeitung eines empirischen Ausschnitts gesellschaftlicher Wirklichkeit. Mit der geschlechter- und biographietheoretischen Untersuchung von Kongregationsschwestern wird eine Forschungslücke hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Religion und Geschlecht geschlossen. Darüber hinaus leistet die Arbeit einen Beitrag zur aktuellen Diskussion um Sozialisation und Geschlecht.
E INLEITUNG
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Die vorliegende Arbeit gliedert sich in vier größere Abschnitte. Im ersten Teil geht es darum, die Leserinnen und Leser mit dem Kontext der Untersuchung bekannt zu machen. Kapitel 1 widmet sich der Entwicklungsgeschichte der Frauenkongregationen vom 16. Jahrhundert bis heute, unter besonderer Berücksichtigung des schweizerischen Kontextes. Nebst Entstehung und Ausbreitung der Frauenkongregationen liegt der Fokus auf den gesellschaftlichen Handlungsund Partizipationsmöglichkeiten der Ordensschwestern. Gegenstand des 2. Kapitels sind die Kongregationen der Gegenwart. Unter Einbezug der Regeln, Satzungen und allgemeinen Statuten der Menzinger Schwestern werden die innere Struktur der Kongregationen, die Aufnahmebedingungen, das Aufnahmeverfahren und die Alltagspraxis, zu der auch die Gelübde Armut, Keuschheit und Gehorsam gehören, dargelegt. Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich mit theoretisch-konzeptionellen und methodologischen Fragen sowie mit dem methodischen Vorgehen der Untersuchung. In Kapitel 3 wird die theoretische Herangehensweise erläutert. Es geht dabei um die Auseinandersetzung und den Zusammenhang der Konzepte „konjunktiver Erfahrungsraum“, „Biographie“ und „Geschlecht“. Dazu wird zunächst das Konzept des konjunktiven Erfahrungsraums von Karl Mannheim unter Einbezug der Erweiterungen nach Ralf Bohnsack im Hinblick auf den Forschungsgegenstand geschärft. Damit lassen sich katholische Frauenkongregationen als übergreifender konjunktiver Erfahrungsraum im Sinne eines spezifisch religiösen Milieus fassen. Die Konzeption „Kongregationen als konjunktiver Erfahrungsraum“ erlaubt eine dialektische Verschränkung von sozialen, gesellschaftlichen bzw. kulturellen Strukturen und subjektiven Sinnkonstruktionen. Das Interesse an subjektiven Sinnkonstruktionen von individuellen Biographieträgerinnen legt einen biographietheoretischen Zugang nahe, der anschlussfähig ist an die wissens-soziologische Konzeption Mannheims. Nach der Erläuterung dessen, was in der vorliegenden Studie unter Biographie und Geschlecht verstanden wird, wird das hier favorisierte Biographiekonzept von Bettina Dausien entfaltet. Es zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es die Verschränkung von sozialen bzw. gesellschaftlichen Verhältnissen mit individuellen Konstruktionen in den Blick nimmt (vgl. Thon 2008, S. 86) und zugleich Geschlecht als biographische Konstruktion (Dausien 1998) versteht. Auf dieser Grundlage können dann in Kapitel 4 die konkreten Forschungsfragen ausdifferenziert werden. Kapitel 5 befasst sich mit dem methodologischen Rahmen und dem methodischen Zugang. Die Untersuchung bewegt sich innerhalb der Maximen des interpretativen Paradigmas bzw. der Methoden der rekonstruktiven Sozialforschung. Entlang dieser Grundsätze wird das Vorgehen bei der Arbeit im Feld, der Erhe-
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bung der biographischen Interviews, der Datenanalyse und der Verallgemeinerung der Daten dokumentiert. Mit den zwei ausführlichen Fallanalysen, die in Teil III (Kapitel 6) vorgestellt werden, kommen die Ordensschwestern selbst zu Wort. Die beiden Fallanalysen dienen als Ankerfälle, anhand deren sowohl die Interpretationsmethode transparent gemacht werden kann als auch die Ergebnisse im Material „verankert“ dargestellt werden können. In Kapitel 7 werden die Ergebnisse der Ankerfälle unter Einbezug fünf weiterer biographischer Interviews pointiert auf die darin aufscheinenden Zusammenhänge hin dargestellt. Das abschließende Kapitel 8 unternimmt den Versuch, die Ergebnisse der Untersuchung in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Dabei geht es nicht mehr um gegenstandsbezogene Verdichtungen, sondern um die Entwicklung von (Forschungs-)Perspektiven in Bezug auf Transformationsmöglichkeiten von Geschlecht.
Teil I Kontext: Religiöse Frauenkongregationen früher und heute
Die Geschichte der katholischen Frauenkongregationen
1 Die Geschichte der katholischen Frauenkongregationen von der frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert Die Geschichte der katholischen Frauenkongregationen Der Begriff „congregatio“ existiert nicht erst seit der frühen Neuzeit, sondern bezeichnete bis ins späte Mittelalter unterschiedslos religiöse Frauen- und Männergemeinschaften. Seit dem 16. Jahrhundert wird die Bezeichnung für neue, dem tätigen Leben zugewandte religiöse Gemeinschaften und in Abgrenzung zu den traditionellen Orden verwendet (vgl. Braun 1994, S. 19). Auch tätige (Frauen-)Gemeinschaften sind kein Phänomen, das erst seit der frühen Neuzeit existiert. Bereits in den Anfängen des Christentums haben Frauen als Jüngerinnen Jesu und später als Prophetinnen oder geistliche Lehrerinnen Aufgaben innerhalb der christlichen Gemeinschaft wahrgenommen und somit eine Lebensform zwischen Welt und Kirche gewählt. Mit dem wachsenden Einfluss asketischer Tendenzen und der Ausbreitung der monastischen Bewegung, spätestens seit dem 4. Jahrhundert, wurde die geistliche Lebensform von Frauen immer mehr durch das Ideal der Jungfräulichkeit und durch ein festes gemeinschaftliches Leben geprägt, das durch Klausurvorschriften garantiert werden sollte (vgl. Conrad 1991, S. 230-232). Es gab aber immer religiöse Frauen bzw. Frauengemeinschaften, die Anspruch „auf ein geistliches Leben ‚in der Welt‘“ hatten und „ein ordensähnliches asketisches Leben nicht mit Weltabgeschiedenheit“ verbanden, sondern sich „ausdrücklich auf die ‚Welt‘ und die konkreten kirchlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse“ beziehen wollten (op. cit., S. 229). Im 7. Jahrhundert bspw. entstanden in Frankreich Frauengemeinschaften ohne strenge Klausurregel. Im angelsächsischen Britannien und später im rechtsrheinischen Deutschland fanden sich „Doppelklöster in Form von Frauenkonventen, denen eine Mönchsgemeinschaft angegliedert war, die ebenso wie die Nonnen der Äbtissin unterstand“ (op. cit., S. 234f.). Die Nonnen waren gebildet und nahmen zugleich prakti-
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sche Aufgaben wahr, die Klöster entwickelten sich oftmals zu wissenschaftlichen und kulturellen Zentren (vgl. ibid.). Im 13. Jahrhundert gewann des Semireligiosentum1 immer mehr an Bedeutung. Es entwickelte sich eine Form des „welt-geistlichen“ Lebens, welches einen eigenen Stand zwischen Laien und Ordensleuten einnahm. Am bekanntesten sind die Beginen, fromme Frauen, die die Nachfolge Christi anstrebten, ohne einen Orden zu gründen. Sie lebten entweder allein, in ihren Familien oder in Gemeinschaften und verdienten ihren Lebensunterhalt durch handwerkliche oder caritative Tätigkeit (vgl. op. cit., S. 242f.). Die Verlagerung des Ordensideals, weg vom kontemplativen Ordensleben hin zu einem Leben „zwischen Kloster und Welt“, setzte sich bis ins Spätmittelalter fort und gilt als wichtige Voraussetzung für die Erneuerungsbewegungen im Katholizismus der Gegenreformation (vgl. op. cit., S. 245). In den folgenden Kapiteln wird die Entwicklungsgeschichte der Frauenkongregationen seit dem 16. Jahrhundert nachgezeichnet. Obwohl, wie gezeigt wurde, die Wurzeln der tätigen Frauenkongregationen in den Anfängen des Christentums zu suchen sind, hatte die protestantische Reformation eine katalysatorische Funktion hinsichtlich der Entwicklung der neuen Frauengemeinschaften (vgl. op. cit., S. 1). Nebst der Entstehung und Ausbreitung der weiblichen Kongregationsgemeinschaften steht die Frage nach den Handlungsmöglichkeiten dieser Frauen im Zentrum des historischen Überblicks. Es soll aufgezeigt werden, wie die Schwestern, eingebettet in gesellschaftliche und kirchliche Transformationsprozesse, eine spezifisch weibliche Vergesellschaftungsform suchten, die Partizipation ermöglichte. 2 Besonders berücksichtigt wird der schweizerische Kontext.
1.1 Z UR E NTSTEHUNG KATHOLISCHER F RAUENKONGREGATIONEN IM 16. BIS 18. J AHRHUNDERT Durch die protestantische Reformation im 16. Jahrhundert geriet die römischkatholische Kirche, insbesondere die Klöster, in eine tiefe Krise. Viele religiöse Gemeinschaften wurden aufgehoben und deren Gebäude zweckentfremdet (vgl.
1
Semireligiosentum ist ein Begriff der neueren Forschung. Bezeichnet werden damit diejenigen Gemeinschaften, die den mittleren Weg zwischen Welt und Kloster wählten. Bis ins 18. Jahrhundert zählten die Semireligiosen kirchenrechtlich zu den weltlichen Gemeinschaften (vgl. Braun 1994, S. 41).
2
Für das 19. Jahrhundert vgl. hierzu Meiwes 2000.
DIE G ESCHICHTE DER KATHOLISCHEN FRAUENKONGREGATIONEN
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Schwaiger/Heim 2002, S. 62). Die katholische Kirche beschäftigte sich aber erst drei Jahrzehnte nach Beginn der Reformation mit ihrer inneren religiösen Erneuerung (vgl. op. cit., S. 63). Während des Konzils von Trient (1545 bis 1563) wurde ein Rahmengesetz für die Klöster erarbeitet. Dabei ging es im Wesentlichen um die Rückkehr zu traditionellen Ordensregeln (vgl. Braun 1994, S. 21). Zur selben Zeit lässt sich bei den religiösen Gemeinschaften selbst eine Gegenbewegung, weg vom „beschaulichen“ und hin zum „aktiven“ Leben, feststellen. Selbstheiligung sollte nicht mehr durch reine Kontemplation erlangt werden, sondern eng verbunden sein mit Apostolat und Caritas. Die stärksten Impulse in diese Richtung kamen aus Spanien und Italien. Nach 1600 erfasste die Erneuerungsbewegung auch Frankreich und die katholischen Gebiete nördlich der Alpen. Insbesondere die Gemeinschaften der Regularkleriker, z. B. die Gesellschaft Jesu (Jesuiten), verkörperten in ausgeprägter Weise das neue Ordensideal, aber auch viele Frauen fühlten sich von der Idee des Apostolats und der Caritas angezogen. Es kam zu zahlreichen Gründungen neuer weiblicher Gemeinschaften wie der Ursulinen, die sich auf Angela Merici berufen (Italien), der Ursulinen der Anne de Xainctonge (Frankreich), der Filles da la Charité (Frankreich) oder der Englischen Fräulein der Mary Ward. Auch die neuen Frauengemeinschaften lebten nach den evangelischen Räten3, z. T. aber ohne die feierlichen Gelübde4 abzulegen. Sie praktizierten die religiösen Übungen (Betrachtung, Gottesdienst, Fasten) in abgeschwächter Form und verzichteten bewusst auf die päpstliche Klausur5, um ihren seelsorgerischen und caritativen Tätigkeiten nachgehen zu können (vgl. op. cit., S. 21f.). Die mit diesen Tätigkeiten verbundene religiöse Lebensweise war für die Frauen, die lange Zeit zur strengen Klausur
3
Mit den evangelischen Räten sind die drei Gelübde Armut, Keuschheit und Gehorsam gemeint.
4
In der Zeit der katholischen Reform im 16. Jahrhundert wurde eine Person nur durch das Ablegen der feierlichen Gelübde in den Ordensstand erhoben. Die einfachen Gelübde hatten noch keine rechtliche Wirkung nach sich gezogen (vgl. Braun 1994, S. 24f.). Von den einfachen Gelübden konnten die Frauen nach einem eventuellen Austritt aus dem Kloster befreit werden, die feierlichen Gelübde hatten hingegen eine lebenslange Bindung zu Folge (vgl. Meiwes 2000, S. 60).
5
In Gemeinschaften mit päpstlicher Klausur konnten die Ordensfrauen das Klostergelände nur in Ausnahmefällen und mit Genehmigung des Bischofs verlassen. Nur wenige Außenstehende durften die Klausur unter Einhaltung bestimmter Vorschriften betreten, so z. B. der Bischof, der Beichtvater und der Arzt. Nach den Regeln der bischöflichen Klausur war es den Schwestern erlaubt, sich außerhalb des Gebäudes aufzuhalten oder Besuch zu empfangen (vgl. Meiwes 2000, S. 60).
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verpflichtet waren, mit der „Möglichkeit zur Emanzipation innerhalb der Kirche verbunden“ (Braun 1994, S. 22). Da die Kirche aber nach wie vor an den alten Formen festhielt, ergab sich daraus ein gewisses Konfliktpotenzial für die neuen Frauengemeinschaften, für welche es schwierig wurde, an ihren Idealen festzuhalten. Obwohl die Vorschriften des Tridentinum nur die alten Orden betrafen, unterwarfen sich einige religiöse Frauengenossenschaften dem Willen der kirchlichen Autorität und wechselten zu einem traditionellen Konzept des Ordenslebens (vgl. ibid.). 1566 wollte Pius V. (1566-1572) mit der päpstlichen Konstitution „Circa pastoralis“ allen Frauengemeinschaften die feierlichen Gelübde und die strenge päpstliche Klausur vorschreiben (vgl. Braun 1994, S. 23). Aber auch diese Maßnahme konnte die Gründung neuer Formen weiblicher Vergemeinschaftung nicht unterbinden (vgl. Albert 2006, S. 51), u. a. weil die Konstitution unterschiedliche Interpretationen zuließ (vgl. Meiwes 2000, S. 58). Obwohl Pius V. keinen Mittelweg zwischen dem Welt- und dem Ordensstand vorsah (vgl. Braun 1994, S. 23), blieb unklar, ob die Konstitution auch für das Semireligiosentum gültig sein sollte (vgl. Meiwes 2000, S. 58). Entgegen der Konstitution wurden in der Folge weibliche Gemeinschaften mit einfachen Gelübden und ohne Klausur von Bischöfen, päpstlichen Legaten und Päpsten unter dem Titel von Bruderschaften6 approbiert, womit zumindest äußerlich die Vorschriften des Kirchenrechts eingehalten wurden (vgl. Braun 1994, S. 24; 41). Wegweisend für die heutige Form der Frauenkongregationen war die oben erwähnte Mary Ward, die 1611 die Gemeinschaft der Englischen Fräulein gründete. Sie kämpfte zeitlebens für die kirchliche Anerkennung ihres Instituts (vgl. Meiwes 2000, S. 58), aus dem eines „der bedeutendsten weiblichen Lehr- und Erziehungsgemeinschaften der katholischen Kirche“ (Schwaiger/Heim 2002, S. 66) entstand. Nach ihrem Tod wurden die Regeln der Englischen Fräulein von Clemens XI. (1700–1721) bestätigt (vgl. Braun 1994, S. 24) und 1749 mit der Bulle „Quamvis iusto“ von Benedikt XIV. (1740–1758) „als erste Kongregation ohne strenge päpstliche Klausur und nur mit einfacher Gelübdeablegung anerkannt“ (Meiwes 2000, S. 58). Die Bulle verlangte allerdings die Unabhängigkeit der neuen Gemeinschaft vom ursprünglichen Institut und akzeptierte Mary Ward nicht als Stifterin (vgl. Braun 1994, S. 49).7
6
Bruderschaften waren „Vereinigungen von Laien“ (Braun 1994, S. 40), „ohne besonderen geistlichen Status“ (Conrad 1991, S. 268).
7
Die katholische Kirche rehabilitierte Mary Ward erst im 20. Jahrhundert (vgl. Braun 1994, S. 48).
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Im Verlaufe des 17. und 18. Jahrhunderts wurde von kirchlicher Seite eine Neubewertung der Kongregationen vorgenommen. In der bereits erwähnten Bulle „Quamvis iusto“ legten die Kirchenoberen die ersten Rechte der Gemeinschaften ohne feierliche Gelübde fest. Die Kirche anerkannte deren größere Bewegungsfreiheit, gleichzeitig konnten die Mitglieder dieser Gemeinschaften kirchenrechtlich bindende Gelübde ablegen, was sie zumindest in die Nähe der traditionellen Orden rückte (vgl. op. cit., S. 24-26). Zu den ersten Frauenkongregationen in der Schweiz gehören diejenigen der Ursulinen der Anne de Xainctonge. Obwohl bereits 1591 erste Gruppen bruderschaftlich organisierter Ursulinen in der Südschweiz nachgewiesen sind, gilt der 1619 in Porrentruy gegründete Ursulinenkonvent als erste Kongregation. Weitere Ursulinenkonvente entstanden in Freiburg, Luzern, Brig, Delémont und Sion. Mit Ausnahme der Gemeinschaften in Delémont und Luzern bestehen die Kongregationen noch heute. Die Ursulinen haben ihre Wurzeln in der von Anne de Xainctonge 1606 gegründeten Companie de Saint-Ursule de Dole. Die Gründerin verlangte von ihren Mitgliedern erst nur das Gelübde der Keuschheit, 1610 gefolgt von einem Gelübde der Beharrlichkeit, und erst 1622 kamen die Gelübde der Armut und des Gehorsams dazu, womit die Gemeinschaft als Kongregation anerkannt wurde. Die Schwestern der Compagnie de Saint-Ursule de Dole legten nur einfache Gelübde ab und lebten ohne Klausur, aber nach einer strengen Regel, die sie in die Nähe der Orden rückte. Trotz ihrer Tätigkeit als Lehrerinnen für Mädchen wurde der Kontemplation viel Raum eingeräumt, was ein frühes Aufstehen (vier Uhr) und eine äußerst strukturierte Tagesordnung zur Folge hatte. Die Mädchenschulen der schweizerischen Ursulinen waren als hervorragende Bildungsstätten bekannt. Sie führten jeweils drei unterschiedliche Schulgruppen: die Töchterschulen, die Sonntagsschulen für Dienstmädchen, Bäuerinnen und Hausfrauen – beide unentgeltlich – und kostenpflichtige Pensionate für Töchter aus reichem Haus. Darüber hinaus schufen die Ursulinen mit ihrer auf die zukünftige Tätigkeit ausgerichteten Noviziatsausbildung eine erste Form des Lehrerinnenseminars (vgl. op. cit., S. 49-55). Die gesellschaftliche Bedeutung der (weiblichen) Kongregationen darf nicht unterschätzt werden. Seit der Ausweitung der Handels- und Wirtschaftsräume im 16. und 17. Jahrhundert und der damit verbundenen Bevölkerungszunahme vermochte die noch immer mittelalterlich organisierte Caritas die sozialen Aufgaben nicht mehr zu bewältigen. Obwohl die weltliche Obrigkeit neue Anstalten und Spitäler baute, suchte diese – zumindest in den katholischen Territorien – oft die Zusammenarbeit mit der Kirche. Die zur selben Zeit neu entstandenen weiblichen Kongregationen fanden denn auch in der Armenfürsorge, der Krankenpflege und der Mädchenbildung caritative Tätigkeitsfelder, welche den Bedürfnissen der Zeit entsprachen (vgl. op. cit., S. 56).
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Die Entstehung der weiblichen Kongregationen muss darüber hinaus in den Kontext der „Querelle des femmes“, der seit der frühen Neuzeit diskutierten Frauenfrage, gestellt werden. Obwohl sowohl in der weltlichen Gesellschaft als auch innerhalb der Kirchen ein weitgehend an Defiziten orientiertes Frauenbild vorherrschend war, wurden im gebildeten Europa Konzepte für ein anderes Geschlechterverhältnis erörtert. Im 17. Jahrhundert bot sich vor allem der Cartesianismus mit seiner Lehre des Dualismus von Leib/Körper und Seele/Geist für feministische Theorien an (vgl. Conrad 1991, S. 171–176). Die emanzipatorischen Impulse ermutigten auch die Frauen innerhalb der Kirche, neue Lebensformen auszuprobieren (vgl. op. cit., S. 267). Auch wenn die Gründerinnen Angela Merici, Anne de Xainctonge und Mary Ward den ausschließlich männlichen Klerus nicht infrage stellten (vgl. Braun 1994, S. 57), nahmen sie „eines der zentralen Anliegen der frühneuzeitlichen ‚Querelle des femmes‘ – intellektuelle Gleichheit der Geschlechter – auf und setzten es im Sinn der ‚frauenfreundlichen‘ Seite soweit wie möglich in praktische pädagogische Tätigkeit um“ (Conrad 1991, S. 218). Sowohl das „frauenfreundliche“ Engagement der Schwestern als auch das Suchen nach einer von männlicher Bevormundung weitgehend unabhängigen Lebensweise dürfen als innerkirchliche Emanzipationsversuche der religiösen Frauen verstanden und „als Ausdruck der schrittweisen Emanzipation der Frau in der modernen Gesellschaft“ (Braun 1994, S. 58) bewertet werden.
1.2 D IE RELIGIÖSEN F RAUENGEMEINSCHAFTEN IN DER Z EIT DER AUFKLÄRUNG , DER F RANZÖSISCHEN R EVOLUTION UND DER S ÄKULARISATION Die Aufklärung, die sich im späten 17. Jahrhundert von England, Frankreich und den Niederlanden ausgehend ausbreitete und im 18. Jahrhundert den gesamten europäischen Raum ergriff, stellte den Menschen als Vernunftwesen ins Zentrum des Denkens (vgl. Schwaiger/Heim 2002, S. 70). Die Vorstellung des Menschen als eines autonomen Wesens (vgl. op. cit., S. 71) und die Kritik an der geistlich-religiösen Lebensweise (vgl. Conrad 1991, S. 269) erwiesen sich für das gesamte Ordensleben als ungünstig. Bereits vor Ausbruch der Französischen Revolution (1789) wurden einige Klöster aufgrund mangelnden Nachwuchses aufgehoben, neue Gemeinschaften entstanden nur noch ganz selten (vgl. Schwaiger/Heim 2002, S. 72). Während der Säkularisationswelle, welche durch die Französische Revolution ausgelöst worden war und die bis zur europäischen Neuordnung durch den Wiener Kongress (1815) dauerte, wurden in fast allen Ländern Europas Bistümer
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und Klöster durch den Staat aufgehoben und deren Güter konfisziert. Neben dieser fast vollständigen Enteignung der katholischen Kirche führte die Säkularisation zur Zerstörung oder Verstaatlichung zahlreicher, von religiösen Gemeinschaften geführten Bildungs- und Fürsorgeeinrichtungen (vgl. op. cit., S. 73-75; vgl. Isenring 1996, S. 33). Napoleon Bonaparte erkannte aber die Nützlichkeit der Kongregationen hinsichtlich ihrer caritativen Tätigkeiten und ließ diese 1807 wieder zu (vgl. op. cit., S. 34). Sowohl in Frankreich als auch in anderen unter napoleonischem Einfluss stehenden Ländern befanden sich die Kongregationen fortan jedoch unter staatlicher Aufsicht (vgl. Braun 1998, S. 33). In der Schweiz erstreckte sich die Säkularisation von der Besetzung durch die revolutionären Truppen Frankreichs 1798 bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bereits zu Beginn der Helvetischen Republik wurden einige Klöster geschlossen, die weiter bestehenden Gemeinschaften unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt, das Vermögen beschlagnahmt und als Nationaleigentum erklärt. Durch die Mediationsakte von 1803 konnte der Fortbestand der Klöster zwar gewährleistet werden, die staatliche Aufsicht blieb in vielen Kantonen jedoch bestehen. Darüber hinaus waren die Ordensleute angehalten, gemeinnützige Arbeit zu leisten. Obwohl der Bundesvertrag von 1815 die weitere Existenz der Klöster sichern sollte, kam es in den liberal regierten Kantonen zu erneuten Aufhebungen. Dies führte zu einer Verschärfung der Spannungen zwischen den konservativen bzw. mittlerweile maßgebenden ultramontanen Katholiken und den liberalen Kräften. Der in diesem Zusammenhang stehende Aargauer Klosterstreit (1841) mit der daraus resultierenden Schließung von mehreren Klöstern führte die Schweiz in eine tiefe Krise. Da dieser Aufhebungsbeschluss den Bundesvertrag von 1815 verletzte, wurden im Sinne eines Kompromisses die Frauenklöster wieder zugelassen, nicht aber die Männerklöster. Um sich gegen die liberalen Einflüsse zur Wehr zu setzen, schlossen sich die katholischen Kantone zu einem Sonderbund zusammen. Der organisierte Widerstand fand 1847 im Sonderbundskrieg seinen Höhepunkt, wobei die katholischen Kantone eine Niederlage erlitten (vgl. Ostrowitzki 2006, S. 135f.).8 In der Folge fanden im zwischenzeitlich liberal gewordenen Kanton Luzern weitere Klosteraufhebungen statt, die Jesuiten wurden aus der Schweiz ausgewiesen (vgl. Stadler 1984, S. 99).
8
Zur Geschichte des Sonderbundes und des Sonderbundskrieges vgl. Bucher 1966.
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1.3 D IE „B LÜTEZEIT DER K ONGREGATIONEN “ IM 19. J AHRHUNDERT Nach der Französischen Revolution und trotz der anhaltenden Säkularisation ist in ganz Europa ein Aufschwung des Ordenslebens zu verzeichnen. Insbesondere bei den Frauenkongregationen kam es zu zahlreichen Neugründungen (vgl. Braun 1998, S. 33), so dass vor allem die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts als „Ordensfrühling“ (Hüwelmeier 2004, S. 34) bzw. als „Blütezeit der Kongregationen“ (Schwaiger/Heim 2002, S. 78) in die katholische Geschichtsschreibung eingegangen ist. Dies führt zur Frage, weshalb es zu diesem geschlechtsspezifischen Wachstumsboom im Kongregationswesen gekommen ist (vgl. Hüwelmeier 2004, S. 34). Relinde Meiwes (2000, S. 310) macht die Gründe dieser Entwicklung an der gegenseitigen Beeinflussung dreier gesellschaftlicher Wandlungsprozesse fest: der Wiedererweckung des religiösen Lebens, der sozialen Frage und der Frauenfrage. Noch während der Aufklärung bahnte sich ein maßgeblich durch die Romantik inspiriertes erneutes Erwachen religiöser Kräfte 9 an (vgl. Albert 2006a, S. 149; Braun 1998, S. 33). Der Romantiker Friedrich Schlegel, der 1808 zum katholischen Glauben konvertierte, und sein Bruder August Wilhelm machten die katholischen Glaubensüberzeugungen unter den Gelehrten „salonfähig“. Hinsichtlich der Wiederbelebung der Orden nahm Johann Michael Sailer eine entscheidende Rolle ein. Er setzte sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts in seiner Lehrtätigkeit an der Universität Landshut für ein Christentum ein, in dem auch Kontemplation, Mystik und historisch gewachsene Strukturen Platz hatten. Darüber hinaus übte Sailer großen Einfluss auf den als katholischer Romantiker bekannten bayrischen König Ludwig I. aus. Zahlreiche positiv konnotierte Arbeiten zur Geschichte der Klöster aus Gelehrtenkreisen sowie volkstümliche Darstellungen des Klosterlebens erhöhten das Ansehen der religiösen Gemeinschaften und scheinen zu dessen Wiederbelebung beigetragen zu haben (vgl. Albert 2006a, S. 149-152). Obwohl auch die Männer an eine „jahrhundertealte Tradition der Vergemeinschaftung im Katholizismus“ (Meiwes 2000, S. 310) anknüpfen konnten, waren es vor allem die katholischen Frauen, die das gemeinschaftliche Klosterleben für sich wiederentdeckten (vgl. op. cit., S. 53). Dies soll im Folgenden im Zusammenhang mit der sozialen Frage und anschließend im Zusammenhang mit der Frauenfrage erläutert werden.
9
Die erneute Hinwendung zur Religiosität betrifft nicht nur das katholische Milieu, sondern auch das reformierte und evangelische (vgl. hierzu Moeller 2000, S. 331-340).
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Seit der Aufklärung wurden sowohl das Bildungs- als auch das Fürsorgewesen immer mehr dem kirchlichen Einfluss entzogen und dem Staat überantwortet. Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht für Knaben und Mädchen wie auch der Pauperismus als Folge der Industrialisierung und der Agrarreform im 19. Jahrhundert hatten jedoch eine organisatorische Überforderung des Staates zur Folge: Die während langer Zeit in kirchlicher Hoheit stehenden Institutionen konnten nicht von heute auf morgen staatlich organisiert und mit neuem, vom Staat ausgebildeten Personal betrieben werden. Diese Lücke konnte zu einem großen Teil durch die neuen religiösen Gemeinschaften, vor allem durch Kongregationsschwestern ausgefüllt werden (vgl. Isenring 1996, S. 35f.), was wiederum das Wachstum der Frauenkongregationen förderte (vgl. op. cit., S. 42-45). Die weiblichen Gemeinschaften vermochten flexibel auf die neue Notlage zu reagieren und sich gleichzeitig in Richtung Verfachlichung und Spezialisierung weiterzuentwickeln. Die Geschichte einiger neuzeitlicher Berufe innerhalb des Gesundheits-, Bildungs- und Fürsorgewesens muss im Zusammenhang mit dem Engagement und den Innovationen der Kongregationsschwestern verstanden werden (vgl. Frie 2010, S. 77).10 Im 19. Jahrhundert war der weibliche Wirkungskreis eng gebunden an „das von der bürgerlichen Gesellschaft entworfene Ideal einer vom Ehemann abhängigen Hausfrau und Mutter“ (Hüwelmeier 2004, S. 14). Dies beinhaltete die Übernahme der familiären Pflichten und die Pflege der religiösen Werte. Öffentliches Auftreten war in der Regel den Männern vorbehalten, die Frauen waren für den privaten Bereich zuständig. Das bereits erwähnte Fehlen des Personals der öffentlichen Organe führte dazu, dass der Einsatz von Frauen außerhalb des Hauses notwendig wurde. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden in der Schweiz zahlreiche Frauenvereine, deren Mitglieder als unentgeltliche Hilfskräfte in Anstalten und Schulen eingesetzt wurden. Auf diese Weise wurden die Frauen ins öffentliche Wohlfahrts- und Bildungswesen miteinbezogen, ohne dass sie jedoch einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit hätten nachgehen oder entscheidenden Einfluss innerhalb ihres Tätigkeitsbereichs hätten nehmen können (vgl. Isenring 1996, S. 39-41). In dieser spezifischen historischen Situation bot die Organisationsform der Kongregationen für katholische Frauen „eine interessante Lebens- und Arbeitsperspektive“ (Meiwes 2000, S. 310). Es war für diese Frauen oftmals die einzige Möglichkeit, sich außerhalb eines ehelichen und familiären Lebensentwurfs zu entfalten und
10 Vgl. hierzu die wegweisende Studie von Relinde Meiwes (2000), in der sie u. a. aufzeigt, dass Kongregationsschwestern an der Entstehung einiger moderner Berufsfelder maßgeblich beteiligt waren.
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gleichzeitig an religiösen Interessen festzuhalten (vgl. ibid.). Für die meist jungen Frauen eröffnete der Kongregationseintritt Lebenschancen, die sonst nur Männern vorbehalten waren: „räumliche und soziale Mobilität, Aufstieg durch Arbeit und Bildung“ (Frie 2010, S. 80). Neben den helfenden Berufen wie denjenigen der Krankenschwester, Armenpflegerin, Erzieherin oder Lehrerin waren die Schwestern „auch als Bauleiterin, Verwalterin, Buchhalterin, Künstlerin oder Gärtnerin tätig, ohne dass sie als Frauen in ‚Männerberufen‘ diskriminiert worden wären“ (Meiwes 2000, S. 311). Die Kongregationen boten den katholischen Frauen sowohl aus dem oberen Bürgertum als auch aus den niederen Volksschichten eine gesellschaftlich anerkannte Antwort auf die Frage nach weiblicher Bildung und Existenzsicherung, lange bevor außerkirchliche Bereiche etwas Ähnliches ermöglicht hätten (vgl. ibid.). Zu Recht kann mit Relinde Meiwes (op. cit., S. 310) festgehalten werden, dass die Kongregationen im 19. Jahrhundert „zur einzig relevanten Vergesellschaftungsform für katholische Frauen“ wurden. Darüber hinaus trugen die Schwestern durch ihr Engagement in Bildung und Erziehung auch bei Frauen, die nicht einer religiösen Gemeinschaft angehörten, zur Verbreitung einer verbesserten Bildung und zur Entfaltung erweiterter Handlungsmöglichkeiten bei (vgl. op. cit., S. 311). Die religiöse Lebensweise forderte hingegen das Einhalten von strikten Prinzipien wie die Ehelosigkeit, der Gehorsam gegenüber Oberen, der Verzicht auf Vermögen (vgl. Isenring 1996, S. 47) sowie die Einschränkung der Individualität zugunsten der Gemeinschaft (vgl. Meiwes 2000, S. 311). Dieses Frauenbild hat bestimmte Berufsgruppen im Erziehungs- und Gesundheitsbereich für lange Zeit geprägt. Letztlich haben die Kongregationsschwestern durch ihre Tätigkeitsbereiche dazu beigetragen, dass einige dieser Berufe noch heute als typisch weiblich konnotiert werden (vgl. Isenring 1996, S. 47). Rom allerdings beschäftigte sich nur zögerlich mit den Neugründungen. Die oben erwähnte Bulle „Quamvis iusto“ von 1749, in welcher erste Kriterien für Gemeinschaften mit einfachen Gelübden festgehalten wurden (vgl. Braun 1998, S. 33), bestimmte die Haltung der Kirche bis ins 19. Jahrhundert. Es gab keine allgemein verbindlichen Richtlinien für die Anerkennung einer religiösen Gemeinschaft mit einfachen Gelübden, so dass die römische Kurie jeden Fall einzeln zu beurteilen hatte (vgl. Meiwes 2000, S. 59). Um 1850 kam es zu einer Unterscheidung zwischen einem juristischen und einem theologischen Ordensstand. Obwohl die Kongregationen kirchenrechtlich nicht dem kanonischen Ordensstand zugerechnet wurden, anerkannte man sie in theologischem Sinne als „Religiosi“. Schließlich gewährte Rom in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den approbierten Gemeinschaften mit einfachen Gelübden die Bezeichnung „religiöse“, also ordensähnliche Kongregationen. Erst im Jahr 1900 wurde
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Leo XIII. (1878-1903) mit der Konstitution „Conditae a Christo“ den Forderungen der neuen Gemeinschaften nach rechtlichen Bestimmungen gerecht. Das von der Bischofs- und Regularenkongregation formulierte Dokument „Normae“ von 1901 unterschied des Weiteren Kongregationen bischöflichen und päpstlichen Rechts und legte ein Modellreglement für die Konstitutionen einer Kongregation vor. Die Richtlinien der „Normae“ blieben bis zum II. Vatikanischen Konzil (1962-1965) gültig (vgl. Braun 1998, S. 34f.). Auch in der Schweiz entstanden im 19. Jahrhundert zahlreiche neue Frauenkongregationen. Die erste Neugründung war diejenige des Schwesterninstituts Baldegg im Luzerner Seetal. Damit kommt dem heutigen Kloster Baldegg eine Pionierrolle zu (vgl. Haselböck 1991, S. 16). Der Luzerner Theologieprofessor Joseph Widmer, der beim oben erwähnten Johann Michael Sailer in Landshut studiert hatte, gilt als Initiator der Gründung des Schwesterninstituts (vgl. Vock 1930, S. 8-11). Er weihte den Hochdorfer Kaplan Joseph Leonz Blum, auch er ein ehemaliger und überzeugter Schüler Sailers, in seine Ideen ein und half diesem schließlich bei der Ausführung. Blum beteiligte sich 1829 am Kauf des Schlossgutes Baldegg und gründete 1830 ein Erziehungsinstitut (vgl. Braun 1998, S. 44f.). Als Erstes wurde das Schloss von der neunköpfigen Familie Hartmann aus Hohenrain bewohnt, welche junge Frauen im Alter zwischen 14 und 20 aufnahm, um sie in der Hausarbeit zu unterrichten (vgl. Haselböck 1991, S. 18). Obwohl die Bewohnerinnen von Baldegg nach einer provisorischen Grundregel lebten (vgl. Rosenberg 1998, S. 73), tauchte erst 1837 der Gedanke auf, das Institut in eine Kongregation überzuführen. Von 1839 an befolgten die Frauen in Baldegg die drei evangelischen Räte der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams, welche sie jedes Jahr durch ein Handgelübde erneuerten. Vorbild der mehrmals von Blum überarbeiteten Hausregel war diejenige der „Schwestern von der Göttlichen Vorsehung“ in Ribeauvillé. Die kirchliche Anerkennung des Instituts Baldegg erfolgte im Jahr 1844. Da Maria Theresia Elmiger seinerzeit Vorsteherin der Frauengemeinschaft war, gilt sie als Mitbegründerin (vgl. Rosenberg 1998, S, 73; Haselböck 1991, S. 23). Im Verlaufe der religiösen und politischen Querelen zwischen den liberalen und konservativen Kräften wurde das Institut 1848 und 1849 für jeweils kurze Zeit durch die Regierung des Kantons Luzern aufgehoben. Die Schwestern durften zwar vorerst im Schloss bleiben, die Schule wurde aber unter staatliche Aufsicht gestellt. Nachdem 1858 das Kloster Baldegg aufgrund eines Regierungsbeschlusses geschlossen worden war, begaben sich die Schwestern in den benachbarten Kanton Zug ins Exil und gründeten in Heiligkreuz bei Cham ein neues Institut. 1862 kehrten einige Schwestern nach Baldegg zurück. Diese erhielten 1863 von der Luzerner Regierung das Recht, eine private Erziehungsanstalt zu führen (vgl. Haselböck 1991,
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S. 25f.). Die Baldegger Schwestern widmeten sich fortan vor allem der Mädchenbildung und der Führung von Armen- und Waisenhäusern (vgl. Rosenberg 1998, S. 75f.). Die Mitgliederzahl blieb im 19. Jahrhundert eher bescheiden, 1895 zählte das Institut 68 Schwestern (vgl. Haselböck 1991, S. 95). Einige weitere im 19. Jahrhundert in der Schweiz entstandene Frauenkongregationen sind die vom Kapuziner Theodosius Florentini gegründeten Schwesterngemeinschaften Menzingen (1844) und Ingenbohl (1856), die bereits erwähnte Gemeinschaft in Heiligkreuz bei Cham (1858, seit 1862 selbständig) und das vom ehemaligen Jesuiten Johann Fidel Depuoz gegründete Institut Ilanz (1865). Alle diese Kongregationen konnten sich in relativ kurzer Zeit weiterentwickeln. Es entstanden zahlreiche Außenstationen, die in der Regel mit mindestens zwei Schwestern besetzt wurden. Im Zentrum der Gründung standen die jeweiligen Arbeitsfelder, die kirchliche Anerkennung erfolgte oft erst später (vgl. Fleckenstein 2006, S. 226-229).
1.4 D IE F RAUENKONGREGATIONEN 20. J AHRHUNDERT
IM
Die meisten Kongregationen sind zwar im 19. Jahrhundert gegründet worden, der Höhepunkt dieser Frauengemeinschaften liegt aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vgl. Frie 2010, S. 78). Zwischen 1906 und 1964 wuchs die Zahl der Schwestern in der Gemeinschaft Baldegg von 140 auf 1018 an (vgl. Rosenberg 1998, S. 81), Menzingen verzeichnete 1964 den Höchststand von 1806 Schwestern (vgl. Fromherz 1998, S. 296).11 Die Kongregationen vergrößerten sich aber nicht nur nach der Anzahl ihrer Mitglieder, sie errichteten auch neue Niederlassungen im In- und Ausland (vgl. Gatz 2006a, S. 282). Hierzu einige Beispiele: Die Menzinger Schwestern waren 1964 in 448 Niederlassungen tätig, die Ingenbohler Schwestern 1940 auf 987 Niederlassungen verteilt. Bereits 1930 waren circa 7400 Schwestern in der Schweiz tätig, etwa 8000 weitere Schwestern, welche zu schweizerischen Kongregationen gehörten, arbeiteten in ausländischen Niederlassungen (vgl. Braun 1998, S. 49). Der Erste und der Zweite Weltkrieg hatten für die Orden und Kongregationen in der Schweiz weitaus weniger Folgen als im umliegenden Ausland. Erschwert wurden während des Zweiten Weltkrieges die Auslandkorrespondenz und die Reisen über die Landesgrenzen. Die Menzinger Schwestern konnten aus
11 Die Mitgliederzahlen beziehen sich nur auf die Niederlassungen in der Schweiz.
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diesem Grund eines ihrer Generalkapitel 12 nicht abhalten. In einigen Klöstern quartierte sich während des Krieges das Militär ein, und während der Generalmobilmachung 1939 wurden Ordensmänner in den Wehrdienst, Ordensfrauen als Krankenschwestern verpflichtet. Außerdem beherbergten einige Ordenshäuser verfolgte Menschen, die in die Schweiz Zuflucht suchten, auch Ordensleute, die im Dritten Reich aus ihren Klöstern verwiesen wurden. In der Schweiz kam es aber weder zu Klosteraufhebungen noch zu einem Schwinden der Mitgliederzahlen (vgl. Albert 2006b, S. 348f.). Dass die religiösen Frauenkongregationen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts um ihren Nachwuchs nicht besorgt sein mussten, lag zum einen daran, dass den Frauen im öffentlichen Leben nach wie vor kaum Handlungsspielräume zugestanden wurden, wohingegen religiöse Gemeinschaften Existenzsicherung, Ausbildung, beruflichen Aufstieg und Sozialprestige boten (vgl. Gatz 2006a, S. 283). Zum anderen fand das Wirken der Schwestern in Pfarreien und Gemeinden äußerst positiven Anklang. Nicht zuletzt spielten für die Gemeinden auch die Finanzen eine maßgebliche Rolle, denn die Schwestern akzeptierten lange Arbeitszeiten und forderten einen niederen Lohn. Darüber hinaus galten sie als zuverlässige Repräsentantinnen konservativ katholischer Werte. Aufgrund ihrer Vorbildfunktion konnten sie aus ihren Lehrinstituten problemlos Nachwuchs generieren (vgl. Frie 2010, S. 80; Braun 1998, S. 49f.).13 Die kirchenrechtlichen Weiterentwicklungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führten konsequenterweise zum „Codex Iuris Canonici“ von 1917, der als weiterer Meilenstein in der Geschichte der Kongregationen zu betrachten ist. Mit seinem Erlass wurden die Kongregationen, ohne Orden im engeren Sinne zu sein, den Ordensgemeinschaften zugerechnet. Die Mitglieder einer Kongregation galten nun als Ordensleute, allerdings nur, wenn sie sich „auf die Praxis der evangelischen Räte verpflichtet[en], was im Ablegen der Gelübde der Ehelosigkeit, der Armut und des Gehorsams zum Ausdruck kommt“ (op. cit., S. 35). Die Institute, welche die drei Gelübde nicht in der vorgesehenen Form ablegten, wurden „Gesellschaft des gemeinsamen Lebens genannt“ und nicht in den Ordensstand erhoben. Die religiösen Gemeinschaften mussten sich in den 1920er-Jahren für die eine oder andere Rechtsform entscheiden. Mit der Aufnahme in den Ordensstand konnten die ursprünglichen Ideen der Gründer und Gründerinnen aber nicht immer aufrechterhalten werden (vgl. op. cit., S. 36).
12 Zum Begriff „Generalkapitel“ vgl. Kap. 2.1. 13 Vgl. hierzu die differenzierte Analyse von Esther Vorburger-Bossart (2008, S. 52-64).
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Nach dem Höhepunkt der (Schweizer) Kongregationen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist seit den 1960er-Jahren ein bis heute unaufhaltsamer Nachwuchsmangel festzustellen (vgl. Gatz 2006b, S. 364).14 Auch wenn das Institut Baldegg 1964 mit 1018 Schwestern die höchste Mitgliederzahl verzeichnen konnte, zeigen die weiteren Jahre deutlich, dass es an Neueintritten fehlte. 1989 hatte das Institut Baldegg nur noch 682 und 1998 noch 522 Schwestern (vgl. Rosenberg 1998, S. 81). Ähnlich sieht es bei den Menziger Schwestern aus: 1964 waren 1806, 1997 nur noch 769 Schwestern in Schweizer Niederlassungen tätig (vgl. Fromherz 1998, S. 296). Der Attraktivitätsverlust der Frauenkongregationen steht in engem Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen des 20. Jahrhunderts. Nebst dem Ausbau des Sozialstaates, der immer mehr Aufgaben übernahm, die zuvor von Kongregationen getragen wurden, liegt ein weiterer Grund für die Abkehr vom religiös-genossenschaftlichen Frauenleben in den Erfolgen der neuen Frauenbewegung seit den 1970er-Jahren. Frauen erreichten sowohl in der Politik und der Erwerbsarbeit als auch innerhalb der Familie mehr Rechte und haben damit genügend Handlungsmöglichkeiten für einen attraktiven Lebensweg außerhalb religiöser Gemeinschaften. Darüber hinaus zeigt sich seit den 1970erJahren ein Bedeutungsverlust des Religiösen und der religiösen Bindungen (vgl. Meiwes 2000, S. 314). Trotz der fehlenden Eintritte und der allmählichen Überalterung versuchten die Schwestern, ihre Schulen, Spitäler, sozialen Institutionen, Pensionen usw. vorerst noch zu bewirtschaften. Da sie jedoch in vielen ihrer eigenen Häuser in eine Minderheit gerieten, konnten sie diese nicht mehr halten. Entweder wurden ihre Einrichtungen in staatliche Institutionen überführt, oder sie mussten aufgegeben werden (vgl. Frie 2010, S. 85). Zeitgleich zu den aufkeimenden Sorgen um den Nachwuchs fand das II. Vatikanische Konzil (1962-1965) statt. Obwohl der Schwerpunkt des Konzils nicht bei den Ordensfragen lag (vgl. Frie 2010, S. 82), bewirkte dieses einen grundsätzlichen Wandel des klösterlichen Lebens. Das Kriterium der Weltflucht sollte nicht mehr als Ideal für die Erlangung eines besonderen Vollkommenheitsstatus dienen. Neu lehrte das Konzil, dass nur noch eine einzige Art der christlichen Vollkommenheit15 existiere, zu deren Erlangung alle Christen aufgerufen seien (vgl. Braun
14 In Deutschland und Österreich setzte der Nachwuchsmangel früher ein. Die religiösen Gemeinschaften litten während des Zweiten Weltkriegs unter der Vertreibung und konnten sich seither nicht mehr erholen (vgl. Frie 2010, S. 82; Gatz 2006b, S. 351-364). 15 Dabei geht es um das Erstreben eines Seelenzustandes, der den Absichten Gottes, unter der Berücksichtigung der gegebenen Umstände, möglichst entspricht: Vermeidung von Sünden, Übung aller Tugenden usw.
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1998, S. 38; 63). Durch das Wegfallen ihres Vollkommenheitsstatus wurden die Ordensmitglieder jedoch „ihrer theologischen Sonderstellung“ (Frie 2010, S. 82) beraubt. Dennoch kam den Orden weiterhin eine unersetzliche Funktion innerhalb der Kirche zu, indem das Konzil den besonderen Einsatz der Ordensmitglieder in der Kirche und in der Welt unterstrich (vgl. Braun 1998, S. 38). Die allgemeinen Grundsätze für die Ordensreform wurden im Dekret „Perfectae caritatis“ von 1965 festgelegt, wobei den verschiedenen Instituten und damit den unterschiedlichen Berufungen Rechnung getragen werden sollte (vgl. Braun 1998, S. 39). Neu wurden vier Typen des Rätestandes unterschieden (op. cit., S. 39): „1. die gänzlich auf Kontemplation hingeordneten Institute; 2. die Institute mit apostolischer Zielsetzung (zu diesen gehören die Kongregationen); 3. die Mönchs- und Nonneninstitute (in einer Art Mittelstellung zwischen Kontemplation und apostolischer Zielsetzung); 4. die Säkularinstitute, welche zwar keine Ordensgemeinschaften sind, jedoch zum kirchlichen Rätestand gehören.“
Indem das Dekret den Ursprungsgeist der Institute hervorhob (vgl. Leitgöb 2006, S. 372), wurden die apostolischen oder caritativen Tätigkeiten nicht mehr als Zugeständnisse, sondern als eigentliches Wesen dieser Gemeinschaften gedeutet (vgl. Braun 1998, S. 39). Darüber hinaus formulierte das Konzil mit dem Ordensdekret eine Reihe von Reformbestimmungen wie die „Beseitigung der Standesunterschiede zwischen Laien und Klerikern bzw. zwischen Chor- und Laienschwestern“, „eine Lockerung der Klausur für nicht beschauliche Frauengemeinschaften“, eine Überprüfung der Ordenskleidung „auf Einfachheit, Zweckmäßigkeit und Hygiene“ und „die Vermittlung von Kenntnissen über die moderne Gesellschaft“ (Leitgöb 2006, S. 372f.). Da das Dekret „Perfectae caritatis“ keine konkreten Angaben beinhaltete, sondern eher als Orientierungsrahmen für die Reform diente, dauerte der Erneuerungsprozess in manchen Instituten bis ins Jahr 1990. Außerdem mussten die Satzungen bzw. Konstitutionen einiger Gemeinschaften aufgrund des „Codex Iuris Canonici“ von 1983 nochmals angepasst werden (vgl. op. cit., S. 373-375). Die erneute Änderung des Kirchenrechtes unterscheidet in der Hauptsache nur noch Institute des geweihten Lebens und Gesellschaften des apostolischen Lebens. Die Institute des geweihten Lebens werden wiederum unterteilt in Ordensgemeinschaften (instituta religiosia) und in Weltgemeinschaften (instituta saecularia). Kirchenrechtlich gehören die Kongregationen (mit einfachen Gelübden)
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wie die Orden (mit feierlichen Gelübden) zu den Ordensgemeinschaften und sind somit den Orden gleichgestellt (vgl. Braun 1998, S. 40f.).16 Nicht nur der Nachwuchsmangel, sondern auch die Auflagen des II. Vatikanischen Konzils setzten die Kongregationen unter Druck. „Die einzelnen Institute sollten sich in einem von allen Mitgliedern getragenen Prozess ihrer Ursprünge erinnern, ihre Satzungen bzw. Konstitutionen überarbeiten, ihre Lebens- und Frömmigkeitsformen überdenken, ihre Tracht der Gegenwart anpassen“ (Frie 2010, S. 83). Der rapide Wandel führte einige Gemeinschaften an den Rand einer Spaltung (vgl. ibid.). Aufgrund der Rekrutierungsprobleme, der Überalterung und der inneren Transformationsprozesse wird das Ende der religiösen Frauengemeinschaften zur drohenden Realität (vgl. Frie 2010, S. 82; Braun 1998, S. 56). Relinde Meiwes (2000, S. 314) hält „die Frauenkongregationen für ein Übergangsphänomen auf dem Weg katholischer Frauen vom Ancien régime in die Moderne. Sie stellten durch ihre Vergesellschaftungsform, die Lebens- und Arbeitsweise miteinander verband, für Frauen ein Instrument dar, um auf die ‚Zumutungen der Modernisierungsprozesse‘ konstruktiv zu reagieren.“ Einige WissenschaftlerInnen prognostizieren eine Stabilisierung derjenigen Gemeinschaften, die sich ein klares geistliches Profil geben können (vgl. Gatz 1997, S. 437), andere vermuten eine weiterhin unverminderte Attraktivität der Kongregationen in wirtschaftlich schwachen Ländern (vgl. Braun 1998, S. 56). Die Entstehung und Ausbreitung weiblicher Kongregationen im Spannungsfeld zwischen Welt und Kirche bildet den Hintergrund für das Verständnis der heutigen Klosterstruktur und der aktuellen Lebensweise der Ordensschwestern. Die Kongregation der Gegenwart ist Thema des folgenden Kapitels.
16 Die kirchenrechtliche Unterscheidung zwischen Orden und Kongregationen ist damit aber nicht gänzlich aufgehoben. Unterschiede gibt es nach wie vor im Eigenrecht, also in der Frage, ob nur auf die Verwaltung eines Vermögens oder auf das Vermögen selbst verzichtet werden muss (vgl. Listl/Müller/Schmitz 1983, S. 482f.).
2 Katholische Frauenkongregationen heute Katholische Frauenkongregationen heute Weibliche Kongregationen sind nach wie vor Orte, an denen Frauen in Armut, Keuschheit und Gehorsam zusammenleben und einer meist caritativen Tätigkeit nachgehen. Das II. Vatikanische Konzil und die rasanten gesellschaftlichen Transformationen (u. a. hinsichtlich Geschlecht und der Geschlechterverhältnisse) haben jedoch Auswirkungen auf die Lebenswelt der Schwestern (vgl. Hüwelmeier 2004, S. 10). Dies zeigt sich sowohl an der veränderten, etwas weniger hierarchischen sozialen Ordnung innerhalb der Gemeinschaften als auch an den Anpassungen der Aufnahmebedingungen, des Aufnahmeverfahrens und der (religiösen) Alltagsgestaltung. Unter Einbezug der Regeln, Satzungen und allgemeinen Statuten der Menzinger Schwestern soll im Folgenden ein Bild von Kongregationen der Gegenwart bzw. der heutigen Lebenswelt der Ordensfrauen gezeichnet werden, welches für das Verständnis der lebensgeschichtlichen Erzählungen der Schwestern unerlässlich ist.
2.1 D IE INNERE S TRUKTUR DER K ONGREGATION : E IN HIERARCHISCHES O RDNUNGSPRINZIP Viele Schwesternkongregationen sind heute global aktiv. Die Menzinger Schwestern bspw. haben mehrere Provinzen1 in Europa, Lateinamerika, Afrika und Asien. International tätige Kongregationen werden in Provinzen unterteilt, damit die Arbeit der Schwestern optimal den Erfordernissen und Bedürfnissen der einzelnen Gebiete angepasst werden kann (vgl. Regel, Satzungen, allgemeine Statuten, Teil 2. o. J. [1990], S. 20). Die Gesamtleitung über alle Provinzen, Niederlassungen und Mitglieder der Kongregation hat die Generaloberin mit ihrem Generalrat (Ge-
1
Als Provinz wird ein geographisch genau umschriebener Bereich einer Gemeinschaft bezeichnet, zu dem mehrere kleinere Niederlassungen gehören.
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neralleitung) inne. Der Sitz der Generaloberin (früher auch „Frau Mutter“ genannt) ist immer das Mutterhaus2. Gewählt wird die Generalleitung am Generalkapitel, das in der Regel alle sechs Jahre stattfindet. Die Amtsdauer beträgt ebenfalls sechs Jahre. Das Generalkapitel ist eine Versammlung einer Delegation von Schwestern aus allen Regionen und Provinzen und übt die höchste Leitungsgewalt aus (vgl. Fromherz/Rast/Hutter 1970, S. 74f.). „Es erlässt die Satzungen und die Allgemeinen Statuten und fasst Beschlüsse, die für die ganze Kongregation verbindlich sind“ (Regel, Satzungen, allgemeine Statuten, Teil 2. o. J. [1990], S. 31). Eine wichtige Aufgabe der Generaloberin und der Generalrätinnen sind die Visitationen der verschiedenen Provinzen. Bei diesen Besuchen wird mit den Schwestern vor Ort über Probleme und mögliche Lösungen gesprochen, um anschließend Veränderungsvorschläge ins kommende Generalkapitel hineinzutragen (vgl. Hüwelmeier 2004, S. 27). Die Visitationen der z. T. sehr unterschiedlichen Provinzen dienen auch der Förderung der Einheit der Kongregation (Regel, Satzungen, allgemeine Statuten, Teil 2. o. J. [1990], S. 40f.). Für die Mitglieder der Generalleitung von Kongregationen mit mehreren Provinzen auf verschiedenen Kontinenten bedeutet dies, häufig unterwegs zu sein (vgl. Hüwelmeier 2004, S. 27). Die Leitung der und damit auch die Autorität über die jeweiligen Provinzen liegt bei der Provinzoberin und ihren Rätinnen. Die Provinzleitung wird vom Provinzkapitel für eine Amtsdauer von ebenfalls sechs Jahren gewählt (vgl. Regel, Satzungen, allgemeine Statuten, Teil 2. o. J. [1990], S. 20-29). Sowohl die General- als auch die Provinzleitung haben ein gewisses Verfügungsrecht über die Schwestern. „General- und Provinzoberinnen haben das Recht, die Schwestern von einem Posten auf einen anderen zu versetzen. Im Namen der Kongregation nehmen sie bestimmte Aufträge und Aufgaben an und verfügen so über die Arbeitskraft ihrer Schwestern, die diese ihnen durch das Gelübde des Gehorsams vertrauensvoll übereignet haben“ (Fromherz/Rast/Hutter 1970, S. 75).
Die Schwestern einer Kongregation leben in kleineren (zwei bis vier Schwestern) oder größeren (bis zu fünfzig Schwestern) Kommunitäten zusammen (vgl. op. cit., S. 74). Diesen Gemeinschaften steht eine Lokaloberin vor, die in der Regel von der Provinzleitung eingesetzt wird. Die Lokaloberin ist für eine Vielzahl von Aufgaben in der jeweiligen Kommunität zuständig: für die Spiritualität und den Finanzhaushalt der Gemeinschaft wie auch für das Wohlbefinden der einzelnen Schwestern (vgl. Hüwelmeier 2004, S. 29).
2
Das Mutterhaus steht meist am Ort der ursprünglichen Gründung der Kongregation (vgl. Fromherz/Rast/Hutter 1970, S. 75).
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2.2 AUFNAHMEBEDINGUNGEN : W ER DARF S CHWESTER WERDEN ? Wenn sich eine Frau berufen fühlt, d. h., ihr Leben Gott weihen und in den Dienst der Kirche stellen möchte, kann sie sich für eine Ausbildungszeit in einer Ordensgemeinschaft bewerben. In den Satzungen der Schwestern vom Heiligen Kreuz heißt es hierzu: „Sie richtet eine schriftliche Bitte um Aufnahme an die Provinzoberin mit der Begründung ihres Wunsches“ (Regel, Satzungen, allgemeine Statuten, Teil 2. o. J. [1990], S. 4). Zwingend zu den Aufnahmebedingungen gehört, dass die Frauen ledig sind und der katholischen Kirche angehören. Oftmals wird eine abgeschlossene Berufsausbildung oder ein höherer Schulabschluss erwartet sowie körperliche und geistige Gesundheit (vgl. Ziegerer o. J.). Das Eintrittsalter liegt vorzugsweise zwischen dem 19. und 35. Lebensjahr. Von einem zu frühen Beitritt wird heute meist abgeraten (vgl. Fromherz/Rast/Hutter 1970, S. 14). Nach einem Bewerbungsgespräch und gründlichen Abklärungen entscheidet die Gemeinschaft (Provinzoberin, Novizenleiterin oder eine eigens dafür eingesetzte Kommission) über die Aufnahme in die Kandidatur (vgl. Ziegerer o. J.).
2.3 AUFNAHMEVERFAHREN : V ON DER K ANDIDATUR ZUR
EWIGEN
P ROFESS
Mit der Kandidatur, manchenorts auch Postulat genannt, beginnt das Leben in der Kongregation. Während dieser Probezeit, die mindestens sechs Monate und maximal zwei Jahre dauert, „erhält die Kandidatin Gelegenheit, sich als Mensch und Christ weiter zu entfalten. Sie wird stufenweise in das gemeinsame Leben und in den Geist der Kongregation eingeführt“ (Regel, Satzungen, allgemeine Statuten, Teil 2. o. J. [1990], S. 4f.). Die Kandidatin selbst ist angehalten, sich zu vergewissern, ob sie die Lebensart der gewählten Gemeinschaft übernehmen möchte. Es steht ihr frei, die Ordensgemeinschaft wieder zu verlassen. Am Ende der Kandidatur kann die Anwärterin um die Aufnahme in die Gemeinschaft bitten. Je nach Regel entscheiden die Vorsteherinnen der Gemeinschaft oder alle Mitglieder des Klosters über die Aufnahme ins Noviziat (vgl. Ziegerer o.J.; Fromherz/Rast/Hutter 1970, S. 25f.). Das Noviziat ist zugleich Lehr- und Probezeit und dauert zwischen einem und zwei Jahren. Auch das Noviziat kann auf eigenen Wunsch hin oder auf Verlangen der Vorgesetzten jederzeit aufgelöst werden (vgl. Fromherz/Rast/
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Hutter 1970, S. 25f.). Mit Unterstützung der Noviziatsleiterin (früher: Novizenmeisterin) wird die Novizin in das Ordensleben eingeführt (vgl. Hüwelmeier 2004, S. 28). Darüber hinaus geht es in der Novizinnenausbildung immer auch um die Klärung der eigenen Berufung zum Ordensleben. Unterrichtsthemen im sogenannten kanonischen Noviziatsjahr3 sind u. a. die Heilige Schrift, die Regeln und die Geschichte der Gemeinschaft, die Einführung in die Spiritualität und in die Bedeutung der Gelübde sowie die Prüfung der Motive und der Eignung für das Ordensleben in der Gemeinschaft (vgl. Ziegerer o. J). Meistens erfolgt mit der Aufnahme ins Noviziat die mit einem Ritual verbundene Einkleidung (Übergabe des Ordensgewands). Das Ordenskleid ist aber nicht mehr in allen Kongregationen Pflicht. In einigen Gemeinschaften steht es den Schwestern frei, zivile Kleider zu tragen. Als Zeichen der Weltentsagung und dafür, dass nun ein neuer Abschnitt des Menschseins beginnt, erhalten die Schwestern z. T. heute noch zu Beginn des Noviziats oder bei der ersten Profess einen neuen Namen. Das Noviziat endet mit der ersten Profess, in der die Novizin öffentlich verspricht, nach den Gelübden Armut, Keuschheit und Gehorsam zu leben, in der Weise, wie es ihre Gemeinschaft vorsieht. Dabei handelt es sich um zeitlich begrenzte Gelübde bzw. um eine zeitliche Profess. Nach zwei oder drei Jahren werden die Gelübde erneuert (Fromherz/Rast/Hutter 1970, S. 26). Nach der ersten Profess befindet sich die Schwester im Juniorat. Dieses dauert so lange, wie sie durch die zeitlichen Gelübde gebunden ist, gewöhnlich sechs Jahre (vgl. Regel, Satzungen, allgemeine Statuten, Teil 2. o. J. [1990], S. 13). Die ewige Profess wird am Ende des Juniorats abgelegt. Erst jetzt ist der Ausbildungsweg abgeschlossen, und die Schwester wird zum Vollmitglied der Kongregation (vgl. Ziegerer o. J.). Die Ordensfrauen können jeweils nach Ablauf der zeitlichen Gelübde die Kongregation verlassen. Während der zeitlichen Gelübde und nach der ewigen Profess müssen schwerwiegende Gründen für einen Austritt geltend gemacht werden (vgl. Regel, Satzungen, allgemeine Statuten, Teil 2. o. J. [1990], S. 50f.).
3
Das kanonische Noviziatsjahr ist eine nach den Vorgaben des Kirchenrechts gestaltete Ordensausbildung.
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2.4 E VANGELISCHE R ÄTE : E IN L EBEN NACH DEN G ELÜBDEN Der Ordensstand insgesamt wird „Stand der Räte“ genannt, da sich die Ordensleute durch das Ablegen der drei Gelübde Armut, Keuschheit und Gehorsam Gott öffentlich weihen und die Gelübde im Sinne der Regel der jeweiligen Gemeinschaft leben. Das Ordensleben ist als besondere Nachfolge Christi zu verstehen. Es geht darum, zu leben wie im Evangelium und Christus ähnlich zu werden. Das Leben nach den Gelübden soll helfen, frei zu werden von äußeren Bindungen und damit verfügbar zu sein für Gott und sein Reich (vgl. Fromherz/Rast/ Hutter 1970, S. 31). In den Regeln und Satzungen der Menzinger Schwestern wird dies folgendermaßen formuliert (Regel, Satzungen, allgemeine Statuten, Teil 1. o. J. [1990], S. 55): „Durch die gottgeweihte Keuschheit schenken wir Christus unsere Liebe, um ungeteilt ihm zu gehören. Durch die freiwillige Armut lösen wir uns von der Anhänglichkeit an uns selbst und an die irdischen Güter, um Christus in seiner Entäußerung ähnlich zu werden. Durch das Gehorsamsgelübde weihen wir Gott unseren Willen, unterstellen uns den Oberen, um nach dem Beispiel Christi den Willen des Vaters zu erfüllen.“
Wie die Gelübde gelebt werden, hängt von der jeweiligen Gemeinschaft und deren Regeln und Satzungen ab. In Bezug auf das Armutsgelübde verzichten die Schwestern in einigen Gemeinschaften gänzlich auf persönliches Eigentum, in anderen nur auf dessen freien Gebrauch. Es gibt Orden, in denen in faktischer Armut gelebt wird, in anderen ist der Lebensstandard ähnlich wie derjenige der Gesellschaft, in welcher die Kongregation situiert ist. Das Armutsgelübde bedeutet dann weniger Entbehrung, sondern vielmehr ein einfaches, sparsames und anspruchsloses Leben (vgl. Fromherz/Rast/Hutter 1970, S. 31f.). Das Keuschheitsgelübde oder die „gottgeweihte Keuschheit“, wie es in den Regeln und Satzungen der Menzinger Schwestern heißt, bezieht sich sowohl auf die freiwillige Ehelosigkeit als auch auf die Jungfräulichkeit. Es geht dabei weniger um Askese als um die Entscheidung für die Liebe zu Christus (vgl. Regel, Satzungen, allgemeine Statuten, Teil 1. o. J. [1990], S. 57; Fromherz/Rast/Hutter 1970, S. 32). „Sie [die Liebe zu Christus; Anm. d. A.] ist das innerste Geheimnis und die Kraft des Ordenslebens“ (Fromherz/Rast/Hutter 1970, S. 32). Die ehelose Keuschheit soll das Herz der Schwestern frei machen für die Liebe zu Gott und zu allen Menschen (vgl. Regel, Satzungen, allgemeine Statuten, Teil 1. o. J. [1990], S. 57). Da das Keuschheitsgelübde aber auch ein Opfer darstellt, müssen
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die Kandidatinnen ausreichend geprüft werden und dürfen dieses nur „nach Erlangen der erforderlichen psychologischen und affektiven Reife“ (Perfectae Caritatis Nr. 12) ablegen. Das Gehorsamsgelübde und damit auch die Autorität der Oberen haben den Zielen und Aufgaben der ganzen Ordensgemeinschaft zu dienen (vgl. Regel, Satzungen, allgemeine Statuten, Teil 1. o. J. [1990], S. 73). In den Regeln und Satzungen der Menzinger Schwestern steht dazu Folgendes (op. cit., S. 71): „Durch unser Gehorsamsgelübde verpflichten wir uns, den Befehlen der Oberen zu gehorchen, wenn sie den Geboten Gottes und der Kirche und den Satzungen entsprechen. In einzelnen Fällen, wo schwerwiegende Gründe vorliegen, können die höheren Oberen nach Anhören ihres Rates Befehle kraft des Gehorsamsgelübdes erteilen. Ein solcher Befehl hat schriftlich zu erfolgen.“
Der Gehorsam ist aber nicht nur ein Ordnungsprinzip für das klösterliche Zusammenleben. Es geht auch hier um die Nachfolge Christi, indem die Schwestern wie er gehorsam den Willen Gottes erfüllen (vgl. Fromherz/Rast/Hutter 1970, S. 32). Die von der Kirche anerkannten Vorgesetzten sollen Gehorsam nicht aufgrund menschlicher Autorität fordern, sondern nach dem Vorbild Jesu Christi auf den Willen Gottes hören und dementsprechend ihre Untergebenen leiten (vgl. Perfectae Caritatis Nr. 14). Unter der Voraussetzung, dass durch die Oberen das Wort Gottes vernehmbar ist, gilt der Ordensgehorsam also Gott und nicht dem Menschen (vgl. Fromherz/Rast/Hutter 1970, S. 33).
2.5 D ER KLÖSTERLICHE ALLTAG : T AGESSTRUKTUR ZWISCHEN G EBET , CARITATIVER T ÄTIGKEIT UND E NTSPANNUNG Auch wenn für alle Kongregationen das Evangelium Richtlinie und letzte Regel ist, so wird das Ordensleben in jeder Gemeinschaft unterschiedlich gestaltet. Gemeinsam ist sicherlich der durch Gebet, Arbeit und Entspannung rhythmisierte Tagesablauf, wobei dieser in einigen Gemeinschaften genau fixiert, in anderen freier gestaltbar ist (vgl. Fromherz/Rast/Hutter 1970, S. 36; Gasser o. J.). Das Gebet nimmt täglich einen Zeitraum von etwa zwei Stunden ein. Gebetet wird gemeinsam oder alleine. Zum ersteren gehören die heilige Messe und eine abgekürzte Form des Offiziums bzw. Breviers. Mit Offizium ist das (wenn möglich) in der Gemeinschaft verrichtete Stundengebet gemeint, das mit Psalmen, Lesungen und Liedern gestaltet wird. Seine über den Tag verteilten Bestandteile
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sind: die Matutin (Nachtgebet, findet zwischen Mitternacht und dem frühen Morgen statt), die Laudes (Morgenlob) und die Vesper (Abendlob). Die Zeit, in der die Schwestern für sich alleine beten, wird Betrachtung oder Meditation genannt (vgl. Fromherz/Rast/Hutter 1970, S. 36; 74). In Kongregationen stehen, im Gegensatz zu den kontemplativen Orden, nicht allein die Beschauung, die Betrachtung und das nach innen gerichtete Leben im Zentrum. Neben dem Gebet gehört die meist caritative Tätigkeit zum zentralen Bestandteil der religiösen Lebensführung. Mit der Arbeit tragen die Schwestern nicht nur zum gemeinsamen Lebensunterhalt bei, sondern erfüllen darüber hinaus ihre apostolische Aufgabe, die darin besteht, „Menschen zum Glauben an Christus zu führen“ (Fromherz/Rast/Hutter 1970, S. 122). Die Schwestern „pflegen Kranke und Alte, helfen in persönlichen und sozialen Schwierigkeiten, unterrichten und erziehen kranke und gesunde Kinder“ (op. cit., S. 36). Einige Schwestern arbeiten im Mutterhaus oder in einem der Konvente, andere wiederum arbeiten in den umliegenden Gemeinden z. B. als Seelsorgerin, als Lehrerin oder als Pflegefachfrau. Die Aufgabenverteilung innerhalb der Gemeinschaft ermöglicht es den Schwestern, ihren Beruf mit einer hohen Intensität auszuüben. Die Arbeitstätigkeit der Ordensfrauen endet nicht wie im weltlichen Leben mit der Pensionierung. Ältere Schwestern übernehmen innerhalb der Gemeinschaft weiterhin ihnen angepasste Aufgaben (vgl. Hüwelmeier 2004, S. 31f.). Gebet und Arbeit gehören letztlich zusammen. Der beständige Wechsel zwischen Kontemplation und Tätigkeit in der Tagesstruktur der Schwestern bewirkt eine Symbiose beider Bereiche (vgl. Meiwes 2000, S. 236f.), „das eine durchdringt das andre“ (Fromherz/Rast/ Hutter 1970, S. 37). Das Gebet und damit die Beziehung zu Gott ist durch die Arbeit geprägt, und die Arbeit soll erfüllt sein mit der Liebe Gottes (vgl. ibid.). Zum religiös-genossenschaftlichen Frauenleben gehören neben dem Gebet und der Arbeit auch Zeiten der Entspannung. Hierzu zählten zum einen die Rekreation, die gemeinsam mit anderen Schwestern verbrachte Erholungszeit (gemeinsame Gespräche, Spiele, Wanderungen usw.) und zum anderen die Zeit, die den Schwestern zur freien Verfügung steht (lesen, Sport usw.). Darüber hinaus haben die Schwestern Anrecht auf Ferien, die sie im Kloster oder auswärts (oft in einer anderen Gemeinschaft) verbringen. In den Satzungen der Menzinger Schwestern heißt es: „Im heutigen Lebens- und Arbeitsrhythmus sind Freizeit und Ferien von besonderem seelischen und leiblichen Nutzen“ (Regel, Satzungen, allgemeine Statuten, Teil 1. o. J. [1990], S. 91). In katholischen Kongregationen teilen Frauen bedeutende Aspekte des täglichen Lebens miteinander. Ein Kloster ist ein 24-Stunden-Betrieb, der die wesentlichen Lebensbereiche (Arbeit, Gebet, Freizeit und Schlaf) unter derselben
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Autorität vereint (vgl. Goffman 1973, S. 17). Kirchliche Institutionen und damit auch Kongregationen stehen aber nicht außerhalb, sondern in einer sich verändernden Welt. Gleichzeitig waren Kongregationen schon immer und sind auch heute noch Institutionen, die durch die Tätigkeit der Schwestern in der „Welt“ nicht nur auf sich selbst bezogen sind. In den ersten beiden Kapiteln konnte gezeigt werden, dass nicht nur kirchliche, sondern auch gesellschaftliche Transformationsprozesse unmittelbare Auswirkungen auf die Lebenswelt der Schwestern haben. Gesellschaftliche Veränderungen hinsichtlich Geschlecht und der Geschlechterverhältnisse müssten demnach auch bei den Ordensschwestern zu Neukonfigurationen zwischen den Geschlechtern und innerhalb der Geschlechter führen. Ganz besonders interessiert hierbei der Einfluss des Erfahrungsraums Kloster bzw. des spezifisch religiösen Milieus auf Konstruktionen von Geschlecht und der Geschlechterverhältnisse. Diesen Fragen wird in der vorliegenden Untersuchung über lebensgeschichtliche Erzählungen der Schwestern nachgegangen. Zunächst soll aber ein differenzierteres Verständnis der Konzepte „Kloster als konjunktiver Erfahrungsraum“, „Geschlecht“ und „Biographie“ sowie des Verhältnisses zwischen diesen Konzepten erarbeitet werden.
Teil II Theoretisch-konzeptionelle Rahmung, Forschungsperspektive und methodische Herangehensweise
3 Umriss eines biographietheoretischen Zugangs zu Geschlecht und den Geschlechterverhältnissen Umriss eines biographietheoretischen Zugangs Mit der Frage nach biographischen Geschlechter(re)konstruktionen katholischer Kongregationsschwestern zeichnen sich gleichermaßen Biographie- und Geschlechtertheorien als unerlässliche wissenschaftliche Bezüge ab. Darüber hinaus soll der Kontext, in dem die Untersuchung angesetzt ist, das spezifisch religiöse Milieu der Kongregationsschwestern, theoretisch gefasst werden. Das Anliegen der folgenden zwei Kapitel ist es, eine auf den Forschungsgegenstand bezogene theoretische Herangehensweise zu erläutern. Es geht darum, die Konzepte „Kloster als konjunktiver Erfahrungsraum“, „Geschlecht“ und „Biographie“ theoretisch in den Blick zu nehmen und deren Zusammenhang herauszuarbeiten. Die Konzepte sollen den Forschungsgegenstand einerseits umreißen, damit ein theoretischer Analyserahmen für die empirische Untersuchung aufgespannt werden kann, andererseits ausreichend offenhalten, um eine rekonstruktive Annäherung zu ermöglichen.
3.1 K ONGREGATIONEN ALS KONJUNKTIVER E RFAHRUNGSRAUM Der Mannheim’sche Begriff des „konjunktiven Erfahrungsraums“ und dessen Weiterentwicklung nach Ralf Bohnsack wird in der vorliegenden Untersuchung als „sensibilisierendes Konzept“ (Glaser/Strauß 1998, S. 38) verwendet. Der Begriff beinhaltet sozialisatorische bzw. biographische Gesichtspunkte sowie Aspekte sozialer Beziehungen und von Vergesellschaftung, was ihn anschlussfähig macht an den weiter unten erläuterten biographietheoretischen Zugang zu
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Geschlecht und den Geschlechterverhältnissen.1 „Räume“, hier konjunktive Erfahrungsräume, sind „keine geographischen, fixen Räume“ (Bütow 2006, S. 15), sondern dadurch charakterisiert, „dass ihre Angehörigen, ihre Träger durch Gemeinsamkeiten des Schicksals, des biographischen Erlebens, Gemeinsamkeiten der Sozialisationsgeschichte miteinander verbunden sind“ (Bohnsack 2008, S. 111). Zentral am Begriff ist das Moment der „Konjunktion“. Dabei geht es um gemeinsame Erfahrungen, Gemeinsamkeiten der Erlebnisschichtung und gemeinsame Denkweisen (vgl. op. cit., S. 68). Konjunktive Erfahrungen ermöglichen – zumindest bereichsspezifisch – gemeinsam geteilte Sinnzusammenhänge (konjunktives Wissen), denn das Denken und Handeln ist nach Mannheim im konjunktiven Erfahrungsraum verankert (Mannheim 1965, S. 73): „[…] das menschliche Denken konstituiert sich nicht freischwebend im sozial freien Raume, sondern ist im Gegenteil stets an einem bestimmten Orte in diesem verwurzelt. Diese Verwurzelung wird aber keineswegs als eine Fehlerquelle betrachtet werden dürfen. Genau so [sic!] wie der Mensch, der zu gewissen anderen Menschen oder zu deren Verhältnissen eine vitale Beziehung hat, die Chance besitzt, diese auch wissensmäßig genauer durchdringen zu können, so wird die soziale Gebundenheit einer Sicht, einer Kategorialapparatur gerade durch diese vitale Bindung eine größere Chance für die zugreifende Kraft dieser Denkweise in bestimmten Seinsregionen bedeuten.“
Soziales Sein im Sinne Mannheims kann also als ein gemeinsam geteilter Sinnzusammenhang verstanden werden, der durch gemeinsame Erlebnisschichtung hergestellt wird bzw. aus kollektiven Handlungspraxen resultiert (vgl. Bohnsack 2008, S. 191). Dies ist jedoch nicht in einer kausalen Logik zu verstehen. Es handelt sich vielmehr um ein „prinzipiell variable[s] Verhältnis, in dem die gesellschaftliche Standortgebundenheit ihren Ausdruck in typischen Wissensformen findet“ (Endress 2007, S. 77). Vor diesem Hintergrund können wir Kongregationen als konjunktive Erfahrungsräume fassen, in denen die Schwestern aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft dieselben oder zumindest ähnliche „Modi der Welterfahrung“ (Meuser 1999, S. 132) aufweisen. Da Ordensgemeinschaften Züge totaler Institutionen in sich tragen (vgl. Kap. 2), handelt es sich um konjunktive Erfahrungsräume besonderer Art. Die geteilten Erfahrungen der Schwestern beziehen sich vom Zeitpunkt des Klostereintritts an nicht nur auf einen Lebensbereich
1
In ähnlicher Weise verwendet Birgit Bütow den Sozialraumbegriff (vgl. Bütow 2006, S. 15).
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(wie z. B. Beruf oder Ausbildung), sondern mehr oder weniger auf „alle Angelegenheiten des Lebens“ (Goffman 1973, S. 17). Der Begriff des konjunktiven Erfahrungsraums geht aber über denjenigen der konkreten Gruppe hinaus (vgl. Mannheim 1980, S. 524-527). Die „Konstitution konjunktiver Erfahrung [ist] nicht an das gruppenhafte Zusammenleben derjenigen gebunden, die an ihr teilhaben“ (Bohnsack 2008, S. 111), sondern ist auch zwischen Individuen möglich, die in keiner interaktiven Kopräsenz stehen (vgl. Meuser 1999, S. 133). Mannheim (1964) hat dies beispielhaft am Generationenzusammenhang als konjunktivem Erfahrungsraum expliziert. Er spricht von einem Generationenzusammenhang, wenn Individuen im selben „historischsozialen Raum“ (op. cit., S. 542) durch etwas verbunden sind, ohne dass diese eine konkrete Gruppe bilden würden (vgl. op. cit., S. 525). Diese Verbundenheit zeichnet sich durch „eine Partizipation an den gemeinsamen Schicksalen dieser historisch-sozialen Einheit“ (op. cit., S. 542; Herv. i. O.) aus. Ein Generationenzusammenhang besteht dann, wenn Individuen „an jenen sozialen und geistigen Strömungen teilhaben, die eben den betreffenden historischen Augenblick konstituieren, und insofern sie an denjenigen Wechselwirkungen aktiv und passiv beteiligt sind, die die neue Situation formen“ (op. cit., S. 543). Vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen gruppenhaften und übergreifenden konjunktiven Erfahrungsräumen konzipiert Bohnsack seinen Milieubegriff. Hinsichtlich gruppenartiger oder gemeinschaftlicher Milieus, wie bspw. Familien oder Nachbarschaften, schließt er am Milieukonzept von Aron Gurwitsch (1976) an. Davon unterscheidet er aber übergemeinschaftliche Zusammenschlüsse wie Generationen-, Geschlechter-, Migrations-, Bildungsmilieus etc. (vgl. Bohnsack, 2008, S. 112), die sich nicht über die Sphäre der „Bekanntheit“ festmachen lassen. Übergreifende konjunktive Erfahrungsräume haben für die Bestimmung seines Milieubegriffs eine geradezu besondere Bedeutung (vgl. ibid). Denn: Der soziale Ort der Genese gemeinsamer Erlebnisschichtung ist nach Bohnsack nicht die konkrete Gruppe. Diese ist höchstens ein „Epi-Phänomen“ für die Analyse konjunktiver Erfahrungsräume (vgl. Bohnsack 2008, S. 63). Im Anschluss an Mannheim und Bohnsack lassen sich katholische Frauenkongregationen als übergreifender konjunktiver Erfahrungsraum im Sinne eines spezifisch religiösen Milieus fassen. Die Schwestern als Angehörige dieses konjunktiven Erfahrungsraums zeichnen sich durch eine gemeinsame bzw. gleichartige (klösterliche) Sozialisationsgeschichte und durch gemeinsame bzw. gleichartige Erlebnisse aus. Die in Klöstern ausgeprägten und sich vom weltlichen Leben deutlich unterscheidenden kollektiven Handlungspraxen (vgl. Kap. 2) müssten sich in gemeinsam geteilten Sinnzusammenhängen zei-
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gen. Für die biographische (Re-)Konstruktion von Geschlecht und den Geschlechterverhältnissen sind insbesondere die Gleichgeschlechtlichkeit der Gemeinschaften und deren Situierung innerhalb einer hierarchischen und patriarchalischen Kirche von Bedeutung. Mit der Konzeption „Kongregationen als konjunktiver Erfahrungsraum“ soll aber weder eine kausallogische noch eine deterministische Sichtweise verfolgt werden, vielmehr geht es um eine dialektische Verschränkung von sozialen, gesellschaftlichen, kulturellen Strukturen und subjektiven Sinnkonstruktionen. Mit dem Biographiekonzept von Bettina Dausien ist ein Instrumentarium gefunden worden, welches soziale bzw. gesellschaftliche Verhältnisse mit individuellen Konstruktionen verbindet und deren Relation theoretisiert (vgl. Thon 2008, S. 86). Im Folgenden soll deshalb genauer erläutert werden, was unter Biographie und Geschlecht und unter einem biographietheoretischen Zugang zu Geschlechterkonstruktionen verstanden wird.
3.2 Z UM V ERHÄLTNIS VON F RAUENFORSCHUNG UND B IOGRAPHIEFORSCHUNG Persönliche lebensgeschichtliche Erfahrungen von Frauen und die Auseinandersetzung mit weiblichen Lebenszusammenhängen spielten bereits zu Beginn der neuen Frauenbewegung ab Ende der 1960er-Jahre eine wesentliche Rolle (vgl. Thon 2008, S. 88). Ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen mit „Fremdbestimmung, private[r] und gesellschaftliche[r] Repression“ (Kraul 1996, S. 484), forderten die politisierten Frauen ihre Befreiung vom Patriarchat. Die Formulierung persönlicher Erlebnisse und die Thematisierung weiblicher Biographien waren auch Grundlagen der neu entstandenen Selbsterfahrungsgruppen2 und gleichzeitig wichtige Elemente für den Emanzipationsprozess (vgl. Thon 2008, S. 88; Kraul 1996, S. 484). Ziel der Selbstbezüglichkeit in diesen Gruppen war aber nicht allein die individuelle Selbstdarstellung und Selbstfindung, sondern das Aufdecken der strukturellen Ursachen der geteilten Unterdrückungserfahrungen, um Widerstand gegen die herrschenden patriarchalen Verhältnisse zu entwickeln und gesellschaftliche Veränderungsprozesse einzuleiten (vgl. Thon 2008, S. 88; Holland-Cunz 2003, S. 146). Ein weiteres Element der neuen Frauenbewegung war die „Sichtbarmachung ‚weiblicher‘ Erfahrung und Lebensrealität“ (Thon 2008, S. 89) über literarische
2
Auch als Consciousness-raising Groups bezeichnet (vgl. Thon 2008, S. 88; Kraul 1996, S. 484).
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Autobiographien. Beispielhaft hierfür ist der viel gelesene autobiographische Roman Häutungen von Vera Stefan, der Mitte der 1970er-Jahre erschien (vgl. Holland-Cunz 2003, S. 147). „Selbstdarstellungen und Austausch von Erfahrungen mit anderen, in gleicher Weise durch Unterdrückung und männliche Herrschaft betroffenen Frauen wurden konstitutiv für die neue Form der Frauenbewegung. Sie zentrierte sich, zunächst in Frauengruppen, um Lebenswelt und Lebensgeschichte einzelner Frauen und definierte die scheinbar individuellen Probleme der Unterdrückung in lebensweltlichen Bereichen als gesellschaftliche Probleme. Damit verstand sie – in Anlehnung an die amerikanische Bürgerrechtsbewegung – das Private als das Politische“ (Kraul 1996, S. 484).
Die neue Sichtweise auf weibliche Lebenszusammenhänge hat auch die Frauenforschung nachhaltig geprägt. 3 Ähnlich den Zielen der Frauenbewegung war das Anliegen der Frauenforschung, soziale Realitäten von Frauen, ihre Benachteiligungen innerhalb und außerhalb der Universitäten, aber auch ihre Formen des Widerstandes sichtbar zu machen und daraus eine feministische Gesellschaftstheorie zu entwickeln (vgl. Müller 2008, S. 332f.; Kraul 1996, S. 484). Dabei stellte sich die Frage, ob und, wenn ja, wie sich die politische Positionierung der Wissenschaftlerinnen und die daraus entstehenden Fragestellungen forschungsmethodisch umsetzen ließe (vgl. Brück et al. 1997, S. 224). In den methodischen Postulaten von Maria Mies, welche „als unbestrittener Ausgangspunkt für die bundesdeutsche Auseinandersetzung um Methoden und Methodologie in der Frauenforschung“ (Müller 2008, S. 332) gelten, zeigt sich die Parteilichkeitsund Betroffenheitsperspektive deutlich. Für die Umsetzung der Postulate boten sich biographische Methoden geradezu an (vgl. Thon 2008, S. 89). Über biographische Erzählungen sollten sowohl subjektive Erfahrungen als auch deren intersubjektive Komponenten erfasst werden (vgl. Kraul 1996, S. 485). Der Forschungsprozess war somit gleichzeitig ein Prozess der Bewusstwerdung, nicht nur aufseiten der Beforschten, sondern auch aufseiten der Forscherinnen (vgl. Thon 2008, S. 89), da deren Betroffenheit willentlich in den Forschungsprozess miteinbezogen wurde (vgl. Müller 2008, S. 333).
3
Es muss hier angemerkt werden, dass es bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Frauenforschung gab, die sich mit weiblichen Lebenszusammenhängen und mit Benachteiligungen von Frauen beschäftigte. Problematisch hinsichtlich der Anerkennung dieser Arbeiten war jedoch der nichtakademische Status der Autorinnen (vgl. Hering 2008, S. 323).
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Biographische Konzepte sind keine Erfindung der 1970er-Jahre. Ihre Tradition ist älter und fußt in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen. Von besonderer Bedeutung sind dabei vor allem die Forschungsarbeiten der Chicago School of Sociology zu Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. Dausien 1994, S. 133). Die von der Frauenforschung wiederentdeckte Biographieforschung erschien nachgerade als „Königinnenweg“ (op. cit., S. 129) einer feministischen Wissenschaft, die sich als Gegenentwurf zur herrschenden androzentrischen und positivistischen Wissenschaft verstand (vgl. Thon 2008, S. 90). Die biographische Methode sollte die Verallgemeinerung männlicher Normalbiographien infrage stellen und „gleichsam ein neues – weibliches – ‚Allgemeines‘ generieren“ (Kraul 1996, S. 486). Die Parteilichkeits- und Betroffenheitspostulate wurden jedoch nicht von allen Feministinnen geteilt. Stellvertretend für deren Kritik, die bereits in den 1980er-Jahren einsetzte, soll hier auf Christina Thürmer-Rohr verwiesen werden, die zum einen mit ihrer These der „Mit-täterschaft“ von Frauen deren Opferstatus zur Diskussion stellte und zum anderen die Generalisierbarkeit der Unterdrückungserfahrungen von Frauen aus unterschiedlichen Kulturen und Klassen anzweifelte (vgl. Müller 2008, S. 333f.; Kraul 1996, S. 486). Die Widersprüche in der Lebensrealität von Frauen forderten die feministische Wissenschaft dazu auf, „weibliche Lebenswelten in ihrer Verschiedenheit […] zu untersuchen“ (Kraul 1996, S. 487). Aber auch unter dem Aspekt der Verschiedenheit bzw. der Differenz erwies sich die Biographieforschung von Bedeutung (ibid.): „Gerade die unterschiedlichen Lebenswelten von Frauen, die sich nicht mehr in der Betroffenheitseinheit und in der gleichen Emanzipationsausrichtung fassen lassen, fordern genaue Analysen. Biographieforschung wird notwendig, um unterschiedliche Facetten weiblicher Lebenswelten zutage zu fördern.“ Thürmer-Rohr und weitere Kritikerinnen der Mies’schen Postulate forderten darüber hinaus eine Trennung von Wissenschaft und politischen Zielsetzungen. Auch wenn der Wissenschaft oft eine politische Funktion inhärent ist, dürfe die Frauenforschung nicht von der Frauenbewegung vereinnahmt werden (vgl. Behnke/Meuser 1999, S. 32f.). Mit der Entflechtung von Frauenforschung und Frauenbewegung, aber auch mit der zunehmenden Institutionalisierung der Frauenforschung kam es in der feministischen Wissenschaft zu einer methodischen und methodologischen Ausdifferenzierung. An der Dominanz qualitativer Methoden wurde jedoch festgehalten (vgl. Thon 2008, S. 92). Das Verhältnis zwischen der Frauenforschung und der Biographieforschung lässt sich auch aus der umgekehrten Richtung beschreiben. Die lange Zeit an männlichen, erwerbszentrierten Lebensläufen orientierte Biographieforschung musste ihren Blick um die spezifischen Lebenswelten von Frauen erweitern (vgl.
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Kraul 1996, S. 490f.). Diese aus der Frauenforschung initiierte „Sichtbarmachung weiblicher Lebensentwürfe und -geschichten“ hat „die Biographieforschung geschlechtsspezifisch differenziert und damit neue Zugänge zur Analyse von Lebensläufen eröffnet“ (op. cit., S. 492). Indessen war für die kritisch-feministische Frauenforschung die unhinterfragte Verwendung der Kategorie Geschlecht bzw. der Differenzkategorien „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ selbst strittig geworden (vgl. Thon 2008, S. 93). Begriffe, welche sowohl der neuen Frauenbewegung als auch der Frauenforschung jahrzehntelang zugrunde lagen, galten als überholt (vgl. Müller 2008, S. 334).
3.3 U NTERSCHIEDLICHE B ETRACHTUNGSWEISEN DER K ATEGORIE G ESCHLECHT Zu Beginn der Frauenforschung bildete der Sozialisationsbegriff im deutschsprachigen Raum den politisch-programmatischen Rahmen, Frauenfragen kritisch zu diskutieren. Das Sozialisationsparadigma lieferte eine wissenschaftliche Begründung für die Verbindung des Subjekts mit den gesellschaftlichen (Macht)Verhältnissen. Wissenschaftlich und politisch ging es darum, zu zeigen, dass Geschlecht kein biologisches Schicksal, sondern eine gesellschaftlich-kulturelle Zuschreibung sei. In den 1980er-Jahren folgte eine empirische und theoretische Differenzierung des Ansatzes, welche in das Konzept der geschlechtsspezifischen Sozialisation mündete (vgl. Dausien 2006a, S. 22f.; 1999, S. 218-224). Im Zentrum stand die Frage, „wie aus Säuglingen Individuen werden, die als eindeutig männlich oder weiblich kategorisierbare Menschen ein Leben führen, das den Vorgaben ihrer zweigeschlechtlich organisierten sozialen Umwelt mehr oder weniger entspricht“ (Thon 2008, S. 108).4 Bereits in den 1980er-Jahren begann sich die feministische Wissenschaft vom Sozialisationsparadigma zu distanzieren. Nach Bettina Dausien (vgl. 2006a, S. 23-25; 2006b, S. 185-187) sind drei Kritikpunkte auszumachen: 1. das Problem der Re-Naturalisierung und Reifizierung von Geschlecht5; 2. die theoretische Konstruktion und Überfokussierung der Geschlechterdifferenz6 und 3. die Annahme einer eindeutigen, stabilen geschlechtlichen Identität7.
4
Für eine Vielzahl empirischer Ergebnisse und theoretischer Ansätze vgl. exemplarisch
5
Vgl. hierzu auch Gildemeister 1992; Gildemeister/Wetterer 1992.
6
Vgl. hierzu auch Lutz/Davis 2005, S. 231; Mecheril 2003; Dausien 2001, S. 71; 1996.
7
Vgl. hierzu auch Butler 1991.
Bilden 1980.
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Der daraufhin folgende Paradigmenwechsel, weg von der geschlechtsspezifischen Sozialisation hin zu den bis heute rezipierten dekonstruktivistischen und konstruktivistischen Ansätzen (vgl. Dausien 2006a, S. 25), geht zugleich einher mit der (nicht unumstrittenen) Erweiterung der Frauenforschung zur Geschlechterforschung (vgl. Behnke/Meuser 1999, S. 40). Allen Ansätzen ist die Erkenntnis der Konstruiertheit von Geschlecht gemeinsam, „je nach theoretischem Zugang als soziale, kulturelle, diskursive etc. Konstruiertheit gefasst“ (Thon 2008, S. 110). Etabliert haben sich vor allem theoretische Ansätze, die von der sozialen Konstruktion von Geschlecht ausgehen. Grundlegend für die sozialkonstruktivistische Perspektive ist, dass die soziale Konstruktion der im Alltag fraglos gegebenen Zweigeschlechtlichkeit und der Geschlechtszugehörigkeit von Personen zum Untersuchungsgegenstand gemacht werden. Es geht also nicht mehr um „die Erfassung und Erklärung von Differenzen zwischen den Geschlechtern“, sondern vielmehr um „die zentrale Frage, wie sich ein kulturelles System beständig reproduziert, in dem Individuen nach einem binären Schema entlang der Kategorie Geschlecht voneinander unterschieden und aufeinander bezogen sind“ (Thon 2008, S. 110). In sozialkonstruktivistischer Perspektive ist Geschlecht „keine anthropologische Konstante, keine Essenz oder Wesenheit [...], die dem Menschen als Menschen qua Natur unveränderlich zukommt“ (Maihofer 2004a, S. 34). Geschlecht und Geschlechterdifferenz werden als soziale Zuschreibungen verstanden, als Ergebnisse historischer und gesellschaftlich-kultureller Prozesse, an denen viele Akteure und Institutionen beteiligt sind und so immer neu zur Rekonstruktion von Geschlechtszugehörigkeit und Zweigeschlechtlichkeit beitragen (vgl. Maihofer 2004a, S. 34; Wetterer 2004, S. 122f.; Metz-Göckel 2000, S. 38f.). Innerhalb des sozialkonstruktivistischen Paradigmas kommen Theorien eine besondere Bedeutung zu, „die Geschlecht als etwas analysierbar machen, das interaktiv hergestellt wird“ (Thon 2008, S. 110). Der von Candace West und Don H. Zimmerman (1987) aus der Ethnomethodologie entwickelte Ansatz des Doing Gender konzipiert Geschlecht als etwas, das man tut, und nicht als etwas, das man ist. Damit nehmen West/Zimmerman eine grundlegend antiessentialistische Position ein. Mit dem Doing-Gender-Ansatz wird die in der Zwischenzeit geläufige Sex-Gender-Unterscheidung, bei der implizit von einem natürlichen Geschlechtsunterschied (Sex) ausgegangen und gender lediglich als gesellschaftliche Reaktion auf das natürliche Geschlecht interpretiert wird, konstruktivistisch aufgelöst. Bei West/Zimmerman ist Geschlecht bzw. Geschlechtszugehörigkeit selbst ein Effekt vielschichtiger sozialer Prozesse (vgl. Gildemeister 2004, S. 132f.; Maihofer 2004a, S. 35; Behnke/Meuser 1999, S. 41; Dausien 1998, S. 260f.).
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Nach Bettina Dausien (2006a, S. 25; Herv. i. O.) hat nun bereits die nächste Phase des Geschlechterdiskurses begonnen, die sie als „Kritik an der Kritik“ bezeichnet. Mit der Ablehnung der Sozialisations- und Identitätskonzepte sei vor allem die Frage nach dem Subjekt (vgl. ibid.) bzw. die Frage, „wie sich konkrete situationsgebundene Interaktionspraktiken zu dauerhaften Strukturen verfestigen“ (Dausien 1999, S. 238), aus dem Blickfeld geraten. Auch Andrea Maihofer (2002, S. 17-20; Herv. i. O.) kritisiert, dass nicht mehr nach „der individuellen Genese der geschlechtlichen Individuen und deren alltäglich gelebter ‚Realität/Materialität‘“ gefragt werde. Sie vermisst in den konstruktivistischen und dekonstruktivistischen Positionen den „Täter nach der Tat, ein ‚Subjekt‘ als Ergebnis sozialer Praxen“. Die „gelebte Existenzweise“ erhält im Laufe des Lebens „‚in‘ und ‚für‘ die Individuen eine materielle Realität“. Demzufolge „‚haben‘ Menschen dann auch ein ‚Ich‘, ‚existieren‘ [...] als ‚Subjekte‘ und ‚sind‘ [...] ‚Täter‘ ihrer Taten.“ Was hier zur Sprache kommt, ist „eine Neuaufnahme von sozialisations- und subjekttheoretischen Fragestellungen unter veränderten Vorzeichen“ (Thon 2008, S. 112), Fragen nach Prozessen des „Geschlecht-Werdens“, welche seit der Kritik am Sozialisationsparadigma vernachlässigt worden sind (vgl. Dausien 2002, S. 95). In der Auseinandersetzung mit den beschriebenen Entwicklungen hat Bettina Dausien einen biographietheoretischen Zugang „zur Analyse von Geschlechterverhältnissen und ihren Subjekten“ (Dausien 2006a, S. 30) entwickelt, der im Folgenden dargelegt und diskutiert werden soll.
3.4 E IN BIOGRAPHIETHEORETISCHER Z UGANG ZU G ESCHLECHT UND DEN G ESCHLECHTERVERHÄLTNISSEN Laut Bettina Dausien (2002, S. 118) ist „der Versuch, die Voraussetzungen und Implikationen einer biographietheoretischen Perspektive zu erklären, [...] mit verschiedenen Schwierigkeiten“ verbunden. „Biographie“ ist ein Begriff, der sowohl in der Wissenschaft als auch in der Alltagssprache vorkommt und mit unterschiedlichsten Bedeutungen versehen ist. Innerhalb des wissenschaftlichen Kontextes kann „Biographie“ keiner Disziplin zugeordnet werden, vielmehr ist „‚Biographie‘ [...] ein Gegenstand theoretischen Denkens, der [...] sich an einem komplexen sozialen und kulturellen Phänomen orientiert. Die Biographieforschung, die sich systematisch mit diesem Gegenstand befasst, ist ein inter- oder besser: transdisziplinäres Feld, in dem heterogene theoretische und methodische Richtungen vertreten sind.“
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Um Dausiens Verständnis von Biographie bzw. um ihren biographietheoretischen Zugang zu Geschlecht und den Geschlechterverhältnissen darzulegen, werden folgende für die vorliegende Untersuchung konstitutiven Aspekte diskutiert (vgl. Dausien 2009, S. 162-166; Dausien 2006a, S. 30-38): • die explizite Temporalität der biographischen Analyseperspektive • das dialektische Verhältnis von Individuum und Gesellschaft • die Idee, Produkt und Prozess der biographischen Konstruktion von Geschlecht
zusammen zu denken • die Verschränkung von Aneignung und Konstruktion im Prozess biographi-
scher Arbeit • die (Selbst-)Reflexivität der Erfahrungsstrukturen • die Strukturbildung sozialer Konstruktionsprozesse Biographien weisen im Vergleich zu situativen Interaktionsprozessen eine komplexe Temporalstruktur auf (vgl. Dausien 1998, S. 266). Die in die biographische Perspektive eingeschriebene Zeitlichkeit lenkt die Analyse in Richtung sich verändernder Strukturen, der Forschungsgegenstand wird temporalisiert. Dausien (2009, S. 163f.; Herv. i. O.) unterscheidet für die Analyse biographischer Konstruktionsprozesse drei unterschiedliche, jedoch miteinander verschränkte Zeitebenen: a) „das Format der Geschichte von Gesellschaften und Kulturen“, b) „die Zeitgestalt einer Lebensgeschichte“ und c) „das Zeitformat situierter Handlungsabläufe“. Für eine biographische Analyse von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen bedeutet dies, dass Geschlechterkonstruktionen nicht als statische, „sondern als historische, sich verändernde und veränderbare gesellschaftliche und subjektbezogene Strukturen“ (ibid.) gefasst werden müssen. Die biographietheoretische Perspektive vermag somit die Prozesse des „GeschlechtWerdens“ in ihrer lebenszeitlichen Dimension systematisch zu analysieren. Wenn Dausien von gesellschaftlichen und subjektbezogenen Strukturen spricht, meint sie dies gerade nicht in einem dualistischen Sinne. Im Gegenteil, ihr Anspruch ist eine nicht-dualistische Verknüpfung zwischen Individuum und Gesellschaft. Damit setzt sie an der klassischen erkenntnistheoretischen Frage an, ob sich aus biographischen Erzählungen nur subjektive und partikulare oder auch allgemeine Erkenntnisse über soziale Wirklichkeit gewinnen lassen (vgl. Alheit/Dausien 2000, S. 259). Dausien versucht „üblicherweise Getrenntes – Subjekt und gesellschaftliche Verhältnisse – im Zusammenhang zu analysieren und diesen Zusammenhang theoretisch zu reformulieren“ (Dausien 2006a, S. 31). Im Biographiekonzept wird die dialektische Verschränkung zwischen Individuum und Gesellschaft mit der begrifflichen Unterscheidung Lebenslauf und Lebensgeschichte
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eingefangen (vgl. Dausien 2009, S. 163). Zum einen ist „Biographie als soziale Institution“ zu verstehen, „die eine neue Form der Vergesellschaftung darstellt, nämlich das zeitlich strukturierte ‚Ablaufprogramm‘ des Lebenslaufs, das die gesellschaftliche Zurechnung von Rechten und Pflichten an die Individuen bindet“. Zum anderen versteht Dausien „Biographie als Sinnstruktur für die Reflexion von Erfahrungen und die Ausbildung individueller Identitätsentwürfe in der Form der Lebensgeschichte“ (Dausien 2006a, S. 32; Herv. i. O.). Beide Seiten sind miteinander verschränkt und relational voneinander abhängig. Der Lebenslauf bildet den allgemeingesellschaftlichen Rahmen, der von Individuen gefüllt und belebt werden muss, die je individuelle Lebensgeschichte ist wiederum auf den historisch, kulturell und sozial geteilten Rahmen angewiesen (vgl. op. cit., S. 31-34). Biographie ist also ein relationales Konzept, das zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Subjekt und Kontext, zwischen subjektiven Erfahrungen und gesellschaftlichen Strukturen vermittelt (vgl. op. cit., S. 32). „In der Analyse von biographischen Texten wird nach den sozialen Erfahrungs- und Deutungsräumen gefragt, die sich im Laufe einer Lebensgeschichte gebildet haben und die biographische Reflexion der Subjekte, ihre subjektive Erfahrungsstruktur und ihren Habitus strukturieren. Es geht also um eine Aufschichtung und Verdichtung sozialer Kontexte, die gewissermaßen um die Achse einer Biographie herum eine strukturierende Kraft entfalten und in je aktuellen Situationen als ‚Konstruktionskontexte‘ biographischer Reflexion und Darstellung gedacht werden können. Damit wird ein Ansatz zur Rekonstruktion eröffnet, der danach fragt, in welchen Kontexten das erzählende Subjekt bestimmte Geschlechterkonstruktionen (nicht) hervorbringt und variiert und welche Logiken der Kontextualisierung sich dabei entdecken lassen“ (Dausien 2009, S. 165f.).
Auf theoretischer Ebene zeigen sich hier Parallelen zwischen dem Biographiekonzept und dem Anspruch des Sozialisationsansatzes. Der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass im Konzept „Biographie“ davon ausgegangen wird, dass sich der komplexe Zusammenhang zwischen individuellen und gesellschaftlichen Strukturierungsprozessen bereits in den alltagsweltlichen Konstruktionen der Individuen, also im empirischen Datenmaterial, befindet (vgl. Dausien 2006a, S. 32). Da die wissenschaftliche Perspektive auf Biographie an den in der sozialen Welt verankerten Konstruktionen ersten Grades ansetzt, vermag das Biographiekonzept nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch die sozialisationstheoretischen Fragen einzulösen (vgl. op. cit., S. 33). Die Konstruktionen der SozialwissenschaftlerInnen sind dann Konstruktionen zweiten Grades. „Es sind Konstruktionen jener Konstruktionen, die im Sozialfeld von den Handelnden gebildet werden“ (Schütz, 1971, S. 6).
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Das Verständnis von Biographie als soziale Konstruktion beinhaltet die beiden Aspekte Produkt und Prozess, die es ebenfalls zusammen zu denken gilt. Auf der einen Seite wird Biographie als Konstrukt im Sinne eines „opus operatum“ (Bourdieu 1987), als ein vom konkreten Handeln abgehobenes und objektiviertes Produkt, das Institution geworden ist, verstanden (vgl. Dausien 2006a, S. 34). Dazu gehören alle Arten „geronnene[r] soziale[r] Konstruktionsprozesse“ (Dausien 2006b, S. 188; 2000, S. 101) „in der verzeitlichten Form biographischer Ablaufmuster“ (Dausien 2006a, S. 34), wie z. B. gesetzliche und normative Vorschriften, Personalakten, Lebenslauf usw., an die normative Erwartungen und Handlungsvorschriften herangetragen werden. Aber auch Erzähltraditionen, Texte oder Bilder über „gelungene“ und „misslungene“ Biographien gehören zu diesen geronnenen biographischen Konstrukten. Dese „Produkte gesellschaftlichen oder individuellen Handelns“ (ibid.) sind eng mit den gesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen verknüpft und an deren Konstruktion beteiligt. Umgekehrt färbt Geschlecht, verknüpft mit anderen gesellschaftlich relevanten Differenzdimensionen und individuellen Aspekten der je relevanten Erfahrungskontexte, Lebensläufe ein (vgl. op. cit., S. 34f.; Dausien 2006b, S. 189; 2000, S. 102). Auf der anderen Seite versteht Dausien unter Biographie den Prozess des Konstruierens im Sinne eines „modus operandi“ (Bourdieu 1987). Sie geht davon aus, dass soziale Subjekte ihre Lebensgeschichten interaktiv immer wieder neu konstruieren und dadurch Erfahrungen reflexiv verarbeiten. „Sie greifen dabei je spezifische Aspekte ihrer Handlungsumwelten und konkreter Situationen auf und ‚bauen‘ sie aktiv in ihre Erfahrungsstruktur ‚ein‘“ (Dausien 2006a, S. 35). Die „biographische Erfahrungsaufschichtung“ (ibid.) ist jedoch keine Auflistung dessen, was früher tatsächlich passiert ist (vgl. Thon 2008, S. 103f.), sondern vielmehr „[…] ein aktiver Prozess biographischer Arbeit, in dem Vergangenes und Zukünftiges, Erfahrung und Erwartung ineinander greifen. Diese ‚Arbeit‘ ist keineswegs nur eine bewusste oder gar bewusst gesteuerte Aktivität der individuellen Subjekte, sondern eine soziale Praxis, die im Alltag wesentlich in Interaktion mit anderen vollzogen wird und zu großen Teilen als implizites Wissen oder ‚praktisches Bewusstsein‘ organisiert ist“ (Dausien 2006a, S. 35; Herv. i. O.).
Insofern bilden biographische Sinnstrukturen „ein generatives Prinzip sozialen Handelns […]. Sie können als ein Wissensvorrat betrachtet werden, der je aktuelle Konstruktionsleistungen oder performative Handlungen, z. B. das ‚doing gender‘, in einer konkreten Situation und nach einer eigenen ‚Logik‘ (mit)strukturiert“ (op. cit., S. 37; Herv. i. O.).
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Im Prozess der biographischen Arbeit finden gleichzeitig Aneignung und Konstruktion statt. Diese Überlegungen hängen eng mit der oben diskutierten Frage nach dem Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft bzw. zwischen Subjekt und Kontext zusammen, also mit sozialisationstheoretischen Fragen nach der „Herausbildung individueller Subjektivität in der aktiven Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt“ (Thon 2008, S. 113). Das Erzählen der eigenen Biographie kann einerseits als Konstruktion biographischen Sinns interpretiert werden, andererseits als (erneute) Aneignung der eigenen Lebensgeschichte. Dies lässt sich auch auf Geschlechterkonstruktionen übertragen, die in der Verschränkung von Aneignung und Konstruktion produziert, reproduziert und verändert werden (vgl. Dausien 2006a, S. 35f.). Das Zusammenspiel von Aneignung und Konstruktion zeigt sich im Konzept der Erfahrungsaufschichtung, in dem „[…] ein Zusammenhang zwischen dem Handeln von Individuen in aktuellen Interaktionssituationen und ihnen vorausgegangenen Erfahrungen hergestellt [wird], wodurch singuläre Situationen nicht nur eine zeitliche Tiefendimension erhalten, sondern auch eine Reflexivität des Handelns mitgedacht werden kann“ (Thon 2008, S. 114).
Nach Dausien ist der biographische Konstruktionsprozess denn auch reflexiv im doppelten Sinne: Neue biographische Erfahrungen entstehen einerseits vor dem Hintergrund bereits bestehender Sinnstrukturen und wirken andererseits auf diese bestätigend, modifizierend oder transformierend zurück (vgl. Dausien 2006a, S. 36). Darüber hinaus können Subjekte sich selbst zum Gegenstand der Reflexion machen. Sie vermögen einen auf sich bezogenen Sinn zu konstruieren und diesen im Laufe der Zeit neu zu bearbeiten bzw. umzuarbeiten (vgl. Dausien 2002, S. 107). Subjekte können also Erfahrungen „machen“ und über dieses „Erfahrung-Machen“ nachdenken (vgl. Dausien 2006a, S. 36). Mit der Idee der reflexiven Erfahrungsstruktur wird die Frage nach der Verfestigung geschlechtlicher Identität aufgeworfen. Im hier vorgestellten Biographiekonzept geht es allerdings nicht wie bei Maihofer (2002) um Geschlecht als Existenzweise „in“ Individuen, es geht also nicht um die biographische Entwicklung „innerer“, sondern um die Genese „intersubjektiver Strukturen“ (Dausien 2006a, S. 37; Herv. i. O.). Der Strukturbildungsprozess bezieht sich dabei nicht nur auf die sozialen, psychischen und somatischen Strukturen, sondern auch auf die gesellschaftlichen und kulturellen (vgl. ibid.). Aus wissenssoziologischer Perspektive kann dem dargelegten Biographiekonzept eine unzureichende Differenzierung der Sinnebenen entgegengehalten werden. Mannheim (1964, S. 104) unterscheidet hinsichtlich der Interpretation
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von Kulturgebilden drei „Sinnschichten“: a) den objektiven Sinn, b) den intendierten Ausdrucksinn und c) den Dokumentsinn. Mit dem objektiven Sinngehalt sind objektive soziale Zusammenhänge, also allgemeine Bedeutungen eines Textinhaltes oder sozialen Handelns gemeint. Der intendierte Ausdrucksinn ist durch einen „Innenweltbezug“ (op. cit., S. 107) charakterisiert und enthält nur durch diesen seinen individualisierten Sinn. Diese Sinnebene bezieht sich auf die subjektiven Motive der Individuen, und zwar so, wie diese von den Individuen gemeint sind. Die ersten beiden Sinnebenen haben einen immanenten Sinngehalt, also einen wörtlichen, expliziten. Davon zu unterscheiden ist der Dokumentsinn. Dieser verweist auf die Herstellungsweise, den „modus operandi“ (Bourdieu 1987) einer Schilderung oder einer Handlung (vgl. Nohl 2008, S. 8) bzw. auf den „gesamtgeistigen Habitus“ (Mannheim 1964, S. 109). Der Fokus der vorliegenden Arbeit liegt gerade nicht auf dem immanenten Sinngehalt, auf den sich Dausien mit der Selbstreflexivität bezieht. Dabei geht es nicht darum, den Subjekten die Selbstreflexivität abzusprechen, sondern darum, zu zeigen, dass diese weniger mit der durch Erfahrungsaufschichtung sich herausbildender Geschlechterkonstruktion, sondern vielmehr der Interviewsituation selbst geschuldet ist, in der sich die Subjekte auf einer theoretischen Ebene mit sich und der Welt auseinandersetzen. Habituelle Orientierungen dokumentieren sich weniger im theoretischen bzw. kommunikativen Wissen, sondern im atheoretischen Wissen. Die vorliegende Untersuchung folgt in großen Teilen dem biographischen Ansatz Dausiens, legt aber besonderen Wert auf die Unterscheidung der Sinnebenen, wie Mannheim dies postuliert hat. Daraus folgt, dass der Selbstreflexivität der Individuen ein geringer Stellenwert beigemessen wird, sie bleibt aber nicht unberücksichtigt. Wenn die Interviewten sich zu ihrem Erfahrungsprozess ins Verhältnis setzen (vgl. Dausien 2006a, S. 36), kann nämlich gefragt werden, wie sie dies tun, wie sie ihre Handlungen begründen oder bewerten. Somit werden Selbstreflexionen als „modus operandi des Theoretisierens“ begriffen und können Aufschluss über den jeweiligen Habitus geben (vgl. Nohl 2008, S. 50).8 Insofern Subjekte „darüber Auskunft geben, wie sie ‚so geworden sind‘, so ist auch Geschlecht implizit oder explizit Thema“ (Thon 2008, S. 114). Eine Lebensgeschichte kann im „kulturellen System der Zweigeschlechtlichkeit“ (Hagemann-White 1984) fast nur aus der Perspektive eines bestimmten Geschlechtes erzählt werden. Biographien sind in diesem Sinne geschlechtsgebunden. Diese Geschlechtsgebundenheit wird von den Individuen jedoch in reflexiver Weise bearbeitet. D. h., dass Erfahrungen in Verbindung mit der Dimension
8
Vgl. hierzu auch Kap. 5.6.
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Geschlecht Bedeutung erhalten und wiederum neue Erfahrungen organisieren. Dabei kann es natürlich zu Verschiebungen kommen, an denen deutlich wird, dass biographische Konstruktionen nicht nur Reproduktionen des Vorgefundenen, sondern auch Modifikationen und Transformationen sind. Im Gegensatz zu Ansätzen, die lediglich die Interaktion zwischen Individuen beleuchten, vermag ein biographischer Ansatz also Geschlechterkonstruktionen als reflexive Konstruktion in der Zeit zu analysieren. Zugleich wird Geschlecht nicht nur als soziale Ordnung verstanden, die von den Individuen reproduziert wird, sondern als eine Konstruktion reflexiv handelnder Subjekte (vgl. Thon 2008, S. 114-116). „Das ‚Männliche‘ oder das ‚Weibliche‘ dieser Geschichten haftet nicht den Subjekten in Form eines Merkmals an, sondern ist ein flexibles, dynamisches und kontextbezogenes Produkt von in ihrer Zeitstruktur komplexen Prozessen, die dadurch zugleich in einem bestimmten Sinn weiter vorangetrieben werden. Geschlecht kann damit also als Prozesskategorie verstanden werden, was einer Reifizierung ebenso entgegensteht wie ein Blick auf die Subjekte, die v. a. als biographische Subjekte verstanden werden. Diese Vorstellung kann dabei helfen, das Konstrukt Geschlecht als etwas (wenn auch Zäh-)Flüssiges zu beschreiben und damit auf möglichst reifizierungssensible Weise mit den Kategorien ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ zu operieren“ (op. cit., S. 116).
Mit anderen Worten: Geschlechterkonstruktionen können als über die Zeit und im Durchgang durch unterschiedliche soziale Räume entstandene Habituskonfigurationen verstanden werden, die jedoch nicht statisch sind.
4 Präzisierung der Perspektiven und Fragestellungen für die empirische Untersuchung Präzisierung der Perspektiven und Fragestellungen Die vorangegangenen Ausführungen zu den Konzepten „Kongregationen als konjunktiver Erfahrungsraum“, „Geschlecht“ und „Biographie“ dienen dazu, das Begriffsinventar, mit dem operiert wird, und die damit verbundenen theoretischen Perspektiven, mit denen der Forschungsgegenstand untersucht werden soll, genauer zu fassen. Auch in einer rekonstruktiven und hypothesengenerierenden Untersuchung wird der Gegenstand durch die Bezugnahme auf theoretische Vorannahmen konstruiert (vgl. Thon 2008, S. 117). Theoretische Vorannahmen werden in der vorliegenden Studie als „sensibilisierende Konzepte“ (Glaser/Strauß 1998, S. 38) verstanden, als vorläufige Versionen der Konstruktion des Untersuchungsgegenstandes. Diese sollen in der forschungspraktischen Umsetzung aber veränderbar bleiben. Dennoch erlauben theoretische Vorannahmen eine Präzisierung der Frage, „was in der Auseinandersetzung mit der Empirie eigentlich ‚erfasst‘ werden soll“ (Thon 2008, S. 117). Im Zentrum dieser Untersuchung steht folgende Frage: Wie (re-)konstruieren katholische Kongregationsschwestern Geschlecht und die Geschlechterverhältnisse biographisch? Es geht darum, die Geschlechter(re)konstruktionen der Individuen unter der Bedingung der Kongregation als eines konjunktiven Erfahrungsraums zu analysieren. Vermutet wird also ein Zusammenhang zwischen Frauenkongregationen als spezifischem konjunktiven Erfahrungsraum und den Geschlechter(re)konstruktionen der Klosterfrauen. Das Leben im Kloster und das Leben als Klosterfrau ist ein Erfahrungsraum, den die Frauen gemeinsam teilen. Dieser konjunktive Erfahrungsraum strukturiert nicht nur den Lebenslauf, sondern beeinflusst auch die Art und Weise, wie, in Bezug auf welche Themen bzw. Orientierungsrahmen, Geschlecht und die Geschlechterverhältnisse biographisch (re-)konstruiert werden. In der vorliegenden
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Studie geht es nicht um schlichte Kausalbeziehungen zwischen religiösem Milieu und der Konstruktion von Geschlecht und den Geschlechterverhältnissen, sondern vielmehr um die Frage, wo sich „im Durchgang des Einzelnen durch unterschiedliche Bezugsgruppen, Wirklichkeitsbereiche, Erfahrungsräume oder Milieus“ (Bohnsack 2008, S. 115) Wandlungsprozesse hinsichtlich der (Re-)Konstruktion von Geschlecht und den Geschlechterverhältnissen ausmachen lassen. Es wird davon ausgegangen, dass Kongregationen eine äußerst prägende Wirkung auf die biographische Geschlechter(re)konstruktion haben. Besonders relevant ist der Übergang vom weltlichen zum klösterlichen Leben. Die Frauen müssen sich von familiären und freundschaftlichen Beziehungen, vom Beruf, von ihrer Wohnung usw. verabschieden und sich in ein neues Milieu einleben. Dies bedeutet auch, dass in einem neuen Kontext und Beziehungsrahmen „die Angemessenheit von Verhaltens- und Orientierungsmustern in komplexen Aushandlungs- und Interaktionsmustern erprobt und modifiziert“ werden muss. Dabei stehen auch „das Geschlecht bzw. die Geschlechtsidentität“ und die Geschlechterverhältnisse „auf dem Prüfstand“ (Bütow 2006, S. 45). Die Beantwortung der Frage, „wie Geschlecht im biographischen Prozess von konkreten Subjekten ‚gemacht‘ wird“ (Dausien 2002, S. 214), fokussiert aber nicht ausschließlich die „biographische Aneignung und Konstruktion von Geschlecht“ (op. cit., S. 209). Da Biographie und Geschlecht sich gegenseitig bedingen oder, mit Dausien formuliert (op. cit., S. 214), da „gesellschaftliche Konstruktionsmuster von Biographie mit Geschlechterkonstruktionen verknüpft sind bzw. die gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse in die biographischen Konstruktionsmuster eingebaut sind“, kann davon ausgegangen werden, dass biographische Erzählungen „geschlechtercodiert“, also „durch kulturelle Geschlechtertypisierungen ‚eingefärbt‘“ sind. Die erzählten Lebensgeschichten der Kongregationsschwestern werden – so ist zu vermuten – geschlechtsgebundene Erfahrungen, Differenzen und Typisierungen zutage fördern (vgl. op. cit., S. 207). Auch wenn nicht jede einzelne Erfahrung eindeutig an die Zugehörigkeit zu einer Geschlechterkategorie festgemacht werden kann, werden die Erfahrungen zu einer Lebensgeschichte verbunden, die eindeutig als Biographie eines bestimmten Geschlechts erkennbar ist. Die Biographien der Kongregationsschwestern sind somit „vergeschlechtlichte Konstruktionen“ (op. cit., S. 207). „Biographien sind also in ihrer Konstruktion an das Geschlecht gebunden, aber diese Bindung ist nicht kategorial determiniert, sondern im konkreten Fall individuell gestaltet“ (Dausein 2001, S, 71). Hinsichtlich des Erkenntnisinteresses und der oben formulierten Fragestellung lassen sich nun zwei theoretische Analyseperspektiven ausmachen, die nicht als klar definierte Konzepte, sondern als heuristische Werkzeuge, „als
P RÄZISIERUNG
DER
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breite Scheinwerferkegel“ (Schirmer 2010, S.66) fungieren: einerseits „die Frage nach biographischen Modi der Geschlechterkonstruktionen“ und andererseits „die Frage nach vergeschlechtlichten Konstruktionsmustern von Biographie“ (Dausien 2002, S. 207; Herv. i. O.). Beide Perspektiven interessieren in der vorliegenden Arbeit durchgängig in ihrem Zusammenwirken. Ihre Unterscheidung ist eine analytische, die mit Blick auf die empirische Untersuchung nicht aufrechterhalten werden kann. Geschlecht und Biographie, Aneignung und Einfärbung können in der Analyse nur in ihrer Verschränktheit erfasst werden. Nebst der Rekonstruktion der wechselseitigen Konstitution von Biographie und Geschlecht können auf der Ebene der Erzählperspektive weitere für die vorliegende Untersuchung wesentliche Aspekte formuliert werden. Zum einen handelt es sich dabei um „lebensweltlich relevante Kontexte biographischer Geschlechterkonstruktionen“ (op. cit., S. 258), die in dieser Arbeit als konjunktive Erfahrungsräume beschrieben werden (vgl. Kap. 3.1). (Soziale) Räume sind nach Geschlecht strukturiert, und Geschlecht wird durch die Konstruktion von (sozialen) Räumen erzeugt (vgl. Dausien 2002, S. 259). Biographische Erfahrungen hinsichtlich Geschlecht und der Geschlechterverhältnisse stehen also, wie oben im Zusammenhang mit dem Erfahrungsraum Kloster bereits erwähnt, in Abhängigkeit von konjunktiven Erfahrungsräumen (und den darin eingelassenen Beziehungen), in denen sie hervorgebracht und reproduziert werden. Zum anderen handelt es sich um den für einen biographischen Zugang zentralen Aspekt der Zeitlichkeit. „Die Frage, wie Vergangenheit und Zukunft in Lebensgeschichten konstruiert werden und wie sich in zeitlicher Perspektive Erfahrungshaltungen und biographische Entwürfe herausbilden, kann auch am empirischen Material mit der Frage verbunden werden, wie sich diese Konstruktionen an geschlechtsbezogenen Erfahrungen festmachen“ (op. cit., S. 257). Dabei geht es um Fragen, wie mit gesellschaftlich geschlechtercodierten Erwartungsfahrplänen umgegangen wird und wie die Individuen ihre „eigene“ biographische Zeitstruktur aufbauen, revidieren, verändern oder neu entwerfen. Die aus den theoretischen Implikationen abgeleiteten Analyseperspektiven erlauben eine Differenzierung der offen formulierten Fragestellung: • Welche sozialen Beziehungen, sozialen Gruppen, Kollektive, Institutionen und
Milieus (Eltern bzw. Herkunftsfamilie, Freunde, Schule, Kloster usw.) werden thematisiert, in welcher Art und Weise thematisiert, nicht thematisiert? • Welche Orientierungen in Bezug auf Geschlecht und die Geschlechterverhältnisse zeigen sich innerhalb der thematisierten konjunktiven Erfahrungsräume? • Wie werden Geschlecht und die Geschlechterverhältnisse in der Biographie produziert, reproduziert, modifiziert?
62 | A NDERE W EIBLICHKEITEN • In welcher Art und Weise werden Orientierungen hinsichtlich Geschlecht und
der Geschlechterverhältnisse biographisch relevant? • Wie werden geschlechtsgebundene Erfahrungen und Erlebnisse thematisiert? • Lassen sich in der erzählten Lebensgeschichte Lebensentwürfe finden? Welche
und wie werden diese thematisiert? • Auf welche Weise wird in der Lebensgeschichte bzw. in den präsentierten
•
• • •
Erfahrungen und Erlebnissen auf gesellschaftliche (geschlechtercodierte) Erwartungen und Erwartungsfahrpläne Bezug genommen? Wie werden ggf. Widersprüche zwischen den gesellschaftlichen (geschlechtercodierten) Erwartungen bzw. Erwartungsfahrplänen und dem eigenen Lebensentwurf, der eigenen biographischen Zeitstruktur thematisiert? Wie werden ggf. Widersprüche zwischen den Erwartungen des Klosters und den eigenen (Zukunfts-)Orientierungen thematisiert? Wie wird Kontinuität hergestellt, und wie wird mit Kontinuitätsabbrüchen umgegangen? Wie werden die Erfahrungen und Erlebnisse zu einer Lebensgeschichte verbunden, die eindeutig als Biographie einer (Kloster-)Frau erkennbar ist?
Bettina Dausien (1994, S. 129) versteht unter Biographieforschung sowohl ein „komplexes theoretisches Rahmenkonzept“ als auch unterschiedliche methodische Verfahren. Letztlich sind beide Aspekte voneinander abhängig. Welche Methoden für die Datenerhebung und Datenauswertung gewählt werden, begründet sich aus der wissenschaftlichen Vorstellung von Biographie (und Geschlecht). Die aus den theoretischen Grundlagen herausgearbeiteten Forschungsfragen sollen in der vorliegenden Arbeit auf der Basis der rekonstruktiven Sozialforschung bearbeitet werden. Methodologie und konkrete methodische Umsetzung ist Thema des nächsten Kapitels.
5 Methodologie und Methoden Methodologie und Methoden Das dargelegte Erkenntnisinteresse erfordert ein methodisches Vorgehen, das den Aspekt der sozialen Konstruktion (von Geschlecht) sowohl auf der Ebene der sozialen Institution (Lebenslauf) als auch auf derjenigen der Sinnstruktur (Lebensgeschichte) zu erfassen vermag (vgl. Dausien 2000, S. 105) und diese Konstruktion als Produkt und als Prozess analysiert. Es genügt also nicht, Eckdaten des Lebenslaufs oder wichtige Lebensereignisse zu erfragen und damit allenfalls eigene Vorurteile zu reproduzieren. Es reicht nicht aus, die Biographie bzw. die subjektiven Erfahrungen und Selbstdeutungen schlicht nachzuzeichnen. Gefordert ist eine Datenerhebungsmethode, die den Einfluss der Forscherin zurücknimmt, ohne die Reflexion über die aktive Beteiligung der Forscherin an der Konstruktion der Lebensgeschichte zu vernachlässigen (vgl. ibid.), sowie eine Datenauswertungsmethode, die der Komplexität des Forschungsvorhabens gerecht wird. Methoden der rekonstruktiven Sozialforschung stellen geeignete Instrumentarien bereit, mit denen „die expliziten Deutungen und impliziten Erfahrungsinhalte (‚was‘) mit der biographischen Prozessstruktur und ihrer narrativen Rekonstruktion (‚wie‘) in Beziehung gesetzt werden“ (ibid.) können. Im Folgenden wird die empirische Vorgehensweise begründet und die Arbeit im Feld, die Datenerhebung sowie die Verarbeitung des Datenmaterials dargelegt.
5.1 R EKONSTRUKTIVE S OZIALFORSCHUNG Die vorliegende Untersuchung bewegt sich innerhalb der Maximen und Grundsätze des interpretativen Paradigmas, in dem davon ausgegangen wird, „dass jegliche soziale Ordnung auf interpretativen Leistungen der Handelnden beruht“ (Meuser 2003, S. 93). Damit ist die Auffassung verbunden, dass soziale Wirklichkeit gesellschaftlich konstruiert ist (vgl. Berger/Luckmann 1969). Diese Grundannahmen fordern ein bestimmtes Verständnis empirischer Forschung,
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„das sich insbesondere durch die methodologische Reflexion des Bezuges zwischen Forschung und sozialen Phänomenen (‚Forschungsgegenstand‘) auszeichnet“ (Dausien 2002, S. 163). Gemeint sind Methoden der rekonstruktiven Sozialforschung. Methodologisch orientiert sich die rekonstruktive Sozialforschung maßgeblich an Alfred Schütz (1971, S. 6), der davon ausgeht, dass sich soziale Wirklichkeit im Alltagshandeln der Subjekte konstituiert bzw. dass die Menschen selbst Interpretationen über ihre Alltagswelt hervorbringen. Die Aufgabe der rekonstruktiven Verfahren ist es, diese impliziten Wissensbestände und Regeln sozialen Handelns zu rekonstruieren (vgl. Meuser 2003, S. 140). „Um diese soziale Wirklichkeit zu erfassen, müssen die vom Sozialwissenschaftler konstruierten gedanklichen Gegenstände auf denen aufbauen, die im Alltagsverstand des Menschen konstruiert werden, der sein tägliches Leben in der Sozialwelt erlebt. Daher sind die Konstruktionen der Sozialwissenschaften sozusagen Konstruktionen zweiten Grades, das heißt Konstruktionen von Konstruktionen jener Handelnden im Sozialfeld, deren Verhalten der Sozialwissenschaftler beobachten und erklären muss, und zwar in Übereinstimmung mit den Verfahrensregeln seiner Wissenschaft“ (Schütz 1971, S. 68).
Rekonstruktive Sozialforschung schließt also an der Alltagspraxis und am Alltagshandeln der Akteure an, wobei diese Alltagswelt eine durch Konstruktionen vorstrukturierte ist (vgl. Thon 2008, S. 124). Bei diesen Wirklichkeitskonstruktionen handelt es sich in der Regel nicht um „bewusst vorgenommene und intentional gesteuerte Akte“ (Meuser 2003, S. 140), sondern um ein routiniertes bzw. „habitualisiertes Handeln“ (Bohnsack et al. 1995, S. 11). Das Wissen über solche Handlungsroutinen nennt Michael Polanyi (1985, S. 14) „stillschweigendes“ oder „implizites Wissen“, Mannheim (1980, S. 73) spricht von „atheoretischem Wissen“. In unserer Handlungspraxis verfügen wir über dieses implizite oder atheoretische Wissen, ohne dass wir es explizieren müssen oder können. „Bereits jede Form praktischer Geschicklichkeit, wie z. B. diejenige, sich beim Radfahren im Gleichgewicht halten zu können, setzen Fähigkeiten unausdrücklichen Erkennens voraus. Der Radfahrer beherrscht die Fertigkeit, sich im Sattel zu halten, ohne die Regel, die diesem Verhalten zugrunde liegt, durch die entsprechende mathematische Formel ausdrücken zu können“ (Bohnsack 2008, S. 191).
Da den Forschungssubjekten das implizite Wissen nicht unmittelbar zugänglich ist, kann die Art und Weise, wie diese ihre Welt konstruieren, nicht abgefragt werden. Folglich sind empirische Verfahrensweisen „auf der Basis der Beobach-
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tung von Handlung sowie von symbolischen Repräsentationen des Handelns“ (Meuser 203, S. 141) vonnöten, „die einen verstehenden Nachvollzug der Relevanzstrukturen, die dem Handeln der Akteure zugrunde liegen“ (ibid.), ermöglichen. Deshalb verwendet die rekonstruktive Sozialforschung offene, nichtstandardisierte Datenerhebungsverfahren, welche die Strukturierung der Kommunikation weitgehend den Forschungssubjekten überlässt. Die Befragten erhalten somit die Möglichkeit, „ihr Relevanzsystem und ihr kommunikatives Regelsystem“ (Bohnsack 2008, S. 21; Herv. d. A.) zu entfalten. Christina HoffmannRiem (1980, S. 343f.) nennt dies „das Prinzip der Kommunikation“. Ein weiteres Prinzip der rekonstruktiven Sozialforschung ist dasjenige der Offenheit. Dieses fordert die Zurückstellung der theoretischen Strukturierung des Forschungsgegenstandes, bis sich dessen Strukturierung durch die Forschungssubjekte herausgebildet hat (vgl. op. cit., S. 346). Damit ist ein grundsätzlich anderes Verständnis des Theorie-Empirie-Verhältnisses gefragt, als dies im hypothetiko-deduktiven Paradigma der Fall ist. Im Gegensatz zum hypothetiko-deduktiven Forschungsparadigma geht es im vorliegenden Ansatz nicht um die Überprüfung von vorab gebildeten Theorie-Hypothesen am Material, sondern um die Entdeckung von Theorie in der Auseinandersetzung mit dem Feld bzw. aus den Interpretationen des Forschungsmaterials. „Wissenschaftliche Konstruktionen werden also nicht vorausgesetzt, sondern schließen auch insofern an alltagsweltliche Konstruktionen an, als sie in der Auseinandersetzung mit ihnen entwickelt werden. Am empirischen Material sollen neue Einsichten gewonnen werden, Zusammenhänge entdeckt und Hypothesen formuliert werden“ (Thon 2008, S. 126). Dieser Form der Theoriebildung liegt eine abduktive Forschungslogik zugrunde. Diese impliziert, dass ForscherInnen nicht von der Vorstellung geleitet sind, von Beginn weg über dieselben Wissensbestände zu verfügen wie die Erforschten. Im Gegenteil, gerade dies wird zur empirischen Frage gemacht. Die Aufgabe einer rekonstruktiven Sozialforschung, wie sie hier vorliegt, besteht darin, aus den Darstellungsformen der Interviewten diejenigen Regeln und Orientierungsmuster zu rekonstruieren, die ihnen zwar wissensmäßig verfügbar sind (implizites Wissen), die sie selbst aber meist nicht zu explizieren vermögen (vgl. Bohnsack 2008, S. 198). Der Erkenntnisanspruch dieses Ansatzes besteht darin, „Regelsysteme zu rekonstruieren“ (ibid.). In dieser Forschungslogik wird aber nicht jenseits vom Wissen, sondern gerade am (impliziten) Wissen der Akteure angesetzt. „Forscher(innen) gehen hier nicht von vornherein davon aus, dass sie mehr wissen als die Erforschten, sondern zunächst davon, dass die Erforschten selbst nicht wissen, was sie da eigentlich alles wissen“ (ibid.).
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Die sozialwissenschaftliche Forschung findet ihren Gegenstand jedoch nicht einfach vor. Konstruktionen „zweiten Grades“ stehen „nicht in einem Abbildungsverhältnis zur sozialen Wirklichkeit“ (Thon 2008, S. 124). Die theoretische Reformulierung dieser impliziten Wissensbestände und impliziten Regeln des Handelns ist keine schlichte Reproduktion alltagsweltlicher Konstruktionen, sondern „eine reflexive, kritisch-analytische Rekonstruktion von Konstruktionen ‚ersten Grades‘ sowie der Bedingungen, unter denen diese hergestellt und relevant gemacht werden, ausbleiben oder sich verändern“ (Dausien 2002, S. 170f.). Ferner bezieht sich der Anspruch auf Reflexivität auf den gesamten Forschungsprozess. Folglich muss die rekonstruktive Sozialforschung ihren analytischen Blick immer auch auf sich selbst richten (vgl. Thon 2008, S. 125).
5.2 Z UR ARBEIT IM F ELD : Z UGANG , AUSWAHL DER I NTERVIEWPARTNERINNEN , K ONTAKTAUFNAHME UND I NTERVIEWSITUATION Aufgrund persönlicher biographischer Erfahrungen war zu vermuten, dass sich der Feldzugang mit dem vorliegenden Erkenntnisinteresse als eher schwierig gestalten würde. Dies führte dazu, dass bereits vor der Konzeptionalisierung des Projekts Kontakt mit einer vorgängig bekannten Kongregationsschwester aufgenommen wurde, um Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Untersuchung sowie Art und Weise des Feldzugangs zu besprechen. Die Ausführungen der Schwester bestärkten das Vorhaben und machten zudem auf die Eigenlogik des Forschungsfeldes aufmerksam. Dank dieses Vorgesprächs und weiterführender Lektüre wurden zwei Eingrenzungen des Forschungsfeldes vorgenommen. Die erste Eingrenzung ist historischer Natur und betrifft die Entscheidung, ausschließlich Kongregationsschwestern zu untersuchen, nicht aber Schwestern aus kontemplativen Gemeinschaften (vgl. hierzu Kap. 1). Die zweite Eingrenzung ist eine arbeitspraktische: Um Übersetzungsprobleme zu vermeiden, wurde das Untersuchungsgebiet auf die deutschsprachige Schweiz begrenzt. Weiter führte die erste Sensibilisierung für das Feld dazu, den Zugang über sogenannte Schlüsselpersonen zu suchen. Im vorliegenden Fall sind dies die Leiterinnen der jeweiligen Ordensgemeinschaften (Generaloberin, Provinzoberin). Über ranghohe Vertreterinnen der Gemeinschaften an Informantinnen zu gelangen, kann jedoch problematisch sein. Wenn die Interviewerin als Abgesandte des „Heiligen
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Flurs“1 betrachtet wird, besteht die Gefahr, dass die Schwestern nicht mehr offen, sondern strategisch kommunizieren. Kongregationen sind jedoch hierarchisch aufgebaut. Da Entscheidungen, welche die Gemeinschaft, aber auch einzelne Schwestern betreffen, von der Leitung getroffen werden, war es unumgänglich, eine offizielle Bewilligung für das Vorhaben einzuholen.2 Ein erster telefonischer Kontakt mit der jeweiligen Generaloberin diente dazu, das Dissertationsprojekt in aller Kürze vorzustellen und einen Termin mit der Leitung zu vereinbaren. Drei Gemeinschaften zeigten von Beginn weg kein Interesse, bei acht Klöstern kam es zu einer Besprechung im jeweiligen Mutterhaus. Die Hälfte der anschließenden Gespräche wurde mit der jeweiligen Generaloberin, drei Gespräche mit einer Schwester aus dem Leitungsgremium und eines mit der gesamten Generalleitung geführt. In diesen Gesprächen wurden die Schwestern ausführlich über das Erkenntnisinteresse, über die Art und Weise der Datenerhebung, über die Verwendung der Daten und über die Rolle der Forscherin informiert. Darüber hinaus konnten Fragen der Ordensschwestern besprochen, Ängste und Unsicherheiten (bezüglich der Motive eines solchen Forschungsvorhabens, aber auch hinsichtlich der Anonymisierung und der Veröffentlichung der Arbeit) ausgeräumt werden. Am Ende des Termins wurden jeweils Abmachungen über das weitere Vorgehen getroffen (potenzielle Interviewpartnerinnen, Zeitraum der Datenerhebung usw.). Nach den Gesprächen erhielten die Vertreterinnen der jeweiligen Frauengemeinschaften ein weiteres Schreiben mit den getroffenen Vereinbarungen. Die Besuche in den Mutterhäusern ermöglichten zudem eine explorative Felderschließung. Die Gespräche, die anschließenden Führungen durch die jeweiligen Gemeinschaften und die ausgehändigten Informationsbroschüren (Lebensweise der Schwestern, spirituelle Ausrichtung, Gründungsgeschichte) gestatteten einen Einblick in die klösterlichen Kontexte. Die Kontaktaufnahme mit den Interviewpartnerinnen verlief entsprechend den Abmachungen unterschiedlich. In einigen Frauengemeinschaften wurden die Interviewpartnerinnen vermittelt, in anderen wiederum konnte eine eigenständige Auswahl getroffen werden. Die von der Klosterleitung vermittelten Ordensschwestern wurden im Vorfeld über das Forschungsvorhaben und die Integrität der Forscherin informiert. Die Kontaktaufnahme bestand hauptsächlich darin, den Interviewtermin festzulegen. Die Befürchtung, dass die vom Kloster vermittelten Schwestern nicht mehr offen, sondern strategisch kommunizieren würden, hat sich – soweit sich das beurteilen lässt – nicht bestätigt.
1
Bezeichnung für den Sitz der Leitungsebene (vgl. Hüwelmeier 2004, S. 25).
2
Vgl. hierzu Kap. 2.
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Der Vorteil der direkten Kontaktaufnahme liegt darin, dass die Forscherin den Kontakt und die Beziehung zur Interviewpartnerin von Beginn weg (mit-)strukturieren kann (vgl. Przyborski/Wohrab-Sahr 2009, S. 73). Im vorliegenden Fall mussten aber Unsicherheiten hinsichtlich des Forschungsvorhabens in verstärktem Maße ausgeräumt werden. Aufseiten der potenziellen Interviewpartnerinnen kam es zu kritischen Fragen in Bezug auf das Erkenntnisinteresse, die Fragestellung und das dahinter liegende Menschenbild sowie zu kontroversen Diskussionen über die Vor- und Nachteile eines sozialwissenschaftlichen Zugangs zum Thema. Teilweise waren im Vorfeld des Interviewtermins mehrere telefonische Gespräche oder Gespräche vor Ort nötig. Einige Schwestern haben sich eine Bedenkzeit ausbedungen, drei Schwestern lehnten das Interview aufgrund einer möglichen Erkennbarkeit trotz Anonymisierung und aufgrund der zeitlichen Belastung ab. Insgesamt wurden mit zwölf Schwestern aus sechs unterschiedlichen Gemeinschaften verbindliche Vereinbarungen für ein biographisches Interview getroffen.3 Es wurde darauf geachtet, dass die Interviewpartnerinnen aus Gemeinschaften mit unterschiedlicher Spiritualität4 kommen, dass sie unterschiedlichen Generationen angehören und verschiedene Tätigkeiten ausführen bzw. unterschiedliche Funktionen innehaben. Die Interviews fanden am jeweiligen Wohn- und Wirkungsort der Schwestern statt, entweder im Mutterhaus der Gemeinschaft oder in einer Außenstation. Dies erwies sich aus mehreren Gründen als geeignet: Erstens wurde die zeitliche Belastbarkeit der Schwestern nicht überstrapaziert, zweitens konnte ein Einblick in den Lebens- und Arbeitskontext der Schwestern gewonnen werden. Oftmals folgte auf das Interview eine Führung durch die Innen- und Außenräumlichkeiten, Gerüche, Farben und Stimmungen der Orte konnten aufgenommen werden, und es kam zu Kontakten und zu Gesprächen mit Mitschwestern. Drittens hat sich gezeigt, dass sich die Schwestern in ihrer gewohnten Umgebung sicher fühlten und durch das Ausüben der Gastgeberinnenrolle aktiv zur Gestaltung der Erhebungssituation beitragen konnten. Und viertens verfügen die katholischen Kongregationen über ideale Räumlichkeiten für eine Datenerhebung. Ob im Mutterhaus oder in einer Außenstation, überall sind genügend Besprechungszimmer vorhanden, in denen ungestört gearbeitet werden kann.
3
Letztlich wurden sieben Interviews einer reflektierenden Interpretation unterzogen resp. für die Verallgemeinerung der Ergebnisse berücksichtigt. Ein Interview wurde aus nicht geklärten Gründen nicht aufgezeichnet, und vier weitere Interviews mussten nach dem ersten Analyseschritt ausgeschlossen werden (vgl. Kap. 5.6).
4
U. a. franziskanische, dominikanische und ignatianische Spiritualität.
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Die Begrüßung der Schwestern war meist herzlich, begleitet von einer gespannten Neugier auf das kommende Gespräch. Nach dem Austausch von einigen Höflichkeiten wurde die Forscherin in ein Zimmer geführt, in dem in der Regel Getränke auf dem Tisch standen. Nach dem Einrichten des Aufnahmegerätes wurden nochmals letzte Fragen geklärt und anschließend mit der Erzählaufforderung für das biographische Interview begonnen (vgl. Kap. 5.4). Während der Interviewpause oder nach dem Interview gab es meist Kaffee oder Mittagessen. Dies war jeweils eine gute Gelegenheit für weiterführende Gespräche. Am Ende der Begegnung meldeten die meisten Schwestern Interesse an der fertiggestellten Arbeit an. Notizen über die Gespräche mit den Interviewpartnerinnen, mit Mitschwestern und den Oberinnen im Vorfeld des Interviews wie auch Beobachtungen, Kontextinformationen und Rollen-Reflexionen wurden im Forschungstagebuch festgehalten.
5.3 BIOGRAPHIE UND KONJUNKTIVER E RFAHRUNGSRAUM Wenn Phänomene konjunktiver Erfahrungsräume untersucht werden sollen, stellt sich die Frage nach einem geeigneten Zugang. Bohnsack plädiert dafür, „Milieus im Sinne konjunktiver Erfahrungsräume und kollektiver Habitus“ (Bohnsack 2008, S. 112f.) mit der dokumentarischen Interpretation von Gruppendiskussionen zu analysieren. Er begründet dies damit, dass Gruppendiskussionen einen validen Zugang zu kollektiven Sinnzusammenhängen milieuspezifischer Erfahrungsräume bieten. „Sinnzusammenhänge artikulieren sich in ‚zeremoniellen‘, also habitualisierten, d. h. immer wieder reproduzierten Handlungspraktiken des Diskurses“ (op. cit., S. 63; Herv. i. O.). Bohnsack macht aber auch deutlich, dass Milieuanalyse immer auch Biographieanalyse ist (op. cit., S. 114; Herv. i. O.): „Zum einen, indem […] Milieus oder konjunktive Erfahrungsräume sich auf der Grundlage lebensgeschichtlicher Gemeinsamkeiten konstituieren, und zum anderen, indem diese Erfahrungsräume sich durch Gemeinsamkeiten biographischer Entwürfe oder Orientierungen, also Gemeinsamkeiten im Hinblick auf das ‚soziale Konstrukt Biographie‘ (Fischer/Kohli 1987) auszeichnen.“ Wenn dem so ist, müsste es umgekehrt auch möglich sein, mit einem biographischen Zugang etwas über kollektive Orientierungen in konjunktiven Erfahrungsräumen zu erfahren. „Biographien“ – so Bettina Dausien – „sind individuelle Geschichten, die in einem historisch-sozialen Kontext verortet sind.“ Die „biographieanalytische Perspektive [ist] mit der Analyse gesellschaftlicher Strukturen und sozialer Kontexte
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verbunden“ (Dausien 2006a, S. 37). Erinnern wir uns nochmals an Mannheim, der sagt: „Das menschliche Denken“ – und hierzu gehört auch das biographische Wissen – „konstituiert sich nicht freischwebend im sozial freien Raume, sondern ist im Gegenteil stets an einem bestimmten Orte in diesem verwurzelt“ (Mannheim 1965, S. 73). Indem uns Biographien nicht nur empirischen Zugang zu individuellen Konstruktionen, sondern auch zu gesellschaftlichen Strukturen und sozialen Kontexten, also zu bestimmten Orten im sozialen Raum ermöglichen, eröffnen sie uns auch einen Zugang zu gemeinsam geteilten Orientierungen. Bohnsack unterscheidet zwei Arten von Kollektivität: zum einen gesamtgesellschaftliche Entwicklungsabläufe und zum anderen jene Kollektivität, durch die die gemeinsame Erlebnisschichtung geprägt ist. Biographieanalyse ziele auf erstere, Milieuanalyse auf letztere Art der Kollektivität (vgl. Bohnsack 2008, S. 119). Gesamtgesellschaftliche Verhältnisse werden aber immer auch über soziale Kontexte vermittelt bzw. innerhalb dieser Kontexte ver- und bearbeitet. Es geht hier um die Frage, wie bzw. in welcher Art und Weise der Einzelne biographisch auf gesamtgesellschaftliche Realitäten Bezug nimmt „im Durchgang durch jene für ihn bedeutsamen milieu- und generationsspezifischen Erfahrungsräume“ (op. cit., S. 120). Da das religiöse Milieu der katholischen Frauenkongregationen ein konjunktiver Erfahrungsraum besonderer Art ist, der sich über nahezu alle Lebensbereiche erstreckt (vgl. Kap. 3.1), und die Interviewpartnerinnen ihre Lebensgeschichte zudem als Kongregationsschwestern, also aus der Perspektive der Angehörigen dieses konjunktiven Erfahrungsraumes erzählen, wird in der vorliegenden Studie davon ausgegangen, dass auch kollektive Orientierungen aus den Biographien zu rekonstruieren sind. Bohnsack räumt denn auch ein, dass „[…] eine empirische Ausdifferenzierung unterschiedlicher kollektiver Erfahrungsräume prinzipiell auch auf der Basis von in autobiographischen Interviews produzierten Texten (auf dem Wege der komparativen Analyse) möglich [sei]. Allerdings müssen sie dort aus dem primären Erfahrungsrahmen einer an der individuellen, d. h. auf die eigene Persönlichkeitsentwicklung oder biographische Gesamtformung bezogenen Thematisierung des Lebens in analytischer Abstraktion erst herausgelöst werden“ (ibid.; Herv. i. O.).
Freilich würde eine auf der Grundlage von Gruppendiskussionen geführte Milieuanalyse von vornherein den primären kollektiven Erfahrungsrahmen im Sinne des konjunktiven Erfahrungsraums der katholischen Kongregationen bedienen (vgl. op. cit., S. 120f.), jedoch um den Preis der zeitlichen Tiefendimension, welche die biographischen Entwicklungen über die Lebenszeit hinweg zugänglich macht, und um den Preis der individuellen Konstruktionen der Ordens-
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schwestern (vgl. Thon 2008, S. 85f.). In der vorliegenden Studie geht es nicht nur um die Frage des „Gewordenseins“, also nicht nur um eine Momentaufnahme des primären kollektiven Erfahrungsrahmens hinsichtlich Geschlecht und der Geschlechterverhältnisse sondern auch um die Frage des „Werdens“ der Individuen zu dem, was sie heute sind.
5.4 B IOGRAPHISCHE I NTERVIEWS Rekonstruktive Sozialforschung, wie sie in der vorliegenden Arbeit umgesetzt wird, ist auf Datenmaterial angewiesen, das den Sinnkonstruktionen und Handlungen der Erforschten Rechnung trägt, d. h., dass den Interviewpartnerinnen die Möglichkeit geboten wird, ihre Geschichte nach ihren Relevanzgesichtspunkten und nicht nach denjenigen der Forscherinnen zu entfalten (vgl. Thon 2008, S. 134). Dies bedeutet, dass einem sogenannt offenen, möglichst nicht vorstrukturierenden Erhebungsverfahren der Vorzug gegeben wird (vgl. Kap. 5.1). Aufgrund des dargelegten Erkenntnisinteresses und der methodologischen Prämissen wurde für die vorliegende Untersuchung die Erhebungsmethode des biographisch-narrativen Interviews gewählt, angelehnt an die Konzeption von Fritz Schütze (1983a). Dieses Erhebungsverfahren zeichnet sich geradezu dadurch aus, dass es der Interviewpartnerin ermöglicht, ihre Lebensgeschichte entlang selbst erfahrener Abläufe zu erzählen und entsprechend der eigenen Logik und relevanten Themen zu ordnen (vgl. Jakob 1997, S. 448). Des Weiteren bietet dieses Erhebungsverfahren den Individuen die Möglichkeit, die mit ihren biographischen Handlungen verbundenen eigenerlebten Erfahrungen zur Artikulation zu bringen. „Dabei ist es also auch Ziel der Erzählanalyse des narrativen Interviews, zu den Orientierungsstrukturen vergangenen Handelns und Erleidens vorzudringen, also zu jener mit (auch weit zurückliegendem) biographischem Handeln unmittelbar verbundenen Erfahrung, welche von der zum Zeitpunkt der Erzählung sich vollziehenden Erfahrungsrekapitulation zwar überformt ist […], diese Überformung aber (vor allem aufgrund der Ausdifferenzierung von Erzähl- und Argumentationsschema) als solche erkennbar bleibt“ (Bohnsack 2008, S. 102f.; Herv. i. O.).
Schütze gliedert das autobiographisch-narrative Interview in drei Teile: die Eingangserzählung, den narrativen und den argumentativ-beschreibenden Nachfrageteil. Eröffnet wird das Interview durch eine offen gehaltene „autobiographisch orientierte Erzählaufforderung“ (Schütze 1983a, S. 285), welche die Erzählung stimulieren soll. Da die vorliegende Unter-suchung auf den Gesamtzusammenhang
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der Biographie ausgerichtet ist, wurde nicht nur um die Erzählung einer spezifischen Lebensphase, sondern um die Darstellung der vollständigen Lebensgeschichte gebeten: „Ich möcht Sie bitte, mier ihri Lebensgschicht zverzälle.“ In den ersten Interviews wurde dem Erzählstimulus folgender Nachsatz angefügt: „vo Afang a bis zum hütige Tag, so wie sich eis nach em andere ergäh het“. In dieser Beifügung steckt die Erwartung, dass die Lebensgeschichte chronologisch und konsekutionslogisch zu erzählen sei, was aber möglicherweise der Eigenlogik der Interviewten widerspricht. Im Interview mit Sr. Heidi zeigt sich bspw., dass sie immer wieder versucht, ihre Erzählung in der „richtigen“ zeitlichen Reihenfolge darzustellen. Dies wird durch Metakommunikationen geäußert, die an die Interviewerin und an sie selbst gerichtet und damit der formulierten Erwartung der Interviewerin geschuldet sind: „ja also am bestä fangt mer wahrschiindli bi minere Geburt a“ und „jetzt sött ich dänk wieder zrug uf mini Chindheit“. Die Änderung des Erzählstimulus führte dazu, dass sich andere Logiken der biographischen Erzählung entwickeln konnten. Sr. Nadja bspw. wählte für ihre Erzählung neben der zeitlichen eine thematische Struktur. Auf die Einstiegsfrage folgt die autobiographische Haupt- bzw. Stegreiferzählung. Während des autobiographischen Erzählens wirken sogenannte „Zugzwänge des Erzählens“ (Kallmeyer/Schütze 1977) als zentrale Ordnungsprinzipien der Darstellung. Diese Zugzwänge (Detaillierungs-, Gestaltungsschließungs- sowie Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang) sorgen dafür, dass die biographische Stegreiferzählung in verständlicher und plausibler Form erzählt wird. Darüber hinaus ermöglichen die Zugzwänge des Erzählens die Entwicklung der oben erwähnten Eigendynamik, „in der […] von der situativen Selbstdarstellung relativ unabhängige, für die Identität des Erzählers fundamentalere Ebenen bereits abgearbeiteter Erfahrung freigesetzt werden – und dies gerade in jenen Sequenzen, die nicht theoretisch-reflexiv überformt sind, also in den rein narrativen Sequenzen“ (Bohnsack 2008, S. 94; Herv. i. O.). Damit diese oft weit zurückliegenden Ereignisse und Erfahrungen der Schwestern freigesetzt werden konnten, wurde der Erzählvorgang möglichst nicht unterbrochen. Die Aufgabe der Interviewerin bestand darin, durch aufmerksames Zuhören und entsprechende Signale (Mimik, Lachen, Seufzen usw.) die Erzählerin zu unterstützen (vgl. u. a. Glinka 2003, S. 12-15). Darüber hinaus wurden Notizen für den Nachfrageteil gemacht. Die Haupterzählung endet in der Regel mit einer Erzählkoda, wie z. B. folgender aus dem Interview mit Sr. Ruth: „aber jetzt chum=i en=Art wie chli is: //ja// (.) stagniere, wo gahts jetzt wiiter //mhm// oder was sell=i da no erwähne; //mhm// aber villicht händ sie=itzt öpe die eint oder ander //ja?// Frag;“. An dieser Stelle bewährt es sich, nicht sogleich mit dem Nachfrageteil zu beginnen,
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sondern abzuwarten, ob die Erzählerin tatsächlich die Darstellung ihrer Lebensgeschichte beendet hat (vgl. Nohl 2008, S. 24). Obwohl das Erzählen der gesamten Lebensgeschichte keine alltägliche Situation darstellt, haben alle Ordensschwestern die Aufgabe gut bewältigt. Da die Eingangserzählung sowohl für die Erzählerin als auch für die Zuhörerin höchste Konzentration erfordert, wurde zwischen der Haupterzählung und dem Nachfrageteil in der Regel eine Pause eingelegt. Der Vorteil liegt darin, dass die Ermüdungserscheinungen tatsächlich dezimiert werden können, schwierig ist hingegen die Kommunikation in der Pause. Es musste vermieden werden, über das Interview bzw. über Themen der Lebensgeschichte zu sprechen, da diese ansonsten im folgenden Teil des Interviews nicht mehr bearbeitet werden können. Im Nachfrageteil wurden als Erstes immanente Nachfragen gestellt, Fragen, die sich auf Brüche, Unklarheiten, Auslassungen usw. in der biographischen Erzählung beziehen. Dabei handelt es sich um „Fragen mit narrativer Generierkraft“ (Glinka 2003, S. 15). Um dies zu erreichen, wurde „zunächst einmal der status quo ante im Erzählvorgang wiederhergestellt“ (Schütze 1983a, S. 285) und anschließend die Interviewpartnerin zu weiteren bzw. ausführlicheren Erzählungen angeregt (vgl. ibid.), wie dies im folgenden Beispiel aus dem Interview mit Sr. Luisa zu sehen ist: „was mi au no würd intressiere (.) äm (.) sie händ verzellt ka, wiä ihrä Fründeschreis, (.) reagiert het (.) positiv reagiert het, (1) wo sie gseit hend (.) definitiv gseit hend (1) dass sie (.) i z’Chloster gönd, (1) wiä het ihri Familiä uf das reagiert“. Sobald das narrative Potenzial des Interviews ausgeschöpft ist (vgl. Glinka 2003, S. 17), wird auf den argumentativ-beschreibenden Nachfrageteil gewechselt. Dieser „[…] besteht einerseits aus der Aufforderung zur abstrahierenden Beschreibung von Zuständen, immer wiederkehrenden Abläufen und systematischen Zusammenhängen sowie aus den entsprechenden Darstellungen des Informanten sowie andererseits aus theoretischen Warum-Fragen und ihrer argumentativen Beantwortung. Es geht nunmehr um die Nutzung der Erklärungs- und Abstraktionsfähigkeit des Informanten als Experte und Theoretiker seiner selbst“ (Schütze 1983a, S. 285).
Die Fragen des argumentativ-beschreibenden Teils können ebenfalls immanent sein, es dürfen aber auch Themen angesprochen werden, die von der Erzählerin noch nicht erwähnt wurden, für die Fragestellung aber relevant sind (vgl. Jakob 1997, S. 450). Das folgende Beispiel ist eine argumentativ-beschreibende Nachfrage aus dem Interview mit Sr. Ivana: „was dänked sie wieso (.) wähled hüt viel weniger Fraue (.) ähm dä Weg i nä Frauegmeinschaft“.
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Auch den beiden Nachfrageteilen widmeten sich die meisten Schwestern mit größter Sorgfalt und Ausführlichkeit. Einigen Fragen, die sich aufgrund festgestellter Lücken oder Unstimmigkeiten in der biographischen Erzählung ergaben, wurde allerdings ausgewichen. Aufgrund der Zugzwänge des Erzählens sind solche Brüche relativ einfach festzustellen. Das Verschweigen vergangener Erlebnisse bzw. vergangenen Handelns der Interviewpartnerin wurde respektvoll behandelt. Den Nachfrageteil nutzten einige Schwestern auch dazu, sich auf theoretisch-argumentativer Ebene mit Geschlecht und den Geschlechterverhältnissen innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche auseinanderzusetzen. Die aus forschungsethischen Gründen getroffene Entscheidung, das Erkenntnisinteresse in den Vorgesprächen offenzulegen, hatte zur Folge, dass sich einige Schwestern auf das biographische Interview vorbereiteten. Obwohl die Schwestern darauf aufmerksam gemacht wurden, dass es sich um eine „autobiographische Stegreiferzählung“ (Schütze 1983a) handeln sollte, haben sich zumindest einige im Vorfeld Gedanken über ihre Biographie gemacht und versuchten, bestimmte Ereignisse zu datieren. In der Regel war auch bei diesen Schwestern der narrative Anteil der biographischen Erzählung hoch. Angemessene Informationen über das eigene Forschungsvorhaben müssen nicht zwingend den Verlust der erzählenden Anteile zur Folge haben. Die dadurch geschaffene Vertrauensbasis kann zu einem offeneren und freieren Erzählen der eigenen Lebensgeschichte führen.
5.5 D OKUMENTARISCHE M ETHODE K ONSTRUKTIVISMUS
UND
Die Datenauswertung folgte in großen Teilen der in der Wissenssoziologie verankerten dokumentarischen Methode, wie sie Ralf Bohnsack entwickelt und Arnd-Michael Nohl für die Auswertung von biographischen Interviews fruchtbar gemacht hat. Karl Mannheim hat bereits in den 1920er-Jahren mit seiner dokumentarischen Methode eine methodisch-systematische Beobachterhaltung vorgelegt, die in einem Wechsel der Analyseeinstellung vom Was zum Wie begründet ist (vgl. Bohnsack 2007, S. 180). Mannheim nennt diese „genetische“ bzw. „soziogenetische Analyseeinstellung“ (Mannheim 1980, S. 85). Während im Common Sense nach dem Was der kulturellen und gesellschaftlichen Tatsachen gefragt wird, also im immanenten Sinngehalt verblieben wird, steht in der soziogenetischen Analyseeinstellung der dokumentarische Sinngehalt im Zentrum. Dabei geht es um die Frage nach dem „modus operandi“ (Bourdieu, 1987), um die Frage, wie Orientierungen, Haltungen, Weltanschauungen interaktiv und
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sozialisationsgeschichtlich hergestellt werden (vgl. Bohnsack 2007, S. 180). Es geht bei der dokumentarischen Methode darum, „implizite Regelhaftigkeit von Erfahrungen und den in dieser Regelhaftigkeit liegenden dokumentarischen Sinngehalt“ (Nohl 2008, S. 51) zu rekonstruieren. Erfahrungen sind in der dokumentarischen Methode „zugleich als Produkt einer handlungspraktischen und erlebnismäßigen (d. h. in der Erinnerung einer selbst gelebten Praxis fundierten) Herstellung gesellschaftlicher Realität wie auch als deren Voraussetzung“ (Bohnsack 2001b, S. 331) zu verstehen. Interaktive Phänomene werden also einerseits in ihrer Prozesshaftigkeit und andererseits in ihrer Repräsentanz als Strukturen begriffen (vgl. Bohnsack/Schäffer 2001, S. 328). Die dokumentarische Interpretin gewinnt damit einen Zugang zur „Prozessstruktur des Herstellungsprozesses, also auf den dieser Handlungspraxis als habitualisierter und inkorporierter Praxis zugrunde liegenden modus operandi oder Habitus“ (Bohnsack 2001b, S. 331). Im vorliegenden Forschungsprojekt wurde versucht, das in Kapitel 3.4 dargelegte konstruktivistische Biographiekonzept5 mit der dokumentarischen Methode zu verbinden. Eine Übereinstimmung zwischen den beiden Ansätzen findet sich in der Verschiebung der analytischen Frage vom Was auf das Wie. Bohnsack kritisiert an der konstruktivistischen Perspektive jedoch, dass diese die Mannheim‘sche soziogenetische Analyseeinstellung nur z. T. eingelöst habe. Der konstruktivistische Zugang habe „[…] die Analyse der Herstellungsprozesse sozialer Realität im Sinne der Frage nach dem Wie eingeschränkt auf die De-Konstruktion der interpretativen und definitorischen Herstellung von Realität. Jenseits dieser De-Konstruktion von Motivzuschreibungen und Common Sense-Kategorien und -Theorien über das alltägliche Handeln blieb damit die Frage unbeantwortet, wie denn nun das alltagspraktische Handeln selbst in adäquater Weise zu beschreiben und zu ‚erklären‘ sei. Dies ist die Frage nach der handlungspraktischen Herstellung von Realität, also die Frage nach jenen habitualisierten Praktiken, die auf dem handlungsleitenden und z. T. inkorporierten Erfahrungswissen der Akteure basieren“ (Bohnsack 2007, S. 182f.; Herv. i. O.).
Genau dieses Erfahrungswissen der Akteure bleibe aus der konstruktivistischen Analyse weitgehend ausgeklammert (vgl. Bohnsack 2002, S. 121).
5
Wobei das konstruktivistische Biographiekonzept bereits einer wissenssoziologischen Wendung unterzogen wurde, indem die von Dausien betonte Selbstreflexivität der Subjekte zu den Theorien über das Handeln gerechnet werden und somit nicht im Zentrum der Analyseperspektive stehen.
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Im dargelegten biographischen Zugang zur Geschlechterrekonstruktion kommt nun gerade dieses handlungsleitende Erfahrungswissen der Akteure zum Tragen. Die biographischen Sinnstrukturen der Erzählerinnen sind als Wissensvorrat zu verstehen, der die sozialen Handlungen (mit-)strukturiert (vgl. Dausien 2006a, S. 37). In beiden Ansätzen also hat das Handlungswissen bzw. der Wissensvorrat strukturelle Bedeutung, ohne dass auf objektivistische Vorannahmen zurückgegriffen werden muss und ohne in die Aporien des klassischen Sozialisationsansatzes zurückzufallen (vgl. Dausien 2006a, S. 39). Mit der vorliegenden Perspektive auf Geschlecht und Biographie werden die Ergebnisse über die Tatsache ihrer Konstruiertheit hinaus als Produkte gefasst, diese aber nicht in der Rekonstruktion festgesetzt, sondern als fragile und vorläufige Produkte offen gehalten (vgl. Breitenbach 2000, S. 16). „Auch biographisch gewachsene Orientierungen und Habitualisierungen sind keine in Definitionen festgefrorenen Endprodukte“ (Jösting 2005, S. 74). Mit einer soziogenetischen Analyseeinstellung unter konstruktivistischer und biographietheoretischer Perspektive können also sowohl die habitualisierten Praktiken (in Bezug auf Geschlecht) als auch die flüchtigen und veränderbaren „zirkulären Prozesse der interaktiven Herstellung von Geschlecht“ (Breitenbach 2000, S. 48) rekonstruiert werden.
5.6 ANALYSEVERFAHREN
UND
AUSWERTUNGSSCHRITTE
In einem ersten Schritt wurden die jeweiligen Interviews vollständig transkribiert, in Anlehnung an die von Ralf Bohnsack für die dokumentarische Methode empfohlenen Richtlinien6 (vgl. Bohnsack 2008, S. 235). Sowohl die Transkription als auch die anschließende Anonymisierung sind mehr als nur technische Arbeitsschritte. Zum einen ist die Übertragung der gesprochenen und aufgezeichneten Lebensgeschichte in einen geschriebenen Text bereits eine Interpretation (vgl. Thon 2008, S. 135), zum anderen wird „durch die Anonymisierung aller Personen- und Ortsnamen […] der Interviewtext von der ‚realen‘ Situation, in der er entstanden ist, und der ‚realen‘ Person, die ihn produziert hat, ein Stück weit abgelöst“ (op. cit., S. 136). Der durch die Transkription entstandene Text bringt in seiner Interpretation einen weiteren Text hervor. Ein dritter Text entsteht durch die Theoretisierung der Ergebnisse (vgl. Nordmann 2011, S. 89). Es handelt sich dabei um die bereits oben erwähnte These von Alfred Schütz, dass die Interpretationen der Forscherinnen Konstruktionen zweiten Grades sind (vgl.
6
Vgl. Anhang.
M ETHODOLOGIE UND M ETHODEN
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Schütz 1971, S. 68). Die neu entstandenen Texte sind immer veränderte Darstellungen der Wirklichkeit (vgl. Nordmann 2011, S. 89), auf die die Forscherin einen maßgeblichen Einfluss hat: „Kein sozialwissenschaftlicher Text kann beanspruchen, legitime Vertretung des Beschriebenen zu sein, weil jeder sozialwissenschaftliche Text allein die sozialwissenschaftliche Weise des Schauens und Artikulierens vertritt, nie aber das Gesehene und Beschriebene“ (Mecheril 2003, S. 33). Der Forscherin muss also bewusst sein, dass es nicht Aufgabe einer wissenschaftlichen Analyse ist, „die Sicht der Erzählerin auf sich selbst zu reproduzieren, sondern zu rekonstruieren“ (Thon 2008, S. 137). Die transkribierten und anonymisierten Interviews wurden einer formulierenden Interpretation, ähnlich wie sie die dokumentarische Methode vorschlägt, unterzogen. Dieser Auswertungsschritt liefert noch keine Ergebnisse im engeren Sinn, da die formulierende Interpretation im Bereich des wörtlichen bzw. immanenten Sinngehalts verbleibt. Die Interpretin bewegt sich mit diesem Analyseschritt innerhalb des Orientierungsrahmens der Individuen und versucht mit strukturierenden und zusammenfassenden Formulierungen (Ober-, Unterthemen, thematische Zusammenfassung) eine Übersicht über das Interview zu gewinnen. Es geht hier also nicht um eine begrifflich-theoretische Explikation des Orientierungsrahmens. Dennoch handelt es sich auch hier um eine Interpretation, da bei der Reformulierung implizite Themen des biographischen Interviews begrifflich-theoretisch expliziert werden (vgl. Bohnsack 2008, S. 134; vgl. auch Nohl 2008, S. 46f.). Aufgrund der formulierenden Interpretation, bei der es um die Explikation dessen geht, was gesagt, bzw. was thematisch wird, wurden einige biographische Interviews für die folgenden Analyseschritte nicht berücksichtigt. In zwei Interviews wurden vornehmlich persönliche (psychische) Probleme thematisiert, welche es schwierig machten, die Biographien unter der hier eingenommenen Perspektive zu analysieren, bzw. es hätte eine (je andere) Aufmerksamkeitsrichtung eingenommen werden müssen. Weitere zwei Interviews wurden aufgrund des Bekanntheitsgrades der Schwestern ausgeschlossen. Eine vertretbare Anonymisierung hätte unweigerlich inhaltliche Verzerrungen nach sich gezogen. Letztlich wurden sieben biographische Interviews einer reflektierenden Interpretation unterzogen. Diese zielt „auf die Rekonstruktion und Explikation des Rahmens, innerhalb dessen das Thema abgehandelt wird, auf die Art und Weise, wie, d. h. mit Bezug auf welches Orientierungsmuster, welchen Orientierungsrahmen das Thema behandelt wird“ (Bohnsack 2008, S. 135; Herv. i. O.). In der vorliegenden Untersuchung geht es um die Rekonstruktion der Prozessstruktur des Herstellungsprozesses bzw. um die Rekonstruktion der Art und Weise des biographischen Herstellungsprozesses von Geschlecht und der Geschlechterver-
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hältnisse. Die Frage nach der Art und Weise, in der Geschlecht und die Geschlechterverhältnisse biographisch bearbeitet werden, „verweist gleichermaßen auf den formalen wie auf den semantischen Aspekt von Interviews. Die Semantik des Textes ist von seiner formalen Konstruktion nicht zu trennen“ (Nohl 2008, S. 47). Um dem Rechnung zu tragen, knüpft die dokumentarische Auswertung von biographischen Interviews an die Textsortenunterscheidung an, so wie sie Fritz Schütze für die Narrationsstrukturanalyse 7 vorschlägt. Schütze (1984, S. 78) unterscheidet zwischen einem „digitalen“ und „analogen“ Modus des Erzählens. Im „digitalen“ Modus legt die Interviewte die Ereignisse eher kommentierend und abstrahierend dar. Die Art der Darstellung ist zum großen Teil der Interviewsituation bzw. der Interaktion zwischen der Interviewten und der Interviewerin geschuldet. Im „analogen“ Modus hingegen lässt sich die Interviewte im „Zugzwang des Erzählens“ […] „noch einmal durch den Strom“ ihrer „ehemaligen Erlebnisse und Erfahrungen treiben“ (op. cit., S. 79). Sie präsentiert die Situationen beschreibend und erzählend und weist damit auf die „wiedererinnerten lebensgeschichtlichen Erfahrungsaufschichtungen hin“ (ibid.). Die Berufung auf das Gewesene bezieht sich nicht auf die inhaltliche Übereinstimmung, also nicht auf das Was der Erfahrung, sondern auf das Wie des Erfahrung-Machens, das Schütze zufolge dem Wie des erzählenden Rekapitulierens und Kommunizierens von Erfahrungen entspricht. Sowohl für das Machen als auch für das Erzählen von Erfahrungen werden nach Schütze die gleichen kognitiven Figuren verwendet. Zwischen den Prinzipen der aktiven Konstruktion einer Erfahrung und den Prinzipien der Konstruktion und Rekonstruktion beim Erzählen besteht also eine Analogie (vgl. op. cit., S. 78f.). Die dokumentarische Methode versucht darüber hinaus, Schützes Textsortentrennung grundlagentheoretisch zu fassen (vgl. Nohl 2008, S. 48f.). Über das Argumentieren lässt sich der immanente Sinngehalt bzw. das „kommunikative Wissen“ (Mannheim 1980), über die Erzählungen und Beschreibungen der dokumentarische Sinngehalt bzw. das „konjunktive Wissen“ (ibid.) rekonstruieren. Anders als dies Nohl (2008, S. 43) für die Auswertung biographischer Interviews vorschlägt, wurde in der vorliegenden Arbeit nicht von Beginn an komparativ gearbeitet. Die einzelnen Biographien wurden in einem ersten Schritt, wie dies auch Schütze (1993, S. 198) vorschlägt, als Einzelfälle behandelt und fallimmanent ausgewertet. Im Zentrum dieser Arbeitsweise steht das oben erläuterte Verständnis von Biographie als Produkt und Prozess. Um den biographischen Prozess des Werdens von Subjekten unter dem Aspekt Geschlecht angemessen analysieren zu können, muss der gesamte biographische Konstruktionsprozess
7
Zur Narrationsstrukturanalyse vgl. u. a. Schütze 1984; 1983a; 1983b.
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Gegenstand der Analyse sein. Problematisch an der von der dokumentarischen Methode vorgeschlagenen konsequenten komparativen Analyse ist der Umstand, dass dem Prozesscharakter der Biographie nicht Genüge getan wird und dass von Beginn weg die Vergleichshorizonte von der Interpretin gesetzt werden. Ebenso wie bereits das biographisch-narrative Interview darauf ausgelegt ist, dass die Interviewten ihr eigenes Relevanzsystem und ihr kommunikatives Regelsystem (vgl. Bohnsack 2008, S. 21) entfalten können, so muss sich auch die Auswertung mit der dokumentarischen Methode an deren Strukturierung ausrichten. Der Vorteil der komparativen Analyse liegt sicherlich in der systematischen methodischen Kontrolliertheit des analytischen Prozesses. Dies musste in der vorliegenden Arbeit auf anderem Wege eingeholt werden. Folgende drei Maßnahmen sollten dies gewährleisten: 1. die Bildung unterschiedlicher Lesarten angelehnt an die objektive Hermeneutik, 2. die intersubjektive Überprüfung dieser Lesarten durch regelmäßige Interpretation in der Gruppe und 3. die komparative Analyse nach der fallimmanenten Analyse als zweiter Schritt der reflektierenden Interpretation und im Hinblick auf die Verallgemeinerung der Ergebnisse (vgl. Kap. 5.7).
5.7 V ERALLGEMEINERUNG
DER
E RGEBNISSE
Gegen die geringe Fallauswahl von sieben Interviews könnte eingewendet werden, dass die Ergebnisse nicht zu verallgemeinern seien. „Hinter diesem häufig zu hörenden Einwand liegt die Annahme: Allgemein ist das, was häufig auftritt, und verallgemeinert wird im Hinblick auf die Häufigkeit des Auftretens. Bei interpretativen Verfahren wird dagegen von einer dialektischen Konzeption von ‚individuell und allgemein‘ und damit von der prinzipiellen Auffindbarkeit des Allgemeinen im Besonderen ausgegangen“ (Rosenthal 2005, S. 74f.). Wenn wir von diesem dialektischen Verhältnis ausgehen, erschließt eine Fallrekonstruktion also immer beides, Allgemeines und Besonderes. Der Fall, hier die lebensgeschichtliche Erzählung einer Klosterfrau, ist ein Allgemeines, da „er sich im Kontext objektiv gegebener gesellschaftlicher Strukturen gebildet“ hat, und er ist zugleich ein Besonderes, da „er sich in Auseinandersetzung mit diesen individuiert hat“ (Gehres/Hildenbrand 2008, S. 29). Dies bedeutet, dass eine einzige Fallrekonstruktion reichen würde, um eine Theorie zu entwickeln (vgl. ibid.), denn die Wirksamkeit der rekonstruierten Regeln eines Einzelfalles ist von der Häufigkeit ähnlicher Regelsysteme unabhängig (vgl. Rosenthal 2005, S. 75). Mit der Analyse und dem systematischen Vergleich mehrerer Fälle wird die zu entwickelnde Theorie jedoch
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reichhaltiger (vgl. Gehres/Hildenbrand 2008, S. 29). Aber auch da wird nicht von einem Fall auf alle Fälle, sondern auf alle vergleichbaren Fälle geschlossen. In der vorliegenden Untersuchung wurde erst im Anschluss an die differenzierte Analyse der einzelnen Biographien bzw. nach der Rekonstruktion der den jeweiligen Lebensgeschichten zugrunde liegenden Orientierungsmuster eine komparative Analyse vorgenommen. Mit Hilfe der komparativen Analyse konnten über den Einzelfall hinausreichende Muster in Bezug auf die Fragestellung(en) herausgearbeitet werden.8 Angestrebt wurde eine theoretische Verallgemeinerung auf der Grundlage von Einzelfällen und des systematischen Vergleichs dieser Fälle.
8
Vgl. hierzu auch Bütow 2006, S. 61.
Teil III Empirische Studie
6
Fallrekonstruktionen
Fallrekonstruktionen Im folgenden Kapitel stehen die lebensgeschichtlichen Erzählungen der Ordensschwestern im Mittelpunkt. Ausgehend von der Unterschiedlichkeit der gesellschaftlichen Bedingungen in Bezug auf Geschlecht, werden in ausführlichen Fallanalysen die biographischen Geschlechter(re)konstruktionen zweier Ordensfrauen dargestellt. Biographische Interviews, die mit der dokumentarischen Methode analysiert werden, produzieren einen umfangreichen Interpretationstext. Dies gilt insbesondere für den Analyseschritt der reflektierenden Interpretation. Damit stellt sich das Problem, wie der Text darzustellen sei. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit können nicht alle interpretierten Fälle dargestellt werden, da dies für die LeserInnen kaum mehr zu bewältigen wäre. Im Folgenden werden zwei detaillierte Fallrekonstruktionen präsentiert, deren Interpretation vollständig dokumentiert ist. Die für diesen Zweck ausgewählten biographischen Interviews übernehmen die Funktion von Ankerfällen. Somit kann zum einen die Interpretationsmethode transparent gemacht werden, zum anderen können die am gesamten Interviewmaterial entwickelten Orientierungsmuster im Material „verankert“ dargestellt werden. Die Auswahl der Biographien von Sr. Inge und Sr. Heidi als Ankerfälle erfolgte auf der Basis der Analyse aller Fälle. Im Prinzip hätten auch alle anderen Fälle diese Funktion erfüllen können. Es lassen sich an den Lebensgeschichten von Sr. Inge und Sr. Heidi aber einige (je unterschiedliche) zentrale Merkmale biographischer (Re-)Konstruktionen von Geschlecht und der Geschlechterverhältnisse besonders prägnant dokumentieren.1 In den jeweiligen Abschnitten werden immer erst einführende Bemerkungen zur Interviewsituation gemacht, dann folgen eine biographische Kurzbeschreibung, die reflektierende Interpretation mit mehreren Zwischenfazits und schließlich eine zusammenfassende Darstellung biographischer Muster. Bei den Rekon-
1
Vgl. hierzu auch Dausien 1996, S. 134f.
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struktionen der biographischen Eingangserzählungen geht es um die Art und Weise, wie die Interviewten ihre Lebensgeschichten darstellen und was sie (nicht) thematisieren. Leitend für die detaillierte Interpretation sind die in Kapitel 4 dargelegten Fragestellungen. Die differenzierte fallübergreifende Diskussion unter Einbezug weiterer Interviews folgt in Teil IV.
6.1 S CHWESTER I NGE : MEHRFACHE G RENZGÄNGERIN Der Kontakt mit Sr. Inge kommt über eine ihrer Mitschwestern zustande, die sich dem biographischen Interview nicht stellen wollte. Die erste Annäherung erfolgt per E-Mail, in der das Erkenntnisinteresse und weitere Mitteilungen zur Untersuchung mitgeschickt wurden. Daraufhin verlangt Sr. Inge genaue Informationen über das Forschungsprojekt und möchte einige darüber hinausgehende offene Fragen klären, so z. B. bezüglich des Menschenbilds der Forscherin. Im hernach folgenden einstündigen Telefongespräch zeigt sie sich als interessierte und gleichzeitig sehr bestimmende Gesprächspartnerin. Sie scheut sich nicht, die Perspektive und Herangehensweise der vorliegenden Arbeit zu kritisieren. Trotzdem – oder gerade deswegen – kommt eine Terminvereinbarung zustande. Das Interview mit Sr. Inge findet an einem heißen Sommernachmittag im Mutterhaus des Klosters V statt. Die Klosterpforte des Mutterhauses ist verschlossen. Nach einmaligem Klingeln öffnet die diensthabende Schwester und erklärt nach einer herzlichen Begrüßung, dass die Türen während der Öffnungszeiten normalerweise nicht verschlossen seien. Auf dem Weg ins Besprechungszimmer kommt uns Sr. Inge entgegen. Sie ist eine sehr große, stattliche Frau mit kurzen grauen Haaren, trägt eine Brille, Zivilkleidung und ist leicht gehbehindert. Sr. Inges Begrüßung ist freundlich, aber distanziert. Während der Einweisung ins Besprechungszimmer ist sie hinsichtlich der Sitzordnung etwas verunsichert. Nach der Lösung des Problems schließt sie als Erstes die Fenster, mit dem Hinweis, dass das Gespräch vertraulich sein soll. Bevor das eigentliche Interview beginnt, folgt eine kurze Unterhaltung, die an das vorangegangene Telefongespräch anknüpft. Das Interview mit Sr. Inge dauert gut eineinhalb Stunden. Nach einer knapp einstündigen, weitgehend chronologisch geordneten biographischen Eingangserzählung und einer kurzen Pause geht Sr. Inge sehr engagiert auf die Nachfragen ein.
F ALLREKONSTRUKTIONEN
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6.1.1 Biographische Kurzbeschreibung Sr. Inge wird Ende der 1920er-Jahre als ältestes von vier Kindern (zwei Mädchen, zwei Jungen) geboren. Die Eltern stammen Sr. Inge zufolge aus der gebildeten Oberschicht von M-Stadt (Deutschland). Der Vater (Doktor der Chemie und der Medizin) erhält bereits vor Sr. Inges Geburt eine Anstellung als Toxikologe in O-Stadt (Schweiz) und hat darüber hinaus eine Professur an der Universität in M-Stadt inne. Wegen der Beziehungen des Vaters zu Medizinerkreisen in M-Stadt werden alle Kinder in der Heimat der Eltern geboren, wachsen aber von Beginn an in der Schweiz auf. Die beruflichen und verwandtschaftlichen Beziehungen nach Deutschland führen dazu, dass der Grenzgang für Sr. Inge selbstverständlich wird. Sie ist in ihrer Kindheit oft bei den jüngeren Zwillingsschwestern ihres Vaters zu Besuch. Diese führen in der Nähe von M-Stadt einen landwirtschaftlichen Betrieb. Außerdem kaufen die Eltern oft in Deutschland ein und haben Erfahrungen im Kleinschmuggel für den Privatbedarf. Die Vorschulzeit verbringt Sr. Inge hauptsächlich im Kreis ihrer Herkunftsfamilie. Sr. Inges Spielkameraden sind vor allem ihre Geschwister. Sie erwähnt aber auch einen Nachbarsbuben, mit dem sie jedoch sprachliche Verständigungsprobleme hat, da sie Schweizerdeutsch nur schlecht versteht. Die Schulzeit beginnt für Sr. Inge mit der ersten Klasse, in den Kindergarten geht sie nicht. Zusammen mit der Tochter von Bekannten besucht sie eine kleine protestantische Privatschule in O-Stadt. Die beiden Freundinnen sind die einzigen Katholikinnen an dieser Schule. Sie erhalten von einer katholischen Ordensschwester einen gesonderten Religionsunterricht, den Sr. Inge höchst positiv bewertet. Nach der Primarschule wechselt Sr. Inge zusammen mit ihrer Schulfreundin ans Mädchengymnasium in O-Stadt. Gleich zu Beginn macht sie die schmerzliche Erfahrung, von der bisherigen Freundin verlassen und von den anderen Schülerinnen aufgrund ihrer deutschen Herkunft ausgegrenzt zu werden. Sr. Inge konzentriert sich, ihrem bildungsnahen Herkunftsmilieu entsprechend, aufs Lernen. Zwei Lehrpersonen des Mädchengymnasiums sind für sie prägend. Zum einen ihre Lehrerin für Deutsch und Geschichte, die in jener Zeit die prominenteste Frauenrechtlerin in O-Stadt ist. Die Entwicklung ihres Bewusstseins für die Unterdrückung der Frau knüpft sie stark an diese Lehrerin. Zum anderen ein jesuitischer Religionslehrer, der Moral und Philosophie unterrichtet. Durch ihn entdeckt Sr. Inge ihre Vorliebe für Dogmatik. Sie schließt das Gymnasium mit der Lateinmatura ab, zusätzlich erwirbt sie einen Abschluss im Ergänzungsfach Griechisch. Während ihrer Zeit im Gymnasium bricht der Zweite Weltkrieg aus. Bereits im Jahr zuvor erzählen Verwandte von der sogenannten „Kristallnacht“ und vom Verschwinden jüdischer Bekannter. Der Herbst 1938 löst bei Sr. Inge existenzi-
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elle Ängste aus. Die mit dem Kriegsausbruch einhergehende Schließung der Grenzen führt sie in ein Gefühl der Isolation, welches ihr erst nach Kriegsende, durch den erneuten Kontakt mit ihren Verwandten, richtig bewusst wird. Im letzten Gymnasialjahr entwickelt sich bei Sr. Inge der Wunsch, eine naturwissenschaftliche Disziplin zu studieren. Der Rektor des Mädchengymnasiums rät ihr wegen des Männerüberschusses in diesen Disziplinen davon ab. Sie studiert daraufhin Deutsch, Französisch und Lateinisch in O-Stadt. Für ein Jahr wechselt Sr. Inge an die zweisprachige (deutsch/französisch) Universität in S-Stadt und lässt Lateinisch zugunsten des Geschichtsstudiums fallen. Während dieser Zeit wohnt sie in einem internationalen, ihren Angaben zufolge elitären Mädchenpensionat. Zurück in O-Stadt, macht Sr. Inge ihr Examen zur Mittelschullehrerin. Anschließend studiert sie an den deutschen Universitäten in M-Stadt und T-Stadt Deutsch und Geschichte weiter. Nach Abschluss des Studiums beginnt Sr. Inge mit der Dissertation an der Philosophisch-historischen Fakultät in O-Stadt und macht parallel dazu die Oberlehrerprüfung. Zwischenzeitlich wird Sr. Inge eingebürgert. Mit zwanzig Jahren beantragt sie in O-Stadt den Schweizer Pass und das Bürgerrecht von O-Stadt. Beides erhält sie problemlos gegen eine Gebühr von hundert Franken. Obwohl der Rektor des Mädchengymnasiums in O-Stadt Sr. Inge gegenüber kritisch eingestellt ist, erhält sie an dieser Schule ihre erste Arbeitsstelle. Nach drei Jahren Französischunterricht auf der Unterstufe wird ihr jedoch gekündigt. Sie nutzt die Zeit, um ihre Dissertation abzuschließen, und findet anschließend eine Anstellung am von Klosterfrauen geführten Primarlehrerinnenseminar in V-Dorf. Sr. Inge unterrichtet mit gutem Erfolg Deutsch und Geschichte und besucht nebenher einen Theologiekurs in B-Stadt. Nach vier Jahren muss Sr. Inge ihre Stelle jedoch einer Ordensschwester abtreten. Dank einem Wechsel im Rektorat des Mädchengymnasiums in O-Stadt findet sie an dieser Schule eine neue Arbeitsstelle. Sie sucht sich in O-Stadt eine eigene Wohnung und unterrichtet ein Jahr lang Deutsch und Geschichte am Mädchengymnasium. Während dieses Jahres entscheidet sich Sr. Inge, inzwischen 35 Jahre alt, ins Kloster V einzutreten. Die ersten Jahre lebt Sr. Inge im Mutterhaus. Nach der Profess wird sie ins klostereigene Mädchengymnasium in S-Stadt versetzt, um zuerst Deutsch und Geschichte und später – da es an Geistlichen mangelt – auch Religion zu unterrichten. Nebst ihrer Unterrichtstätigkeit führt Sr. Inge das Internat des Mädchengymnasiums. Da sie auf die Durchsetzung katholischer Normen- und Wertevorstellungen zu wenig Gewicht legt, muss sie die Leitung wieder abgeben. Schon längere Zeit hegt Sr. Inge den Wunsch, Theologie zu studieren. Nachdem dies einer ihrer Mitschwestern erlaubt wurde, setzt sie im Mutterhaus durch,
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dass sie ebenfalls ein Theologiestudium absolvieren darf. Parallel zum Studium in S-Stadt unterrichtet sie weiterhin am Mädchengymnasium. Vier Jahre nach dem Theologiestudium und weiterer Unterrichtstätigkeit am Mädchengymnasium wird sie von der Erziehungsdirektion des Kantons S zur Rektorin des Mädchengymnasiums ernannt. Unter ihrer Leitung zieht das Gymnasium in einen größeren Neubau um und wird zu einer gemischtgeschlechtlichen Schule. Nach zehn Jahren als Rektorin am Gymnasium in S-Stadt wird Sr. Inge wieder ins Mutterhaus bestellt. Sowohl das zweisprachige universitäre Milieu als auch die Wohnung, in der sie aufgrund einer Sondererlaubnis allein wohnt, verlässt sie nur ungern. Im Mutterhaus wird Sr. Inge mit der Aufgabe als Provinzrätin und der Leitung des Primarlehrerinnenseminars beauftragt. Beide Verantwortungsbereiche nimmt sie während sechs Jahren wahr. Ihre Knieprobleme zwingen sie dazu, beruflich kürzerzutreten. Sie beschäftigt sich aber im Rahmen des anstehenden Generalkapitels2 mit der Ausarbeitung neuer Satzungen. Nach dem Generalkapitel wird ihr die Stelle als Archivarin übertragen, die entsprechende Ausbildung macht sie berufsbegleitend in Deutschland. Seither betreut sie das Archiv der Schweizer Provinz des Klosters V und widmet sich historischen Arbeiten. Zur Zeit des Interviews ist sie mit der Fertigstellung einer historischen Aufarbeitung der Geschichte ihrer Kongregation beschäftigt, die in verschiedenen Sprachen erscheinen soll. Darüber hinaus engagiert sich Sr. Inge mehrere Jahre lang in der bischöflichen Frauenkommission3 und setzt sich dort u. a. für die Diakonieweihe der Frauen ein. Sie liest feministische Literatur, schreibt zu diesen Themen und hält Vorträge. Sie wünscht sich, dass sich die Frauen in der Kirche stärker zur Wehr setzen, z. B. die von Klerikern geleiteten Messen bestreiken. Zwei feministische Buchprojekte sind in Vorbereitung: zum einen eine Auseinandersetzung mit der Stellung der Frau in der katholischen Kirche und zum anderen eine kritische Analyse des Verhältnisses zwischen der Gründerin ihrer Gemeinschaft und dem Klerus. Letztlich hat Sr. Inge aber wenig Hoffnung, dass sich die Frauen in der katholischen Kirche emanzipieren können. Das historische Werk über ihre Schwesternkongregation kann Sr. Inge beenden, die beiden anderen Projekt jedoch nicht. Mit über 80 Jahren stirbt sie an den Folgen einer schweren Krankheit im Pflegeheim des Klosters.
2
Zu Generalkapitel siehe Kap 2.1.
3
Bischöfliche Frauenkommissionen setzen sich mit Frauenfragen in der Kirche und der Gesellschaft auseinander. Die vom jeweiligen Bischof gewählten Mitglieder erarbeiten Anregungen und geben Empfehlungen ab.
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6.1.2 Reflektierende Interpretation Thema 1: Erzählaufforderung (1-2) ja das lauft, ((atmet ein)) guet Schwöster Inge, (.) ich möcht Sie bitte (.) mir (.) jetzt ihri (.) Läbensgschicht z’verzellä. (1-2)
Die Interviewerin versichert sich, dass das Aufnahmegerät funktioniert, und fordert Sr. Inge auf, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Es werden ihr keine Vorgaben zur Erzählstruktur gemacht. Sie erhält dadurch die Möglichkeit, den Aufbau ihrer biographischen Erzählung selbst zu gestalten. Thema 2: Herkunftsmilieu (3-95) ((atmet ein)) ich bi (.) gebohre, (.) am im Februar 1929, (1) in M-Stadt (.) das isch (.) d’Heimatstadt vo mine Eltere gsi. ((atmet ein)) sie sin: (.) beidi dört ufgwagse, ((atmet ein)) (3-5)
Sr. Inge markiert den Beginn ihrer Biographie mit dem Zeitpunkt ihrer Geburt. Sie beginnt ihre Erzählung mit einer aktiven Selbsteinführung: „ich bi (.) gebohre“ im Gegensatz zu „ich bi gebohre worde“. Damit kennzeichnet sie sich als tätige Persönlichkeit. Anschließend nennt sie den Geburtsort, der sich in Deutschland befindet und die Heimatstadt ihrer Eltern ist. Sr. Inge führt so ihre Eltern ein und verweist auf deren und auch ihre deutsche Herkunft. M-Stadt ist eine mittelgroße Universitätsstadt im Süden Deutschlands. Die Eltern führt sie gemeinsam ein, nennt deren Namen aber nicht. mi Vater (.) isch (1) Mediziner z’ersch Chemiker het e Doktorat in Chemie gmacht, und denn in Medizin, ((atmet ein)) und het sich denn uf Toxikologie (.) spezialisiert. (5-7)
Der Eröffnung folgt eine Schilderung der formalen Berufsqualifikationen ihres Vaters. Die beiden Doktortitel und die Berufsbezeichnung des Vaters verweisen auf ein bildungsorientiertes Milieu. Eine allfällige (Aus-)Bildung der Mutter wird nicht erwähnt. ((atmet ein)) mini Eltere hend sich in N-Stadt kenne glert (2) und aber sie hend sich scho lang kennt. das isch so wie in=ere Stadt wo=ne gwüssi Oberschicht (1) enander kennt. (1) mä weiss vo=ne=nander. (7-10)
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Sr. Inges Eltern kommen in N-Stadt zusammen, kennen sich aber schon lange aus M-Stadt. Die Umstände des Zusammenkommens oder weshalb sich die beiden in der Universitätsstadt N aufhalten, wird nicht erwähnt. Im Zentrum dieser Erzählung stehen die Herkunft der Eltern aus der Oberschicht und das scheinbar selbstverständlich funktionierende schichtspezifische Beziehungsnetz sowie die damit verbundene soziale Selektion, welche auch das Partnerwahlverhalten steuert. Sr. Inges Erzählung zeichnet sich durch ein entsprechendes Zugehörigkeitsnormativ aus. (1) und (.) denn het mi Vater 1926 mein=ich e Stell kriegt in (.) bi de X AG in O-Stadt. //mhm// ((atmet ein)) und uf das hi (.) hend sie (.) in O-Stadt (.) ufem Standesamt ghürote, (.) hend ihri kirchlichi Hochziit aber us Familiegründ (.) bi=dr Schwester vo minere Mueter bi de eltere Schwester vo minere Mueter neime im Dütsche (.) gfiired wo die säb mol gwohnt het. (3) und (.) das bedütet, dass mini Eltere vo Afang a in O-Stadt also vo mim Afang a //mhm// in O-Stadt gwohnt hend, //mhm// (10-17)
In der weiterführenden Erzählung sind noch immer die Eltern die Ereignisträger. Die Arbeitsstelle des Vaters in O-Stadt und der Umzug in die Schweiz scheinen eng mit der Heirat der Eltern verknüpft zu sein. Gründe dafür könnten die Aufenthaltsbewilligung sein oder aber die Legalisierung ihrer Beziehung aufgrund der gemeinsamen Wohnung. Die kirchliche Hochzeit, die traditionellerweise mit einem Fest mit Verwandten und Freunden verbunden ist, wird in Deutschland gefeiert. Sr. Inge nennt hier auch die Familie bzw. die ältere Schwester der Mutter als Grund für die geographische Wahl der Hochzeits-feier. Damit zeigt sich eine (familiäre) Verbundenheit der Eltern nach Deutschland. Obwohl die Eltern auch am Ende dieser Passage die Ereignisträger sind, verdeutlicht Sr. Inge, dass O-Stadt von Anfang an ihre geographische Heimat ist („das bedütet, dass mini Eltere vo Afang a also vo mim Afang a in O-Stadt gwohnt hend“). will mi Vater e Professur gha het als Toxikolog an=der Universität M, (.) isch er regelmässig dört anegfahre, (.) mi hend (no) die ganz Verwandtschaft dört gha //mhm// (17-19)
Sr. Inge fährt im Modus der Argumentation weiter. Sie erklärt, dass der Vater wegen der Professur an der Universität in M-Stadt regelmässig nach Deutschland fährt. Er scheint also zwei Arbeitstellen innezuhaben, eine in M-Stadt und eine in O-Stadt. Das Überschreiten der Landesgrenze gehört für den Vater somit zum beruflichen Alltag. Es sind auch die verwandtschaftlichen Beziehungen, aber vor allem der Beruf des Vaters, der diesen zum Grenzgänger
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macht. Die Anstellung in O-Stadt scheint entweder höher bewertet zu werden oder umfasst ein größeres Arbeitspensum, ansonsten hätte die Familie auch in M-Stadt leben können. und (3) är het (3) ja jetzt °kum ich wo han ich jetzt genau° er het irgend öpis Bestimmts (19-20)
Sr. Inge setzt zur Weiterführung der Erzählung über den Vater an, bricht diese aber ab. Es folgt eine Metakommunikation über die Fortsetzung ihrer Biographie. Einen Moment lang weiß sie nicht, wie sie fortfahren soll. also sie hend in O-Stadt gwohnt, ((atmet ein)) und mi Vater het Beziehige gha natürlich zu de Mediziner vo de Universität. //mhm// (20-22)
Anschließend sind die Ereignisträger wiederum die Eltern, vor allem der Vater. Sr. Inge führt nochmals O-Stadt als Wohnort der Eltern ein. Als Nächstes beschreibt sie die Beziehungen des Vaters zu den Medizinern an der Universität in M-Stadt. Sämtliche Beziehungen der Eltern (verwandtschaftliche und berufliche) scheinen nach Deutschland zu führen. Die Art und Weise, wie Sr. Inge die Beziehungen ihres Vaters zu den Medizinerkreisen in M-Stadt darstellt, weist abermals auf die Selbstverständlichkeit des schichtspezifischen Beziehungsnetzes hin. Auch hier dokumentiert sich bei Sr. Inge ein soziales Zugehörigkeitsnormativ. und do hend mini Eltere beschlosse, dass mir alli, (.) in M-Stadt i de Heimatstadt vo de Eltere (.) gebo- uf d’Welt köme //mhm// also (.) ich bin mit (.) drei Wuche, (.) nach OStadt importiert worde, //mhm// (22-25)
Sr. Inge stellt einen Zusammenhang her zwischen Heimat (der Eltern), Schicht sowie Beziehungen beruflicher und verwandtschaftlicher Natur. Dieser Zusammenhang dient denn auch als Begründungsrahmen dafür, dass Sr. Inge und ihre Geschwister in der deutschen M-Stadt zur Welt kommen. Anschließend führt sich Sr. Inge wieder als Biographieträgerin ein, indem sie sich als Importware bezeichnet, die drei Wochen alt in die Schweiz eingeführt wird. Was sich hier zeigt, ist eine Übertragung der elterlichen heimatlichen Verankerung auf sich selbst. Obwohl nur die Geburt und die (verlängerte) Kindbettphase in Deutschland stattfinden, versteht sie sich aus ihrem Entstehungszusammenhang herausgerissen. Es dokumentiert sich hier zum ersten Mal ihr Fremdsein in O-Stadt bzw. in der Schweiz.
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((atmet ein)) und=äh denn in O-Stadt in de Sankt-U-Kirche tauft worde //mhm// vom Pfarrer vo de Sankt-U-Kirche säb=mol das isch de spöteri (.) Bischof A gsi (.) wo=nen Cou-Cousin vo mim Vater gsi isch //mhm// also das sind Beziehige //mhm// sind do gsi. //mhm// (25-29)
Sr. Inge fährt in ihrer Erzählung mit ihrer katholischen Taufe in O-Stadt fort. Damit wird deutlich, dass sie in einem Milieu aufwächst, in dem zumindest dem Ritus der traditionellen Einzelsakramente gefolgt wird. Sie nennt sowohl die Kirche als auch den Taufpfarrer beim Namen, nicht aber die Taufpaten. Der Priester ist verwandtschaftlich mit ihrem Vater verbunden und wird später zum Bischof ernannt. Erneut wird ein nach Deutschland führendes Beziehungsgeflecht bedeutsam, und auch hier verweist die Beziehung auf eine höhere gesellschaftliche Stellung. Der Zusammenhang zwischen Taufe, Beziehung und gesellschaftlicher Stellung impliziert eher eine rituelle Reproduktion der sozialen Schicht denn den Empfang eines religiösen Sakraments. Beziehungen erhalten so eine funktionale Bedeutung. (2) mir sin (.) ich han vie- no drei Gwisterti, (1) e Brueder (.) ich bi di Ältischti (.) e Brueder e Schwester und nomal e Brueder //mhm// mi sin (.) z’viert also in O-Stadt (.) ufgwagse (1) und (1) dört au in=d’Schule gange diä ganzi Schuel alles döre=gmacht //mhm// (29-32)
In der weiteren biographischen Erzählung nennt Sr. Inge die Anzahl ihrer Geschwister. Sie macht sowohl ihre Stellung als Älteste in der Geschwisterreihe als auch die geschlechtliche Reihenfolge deutlich. Die Namen der Geschwister werden nicht genannt. Mit der Erwähnung des Aufwachsens und des Durchlaufens der gesamten Schulzeit in O-Stadt zeigt sich, dass sie und ihre Geschwister die Kindheit in dieser Stadt verbringen. Die Konstruktion des Kollektivs „mi sind z’viert also in O-Stadt (.) ufgwagse“ verweist auf eine gewisse Verbundenheit mit ihren Geschwistern und damit auf gemeinsame Erfahrungen, die aber nicht aufgeführt werden. (3) will (1) mi=hen=aber viel (1) über d’Grenze übere gluegt (.) also für mi isch (.) e Grenze öpis äh (.) Selbstverständligs mä got hin und her (.) mä weiss wiä mä muess schmuggle, (.) mi Mueter het amel gseit wenn ich //@(1)@// wot öpis äh (.) über d’Grenze bringe, vo //((hustet))// Dütschland in Dütschland isch’s e bizli billiger gsi als in (.) in OStadt, zum Biispiel au in Q-Dorf, oder äh O-Stadt isch hüt ja überall d’Grenze z’rigeltum //mhm// denn het sie gseit mä muess=es nume, in (.) e stinkigi Kinderwindle ipacke denn nochher bringt mä alles @dure@ //@(2)@// ((atmet ein)) @also im i-@ im im Kleinschmuggel für Privatbedarf natürli (.) hend mir Erfahrige gha, //@(5)@// (32-42)
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Die lebensweltliche Verankerung in O-Stadt wird sogleich relativiert, indem Sr. Inge die Perspektive einer Kindheit beiderseits der Grenzen eröffnet („mi=hen=aber viel (1) über d’Grenze übere gluegt“). Der primäre geographische Ort des Aufwachsens ist für Sr. Inge und ihre Geschwister zwar O-Stadt, die deutsche Heimat der Eltern bleibt aber von zentraler Bedeutung. Eng mit dem Grenzgang verbunden ist der Schmuggel über die Grenze, welcher Sr. Inge in einer verallgemeinerten Weise („mä weiss wiä mä muess schmuggle“) und mit einer narrativen Erzählung über die „Schmuggelkompetenz“ der Mutter verdeutlicht. Über die Schmuggelei der Familie wird dieses „hin und her“, der Grenzgang zwischen der Schweiz und Deutschland und letztlich sie selbst als Grenzgängerin symbolisch eingeführt. In einer Hintergrundkonstruktion begründet Sr. Inge den Schmuggel mit den günstigeren Preisen in Deutschland. Dies irritiert hinsichtlich der von ihr geäußerten Oberschichtzugehörigkeit der Familie, da die Orientierung an Sparsamkeit eher mit dem Kleinbürgertum in Verbindung gebracht wird. Weiter scheint die Schmuggelei Frauensache zu sein. Die Mutter ist hier Ereignisträgerin und wird zum ersten Mal als eigenständige Person eingeführt (nicht nur als Elternteil oder Ehefrau). Da vermutlich Produkte für den alltäglichen Gebrauch in die Schweiz eingeführt werden, wird die Mutter als Hausfrau dafür zuständig sein. Dies muss als Hinweis auf eine klassische Rollenverteilung (Vater: Erwerbsarbeit – Mutter: Reproduktionsarbeit) gedeutet werden. Um den Deliktcharakter der familiären Schmuggelaktionen zu entschärfen und sich vom Schwarzmarkthandel zu distanzieren, betitelt Sr. Inge die Schmuggelei mit „Kleinschmuggel für Privatbedarf“. Ein solches Zollvergehen scheint sie weniger als Gesetzesübertretung denn als Bagatelldelikt zu definieren. Außerdem wird gerade über das konspirative Moment der Schmuggelei das Familienkollektiv „Grenzgänger“ hergestellt. und mir hen (.) also wenn man uf d’Reis gange isch dä het mä- also in O-Stadt git’s ja de Bahnhof Z //mhm// gits het mä immer e=Nastuech brucht, (.) und Billett und en Reisepass. //mhm// also das isch selbstverständlig gsi //mhm// ((atmet ein)) also mi hend uf beidnä Siite vo de Grenze gläbt (42-46)
Die nachfolgende Aufzählung der für die Familienmitglieder üblichen Reiseutensilien verdeutlicht nochmals die Selbstverständlichkeit des Grenzganges. Die abschließende Argumentation „also mi hend uf beidnä Siite vo de Grenze gläbt“ bestätigt Sr. Inges Kindheit beiderseits der Grenzen.
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(1) m=grossi Bedütig het für mi gha (1) äh d’Schwestere vo=mim Vater. (.) er het (.) biz jüngeri Zwillingsschwestere gha, a ich muess no sage dr Unter- de Altersunterschied zwüsched mine Eltere isch sehr gross gsi (.) mi Vater isch 18 Johr jünger gsi äh älter //mhm// tschuldigung 18 Johr älter gsi //mhm// als mi Mueter. //mhm// er het also sehr spot ghürote und isch (.) wiit über vierzgi gsi won=ich uf d’Wält ko bi. (46-51)
Sr. Inge fährt in ihrer Biographie mit einem positiven Gegenhorizont fort. Die etwas jüngeren Zwillingsschwestern ihres Vaters haben für sie große Bedeutung. Inwiefern, erfährt man an dieser Stelle nicht, da sie die Eröffnung des neuen Unterthemas mit einer Hintergrundkonstruktion über den beträchtlichen Altersunterschied zwischen ihren Eltern unterbricht. Es scheint, dass Sr. Inge die Einführung ihrer Herkunftsfamilie mit dieser für sie wichtigen Information abschließen will. Bei der Beschreibung des Altersunterschiedes zwischen ihren Eltern bezieht sie sich wieder auf ihren Vater. Möglicherweise hängt dies mit der Einführung der Zwillingsschwestern des Vaters zusammen. Auffällig ist jedoch, dass sich Sr. Inge innerhalb des Themas Herkunftsfamilie stark am Vater orientiert, die Mutter dagegen steht im Schatten des Vaters (außer in der Erzählung über die Schmuggelei). Die überlegene Präsenz des Vaters in Sr. Inges biographischer Erzählung könnte auch an diesem Altersunterschied von fast einer Generation liegen. Der Vater ist nicht nur wegen seiner Geschlechtszugehörigkeit, sondern auch aufgrund seiner größeren Lebenserfahrung die dominante Figur in der Herkunftsfamilie. ((atmet ein)) und (3) diä Schwestere (.) vo mim Vater hend i de Nöchi vo M-Stadt (.) e landwirtschaftlige Betrieb gfüert (.) sind Zwilling gsi aber unglichi völlig unglichi Zwilling (.) die einti (.) het e landwirtschaftlichi Usbildig gha do gits e Bild (.) vo ihre (.) als äh (1) in=ere landwirtschaftlige Schuel am Afang vom (.) 20. Johrhundert, sie elei als Frau unter luter Männer. //mhm// ((atmet ein)) und sie het denn eifach ihri (.) Schwester ihri Zwillingsschwester gholt zum de de Hof betriebe //mhm// sie hend das als Bruef hend sie das gwählt. //mhm// und durch d’Ferie dört (2) öh han ich (1) e sehr intensive Kontakt gha mit Landwirtschaft, also (.) ich han mit de Ziit melke glernt und ich ha könne (.) Ross agschiire und ich ha könne (.) glert wie mä (.) vo Hand säit e so //mhm// ((Bewegung hörbar)) alles was mä so macht. (.) Küeh hüete natürlig selbstverständlig alles das Kälber füetere (.) Säu füetere (1) Hüehner füetere und so wiiter. //mhm// ((atmet ein)) also en intensivi- (.) en intensive Kontakt zur zu Tier. //mhm// und zur Arbet (.) uf so=mene Hof. //mhm// wo ich vor allem (.) äh bevor ich in=d’Schuel ko bi (.) und in=de Ferie (.) erlebt ha. //mhm// als Kind. (52-67)
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Nach dieser Hintergrundkonstruktion fährt Sr. Inge mit der Erzählung über die Schwestern des Vaters fort. Die zweieiigen Zwillinge, deren Namen Sr. Inge nicht nennt, werden erneut in der verwandtschaftlichen Beziehung zum Vater und darüber hinaus als Leiterinnen eines landwirtschaftlichen Betriebs in der Nähe von M-Stadt beschrieben. Dass die eine Schwester zu Beginn des 20. Jahrhunderts als einzige Frau eine landwirtschaftliche Ausbildung absolviert, wird von Sr. Inge mit der Beschreibung einer Photographie ihrer Tante „unter luter Männer“ als Besonderheit betont. Die Bedeutung, die Sr. Inge ihren Tanten zukommen lässt, wird nun deutlich. Sie liegt in der selbst gewählten beruflichen Tätigkeit der Zwillingsschwestern als Landwirtinnen, dies in einer Zeit, in der es für Frauen unüblich und äußerst schwierig ist, einen Beruf zu erlernen und diesen auszuüben, darüber hinaus einen klassischen Männerberuf. An dieser Stelle dokumentiert sich zum einen Sr. Inges berufliche Orientierung, zum andern ihre Orientierung an selbständigen Frauen. Frauen, die über Durchsetzungskraft verfügen und ihren eigenen beruflichen Weg gehen, gehören zu ihrem positiven Gegenhorizont. Ein weiterer positiver Gegenhorizont liegt in der Arbeit auf dem landwirtschaftlichen Betrieb selbst. Sr. Inge beschreibt diese Tätigkeiten und den intensiven Kontakt zu den Tieren ausführlich. In ihrer Kindheit verbringt sie so viel Zeit auf dem Hof, dass sie viele dieser Arbeiten erlernt. Dass die Schwestern des Vaters einen landwirtschaftlichen Betrieb führen, steht, wie bereits die Schmuggelei, im Widerspruch zur familiären Verortung in der Oberschicht. Um zumindest der oberen Mittelschicht zuzugehören, müssten die Zwillingsschwestern Großgrundbesitzerinnen sein. Aufgrund der Beschreibung des Hofes handelt es sich aber eher um einen größeren landwirtschaftlichen Betrieb, dessen Besitzerinnen der unteren Mittelschicht zugerechnet werden können.4 Sr. Inges Zugehörigkeitsnormativ „Oberschicht“ entpuppt sich immer mehr als ein Mythos. Unklar ist, ob es sich um ein Familienwissen bzw. um einen Familienmythos handelt oder um eine Wunschvorstellung von Sr. Inge.
4
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählen zur oberen Mittelschicht „höhere Beamte, freie akademische Berufe, Offiziere, Großgrundbesitzer, Unternehmer und leitende Angestellte [ ]; zur unteren Mittelschicht gehören selbständige Handwerker, Einzelhändler, Gastwirte, mittlere und untere Angestellte, mittlere Beamte und Landwirte; zur Unterschicht werden Arbeiter, untere Beamte und (Klein)Landwirte zugeordnet“ (Löffler 2002, S. 151).
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((atmet ein)) mir (.) mir sind (.) alli nid in Kindergarte, (1) will (.) mi Mueter gfunde het mir sige vier Kinder, do brucht mä also kei (.) Kindergarte zum sozialisiert werde. //mhm// ((atmet ein)) denn (6) han ich glegentlich au mit=em Nochbersbuech mit=em Nochbersbueb gspielt, (.) de isch es Johr älter gsi als ich (1) als mi Vater het denn e het e Huus baut, (1) e so=ne Reihehuus //mhm// in (1) im Stadtteil O. //mhm// und (.) s’Nochbers (.) hend e Bueb gha und e Meitli dr Bueb isch e Johr älter als gsi (1) als ich gsi und s’ Meitli (1) bizli jünger als ich (1) so wie mi Schwester ender (1) und (.) ich erinnere mi (.) an=en Spielnomittag won=er mir e Dreischiibe zeigt het. (.) er het zu sinere Isebahn, das isch also (.) e sone Schiibe, (.) oder, (1) und ich ha verstande (1) wo=me wo=me ka (.) e Gleis (.) umelege also me //mhm// me schiebt de Bahnwage uf das Gleis das Ersatzgleis (rollt) (1) und dennä (.) äh (.) isch=es äh isch=es verbunde mit andere Gleis also s het vier Usgäng //mhm// und er seit mir diä Dreischiibe het vo dem gredet. (2) und denn han ich immer no denkt das isch aber komisch (1) ich ha das uf mim i=mim dütsche Dialekt verstande, (1) drei (.) schei- (1) schiibe (1) also schieben //mhm::// drei (1) schieben //@(1)@// das mä do (.) e Zug gschobe het han ich scho gse, aber ich bin no=nid in dr Schuel gsi //mhmm// an der Schuel (.) äh und no=ni in der Schuel gsi (.) aber ich ni- ich (1) und han das völlig falsch verstande ich ha gseh das=sind ja vier Usgäng worum seit=er drei. (1) und ähm aber er het ja nid drei gseit er het gseit drei und das //@(2)@// und das heisst @(
)@
und ich han do=defo verzellt ich verzell ihne die Gschicht (.) will das illustriert (.) dass ich han müesse (.) äh s’Schwiizerdütsch lernä als e Fremdsproch. //mhm// und zwor im Moment won=ich i d’Schuel ko bi. //mhm// vorher (.) isch me das äh (.) het mä das gar nid bruucht (1) und (.) diä=ähm das Gfühl (1) ich sig do (.) eigentlig fremd //mhm// das (.) isch mir immer bliibe und wohrschindlig mine Gschwüsterti au. //mhm// (67-95)
Sr. Inge thematisiert das Fernbleiben vom Kindergarten des gesamten Geschwisterkollektivs. Begründet wird dies über das Argument der Mutter, dass die vier Kinder untereinander genug „sozialisiert“ werden. Das deutet darauf hin, dass Sr. Inge die Vorschulzeit vor allem mit ihren Geschwistern verbringt. Darüber hinaus zeigt sich hier ein weiterer Kompetenzbereich der Mutter. Sie ist es, die über den Kindergartenbesuch bestimmt, da die Erziehung der Kinder zu ihren Aufgaben gehört. Es zeigt sich hier erneut die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Sr. Inges Herkunftsfamilie. Nach einer längeren Pause führt Sr. Inge den um ein Jahr älteren Nachbarsbuben als ihren gelegentlichen Spielkameraden ein. Der Erzählstrang wird jedoch durch eine Hintergrundkonstruktion unterbrochen, in der sie erklärt, dass der Vater mittlerweile ein Reihenhaus gebaut habe und eine Nachbarsfamilie mit zwei Kindern im Quartier lebe. Die Realisierung des Hausbaus verweist auf genügend finanzielle Ressourcen. Interessanterweise baut aber nur der Vater das Haus. Der Hausherr ist auch Bauherr. Das Bauen eines Hauses ist also männlich
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konnotiert, das Beleben des Hauses bzw. die Arbeit im Haus ist hingegeben weiblich geprägt. Die nun folgende längere narrative Belegerzählung über ein sprachliches Verständigungsproblem mit dem Nachbarsbuben dokumentiert Sr. Inges Fremdheitsgefühle in der Schweiz, die sie am Ende dieser Passage argumentativ bekräftigt. Dass sie erst mit dem Schuleintritt Schweizerdeutsch lernt, obwohl sie immer in der Schweiz gelebt hat, deutet auf eine Isolation der Familie in O-Stadt hin und bestätigt nochmals deren Orientierung an ihren deutschen Verwandten und Bekannten („vorher (.) isch me das äh (.) het mä das gar nid bruucht“). Die Verankerung der Eltern in Deutschland wird den Kindern weitergegeben. Weiter zeigt sich hier ein Vorwurf Sr. Inges Mutter gegenüber. Mit dem Besuch des Kindergartens, den die Mutter für nicht nötig hält, hätten Sr. Inge und ihre Geschwister die Chance einer früheren sprachlichen Integration gehabt. Dieses Fremdsein ist für Sr. Inge und – so vermutet sie – auch für ihre Geschwister von biographischer Bedeutung. Zwischenfazit (1-95) Innerhalb der ersten beiden Themen stellt Sr. Inge in einer konkreten, eher emotionsarmen Sprache und einigen detaillierten Erzählungen ihre Herkunftsfamilie und ihre Kindheit bis zum Eintritt in die Schule dar. Dabei expliziert sie konkrete Kontexte ihrer Lebenswelt, in die sie hineingewachsen ist. Es handelt sich dabei um „‚kleinräumige‘ konkrete soziale oder Sinn-Kontexte“, hier verstanden als konjunktive Erfahrungsräume und soziale Beziehungen, „die beim Erzählen der Lebensgeschichte aufgerufen werden“ (Thon 2008, S. 143). In diese Kontexte eingelassen sind sowohl biographische Konstruktionen von Geschlecht und den Geschlechterverhältnissen als auch vergeschlechtlichte Konstruktionen von Biographie (vgl. dazu Kap. 4). Beide Perspektiven sind nicht vom jeweiligen konkreten Kontext, innerhalb dessen eine Geschichte erzählt wird, zu trennen. Aus diesem Grund wird im Folgenden ein besonderes Augenmerk auf die genannten Kontexte gelegt, was unweigerlich eine Neustrukturierung der bisherigen Interpretationen und damit die Bildung von neuen Lesarten zur Folge hat. Darüber hinaus sollen die Interpretationen in den jeweiligen Zwischenfazits einer höheren Abstraktionsebene zugeführt werden. Der soziale Nahraum der Vorschulzeit ist in erster Linie durch die Kernfamilie und die erweiterte Herkunftsfamilie bestimmt. Zu Sr. Inges Kernfamilie gehören ihr Vater, ihre Mutter und drei Geschwister. Sr. Inge konstruiert sich und ihre Familie in der Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Oberschicht. Die Erzählung über den „Kleinschmuggel für Privatbedarf“ und diejenige über den land-
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wirtschaftlichen Betrieb der Zwillingsschwestern des Vaters lassen jedoch darauf schließen, dass es sich bei ihrer Zugehörigkeitskonstruktion vielmehr um eine Wunschvorstellung oder um einen (Familien-)Mythos handelt. Den Schilderungen zufolge gehört Sr. Inges Familie eher dem kleinstädtischen bildungsbürgerlichen Mittelschichtmilieu an. Die Familie hat ihren Wohnsitz in der Grenzstadt O (Schweiz), pendelt aber oft nach Deutschland. Durch den Wechsel des Wohnortes von Deutschland in die Schweiz verlieren die Eltern ihre selbstverständlichen alltäglichen Sozialkontakte. Da M-Stadt jedoch nicht weit von O-Stadt entfernt ist, beginnt die Familie ein Leben beiderseits der Grenzen. Die beruflichen und verwandtschaftlichen Beziehungen in Deutschland werden aufrechterhalten, die Möglichkeit, sich in O-Stadt ein neues soziales Netz aufzubauen, wird jedoch verpasst, was möglicherweise mit der angespannten politischen Lage in Deutschland zusammenhängt. Damit verwehren die Eltern ihren Kindern jedoch eine frühe Integration in die Schweiz. Indem sich Sr. Inge als in die Schweiz importiert versteht, führt sie sich symbolisch als eine Fremde ein. Ihre selbstverständlich dargestellte Lebensweise beidseits der Grenze und die dazugehörende Schmuggelei kann als weitere symbolische Einführung eines biographisch relevanten Themas gedeutet werden: Sr. Inge konstruiert sich als Grenzgängerin zwischen zwei Nationen. „Fremd sein“ und „Grenzgängerin sein“ scheinen Schlüsselbegriffe ihrer Biographie zu sein. Unmittelbar nach ihrer aktiven Selbsteinführung und der Einführung ihrer beiden Elternteile zu Beginn ihrer Erzählung tritt ihr Vater als Ereignisträger auf. Sowohl die sprachliche Erstnennung des Vaters und seiner Tätigkeiten als auch die prominente Stellung des Vaters gegenüber der Mutter weisen auf eine familiäre Hierarchisierung hin. Der Vater scheint nicht nur die dominante Figur in der Familie zu sein, sondern ein signifikanter Anderer für Sr. Inge. Die Orientierung am Vater zeigt sich aber nicht auf der emotionalen Ebene, sondern in Bezug auf seine berufliche und gesellschaftliche Stellung sowie seine (funktionalen) Beziehungen zur Außenwelt. Die Mutter wird von Sr. Inge als Ehefrau und Elternteil eingeführt und bleibt hinter dem „Paterfamilias“ eher unsichtbar. Erst im Zusammenhang mit ihrer Reproduktionsfunktion (Schmuggeln, Erziehungsaufgaben) tritt sie als eigenständige Person auf, die einen Verantwortungsbereich innehat und (hinsichtlich der nicht geleisteten Integration ihrer Kinder) zur Verantwortung gezogen werden kann. Die mit der Einführung der Geschwister einhergehende Verdeutlichung, dass sie die Älteste in der Geschwisterreihe ist, scheint für Sr. Inge Bedeutung zu haben. Das älteste Kind einer Geschwisterreihe zu sein, impliziert einen bestimmten Status und ist verbunden mit einem Entwicklungsvorsprung und mit
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Verantwortung gegenüber den jüngeren Geschwistern. Die Geschwister indessen bleiben fast gänzlich unsichtbar. Empathisch zeigt sich Sr. Inge in der auch bei ihrer Schwester und ihren Brüdern vermuteten Fremdheitserfahrung. Sowohl Sr. Inges Beziehung zu ihrer Herkunftsfamilie als auch das Familienleben selbst bleiben schwer fassbar. Die Einführung der Eltern und der Geschwister, ohne deren Namen zu nennen, weist auf eine gewisse Distanziertheit hin. Kindheitserinnerungen im Zusammenhang mit ihrer Herkunftsfamilie oder gemeinsame Aktivitäten werden kaum erzählt. Reflexionen über ihre Herkunftsfamilie, z. B. über den Stellenwert und die Qualität der einzelnen Beziehungen oder über die Form des Zusammenlebens, fehlen fast gänzlich. Insgesamt zeigt sich bei Sr. Inge eine zugewandte, nicht aber eine innige Beziehung zu ihren Eltern und Geschwistern. Über den problematischen Oberschichtsbegriff, über das Leben beidseits der Grenzen (fremd sein und Grenzgängerin) sowie über rituelle Gemeinsamkeiten (Taufe) stellt Sr. Inge ein Familienkollektiv her. Ansonsten konstruiert sie ihre Herkunftsfamilie über Außenbezüge und Abgrenzungen. Zugehörigkeit scheint etwas Prekäres zu sein. Innerhalb der erweiterten Herkunftsfamilie können die beiden Zwillingsschwestern des Vaters als signifikante Andere bezeichnet werden, denen Sr. Inge biographische Bedeutung zuschreibt. Aber auch die Identifizierung mit den Schwestern bezieht sich nicht auf die Qualität der Beziehung, sondern auf deren Orientierung an der Berufstätigkeit. Obwohl Sr. Inge ihre detailliert beschriebenen, auf dem landwirtschaftlichen Betrieb gelernten Arbeiten in der Ich-Form präsentiert, weisen sie auf eine gemeinsam aktiv verbrachte Zeit hin. Ihre Orientierung an den beiden Tanten weist außerdem auf eine Sensibilität Geschlechterfragen betreffend hin. Die beiden Frauen bilden einen positiven Gegenhorizont bezüglich ihres Durchsetzungsvermögens in einer Männerwelt, indem sie einen Beruf und nicht die Familie für ihren Lebensentwurf wählen. Im Zusammenhang mit der Orientierung an ihrem Vater kann jedoch die Hypothese gewagt werden, dass die Zwillingsschwestern zwar hinsichtlich ihrer Eigenständigkeit signifikante Andere sind, nicht aber in Bezug auf Bildung und gesellschaftliche Anerkennung. Eine weitere Bezugsperson, die Eingang in die Erzählung gefunden hat, ist der Nachbarsjunge, mit dem sie seit dem Umzug ins neue Haus gelegentlich spielt. Aber auch hier fehlen der Stellenwert und die Qualität der Beziehung, was daran liegen mag, dass es sich eher um eine Belegerzählung, ihre Fremdheit in O-Stadt betreffend (sprachliche Verständigungsschwierigkeiten), handelt und gleichzeitig um eine symbolische Andeutung dessen, dass sie Grenzgängerin ist (Eisenbahn).
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Thema 3: Schulzeit (95-228) ((atmet ein)) (1) mir sin (.) alli in Privatschuele gschiggt worde, (.) ich bi (.) in e kleini Privatschuel ko (1) zäme (.) mit (.) der Tochter vo Bekannte, (.) diä sind vo I-Stadt gsi also au e bizli fremd in O-Stadt (1) äh au katholisch wie mir (2) und (1) äm (.) mit derä zäme bin ich in diä Privatsch- in diä kleini Primarschuel ko (.) sind jo vier Johr in O-Stadt meh het mä nid (.) an Primarschuel (1) und oder säbmol gha also inzwüsche isch alle anders. //mhm// (1) und (2) mir sind siebe (1) Meitli in einere Klass gsi (.) also //mhm// sehr (.) i=mein (1) es sind zwei Klasse in- mitenander im gliiche Ruum unterrichtet worde //mhm// vo=dr Bsitzerin vo derä Schuelbetriberin vo derä Schuel än elteri Lehrerin (1) und denn het sie e jüngeri agstellt gha für die dritti und vierti Klass. //mhm// (2) und das isch (.) eigentlig (1) ganz=äh gmüetlig gsi und und sehr persöndlig (1) familiär (1) anderersiits aber (.) han ich das fremd sii (.) immer gspührt. //mhm// in denä Johre. (2) e ich ghöre irgendwie nid derzue (.) und ich äh (1) ich seh m- m- mi Fründin do mit derä bin ich do in diä Schuel gsteckt worde (1) äh diä het e huufe Beziehige do in O-Stadt (.) won=ich nid ha (.) und ich wird in diä Beziehige nid igweiht (.) also ich bi am am Rand (1) immer am Rand gstande. //mhm// (95-112)
Sr. Inge fährt in ihrer Lebensgeschichte mit der Schulzeit weiter. Sie und ihre Geschwister besuchen – der gehobenen Schicht entsprechend – nicht öffentliche, sondern je unterschiedliche Privatschulen. Die Aussage „mir sin (.) alli in Privatschuele gschiggt worde“ macht deutlich, dass die Kinder in der Wahl der Schule keine Stimme haben, die Eltern wählen die jeweiligen Schulen aus. Erst im zweiten Satz führt sich Sr. Inge zusammen mit der Tochter von Bekannten, mit der sie eingeschult wird, als Ereignisträgerin ein. Diese Mitschülerin beschreibt Sr. Inge mit zwei Merkmalen: 1. fremd in O-Stadt und 2. katholisch. Über diese zwei Merkmale konstruiert Sr. Inge eine Zusammengehörigkeit. Sie identifiziert sich mit dieser Mitschülerin in Bezug auf bestimmte Aspekte des Fremdseins: Fremdsein am geographischen Ort und Fremdsein im Hinblick auf die in O-Stadt übliche Religionszugehörigkeit. Weiter folgt eine Beschreibung des damals existierenden Schulsystems in O-Stadt und der internen Organisation der Privatschule. Die Beschreibung endet in einer zunächst positiven Evaluation, indem sie der Schule Attribute wie gemütlich, persönlich und familiär zuschreibt, was der geringen Größe der Privatschule geschuldet ist. Letztlich endet die Evaluation aber negativ, da Sr. Inge ihr Fremdsein an dieser Schule nochmals bekräftigt. Die Begründung des Fremdseins verläuft interessanterweise über ihre Mitschülerin, die sie mittlerweile als Freundin bezeichnet. Die anfängliche Identifikation verkehrt sich in eine Abweichung. Obwohl die Freundin fremd oder zumindest
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neu in O-Stadt ist, scheint sie viele Beziehungen zu haben oder diese mittlerweile aufgebaut zu haben – Beziehungen, in die Sr. Inge nicht mit einbezogen ist. Sie fühlt sich ausgeschlossen. Allein sein, beziehungslos sein, nicht integriert sein in O-Stadt wird wiederum Thema. ((atmet ein)) glichziitig (1) han ich (.) in O-Stadt (.) will ich in=ere (.) Privatschuel gsi bi (.) und will (.) mir müesse sage mir (1) mi mi Fründin N äh isch ja (.) im gli- in der gliche Situation gsi ((atmet ein)) das isch e reform- e protestantischi Schuel gsi (1) //mhm// und mir hen dört in=dere protestantische Schuel hend mir natürlig alli diä schöne (1) protestantische Koräl (.) glernt das isch e frommi Lehrerin gsi und me het am am Morge bättet (.) und sie het das (.) sie stehend e so het mä bättet //mhm// also ich han das sehr komisch gfunde (1) und diä Art wie sie vom Herr Jesus verzellt hed han ich au sehr komisch gfunde isch mir fremd gsi (1) aber=äh guet, (1) ich han denn mit de N zämme han ich äh Religionsunterri- richt kriegt //((räuspert sich))// äh Privatstunde nume mir zwei. (2) von=ere Schwester, (1) vo F-Berg(.) also Sankt L hets Pfarrhuus (.) vo F-Berg gheisse (.) Sankt L isch ja diä ältischti (1) äh Pfarre- Pfarrkirche in- //mhm// katholischi //mhm// in O-Stadt. ((atmet ein)) und (2) das=sin=äh Schwestere us de Region R (.) gsi aber vo OStadt //mhm// und diä (1) hän (.) uns (.) e sehr e guete Religionsunterricht gä, (1) ich han in ich mein hütte no in denä vier Johr han ich diä ganzi Bible kenne glernt //mhm// sie het sie het könne verzelle (.) diä Schwester //mhm// (2) äh (.) das heisst mi hend sie nume in der erste (1) und in der dritte und vierte Klass gah zwüschet drin het sie emal müesse in ihres Mueterhuus goh wohrschindli het sie müesse diä ewige Glübt mache. //mhm// und isch also au no (1) isch no sehr jung gsi. //mhm// und (1) ((atmet ein)) (2) ich mein (.) ich heig in derä in denä drei Johr (.) won=ich diä Schwester gha han (.) heig ich diä ganzi Bible kenne glernt (.) durch das wo sie verzellt het, //mhm// und usser dem (.) de ganzi Katechismus, //mhm// das heisst diä ganzi katholischi Dogmatik. //mhm// (2) äh irgendwiä tönt das hüt zu Tags wo mä (.) Kinder von Dogmatik verschont und sie hend vo nüt en Ahnig, //mhm// tönt das fasch pervers (1) aber mir isch das irgendwie ine gange //mhm// au durch diä Personalisierig vo dere Schwester wo wirklig, (.) en en echte (.) Glaube (.) gha het //mhm// und diä Verbindig vo Bible (.) biblische Gschichte (1) //mhm// und=äh Katechismus //mhm// het sehr guet (1) funktioniert //mhm// also das isch (1) das isch inenander ine gange ich han do kei (.) Widerspruch (.) gspürt //mhm// und (.) das isch mir irgendwie gläge. //mhm// (2) und ich ha äh au die as- s- s’Wäsentligi mini mi wäsentlig theologisches Wüsse (1) han=ich us denä drei Johr bi derä Schwester- bild ich mir hüt @e so i@ //@(2)@// @s tönt e bizeli kindlig@ ((atmet ein)) @(2)@ //@(2)@// (112-148)
Sr. Inge fährt im Modus der Erzählung weiter und weist auf ein zeitgleiches Geschehen hin, das sich im Rahmen der Privatschule abspielt, bricht den Erzählstrang jedoch zugunsten einer Hintergrundkonstruktion ab. Sie führt sich, zu-
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sammen mit ihrer Freundin N (ihr Vorname wird erstmals erwähnt), in einer religiösen Differenz zur protestantischen Privatschule ein. Sie beschreibt die religiöse Ausrichtung und die religiösen Praktiken der Privatschule. Obwohl ihr die protestantischen Choräle zusagen, bleiben ihr die religiösen Rituale und Praktiken fremd, und sie definiert sich damit als Grenzgängerin zwischen den Religionen. Nach der Hintergrundkonstruktion fährt sie mit der Erzählung des gesonderten Religionsunterrichts fort, den ihre Freundin N und sie von einer katholischen Schwester aus L-Berg erhalten. Die erneute Hintergrundkonstruktion im Modus der Argumentation dient der Erläuterung der historischen Verankerung der Schwestern aus L-Berg in O-Stadt. Einerseits fließt hier ihr kirchenhistorisches Wissen ein, andererseits scheint sie den historisch verankerten Katholizismus in O-Stadt hervorheben zu wollen. Dies kann als Strategie gelesen werden, ihrer religiösen Marginalisierung (in der Schule und in O-Stadt) entgegenzuwirken. Den Religionsunterricht dieser jungen Schwester bewertet sie äußerst positiv. Neben ihrer Erzählkompetenz begeistert sich Sr. Inge für den „echten“ Glauben der Schwester. Weiter entdeckt sie ihr Interesse am Katechismus, der katholischen Dogmatik und der biblischen Geschichte. Es zeigt sich hier eine Orientierung an Religiosität, einerseits über einen eher intellektuellen Zugang (biblische Geschichte, Katechismus und Dogmatik) und andererseits über den überzeugten bzw. überzeugenden Glauben der jungen Schwester. Aus der heutigen Perspektive scheint Sr. Inge einen Widerspruch in der Verbindung zwischen biblischer Geschichte und Katechismus zu sehen, der für sie in der damaligen Zeit jedoch nicht gilt: „ich han do kei (.) Widerspruch (.) gspürt“. Weiter dokumentiert sich in diesem Abschnitt eine Orientierung an religiöser Bildung über die Konstruktion eines negativen und eines positiven Gegenhorizont. Der negative Gegenhorizont bezieht sich auf die mangelhafte religiöse Bildung der heutigen Kinder, der positive auf den qualitativ guten Unterricht dieser Schwester, durch den sie sich ihr theologisches Grundwissen aneignen kann. Ihre Aussage, dass sie ihr wesentliches theologisches Wissen in der Primarschule aneignet, bewertet sie sogleich als „kindelig“, ist also vom Standpunkt einer gebildeten und gestandenen Frau aus mit Peinlichkeiten verknüpft. denn (.) mir sind jo nochher (.) noch der (.) vierte Klass also mit zäh Johr anno (1) anno (.) 39 (1) also 35 bin=i in d’Schuel ko (2) (dö) 39 (.) ins Gymnasium (1) ((atmet ein)) ich han nie Problem ka in der Schuel also das isch alles ohni Wiiteres gange. (1) ((atmet ein)) inins Gymnasium ko (1) und (1) ich ha do am erste Tag (1) wo mir iteilt worde sind mer sin (.) in isch es e riise Schuel mit über tausig äh Schüelerinne das Meitligymnasium in OStadt (1) ((atmet ein)) äh säbmol gsi (1) und mir sind iteilt worde isch e ganzi Aula voll vo (.) Meitli in unserem Alter gsi und denn het mä (so) d’Näme abegläse (.) //mhm// und äh
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dä (.) vo minere Klass (.) sin=äh (.) drei in diä gli- in (.) also mir sind z dritte i diä glichi Klass ko, (1) und ich han das Entsetzliche erläbt do (1) dass=äh mi gueti Fründin N (1) sich uf diä ander gstürzt het und sich näbe diä gsetzt het und we- //mhm// und mi het sie (.) //mhm// hänge lo. //mhm// und=äm inzwüsche isch mir natürlig au der Begriff äh (.) Schdr S- Sauschwob (1) äh übergange (.) in Fleisch und Bluet oder, //mhm// ich han gwüsst ich bi (.) ich bi eifach (1) nid wie die andere ich bi marginalisiert. //mhm// und (.) aber ich han mi gliichziitig au (1) früeh dra gwöhnt (1) andersch z’si als diä andere, //mhm// und (.) das=äh (1) uszhalte. //mhm// also ich erinnere mi au an Detail mit Kleidig (1) es isch (.) äh säbmol i Mode ko (1) dass äh d’Meitli also d- d’Kinder (.) so genannti Sch- Schueh mit Kässohle (1) kauft hend kriegt hen //mhm// das sin diä erste Gummisohle gsi, //mhm// und diä sin gääl gsi. //mhm// ganz diggi (.) //mhm// Gummisohle. //mhm// und ich hät unbedingt au gärn e=so Kässohleschueh gha //mhm// aber d’Mueter het also gfunde (.) n- nei das sig also nid nötig und das kauf sie nid und so (.) //mhm// guet also ich bi eifach andersch und usserdem het mi Mueter denn au (1) mir uns Kleider (1) verschafft oder au au ich erinnere mi an e Strickjagge wo sie uns gmacht het wo typisch (1) dütsche (1) Dirndel-Stil gsi isch //mhm// also au mit dem //mhm// sie het das nid gmergt //mhm// sie het so ihre Huushalt (.) äh gha //mhm// und ((atmet aus)) guet. (1) und het het wenig z’wenig Beziehige gha (1) u- under d’Lüt dass dass dass dass=mä das aber ich ha=s treit (.) und ha eifach gseit (.) es isch jetzt eifach eso, (1) ich bi andersch, (1) und mä muess das könne ushalte. //mhm// und das het mir uf=en Art (.) au: u- uf s’Läbe e gwüssi Sterki gä. //mhm// denn äm //((räuspert sich))// (2) äh (2) ich ha mi gar nid könne (1) an diä andere oder an s’Groh oder an d’Mehrheit (1) apasse; //mhm// (148-183)
Nach der vierten Klasse folgt der Übertritt ans Gymnasium. Sr. Inge spricht an dieser Stelle nicht in der Ich-, sondern in der Wir-Form, was nahelegt, dass mehrere Mädchen der Privatschule ans Gymnasium wechseln. Die anschließende zeitliche Orientierung dient der chronologischen Genauigkeit. In einer Hintergrundkonstruktion nimmt Sr. Inge eine Bilanzierung ihrer Schulzeit vor, indem sie sich als gute Schülerin darstellt, was gleichzeitig als Erklärung für den Übertritt an die Mittelschule dient. Sie setzt zu einer Erzählung über den ersten Schultag an, die sie durch eine weitere Hintergrundkonstruktion unterbricht. Die Schule wird – im Gegensatz zur kleinen familiären Privatschule – als riesiges Mädchengymnasium mit über tausend Schülerinnen beschrieben. Diese Hintergrundkonstruktion und die Weiterführung der Erzählung über die mit Mädchen ihres Jahrgangs gefüllte Aula machen den Kontrast zwischen der überschaubaren Privatschule und der großen öffentlichen Schule nochmals deutlich. Der erste Schultag am Mädchengymnasium ist negativerweise in bleibender Erinnerung. Sr. Inge erlebt „das Entsetzliche“, dass sich ihre Primarschulfreundin von ihr abwendet. Die unmittelbar anschließende Fremdzuschreibung „Sauschwob“
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deutet darauf hin, dass sie den Verlust ihrer Freundin mit ihrer deutschen Herkunft in Verbindung bringt. Sie ist die Deutsche, die Fremde in der Schweiz und wird aufgrund dessen verlassen, ausgestoßen, diskriminiert. Das Schicksal des Andersseins wird durch dieses Erlebnis einverleibt („übergange (.) in Fleisch und Bluet“), die Stigmatisierung wird zur Selbststigmatisierung. Der Einverleibung des Fremd- und Andersseins gewinnt Sr. Inge – zumindest aus heutiger Perspektive – etwas Positives ab: Sie lernt dies auszuhalten und gewinnt dadurch an Stärke („aber ich han mi gliichziitig au (1) früeh dra gwöhnt (1) andersch z’si als diä andere, und (.) das=äh (1) uszhalte“). In der nachfolgenden Erzählung führt Sr. Inge zwei anschauliche Beispiele ihres Fremd- und Andersseins an. Hier ist es nicht die Sprache – Schweizerdeutsch hat sie wahrscheinlich in den vier Primarschuljahren gelernt –, sondern die Kleidung, die sie zur Anderen macht: diejenige, die sie nicht trägt („Kässohleschueh“), und diejenige, die sie trägt („Strickjagge“ im „dütsche Dirndel-Stil“). Obwohl Sr. Inge die Mutter etwas in Schutz nimmt („sie het das nid gmergt“), macht sie diese für ihre mangelnde Integration in die Schweiz verantwortlich („und het het wenig z’wenig Beziehige gha (1) u- under d’Lüt dass dass dass dass=mä das“). Der nachfolgende Satz „aber ich has treit“ erhält an dieser Stelle eine doppelte Bedeutung. Sie trägt die Kleidung und trägt ihr Schicksal. Sie konstruiert sich als die Andere, die sich nicht an die Mehrheit anpassen kann. Sie kann weder ihre deutsche Herkunft noch ihre religiöse Zughörigkeit noch ihre Kleider abstreifen. Diesen Diskriminierungserfahrungen schreibt Sr. Inge biographische Bedeutung zu: Sie gewinnt an Charakterstärke. (4) bi uns diheim also mi sind (.) ähm äh es so genannts (.) bildigsriichs Milieu es het e huufe Büecher immer gha an dr Wiehnacht isch s’Wichtigsti gsi was was für neui Büecher het’s gä //mhm// immer, (.) mi hen äh (.) unsri Mueter het uns viel (.) früeh scho immer vorgläse Märli diä ganze Grimm-Märli au //mhm// d’N isch amel zu uns //((hustet))// ko (1) und het äh (.) het gfunde also ihri Mueter wot nit dass sie Märli kenne lernt aber bi uns het mä Märli gläse (.) //mhm// und d’Mueter het vorgläse ich ha also nid chöne läse bevor ich in d’Schuel ko bi, //mhm// das äh hend het mi Mueter nid wellä, (.) //mhm// also (1) aber ich ha d- mä lernt das jo oder, //mhm// guet (1) an=mä schöne Tag han=i halt selber könne läse het sie gseit also jetzt (.) jetzt lies das selber das kasch du doch läse. guet denn han=i mi also ufgrafft //@(2)@// das isch so dr (.) dr bildigsmässigi (.) //mhm// Hindergrund. //mhm// (183-195)
Nach einer kurzen Pause thematisiert Sr. Inge erneut ihre Herkunftsfamilie („bi uns diheim“). Sie bricht den Teilsatz ab und führt ihre Familie als bildungsorientiert ein („bildigsriichs Milieu“). In den Modi der Beschreibung und der Erzäh-
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lung hebt Sr. Inge den Stellenwert der Bücher in ihrer Familie hervor. Die Passage über das Vorlesen von Märchen dient Sr. Inge aber zugleich als Entwertung ihrer Primarschulfreundin N und deren Familie: Die Freundin ist zwar die Beliebte, Sr. Inge aber die Intelligente aus einem bildungsorientierten Milieu. Mit der normativen Aussage „aber bi uns het mä Märli gläse“ konstruiert Sr. Inge ein weiteres Mal ein Familienkollektiv. Bücher scheinen für alle Familienmitglieder von großer Wichtigkeit zu sein, Bücher tauchen in Verbindung mit dem familiären Weihnachtsfest auf, über Geschichten macht Sr. Inge die Erfahrung, Familie zu haben und Teil dieser Familie zu sein. Ohne dass die tradierte geschlechtsspezifische Ordnung außer Kraft gesetzt würde, wird auch die Märchen vorlesende Mutter über ihre Reproduktionsfunktion (Vorlesen) Teil der bildungsorientierten Familie. Da das Vorlesen auch etwas Emotionales und Fürsorgliches beinhaltet, wird über dieses Bild eine emotionale Nähe zwischen Mutter und Tochter dargestellt. Das Erlernen der Lesekompetenz hat allerdings zur Folge, dass die emotionale Beziehung zur Mutter jäh abgebrochen wird. Mit Sr. Inges erstem außerfamiliärem Bildungsschritt (Lesen wird in der Schule gelernt) spaltet sich die Mutter auf der Gefühlsebene von ihr ab. Bildung wird so mit einer prekären Form von emotionaler Ablösung verbunden. Vor diesem Hintergrund erhält der Schlusssatz dieser Passage („das isch so dr (.) dr bildigsmässigi (.) Hindergrund.“) eine doppelte Bedeutung. Einerseits will Sr. Inge damit den Status der Familie sichern (bildungsorientiertes Milieu), andererseits verdeutlicht sie damit nochmals die Problematik der sozialen Einbindung und der Emotionalität innerhalb ihrer Familie. ((atmet ein)) (1) guet denn (1) äh (.) Gymnasium won=ich de Religionsunterricht stinklangwiilig gfunde ha //((schmunzelt))// äh:: (.) bi (.) han mir immer diä Abteilig usgsuecht (.) wo=s äh: wo=mä am meiste ka lerne, also ich han äh (1) das Gymnasium isch in- (.) isch acht Johr lang gange, also mit (.) nach zwölf Johr het mä d’Matura gmacht, also acht und vier (.) //mhm// und äh (.) ich han noch noch zwei Johr Untergymnasium (.) het mä denn sich müesse entscheide (1) uf U- U- Uswahl, zwüsche drei Abteilige, (1) ich ha selbstverständlig d’Gymnasialabteilig gmacht (.) mit=ere Latinmatura //mhm// und allem dem. ((atmet ein)) mi hen (1) sehr gueti, (1) Lehrkräft gha, (.) vor allem in de letzte vier Johr (1) mi hen=uns in de:m (.) so in dr äh (1) jetzt muess ich’s umrechne (1) im (1) im siebte und achte Schueljohr (1) hen mir uns saumässig benoh, //((schmunzelt))// und sind nochher relativ grossi Klass gsi, (.) //mhm// und uf das hi, (1) hend sie uns (1) strengi Lehrer das heisst @vor allem gueti Lehrer verpasst@ in diä Ober- //mhm// (1) in d’Oberstufe für diä letztä vier Johr //mhm// und do hend mär Glück gha. //mhm// und (1) äm (.) diä wichtigsti (.) Person (.) do in im Gymnasium (1) isch (.) die d’Lehrerin für Dütsch und Gschicht gsi, (1) das isch (1) in O-Stadt (1) wohrschindlig diä prominentischti
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Frauerechtlerin gsi. //mhm// wo (.) uns (.) natürlig entsprechendi Ideeä bibrocht het, //mhm// sie het au an=ere andere Abteilig an dr (.) allgemeine Abteilig het sie au Rechtskund geh //mhm// mi hend selbstverständig (1) in dä obere Klasse hend mir (.) sind mir vertraut worde mit (1) mit=äh (2) Verfassige //mhm// mit (1) äh (3) ja also (mein) mit rächtliche Aspekt //mhm// von der Politik und vo dr Gschicht //mhm// und hen au glernt läse sie het uns bibrocht dass mä muess luege was do wirklig stoht und nid was ich gern möcht läse us dem Text //mhm// use (1) also isch=e sehr em (1) en en e wichtigi Person gsi für mi, (1) ebä n=au (1) mit ihrer Überzügig (1) dass d’Fraue (1) ohni Stimmrecht (2) eifach schlecht behandlet sind. //mhm// also das isch diä glichi wo (1) anno (.) n::ünäfufzig (1) in O-Stadt (2) de Frauestreik (.) organisiert het //mhm// nochem nochdem wieder emal s’Frauestimmrecht //mhm// bachab gschiggt worde //mhm// n=isch. //mhm mhm// äh dass das Frauestimm- Frauestimmrecht iigfüert worde isch het sie leider nümme erläbt. //mhm// sie isch (2) 68 mein=i isch sie umko //mhm// bim=ene Umfall //mhm// (195-228)
Im folgenden Abschnitt kommt Sr. Inge, orientiert an einer chronologischen Erzählung, zurück zu ihrer Gymnasialzeit. Die Erzählung wird gleich zu Beginn durch eine Hintergrundkonstruktion über den langweiligen Religionsunterricht unterbrochen. Damit macht sie deutlich, dass das Thema Religion noch immer von Bedeutung ist, zugleich untermauert sie damit ihre weiter oben gemachte Aussage, dass sie sich ihr wesentliches theologisches Wissen in der Primarschule angeeignet hat. Ihr Bestreben, die lehrreichsten Abteilungen am Gymnasium zu besuchen, weist auf eine außerordentliche Leistungs- und Bildungsorientierung hin. Die anschließende zeitliche Orientierung dient der chronologischen Genauigkeit. Dass sie nach dem Untergymnasium „selbstverständlig“ die Gymnasialabteilung besucht „mit=ere Latinmatura und allem dem“, ist ein weiterer Indikator ihres bildungsorientierten Habitus. Die selbstredende Akzentuierung des Besuchs der Gymnasialabteilung ist hinsichtlich der sozialhistorischen Bedingungen Ende der 1930er-Jahre in Bezug auf die Mittelschulausbildung von Mädchen aber doch etwas irritierend.5 Die Selbstverständlichkeit kann dahingehend gedeutet werden, dass es für Sr. Inge selbst oder für ihre Eltern außer Frage stand, dass sie die Maturität erreicht. Damit würde sich Sr. Inges Familie in Bezug auf Bildungsfragen im Zusammenhang mit Geschlechterfragen fortschrittlich zeigen.
5
Ende des 19. Jahrhunderts wurde eine Gymnasialabteilung an der Töchterschule in OStadt gegründet. 1929 entstand daraus das öffentliche Mädchengymnasium. Allerdings war es noch keine Selbstverständlichkeit, dass die Mädchen zu dieser Zeit eine Mittelschule besuchten (vgl. hierzu Joris/Witzig 1986; von Roten 1996).
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Im Vorgriff auf die noch folgende Sequenz bilanziert Sr. Inge ihre Erfahrungen mit ihren Lehrpersonen am Gymnasium positiv. Nach einer erneuten chronologischen Orientierung rückt ihre Jahrgangsklasse als Ereignisträgerin ins Zentrum der Erzählung. Trotz ihrer weiter oben vorgenommenen Selbststigmatisierung als diskriminierte Andere konstruiert Sr. Inge bei ihrer Jahrgangsklasse ein Kollektiv, von dessen auch sie Teil ist. Sie beschreibt die Oberstufenklasse als relativ groß und mit äußerst schlechtem Benehmen („saumässig“), was „strengi Lehrer“ als Konsequenz nach sich zieht. Indem sie die disziplinierende Erziehungsinstanz positiv bewertet, legitimiert sie Erziehung und Bildung im Sinne von Zucht und Ordnung. Um im Bereich der Bildung zu höheren Gütern zu gelangen, braucht es also Disziplin, Autonomie kommt hier nicht vor. Als wichtigste Person in ihrer Gymnasialzeit nennt Sr. Inge eine Lehrerin, die sie als die wahrscheinlich „prominentischti Frauerechtlerin“ in O-Stadt bezeichnet. Sie unterrichtet nicht nur Deutsch, Geschichte und Rechtskunde, sondern sensibilisiert die Schülerinnen auch für Fragen zur Gleichberechtigung von Mann und Frau („wo (.) uns (.) natürlig entsprechendi Ideeä bibrocht het“). Darüber hinaus bringt sie den Schülerinnen exaktes Arbeiten bei („mä muess luege was da wirklig stoht“). Sr. Inge bewertet die Lehrerin nochmals als biographisch wichtige Person und begründet dies mit deren Überzeugung für den politischen Kampf zur Erreichung des Frauenstimmrechts. Sie beschreibt sie als handlungsorientierte Frau, die nach einer politischen Niederlage weiterkämpft. Den Unfalltod der Frauenrechtlerin vor der Einführung des Frauenstimmrechts bedauert sie. Von dieser Lehrerin ist Sr. Inge nachhaltig beeindruckt. Im Mittelpunkt der Erzählung steht nicht die emotionale Beziehung zu dieser Frau, sondern der geschlechterpolitische Inhalt: die Erreichung der formalen (politischen) Gleichberechtigung. Zwischenfazit (95-228) Die Schulzeit eröffnet Sr. Inge neue soziale Erfahrungsräume über ihre erweiterte Herkunftsfamilie hinaus. Diese bestehen aus der kleinen protestantischen Privatschule und dem großen öffentlichen Mädchengymnasium, das sie mit der Maturität abschließt. Die Art und Weise, wie Sr. Inge von ihrer Schulzeit erzählt, ist ein weiterer Indikator für ihren bildungsorientierten Habitus. Die Schule wird von Sr. Inge weniger über ihre sozialen Beziehungen thematisiert, sondern als Institution, die Bildungsmöglichkeiten eröffnet und Bildungstitel vergibt. Zwei Lehrerinnen der beiden Bildungsinstitutionen sind für Sr. Inge signifikante Andere, denen sie biographische Bedeutung zuschreibt: die Klosterfrau hinsichtlich
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ihrer religiösen Orientierung und die Gymnasiallehrerin hinsichtlich ihres (frauen-)politischen Engagements. Innerhalb ihrer Altersgruppe schildert Sr. Inge eine nicht unproblematische Beziehung zu ihrer Freundin N. Anfänglich über die elterliche Wahl der Schule zusammengebracht, entwickelt sich zwischen den beiden Mädchen eine Freundschaft, die sich über ihr Fremd- und Anderssein definiert (fremd sein in O-Stadt, andere Religionszugehörigkeit). Als sich die Freundin N ein Beziehungsnetz in O-Stadt aufzubauen vermag, zu dem Sr. Inge keinen Zugang hat, wird die Beziehung brüchig. Gemeinsamer Bezugspunkt bleibt die Religionszugehörigkeit und der dazugehörige katholische Religionsunterricht. Der endgültige Bruch folgt mit dem Wechsel ans Mädchengymnasium. In Verbindung mit der am Gymnasium geäußerten Etikettierung „Sauschwob“ wird von Sr. Inge das Schicksal des Fremd- und Andersseins einverleibt, die Stigmatisierung wird zur Selbststigmatisierung. Sr. Inge bleibt – auch über äußere Merkmale wie Kleidung erkennbar – die Fremde, die Andere, die Deutsche, ihre einstige Freundin nicht. Über die Herstellung der bildungsbürgerlichen Orientierung ihrer Herkunftsfamilie grenzt sie sich gegenüber ihrer ehemaligen Freundin ab. Peergroup-Beziehungen, Aktivitäten in Jugendgruppen oder gemeinsame Erlebnisse mit Gleichaltrigen außerhalb der Schule werden von Sr. Inge keine genannt. Die z. T. in der Wir-Form erzählten Passagen über den Klassenverband ist weniger gemeinsamen Erlebnissen und Interessen, sondern der Tatsache des formal gegebenen Altersklassenkollektivs geschuldet. Über dieses Fremd- und Anderssein und über die Bildungsorientierung findet auch ihre Familie Eingang in die lebensgeschichtliche Erzählung. Die Mutter konstruiert über die Kleidung eine deutsche Identität, welche die Tochter ausbaden muss. Damit macht sie ihre Tochter auch visuell zur Grenzgängerin zweier Nationen. Obwohl Sr. Inge den Vorwurf abschwächt, macht sie auch an dieser Stelle die Mutter am Fremd- und Anderssein ihrer Kinder (mit-)verantwortlich. Über die normative Vorstellung, sich Bildung über Bücher anzueignen, stellt Sr. Inge ein zweites Mal ein Familienkollektiv her. Das Bild der Märchen vorlesenden Mutter ist denn auch der einzige Hinweis auf gemeinsam aktiv verbrachte Zeit, ansonsten finden sich keine Schilderungen über das Familienleben. Über diese Märchenszene dokumentiert sich aber nicht nur Sr. Inges Bildungsorientierung, sondern vor allem der Abbruch der emotionalen Bindung zu ihrer Mutter. Mit der ersten außerfamiliären Bildungserfahrung spaltet sich die Mutter radikal von Sr. Inge ab. Dies verhindert letztlich eine positive Identifikation mit der Mutter und damit mit der weiblichen Rolle innerhalb der Familie. Signifikante Andere weiblichen Geschlechts sucht Sr. Inge außerhalb ihrer Kernfamilie: die in einem typischen Männerberuf arbeitenden Tanten, die tief-
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gläubige Religionslehrerin aus der Primarschule (Klosterfrau) und die für das Frauenstimmrecht kämpfende Gymnasiallehrerin. All diesen Frauen schreibt Sr. Inge biographische Bedeutung zu. Gemeinsam ist diesen Frauen, dass sie 1. berufstätig und 2. unverheiratet sind.6 Die Identifikation mit diesen Frauen legt den Schluss nahe, dass sich Sr. Inge an einem berufstätigen Lebensentwurf orientiert, der Heirat und Familiengründung nicht zwingend mit einbezieht. Soziale Beziehungen sind in Sr. Inges Schulzeit von Abbrüchen geprägt, stehen in Verbindung mit ihrem Fremd- und Anderssein oder sind eher sachlicher Natur. Die in diesem Zusammenhang erzählten dramatischen Ereignisse berichtet Sr. Inge zwar mit großer Offenheit, aber ohne Emotionen. Ihre schonungslose Selbststigmatisierung als Fremde/Andere und die brutale, aber emotionslose Offenlegung ihrer Probleme kann als Bewältigungs- oder Überlebensstrategie gedeutet werden, durch die sie sich unverwundbar macht. Die Selbststigmatisierung, die Abspaltung des Emotionalen und ihre Orientierung an Disziplin ermöglichen ihr aber auch einen Lebensentwurf jenseits der damals üblichen weiblichen Rolle. Thema 4: Geschlechtsspezifische Diskriminierungserfahrungen (228-263) (3) also //((räuspert sich))// das wärs Bewusstsi, (1) dass=mä als Frau (1) äm (1) w:- weniger Recht het (.) oder vö- e e minderwertigs Wese isch (.) //mhm// in der öffentlige Meinig. (.) das han=i natürlig au gmerkt (1) in der Literatur und dr Gschicht, (1) d’Heldä sind immer Männer. //mhm// (3) und äm (1) ich mein (.) was mä liest, dr Faust und dr dr Tasso und äm (.) am Schiller sini Helde (mein) guet e biz Maria Stuart und und äh Elisabeth aber: es git au no (1) anderi Heldä bim Schiller. ich weiss jetzt //mhm// nid de Räuber und so und das d’He- diä grosse Heldä sin immer Männer, (.) //mhm// au in dr Gschicht sin diä grosse Heldä immer Männer //mhm// diä einzigi Heldin, (1) wo=mä emol kenne glernt hed das isch d’Jeanne d’Arc gsi //mhm// wo öpis gleischtet het, und i=mein das kann mä jo (1) das kann mä jo nochwiise. diä isch nid eifach //mhm// numä e Spinnerin. das isch e Frau gsi mit äh mit Intelligenz. //mhm// und Witz au (.) ich han=emol diä (1) diä Protokoll (.) gläse. //mhm// spöter //mhm// (228-242)
Nach einer kurzen Pause reflektiert Sr. Inge die Ausführungen über ihre frauenrechtlerische Lehrerin als Erwachen ihrer Sensibilität für Geschlechterfragen. Dies schließt zwar eng an die vorangegangene Passage an, Hauptthema ist aber
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Dass auch die Gymnasiallehrerin unverheiratet ist, ist zu vermuten. Um 1940 war es verheirateten Frauen meist nicht erlaubt, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen (vgl. hierzu u. a. Joris/Witzig 1986; von Roten 1996).
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nicht mehr die Schulzeit, sondern ihre Reflexion über das Geschlechterverhältnis als gesellschaftliche Benachteiligungsstruktur. In ihren Ausführungen nimmt sie nicht nur Bezug auf die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auch auf Geschlechterdiskriminierungen in der Geschichtsschreibung und der Literatur. Sie kritisiert den historischen männlichen Heldenmythos und die Unsichtbarkeit wichtiger Frauenfiguren. Ihre Ausführungen über Jeanne d’Arc machen deutlich, dass für sie Intelligenz ein Indikator für ein legitimes Heldentum ist. Mit Jeanne d’Arc konstruiert sie ein Gegenbild zum männlichen Heldenmythos: die intelligente Heldin. Was sich an dieser Stelle dokumentiert, ist einerseits ihre Orientierung an Fragen geschlechtsspezifischer Diskriminierung und andererseits ihre Orientierung an Bildung. Da sie in ihrer Reflexion über Geschlecht und die Geschlechterverhältnisse über Heldinnen und nicht über „alltägliche“ Frauen spricht, stellt sich die Frage nach ihrer Affinität zum Herausragenden und Besonderen. Auch die prominente Stellung des Vaters zu Beginn ihrer biographischen Erzählung weist auf eine Orientierung an (gesellschaftlich) herausragenden Positionen hin. (.) i=mim Studium. //mhm// (3) dass=mä als Frau (1) benochteiligt isch han ich natürlig scho als Kind erfahre, (1) mi Brueder dr älteri vo de zwei Brüedere (.) isch de f:::- fünfviertel Johr jünger gsi als ich, //mhm// (1) und=äh (.) no bevor mir in d’Schuel ko sin han ich begriffe dass er grossi Vorrecht het (.) //mhm// wo ich nid ha, //mhm// (2) und (.) dr Spruch isch umegloffe (.) ja=m es isch schad (.) für di Begobig (1) schad dass du nume e Meitli bisch. //mhm// @(2)@ voilà //mhm// ((atmet ein)) also (1) und das isch mir gseit worde (1) //mhm// ich weiss nüme wenn (1) ich weiss nid in in weläm in weläm Alter ich das- aber das han ich in der Familie z’höre kriegt. //mhm// es isch ebä tatsächlich so gsi dass (.) mini beidä Brüedere in dr Schuel (.) relativ wenig Erfolg (.) äh gha hend //mhm// und äh grossi grossi Schuelgschichte und Tragödie gmacht hen (1) und (.) mi Schwester het sich für d’Schuel e Dreck interessiert, sie isch Innedekorateurin worde (.) sie isch (.) sie het äm (.) e praktischi Intelligenz. sie isch ab- eifach andersch konstruiert als ich //mhm// ich bin eifach diä Intellektuell. //mhm// (1) guet das sin (1) das sin diä (.) will sie=s interessiert (5) //((Schreibgeräusch))// wiä das isch (.) was mä (.) was mä s- s- was was mä lernt (.) so (.) quasi als Frau. also ich han früeh begriffe dass ich als Frau (1) wäsentlig weniger Möglichkeite ha (1) als (1) //mhm// en Maa. //mhm// und dass ich do: (1) sehr benochteiligt bin. (2) aber ich han=jo=au glert dass mä mit Nochteil muess läbe, oder, diä Fremdheit (.) won=ich immer gha ha (1) diä isch bliibe (242-263)
Nach einer erneuten kurzen Pause verbleibt Sr. Inge im Thema der geschlechtsspezifischen Diskriminierung, wechselt aber den sozialen Rahmen hin zu ihrer Herkunftsfamilie. Sie erklärt, dass sie sich bereits im Vorschulalter mit der ge-
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schlechtsspezifischen Benachteiligung gegenüber ihrem „fünfviertel Jahre jüngeren“ Bruder konfrontiert sieht. Darauf folgt keine Belegerzählung, sondern eine Illustration der familieninternen Diskriminierung: „ja=m es isch schad (.) für di Begobig (1) schad dass du nume e Meitli bisch“. Diese Teilsequenz bilanziert sie mit einem Lacher und dem französischen Wort „voilà“, was in diesem Zusammenhang mit „da haben wir es“ oder „so ist es“ übersetzt werden kann. Die weiter oben formulierte Lesart, dass sich ihre Herkunftsfamilie die Mädchenbildung betreffend fortschrittlich zeigt, bestätigt sich nicht. Die Familie ist zwar bildungsorientiert und ermöglicht auch Sr. Inge den Besuch des Gymnasiums, macht aber in Bezug auf Geschlecht deutliche Unterschiede.7 Sie wird sich zwar erst im Gymnasium der gesellschaftlich verankerten geschlechtsspezifischen Benachteiligungsstruktur bewusst, erlebt diese aber bereits in ihrer frühen Kindheit im eigenen Familienkreis. Indem Sr. Inge die mangelnde Anerkennung für ihre intellektuelle Begabung aufgrund ihres Geschlechts ins Zentrum rückt, konstruiert sie sich auch innerhalb der Familie als die Andere. Im Weiteren beschreibt sie ihre Brüder als schulisch erfolglos und ihre Schwester als desinteressiert. Über die Berufswahl der Schwester (Innendekorateurin) unternimmt Sr. Inge eine Fremd- und eine Selbsttypisierung. Die Schwester charakterisiert sie als diejenige mit der praktischen Intelligenz, sich selbst als die Intellektuelle. Dieser Typisierung folgt eine Metakommunikation über ihre Beweggründe, sich in ihrer Lebensgeschichte mit dem Thema Geschlecht und Geschlechterverhältnis zu beschäftigen. Die Auseinandersetzung ist sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass Sr. Inge im Vorfeld des Interviews über das Erkenntnisinteresse der Forscherin informiert wurde. Es zeigt sich aber ein eigenständiger Umgang mit der Information, indem sie diese als Frage nach (Aus-)Bildung und Berufstätigkeit interpretiert. In der abschließenden Bilanzierung des Themas bestätigt Sr. Inge die frühe Entdeckung der geschlechtsspezifischen Benachteiligung als Frau. Damit stellt sie sich abermals als Marginalisierte und Diskriminierte ins Zentrum. Die Opferperspektive löst sich allerdings mit dem nachfolgenden Satz teilweise auf: „aber ich han=jo=au glert dass mä mit Nochteil muess läbe“. Sie bleibt zwar die Benachteiligte, lernt aber damit umzugehen. Auf welche Weise, bleibt jedoch unklar. Rebelliert sie gegen die Benachteiligung, versucht sie diese zu ignorieren, geht sie ihren eigenen Weg, oder passt sie sich (zumindest teilweise) an? Dieser
7
Der Besuch des Mädchengymnasiums diente oftmals nur der breiteren Bildung, nicht aber als Vorbereitung für ein späteres Studium oder eine Berufstätigkeit (vgl. Joris/Witzig 1986, S. 340).
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Satz und die nachfolgende Bemerkung („oder, diä Fremdheit (.) won=ich immer gha ha (1) diä isch bliibe“) weisen darüber hinaus auf ihre Mehrfachdiskriminierung hin: Sie ist eine Frau in einer Männerwelt, eine Deutsche in der Schweiz und eine Katholikin in einer protestantischen Stadt. Es wird immer deutlicher, dass das Fremdsein auf mehreren Ebenen für Sr. Inge ein biographisch relevantes Thema ist. Zwischenfazit (228-263) Die unmittelbar nach den Ausführungen über die frauenpolitisch engagierte Gymnasiallehrerin erfolgende Reflexion über Geschlecht und die Geschlechterverhältnisse sind im sozialen Erfahrungsraum des Mädchengymnasiums verankert und weisen nochmals auf die biographische Bedeutung dieser Lehrerin hin. Sr. Inges Gedankengänge beziehen sich inhaltlich denn auch auf deren Interessen und Unterrichtsfächer (Kampf für das Frauenstimmrecht, Geschichte und Deutsch bzw. Literatur). Die Reflexionen über die Frauenrechtlerin macht sich Sr. Inge ein Stück weit zu Eigen. Sie beginnt, das Geschlechterverhältnis als Benachteiligungsstruktur und sich selbst als Frau in der Gesellschaft zu reflektieren. Dies führt sie zurück zu ihrer Herkunftsfamilie, in der sie solche Benachteiligungsstrukturen im Vergleich zu ihren Brüdern thematisiert. Im Zentrum steht hier die mangelnde Anerkennung ihrer intellektuellen Begabung aufgrund ihres Geschlechts. Da Bildung in ihrer Familie aber ein hohes Gut darstellt, kann Sr. Inge gleichwohl das Gymnasium besuchen und dieses mit der Matura abschließen. Die geschlechtsspezifischen Diskriminierungen haben keine unmittelbaren Folgen in Bezug auf ihre schulische Laufbahn, jedoch hinsichtlich ihrer Identitätsentwicklung. Die mangelnde Anerkennung deutet sie in einer Weise, die sie zur Marginalisierten macht. Nicht nur außerhalb, auch innerhalb ihrer Familie konstruiert sie sich als die Andere. Dass sie am Ende dieses Themas ihre Mehrfachdiskriminierung anführt, indem sie erneut auf ihr Fremdsein hinweist, lässt die These zu, dass Sr. Inge ihre Identität – nicht ausschließlich, aber wesentlich – aus der Abgrenzung heraus entwickelt. Sie konstruiert sich quasi als Gegensatz der vorherrschenden Verhältnisse ihres Herkunftsmilieus: Sie ist eine Frau in einer Männerwelt, eine Deutsche in der Schweiz und eine Katholikin in einer protestantischen Stadt und damit Grenzgängerin des Geschlechts, der Nationen und der Religionen. Es lassen sich aber auch Identifikationsprozesse feststellen. Sr. Inge identifiziert sich mit ihrem Vater hinsichtlich seines Bildungsgrades und seiner (beruflichen) Stellung in der Gesellschaft, mit ihren Tanten wegen ihrer Selbständigkeit, mit der Religionslehrerin aufgrund ihres religiösen Habitus, und mit der Gymna-
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siallehrerin bezüglich ihres frauenpolitischen Engagements. Darüber hinaus gehört die Märtyrerin Jeanne d’Arc, über die sie ein Gegenstück zum männlichen Heldenmythos konstruiert, zu Sr. Inges positivem Gegenhorizont. Möglicherweise versteht sie sich selbst als Jeanne d’Arc, als intellektuelle Heldin ohne Anerkennung. Thema 5: Soziale Isolation während der Kriegsjahre (263-319) 39ig isch dr Krieg usbroche, (.) ich erinnere mi au no (1) an (.) äh=dr Herbst 38, (.) sie erinnere (.) sie wüssä (1) das isch diä (.) m: (.) diä Tschechiä-Krisä wo dr (.) Hitler sich mit=em Mussolini und em Chamberlain in (.) Münche troffe hen. (1) und wo sie (1) wo sie dem Hitler (1) d’Tschechie gschengt hend (1) und=äh ich weiss no (.) ich ha (1) a- im Herbst 38 han ich grossi Ängst usgstande. (2) will ich mir gseit han jetzt gits Krieg. //mhm// und vo mine Eltere han ich gwüsst diä hend dä ersti Weltkrieg erläbt, //mhm// und ha gwüsst was das bedütet, //mhm// (1) und (4) denn (.) erinnere ich mich au (.) an diä em (.) an diä grauehafte Gschichte wo Verwandti (.) wo uns bsuecht hen in O-Stadt, (1) verzellt hen, (1) vo derä so genannte Kristallnacht //mhm// wiä d’Nazi mit dä Judä umgange sin //mhm// ((schluckt)) wiä sie (denn) bstimmti Lüt wo sie kennt hen (.) dr alti so=wie=so (.) wiä sie dä (.) wiä sie dä (1) ich weiss es nid (.) misshandlet hend uf offener Stross und so //mhm mhm// und das i- isch so zäme ko (.) in (.) in (.) in in in=äh grossi Ängst eigentlig //mhm// Angst vor dr Politik und denn glichziitig kunt no am Schluss vom Kirchejohr köme (.) diä Weltuntergangsevangeliä @also@ //mhm// @das isch im Herbst@ (1) 38ig (.) han=ich so zum erste Mol gschichtligi (.) Ängst usgstande. //mhm// (263-280)
Sr. Inge eröffnet in der Fortführung ihrer Lebensgeschichte ein neues Thema: den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Sie erinnert sich an den Herbst 1938 und erläutert der Forscherin in einer Hintergrundkonstruktion die Tschechienkrise, was von Sr. Inges historischen Kenntnissen zeugt. In der Wiederaufnahme des Erzählstrangs über den Herbst 1938 wird Sr. Inges existenzielle Angst vor einem Kriegsausbruch deutlich. Sie weiß von ihren Eltern um die Bedeutung des Krieges, erfährt von deutschen Verwandten von der sogenannten „Kristallnacht“ und muss sich zur selben Zeit Weltuntergangsprophezeiungen von fundamentalen Evangelisten anhören. Die Beschreibung ihrer Furcht als „Angst vor dr Politik“ und „geschichtligi (.) Ängst“ zeugen von ihrem beklemmenden Gefühl der Hilflosigkeit größeren Mächten gegenüber. und denn isch dr Krieg ko äh=e Johr spöter, (1) 39 do bin=ich also (.) guet 10 (.) Johr alt gsi //mhm// und (.) mit dem sind d’Grenze zue gange. //mhm// (1) und das (.) het praktisch, (.) also vo mim 10. (1) bis zu mim: (1) 16. Johr (.) das sin jo sechs Johr oder,
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//mhm// vom Krieg. //mhm// (2) sim- (.) bin ich oder sin mir (.) in O-Stadt (.) völlig isoliert gsi. //mhm// einersits äh:: die Sauschwobe, //mhm// (1) und mit dr ganze Angst (.) wo=mä in dr Schwiiz gha het (1) vor dä Usländer wo jo nöchschtens könne imarschiere, //mhm// und anderersiits (1) äh mit (.) mit=em (1) mit=em Verlust vom (.) vo Beziehige, (1) mä //mhm// hend wenig Beziehige gha innerhalb vo O-Stadt, //mhm// (281-290)
Im Zentrum der Weiterführung ihrer Erzählung stehen zunächst der Kriegsausbruch und damit die Bestätigung ihrer Befürchtungen. In einer Hintergrundkonstruktion vergewissert sie sich ihres Alters bei Kriegsbeginn und zeigt somit, dass dieser ungefähr mit dem Beginn ihrer Gymnasialzeit zusammenfällt. Der Ausbruch des Krieges bedeutet auch, dass die Grenzübergänge zwischen Deutschland und der Schweiz schließen und für Sr. Inges Familie eine sechsjährige soziale Isolation beginnt. Sr. Inges Schilderungen der in der Schweiz vorherrschenden Angst vor „den Deutschen“, ihres Verlusts der sozialen Beziehungen in Deutschland und ihrer Stigmatisierung als „Sauschwob“ zeugen von einer Zerrissenheit bezüglich ihrer Zugehörigkeit und deutet auf die Schwierigkeit hin, sich eine nationale Identität aufzubauen. Die mangelnden sozialen Beziehungen in O-Stadt erhalten vor dem Hintergrund der kriegsbedingten Grenzschließung nochmals eine andere Bedeutung. Die Familie wird auf sich selbst zurückgeworfen. Trotz der sozialen Isolation lässt sich aber auch an dieser Stelle kein starkes Familienkollektiv feststellen. Die Frage ist, ob die einzelnen Familienmitglieder auch innerhalb der Familie sozial isoliert sind. Sr. Inges Konstruktion als die Andere (auch innerhalb der Familie) kann als Hinweis darauf gedeutet werden. (1) ich ha- ich ha in dr- im unter mine Mitschüelerinne han ich eigentlig nid glitte (.) aber ich han mi //mhm// ich bi ender öper wo introvertiert wo sich zrugg haltet //mhm mhm// und d- d- äh ha ((druckst)) jo äh ich äh s- s- wieder s’isch wieder das gsi (.) d’N isch iglade gsi (.) do und dört //mhm// zu=mene Ball und so //mhm// u- äh (.) aber ich nit //mhm// @(1)@ //mhm// und oder denn hen=mer Tanzstund gha (.) mit 15 oder 16 Johr (.) und äh //mhm// und diä Mannä sin=ä sin=mir alli bis do ane gange ((zeigt zum Hals)), //@(2)@// @(2)@ ((atmet ein)) also es isch äh s’isch eifach kei glückli- so genannti glücklichi Jugend (1) //mhm// han=i nid gha. //mhm// (290-299)
In der weiterführenden Erzählung wechselt Sr. Inge den sozialen Rahmen. Die Beschreibung ihrer Beziehung zu den Mitschülerinnen des Mädchengymnasiums („ich ha- ich ha in dr- im unter mine Mitschüelerinne han ich eigentlig nid glitte“) weist – obwohl abgeschwächt formuliert – auf eine problematische Beziehungsstruktur hin. Im Gegensatz zur weiter oben geäußerten Stigmatisierung als „Sauschwob“ macht sie an dieser Stelle die fehlenden sozialen Beziehungen zu
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Gleichaltrigen an ihrem introvertierten Charakter fest. In der nachfolgenden Belegerzählung über die Tanzveranstaltung problematisiert sie darüber hinaus ihre körperliche Statur (sie ist sehr groß) und macht diese für fehlende Beziehungen (hier zu jungen Männern) verantwortlich. Abermals vergleicht sie sich mit ihrer ehemaligen Freundin N, die, im Gegensatz zu ihr, über ein soziales Beziehungsnetz verfügt. Diese charakterlichen und körperlichen Eigenschaften, die ihrer Ansicht nach ihren fehlenden sozialen Beziehungen (auch zu jungen Männern) zugrunde liegen, führen dazu, dass sie ihre Jugend als nicht der normativen Vorstellung einer glücklichen Jugend entsprechend bilanziert („s’isch eifach eifach kei glückli- sogenannti glücklichi Jugend (1) han=i nid gha“). und (1) diä Isolierig (2) wiä schlimm diä Isolierig eigentli gsi isch han ich nur erläbt (.) wo (.) diä Grenze wieder ufgange sind (.) 48 (.) 49ig (.) 50, (1) und won=ich wieder dr direkti Kontakt gha ha (1) mit mine Verwandte, //mhm// (1) in M-Stadt, (1) won=ich uf eimal gmerkt han ja do kann ich ja si (.) wiä=n=ich bi. //mhm mhm// (1) und (.) ich bi eigentlig niä (.) ich bin irgendwie immer im im=ene im=ene gwüsse Panzer drinä gsi. //mhm// ((atmet ein)) //mhm// wege dere (.) Fremdheit //mhm// (1) oder wege weg dem Gfü- wege dem Gfühl, (1) ich bin e Usländeri, natürlig isch denn wieder gschimpft worde über diä Dütsche, //mhm// au diä Lehrer d’Lehrer und Lehrerinne vor allem in Gschicht, (.) hend sie gschimpft über diä Dütsche, //mhm// und das han=i natürlig niä gärn ghört, //mhm// da=sch klar (.) das isch immer verletzend (2) und (5) jo (.) ich ha erscht nochträglig begriffe, (1) was (.) in was für=ere Isolierig (.) ich (.) ich weiss nid mini Gschwüsterti wohrschindlig au (.) gläbt ha (.) in dere Ziit, (1) au (1) dass diä andere hend könne in dr Schuel redä (.) wiä sie diheim gredät hend. //mhm// und ich ha in=ere andere Sproch in dr Schuel gredet (.) als deheim. //mhm// (2) //mhm// und das das macht in dr in dr in dr Jugend macht das scho öpis us. //mhm// also ich muess immer (1) ich han immer müesse umschalte (.) uf uf en=Art wiä (.) wiä e Fremdsproch //mhm// i=mein (.) ich ich kas (.) i han=s irgendwie glernt oder, //mhm// aber es isch irgend- es isch au (.) au e Symptom. //mhm// (299-319)
Bewusst wird sich Sr. Inge ihrer kriegsbedingten sozialen Isolation erst nach der Grenzöffnung. Der erneute Kontakt mit ihren deutschen Verwandten gibt ihr das Gefühl, wieder sie selbst zu sein. In Form einer Metapher bringt sie zum Ausdruck, dass sie sich als Schutz vor den verletzenden Bemerkungen gegenüber Deutschen und gegen ihr Gefühl des Fremdseins während der Kriegsjahre mit einem Panzer umgibt, der sie aber, so ist zu vermuten, nur noch stärker in die soziale Isolation drängt. Nach kurzem Zögern bekräftigt Sr. Inge nochmals ihr nachträgliches Bewusstwerden ihrer sozialen Isolation. Dass sie bei ihren Geschwistern ähnliche Erfahrungen vermutet, deutet einerseits auf eine gewisse
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Empathie hin, andererseits aber auch auf die geringe Kommunikation in ihrer Herkunftsfamilie. Die Passage wird abgeschlossen mit einer erneuten Problematisierung ihrer Zweisprachigkeit. Sr. Inge spricht außerhalb der Familie eine andere Sprache als innerhalb der Familie, eine Sprache, die nicht die ihre ist („wiä e Fremdsproch“). Obwohl sie den schweizerdeutschen Dialekt beherrscht, bezeichnet sie den Wechsel von der einen zur anderen Sprache metaphorisch als „Symptom“. Das Hin-und-her-Wechseln zwischen den beiden Sprachen vergleicht sie also mit einem Krankheitsmerkmal. Die Zweisprachigkeit ist ein Symptom für ihr Leiden am Fremdsein. Zwischenfazit (263-319) Die Schließung der Schweizer Grenzen während der Kriegsjahre zeigt die bereits weiter oben formulierte Problematik der fehlenden sozialen Beziehungen der Familie in aller Deutlichkeit. Sr. Inges Familie gerät in eine soziale Isolation und wird auf sich selbst zurückgeworfen. Über die Isolation hätte ein Familienkollektiv hergestellt werden können, dies scheint aber nicht der Fall zu sein. Auch ein emotionales Näherrücken der einzelnen Familienmitglieder lässt sich nicht erkennen. Die Isolation wird quasi ausgesessen. Die Grenzöffnung nach dem Krieg und der erneute Kontakt mit den deutschen Verwandten bedeutet für Sr. Inge sodann ein emotionales Nach-Hause-Kommen. Hier kann sie sich selbst sein, ohne stigmatisiert zu werden, ohne sich als Fremde zu fühlen. Dies deutet darauf hin, dass sie eher eine deutsche Identität aufgebaut hat. Auch innerhalb dieses Themas wird deutlich, dass ihre sozialen Kontakte und ihre soziale Einbindung prekär sind. Ihr Außenseiterstatus erhält aber eine neue Komponente. Es geht hier nicht mehr allein um Ausgrenzungserfahrungen unter Mädchen, sondern um ihren Misserfolg beim „anderen Geschlecht“. Sr. Inge beschreibt sich als eine junge Frau, die wegen ihrer charakterlichen und körperlichen Eigenschaften (Introvertiertheit, Größe) dem damals gefälligen Frauenbild nicht entspricht und bei jungen Männern keinen Erfolg hat. Beliebt zu sein, Einladungen zu erhalten und Erfolg bei Männern zu haben, das sind für sie aber offensichtlich Aspekte, die mit Vorstellungen einer glücklichen Jugend verbunden sind. Ihre ehemalige Freundin N symbolisiert genau diese Art von glücklicher Jugend. Obwohl Sr. Inge ihre Jugend in der Divergenz zu derjenigen ihrer ehemaligen Freundin konstruiert, bezeichnet sie sich aber nicht als unglücklich, sondern sagt damit nur, dass ihre Jugend nicht der normativen Vorstellung einer glücklichen Jugend entspricht. Sie versucht sich damit vor einer emotionalen Verstrickung in diese Ereignisse zu schützen. Darüber hinaus wird
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hier nochmals deutlich, dass Sr. Inge ihre Identität zu großen Teilen aus der Abgrenzung heraus entwickelt. Es sind aber nicht mehr nur die äußeren gesellschaftlichen Bedingungen, die sie zur Grenzgängerin machen, sondern auch charakterliche und körperliche Eigenschaften. Ihre Fremdheit als Deutsche in der Schweiz und die damit verbundenen Repressions- und Isolationserfahrungen während der Kriegsjahre bringt sie in Form einer „metaphorischen Repräsentation“ (Straub/Sichler 1989, S. 221-237) zum Ausdruck: „ich bin irgendwie immer im im=ene im=ene gwüsse Panzer drinä gsi“. In ihrer Metapher bedient sie sich interessanterweise des militärischen Begriffs „Panzer“, der als Kurzform für Panzerkampfwagen oder Panzerfahrzeug benutzt wird und motorisierte, oftmals bewaffnete und durch eine Panzerung (Schutzhülle) geschützte Militärfahrzeuge bezeichnet. Umgangssprachlich wird mit dem Begriff Panzer aber in der Regel die Panzerung bezeichnet. Damit bezieht sich ihre Metapher nicht auf das Panzerfahrzeug, sondern auf die Schutzhülle. Panzerungen – natürliche oder hergestellte – bieten Schutz vor äußeren gewalttätigen und zerstörerischen Einwirkungen. Die Schutzwirkung einer Panzerung hat aber immer auch Nachteile. Schutzhüllen, die sich oftmals durch Starrheit, Unförmigkeit und Gewicht auszeichnen, schränken sowohl die Bewegungsfreiheit als auch die Sensorik ein. Darüber hinaus isolieren Panzerungen von der Außenwelt. Mit dieser Metapher beschreibt Sr. Inge ihren Zustand während des Zweiten Weltkrieges. Kritisch bringt sie zur Sprache, dass sie sich durch eine Schutzhülle vor zerstörerischen äußeren Einwirkungen abschirmt, diese Schutzhülle sie aber zugleich in ihrer (Bewegungs-)Freiheit, in ihren Empfindungen und Beziehungen einschränkt. Die Panzerung als Überlebensstrategie kann sie erst im Kreise ihrer deutschen Verwandten ablegen, dort wo sie sein kann, wie sie ist. „Si (.) wiä=n=ich bi“ kann auch als „kontrastiver Gegenhorizont“ (vgl. op. cit. 1989, S. 231), als alternativer Lebensentwurf innerhalb ihrer „kritischen Daseinsmetapher“ (vgl. ibid.) gedeutet werden. In Zukunft möchte sie (von der Hülle) befreit sein, sich zeigen, sie selbst sein. Letztendlich leidet Sr. Inge an ihrem Fremd- und Anderssein. Die metaphorische Beschreibung ihrer Zweisprachigkeit als „Symptom“, als ein Krankheitsmerkmal ihres Fremdund Andersseins deutet ebenfalls darauf hin. Sr. Inge möchte nicht krank, sondern gesund sein. Auch wenn sie sich ständig in der Distinktion artikuliert und sich als Grenzgängerin konstruiert, kann hier die These formuliert werden, dass sie sich letztlich doch an Konformität orientiert. „Si (.) wiä=n=ich bi“ kann sie nur als Deutsche unter Deutschen.
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Thema 6: Studium und erste Berufserfahrungen (319-404) ich ha denn (.) zerscht emal überlegt ob ich wot äh Mathematik Physik und so studiere das het mi eigentlig interessiert (.) und denn het mir das dä Rektor säbmol das isch wieder e Frauegschicht (.) gseit, (1) ja lose sie das müend sie jetzt nid studiere (.) da da hend mir immer gnueg Männer. (2) für Mathematik und Physik. //mhm// und denn han=ich also beschlosse mä mä mä=isch eifach so bim Rektor verbii gange um d’Maturaziit ume //mhm// und äh: het sich äh:: au sofort zue- s’het ihn interessiert. //mhm// denn han=ich also (.) m- (.) äh (.) ich han übrigens au Griechisch gmacht, fakultativ, //mhm// und nochher no diä griechisch Matura, (.) derzue, (1) äm also (.) äh (.) en Ersatz- wiä seit mär das en Ergenzigsfach (.) als Ergenzigsfach im Herbst (1) noch der Matura han ich das no (1) bestande. (1) und (1) denn han=ich (1) äh Dütsch diä übliche Fächer Dütsch Dütsch Französisch äh (.) Latinisch welä machä, (1) und ha denn (.) denn han=ich in S-Stadt studiert, im ver- (.) in im zwei- im dritte und vierte (.) nei im zweite und dritte Semester und bin in S-Stadt gsi, (.) da=isch ei Professer gsi für Griechisch und Latinisch. nid, beides. in SStadt isch so gsi, (.) dass äh diä m: (.) äh d- d- äh Wälsche (1) diä Altphilolos’Altphilologie isch in (.) (äh Wäl-) hät eis en Franzos und eins e Dütsche gha also //mhm// Dütschschwiizer. ((atmet ein)) ja (.) und äm (.) dä het denn müesse beides mache //ja// Latinisch und Griechisch und denn han=ich gseh dass dä (.) dass mä nid kann Latinisch studiere wenn mä (.) Griechisch, (.) wenn mä nid Griechisch macht glichziitig //mhm// und das han=i nid wellä (.) will das e zu schmali Sach gsi=isch und denn han=i um-gsattlet uf Gschicht also Latinisch falle lo, (.) und Gschicht vor allem (.) will (.) ich immer ich bi immer guet gsi in Gschicht (.) het mi immer fasziniert (1) und (1) dä äm (.) Professer äm dä B, (1) in O-Stadt (.) dem sini Vorläsige (1) hen=mi au fasziniert. //mhm mhm// (319-345)
Thematisch fährt Sr. Inge in ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung mit Überlegungen ihr zukünftiges Studium betreffend weiter. Sie interessiert sich für die naturwissenschaftlichen Disziplinen Mathematik und Physik, was ihr vom Rektor des Mädchengymnasiums wegen des Männerüberschusses in diesen Disziplinen jedoch abgeraten wird. Die Begründung des Rektors unterbricht Sr. Inge mit der metakommunikativen Feststellung „das isch wieder e Fraue-gschicht“. Es scheint, dass sie die Forscherin und vielleicht auch sich selbst explizit auf die erneute geschlechterdiskriminierende Erfahrung aufmerksam machen will. Darüber hinaus dient die Bemerkung auch als Legitimierung, diese Geschichte überhaupt zu erzählen. Sr. Inge will mit der Mitteilung eines gefassten Beschlusses fortfahren, unterbricht diese Erzählung jedoch zugunsten einer Hintergrundkonstruktion im Modus der Argumentation. In dieser Hintergrundkonstruktion begründet sie die Einmischung des Rektors hinsichtlich der Wahl ihrer Studienfä-
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cher mit der gängigen Praxis der Schule, die Studienabsichten mit dem Rektor zu besprechen. Sie setzt wieder an ihrem Haupterzählstrang an, unterbricht diesen aber nochmals mit einer Hintergrundkonstruktion, in der sie ihre Belegung des Ergänzungsfachs Griechisch mitteilt. Anschließend gibt sie ihren Beschluss bekannt, „diä übliche Fächer“ Deutsch, Französisch und Lateinisch zu studieren. Infolge der Beeinflussung des Rektors entscheidet sie sich also, die „typischen“ Frauenfächer zu studieren. Aus der weiteren Erzählung wird deutlich, dass sie im ersten Semester in O-Stadt, in den folgenden zwei Semestern in der deutsch- und französischsprachigen S-Stadt studiert. Sr. Inge besucht die deutschsprachige Abteilung der Universität in S-Stadt und lässt dort Lateinisch, das nur zusammen mit Griechisch angeboten wird, zugunsten des Geschichtsstudiums fallen, da ihr ein altphilologisches Studium als eine zu enge Ausrichtung erschien. Darüber hinaus begründet sie die Wahl des Studienfachs Geschichte mit vorhandenem Talent und den guten Vorlesungen des Professors. (3) in dere (1) in denä junge Johre (.) isch mä (.) also (jetzt) um das religiösi Thema wieder ufzneh, (2) äh mir hend vor allem Religionsunterricht gha (.) bi Jesuite, (1) in O-Stadt git’s het’s ja e jesuitischi Gmeinschaft gä. (1) und (2) in dä oberste Klasse vor dr Matura, (1) hen=mir es e e=Johr (.) nei zwei Johr lang (.) e sehr äm (.) e sehr e trockene und dürre (1) fast Dogmatiker ka als (.) wo uns Moral (.) und und äh Philosophie und und alles ich weiss nümä was er uns alles bibrocht het. (1) aber mir isch das glä:ge, (1) irgendwie (.) also Dogmatik ligt mir //mhm// @das isch das äh@ das das Intellektuelle (.) won=ich ha. (.) und (2) äh das isch au (.) äm e guets Stück wiiterbildend bin ich (nat- det) gsi und denn bin ich natürlig am C begegnet (1) wo säbmol (1) än (1) än Säkularinstitut (.) mit Fraue gründet het (.) in O-Stadt (1) und han (1) viel vo sine Vorträg ghört also das isch au (.) en=Art Bildigs- (.) äh es religiöses Bildigserlebnis //mhm// (345-358)
In der nun folgenden Erzählsequenz steht das religiöse Thema im Zentrum, worauf Sr. Inge in einer Hintergrundkonstruktion explizit hinweist. Sie erzählt zunächst vom Religionsunterricht in den höheren Gymnasialklassen, den sie und ihre Mitschülerinnen bei einem Jesuiten aus einer Gemeinschaft in O-Stadt besuchen. Obwohl Sr. Inge den Inhalt nicht mehr präsent hat, bewertet sie den „trockenen und dürren“, „fast dogmatischen“ Unterricht positiv, was sie mit ihrer Intellektualität begründet. Es dokumentiert sich hier ein intellektueller Zugang zu Religion und religiösen Fragen. Auch die Vorträge des katholischen Theologen C, der in O-Stadt ein Säkularinstitut gegründet hat, evaluiert sie als „en=Art Bildigs- (.) äh es religiöses Bildigserlebnis“, das als weiterer Indikator für ihre intellektuelle religiöse Orientierung gelesen werden kann. Obwohl Sr. Inge bemüht ist, ihre Lebensgeschichte chronologisch zu erzählen, geht sie in
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dieser Passage zurück in ihre Gymnasialzeit. Es kann vermutet werden, dass Sr. Inge an dieser Stelle eine übergeordnete kognitive Struktur vervollständigen will. Es geht ihr in ihrer Erzählung nicht nur um die Darlegung der Wahl ihrer Studienfächer, sondern um die Beleuchtung ihrer biographisch relevanten (intellektuellen) Interessen. Neben (Fremd-) Sprachen und Geschichte interessiert sie sich auch für theologische Fragen. (1) in S-Stadt (1) i mim zweite Semester, (.) bin ich nach S-Stadt ko zum Französisch redä will ich Französisch als Fach gha ha //mhm// und bi do (.) in e sehr elitäri (1) in en=elitärs Meitlipensionat ko, //mhm// wo e so genannti Finishing School, (1) eigentli sehr interessant gsi, (1) mit Meitli, (.) das isch noch=em Krieg natürlig //mhm// mit Meitli us äm (.) England (1) Frankriich (1) Belgie (2) äh (1) s’het natürlig keini Dütsche gha (.) und keini Östriicher (.) s’het no zwei anderi Schwiizerinne gha. //mhm// und (1) do het mä nid dörfä wüssä dass ich us Dütschland bi. //mhm// noch=em Krieg. //mhm// (1) und guet (1) elle vient de O-Stadt (1) do han ich Englisch und Französisch äh richtig glernt und au Französisch könne (1) äh redä und ha dört au an dr Uni studiert (.) e Johr lang (358-368)
Anschließend fährt Sr. Inge chronologisch mit ihrer Studienzeit in der zweisprachigen S-Stadt fort. Die Wahl des Studienortes begründet sie mit ihrem Vorhaben, im Alltag Französisch zu sprechen, da sie Französisch als Studienfach belegt hat. Während dieser Zeit wohnt Sr. Inge in einem – wie sie selbst sagt – „elitären Mädchenpensionat“8. Der Besuch dieses privaten Erziehungsinstituts für Mädchen weist erneut auf das Zugehörigkeits- oder Aufstiegsnormativ der Familie hin. Den Aufenthalt im Mädchenpensionat evaluiert Sr. Inge verhalten positiv („eigentli sehr interessant gsi“). Zugesagt haben ihr die internationale Zusammensetzung der Pensionärinnen und das Erlernen der französischen und der englischen Sprache. Als problematisch bewertet sie jedoch die Verheimlichung ihrer deutschen Herkunft. Im Pensionat wird sie als Schweizerin gehandelt („elle vient de O-Stadt“), was bedeutet, dass sie einen Teil ihrer Identität verheimlichen muss. Da sie der schweizerdeutschen Sprache mächtig ist und im Pensionat aller Wahrscheinlichkeit nach Französisch und Englisch gesprochen wird, scheint die Tarnung zu funktionieren. Das Gefühl des Fremdseins und die
8
Mädchenpensionate bzw. „Finishing Schools“ waren und sind auch heute noch private Erziehungsinstitute für höhere Töchter, mit oder ohne eigene Pensionatsschule, welche die Mädchen nach der obligatorischen Schulzeit auf ein Leben in der höheren Gesellschaft vorbereiten. Die Schweiz war früher bekannt für solche „Finishing Schools“. Mädchen „mit Familie“ (z. B. auch Diana, Prinzessin von Wales) besuchten eine „Swiss Finishing School“ (vgl. u. a. Joris/Witzig 1986. S. 340).
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Schwierigkeit, soziale Beziehungen einzugehen, werden dadurch aber verstärkt. Abschließend wird die Sequenz hinsichtlich ihrer bildungsorientierten Perspektive evaluiert. (1) bin denn aber wieder nach O-Stadt ha denn emal (.) e Mittellehrerprüefig gmacht (.) das isch so=ne=n=Art en Sekundarlehrer, //mhm// und denn bin=ich (.) han=ich e Johr lang (.) bin ich in Dütschland gsi zum Studium, (.) in M-Stadt, (.) wieder hauptsächlich Gschicht (.) und Dütsch (1) Französisch han=i denn hänge lo (1) und äm in T-Stadt. //mhm// bin=ich au e Semester lang gsi. //mhm// und äh (.) vo do han=ich no (.) e guete Fründ vo (.) vo säbmol. (2) also Beziehige das sin (5) je=nu denn han=ich e e e Dissertation agfange, und d’Dissertation het denn drin bestande bim B (2) äh dass ich äh (1) diä Hauptkronik vom Konzil vo O-Stadt (1) wo zwor druckt isch aber nid kommentiert, (.) ha müesse läse. (1) und dass sin zweimol tausig (1) Foliosiite //((schmunzelt))// uf Latinisch. //mhm// und das han=i gmacht, (368-380)
Die folgende lebensgeschichtliche Erzählsequenz ist gekennzeichnet durch inhaltliche (Deutsch, Geschichte) und räumliche (Schweiz, Deutschland) Aspekte ihrer weiteren Studienzeit sowie dem Aufzählen ihrer bereits erreichten und noch geplanten Bildungstitel (Examen zur Mittelschullehrerin, Dissertation). Neben ihrer Bildungsorientierung zeigt sich hier nun auch ihr damit verbundener beruflicher Anspruch (Sekundarlehrerin). Innerhalb der Erzählung über ihre Studienzeit verweist Sr. Inge auf „e guete Fründ“, den sie aus der deutschen T-Stadt kennt. Obwohl aus der Formulierung geschlossen werden kann, dass diese Freundschaft noch immer besteht, führt sie diese nicht weiter aus. Nach einer kurzen Pause setzt sie zu einer allgemeinen Erklärung über soziale Beziehungen an („also Beziehige das sin“), die sie jedoch abbricht. Nach einer erneuten, diesmal längeren Pause schliesst sie das Thema „Beziehungen“ mit dem Wort „jänu“ ab, was so viel bedeutet wie „sei’s drum“, und fährt mit dem Beginn ihrer Dissertation weiter. Beziehungen scheinen für Sr. Inge etwas Verunsicherndes zu sein. Indem sie hier das emotionale Thema ihrer (fehlenden) Beziehungen abbricht und gewohnt sachlich mit ihrer bildungsorientierten Biographie weiterfährt, schützt sie sich. Nach der Erläuterung des Inhalts sowie der aufwendigen Arbeitsweise in ihrer Dissertation schließt sie die Sequenz mit den Worten „und das han=i gmacht“, was die Fertigstellung ihrer Dissertation vorwegnimmt. (1) und (1) ha (.) nachdem ich s’Oberlehrer-Exame gha ha (.) han=ich (1) au (1) mh: denn (3) Stunde gha, (1) aber dr Direktor vo dem Meitligymnasium won=ich vorher ja au gsi bin (.) dä het gar nid viel vo mir ghalte. //mhm// ich ha- (
) vo Afang a gwüsst äm (2)
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dä äm dä wot mi gar nid astelle. denn het er mir (.) //mhm// Französisch geh (.) uf dr Unterstufe, (.) und das isch mir nid gläge. //mhm// mir wär Gschicht mit Oberstufe (.) Gschicht und Dütsch mit Oberstufeschüelerinne (.) isch mir gläge. //mhm// das isch denn spöter au so gsi. //mhm// also ich ha diä Stell nach drei Johr verlohre, (380-388)
Sr. Inge fährt mit dem Abschluss ihres Oberlehrer-Examens und mit ihren ersten Erfahrungen im Berufsleben weiter. Ihre Erzählung ist gekennzeichnet durch einen nahtlosen Übergang von Studium zu Beruf, obwohl es in dieser Zeit für Frauen trotz abgeschlossenem Studium keine Selbstverständlichkeit war, in die Erwerbstätigkeit einzusteigen.9 Dies deutet abermals auf eine starke Berufsorientierung hin. Die Beschreibung ihrer ersten Berufserfahrungen an ihrer früheren Schule, dem Mädchengymnasium in O-Stadt, fallen jedoch negativ aus. Die Beziehung zum bereits oben erwähnten Rektor scheint vorbelastet („ich ha- ( ) von Afang a gwüsst äm (2) dä äm wot mi gar nid astelle“), und sie erhält weder die Schulstufe noch die Fächer, die sie unterrichten möchte. Sowohl die problematische Beziehung zum Rektor als auch der Französischunterricht auf der Unterstufe, der ihr nicht liegt, führen dazu, dass sie die Stelle nach drei Jahren verliert. Die ersten negativen Berufserfahrungen schmälern ihre Berufsorientierung jedoch nicht. Sie kündigt in dieser Passage an, dass sie später Oberstufenschülerinnen in Geschichte und Deutsch unterrichten wird. Darüber hinaus kann die Fertigstellung ihrer Dissertation als Orientierung an ihrem beruflichen Fortkommen interpretiert werden. han denn mi Dissertation aber fertig gmacht abgschlosse, (1) und (.) denn (.) han ich müesse e Stell ha, (.) und ha denn (
) het mir öper empfohle söll mi do (.) im Kloster V
amelde diä sueche e Lehrerin für Dütsch und Gschicht. //mhm// und bi denn mit 30ig do: uf V-Dorf ko und ha vier Johr lang am Seminar (.) Dütsch und Gschicht unterrichtet //mhm// und ha do (.) guete=n=Erfolg gha. //mhm// natürlig Seminaristinne (.) sin=äh (.) schuelbrav (.) diä sin schuelfründlig //((schmunzelt))// @(2)@ @das isch öpis anders als Gymnasiastinne in O-Stadt@ //@(2)@ ((hustet))// und (2) denn (1) noch denä vier Johr hend sie gseit ja jetzt heiged sie wieder e Schwester für diä Stell, denn han ich sofort kündet und ha denn (1) noch einigem Sueche wieder e Stell kriegt am gli- an dr gliiche Schuel in O-Stadt, (1) bi m- (.) inzwüsche isch dr Rektor (1) dr ehemoligi Gschichtslehrer vor mir gsi wo mi kennt het, //mhm// dä isch halt do uf V-Dorf ufeko und het e äh (.) Schuelbsuech gmacht bi mir und het also gfunde mä könn mi astelle, (.) und denn han ich e volls Pensum (1) kriegt (.) in O-Stadt (.) in vier Klasse in Dütsch und Gschicht. //mhm// und han e Wohnig (1) äh mir zue to, (388-404)
9
Vgl. u. a. von Roten 1996, S.95.
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Nach der Fertigstellung ihrer Dissertation benötigt Sr. Inge eine neue Arbeitsstelle, die sie dank eines Hinweises aus ihrem Bekanntenkreis am katholischen und von Schwestern geführten Primarlehrerinnenseminar V erhält. Mit 30 Jahren zieht Sr. Inge von O-Stadt ins ländliche V-Dorf und unterrichtet dort vier Jahre lang Geschichte und Deutsch am Lehrerinnenseminar. Sie bilanziert die Zeit im Hinblick auf ihren beruflichen Erfolg positiv („und ha do (.) guete=n=Erfolg gha“). Ihr Erfolg kann darauf zurückgeführt werden, dass Sr. Inge diejenigen Fächer unterrichten kann, die sie interessieren. Darüber hinaus schreibt sie ihren Erfolg den „schulbraven“ und „schulfreundlichen“ Seminaristinnen zu. Sie erlebt die zukünftigen Primarlehrerinnen im Gegensatz zu den Gymnasiastinnen als anständig und gewissenhaft. Nach vier Jahren wird Sr. Inges Stelle intern an eine Klosterfrau vergeben. Da an Klosterschulen wenn immer möglich die eigenen Schwestern unterrichten, kann davon ausgegangen werden, dass Sr. Inge bereits im Vorfeld über die zeitliche Begrenzung der Stelle informiert worden ist. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie von ihrer sofortigen Kündigung berichtet, kann als Indiz dafür gelesen werden. Nach einigem Suchen findet Sr. Inge wiederum eine Anstellung am Mädchengymnasium in O-Stadt, diesmal ein volles Arbeitspensum in den Fächern Deutsch und Geschichte. Nicht nur sie selbst evaluiert ihre Unterrichtstätigkeit im Primarlehrerinnenseminar positiv, auch der neue Rektor des Mädchengymnasiums ist nach einem Schulbesuch in V-Dorf von Sr. Inges Qualitäten überzeugt. In Sr. Inges Lebensentwurf hat der berufliche Erfolg einen zentralen Stellenwert. Der Hinweis auf den Bezug einer eigenen Wohnung bildet das Ende dieser Passage. Es ist zu vermuten, dass Sr. Inge bis zu diesem Zeitpunkt in Pensionaten, Wohnheimen und zu Hause wohnte. Die Erwerbstätigkeit der Frauen – auch in qualifizierten Berufen – wurde damals so schlecht entlohnt, dass sich alleinstehende, berufstätige Single-Frauen kaum eine Wohnung leisten konnten.10 Zwischenfazit (319-404) Am Ende ihrer Gymnasialzeit wird Sr. Inge aufgrund ihres Geschlechts in der Planung ihrer Bildungs- und Berufskarriere eingeschränkt. Die Empfehlung des Rektors, kein naturwissenschaftliches Fach zu studieren, basiert nicht auf der Beurteilung ihrer intellektuellen Fähigkeiten, sondern auf der Tatsache, dass sie kein Mann ist. Sie wird also wegen des sozialen Platzanweisers „weibliches Geschlecht“ von vornherein strukturell marginalisiert. In die Intention des Rektors eingelassen ist zum einen die ökonomische Kalkulation, dass dort, wo genü-
10 Vgl. hierzu von Roten 1996, S. 105-125.
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gend Männer zur Verfügung stehen, Frauen nichts zu suchen haben. Zum anderen werden hier klassische Männerberufe gegen das Eindringen von Frauen verteidigt.11 Dass die Geschichte mit dem Rektor Eingang in ihre lebensgeschichtliche Erzählung findet und sie diese mit „das isch wieder e Frauegschicht“ kommentiert, weist auf Sr. Inges Sensibilität für G eschlechterfragen hin. Trotzdem setzt sie sich nicht durch und studiert schließlich die „üblichen Fächer“, die sogenannten „weichen“ Disziplinen. Da Naturwissenschaftlerinnen in der damaligen Zeit kaum Chancen hatten, sich auf dem Arbeitsmarkt gegen Männer durchzusetzen,12 kann dies auch als Sicherung ihrer Existenzgrundlage gedeutet werden. Die ökonomische Verwertung ihres Studiums steht jedoch nicht im Zentrum ihrer Erzählung. Diese ist stark entlang ihrer Studienorte und des institutionellen Ablaufmusters ihrer (Aus-)Bildung organisiert sowie durch ihre Bildungsorientierung geprägt. Im Mittelpunkt stehen (Bildungs-)Inhalte und das Erreichen formaler Bildungstitel. Ihr Studium und ihre intellektuelle Orientierung (auch über das Studium hinaus) macht sie als ihr eigenes Bildungsprojekt zum Thema. Ein weiterer sozialer Erfahrungsraum, der in die Erzählung über ihre Studienzeit eingeht, ist der Besuch des „elitären“ Mädchenpensionats in S-Stadt. Auch wenn der Besuch eines Mädchenpensionats bzw. einer „Finishing School“ nicht auf eine potenzielle Zukunft als Berufstätige ausgerichtet ist, sondern der Vorbereitung als Ehefrau in höherer Gesellschaft dient,13 steht in Sr. Inges Ausführungen das Erlernen der französischen und englischen Sprache und damit ihre Bildungsorientierung im Zentrum. Mit dem Beginn ihrer Beruftätigkeit als Mittelschullehrerin eröffnen sich nochmals neue soziale Erfahrungsräume. Im Fokus ihrer Erzählung steht ihr beruflicher (Miss-)Erfolg. Die weiter oben formulierte These, dass Sr. Inge über die Beruflichkeit und dem damit verbundenen gesellschaftlichen Ansehen (Orientierung am Vater und an herausragenden Frauen) Anerkennung sucht, findet hier Bestätigung. Ihre Bildungs- und Berufsambitionen lassen eine Vorstellung einer für den gesamten Lebenslauf relevanten Berufsperspektive erkennen und
11 Vgl. hierzu Joris/Witzig 1986, S. 189. 12 Vgl. von Roten 1996. S. 87f. 13 „Das Fächerangebot [im Pensionat] war ganz auf die künftige Repräsentantin des Hauses zugeschnitten: Französisch, Englisch, Konversation, Malen, Handarbeiten und Klavierspiel gehörten dazu. In diesen erteilten Fächern war das Ziel nicht, mit den erworbenen Fähigkeiten an die Öffentlichkeit zu treten, sondern die Beschäftigung mit den schönen Künsten musste eine dilettantische bleiben, alles nach Norm und Etikett auf den Gatten, das Haus und die gute Gesellschaft bezogen“ (Joris/Witzig 1986. S. 340).
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nicht nur eine zeitlich beschränkte Erwerbstätigkeit bis zu einer Familiengründung hin. Sich zu bilden bzw. berufstätig zu sein, wird als eigenes biographisches Projekt konstruiert, das trotz geschlechtsspezifischer Benachteiligung (innerhalb und außerhalb der Familie) konsequent verfolgt wird. Partnerschaft oder Familiengründung kommen in diesem Projekt nicht vor. Tragfähige soziale Beziehungen treten innerhalb dieses Themas wieder kaum in Erscheinung. Kontakte zu Mitmenschen werden meist sachbezogen im Zusammenhang ihres Studiums oder Berufs genannt. Sr. Inges Erzählung über die Leugnung ihrer nationalen Herkunft im Mädchenpensionat zeigt in aller Deutlichkeit ihre Problematik der sozialen Isolation. Die Verschleierung ihres mittlerweile zur Identität gewordenen Fremdseins verunmöglicht ihr einen (unbeschwerten) Aufbau von sozialen Beziehungen. Die Panzerung scheint auch nach der Beendigung des Zweiten Weltkriegs noch wirksam zu sein. Im Zusammenhang mit der Erwähnung einer Freundschaft zu einem Mann problematisiert sie ihre (fehlenden) sozialen Beziehungen ansatzweise. Der jähe Abbruch dieser Problematisierung und der unmittelbar darauf folgende Themenwechsel hin zu ihrer Dissertation weisen auf eine tiefe Verletzung hin. Das Soziale trägt nicht, die Bildung hingegen schon. Dass sich Sr. Inge nicht auf dieses emotionale Thema einlässt, weist erneut auf ihre Unverwundbarkeitsstrategie hin. In dieser Passage stellt Sr. Inge Studium und Beruf ins Zentrum ihrer biographischen Erzählung. Sie konstruiert sich als bildungsorientierte Studentin und professionelle Mittelschullehrerin, nicht aber als Freundin, Kollegin, Partnerin usw. Ein Leben neben der Universität bzw. neben ihren Anstellungen als Mittelschullehrerin scheint kaum existent zu sein. Was sich hier dokumentiert, ist eine bildungs- und berufsorientierte Biographie bzw. eine Verberuflichung ihrer Biographie. Thema 7: Leben im Kloster I (404-477) (1) und denn aber (.) sin mini (.) mini Erinnerige an (.) ans äm (.) Ordensläbe und sötigi Sache sind wieder (.) sind wieder hoch ko. //mhm// so dass ich mi im Lauf vo däm Johr entschlosse ha is Kloster V izträte. //mhm// (2) Vorbilder sin zum Teil (.) Gschichte vo Heilige, (1) //mhm// äh äh mi mi Gotte het mir emol (1) e Buech gä mit (.) mit luter Heiligegschichte wo (
) eigentli nid schlächt gmacht wo ä gsi sin ich han also viel Gschichtli
gse viel glernt und das het mi immer interessiert //mhm mhm// und (.) denn bin ich mit äh (.) 34 (1) oder 35 35 bin ich do iträte, han=aber gseit ich möcht s’Schueljohr fetig mache in O-Stadt, //mhm// bi denn (1) mh bi aber nur (.) zwölf Wuche lang Postulantin gsi oder Kandidatin, //mhm// aber sie hend mi jo kennt und ich han sie au kennt, //mhm// und ich han gfunde die vom Kloster V das sind so: (.) kurligi und verschiedenartigi Lüüt,
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//((schmunzelt))// also do (1) @do kame läbe@ //@(1)@// diä sin nid alli nach Schema F. //mhm// sondern sie sind sehr verschiede und //mhm// und es sind sehr starki Persönlichkeite (.) do kame läbe. //mhm// (404-418)
Die Erinnerungen ans Klosterleben lassen Sr. Inge nicht mehr los. Sie entschliesst sich, das Schuljahr in O-Stadt noch zu Ende zu führen und dann ins Kloster V einzutreten. Nebst den Erinnerungen führt sie als Beweggrund für ihren Klostereintritt Geschichten über Heilige an, was im Gegensatz zu ihrer sonstigen intellektuellen Orientierung (auch in Bezug auf ihre Religiosität) etwas romantisierend wirkt. Ihre kurze Zeit als Kandidatin begründet Sr. Inge mit den Worten „aber sie hend mi jo kennt“. Hier zeigt sich zum ersten Mal in ihrer biographischen Erzählung eine Anerkennung ihrer Person. Sie wird von den Schwestern des Klosters V erkannt und anerkannt. Für Sr. Inge deutet sich eine Möglichkeit an, der Isolation zu entrinnen. Umgekehrt kennt auch Sr. Inge die Klosterfrauen. Sie beschreibt diese gerade nicht in ihrer Uniformiertheit und Gleichförmigkeit, sondern betont das Individuelle und Starke dieser Frauen („kurligi und verschiedenartigi Lüüt“, „nid alli nach Schema F“ und „sehr starki Persönlichkeite“). Sie findet im Kloster Frauen, mit denen sie sich identifizieren kann. Im Kloster ist sie nicht mehr die Andere, sondern eine Andere und unter Anderen. Sie kann sie selbst sein und fällt damit nicht auf. Sie erlebt die religiöse Frauengemeinschaft als einen Ort, an dem sie leben kann – anderswo anscheinend nicht. und (.) bi dennä (1) ha Profess gmacht 19(1)65, (1) und denn hend sie mi nach S-Stadt gschiggt, (.) in S-Stadt (.) isch=äh (1) hend unseri Schwestere immer no es Meitligymnasium gfüehrt. //mhm// und ich bi dört au äh Lehrerin für Dütsch und Gschicht (.) und denn sehr schnell Religion, (.) denn ich ha (1) in dere Ziit während=ich im Kloster V unterrichtet ha (.) han=ich e Theologiekurs gmacht. //mhm// also s’isch jo e vierjährige Kurs (1) und (.) ich ha diä zweiti Serie (1) mitgmacht //mhm// s’het’s mir öper empfohle (.) wo diä ersti Serie mitgmacht het //mhm// und gfunde het das isch e gueti Sach mä söt //mhm// als Laie (1) grad als Frau söt mä e bitz öpis Theologie mache, und Theologie het mi immer interessiert //mhm// und (.) ha mh also mh (.) 59 bis 63 (.) dört in B-Stadt dä Theologiealso in in mit mit äh Summer- (.) mit (.) äh Intensivkürs in A-Stadt (1) das isch au interessant gsi //mhm// jo do hend mir dr E gha und dr F und dr G und und dr dr H also luter Lüüt wo (.) wo gueti Lüüt gsi sind //mhm// also //mhm// sehr gueti Lüüt (1) und äh do han ich en=Art Theologie- (.) also (1) en elementars Theologiestudium wenigstens gha, //mhm// und han denn in S-Stadt au (.) sehr schnell (.) Religions(.)unterricht gä. //mhm// das hen sie brucht, s’het langsam au agfange weniger Geistlichi z’ha, bis bis jetzt hen //mhm// diä Geistliche dä Religionsunterricht gä (418-437)
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Sr. Inge fährt in ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung mit dem Ablegen ihres Ordensgelübdes (Profess) fort. Anschließend bezieht sie sich auf ihre Tätigkeit in S-Stadt, in der sie am vom Kloster V geführten Mädchengymnasium Deutsch, Geschichte und später auch Religion unterrichtet. Dass sie nach der Erzählung über ihren Entscheid, ins Kloster einzutreten, ihre Zeit als Novizin nicht erwähnt, sondern sogleich wieder auf ihr Berufsleben zurückkommt, verweist einmal mehr auf ihre starke Berufsorientierung. Den Umzug von V-Dorf nach S-Stadt beschreibt Sr. Inge mit einer typisch klöster-lichen, d. h. dem Gehorsamsgelübde geschuldeten Handlungs- und Argumentationslogik („sie hend mi nach S-Stadt gschiggt“). Da sich Sr. Inge in ihrer bisherigen biographischen Erzählung selbstbestimmt zeigt, überrascht die sich in der Formulierung zeigende passive Haltung. Dieser Wechsel von der Selbst- zur Fremdbestimmung vollzieht sich mit dem veränderten Lebenszusammenhang. Mit dem Gehorsamsgelübde verpflichtet sich Sr. Inge, sich den Interessen der Ordensgemeinschaft unterzuordnen. Der Verlust ihrer Handlungsautonomie scheint ihr aber keine Probleme zu bereiten. Sr. Inge fährt anschließend mit einer Hintergrundkonstruktion, in der sie die Berechtigung für ihre Unterrichtstätigkeit im Fach Religion dank eines Theologiekurses erläutert, weiter. Der Besuch dieses Kurses wird ihr von einer nicht näher identifizierten Person mit der Begründung, „als Laie (1) grad als Frau söt mä e bitz öpis Theologie mache“, empfohlen. Obwohl Sr. Inge die Begründung einer anderen Person zitiert, zeigt sich hier eine Orientierung an Emanzipation durch (religiöse) Bildung. Um als Frau in der Kirche Handlungs- und Veränderungsmöglichkeiten (hinsichtlich Geschlecht und der Geschlechterverhältnisse) zu erkennen und anzuregen, braucht es (theologische) Bildung. Darüber hinaus argumentiert sie interessenorientiert („Theologie het mi immer interessiert“) und evaluiert die Dozenten des Kurses sehr positiv. Ihr Einsatz als Religionslehrerin an der Mittelschule verdankt sie einerseits ihren theologischen Grundkenntnissen, andererseits dem damals einsetzenden Mangel an Geistlichen. Im zweiten Argument steckt eine Kritik an der geschlechtsspezifischen ökonomischen Kalkulation, dass Frauen für bestimmte berufliche Tätigkeiten nur zugelassen werden, wenn nicht genügend Männer zur Verfügung stehen. (1) und (3) was mir gfalle het (1) isch ä (.) diä zweisprochigi Situation in S-Stadt. //mhm// also Dütsch und Französisch, (.) und mir het s’Französisch redä het mir kei Müeh gmacht. //mhm// ich bi in O-Stadt het mä h- h- hend sie mol gseit also won=ich no im Studium gsi bi (1) also alli müen jetzt (.) in=e äm e Phonetikkurs (2) //mhm// bim Herr so wie so //mhm// Französisch-Phonetik //mhm// will mä het wellä (.) dass d’Französischlehrer wirkli aständig Französisch redä, (.) dä het mi in der erste Stund usegheit //mhm// und het
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gseit das hend sie nid nötig //mhm// also isch mir Französisch isch=mir irgendwie //mhm// isch=mer isch guet gange //mhm// (437-446)
Dass Sr. Inge „diä zweisprochigi Situation in S-Stadt“ gefällt, könnte an ihrer Identität als Grenzgängerin liegen. S ist eine Stadt, die sich nicht nur durch die Zweisprachigkeit auszeichnet, sondern ebenso durch zwei unterschiedliche Kulturen geprägt ist (französische und deutsche Schweiz). Außerdem fällt es Sr. Inge leicht, Französisch zu sprechen. Ihre Sprachbegabung (zumindest in der französischen Sprache) bezeugt sie mit einer Hintergrunderzählung über ihre Freistellung vom Phonetikunterricht im Studium. und (.) denn (2) ja das het sich so (.) im Internat han ich kei Erfolg gha. (.) do bin ich nid ich ich han ich han z’wenig für Ornig gluegt (1) //mhm// ich bin das natürlig nid gwöhnt gsi @(1)@ //mhm @(1)@// ich bi nit im=e Internat gross worde, ich bi au nit in=ere katholische Schuel gross worde, //mhm// also dr (.) ich weiss in O-Stadt (.) dr Pfarrer het glägentlich zu minä Eltere gseit ihr sötet euri Kinder ine katholisch- s’het e katholischi Privatschuel geh. //mhm// und mini Eltere hen numä dr Kopf gschüttlet. //mhm// (1) und äm (1) äh das Milieu (.) von=ere richtige katholische Schuel (.) isch mir völlig fremd gsi //ja// also diä Lehrerin won=ich do gha han in Dütsch und Gschicht vier Johr lang diä het gseit sie sig e Heidin //mhm// also het sich nid emol (.) also protestantisch isch sowieso s’Milieu gsi //mhm// äh sie het sich nid emol me als Christ //mhm// agluegt. //mhm// also Heidin im Sinn vom Goethe //mhm// und //mhm// alli diä grosse Lüüt //mhm// guet (.) 18. Johrhundert eigentlig //@(2)@// und (1) uf all Fäll nid (.) nid (.) ich bi nid im=ene katholische Milieu ufgwagse. was ich nid gseit ha was ich no vergesse ha z’sage (1) ich ha mi Vater niä gseh in=e in=e Kirche go //mhm// wenn e //mhm// Familiefescht gsi isch äm (1) Erstkommunion oder äh (.) e Taufi oder äh (.) weiss=nid Beerdigung denn isch=er amel hinde drin gstande und het gwartet bis verbii isch. //mhm// also mh //mhm// (2) er het mit dem nüt könne afo. //mhm// (1) und d’Mueter het eifach gluegt dass mir (1) regelmässig in d’Kirche gön und so. //mhm// (3) also do bin ich in S-Stadt in das in das eigentlig katholischi Milieu ko, aber au wieder als e biz e Fremd- Fremdkörper, (.) will (1) ich- diä andere sind alli: (.) ganz katholisch ufgwagse, (446-470)
Sr. Inge fährt mit ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung chronologisch weiter („und (.) denn (2) ja das het sich so“), bricht ihren Gedankengang jedoch zugunsten eines anderen ab. Sie bleibt aber im zeitlich geordneten Verlauf, indem sie ihren Erfolg als Internatsleiterin in S-Stadt negativ evaluiert. Begründet wird dieser Misserfolg mit ihrer Unzulänglichkeit bei disziplinarischen Maßnahmen aufgrund mangelnder Erfahrung bezüglich katholischer Institutionen. Mit mehreren Hintergrunderzählungen bezeugt Sr. Inge ihren fehlenden katholischen Habi-
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tus. Sie beginnt mit dem Pfarrer, der ihre Eltern dazu anhält, die Kinder in eine katholische Privatschule zu schicken, während die Eltern dies jedoch ablehnen und ihre Kinder stattdessen in eine dem religiösen Milieu in O-Stadt entsprechende protestantische Primarschule schicken. In einer weiteren Hintergrundkonstruktion bezieht sie sich auf ihre sie prägende Lehrerin und Frauenrechtlerin des Mädchengymnasiums in O-Stadt, die sich selbst als Heidin bezeichnet. Weiter erzählt sie vom Vater, der mit der Kirche nichts anzufangen weiß und seine Abneigung bei kirchlichen Familienanlässen demonstrativ zur Schau stellt, sowie von der Mutter, die lediglich dafür sorgt, dass die Kinder regelmäßig die Kirche besuchen. Mit diesen Belegerzählungen zieht Sr. Inge ihre Eltern in die Mitverantwortung für ihre fehlende katholische Sozialisation. Sie, die im Gegensatz zu ihren Mitschwestern nicht in einem katholischen Milieu aufgewachsen ist, wird innerhalb der klösterlichen Gemeinschaft wieder zur Anderen. Sie bleibt auch im Kloster Grenzgängerin zwischen den Religionen. und (2) im Internat han=ich kei Erfolg gha (.) denn hend sie mir s’Internat e=weg gno (.) denn bin=i froh gsi. //mhm// und (.) äh (.) han den nume no Schuel gä, und ha sehr bald (.) ha denn bald au emol (1) äm (.) Allemand gä, (.) unterrichtet, (.) und ha (.) sogar an dr französische Abteilig Histoire, (1) und glägentlich sogar mängmal no im Notfall wenn sie niemer gha hend Religion. //mhm// unterrichtet. also ich bi do ziemlig zweisprochig ha do //mhm// ziemlig zweisprochig gläbt. //mhm// (.) und das han=i gnosse. //mhm// (470-477)
Nach einer kurzen Pause greift Sr. Inge den Misserfolg im Internat nochmals auf. Ihre Freistellung von der Internatsleitung bewertet sie positiv. Ihre unmittelbar im Anschluss beschriebene Tätigkeit am zweisprachigen Mädchengymnasium bewertet sie ebenfalls positiv. Was sich hier dokumentiert, ist ihre Bildungsorientierung, die sie sich zur Profession macht. Die Leitung eines Internats entspricht ihr nicht, das (zweisprachige) Unterrichten jedoch sehr. In ihrem professionellen Selbstverständnis sieht sie sich vor allem als Vermittlerin von Bildungsinhalten. Dass Sr. Inge ihre Tätigkeit im Internat nicht selbstbestimmt aufgibt, zeigt sich in der Formulierung „denn hend sie mir s’Internat e=weg gno“. Sie ist froh über diesen Entscheid, hat selber aber keinen Einfluss auf diesen. Auch hier dokumentiert sich wieder der Verlust ihrer Handlungsautonomie. Das Gehorsamsgelübde und die klösterliche Autorität werden aber nicht infrage gestellt, gehören nicht zum negativen Gegenhorizont.
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Zwischenfazit (404-477) Sr. Inges Stelle als Mittelschullehrerin am Primarlehrerinnenseminar in V-Dorf eröffnet ihr einen neuen sozialen Erfahrungsraum: das religiöse Milieu der weiblichen Ordensgemeinschaft. Im ersten Teil ihrer Erzählung stehen ihre Beweggründe für den Eintritt in die Frauenkongregation V im Vordergrund. Neben den etwas romantisierend wirkenden Heiligengeschichten, die sie aus ihrer Kindheit kennt, sind dies ihre positiven Erfahrungen mit dem Ordensleben und mit den Klosterfrauen. Sie erfährt während ihrer Tätigkeit am Primarlehrerinnenseminar eine Anerkennung ihrer Person und erkennt sich in den ihrer Meinung nach starken und individuellen Klosterfrauen wieder. Ihre mehrheitlich aus der Abgrenzung heraus entwickelte Identität stößt hier auf ein gleiches oder zumindest ähnliches Gegenüber. Die oben formulierte Lesart, dass sich Sr. Inge, die sich ständig in der Distinktion artikuliert, letztlich doch an Konformität orientiert, kann aufrechterhalten werden. Inhaltlich füllt Sr. Inge diese Identifikation mit dem Kloster und den Klosterfrauen nicht weiter aus, es können infolge der bisherigen Deutungen aber einige Thesen formuliert werden. Im Kloster trifft Sr. Inge auf Frauen, die ungeachtet ihrer Geschlechterzugehörigkeit ihre Bildungs- und Berufsorientierung leben können. Nicht verheiratet zu sein, keine Kinder zu haben, aber einer qualifizierten Arbeitstätigkeit nachzugehen, kann nicht als biographische Normalerwartung für eine Frau ihrer Generation und ihrer sozialer Schicht unterstellt werden. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war es für Frauen im deutschsprachigen Raum noch immer üblich zu heiraten. Für die wenigen gut ausgebildeten Frauen war es schwierig, eine Arbeitsstelle zu erhalten. Mittelschullehrerinnen wie Sr. Inge waren ausschließlich in Mädchengymnasien zugelassen, wobei die Stellen in katholischen Gebieten bzw. an katholischen Schulen wenn immer möglich mit Klosterfrauen besetzt wurden, so wie es auch Sr. Inge erlebt hat. Darüber hinaus war der Verdienst alleinstehender berufstätiger Frauen auch in qualifizierten Berufen derart gering, dass dieser nur in wenigen Fällen eine Existenz bot.14 Zum Stellenmangel und den finanziellen Sorgen unverheirateter berufstätiger Frauen kam hinzu, dass sie einen schlechten Ruf genossen. Sie wurden als alte Jungfern oder „Blaustrümpfe“ beschimpft, die keinen Mann fänden, und galten als Versagerinnen in ihrer eigentlichen Aufgabe als Gattin, Hausfrau und Mutter. In dieser spezifischen historischen Situation bot die katholische Kirche mit ihren Frauenkongregationen den ledigen Frauen „einen fraulichen Lebenssinn an und
14 Zur Frauenerwerbsarbeit in der Schweiz Mitte des 20. Jahrhunderts vgl. Joris/Witzig 1986, S. 167-210; von Roten 1996, S. 15-230.
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innerhalb ihrer Kreise ein gewisses gesellschaftliches Ansehen“, allerdings mit der Bedingung der Jungfräulichkeit. Klosterfrauen bildeten einen eigenen Stand, und das Ordensleben wurde als „eine der Mutterschaft ebenbürtige Lebensweise dargestellt“ (Joris/Witzig 1986, S. 87). Was vorher nicht möglich war, scheint nun möglich zu sein: Das Kloster bietet Sr. Inge eine Kohärenz ihrer Person, sie ist eine Andere unter Anderen und kann im Orden ihr Leben leben. Darüber hinaus gewährleistet die gemeinschaftliche Lebensweise im Kloster eine Existenzsicherung und eine nicht oder nur schwer auflösbare soziale Verortung bzw. eine Kontinuität sozialer Beziehungen, ähnlich einer Familie. Dennoch zeigen sich Ambivalenzen, die immer stärker zum Tragen kommen. Obwohl die katholische Kongregation Sr. Inge eine religiöse Heimat bietet, wird sie aufgrund ihrer fehlenden katholischen Sozialisation15 wieder zur Grenzgängerin der Religionen. Auch Geschlecht und Geschlechterverhältnis und die damit verbundenen beruflichen (Un-)Möglichkeiten werden wieder Thema. Dies zeigt sich im Zusammenhang mit ihrer Kritik an der geschlechtsspezifischen ökonomischen Kalkulation im Hinblick auf ihre partielle Zulassung, an der Mittelschule Religion zu unterrichten. Sr. Inge ist durch den sozialen Platzanweiser „weibliches Geschlecht“ auch innerhalb des Klosters, vor allem aber innerhalb der katholischen Kirche von vornherein strukturell marginalisiert. Sie selbst bedient sich nicht der Differenzkonstruktion männlich-weiblich, vielmehr differenziert Sr. Inge über Bildung und Beruflichkeit. Mit Bildung und mit ihrer Berufsausübung versucht sie (politisch) handlungsfähig zu sein und Anerkennung zu erlangen. Ihre lebensgeschichtliche Erzählung bleibt denn auch bildungs- und berufsorientiert. Zugleich macht sie sich diese Orientierung zur Profession und versteht sich als Vermittlerin von Bildungsinhalten. Mit dem Eintritt ins Kloster begibt sich Sr. Inge aber in ein neues Abhängigkeitsverhältnis. Ihre typisch klösterliche bzw. dem Gehorsamsgelübde geschuldete Handlungs- und Argumentationslogik zeigt, dass ihr Leben und damit auch ihre berufliche Laufbahn von der Ordensleitung (mit-)bestimmt werden. Das Gelingen ihres bildungsund berufsorientierten Lebensentwurfs ist nicht mehr nur abhängig vom männlichen Geschlecht, sondern neu auch abhängig von der Autorität des Klosters. In dieser Passage stellt sie aber weder die klösterliche Autorität noch ihren Verlust an
15 Sr. Inges Familie ist zwar katholisch, praktiziert aber den Glauben, bis auf wenige Rituale, wie z. B. die Taufe, nicht aktiv. Außerdem wächst sie in einer reformierten Stadt auf, und geht auf eine reformierte Schule, in der sie allerdings katholischen Religionsunterricht erhält.
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Handlungsautonomie infrage. Es ist jedoch ungewiss, ob ihr bildungs- und berufsorientierter Lebensentwurf noch ihr eigenes biographisches Projekt ist. Thema 8: Leben im Kloster II (477-590) (.) und denn (1) isch folgende Skandal passiert, (1) e Schwester isch Oberin gsi in=eim vo unsere grössere Hüser, (1) und diä hend sie noch drei Johr wieder abgsetzt. //mhm// diä het sich (.) irgendwie nid duregsetzt, oder s=isch eifach nid gange, //mhm// und denn isch sie: (.) nach S-Stadt ko, (1) in=unsri Schuel, (1) in=unsri Gmeinschaft, (1) und mä het nid gwüsst was mit=ere mache, (1) ansich sie het au vorher mol im Seminar unterrichtet gha, (.) ansich het sie könne unterrichte, an dere Schuel, (1) aber äm (2) d- d- s’Schueljohr isch scho verteilt gsi, (.) //mhm// sie isch in dä Summerferiä ko. //mhm// und denn het mä gseit (.) ja (.) jetzt tüend sie halt emol Theologie studiere. //mhm// und denn han=ich gseit (.) bin=ich wüetig worde, stinkwüetig, (.) und ha gseit (1) aha (1) mä muess in sim (1) Job (.) versage (.) //mhm// zum dörfe Theologie studiere. //mhm// und (1) denn han=ich gs- (.) mir gseit jetzt wehr=ich mi. //mhm// jetzt wot=ich (.) jetzt han=ich diä diä (.) diä Theologischi Fakultät in S-Stadt vor dr Nase, (.) //mhm// jetzt wot ich Theologie studiere. denn han=ich zwei Johr lang han=ich äh (1) philosophischi Vorläsige (.) bsuecht, //mhm// denn das muess mä immer mache, (1) in (.) //mhm// wenn=mä katholisch isch, //mhm// und (.) denn (.) han=ich: äm (.) mi immatrikuliert, //mhm// ich ha: (.) Latinisch und Griechisch han=i gha, (1) //mhm// also han=ich nur no müesse Hebräisch mache, //mhm// (.) und (.) äh ha denn gseit (.) ob sie mir könnte also s’Theologiestudium in S-Stadt (.) bis zum Lizenziat isch (.) isch=äh fünf Johr (.) uf fünf Johr aglegt gsi, und i=han gseit ob sie mir könnte wäge mine Vorkenntnis (.) s’ersti Johr schenke. //mhm// ich=ha=denn gseh dass=es ersti Johr, äh (.) dass ich do scho einiges verpasst ha, //mhm// inzwüsche het sich da isch s’Konzil isch jo verbii gsi, oder, //mhm// inzwüsche //mhm// (.) het sich einiges (.) an theologische (.) vor allem au (.) Bibel (1) theologische Vorstellige gänderet, //mhm mhm// und (.) äh (.) ich ha denn gmerkt dass i do scho Lugge ha (.) äh also (.) im Unterschied zum Theologiekurs won=i gmacht ha zwüsche 59 und 63 //mhm// (1) und (.) aber i ha denn (.) bi denn drbi bliibe und ha mini vier Johr Theologie gmacht (477-506)
Sr. Inge fährt mit einer dramatischen Höhepunkterzählung weiter. Für sie ist es unbegreiflich, ein „Skandal“, dass eine Mitschwester wegen ihres beruflichen Misserfolges die Erlaubnis für ein Theologiestudium erhält. Bildung ist für Sr. Inge ein hohes Gut, (Aus-)Bildung als Notlösung jedoch ein negativer Gegenhorizont. Sr. Inge greift daraufhin aktiv in die Ereignisse ein und setzt durch, dass sie in der nahe gelegenen Theologischen Fakultät ebenfalls studieren darf. Obwohl sich Sr. Inge dem Gehorsamsgelübde verpflichtet hat, setzt sie sich weiterhin für ihr biographisches Bildungs- und Berufsprojekt ein.
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Daraufhin folgen eine längere Beschreibung der besuchten Fächer und eine Erklärung für ihre verkürzte Studienzeit dank ihrer Vorkenntnisse. Die Passage wird durch eine Bekräftigung, dass sie das Theologiestudium abschließt, beendet. und denn hend sie gseit (.) ha- (.) z’ersch hend’s natürlig gseit ja es längt doch wenn du als Hörerin (.) gosch, und denn han=i gseit das längt nid (1) wenn (.) ich (.) nid (.) wenn ich nid (.) E- Exame mach //mhm// denn (.) schaff ich au nüt. //mhm// @(1)@ //mhm// (1) das isch so. drum het dr Mensch isch fuul, also ich ha do (.) e Lizenziat gmacht, //mhm// noch vier Johr (1) und ha (.) in dere Ziit (.) han ich (1) ei Klass (.) am Afang han ich no e Allemandklass gha drzue, (.) bis zu (
) ihrer Matura, (.) und denn han=ich ei Klass gha in
Dütsch und Gschicht, //mhm// und bi Klasselehreri gsi, bi denä, und näbädra han ich das Theologiestudium gmacht //mhm// und im gliiche Summer (1) oder um diä gliichi Ziit (.) won=ich mini Lizexame gmacht ha (1) in=äh (.) äh (.) Dogmatik (1) Alttestament (1) und=äh (.) Moral. //mhm// Dogmatik und Moral sin obligatorisch gsi, //mhm// wobi ich (.) in Dogmatik äh (.) d’Lizarbet in Dogmatik gmacht ha (.) äh (.) han ich äh (.) nochher no könne frei wähle und s’dritti Fach, de han=i s’Alte Testament gno, (1) und äm (1) in dr gliige Wuche (.) han ich diä prüeft in Dütsch und Gschicht. (.) Maturaprüefig. //mhm// also s’isch e biz en Stress gsi. //mhm// aber s’isch immerhin gange (506-523)
Sr. Inge verbleibt innerhalb des Themas „Theologiestudium“. Die vorgängige Hervorhebung ihres regulären Studiumsabschlusses scheint darin begründet zu sein, dass sich Sr. Inge gegenüber der Klosterleitung nicht nur für ihr Bildungsinteresse, sondern auch für den formalen Bildungsabschluss einsetzen muss. Nur als Hörerin teilzunehmen, reicht ihr nicht. Über den Nachweis des formalen Bildungstitels kann Sr. Inge einerseits berechtigten Anspruch auf den Religionsunterricht an der Mittelschule erheben, andererseits weist sie das Lizentiat dem ausschließlich männlichen Klerus gegenüber als Fachfrau für theologische Fragen aus. Dass es wichtig ist, als Frau etwas von Theologie zu verstehen, hat sie weiter oben bereits erwähnt. Die Erlangung des formalen Bildungsabschlusses begründet sie aber mit ihrer extrinsischen Motivation und spricht dem Menschen über die Wesensbeschreibung „dr Mensch isch fuul“ die Möglichkeit einer intrinsischen Leistungsmotivation ab. Es zeigt sich hier abermals ihre Orientierung an Disziplin bzw. an (selbst-)disziplinierenden Maßnahmen. Dies erscheint aufgrund ihrer stark bildungsorientierten Biographie etwas irritierend. In der weiteren Erzählung wird deutlich, dass ihr das Theologiestudium von der Klosterleitung nicht geschenkt wird. Parallel zum Studium muss Sr. Inge ein großes Pensum am Mädchengymnasium bewältigen. Ihr Studium absolviert sie
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„näbädra“. Obwohl sie die Zeit als anstrengend evaluiert, zeigt sich eine gewisse Genugtuung darüber, dass sie ihr Ziel erreicht. und denn han ich vier Johr lang, (.) äh (.) ganz gwöhnlig Schuel gä uf beidä Abteiligä mit Allemand (.) und und Dütsch und Gschicht und Religion, (1) und (.) nochher (.) bin ich denn von dr Erziehigsdirektion (1) zur äh (.) als Rektorin ernennt worde, //mhm// und bi:: zäh Johr lang Rektorin gsi, //mhm// und ha: (.) betriebe dass das Huus (.) wo mir (.) unseri Schuel drin gha hen (.) äh verkauft wird, und dass d’Erziehigsdirektion (.) e Huus neus Huus muess baue. //mhm// und ha das erreicht //mhm// zum (.) ich bi ha=mi do do bi unsere Lüüt unbeliebt gmach, (.) will sie gfunde hen äh (.) s’eigeni Huus isch ei (.) Sach und so, und ich ha gar nid gfunde, mä läbt nid vo Stei, //mhm// und (.) d’Erziehigsdirektion (.) mä hend niä gnueg Turnhalle gha, mär hend (.) äh //mhm// d’Schuel isch gwagse, (.) wo won=ich nach S-Stadt ko bi anno (1) äh anno 65 sind’s ungfähr (.) äh dreihundertfufzig Schüelerinne gsi, (.) inzwüsche isch’s e gmischti Schuel gsi (.) Buebe Meitli (.) und es isch en (.) über achthundert (.) gsi. //mhm// und mir hen (.) in dr in dr ganze Umgäbig hen mir müesse (.) //mhm// Pavillon ha //((hustet))// und und //ja// Zimmer miete und //ja// so wiiter und drum han=ich also //ja// em Erziehigsdirektor erklärt er müess baue. //mhm// und das het er gar ni- das het ihm nid passt, aber (.) es isch denn gscheh //mhm// @diä Schuel stoht@ //@(2)@// @(2)@ und (.) äm im im Moment (.) het=äh (.) wo m- (.) wo d- Neu- dr Neubau het könne bezoge werde, (1) het (.) hend’s in S-Stadt, (.) de s’Untergymnasium (.) ufghobe. //mhm// und hen in dä Sekundarschuele (.) meh (.) Platz brucht, (.) durch das, (.) das sin i=dä erstä drei Johr, also noch sechs Johr Primarschuel drei Johr (.) //mhm// Sekundarschuel (1) hen meh Platz bruecht für d’Sbrucht für diä zwei Sekundarschuele diä Welsche //mhm// zwei Se- welsche Sekundarschuele (1) und denn hän sie (1) unser Huus kauft (1) für e dritti (1) //mhm// welschi Sekundarschuel. //mhm// °do bin ich natürlig froh gsi.° @(2)@ //@(3)@// @das mir das Huus hend könne verkaufe@ //ähä// ((atmet ein)) und=ä (2) jo (.) und denn (.) bin ich also zä Johr (.) do (2) äh Rektorin gsi, (523-552)
Sr. Inge fährt in ihrer Erzählung berufsbiographisch weiter. Nach dem Theologiestudium unterrichtet sie vier Jahre lang am Mädchengymnasium Deutsch, Geschichte und – wie sie sich das erhofft hat – Religion. Die anschließende Ernennung zur Rektorin zeigt, dass sich ihre Karriereambitionen in die Realität umsetzen lassen.16 Auch in diesem Erzählabschnitt wird deutlich, dass sich Sr.
16 Dass Sr. Inge von der Erziehungsdirektion und nicht vom Kloster zur Rektorin ernannt wird, hängt damit zusammen, dass das Mädchengymnasium seit Ende der 1950er-Jahre nicht mehr ausschließlich von V-Schwestern, sondern in Zusammenar-
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Inge in ihrer Handlungsautonomie nicht einschränken lässt. Infolge der größeren SchülerInnenzahl (Koedukation) kämpft sie als Rektorin für den Umzug der Schule in einen Neubau. Sie muss sich sowohl gegen die Erziehungsdirektion als auch gegen ihre Gemeinschaft durchsetzen. Dass die Stadt nicht nur ein neues Schulhaus baut, sondern auch das alte Gebäude dem Kloster V abkauft, legitimiert Sr. Inges Vorhaben in finanzieller Hinsicht. Die Passage endet damit, dass Sr. Inge in ihrer Erzählung zunächst chronologisch weiterfahren will, sich dann aber entschließt, die zeitliche Dimension ihrer Tätigkeit als Rektorin in S-Stadt anzugeben („zä Johr“). (1) und nochher (.) äh n- n- anno: 89, (1) hend sie mi is Kloster V versetzt, (1) und zwor (.) isch eifach wieder emol (1) en Amtsziit abglaufe gsi, und sie hend e neui, (1) e neui Provinzrätin bruucht, //mhm// und hän (.) en Umfrog gmacht, //mhm// und denn (.) guet de bin ich also empfohle worde, und ich han müesse weg vo S-Stadt i dä letztä vier Johr bin=i han ich en eigeti Wohnig gha (.) in S-Stadt. //mhm// ich ha druf drunge, (.) dass ich en=eigeti Wohnig gha ha (.) will d’Schwestere, (.) noch=em Verkauf, (.) vo dem Huus, (1) hend diä hend neu baut (.) näbädra (.) aber sie hend no i dere alte Schuel gwohnt während diä neui grad agfange het und=da=han=i gfunde nei das mach=i nid mit. //mhm// ich läb nid (.) mit=eme Kolleg (1) Di- Direktor von=ere Sekundarschuel und ich (.) nei das got eifach nid //mhm// ich muess en=eigni Wohnig ha //mhm// guet (.) han=i also vier Johr lang in S-Stadt en=eigeni Wohnig gha, //mhm// ich bi sehr ungern vo S-Stadt e=weg, //mhm// vo däm: (.) au universitäre Milieu, //mhm// und (.) also einersiits äh s’isch äh (.) e es Milieu mit hochem Bildigsrang (.) und durch d’Universität und viel Agebot und Kultur, //mhm// und anderersiits das Zweisprochige, //mhm// isch mir gläge. (1) das DütschWelschi. (552-569)
Sr. Inge setzt die Erzählung mit ihrer Versetzung von S-Stadt zurück ins Mutterhaus in V-Dorf fort. Obwohl deutlich wird, dass sie weder die Entscheidungsträgerin ist noch die Versetzung befürwortet („und ich han müesse weg vo SStadt“), begründet sie diese in sachlicher und selbstverständlicher Weise mit ihrer Wahl als Provinzrätin17. Die Erzählung über ihren Orts- und Stellenwechsel unterbricht Sr. Inge zugunsten einer Hintergrundkonstruktion über ihre eigene Wohnung in S-Stadt. Dass Sr. Inge vier Jahre lang allein und nicht in einer Schwesterngemeinschaft lebt, hängt mit ihrer Weigerung zusammen, mit dem Direktor der Sekundarschu-
beit mit dem Staat geführt wird. Heute ist die Schule ein nicht konfessionsgebundenes, koedukatives Gymnasium. 17 Zu Provinzrätin siehe Kap. 2.1.
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le unter einem Dach zu leben. Ihre Begründung lässt zwei Lesarten zu: a) sie will nicht mit einem Kollegen derselben beruflichen Hierarchiestufe im selben Haus leben, oder b) das Problem liegt darin, dass es sich um einen männlichen Kollegen handelt, mit dem sie das Haus teilen sollte. Da sie die Ausnahmebewilligung für eine eigene Wohnung erhält, weist sie sich zum wiederholten Mal als durchsetzungsstark aus. Unmittelbar nach dieser Hintergrundkonstruktion bewertet Sr. Inge ihre Versetzung nach V-Dorf negativ. In S-Stadt kann sie sich in einem universitären Milieu bewegen, was ihr, aufgrund ihrer Bildungsorientierung und ihrer – wenn auch prekären – familiären Verankerung im bildungsreichen Milieu der oberen Gesellschaftsschicht, sehr entgegenkommt. Außerdem fühlt sie sich als vielfache Grenzgängerin in der mehrsprachigen Region wohl. Darüber hinaus muss sie mit der Rückkehr ins Mutterhaus ihre zumindest partiell erreichte Autonomie (eigene Wohnung) wieder aufgeben und sich in eine große (Wohn-)Gemeinschaft einordnen. Obwohl sie den Umzug ins Mutterhaus nicht befürwortet und sie aus einem Lebenszusammenhang herausgerissen wird, der ihr sehr entspricht, kämpft sie gegen den Beschluss des Rats nicht an und ordnet sich dem Gehorsamsgelübde unter. Dies mag damit zusammenhängen, dass sie in diesem Fall – im Gegensatz zu anderen Weisungen des Rats – die Notwendigkeit des Beschlusses und damit ihrer zukünftigen Tätigkeit als Provinzrätin einsieht. Darüber hinaus kann sie in ihrer neuen Funktion als Provinzrätin die Gemeinschaft mitgestalten und hinsichtlich bestimmter Geschäfte mitbestimmen. Innerhalb der klösterlichen Hierarchie bedeutet dies einen Aufstieg. Für Sr. Inge, die sich an (beruflichem) Aufstieg und damit auch an Mitbestimmung orientiert, bedeutet diese Versetzung auch eine neue Herausforderung. (1) denn hend sie mi do ufe versetzt, (.) und denn het (.) im äh gliiche Johr (.) wo das also gloffe isch het denn no dr Direktor vom (.) Lehrerinneseminar in V-Dorf kündet, (.) denn hend sie gfunde ich könn jo au no das mache. //mhm// und denn bin ich also zur Hälfti, (.) Seminardirektorin gsi, (.) ich ha denn vo S-Stadt (.) e Kollegin mitgno wo als Vizedirektorin (.) //mhm// und=äm (.) zur andere Hälfti (1) äh (.) Provinzrätin. //mhm mhm// und (.) denn, (1) das han=i sechs Johr lang gmacht, (4) denn sind Chnüüoperatione fällig worde, (1) und (.) denn isch au no e Generalkapitel gsi, (.) ich han mi ziemlig engagiert in=äh (.) in de neuä Satzige und so Sache //mhm// ich ha also (bi uns) //mhm// ich bi an viel viel Generalkapitel gsi ha grad nochem Konzil han=i mi sehr engagiert (.) für neui Satzige. //mhm// und (.) denn=äh (.) isch (2) noch däm Generalkapitel denn het (.) äh het (1) hän=sie mir händ sie erklährt ich müess s’Archiv übernäh. (.) diä Archivarin wo mä gha het //mhm// do //mhm// diä sig jetzt langsam pensionsberächtigt //mhm// diä isch hoch in
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dä 80 gsi und ich söll jetzt das Archiv überneh, (1) denn han ich au en Usbildig gmacht (.) en so=nä (1) ä (.) wie=seit=mä däm (.) bruefsbegleitend in Dütschland, (1) git’s en Archivskurs (.) für (.) kirchligi (.) //mhm// Archivare wo also (.) Ordenslüüt (.) dä bsu- bsueche (.) oder oder Lüüt wo (.) in in Pfarreiä oder äbe //mhm// im Bistum schaffe. //mhm// dä han=i gmacht, (1) und au do en=Arbet gschribe (1) und (1) jo das mach ich jetzt sithär, //mhm// (569-590)
Sr. Inge erwähnt nochmals ihre Versetzung ins Mutterhaus und kommt dann auf eine weitere ihr übertragene Aufgabe zu sprechen. Infolge einer Kündigung übernimmt sie nebst ihrer Tätigkeit als Provinzrätin auch die Stelle als Direktorin des klostereigenen Lehrerinnenseminars. Hilfe für die Bewältigung dieses großen Arbeitspensums erhält sie von einer Kollegin aus S-Stadt, die im Lehrerinnenseminar als Vizedirektorin amtiert. Sr. Inge will mit ihrer Erzählung weiterfahren, unterbricht diese jedoch zugunsten der zeitlichen Angabe ihres neuen Aufgabenbereichs („das han=i sechs Johr lang gmacht“). Anschließend fährt sie chronologisch mit der nicht weiter ausgeführten Erwähnung ihrer Knieoperationen fort und erzählt fernerhin von ihrer Teilnahme am darauf folgenden Generalkapitel18, bei dem sie sich für neue Satzungen und weitere für die gesamte Kongregation wichtige Beschlüsse engagiert. In einer Hintergrundkonstruktion erklärt Sr. Inge, dass sie bereits vor diesem Generalkapitel an weiteren teilgenommen hat und sich vor allem nach dem II. Vatikanischen Konzil für Neuerungen in der Kongregation eingesetzt hat. Ihre Teilnahme an verschiedenen Generalkapiteln deutet erneut auf ihre Orientierung an Mitbestimmung hin. Darüber hinaus zeigt sich, dass Sr. Inge nicht nur Interessen bezüglich ihrer beruflichen Tätigkeit verfolgt, sondern sich für die Regeln des Zusammenlebens der gesamten Gemeinschaft engagiert. Wofür sie sich jeweils eingesetzt hat, geht aus ihrer Erzählung nicht hervor. Nach dem letzten Generalkapitel wird ihr anlässlich einer Pensionierung die Aufgabe als Archivarin des Klosters übertragen. Berufsbegleitend besucht sie in Deutschland eine entsprechende Ausbildung für Kirchenleute, schließt diese mit einer Arbeit ab und betätigt sich seither als Archivarin. Ihre Formulierung „händ sie erklärt ich müess s’Archiv übernäh“, deutet abermals darauf hin, dass sie auch hinsichtlich der Übernahme dieses Aufgabenbereichs nicht die Entscheidungsträgerin ist. Sie ordnet sich wieder der Ordensleitung bzw., den übergeordneten Zielen und Aufgaben des Klosters unter. Mit den Worten „jo das mach ich jetzt sithär“ schließt sie ihre Berufsbiographie ab.
18 Zu Generalkapitel siehe Kap. 2.1.
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Im Gegensatz zu ihren Erzählungen über ihre bisherige Berufstätigkeit fehlen in dieser Passage über ihre neuen Tätigkeitsbereiche in V-Dorf sowohl nähere Ausführungen als auch Evaluationen. Die überwiegenden Darstellungsmodi sind diejenigen der Beschreibung und der Argumentation. Das Abtreten biographischer Entscheidungen ans Kloster scheint das Erzählen zu erschweren. Zwischenfazit (477-590) Einmal mehr macht Sr. Inge ihre Bildung und ihre Beruflichkeit konsequent zum Thema. Innerhalb dieser Thematik zeigt sich ihr Versuch, eine Balance zwischen Autonomie und Abhängigkeit herzustellen. Solange Sr. Inge nicht gegen grundlegende Regeln der Konstitution verstößt, vermag sie sich gegen die Autorität der Ordensleitung durchzusetzen (Theologiestudium, Neubau der Schule, eigene Wohnung). Letztlich scheitert sie aber an den Regeln des Klosters bzw. am Gehorsamsgelübde. Mit der Versetzung und dem Übertragen neuer Aufgabengebiete wird Sr. Inges Aufstiegsnormativ zunächst noch bedient. Die Überantwortung des Klosterarchivs am Ende ihres beruflichen Weges ist zwar eine wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe, bedeutet jedoch einen beruflichen Abstieg. Darin zeigt sich deutlich, dass ihre Handlungsautonomie empfindlich eingeschränkt und sie in Bezug auf ihren Lebensentwurf nicht mehr Entscheidungsträgerin ist. Sr. Inges Lebensweg ist institutionalisiert, d. h., andere – die Ordensleitung – bestimmen über ihre (berufliche) Zukunft. Ihre Beruflichkeit ist nicht mehr ihr eigenes biographisches Projekt, sondern dasjenige des Klosters. Die zunehmende Wirkung der Fremdbestimmung schlägt sich auch auf die Art und Weise der Erzählung nieder. In den Momenten, in denen es Sr. Inge gelingt, Autonomie herzustellen, sind ihre Erzählungen ausführlich und von narrativen Passagen geprägt. In den Momenten des Autonomieverlusts zeigen sich jedoch überwiegend knappe, beschreibende und argumentative Darstellungen. Ein (zumindest partiell) nicht-individuelles Ordensleben als eine individuelle Biographie darzustellen, scheint äußerst schwierig zu sein. Darüber hinaus fehlen gegen Ende des Themas Evaluationen. Dies kann als Bewältigungs- oder Überlebensstrategie gedeutet werden, da sie ansonsten ihr eigenes biographisches Projekt als gescheitert eingestehen müsste. Die „Sprachlosigkeit“ könnte aber auch der Interviewsituation bzw. der Interaktion zwischen der klösterlichen und der säkularen Welt geschuldet sein. Hier zeigt sich die Problematik, einen an Gemeinschaft, Gleichheit und Gehorsam orientierten religiösen Lebensweg einer Angehörigen der säkularen Welt darzustellen und intersubjektiv nachvollziehbar zu vermitteln. Die Erfahrungen, über die Sr. Inge verfügt, sind der Interviewerin nicht zugänglich.
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Thema 9: Frau und Kirche (590-613) (3) und s=in Sache (.) in Sache K- Frau und Kirche, (1) es het mi (.) eigentlig äh (.) ich han natürlig (.) immer gwüsst wenn ich ä Maa wär het ich Theologie gmacht. //mhm// vo Afang a. //mhm// (590-592)
Nachdem Sr. Inge mit ihrer bildungs- und berufsorientierten Biographie zu einem Abschluss gekommen ist, fährt sie mit Reflexionen im Sinne einer bewertenden Stellungnahme zur Situation der Frau in der Kirche fort. Diese beginnt sie denn auch mit den beiden Schlagworten „Frau und Kirche“. Sie fährt mit den Worten „es het mi (.) eigentlich äh“ fort, bricht dies aber zugunsten einer Hintergrundkonstruktion ab, in der sie erklärt, dass sie als Mann von Anfang an Theologie studiert hätte. Es dokumentiert sich hier abermals, dass Sr. Inge ihre Biographie als weibliche und als benachteiligte versteht. Es geht ihr nicht um die kategoriale (Selbst-)Zuordnung zu einem bestimmten Geschlecht, denn diese kann als vorausgesetzt verstanden werden. Sr. Inge thematisiert Geschlecht vielmehr als strukturelle Benachteiligung und als strukturelle Begrenzung ihrer Biographie. Mit einem anderen Geschlecht hätte sie andere, bessere und vielfältigere biographische Möglichkeiten gehabt. (1) aber äm (1) richtig gstört (.) massiv gstört het’s mi, (.) wo:n (.) ich do (.) in der=äh Fin S-Stadt in=ere Frauegmeinschaft (.) gsi bi, (.) mit luuter gebildete, (.) Fraue, Gymnasiallehrerinne, //mhm// und d’Mäss (.) list (.) e jugendliche Benediktiner. //mhm// (1) dä muess mä do vo usswärts ine ko, //mhm// und (.) diä sin alli au säb mol scho won=ich no jung gsi bi sind sie jünger gsi als ich, diä sind zum Studium für e paar Johr uf S-Stadt //mhm// und hend au en Usbildig gha als Lehrer für ihr- ihri Stiftsschuel, (.) isch klar, (.) äh ich han ni- nüt persönlig gägä //mhm// (.) im Allgemeine im Allgemeine nüt Persöndlig gägä sie gha. //mhm// aber ich ha das als als (.) ganz massivs Unrecht (.) empfunde. //mhm// dass: (.) mir abhängig sind wiä mir als Fraue in dr Kirche vo Sakrament (.) abhängig sind, (.) und ich ha mh mit dr Ziit ebä (.) agfange s’Sakrament als e Form von=ere Machtusüebig (1) azluege. //mhm// (592-605)
Nach dieser Hintergrundkonstruktion nimmt Sr. Inge die abgebrochene Erzählung wieder auf und schildert anhand der Frauengemeinschaft in S-Stadt exemplarisch die Abhängigkeit der Klosterfrauen vom männlichen Klerus. Innerhalb dieses Themas stehen nicht nur sie selbst und ihre Biographie, sondern auch ihre Reflexionen über die patriarchalen Macht- und Autoritätsverhältnisse der katholischen Kirche und die damit verbundenen strukturellen Benachteiligungen der Frauen allgemein im Zentrum ihrer Erzählung. In ihre Kritik eingelassen sind
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mehrere Differenzkonstruktionen: männlich-weiblich, gebildet-nicht gebildet, jung/uner-fahren-alt/erfahren, innen-außen. Sie kritisiert die Abhängigkeit gebildeter Klosterfrauen von jungen, wohl gut ausgebildeten, aber noch unerfahrenen Priestern, die von außerhalb kommen, also nicht der Gemeinschaft selbst angehören, um die heilige Messe zu halten. Diese Abhängigkeit vom männlichen Klerus zeigt sich nach Sr. Inge vor allem in der Abhängigkeit von den Sakramenten, welche sie als eine Form der patriarchalen Machtausübung der katholischen Kirche versteht.19 (4) denn bin=ich äh (.) was mä viellicht au no muess erwähne, ich bi (1) °für (.) wiä lang° (3) mehreri Johr (3) ich weiss nid emal genau wiä lang (2) viellicht siebe acht Johr (1) in dr bischöflichä Frauekommission gsi, //mhm// (.) und ha do (1) do hend mir uns natürlig sofort (.) uf Frauethemä gstürzt, (1) äh (.) Diakonat (1) Diakoneweihi (.) für Fraue (.) und hen=uns do demit usenandergsetzt und do han ich au sehr viel gschribe. //mhm// (4) und do bin ich au theoretisch han ich mich usenandergsetzt mit denä Frauefroge und verschiedeni feministischi Sache gläse. //mhm// so //mhm// (2) voilà, (605-613)
Mit ihrer mehrjährigen Tätigkeit in der kirchlichen Frauenkommission der Schweizerischen Bischofskonferenz20, in der sie sich neben anderen „Frauethemä“ mit der Frauenordination 21 befasst, setzt Sr. Inge ihre Biographie fort. Sie schreibt zu diesen Themen, setzt sich auf theoretischer Ebene mit Frauenfragen auseinander und liest feministische Literatur. Erst zum Schluss ihrer biographischen Eingangserzählung zeigt sich Sr. Inge als aktive Frauenrechtlerin innerhalb der katholischen Kirche, ohne ihre Tätigkeiten inhaltlich genauer auszuführen. Nach einer kurzen Pause beendet sie ihre biographische Eingangserzählung in ihrer grenzgängerischen Manier in französischer Sprache mit „voilà“, im Sinne von „da (ist meine Lebensgeschichte)“ oder „das ist alles“ (voilà tout).
19 Das Spenden der Sakramente (Taufe, Firmung, Eucharistie, Bußsakrament, Krankensalbung, Sakrament der Weihe, Ehe) ist gebunden an das Sakrament der Weihe (zum Diakon, Priester, Bischof), welches in der katholischen Kirche gemäß dem Kanonischen Recht auf Männer beschränkt ist (vgl. Corpus Iuris Canonici von 1983, Can. 1024). 20 Zu den Aufgaben der kirchlichen Frauenkommission (heute Frauenrat) gehören die Auseinandersetzung mit Frauenfragen und die Förderung der Frauen in Kirche und Gesellschaft. 21 Mit Frauenordination wird die einer Frau erteilte Weihe zum geistlichen Amt in einer Religionsgemeinschaft (z. B. der katholischen Kirche) bezeichnet.
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Nachfrageteil: Zur biographischen Vertiefung des Themas „Frau und Kirche“ Nach der Beendigung der biographischen Eingangserzählung ist eine umfangreiche Nachfragephase eingeleitet worden, von der im Folgenden nur einige Ausschnitte zur Vertiefung des Themas „Frau und Kirche“ interpretiert werden. ich ha ich ha zwei (.) Projekt (.) liege (.) für für äh für Büecher. (.) //mhm// ich bi langsam (.) z’alt zum so Sache mache, (.) aber s’einti Buech wot heisse, (.) Frauen Kirche Streik (.) //mhm// (4) aber (.) ich han das mol au in=ere Diskussion, (.) äh ufbrocht, (.) und äh also mä söt eigentlig als Frau äh, (.) söt mä eifach d’Kirche bestreikä, (.) //mhm// eifach nümä in d’Kirche go, //mhm// eifach nümä, //mhm// (1) und (1) ich bi sehr ermunteret worde, (.) alässlich vo (.) Exerzitie (.) äh Einzelexerzitie, //mhm// wo=bi ich han mol (.) mir gschwore ich mach nume=no bi=nere Frau Exerzitie, //mhm// (1) denn (.) ich los mi nümä apredigä vo so=meme Mannsbild, //mhm// und @vo somä hochmüetige@ @(2)@ //mhm @(1)@// und dä hed mi sehr ermuetiged (.) und het gseit grad in=dä (.) in=dä Fraueklöster (.) sig sig dä Zorn sehr gross. //ja// (2) und das das bestätigt das was sie jetzt gseit hend, //mhm// also mh (.) ich ha (.) dr Abt vo W dr (.) dr J het jo (1) mol äh (.) Kirche im Clinch (.) do het er eimol s’Thema Patriarchat, gmacht, in einem Johr, (.) //mhm// ich weiss nüm wenn’s gsi isch (.) und do (.) han ich dr Uftrog kriegt e (.) Vortrag z’mache, (.) //mhm// und denn han ich notürlig dä Vortrag agfange mit ja die Kirche ist ein Patriarchat, //mhm// das isch ganz klar (.) //mhm// und ha diä Sache ufzellt, au diä ganzi Fraueverachtig, wo viel Kleriker an (.) an Tag legä. (.) bi dä jüngere git sich das jetzt so langsam. //mhm// aber (.) diä eltärä Kleriker sind im Grund Fraueverächter gsi, (1079-1100)
Die Interviewfrage, wie Sr. Inge mit der Ambivalenz umgehe, in einer Frauengemeinschaft zu leben, die Teil der patriarchalen katholischen Kirche ist, beantwortet sie mit „ich ha ich ha zwei (.) Projekt (.) liege (.) für für äh für Büecher“. Das erste Buch führt sie mit der Argumentation ein, dass sie zu alt sei, „zum so Sache mache“. Es handelt sich dabei um ihr Buchprojekt „Frauen Kirche Streik“, in dem sie Frauen dazu aufrufen möchte, die Kirche zu bestreiken. Damit zeigt sich bei Sr. Inge – zumindest innerkirchlich – eine Orientierung am feministisch orientierten Protestverhalten bzw. an kollektivem Widerstand, auch wenn sie sich nicht (mehr) als Teil des aktiven Widerstands versteht. Ermutigt zu diesem Projekt wird sie in einer Einzelexerzitie. Mithilfe einer Hintergrundkonstruktion, in der sie sich von hochmütigen Mannsbildern, die sie „apredigä“, also ermahnen, belehren und bekehren wollen, distanziert, macht Sr. Inge deutlich, dass sie interessanterweise von einer kirchlichen Person männlichen Geschlechts in ihrem Vorhaben bestärkt wird, einem Mann, der ihr Thema und ihr Anliegen in einem breiteren Kreis von Klosterfrauen verortet sieht („grad
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in=dä (.) in=dä Fraueklöster (.) sig sig dä Zorn sehr gross“). Die vom Exerzitienleiter festgestellte Unzufriedenheit der Klosterfrauen mit der katholischen Kirche versteht Sr. Inge gleichzeitig als Bestätigung der impliziten Aussage der Interviewfrage. Anschließend fährt sie nicht mit ihrem zweiten Buchprojekt weiter, sondern mit ihrem Vortrag zum Thema Kirche als Patriarchat, den sie anlässlich einer alternativ-progressiven Wallfahrt gehalten hat („Kirche im Clinch“). In diesem Vortrag ging es ihr u. a. um die Diskriminierung der Frauen vonseiten der Kleriker. Dabei unterscheidet sie jüngere von älteren Klerikern und etikettiert die älteren als „Fraueverächter“. In dieser Passage führt Sr. Inge genauer aus, zu welchen Themen sie kirchenpolitisch aktiv ist bzw. noch aktiv werden möchte. Dabei zeigt sich bei ihr eine Orientierung an öffentlichkeitswirksamen Aktionen. ebä (.) mä ka eigentlig nüt anders mache (.) als Streik. //mhm// (2) und wenn ich (.) wenn ich (.) Gottesdienst wo e Maa vorne stoht (.) bestreik, //mhm// denn (1) das han ich mir au scho überlegt, (1) und ha=s au ziitewiis scho gmacht, //mhm// irgendwiä (.) bin ich denn nid konsequent (.) wiä jetzt ghör ich zu derä Gmeinschaft und i derä Gmeinschaft isch das üblich, (.) dass do e Maa de=vorne stoht. //mhm das mein ich (.) ja (.) genau// ja //mhm (.) dass es schwierig isch// das isch //mhm// das isch völlig falsch und völlig dernäbe, (1) und, (1) aber das kann=mä do nid sage, //mhm// also ich ich weiss no ich han emol (.) //mhm// ich han (.) mol lü- lü- düütlicher über so Sache gredäd in dr Gmeinschaft //mhm// und denn het (mi) d’Schwöster (.) grad d’Schwöster K, wo sie offebar kenned, //mhm// wo Generaloberin gsi isch (.) //mhm// und jetzt Pro- also und vorhär Provinzoberin //mhm// diä het gseit sie: (.) i- ich söll ufhöre, (.) sie wot kei Polarisierig, //mhm// also ich bin mit ihrä im Noviziat gsi, //mhm// ich bi ihri Kollegin gsi in S-Stadt, //mhm// also (.) mir kennä uns guet, //mhm// also (.) so guet mä sich so als Kollege ka kennä. //mhm// und (.) sie wot eifach kei Polarisierig, //mhm// guet ja //mhm// (3) was ich viellicht schriib ich das Buech Frauen Kirche Streik doch, //mhm// wo alles das drinstoht, won=ich do (.) zäme-gsuecht ha, //mhm// in au in dr Frauekommission, //mhm// und das das anderi Buech (.) heisst äh (.) M. ((Ordensgründerin)) eine Frau (2) gegen den Klerus //mhm// (4) //mhm// und denn sie het sich überworfe (1) mit=em L ((Ordensgründer)) //genau// sie het sich überworfe, (1) mit=em Pfarrer vo V-Dorf, //genau// und mit=em Abt D, //genau// het sie sich überworfe, //mhm// und äm (.) numä will sie e starki Persönlichkeit gsi isch, //mhm mhm// (2) //mhm// (1108-1134)
Zu Beginn dieser Passage bestätigt Sr. Inge ihre Protesthaltung bzw. ihre Orientierung an Widerstand („ebä (.) mä ka eigentlig nüt anders mache (.) als Streik“). Die in dieser Aussage inhärente Erkenntnis, dass die Kirche nur durch die Ver-
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weigerung der Frauen zu einem Umdenken zu bewegen ist, steckt gleichzeitig eine gewisse Enttäuschung. Die anschließende Begründung, weshalb ein Gottesdienst, geleitet von einem Priester, bestreikt werden soll, bricht sie ab, indem sie sich zu diesem Vorhaben bekennt bzw. angibt, dass sie dies bereits in Tat umgesetzt hat, aber nicht konsequent genug. Anschließend kritisiert Sr. Inge erneut die Abhängigkeit der Klosterfrauen vom männlichen Klerus. Mithilfe einer Belegerzählung macht sie aber deutlich, dass die patriarchalen Macht- und Autoritätsverhältnisse in der katholischen Kirche und die damit verbundenen strukturellen Benachteiligungen der Klosterfrauen in ihrer Gemeinschaft nicht zur Sprache gebracht werden dürfen. Die damalige Generaloberin, mit der sie das Noviziat absolviert hat und die sie daher gut kennt, will „kei Polarisierig“ innerhalb der Gemeinschaft. Dass Sr. Inge in diesem Zusammenhang den Begriff „Polarisierung“ gebraucht, ist äußerst interessant. Mit diesem Wortspiel unterstellt sie der Generaloberin, dass diese um der (oberflächlichen) Eintracht in der Gemeinschaft willen die innerkirchliche Geschlechterpolarisierung und damit die Unterdrückung der Frau, nicht thematisieren will: keine Polarisierung durch die Thematisierung von Polarisierung. Da Sr. Inge nicht mehr weiter darauf eingeht, scheint sie sich zu fügen. Abermals entfaltet das Gehorsamsgelübde seine Wirkung. Dass sie daraufhin nochmals auf ihre geschlechterkritischen Buchprojekte zu sprechen kommt, sie nennt das bereits oben erwähnt Buch „Frauen Kirche Streik“ und ein weiteres Buch über die Konflikte der Ordensgründerin mit dem Klerus („M. eine Frau (2) gegen den Klerus“), weist aber auf ihre Widerständigkeit hin. Was sie nicht sagen darf, will sie schreiben. aber also diä Unzfriedeheit (.) vo dr (.) Frau in dr Kirche (1) ich ha sie jetzt eifach für mi (.) uf d’Siite glegt. //mhm// ich ha nid im Sinn (.) mi ständig (.) z’ärgere und z’hintersinne //ja das ja// also (.) wenn ich viellicht vierzig Johr alt wär (.) denn wär das öpis anders, //mhm// aber i=mim Alter (.) was bringt das, ich kas nid ändere, (1) also m- (.) mach ich diä (.) das so am Rand. //mhm// einigermasse mit. //mhm// aber (.) äh ich //mhm// ich find’s falsch, //mhm// (.) ich find’s falsch, also ich ich äh (.) ich find au uns- unseri (.) diä Inder wo mir jetzt immer hend //mhm// also am am Afang wo diä ko sind hed’s no gheisse ja dä armi dä ka jo nid guet predigä (.) tue du emol predigä //mhm// guet denn ha ich predigäd, ich han meistens Erfolg mit minä Predigtä do //mhm// am am Sunntig, //mhm// aber äh (.) jetzt diä holen eifach äm e Predigt us=em Internet use und läse das vor mit meh oder weniger schlächtem Dütsch, und @das macht@ @(3)@ @das isch en Maa@ @(3)@ jä so isch=es //ja// so isch=es //mhm// und no schlimmer sind d’Afrikaner, //mhm// diä redänd no schlechter Dütsch (.) als d’Inder. //mhm// diä verstoht=mä fascht nid //mhm// (3) aber s’sind Priester,
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ich weiss=es ich weiss es nid also, //mhm// ich has uf=en=Art han ich (.) äh ich han nid mi Meinig gänderet, (.) aber äh //mhm// als äh in in Sache aktiv (.) han ich (.) han ich (.) resigniert. also jetzt grad bin ich dra (.) e Büechli z’schriibe über alli unsri Provinze. (.) also d’Gsamtgschicht vo dä Kongregation, //mhm// wo (.) ka übersetzt werde in alli Sproche, //mhm// also so dass äh //mhm// d’Lüüt in Afrika wüsse wiä mä in Indiä läbt, //mhm// und und dass de- dass=es do //mhm// e gmeinsams //mhm// Bewusstsii git //mhm// also isch=e (.) ich denk dass Gschicht immer es Stück vo dr Identität isch. //mhm// so //schön// an däm bin ich jetzt //ja// und das git mir viel Arbet, //ja// und wenn ich denn no Ziit ha (.) denn kunt äh (.) M. eine Frau gegen den Klerus, //mhm// und denn chunt no Frauen Kirche Streik //genau// und das wird wohrschindlig denn mit ziemlig viel (.) Ironie durchsetzt. //ähä// aber das versch- Ironie verstönd diä brave Lüüt nid. (1222-1251)
Die letzte Passage ihrer biographischen Erzählung beginnt Sr. Inge mit ihrer altersbedingten Resignation hinsichtlich ihres Kampfes um Gleichberechtigung der Geschlechter in der katholischen Kirche. Da sie merkt, dass ihre Bemühungen nicht fruchten, ordnet sie sich den Begebenheiten unter und spielt „am Rand. //mhm// einigermasse mit“, obwohl sie diese Haltung bzw. ihre eigene Handlung als „falsch“ bewertet. Dass ihre Unterordnung unter die patriarchalen Autoritätsund Machtstrukturen der katholischen Kirche nur eine oberflächliche ist, zeigen die anschließenden Erläuterungen über die ausländischen Priester, die der deutschen Sprache nicht ganz mächtig seien. Problematisch ist für sie nicht die Tatsache, dass es sich um Priester eines anderen Landes handelt, sondern dass sie in der Kirche nicht predigen darf, obwohl sie die Eignung (und die Sprache) dazu hätte. Sr. Inge wird einmal mehr aufgrund des sozialen Platzanweisers „weibliches Geschlecht“ benachteiligt. Anschließend bestätigt Sr. Inge, dass sie ihre Meinung im Hinblick auf die geschlechtsspezifische Benachteiligung nicht geändert, den Kampf aber aufgegeben hat. Ihre Resignation äußert sich u. a. auch darin, dass sie nicht an ihren oben genannten provokativen Projekten, sondern an einem (unkritischen) Buch über die Geschichte ihrer Gemeinschaft schreibt, das zu einer gemeinsamen Identität der gesamten Kongregation in allen Provinzen beitragen soll. Geschichte versteht Sr. Inge auch als Identitätsbildung, Geschichte kann aber unterschiedlich geschrieben werden. So endet sie ihre biographische Erzählung nochmals mit ihren widerständigen Projekten, der kritischen Geschichtsschreibung („M. eine Frau gegen den Klerus“) und ihrem Aufruf zu Streik („Frauen Kirche Streik“). Wenn sie noch Zeit hat, will sie diese Bücher mit „ziemlig viel (.) Ironie“ schreiben, mit Ironie, welche die „brave“, also die artigen und einfältigen Menschen nicht verstünden. Damit bringt sie ganz zum Schluss nochmals ihre (kritische) Bildungsorientierung ein. Das Entscheidende an ihrem Schlusssatz ist jedoch, dass sie den Optimismus nicht verliert. Ein
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ironischer Text, in dem sich die Autorin verstellt, in der Erwartung dessen, dass die Leserin den eigentlichen Sinn versteht, hat immer ein komisches Moment. Ihre Lebensgeschichte hätte sie auch zur Zynikerin machen können. Zwischenfazit (590-613 und einzelne Passagen aus dem Nachfrageteil) Innerhalb des letzten Themas der biographischen Eingangserzählung und in den ausgewählten Passagen des Nachfrageteils reflektiert sich Sr. Inge als Frau im Kontext der katholischen Kirche. Mit einer beachtlichen Offenheit kritisiert sie die patriarchalen Autoritäts- und Machtverhältnisse und die damit einhergehende Unterdrückung der Frauen in der Kirche, wobei sie die gesellschaftliche Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit jedoch nicht außer Kraft setzt. Die Zweigeschlechtlichkeit und das heterosexuelle Muster sind Voraussetzungen ihrer Argumentationsweise, werden sozusagen als kollektive Praxis, als Normalität präsentiert, ohne dass diese in der Erzählung explizit thematisiert würden. Sr. Inge versteht ihre eigene Bildungs- und Berufsbiographie als weibliche und damit als strukturell benachteiligte. Auch als Kongregationsschwester, zu deren zentralem Bestandteil der religiösen Lebensführung die Arbeit unabdingbar gehört, ist sie aufgrund ihres Geschlechts in Bildung und Beruf benachteiligt, auch wenn ihr in der damaligen historischen Situation vielfältigere Möglichkeiten der Berufsausübung und darüber hinaus gesellschaftliche Anerkennung zuteilwurde. Nicht nur außerhalb, ebenso innerhalb des Klosters ist sie mit Begrenzungen ihrer biographischen Möglichkeiten konfrontiert (Theologiestudium, Religionsunterricht, Predigen). Ebenso wenig kann sie der Abhängigkeit vom männlichen Geschlecht entrinnen. Mit großen Machtbefugnissen ausgestattet, dringt der männliche Klerus in die weibliche Gemeinschaft ein, wird partiell zum rituellen Akteur (heilige Messe) und zum geistlichen Führer (Sakramente, Exerzitien). Insbesondere am Beispiel der Beichte offenbart sich das Machtverhältnis zwischen Priestern und Ordensschwestern deutlich. Das Bußsakrament, bei dem die Taufgnade, als Voraussetzung für das ewige Leben, wiederhergestellt wird, hat gleichzeitig eine disziplinierende Funktion. Priester erhalten über die Beichte der Schwestern Einblicke in einzelne Frauenleben und in die jeweilige Gemeinschaft. Sie haben die Möglichkeit, die Beichtenden bzw. die Gemeinschaft zu überwachen und korrigierend einzugreifen. Die katholisch-hierarchische (Geschlechter-)Ordnung kann so aufrechterhalten werden. Die Problematik wird von Sr. Inge deshalb so eindringlich dargestellt, da sie sich tatsächlich nicht lösen lässt. Sr. Inge kann sich weder den patriarchalen Verhältnissen innerhalb der katholischen Kirche entziehen, noch ist ein Struk-
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turwandel im Hinblick auf die Geschlechterordnung durchsetzbar, obgleich sie sich in der kirchlichen Frauenkommission der Schweizerischen Bischofskonferenz engagiert. Das Gehorsamsgelübde verbietet ihr darüber hinaus das laute Nachdenken über die geschlechtsspezifischen Benachteiligungen. Letztlich lebt Sr. Inge eine unüberwindbare Widersprüchlichkeit: Sie kann nicht gleichzeitig eine gute Ordensschwester und eine emanzipierte Frau sein. Diese Widersprüchlichkeit macht sie einmal mehr zur Grenzgängerin. Die Ursache ihres Konflikts lokalisiert Sr. Inge nicht bei sich selbst. Nicht ihr Anspruch ist das Problem, sondern die gesellschaftlichen und die kirchlichen Strukturen. Die im Kirchensystem eingebundene klösterliche Hierarchie und das damit verknüpfte Gehorsamsgelübde zwingen sie zur Unterordnung. Obwohl eine Entmutigung feststellbar ist und Sr. Inge sich äußerlich anpasst, zeigen sich in ihren widerständigen Buchprojekten, in denen es ihr letztlich um die Selbstbefreiung der Frau aus der von der Kirche produzierten Unmündigkeit geht, nach wie vor Anteile von Protest. Im Schreiben kann sie ihren Konflikt artikulieren und bewahren. Indem sie den Konflikt am Leben erhält, versucht sie auch ein Stück ihrer Autonomie aufrechtzuerhalten. Im Moment des Versuchten bleibt Sr. Inge sie selbst, bewahrt sich ihre Identität. 6.1.3 Zusammenfassende Darstellung biographischer Muster Sr. Inges lebensgeschichtliche Erzählung ist eine reflektierte biographische Rekonstruktion. Ihre Biographie wirkt einerseits wie eine Spurensuche nach Ursprüngen und Zusammenhängen ihres Fremd- und Andersseins, andererseits reflektiert sie sich als Frau in ihrer Herkunftsfamilie, der Gesellschaft und im Kloster bzw. in der katholischen Kirche. Dabei sind Bildung und Beruflichkeit zentrale Strukturgeber, um die herum die lebensgeschichtliche Erzählung organisiert ist. Da Sr. Inges Biographie nonkonform ist zu Familie, zu Gesellschaft und zum Kloster, erschwert dies ihre sozialen Beziehungen. Zu Beginn ihrer Lebensgeschichte sind ihre konflikthaften und fehlenden sozialen Beziehungen noch zentraler Bestandteil ihrer Erzählung. Daraus wird deutlich, dass sie ihre Identität primär aus der Abgrenzung heraus konstruiert. Je weiter ihre biographische Erzählung jedoch fortschreitet, umso weniger thematisiert sie sich in Beziehungen, artikuliert sich aber weiterhin in der Distinktion. Sr. Inge schreibt sich in einer Kontinuität von Kindheit bis zur Gegenwart unabänderliche Eigenschaften zu, die sie einerseits isolieren, andererseits stellen diese Eigenschaften ihre persönlichen Ressourcen dar. Der familiäre Bezugsrahmen zeichnet sich durch eine gewisse Beständigkeit und Kontinuität aus. Sr. Inge wächst in einer intakten Familie mit Vater, Mutter und drei Geschwistern auf. Das Zusammenleben ihrer Eltern kann als typisches
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„Hausfrauenmodell der männlichen Versorgerehe“ (Pfau-Effinger 2000, S. 112) beschrieben werden. Der Vater ist nicht nur der Ernährer, sondern auch die dominante Figur der Familie und in Bezug auf Bildung und Beruflichkeit ein signifikanter Anderer für Sr. Inge. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich allerdings problematische Momente im Familienleben und in der Familiendynamik. Aus Sr. Inges Erzählungen wird deutlich, dass die Familie ein prekäres Zugehörigkeitsnormativ die soziale Schicht betreffend aufweist. Sr. Inge stammt wohl aus einem bildungsorientierten Milieu, die Zugehörigkeit zur Oberschicht offenbart sich allerdings als (Familien-)Mythos. Ein weiteres Problem der Kernfamilie zeigt sich in Bezug auf die kulturelle und nationale Zugehörigkeit. Der katholischen deutschen Familie gelingt es nicht, sich in die protestantische Gesellschaft der schweizerischen O-Stadt zu integrieren. In ihrer biographischen Selbstkonstruktion als Fremde/Andere zeigt sich, dass Sr. Inge die soziale Einbindung in Schule und Peergroup misslingt. Dadurch wird sie zur Grenzgängerin der Nationen und der Religionen. In Sr. Inges Darstellungen ihrer Kernfamilie dokumentieren sich, trotz des stabilen familiären Rahmens, problematische zwischenmenschliche Beziehungen und fehlende emotionale Zuwendungen. Sie wird vor allem von der Mutter im Stich gelassen. Sr. Inges exemplarische Erläuterung der familiären Bildungsorientierung offenbart sich als radikale emotionale Abspaltung der Mutter. Sowohl die verwehrte emotionale Zuwendung und die fehlende Geborgenheit als auch die (Mit-)Verantwortung hinsichtlich der mangelnden sozialen Einbindung der Kinder verunmöglichen Sr. Inge eine Identifikation mit ihrer Mutter. Für die Bewältigung von Konstruktionsleistungen im Hinblick auf ihre Weiblichkeit kann sie also weder auf ihre Mutter noch, wegen ihrer fehlenden sozialen Beziehungen, auf ein stabiles Netzwerk von Freundinnen zurückgreifen. Ohne eine engere soziale Beziehung einzugehen, sucht sie sich im weiteren Umfeld (und in der Literatur) „starke“ Frauen, die ihr als signifikante Andere dienen. Schließlich versucht Sr. Inge über Bildung biographische Kontinuität und Rückbindung an die Familie herzustellen. Die damit verbundene Intention nach Anerkennung ihrer Person gelingt ihr jedoch nicht. Sowohl in ihrer Kernfamilie als auch im Mädchengymnasium erlebt sie im Zusammenhang mit ihrer Bildungsorientierung und ihren Bildungsabsichten geschlechtsspezifische Diskriminierungen. Trotz dieser Bildungsbenachteiligungen und gegen familiäre Widerstände konstruiert Sr. Inge Bildung und Beruflichkeit als biographisches (Aufstiegs-)Projekt, das sie konsequent verfolgt. Mit diesem Lebensentwurf, in dem tradierte Formen der Weiblichkeit keinen Platz haben, verkomplizieren sich aber ihre Konstruktionsprozesse im Hinblick auf Geschlecht. Sie wird abermals
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zur Anderen, zur Grenzgängerin des Geschlechts. Dass sie mit ihren Orientierungen gegen gängige Konventionen im damaligen Geschlechterarrangement verstößt, ist ihr bewusst und wird reflektiert. Ungeachtet dessen bleiben Bildung und Beruflichkeit in Sr. Inges Lebensgeschichte dominant. Allerdings haben die gesellschaftlichen Benachteiligungen aufgrund des sozialen Platzanweisers „weibliches Geschlecht“ Auswirkungen auf ihren weiteren Lebensentwurf. In ihrer Suche nach beruflicher Anerkennung, nach Anerkennung ihrer nonkonformen Weiblichkeit, nach sozialer Einbindung und gesellschaftlichem Ansehen beschließt Sr. Inge, ins Kloster einzutreten. Die religiöse Frauengemeinschaft als alternative Lebensform bietet ihr die größtmögliche Kohärenz ihrer Person und darüber hinaus eine Existenzsicherung. Schon bald wird jedoch deutlich, dass ihr das Kloster zwar einen sozial und religiös klaren Bezugsrahmen bietet, ihr hinsichtlich ihres biographischen Entwurfs aber deutliche Grenzen setzt. Die hierarchischen Strukturen der Gemeinschaft und das Gehorsamsgelübde haben einen empfindlichen Verlust an Handlungsautonomie zur Folge. Das Gelingen und Misslingen ihres verberuflichten Lebensentwurfs ist neu abhängig von der Autorität des Klosters. Zunächst kann sie ihre Beruflichkeit noch in einer Balance zwischen Autonomie und Abhängigkeit halten, zunehmend ist diese aber nicht mehr ihr eigenes biographisches Projekt, sondern dasjenige ihrer Kongregation. Der Eintritt ins Kloster ist aber auch im Hinblick auf ihre Orientierung an Gleichbehandlung der Geschlechter prekär. Innerhalb der religiösen Frauengemeinschaft bzw. innerhalb der katholischen Kirche bleibt Geschlecht eine relevante Strukturkategorie, die Hierarchisierungen und Benachteiligungen von Frauen hervorbringt. Sr. Inge reflektiert die patriarchalen Strukturen im Zusammenhang mit der Begrenzung ihrer (bildungs- und berufs-)biographischen Möglichkeiten und in Bezug auf das Abhängigkeits- und Machtverhältnis zwischen Klerikern und Ordensschwestern. Zunächst reagiert sie noch mit Widerstand und Protest. Der Macht der Strukturen bewusst und eingeholt vom Gehorsamsgelübde, passt sie sich – zumindest oberflächlich betrachtet – den Gegebenheiten an. Der Widerspruch, Klosterfrau und emanzipierte Frau zu sein, macht sie auch innerhalb des Klosters zur Grenzgängerin. In einem Brief, den sie nach dem biographischen Interview der Forscherin schreibt, nennt sie dies die „giftige Aporie“, mit der sie leben muss. Indem Sr. Inge sich nur äußerlich anpasst, den Konflikt aber am Leben erhält, bewahrt sie sich ein Stück ihrer Autonomie und ihrer Identität.
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6.2 S CHWESTER H EIDI : G ESCHLECHT ALS RISKANTE E RFAHRUNG Der Kontakt mit Sr. Heidi kommt über eine Vermittlung der Generaloberin zustande, die Sr. Heidi vorgängig über Fragestellung und Erkenntnisinteresse der Untersuchung sowie über das methodische Vorgehen informiert hat. Die Kontaktaufnahme und zugleich Terminvereinbarung mit Sr. Heidi erfolgt per E-Mail. Das Interview findet an einem nebligen und regnerischen Herbsttag im Mutterhaus des Klosters statt. Die Klosterpforte ist verschlossen, wird aber nach einmaligem Klingeln von der Pförtnerin elektronisch geöffnet. Nach der freundlichen Begrüßung im eher düster wirkenden Eingangsbereich und kurzem Warten erscheint Sr. Heidi. Sie ist eine mittelgroße, Warmherzigkeit ausstrahlende Frau, die eine Ordenstracht trägt. Die Begrüßung und das Gespräch vor dem Interview sind von einer erwartungsvollen Spannung geprägt. Im Gegensatz zur Pforte und den Gängen ist das Besprechungszimmer hell und freundlich. Nach dem Einrichten des Aufnahmegeräts kann das Interview beginnen. Dieses dauert ca. dreieinhalb Stunden. Die weitgehend chronologisch geordnete biographische Eingangserzählung dauert knapp zwei Stunden. Nach einer Kaffeepause geht Sr. Heidi genauso engagiert auf die Nachfragen ein. Im Anschluss des Interviews folgt eine kurze Führung durch das Kloster, gezeigt wird insbesondere der Klosterladen. 6.2.1 Biographische Kurzbeschreibung Sr. Heidi wird Mitte der 1950er-Jahre als erstes von fünf Geschwistern (drei Mädchen, zwei Jungen) in einem kleinen katholischen Bergdorf in den Schweizer Alpen geboren. Die Mutter ist Hausfrau, der Vater arbeitet als Hotelserviceangestellter in verschiedenen Hotels außerhalb von X-Dorf und ist meist nur in der Zwischensaison zu Hause. Dies hat zur Folge, dass die Mutter immer wieder für längere Zeit allein für den Haushalt und für die Erziehung der Kinder zuständig ist. Trotz mangelnder finanzieller Möglichkeiten der Familie und vorsichtig geäußerter Kritik22 bewertet Sr. Heidi ihr Aufwachsen durchwegs positiv. In ihrer frühen Kindheit leben auch die Großeltern (es ist unklar, ob mütterlicheroder väterlicherseits) im Wohnhaus der Familie. Erinnerungen hat sie vor allem an den Großvater, der sehr religiös ist und seine Frömmigkeit offen praktiziert.
22 Ihre Kritik bezieht sich auf die (Mit-)Verantwortung, die sie als Älteste trägt, auf den frühen Arbeitseinsatz als Magd in schwierigen Familienverhältnissen und auf die mangelnde sexuelle Aufklärung durch die Eltern.
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Sr. Heidi verbringt ihre frühe Kindheit hauptsächlich im Kreis ihrer Herkunftsfamilie, eingebettet ins ländlich-katholische Milieu von X-Dorf. Die Schulzeit beginnt für Sr. Heidi mit dem zweijährigen Besuch des von Klosterfrauen geführten Kindergartens in X-Dorf. Primar- und Sekundarschule besucht sie ebenfalls in X-Dorf. Von ihrem elften Lebensjahr an arbeitet Sr. Heidi mehrere Jahre während ihrer viermonatigen Sommerferien zunächst als Magd, anschließend im Hotelgewerbe außerhalb ihres Heimatdorfes. Die ersten drei Sommer verbringt sie bei zwei verschiedenen Gastfamilien, unter deren problematischen Familienverhältnissen sie leidet. Besonders schwerwiegend ist, dass sie vom Großvater der ersten Gastfamilie sexuell belästigt wird. Anschließend ist Sr. Heidi zwei Sommer lang im Hotel P in Z-Dorf beschäftigt, das von Schwestern ihres zukünftigen Ordens geführt wird. Die Aufgaben im Hotelgewerbe, der Kontakt mit den Gästen und die Gemeinschaft mit den anderen Kindern gefallen ihr außerordentlich, von den Klosterfrauen ist sie allerdings weniger begeistert. Nach der obligatorischen Schulzeit beginnt Sr. Heidi eine kaufmännische Berufsausbildung in einer Versicherungsgesellschaft in U-Stadt. Angesichts des langen Anfahrtsweges mietet sie sich in U-Stadt ein Zimmer in einem von Schwestern geführten Studentenheim und fährt nur am Wochenende nach Hause. Da ihr das unmittelbar an einer Straßenkreuzung gelegene Zimmer zu laut ist, mietet sie zusammen mit einer ihrer Schwestern eine ruhigere Unterkunft. Obwohl sie die Kombination von Schule und Lehrbetrieb als anstrengend empfindet, beschreibt sie die Lehrzeit als unproblematisch. Während ihrer Zeit in U-Stadt beschäftigt sie sich mit unterschiedlichen Themen und zeigt sich experimentierfreudig (Veranstaltungen religiöser und esoterischer Art, Saunabesuch). Nach Abschluss ihrer Berufsausbildung arbeitet Sr. Heidi zusammen mit einer Freundin drei Monate lang als Volontärin in einem Kibbuz in Israel. Die Zeit im Kibbuz ist durch reichhaltige Erfahrungen geprägt, die sich auf den geographischen und kulturellen Unterschied zwischen der Schweiz und Israel beziehen, aber auch auf die für sie befremdenden (sexuellen) Moralvorstellungen der anderen weiblichen Volontäre. Sr. Heidi unternimmt eine weitere Reise, nach Moskau, die sich zeitlich aber nicht exakt einordnen lässt. Im Zentrum dieser Erzählung steht primär kulturelle Befremdung. Zurück aus dem Ausland, erfährt Sr. Heidi von einer freien Arbeitsstelle im bereits erwähnten Hotel P und beginnt dort als Sekretärin zu arbeiten. Bald darauf wird die verantwortliche Oberin des Hotels ins Mutterhaus berufen. Da die neue Oberin noch wenig Erfahrung in Bezug auf den Hotelbetrieb hat, muss Sr. Heidi einen großen Teil der verantwortungsvollen Arbeit übernehmen. Der Kon-
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takt mit den Gästen gefällt ihr wiederum sehr gut, die finanziellen Probleme des Betriebs und die Forderung nach wirtschaftlicher Rendite empfindet sie als anspruchsvoll. Zwischen ihrem 20. und 22. Lebensjahr verspürt Sr. Heidi eine für sie nicht fassbare innere Unruhe. Diese führt dazu, dass sie eine berufliche Veränderung erwägt und an einem Informationstag der Frauenschule23 in R-Stadt teilnimmt. Auf dem Hinweg übernachtet sie im Mutterhaus ihrer heutigen Gemeinschaft, worauf sich ihre innere Unruhe vergrößert. Entgegen einigen Unsicherheiten fällt sie den Beschluss, sich für die Aufnahme ins Kloster A zu bewerben. Nach dem Erhalt des positiven Bescheids tritt sie mit 22 Jahren als Kandidatin ins Kloster ein. Im Gegensatz zu ihrem Vater hat die Mutter anfangs Schwierigkeiten mit ihrem Entscheid, Klosterfrau zu werden. Mit dem Beginn der Kandidatur fängt für Sr. Heidi eine schwierige Zeit an. Sie wird ihren eigenen Angaben zufolge depressiv und verliert viel Gewicht. Erklärungen für ihre selbst diagnostizierte Depression sucht sie einerseits in der familiären Veranlagung, andererseits in ihrer Entmündigung während der Kandidatur und des Noviziats. Als problematisch empfindet sie auch den in dieser Zeit stattfindenden Exodus aus den Klöstern. Darüber hinaus grenzt sie sich deutlich von den anderen Novizinnen ab. Bereits während des Noviziats werden seitens der Ordensleitung Überlegungen angestellt, welche Aufgabe Sr. Heidi in Zukunft übernehmen könnte. In diesem Zusammenhang erhält sie die Möglichkeit, zwei- bis dreimal pro Woche in einer Druckerei zu arbeiten. Diese Tätigkeit hilft ihr etwas über die schwierige Zeit hinweg. Nach der Profess wird Sr. Heidi für sechs Wochen nach London in eine internationale Schule geschickt, um Englisch zu lernen. Eine ihrer (leiblichen) Schwestern begleitet sie dabei. Die beiden wohnen in einer Schwesterngemeinschaft, haben vormittags Unterricht und nachmittags die Möglichkeit, Sehenswürdigkeiten zu besuchen. Anschließend kommt Sr. Heidi für neun Monate in die Westschweiz. Sie soll in einem von Ordensfrauen geführten Institut Französisch lernen. Zur selben Zeit befindet sich Sr. O aus ihrer Gemeinschaft am Institut. Die in dieser Zeit stattfindenden Gespräche mit Sr. O helfen Sr. Heidi aus ihrer Krise heraus. Zurück aus der französischen Schweiz, kommt Sr. Heidi erneut nach Z-Dorf ins Hotel P. Sie übernimmt die Aufgabe, die Rentabilität des am Rande des Ruins stehenden Hotels zu erhöhen. In den folgenden zwölf Jahren arbeitet Sr. Heidi im Hotel P zusammen mit drei verschiedenen Oberinnen und eignet sich ihr Grundwissen für ihre heutige Aufgabe als Ökonomin ihrer Gemeinschaft an. Trotz ihrer langjährigen Erfahrung im Hotel P erfordert ihre betriebswirtschaftli-
23 Heute: Höhere Fachschule für Soziale Arbeit.
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che Tätigkeit im Kloster eine intensive Einarbeitungszeit. Durch Verwaltungskooperationen mit anderen Gemeinschaften und durch Einstellungen diverser Betriebe (Schule, Landwirtschaft usw.) hat sich im Laufe der Jahre ihr Aufgabengebiet verkleinert. Zu den Herausforderungen in ihrem Leben zählt Sr. Heidi einerseits ihre beruflichen Aufgaben und andererseits ihre Auseinandersetzungen mit Glaubensfragen und -zweifeln. Bezüglich ihres Glaubens bezeichnet sie sich als Suchende, in der Hoffnung, dass Gott und ein Leben nach dem Tod existieren. Hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses in der katholischen Kirche äußert sich Sr. Heidi kritisch. Sie wünscht sich eine entsprechende Besserung. 6.2.2 Reflektierende Interpretation Thema 1: Erzählaufforderung (1-19) hoffe dass es lauft und es lauft jawohl. ((atmet ein)) a::lso (.) Sr. Heidi ich möcht sie jetzt bitte ihri Lebesgschicht mier zverzelle und zwar vo Afang ah bis jetzt. ehm so wie eigentlich (.) ehm ja wie alles agfange het ehm wie sich eis nach em andere ergäh het bis zum jetzige Ziitpunkt; (1) und wien ich ihne scho geseit han chönt sie sich so viel Ziit näh wie sie sich wänd (.) //mhm// für die Gschicht und ich möcht eifach nomal säge ich wirde nume zuelose (.) wird sie nid unterbräche und wird aber es paar Notize mache und (.) äh im Nachfrageteil dänn eifach no gwüssnigi Sache nachefrage. //guet// guet. (1-12)
Die Interviewerin vergewissert sich, dass das Aufnahmegerät funktioniert, und fordert Sr. Heidi anschließend auf, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Dabei werden der Interviewten abstrakte Vorgaben zum chronologischen Beginn und Ende der Erzählung gemacht. Im Hintergrund der Formulierung „wie sich eis nach em andere ergäh het“ steckt letztlich die Erwartung, dass die lebensgeschichtliche Erzählung einen konsekutionslogischen Aufbau haben sollte. Die Erzählaufforderung wird durch Anmerkungen zur Interviewführung komplettiert und dann von Sr. Heidi und der Interviewerin validiert („guet“). bruchet sie kein Test obs es würkli (guet) funktioniert //ich han diheime testet //ach so //ich hoffe es gaht und es lauft.// guet //@(2)@// (13-19)
Hierbei handelt es sich um eine Metakommunikation über das Funktionieren des Aufnahmegeräts. In Sr. Heidis Nachfrage dokumentiert sich eine (Mit-)Verantwortlichkeit für das Gelingen des Interviews. Die Interviewerin bestätigt die Funktionstüchtigkeit der Apparatur.
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Thema 2: Herkunftsmilieu (20-76) ja also am bestä fangt mer wahrschiindli bi minere Geburt a //mhm// (20)
In der Metakommunikation (in deren Rahmen darüber kommuniziert wird, wie man kommuniziert – nämlich wo man seine Lebensgeschichte zu erzählen beginnt) wird die noch abstrakt gebliebene Erzählaufforderung der Interviewerin nun durch Sr. Heidi explizit konkretisiert (explizite Metakommunikation, hätte auch implizit verlaufen können). Indem Sr. Heidi die Problematik, dass sie den Beginn ihrer biographischen Erzählung noch konkretisieren muss, expliziert, dokumentiert sich hier ein selbstbewusster und eigenständiger Umgang mit dem Erzählimpuls. (2) ich bin die Ältischti vo füüf Chind. (.) bin 1954 z’ X-Dorf uf d’Wält cho und mini Eltere sind äh MB und dä FH; (2-22)
Sr. Heidi beginnt ihre biographische Erzählung mit einer Selbsteinführung, in der sie ihre Stellung als Älteste in der Geschwisterreihe expliziert und gleichzeitig Auskunft gibt über die Anzahl ihrer Geschwister („ich bin die Ältis chti vo füüf Chind“). Sie erwähnt ihr Geburtsjahr und bezeichnet den sozialen Ort, in dem sie geboren wurde. Der Name des Ortes verweist auf ein kleines Dorf am Ende eines Seitentals in den Alpen. Weiter nennt Sr. Heidi die Vor- und Nachnamen ihrer Eltern, die Mutter stellt sie mit ihrem Mädchennamen vor. Die Namen der Geschwister gibt sie nicht an. Unklar bleibt, ob „Heidi“ ihr Taufname ist. (2) dass sind (.) eifachi Lüüt gsi; dä Vater isch Hotelserviceagstellte gsi; (.) er het eigentlich d’Saisonnä immer uswärts müsse schaffe; wil däheime (.) kei Arbet gsi isch für so viel Chind Berglüüt //mhm// er stammt us=ere Familie wo elf Chind gha het. //mhm// d’Muetter sälber isch Huusfrau gsi; (.) und es isch eso gsi dass di Fraue us X-Dorf mehrheitlich oder vili hend müesse d’Chind fast älleige erzieh will d’Männer immer uswärts gsi sind. (1) also bin ich eigentlich vome im=ene fraueprägte Huushalt ufgwachse säge=mer das (emal eso scho) eso (22-30)
In diesem Abschnitt wird ein Element der Intervieweröffnung erläutert, wobei es zu immer tieferen Hintergrundkonstruktionen kommt, insofern eine Erläuterung wieder erläutert werden muss. Semantisch wird hier deutlich, dass Sr. Heidi ihre Herkunftsfamilie durch das soziale Milieu geprägt sieht („eifachi Lüüt“). Sie gibt den Beruf des Vaters und die damit verbundene zeitweilige
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Abwesenheit bekannt. Die Trennung von der Familie wird nicht als individueller Wunsch, sondern als ortsübliche Gegebenheit als Folge des Arbeitskraftüberangebotes innerhalb der Herkunftsfamilie und innerhalb des Dorfes präsentiert, ebenso die Notwendigkeit, dass ihre Mutter als Hausfrau sowie auch die anderen Frauen im Dorf ihre Kinder „fast älleige erzieh“ müssen. Die Argumentation und Beschreibung setzt geteiltes Wissen über das „normale“ Funktionieren einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung (Erwerbsarbeit– Reproduktionsarbeit) voraus. Die Praxis der Abwesenheit der Männer widerspricht jedoch der „normalen“ Ordnung der Zweielternschaft und macht die Frauen zu alleinerziehenden Müttern. Die Orientierung an der „normalen“ Ordnung wird aber nicht außer Kraft gesetzt, da sie in der notwendigen Abwesenheit des Vaters gründet. Interessant ist an dieser Stelle die abschließende abstrahierende Beschreibung, mit der Sr. Heidi eine geschlechterbezogene Definition ihrer Kindheit vornimmt, in der sich letztlich auch eine Sensibilität für Geschlechterfragen dokumentiert („fraueprägte Huushalt“). Aber auch darin zeigt sich ihre Orientierung an der geschlechtsspezifischen Rollenteilung bzw. die Erfahrung der Trennung zwischen den Geschlechtern in ihrer frühen Lebensgeschichte. (.) äh (.) wen ich mich zrug erinnere hen ich (.) en (.) gueti Chind- und fröhlichi (.) glücklichi Chindheit gha. (2) mer het zwar als vor allem als Ältischti immer d’Mitverantwortig treit für die jüngere Gwschüsterti; die sind denn eis nach em andere cho mini Schwester isch drii Jahr jünger gsi; isch denn gebore und dänn en Brueder; (hm) es Jahr später und den no (.) die jüngere zwei Gschwüsterti die sind dänn acht und nüü Jahr jünger as ich; //mhm// (30-36)
Sr. Heidi fährt in ihrer Erzählung mit einer Bewertung ihrer Kindheit fort. Trotz der Abwesenheit ihres Vaters evaluiert sie diese als „gut“, „fröhlich“ und „glücklich“. Mit der Wahl ihrer Attribute verweist sie auf eine unbeschwerte Kindheit. Die Differenzierung der positiven Bewertung ihrer Kindheit, die mit einer Hintergrundkonstruktion eingeführt wird, ist unvollständig, insofern dem „zwar“ kein „aber“ folgt. Im schweizerdeutschen Sprachgebrauch wird diese Form jedoch öfters im Sinne von „obwohl“ verwendet. Damit relativiert Sr. Heidi ihre positive Evaluation. Wegen ihrer Geschwisterposition als Älteste und der Abwesenheit des Vaters trägt sie für die jüngeren Geschwister „Mitverantwortig“. In einer weiteren Hintergrundkonstruktion legt sie die Reihenfolge der Geschwistergeburten dar.
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(3) äh (.) wier händ in=eme chliine Huus gwonnt näbt där Chilche; das isch au so typisch, (.) also im Schatten der Pfarrkirche aufgewachsen (.) rächts und links isch das Huus wie die im Dorf inne eis vo dä ältischte Hüüser vo dä Substanz here vo dä Bausubstanz here rund um hets anderi Hüüser also=wir sind miti im Dorf uf- uf-gwachse im Zentrum eigentlich. //mhm// (36-41)
Mit der kurzen Beschreibung des Wohnhauses ihrer Kernfamilie verweist Sr. Heidi wiederum auf ihr einfaches Herkunftsmilieu. Die Situierung des Hauses „näbt där Chilche“ bzw. die abstrahierende Beschreibung ihres Aufwachsens „im Schatten der Pfarrkirche“, welche durch die Verwendung der hochdeutschen Sprache und des Attributs „typisch“ akzentuiert wird, deutet auf eine starke Verbindung ihrer Herkunftsfamilie mit der katholischen Kirche hin. In der Formulierung „im Schatten der Pfarrkirche“ dokumentiert sich einerseits die Vorstellung einer übermächtigen, alles andere in den Schatten stellenden Kirche, andererseits aber auch eine Schatten spendende, also (be-)schützende Kirche. Mit der weiteren Beschreibung des Hauses als eines der ältesten und als im Zentrum des Dorfes stehend, deutet Sr. Heidi eine starke Verankerung der Familie im Dorf an. (2) es (1) in X-Dorf (.) isch es (1) wie=s eso in de Bergä nisch @schö gsi was=i säge ( ) wier heit@ das gfalle also wier sind wier händ chöne spiele wier händ (.) ünsch het eigentlich obwohl dä Vater het nit viel Geld verdient hät (.) hät ünsch eigentlich nüt gmanglet; also wier händ nit gmerkt dass wier chöntet knapp düre cho (.) obwohl ich scho hie und da (.) äh gmerkt hän d’Muetter het dänn immer gwartet bis s’Trinkgeld vom Vater heichunt us us dä Hotel oder die händ Trinkgeld verdient also //mhm// eigentlich dä Hauptharst so verdient //mhm// also so en chline Grundlohn gha //mhm// dänn het er d’Wäsch müesse heischicke zum Wäsche und immer in=eme Strumpf dine ischt s’Müntz dine gsi Füflieber Zwehfränkler @Füfzger@ und so wiiter //mhm// und wänd das all Monat einmal cho isch isch dänn halt glich hie und da so gsi dass s’Geld langsam knapp cho isch; dänn //mhm// hät d’Muetter wier gseit sie wär wieder froh wänd dä Vater wieder emal würd d’Wäsch hei@schicke@ dass wieder eppis Münz in s’Huus chunt; aber das isch eigentlich s’Einzige gsi won ich dänkt heind mängmal isch es mängmal e bitzeli knapp aber //mhm// sust het mer das nit gmerkt. //mhm// (41-57)
Die Zeit in X-Dorf evaluiert Sr. Heidi positiv, indem sie die Berge bzw. das Aufwachsen in den Bergen generell als „schö“ bewertet. Sie präzisiert ihre allgemein gehaltene Aussage, indem sie die Bewertung auf ihr eigenes Empfinden bezieht, „wier het das gfalle“, und das Spielen hervorhebt. Anschließend konstruiert Sr. Heidi ein Geschwisterkollektiv und präsentiert über dieses abermals
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eine unbeschwerte Kindheit, in der es ihnen trotz des bescheidenen Einkommens des Vaters an nichts fehlt. Eine Kindheit, die nicht durch Konsumgüter, sondern durch soziale Kontakte unter Gleichaltrigen und durch unbeschwertes Spielen geprägt ist, gehört zu Sr. Heidis positivem Gegenhorizont. Eine solche Kindheit scheint für sie nur in der Abgeschiedenheit eines Bergdorfes möglich zu sein, in dem vermutlich die meisten Kinder in bescheidenen finanziellen Verhältnissen aufwachsen. In der weiterführenden ausführlichen Erzählung über die Art der Entlohnung des Vaters zeigen sich die finanziellen Probleme der Familie aber deutlich. Indem der Vater sein Haupteinkommen nicht aus dem fixen Grundlohn, sondern aus Zuzahlungen für seine Dienstleistungen im Hotelbetrieb generiert, ist die Höhe des monatlichen Einkommens unsicher. Die richtige Verwendung des jeweils unterschiedlich hohen Haushaltsgeldes ist dann Sache der Mutter. Die ökonomische Abhängigkeit der Mutter vom familienernährenden Vater wird hier offensichtlich. Über das Bild des Trinkgeldes, das mit der Schmutzwäsche nach Hause geschickt wird, zeigt sich nochmals in aller Deutlichkeit die geschlechtsspezifische Rollenteilung in Sr. Heidis Herkunftsfamilie. Da Sr. Heidi diejenige ist, welche die Nöte der Mutter „hie und da“ bemerkt, stellt sie sich als sensible Protagonistin dar. Dies passt denn auch zur oben erwähnten Rolle als (Mit-)Verantwortung tragende älteste Tochter. In einer weiteren Lesart kann dieser Erzählabschnitt auch als enge Mutter-Tochter-Beziehung gedeutet werden. Aufgrund der Abwesenheit des Vaters wird die älteste Tochter Gesprächspartnerin der Mutter. Mit der abschließenden Bilanzierung „sust het mer das nit gmerkt“ deklariert sie das Augenscheinlich-Werden der finanziellen Not als Ausnahmesituation. Die Kinder werden in der Regel nicht mit den Geldsorgen der Eltern belastet. (1) minä Hintergrund (.) äh religiösi Hintergrund (.) isch (1) halt (2) äh äh stark (.) wet=i säge wier händ in dä Verwandschaft en hufe Verwandti (.) wo (.) scho Ordenspersone gsi sind; also uf dä Muettersiite isch ei (.) vo wier us gseh Tante (
) bi dä (.) bi dä (.) B-
Schwestere gsi (.) //mhm// und bim Vater en Schwester au bi dä B-Schwestere. //mhm// (.) und so isch au ganz::: Ordensläbe isch für ünsch es Faktum gsi wos eifach git //mhm// das isch nid userordentlich gsi //mhm// und au i dem ganze X-Dorf händ mi- äh händ i minem Alter sind wier ganz e Schuppe wo in s’Chloster gange sind siebe acht //mhm// en en en en dene füfzger (
) da obe da und vorher hets au scho en hufe Priester gäh und Chlos-
terfraue also vo dether isch z::: religiöse Umfeld katholisch prägt gsi (.) Ordens::läbe oder s’Priester werdä isch ä Normalität. //mhm// also nid eso userordentlich (2) nur dass dass mer=s no weis warum me vilicht in s’Chloster gheit //mhm// (58-70)
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Sr. Heidi ist, wie sich hier dokumentiert, von ihrer Herkunftsfamilie und ihrem dörflichen Umfeld her stark religiös geprägt. Ihre religiöse Verankerung begründet sie jedoch nicht, wie vielleicht erwartet, mit religiösen Praktiken innerhalb und außerhalb der Familie, sondern über das Aufzählen weiblicher Ordenspersonen in der Verwandtschaft und weiterer Personen mit einem religiösen Lebensweg in X-Dorf. Indem Sr. Heidi den religiösen Lebensentwurf als einen in ihrem familiären und dörflichen Milieu vorgelebten darstellt, nimmt sie diesem das Besondere. Sie konstruiert den religiösen Weg als eine von weiteren Möglichkeiten. Über die „Normalität“ dieses Weges begründet sie in verallgemeinerter Form („me“) den Entscheid, in ein Kloster einzutreten. hm und dänn (.) übrigens sind eini wo minere Schwester isch au im Chloster //mhm// denn die isch jetzt Generaloberin im Chloster C //mhm// dä dritti Brüeder isch den au no in s’Chloster (.) //@(.)@// der isch in bi dä A-Brüedere gsi isch dänn aber i dä Zwüscheziit bereits gstorbe. //mhm// und die jüngste zwei Gschwüsterti die händ denn doch (
) es
normals Läbe, für die sind beidi ghürate, und händ äh Chind. ((räuspert sich)) (70-76)
Sr. Heidi setzt zu einer neuen Erzählung an („und dänn“), bricht diese aber zugunsten einer Hintergrundkonstruktion ab. Darin erläutert sie die Wahl des religiösen Lebensweges zweier Geschwister. Bei beiden gibt sie die Gemeinschaft an, von ihrer Schwester erwähnt sie zusätzlich die hohe Stellung innerhalb des Klosters, von ihrem Bruder, dass er verstorben ist. Die jüngsten beiden Geschwister sind verheiratet und haben Kinder. Mit der Bewertung des Lebensweges der jüngsten Geschwister als „es normals Läbe“ wird der religiöse Lebensweg im Gegensatz zu oben doch zum besonderen. Thema 3: Schulzeit (76-131) (4) jetzt sött ich dänk wieder zrug uf @mini@ Chindheit also ich bin gäre i d’Schuel gange, also in de (.) bevor wier i d’Schuel gange sind häts miner Ziit bereits Chindergarte gäh. //mhm// jetzt fang i würkli vorne ah; Chindergarte gäh und ich hen i dem X-Dorf in drii verschiedene Hüüser Chindergarte bsuecht; isch au interessant gsi //mhm// es hät immer (1) isch dä Chindergarte i=me Gebäude gsi und dänn hät mer das Gebäude wieder müessä abrisse oder umdisplaziere den isch mer in=es anders Huus cho dänn hen=i ä mal scho i drii verschiedene Hüüser äh de Chindergarte bsuecht zwei Jahr (.) bi Chlosterfraue natürli das hät händ C- @Schwestere@ det Chinderschuel gäh bi zwei verschiedene; das isch eso es breits Uusbildigsagebot @gha@ i minere Jugend //@(.)@// und denah isch das het mir aber gfalle ich hen in de Chinderschuel was ich gärä gmacht hen detä chan ich
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mich erinnere am liebste hen ich zeichnet. ich hen ganzi Biigene zeichnet und zeichnet und zeichnet, (2) und sust bin=ich gerä i d’Chinderschuel gange; (76-90)
Sr. Heidi macht die Frage, wie die Lebensgeschichte zu erzählen sei, erneut explizit zum Thema. Indem sie sich genötigt sieht, wieder auf ihre Kindheit zurückzukommen, scheint sie weiterhin durch die Erwartung eines konsekutionslogischen Aufbaus der biographischen Erzählung beeinflusst zu sein. Anschließend fährt sie mit einer positiven Bilanzierung ihrer gesamten Schulzeit fort, um diese dann von Anfang an zu erzählen. Nicht selbstverständlich ist, dass es zur Zeit ihrer Kindheit bereits einen Kindergarten gibt. Dass sie in den zwei Jahren in drei verschiedenen Häusern und bei zwei Kindergärtnerinnen unterrichtet wird, bewertet sie als interessant. Etwas ironisch beschreibt sie dies als „breits Uusbildigsagebot“ und weist damit gleichzeitig auf die beschränkten (Aus-)Bildungsmöglichkeiten in X-Dorf hin. Die Erwähnung, dass die Kindergärtnerinnen „natürli“ Klosterfrauen sind, verweist abermals auf ihr katholisches Milieu. Ihre religiöse Sozialisation findet nicht nur in der Herkunftsfamilie, sondern in selbstverständlicher Weise auch in der Bildungsinstitution Schule statt. Anschließend setzt Sr. Heidi zur Weiterführung der Erzählung an („und denah isch“), bricht diese aber zugunsten einer positiven Evaluation des Kindergartens ab und nennt ihre Lieblingstätigkeit: das Zeichnen. und dänah wo wer=d Schuel gange sind bin=i i zwei verschidene Schuelhüüser i d’Schuel gange //@(.)@// will mer grad s’Schuelhuus neu gmacht hät in denä paar Jahr womer i d’Schuel gange isch d’Sek //mhm// hän i au bsuecht; //mhm// bin au gerä i d’Schuel gange (.) will mich hät das interessiert (.) lärnä und es isch wier au liecht gfalle //mhm// und gueti Note gha usser dass ich mit dä Sprache ä bitz Müeh gha hen ich glaube ich bin ä Legasthenikerin. im Nachhinein händ mer wier das gseit du ich glaube //@(.)@// du bisch eini //@(.)@// guet und ich glaube das jetzt @gäre@ //@(2)@// @(2)@ @ich glaube das jetzt gäre@ (1) will ich jetzt eifach hi und da Müeh hen (1) mit dä Buechstabe; ich chan d’Wörter völlig andersch säge als was sie da ständ //mhm// aber für mich isch es klar was es heisst aber nur die wo zuelost versteits mengmals nid ganz; //mhm// @ja guet@ //@(1)@// oder es B und es D chan ich dort hän ich in der erste Klass das weiss i ganz genau. (1) hän ich das immer total verwächslet, es isch wier au nid logisch gsi wänn Sie jetzt grad scho ähäh:::: Primarlehrerin sind //mhm// nume früenert es B mit emä Bett dargstellt het i dä erstä Klass //mhm// also so da ischs Chüssi gsi und da s’Deckebett //mhm// (.) und das sell es B sii? den hän ich immer dänkt das chunt doch druf ah wie mer das Bett ufstellt; //@(.)@// also das B liit ja; also chönt mers ja so ufstelle dänn isch es glaub=i es D //@(2)@// und wäm=mers eso ufstelle dänn isch es es B also das wier das Bild hät wier gar nüt gnützt zum wier //@(1)@// die Buechstabe merkä. //@(1)@// (1) guet. aber ich hän das guet gmeischteret (.) das het mer dänn glaub=i
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damals hät das niemert festgstellt. oder au niemert öppis druus gmacht uf jedä Fall (.) hän ich Freud gha an dä Sprach ich hän gerä Ufsätz gschriibe das hän=i au guet chöne; in der dütschä Sprach (90-116)
Sr. Heidi fährt in ihrer biographischen Erzählung mit einem erneuten Umzug in ihrer Schulzeit fort. Ihre Schuljahre fallen in eine Zeit des Neu- oder Ausbaus des Schulhauses, was nahelegt, dass trotz des oben erwähnten Arbeitskraftüberangebotes die Abwanderung aus der Bergregion (noch) kein Thema ist. Der mehrfache Wechsel zwischen der Wir- und Ich-Form könnte daran liegen, dass sie einerseits die Gemeinschaft ihrer Schulkameradinnen und Schulkameraden vor Augen hat, andererseits aber ihre individuelle Biographie zu erzählen versucht. Die anschließende Erwähnung „d’Sek hän i au bsuecht“ weist darauf hin, dass sie den Besuch der Sekundarschule nicht als Selbstverständlichkeit betrachtet.24 Unklar ist jedoch, ob sich dies auf ihre Herkunftsfamilie bezieht, auf das Bergdorf allgemein oder auf die Mädchen der Bergregion. Auch den Besuch der Schule bewertet Sr. Heidi zunächst einmal unbestimmt positiv und begründet dies mit einem allgemeinen Interesse am Lernen, das ihr leichtfällt. Das Argument der guten Schülerin wird in Bezug auf den Sprachunterricht allerdings eingeschränkt. Sie selbst vermutet bei sich eine Legasthenie, die jedoch nie offiziell diagnostiziert wird. Die später an sie herangetragene Laiendiagnose nimmt sie im Hinblick auf die heute noch vorhandenen Sprachprobleme dankbar entgegen. Mit einer Diagnose, auch einer laienhaften, erhält ein Problem eine Form, bleibt nicht diffus. In der nun folgenden längeren narrativen Belegerzählung über ihre Verwechslung der Buchstaben B und D in der ersten Klasse spricht sie die Interviewerin als ehemalige Primarlehrerin an und kritisiert das ungeeignete Anschauungsmaterial. Dass sie trotz ihrer Schwäche gute Aufsätze schreibt und die Freude an der Sprache nicht verliert, führt sie einerseits auf ihre gute Bewältigungsstrategie zurück („aber ich hän das guet gmeischteret“), andererseits darauf, dass sie in der Schule nicht als Legasthenikerin stigmatisiert wird („damals hät das niemert festgstellt. oder au niemert öppis druus gmacht“). später wo dänn Französisch cho isch das isch dänn schwieriger gsi zum die Wörtli uswändige lärnä; (.) Rechnä hän=i au chöne und Zeichne hän=i gerä gmacht (.) und Turne und Skifahre das isch zum Glück weniger gsi das häm=mer als Schuelchind au müesse //mhm// und im Winter hauptsächlich immer go Skifahre nar die Bergä uf dä hets dänn no kei Skilift ghä; //mhm// °wier händ d’Fäll agschnallet und° die Bergä=nuf glüffe (.) furchtbar (…) obe abe gfahre im Teufschnee und dänn bin ich immer bi dä mindste gsi
24 Die Alternative wäre die Realschule.
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aber ich muess säga ich bin au immer es bitz festär gsi, gross zwar aber e bitz fest, (.) u:nd wier het das Müeh gmacht. wänd dä Summer cho isch dänn hän=i immer ghofft dass es rägni, will mer dänn hät mer müsse z’Berg, //@mhm@// das isch au die die die Schuelusflüüg mit derä schwäre Rucksack und vom Morge am sibni bis am Abend am sibni berguf und bergab, das hän=i au nid gerä gmacht; es het mer au Müeh gmacht und so guet das aso die die sportliche Tätigkeite in der Schuel hän=i weniger gern gha alli andere hän=i eigentlich möge und dänn die Schule ring bestande, (116-131)
Sr. Heidi fährt weiter, indem sie sich bewertend ins Verhältnis zu einzelnen Schulfächern setzt. Obwohl sich im Französischunterricht ihre LeseRechtschreibe-Schwäche verstärkt bemerkbar macht, bewertet sie allein die sportlichen Tätigkeiten, die sie nach Sommer und Winter getrennt ausführlich beschreibt, negativ. Sie begründet dies mit ihrer etwas vollschlanken Statur. Abschließend evaluiert sie alle anderen Schulfächer nochmals positiv und stellt sich als gute Schülerin dar. Thema 4: Herkunftsfamilie (131-184) (.) däheime (.) häm=wier halt (.) gläbt ja? Frauehuushalt, mit Brüeder zäme und dä Vater isch eigentlich immer nur in dä Zwüschesaison hei=cho; //mhm// das isch aber für mich immer es wahnsinnigs Fäscht gsi //mhm// muess ich säge das aso das hän=ich später nie meh erläbt dass mer sich eso chan freue dass äppärt heichunt. //mhm// das isch au es ganz es (1) im Nachhinein für mich ganz es ri- ä:::h richi Erfahrig gsi ich bin äs hie in der Schuel gsässe zum Feister usegluegt und dänn °au da chunt ja dä Vater hei und dänn hät° das Herz grad afah flattere vor Freud //mhm// später hät mer das viellicht @nume no erläbt wänn mer verliebt gsi wär@ aber das isch das isch wunderbar gsi wänn dä Vater heicho isch; für mich als Ältischti wies die Jüngere gha heit weiss ich jetzt nid so genau; //mhm// (131-142)
Sr. Heidi wechselt den Erzählkontext. Im Folgenden steht wieder ihre Herkunftsfamilie bzw. ihr Zuhause („däheime“) im Mittelpunkt ihrer Erzählung. Im Vergleich zur bereits weiter oben verwendeten abstrakten Beschreibung „fraueprägte Huushalt“ verwendet Sr. Heidi hier die zugespitzte Form „Frauehuushalt“. Damit werden die männlichen Mitglieder des Haushaltes zumindest innerhalb des Hauses endgültig zu Nebenfiguren. Die Frauen des Hauses erhalten darüber zwar ein gewisses Gewicht, die „normale“ Ordnung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung wird aber auch hier nicht gebrochen, sie zeigt sich im Gegenteil überdeutlich.
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Ist der Vater in Bezug auf die Haushaltsführung eine Nebenfigur, steht er als Heimkommender im Zentrum von Sr. Heidis Aufmerksamkeit. Die jeweilige Rückkehr des Vaters wird von ihr nicht als Störung im Sinne eines Eindringens in eine Frauendomäne empfunden, sondern sehr emotional als „wahnsinnigs Fäscht“ beschrieben. Indem Sr. Heidi die Gefühle zu ihrem Vater mit denjenigen einer Verliebten vergleicht, scheint sie auf den ersten Blick das Generationenverhältnis in der Vater-Tochter-Beziehung aufzulösen. Bei genauerem Hinsehen ist aber zu erkennen, dass sie diesen Vergleich dafür heranzieht, Gefühle einer nie wieder erlebten Intensität auszudrücken. Damit nimmt sie vorweg, dass sie sich ein Leben lang nie verliebt hat. Ihre tiefsten zwischenmenschlichen Empfindungen sind also in ihrer Kindheit zu suchen. Am Ende der Passage stellt sie einen Zusammenhang her zwischen ihren Glücksgefühlen und der Tatsache, dass sie die Älteste unter den Geschwistern ist. Dies könnte als ein weiterer Hinweis auf ihre verantwortungsvolle Rolle in der Familie gelesen werden. Entweder erhält sie vom Vater Anerkennung für ihre Verantwortungsübernahme, oder er entlastet sie während seiner Anwesenheit von bestimmten Pflichten, und sie darf vermehrt Kind sein. und den het er au immer Sache heibracht us denä Hotel (.) er hät am Hotel O in Z-Dorf das isch ja z’bestä Hotel detä gsi oder am Hotel F in Y-Dorf gschafft also in renommierte Betrieb, oder wo dänn die bessere Lüüt cho sind (.) und dänn händ die Sache heibracht Fix-und-Foxi-Heftli //@(.)@// und zwar @sicher nid so guet gsi sind für d’Bildig wo mer@ //@(.)@// @aber ünsch hät das doch interessiert@ //@(.)@// und Mickey Mouse und all da:: die die Comicheftli und (.) und sogar Globiheftli het mer enar (…) aber die säb het d’Muetter organisiert; und die und das das::: det hem=mer ünsch au en @Teil vo der Bildig gholt@ //mhm// ja ja und äh dä Vater heicho isch det het er:: am Neujahr (.) oder (
) het ers au heigschickt (1) die (.) ufblasbari Ballön, ähh vo dernä äh::: Silvester-
fäscht, und und und Zuckermandle und und all so Sache was öppe zrugblibe isch und wo mer dänkt hät die Chind händ Freud händ händ wir dänn eifach kriegt und das het wier gfalle; (.) //mhm// und wän dä Vater diheime gsi isch dänn (.) isch es neus Element in d’Familie cho; ja der Vater isch wieder da gsi und ned nur dä Grossvater; (142-157)
Die jeweilige Heimkehr des Vaters ist auch mit besonderen Geschenken aus den teuren Hotels verbunden. Der Kauf von Comic-Heften und anderen Luxusgegenständen scheint für die Familie nicht möglich zu sein. Obwohl auch die Mutter einige dieser Hefte organisiert, konstruiert Sr. Heidi den Vater als Brücke zwischen diesen beiden Welten. Er bringt mit den Comics, den Zuckermandeln und weiteren liegen gebliebenen Sachen aus den renommierten Hotels einen Hauch der großen weiten und reichen Welt in Sr. Heidis bescheidene Herkunftsfamilie.
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Somit wird der Vater ein Symbol für eine gewisse Horizonterweiterung, obwohl Sr. Heidi unentschieden ist, ob die Comics nun gut oder schlecht für die kindliche Bildung sind. Nicht nur bringt der Vater immer neue Geschenke mit nach Hause, auch ihn selbst beschreibt Sr. Heidi positiv konnotiert als „neus Element“ in der Familie. Was das Neue ausmacht und was das Positive daran ist, wird nicht näher erläutert, aber in einen Gegensatz zur Anwesenheit des Großvaters gestellt. Die Distanzierung vom Großvater führt sie aber nicht weiter aus. also i gwüssnä Teil vo minere Jugend hän=i au no mit mim Grossvater zäme erlebt //mhm// und dä Grosseltere wo detä im gliiche Huus //mhm //gwohnt händ aber die sind dänn doch relativ (1) rä- ((atmet tief ein)) früeh gstorbe also won ich drii vier oder so gsi bin //mhm// aber ich hän trotzdem Erinnerige und äh Grossvater au und und Grossmuetter (.) bsunders Grossvater isch bi ünsch än (.) teuf gläubige Maa gsi. //mhm// (157-163)
Die Einführung des Großvaters macht eine Hintergrundkonstruktion nötig. Darin wird deutlich, dass in ihrer frühen Kindheit drei Generationen im Haus leben. Unklar ist, ob es sich um die Eltern der Mutter oder um diejenigen des Vaters handelt. Obwohl beide Großeltern relativ früh sterben, erinnert sie sich an diese, vor allem an den tiefen Glauben des Großvaters. Interessanterweise zeigen sich in dieser Hintergrundkonstruktion keine Abgrenzungstendenzen gegenüber dem Großvater mehr. Dies könnte darauf hindeuten, dass der Großvater nicht negativ besetzt ist, sondern dass sich Sr. Heidi nebst der Anwesenheit des Großvaters auch diejenige des Vaters wünscht. (1) ich tuen jetzt halt es bitz umenandswitsche //mhm das macht nüt// also immer no so (…) süscht hät i müsse än Liste mache //ja ja nei das macht// dereie nah //nei nei das macht gar nüt// (163-170)
Sr. Heidi kann die vermeintliche Erwartung der Interviewerin, dass die lebensgeschichtliche Erzählung chronologisch aufgebaut sein sollte, nicht erfüllen. Erklärungsbedürftige Stellen machen ein „umenandswitsche“ in Form von Hintergrundkonstruktionen nötig. Indem Sr. Heidi die vermeintliche Ungeordnetheit in ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung thematisiert, sucht sie die Absicherung der Interviewerin, nichts falsch zu machen. Mit der Idee einer vorgängigen Liste der lebensgeschichtlichen Ereignisse ist implizit die Kritik verbunden, dass es in einer Stegreiferzählung nicht möglich sei, den chronologischen Aufbau durchzuhalten. Daraufhin versichert die Interviewerin in ermutigender Weise die Richtigkeit ihres Vorgehens.
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aber dä Grossvater zum Biispil (.) der het (.) es isch au en Erinnerig vo wier; wenn ich au mängmal nachdänke wieso bisch in s’Chloster gange //mhm// oder was hät ünsch prägt //mhm// där dä het wän d’Rosechranz- äh wän=s dä Engel des Herrn glütet hät am ölfi oder zwölfi am Mittag //mhm// das tuets ja ähm überall eigentlich (.) dänn isch der alti Maa won=er gstande isch oder won=er gsi isch au wän das am Hennechrabe dine gsi isch und er detä a- abkneulet und het dä Engels des Herrn bättet (2) und wir Ch- Chind sind dänn doch ziemli fassigslos dänebe gstande; dass da äppert eso (1) so fromm isch //mhm// oder und dänn no ä Maa //mhm// also das hät Iidruck gmacht. //mhm// uf jede Fall aber sus äh (.) isch das ä (.) liebe Maa gsi also ich (.) bin (.) vo irgend (.) welche Belästigungen (.) irgendwelcher Art (.) hän ich kei (1) kei Erlebniss oder kei Erinnerige und nüt //mhm// vo deheime also wier sind da inere Familie ufgwachse wo (.) ich meine (1) z::: z’Familieverhältnis gstumme het //mhm// (171-184)
Thematisch fährt Sr. Heidi mit der Erzählung über den Großvater weiter. In Form einer längeren narrativen Belegerzählung über seine religiösen Praktiken im Zusammenhang mit dem Angelusläuten sucht sie weitere Begründungen für ihren Klostereintritt. Es wird deutlich, dass Sr. Heidi der tiefen Religiosität des Großvaters eine biographische Bedeutung zuschreibt. Darüber hinaus dient die Belegerzählung der Veranschaulichung ihrer religiösen Sozialisation in ihrer Herkunftsfamilie, in der, zumindest vom Großvater, Religion aktiv praktiziert wird. Interessant ist an dieser Stelle ihre geschlechtsspezifische Äußerung bezüglich der Frömmigkeit eines Mannes. Glaube, verbunden mit religiös eingeübten Verhaltensweisen, die Demut ausdrücken, scheint für Sr. Heidi eher weiblich konnotiert zu sein. Die abschließende Evaluation „aber sus äh (.) isch das ä (.) liebe Maa gsi“ ist etwas irritierend, da die Belegerzählung nicht negativ behaftet ist. Eine mögliche Lesart wäre, dass die Frömmigkeit des Großvaters zwar faszinierend, aber eben auch befremdend ist, gerade weil er ein Mann ist. Noch irritierender ist die unmittelbar darauf folgende Negierung von „Belästigungen (.) irgendwelcher Art“ in ihrer Herkunftsfamilie und der Betonung des guten Familienverhältnisses. Indem sie (sexuelle) Übergriffe auf Kinder in deren Herkunftsfamilien zum Thema macht, kommt unweigerlich der Gedanke auf, dass es in ihrer Familie einen solchen Vorfall geben könnte, und weil die Thematisierung unmittelbar auf die Erzählung über den Großvater folgt, dass dieser involviert sein muss. Mit dieser Lesart wird die oben formulierte Abgrenzung vom Großvater verständlich, nicht aber ihre Faszination hinsichtlich seines praktizierenden Glaubens. Die Art und Weise der Bewertung ihres Familienverhältnisses lässt aber auch die Lesart zu, dass sie – ohne es auszusprechen – ihr Familienverhältnis mit anderen, ihr bekannten Familien vergleicht, in denen es eben Vorfälle von (sexueller) Belästigung gibt. Insge-
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samt dokumentiert sich ein ambivalentes Verhältnis zum Großvater, das sich zwischen den Polen Faszination und Befremdung bewegt. Zwischenfazit (1-184) Sr. Heidis sozialer Nahraum ist in ihrer Kindheit vor allem durch ihre ländlichkatholische Kernfamilie bestimmt (Eltern, Geschwister, Großeltern). Der Vater arbeitet im unteren Dienstleistungssektor und hat ein dementsprechend niederes Einkommen, die Mutter ist Hausfrau. Das weitere Umfeld besteht aus dem sozialen Milieu des – ebenfalls katholischen – Bergdorfes. Es zeigt sich bei Sr. Heidi eine starke lebensweltliche Verankerung in X-Dorf und eine starke Prägung durch die katholische Kirche. Aus diesem sozialräumlichen Milieu heraus konstruiert sie eine einfache, aber glückliche Kindheit, allerdings ohne diese genauer zu erläutern bzw. ohne narrative Belegerzählungen. Damit bleibt diese Konstruktion legitimationsbedürftig und prekär. Sr. Heidis Beziehung zu ihrer Mutter ist stark durch die arbeitsbedingte Abwesenheit des Vaters geprägt. Aufgrund dieser Abwesenheit trägt sie als ältestes Kind (Mit-)Verantwortung für die jüngeren Geschwister und ist Ansprechpartnerin der Mutter (finanzielle Sorgen). Die Beziehung zur Mutter ist denn auch weniger durch emotionale Nähe, sondern vielmehr durch geteilte Alltagssorgen und -pflichten gekennzeichnet, sie kann als alltägliche bezeichnet werden. Im Gegensatz dazu stellt Sr. Heidi die Beziehung zu ihrem Vater als eine besondere dar. Auch diese Beziehung wird durch die zeitweilige Abwesenheit des Vaters beeinflusst, denn Sr. Heidis jeweilige Wiedersehensfreude weist auf eine tiefe emotionale Verbundenheit mit dem Vater hin, die sich aber nur wegen seiner längeren Abwesenheit und der damit verbundenen Heimkehr in dieser Art äußern kann. Darüber hinaus bringt der Vater aufgrund seiner auswärtigen Arbeitstätigkeit ein Stück der großen, weiten Welt in die vertraute Heimat. Er symbolisiert für Sr. Heidi „die Welt und die Dinge, die die Welt bedeuten“. Obwohl sich Sr. Heidi in X-Dorf verankert sieht, scheint sie sich über das Dorf hinaus zu orientieren. Etwas unscharf bleiben ihre Geschwister. Auch wenn sie in der biographischen Erzählung erwähnt oder als Geschwisterkollektiv mitgedacht werden, nennt Sr. Heidi ihre Brüder und Schwestern weder beim Namen, noch erzählt sie von gemeinsamen Erlebnissen. Deutlich wird aber, dass sich Sr. Heidi als Erstgeborene zu ihren Geschwistern ins Verhältnis setzt: Als Älteste trägt sie den jüngeren Geschwistern gegenüber (Mit-)Verantwortung, als Älteste ist sie (und nicht die anderen) während der Abwesenheit des Vater, Ansprechperson für die Mutter, und auch ihre Beziehung zum Vater macht sie u. a. daran fest, dass sie
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die Älteste ist. Da sie ihr Zuhause als „frauengeprägt“ versteht, ist es auch denkbar, dass ihr Geschlecht für die Stellung unter den Geschwistern eine Rolle spielt. Damit würde sie sich nicht nur qua Alter, sondern auch qua Geschlecht eine außerordentliche Position unter den Geschwistern zuschreiben. Obwohl Sr. Heidi ihre mit im Haus lebenden Großeltern erst zu einem späteren Zeitpunkt der biographischen Erzählung einführt, scheint der Großvater in Bezug auf seine religiöse Orientierung ein signifikanter Anderer zu sein. Insgesamt dokumentiert sich aber ein ambivalentes Verhältnis zum Großvater. Einesteils führt ihn Sr. Heidi in Abgrenzung zum geliebten Vater ein, andernteils zeigt sie sich von seiner Frömmigkeit fasziniert, die sie aufgrund seiner Geschlechtszugehörigkeit aber auch befremdet. Demut und Demutsbezeugungen sind für sie mit Weiblichkeit verbunden. Wie die unmittelbar auf die Erzählung über den Großvater folgende Negierung (sexueller) Belästigungen in ihrer Herkunftsfamilie zu deuten ist, bleibt unklar. Im Gegensatz zum Großvater wird die Großmutter kaum erwähnt. Sr. Heidis Herkunftsfamilie ist also, zumindest in ihrer frühen Kindheit, durch ein Mehrgenerationenverhältnis geprägt, wobei sie dem, angesichts der späten Einführung ihrer Großeltern, keine große Bedeutung zuschreibt. Da das in Sr. Heidis Familie gelebte Ehemodell von ihr nicht hinterfragt wird, kann angenommen werden, dass sie sich grundsätzlich am tradierten Geschlechterverhältnis (zumindest in Bezug auf die Arbeitsteilung) orientiert. Interessant ist aber die von ihr vorgenommene Wendung, die sie dem arbeitsteiligen Programm gibt, indem sie den ohnehin in der Regel von Frauen geführten Haushalt in zugespitzter Form als „fraueprägte Huushalt“ bzw. „Frauehuushalt“ bezeichnet. Damit scheint sie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in ihrer Herkunftsfamilie geradezu zu untermauern. Diese Zuspitzung ist aber nur vor dem Hintergrund der zeitweiligen Abwesenheit des Vaters zu verstehen, welche die Mutter zumindest vorübergehend zur Hauptverantwortlichen im Haushalt macht. Mit Haushalt sind alle auf die Haushaltsführung bezogenen, also alle im Haus anfallenden Arbeiten wie Wohnungs- und Textilpflege, Verköstigung, Erziehung und Betreuung, Rechnungsführung usw. gemeint. Durch die Abwesenheit des Vaters fallen der Mutter – so ist zu vermuten – nicht nur die klassischen Hausfrauenarbeiten zu, sondern auch diejenigen Pflichten, die oft vom Ehemann übernommen werden (Fällen von Entscheidungen den Haushalt und die Familie betreffend, Rechnungsführung, Reparaturarbeiten usw.). In Sr. Heidis Kernfamilie ist die gesamte Haushaltsführung also Frauensache, Männer sind davon (partiell) ausgeschlossen oder treten als Nebenfiguren auf. Sr. Heidi weist mit ihren abstrakten Beschreibungen in geschlechtersensibler Weise auf diese Vormachtstellung ihrer Mutter bzw. der Frauen in der Haushaltsführung hin.
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Dadurch stärkt sie die Stellung der Mutter (und auch diejenige der anderen weiblichen Familienmitglieder) innerhalb des Hauses. Obwohl sie die Orientierung an der „normalen“ Geschlechterordnung nicht verlässt, sind für sie die Grenzen zwischen den Geschlechtern in gewisser Weise plastisch. Mit dem Eintritt in den Kindergarten eröffnet sich für Sr. Heidi ein neuer sozialer Erfahrungsraum. Die Volksschule thematisiert sie aber weniger als einen Ort sozialer Beziehungen (Lehrpersonen werden kaum erwähnt, Schulkameradinnen und Schulkameraden bleiben unsichtbar), auch nicht als Bildungsinstitution, sondern eher als selbstverständlich zu durchlaufende Statuspassage. Obwohl sie sich trotz ihrer partiellen schulischen Schwierigkeiten (vermutete Legasthenie) als gute und interessierte Schülerin darstellt, ist bei ihr keine Bildungsaspiration auszumachen. In der bisher erzählten Lebensgeschichte gibt es mehrere explizite und implizite Hinweise auf Sr. Heidis biographischen Entwurf, wobei die expliziten Thematisierungen vor allem als Konstruktionen ihres religiösen Lebenswegs im Nachhinein zu betrachten sind. Zentral für Sr. Heidis Lebensentwurf ist die katholische Religion als Normalitätsrahmen bzw. als unhinterfragtes soziales Muster. Ihr biographischer Entwurf entwickelt sich also nicht freischwebend, sondern vor dem Hintergrund dieses katholischen Milieus, das bestimmte Möglichkeiten in Sr. Heidis biographischer Entwicklung prädisponiert. Indem sie den religiösen Lebensentwurf als gängige kulturelle Praxis ihres Herkunftsmilieus darstellt, bezieht sich Sr. Heidi gar selbst auf diesen Möglichkeitsraum. Dies ist insofern wichtig, als sich hier eine Vorstellung manifestiert, dass die Berufung zur Klosterfrau auf „fruchtbaren Boden“ fallen muss. Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort hätte sie vielleicht einen anderen Lebensweg gewählt. Diese Überlegungen lassen die These zu, dass Sr. Heidis Lebensentwurf in einer mehr oder weniger selbstverständlichen Orientierung am milieuspezifischen Konsens über mögliche Lebenspläne gründet. Ihre Unterscheidung zwischen dem religiösen Lebensweg und dem „normalen Leben“ ist denn auch weniger der Abgrenzung oder Distanzierung, sondern eher der Tatsache geschuldet, dass der religiöse Lebensweg zwar ein denkbarer innerhalb ihres sozialräumlichen Milieus ist, nicht aber den gesamtgesellschaftlichen Erwartungen entspricht. Insofern ist ihr biographischer Entwurf zugleich ein allgemeiner und ein besonderer.
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Thema 5: Ferienarbeit während der Schulzeit (184-313) (3) wo simer wo söli jetzte wiiterfahre; (1) äh Schuel //mhm// @(1)@ @sit wer i dä Schuel@ guet wieder zrug (.) in der Schuel (184-186)
Einmal mehr macht Sr. Heidi die Frage, wie sie mit der Erzählung ihrer Lebensgeschichte weiterfahren soll, zum Thema und versucht über die inhaltliche Anknüpfung an die Schulzeit den konsekutionslogischen Aufbau aufrechtzuerhalten. (1) d’Sek hät mer au gmacht das isch au kei Sach gsi; (.) und nacher het sich dänn d’Frag gstellt bi wier äh ja no äppis was mini zu miner Jugendschuelziit au ghört (186-188)
Sie thematisiert erneut ihren Besuch der Sekundarschule, diesmal in verallgemeinerter Art und Weise („mer“). Dass „man“ die Sekundarschule besucht, wenn es von den Noten her reicht, ist offenbar doch eine Selbstverständlichkeit. Durch die nachfolgende Erklärung „das isch au kei Sach gsi“ zeigt sich, dass Sr. Heidi auch in der höheren Stufe der Volksschule keine Probleme hat bzw. dass sie die Schule trotz ihrer Teilleistungsstörung gut meistert. Anschließend beginnt Sr. Heidi eine Erzählung, die zeitlich unmittelbar nach dem Besuch der Sekundarschule einzuordnen ist, bricht diesen Erzählstrang jedoch ab und kehrt zu ihrer „Jugendsschuelziit“ zurück. also wier heit ja (.) in in denä Bergdörfer vier Monat Schuelferie ghä //mhm// über Summer das isch ganz e //mhm// langi Ziit werum het mer das gha? damit die die junge Lüüt händ chöne uf d’Alpe //mhm// oder deheime hälfe äh heue? //mhm// und wier sind kei Buure gsi (.) mh der Grossvater no das hät das isch nüme relevant gsi, (2) was hät d’Muetter mit ünsch allne sellä, (.) so irgendäswo müesse //@(.)@// als Magd gah oder irgend eso //mhm// (188-194)
Sr. Heidi fährt mit der Äußerung über die in Bergdörfern üblichen viermonatigen Sommerferien fort. Ihre rhetorische Frage „werum het mer das gha?“ und die darauf folgende Erklärung der gängigen kulturellen Praxis der Mitarbeit der Kinder auf Hof und Alp können als Hinweis darauf gedeutet werden, dass sie die Interviewerin als Vertreterin einer jüngeren Generation und eines divergierenden sozialräumlichen Milieus (Stadt) anspricht. Da es sich bei Sr. Heidis Familie nicht (mehr) um eine Bauernfamilie handelt, müssen sie und ihre Geschwister auswärts arbeiten. Den in einer Frage formulierte Beweggrund für die auswärtige Beschäftigungspraxis der Kinder („was hät d’Muetter mit ünsch allne sellä“)
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weist darauf hin, dass die Mutter in ihrem Alltag wenig Zeit für die Kinder zur Verfügung hat und in Sr. Heidis Familie (und Herkunftsort) offenbar keine Ferienkultur existiert. Zum einen liegt es aufgrund der ökonomischen Verhältnisse der Familie im Bereich des Möglichen, dass die Kinder dazuverdienen müssen, zum anderen könnte sich darin auch die pädagogische Haltung ausdrücken, der Untätigkeit der Kinder entgegenzuwirken. In der Nennung ihrer Ferienarbeit zeigt sich eine eher negative Bewertung („so irgendäswo müesse als Magd gah oder irgend eso“). Interessant ist ihre heute veraltete Verwendung des Begriffs „Magd“, mit dem junge, unverheiratete Frauen bezeichnet wurden, die hauptsächlich auf landwirtschaftlichen Betrieben „niedere“, d. h. körperlich anstrengende Arbeit verrichteten. Der Begriff „Magd“ impliziert also zugleich Jungfräulichkeit und bescheidene Verhältnisse. und den weiss ich dass ich äh äh mit ölf und zwölf bereits als Magd nach Y-Dorf hicho bin; mä het dänn das dur äs Inserat irgendaswo gfunde in=der Ziitig dass die eso (.) dere Bergmaitli suechend immer über dä Summer und detä bin ich zwei Sümmer lang gsi //mhm// bi=mene Buur in Y-Dorf (.) und das isch jetzt doch eini vo mine erste ender bittere (.) Erfahrige //mhm// gsi //mhm// äh (.) und zwar nid will ich fort hän müesse; //mhm// sondern will i eso miserabli Ver- Familieverhältnis in derä Familie antroffe hän //mhm// (194-201)
In der weiteren Erzählung wird deutlich, dass Sr. Heidi den Beginn ihrer auswärtigen Arbeitstätigkeit als früh empfindet. Über Zeitungsinserate wird explizit nach „Bergmaitli“ gesucht, denen anscheinend besondere Tüchtigkeit und vielleicht auch Genügsamkeit zugeschrieben wird. Infolge eines solchen Inserats findet Sr. Heidi für zwei Sommersaisons eine Anstellung bei einem Bauern in YDorf. Die Beschäftigung bei diesem Bauern bewertet sie äußerst negativ, wobei sie sich auf das Familienverhältnis bezieht. Die Anspielung auf ihr noch junges Alter kann nun als Hinweis auf die schwierigen Verhältnisse auf dem Bauernhof in Y-Dorf gelesen werden. Unklar ist, weshalb Sr. Heidi zwei Sommersaisons bei dieser Bauernfamilie verbringt. Bei schwierigen Arbeitsbedingungen würde eine zweite Anstellung eher vermieden werden. °also das müesst mer dänn no° (1) //mhm// neutralisiere //mhm// also dass mer nit weiss wers isch. //ja uf jedä Fall// (201-204)
Sr. Heidi thematisiert ihre Bedenken die Erkennbarkeit der Ereignisträger dieses Erzählabschnitts betreffend und äussert explizit den Wunsch der Anonymisierung, was von der Interviewerin versichert wird.
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das ischt für det für mich als jungs Chind furchtbar gsi wie dä Buur mit mit sinere Frau und mit sine Chind umgange isch; //mhm// gschraue und umenand dobet und dä ältischt Sohn abgschlage //((atmet tief ein))// und ich händ dänkt jesses das isch ja furchtbar das git (.) wa- was isch da los also ich ich hä- hän plötzlich es anders Familieverhältnis live miterläbt; //mhm// wo wier frömd gsi isch und das hät mich (.) das hät dänn würkli Heimweh gmacht und //mhm// ich ich sälber bin zwar äh nit involviert worde ich bin nid zämegschlage worde aber nu ziitewiis da vo dem da häts dänn no dä Grossvater das verzell ich au das isch s’einzig Erlebnis won i hän (.) äh Grossvater gsi wo wier z’nöch worde cho isch; //mhm// will wo den die andere (.) uf em Feld gsi sind am schaffe hät dänn die Grossvater dänkt so jetzt mach ich mich a das junge Maidli herä, (.) da hän ich mich aber dänn won ich gmerkt hän dä tääplet ja a wier ume, was macht dä da, hän ich das (.) am Buur gseit; //mhm// erstundlicherwiis //mhm// oder da bin ich dänn unverfrore gsi hän gseit s::ie dä dä chunt wier z’nöch, dä tääplet a wier ume //mhm// (.) und dänn hät dr Buur das bi sinem Vater abgschtelt //mhm// er hät dänn natürlich ich weiss nid (.) //mhm// mit ihm gred also denah häts ufghört //mhm// bin i nüme belästigt worde (.) aber det hän i dänkt aha nei das dänk i jetzte im Nachhinein //mhm// also jedes Chind macht wahrschiindli mal irgendeso e=sone Erfahrig dass (.) dass es (die Siite
) dass es chönt belästigt
werdä vo //mhm// vo älterä Lüüt, //mhm// je nachdem wie mer sich das bi wier isch das guet abglofe; //mhm// (205-227)
In der nun folgenden längeren Passage über ihre Erfahrungen in der Bauernfamilie in Y-Dorf macht Sr. Heidi deutlich, dass in dieser Zeit ihre kindliche Vorstellung von Familie erschüttert wird, zum einen wegen des Umgangs des Bauern mit Frau und Kindern, zum anderen aufgrund der (sexuellen) Belästigung durch den Großvater. Sie ist mit der Situation in dieser Familie überfordert, was sich in Form körperlich-seelischer Schmerzen (Heimweh) zeigt. Es scheint, dass Sr. Heidi bis heute noch keine innere Distanz zu den damaligen Erfahrungen gefunden hat, da sie sich mittels kindlicher Gedanken gerad ezu in die Situation hineinversetzt („jesses das isch ja furchtbar das git (.) wa- was isch da los“; „dä tääplet ja a wier ume, was macht dä da“). Dass sie darüber hinaus die Grenzüberschreitung des Großvaters in Form einer Perspektivenübernahme erzählt („so jetzt mach ich mich a das junge Maidli herä“), kann ebenfalls als Hinweis dafür gedeutet werden. Wie Sr. Heidi sich im Moment der (sexuellen) Belästigung wehrt, erzählt sie nicht. Sie findet aber – „erstundlicherwiis“ – die Sprache, sich Hilfe zu holen, was auf einen gesunden Selbsterhaltungstrieb schließen lässt. Dass sie sich beim männlichen Familienoberhaupt Hilfe holt, ist einerseits riskant, da sie nicht wissen kann, wie der Bauer sich dazu verhält, andererseits kann sie sich innerhalb dieser patriarchalen Familienstruktur nur beim Familienoberhaupt Hilfe suchen. Das übergriffige
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Verhalten des Großvaters wird durch den „Paterfamilias“ „abgschtelt“, wie, weiss Sr. Heidi nicht genau. Sie stellt dies als eine Sache zwischen Männern dar. Ihre weiter oben erfolgte (Über-)Betonung des guten Verhältnisses in ihrer Herkunftsfamilie und das Negieren von innerfamiliären Belästigungen werden vor dem Hintergrund ihrer schlechten Erfahrungen in der Bauernfamilie verständlich. Der Großvater aus Y-Dorf dient als Kontrastfolie zu ihrem eigenen Großvater, die Bauernfamilie als Kontrastfolie zu ihrer Herkunftsfamilie. Die nachfolgende Argumentation, dass wahrscheinlich jedes Kind die Erfahrung von (sexueller) Belästigung durch ältere Menschen macht, dokumentiert eine Orientierung am Machtverhältnis zwischen den Generationen. Sie sagt zwar nicht, dass ältere Menschen das Recht haben, Kinder zu belästigen, aber es ist der Kindheit quasi inhärent, solche Erfahrungen zu machen. Interessant ist, dass sie das Machverhältnis als Generationenverhältnis und nicht als Geschlechterverhältnis konstruiert. Sie argumentiert sozusagen geschlechtsneutral. Auch die abschließende Bewertung „bi wier isch das guet abglofe“ entkräftet Sr. Heidis Orientierung am Machtverhältnis nicht. Sie hätte sich auch entrüsten können, dass ihr und anderen Kindern so etwas passiert. Darüber hinaus zeigt sich in ihrer Generalisierung auch eine Normalisierung der und damit eine Distanzierung von der erlebten (sexuellen) Belästigung. Bemerkenswert ist, dass Sr. Heidi nie von sexueller Belästigung, sondern nur andeutungsweise von „Belästigung“ spricht. Der Begriff „Sex“ und die damit zusammenhängenden Wortschöpfungen werden von ihr tabuisiert. ((räuspert sich)) aber wie gseit ich hän detä zwar en hufe glärnt als Chind; glärnet wie mer (.) dä Räbe aaschafft das isch äppis Neus gsi das isch interessant gsi //mhm// obwohl ich nid gerä ufs Fäld gange bin die Sunne die hät wier zuegsetzt //mhm// es hät wier Chopfweh gmacht und verbrännti Ärm und so wier isch es nid wohl gsi //mhm// ich hän ebä lieber im Huus gsi //mhm// den häntsch mich halt derna eifach dä ganz Huushalt la @mache gäll@ //@(.)@// vom Morge am sächsi bis am Abe am achti hät mer gschaffd zwüschedri chum ämal frii gha //mhm// (227-235)
Trotz ihrer negativen Erlebnisse versucht Sr. Heidi Gewinnbringendes aus dieser Zeit herauszufiltern, indem sie das Erlernen von neuen Tätigkeiten im Sinne einer Horizonterweiterung positiv bewertet. Negativen Erfahrungen Positives abzuringen, kann aber ebenfalls als eine Bewältigungsstrategie verstanden werden. Dass sie die als Mühsal empfundene Arbeit auf dem Feld gegen die Tätigkeit im Haus austauschen kann, deutet auf ihr Durchsetzungsvermögen hin. Die ihr übertragene Hausarbeit und die langen Arbeitszeiten konstruiert sie in kritischer Weise als gängige kulturelle Praxis.
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(.) aber nach em erste Summer hän i ghofft oh °hoffentlich seit Mama nid nomal ich müss gah° es isch eifach es isch eifach das Drum und Dra wo wier nid gfallt; die Familieverhältnis; //mhm// dä hät sie wier gliich ich- aber det hän ich nid dä Muet gha dä Mueter z’säge ich weli nüme gah //mhm// dänn bin i halt nomal en zweite Summer gange //mhm// (1) oder gschickt worde oder abgmacht cho (2) guet mer hät dä zweit Summer au no düregstande (1) ich hän ä hufe Läbenserfahrig gmacht, aber ich hän verruckt Heimweh ghä detä //mhm// also dänn b::in i wänn die Lüüt ufs Feld sind mit em Traktor oder obe ache gfahre und ich zrugblibe bin än uh Berg abgwasche z’Mittag also @würkli vo@ siebe Persone (.) dänn bin ich immer under die Huustüre gstande die da das isch am Berg obe gsi hän da in s:::’Tal abegluegt und hän afa brüele aber ich hän immer gwartet bis die andere furt sind @(1)@ mer hät dänn richtig luut chöne usebrüele und dänn mein Gott wie isch das furchtbar und ich will jetzt hei und fertig und Schluss mit Heiweh //mhm// und wänn=sch wieder cho sind hän i nüme brüelet //@(.)@// also das @(1)@ //@(1)@// janu aber das isch ä intensivi Erfahrig gsi; //mhm// (235-251)
Sr. Heidi fährt in ihrer biographischen Erzählung mit der aus kindlicher Perspektive geäußerten Hoffnung, von der Mutter nicht mehr in dieselbe Bauernfamilie geschickt zu werden, weiter. Es zeigen sich hier all ihre Ängste, die mit den Erfahrungen in der Bauernfamilie verbunden sind. Ihrer eigenen Mutter gegenüber findet sie jedoch die Sprache nicht, ihre Ängste und ihre Abneigung zu formulieren. Sexualität scheint in Sr. Heidis katholischer Herkunftsfamilie tabuisiert zu werden. Dass sie auch das schlechte Familienverhältnis und den gewalttätigen Bauern nicht erwähnt, könnte als fehlendes Vertrauen ihrer Mutter bzw. ihren Eltern gegenüber gelesen werden, verbunden mit einem übersteigerten Pflichtgefühl (gerade als Älteste). Zudem wird deutlich, dass weder die Mutter noch der Vater die Sorgen der Tochter wahrnehmen. Sr. Heidi fügt sich in ihr Schicksal und geht „halt nomal en zweite Summer“ nach Y-Dorf. Sie wehrt sich nicht, sie handelt nicht, sie „wird gehandelt“ („gschickt worde oder abgmacht cho“). In der nachfolgenden Formulierung „guet mer hät dä zweit Summer au no düregstande“ zeigt sich eine Schicksalsergebenheit, gleichzeitig aber auch ein Durchhaltevermögen. Durch die entpersonalisierte Redewendung („mer“) distanziert sie sich aber vom Opferstatus. Sie scheint sich am Kollektiv der Kinder mit ähnlichen Erlebnissen und an der kulturellen Praxis des Stehvermögens und des Pflichtbewusstseins zu orientieren. Sr. Heidi gibt ihrem Arbeitseinsatz in Y-Dorf wiederum eine positive Wendung, indem sie daraus Lebenserfahrung abgewinnen kann und damit dieser Zeit biographische Bedeutung zuschreibt. In einer längeren Belegerzählung schildert sie ihren Umgang mit der schwierigen Situation und dem daraus folgenden Heimweh. Das versteckte Weinen ist eine Bewältigungsstrategie, ohne dabei das
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Gesicht zu verlieren. Alleinsein wird existenziell und bedeutet für sie einen Autonomiegewinn. Interessanterweise scheint sie außerhalb ihrer Herkunftsfamilie selbstbestimmter zu sein. In einer abschließenden Evaluation weist sie nochmals darauf hin, dass die Erfahrung in Y-Dorf nicht spurlos an ihr vorbeigeht („ä intensivi Erfahrig). ((räuspert sich)) und dänn bin i au no an andere Ort gsi au a- an=eme an einem Summer bin i mit ere Kollegin zäme in I-Dorf gsi binere Familie //mhm// die händ au Chinde gha det het i au sölle d’Chind hüete (.) det hät dä Vater Maa än scharfe Hund gha so en Schäferhund (.) und d’Frau isch mer ohhh ((mit tiefer Stimme)) nid eso ä sympathischi gsi der hät au mit dr Frau gschumpfe also es isch au nid eso oho //mhm// komisch das hän ich nid vertreit als Chind wän d’Männer mit dä Fraue so tüend (.) jänu (.) dä het mer bin=i aber nu en en en Summer gsi (251-258)
Sr. Heidi fährt mit einem Verweis auf weitere Arbeitsorte weiter. In I-Dorf arbeitet sie zusammen mit einer Freundin in einer mehrköpfigen Familie. Zu ihrem Aufgabenbereich gehört u. a. die Betreuung der Kinder, dies wird aber nicht weiter ausgeführt. Die Beschreibungen des Familienverhältnisses und des Schäferhundes („scharfe Hund“) weisen erneut auf eine in negativer Divergenz zu ihrer Herkunftsfamilie stehende Familie hin. Was Sr. Heidi hier deutlich hervorhebt, ist ihre Abneigung gegenüber der Unterdrückung von (auch ihr unsympathischen) Frauen durch (ihre) Männer. Sie selbst kann ihre diesbezügliche Überempfindlichkeit nicht erklären, was angesichts der offensichtlichen Unterdrückung der Frauen in beiden Familien etwas eigenartig erscheint. Obwohl Sr. Heidi die patriarchalen Machtstrukturen nicht grundsätzlich hinterfragt, zeigt sich abermals eine gewisse Sensibilität hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses. Das nachfolgende „jänu“ deutet auf ihre Ohnmacht den gegebenen Verhältnissen gegenüber hin. Um die Intensität dieser Erfahrung abzuschwächen, schließt sie diese Passage mit den Worten „bin=i aber nu en en en Summer gsi“. und derna isch die schön Ziit cho @(.)@ vo vo Magdziit dänn je:::tzt //mhm// chunt wieder so en Fade zu mim spötere Ordensläbe (.) nacher bin ich in Z-Dorf gsi; zwei Sümmer im Hotel P (.) s’Hotel P isch vo ünschne Schwester gfüert worde; //mhm// vo dä ASchwestere (1) das isch aso es:: Hotel gsi wo immer viel Gäst ghä hät und die händ im Summer generell (.) Chind ghä zum Hälfe über Summer sig das in der Chuchi oder im Spiissaal oder wo au immer //mhm// uf dä Etage und döt bin ich mit minere Cousine dasmal zäme sind mer detä gsi und später isch denn au no ä Schwester vo wier gsi und dä Brueder also wier sind immer ganz es paar Chind gsi (.) wo in der Hotel P in Z-Dorf händ chöne ä Summersaison mache (.) das isch:: isch interessant gsi; (.) also erstens die hufe
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Kontakt mit denä hufe Gäst //mhm// (1) und jedes Jahr (.) ich bin dänn no es paar mal im Hotel P gsi das gsend sie dänn no äh::: Gäst us allne Himmelsrichtige und will Hotellerie in ünsche Familie ä bizli gsi isch vom Vater here //mhm// isch das natürli irgendäswie vertraut gsi oder en bitz im Bluet also ich hän detä äh vo dä Pieke uf (.) als als als vierzäfüfzähjährigi oder wie alt wier detä gsi sind hän ich d’Hotellerie känne (…) wier händ dänn sind dänn igsetzt worde uf der Etage mit dr Schwester L zäme und d’Schwester L isch dänn ganz e gnaui gsi //@(.)@// hät mer müsse d’Zimmer mache, oder, so und so viel also vo der Pieke uf wie=mer das richtig macht wie=mer äh s’Chistli macht uf em Bett da häts also ganz es bstimmts System gäh, chum isch dänn das fertig gsi isch mer im Spiissaal igsetzt worde mit änere andere Schwester (.) Chefin //mhm// det häm=mer dä glernet we=mer richtig serviert //mhm// korrekt (
) im Service //mhm// vo der Suppe
bis zum Dessert und so wiiter vo welärä Siite und das hät mer alles glärnet; //mhm// das isch guet gsi; //mhm// oder dänn isch mer derna hindere äh Office igsetzt worde müesse abwäsche //mhm// ganzi Biigene für 250 Persone glaub detä sim=mer mit ere alte Frau zäme gsi, und ä teil sind in där Chuchi gsi //mhm// oder mer hät dänn es bitzeli abgwächslet je nachdem ((holt Luft)) und dänn isch ((atmet aus)) hät mer äbe Trinkgeld kriegt das isch au schön gsi //@(1)@// @(1) hie und da zwüschedrii@ oder wänd wier Zimmerstund ghä händ dänn sind ä so es paar derä Chind zäme gsi oder wier händ Z-Dorf chöne go aluege oder me isch go schwimme oder ä so es isch es isch (1) m::: ganz en interessanti (2) äh Summer gsi also me hät viel glernät me hät äppis verdient obwohl wier jetzt gfunde händ also jetzt im zweite Summer dörfte=mer dänn scho z- meh verdiene als im erste Summer @(.)@ //@(.)@// und diä säb Schwester Oberin hät ünsch gliich viel gäh wie im erste Summer und händ dänn s’Gfühl gha es dörfti scho es bitzli meh si @(.)@ aber das isch au gliich gsi oder //mhm// (259-297)
Als Nächstes fährt Sr. Heidi mit einer positiven Bewertung der nachfolgenden Ferienarbeit fort. Die oben geschilderten Verhältnisse in den beiden Familien scheinen nicht nur als Kontrastfolien für ihre Herkunftsfamilie zu dienen, sondern auch als Gegenstücke zur „schönen Magdzeit“, welcher sie eine biographische Bedeutung für ihr späteres Ordensleben zuschreibt. Zwei Sommer lang arbeitet sie zusammen mit anderen Kindern (u. a. auch aus ihrer Herkunftsfamilie) im von Schwestern ihres zukünftigen Ordens geleiteten Hotel P in Z-Dorf. In der Formulierung, dass sie und die anderen Kinder die Sommersaison „händ chöne […] mache“, zeigt sich sowohl ihre Begeisterung als auch ihre Dankbarkeit für diese Ferienarbeit. Im Zentrum ihrer längeren Beschreibung der „schönen Magdzeit“ steht erstens die Gemeinschaft der Kinder, zweitens scheinen für Sr. Heidi die aus „allne Himmelsrichtige“ kommenden Gäste bereichernd zu sein, und drittens bewertet sie die detailliert beschriebene Arbeit im Hotel positiv. Sie schätzt den Lerneffekt hoch ein und begründet ihre Freude an der Hotellerie als von ihrem
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Vater ererbt. Nebst den mit anderen Kindern geteilten Erlebnissen und der Horizonterweiterung scheint auch der Verdienst (sowohl Trinkgeld als auch Lohn) ein Faktor für die positive Evaluation dieser Ferienarbeit zu sein, obwohl sie und die anderen Kinder mit dem Lohn im zweiten Jahr nicht einverstanden sind. Darin eingelagert ist die ökonomische Orientierung „Mehr Leistung, mehr Lohn“, welche aber sogleich wieder abgeschwächt wird („aber das isch au gliich gsi oder“). (1) det hän=i eigentlich di erstä Kontäkt ghä mit dä (1) A-Schwestere //mhm// obwohl wier als Chind hät ünsch das nid sehr imponiert wie d’Schwestere sind; //mhm// me hät da alg gmärkt dass die au sehr menschlich sind //mhm// das hät mer sogar sehr intensiv gmerkt; (.) und dänn hän i dänkt das imponiert wier da aso au nid grad bsunders @also die sind ja gar nid viel besser als die andere und so aso mer hät kei also absolut kei Illusion gha@ //@(4)@// dass öpe d’Chlosterfraue chöntet es bessers Läbe chönd füere als die and- die sind erstens all sehr es bitzli sträng gsi und dänn sind=s underenand es sehr bitzli giftig gsi und dernah händ=sch immer gseit ich jetzt chunt dänn d’Schwester Oberin wänn äppis isch und wier nid rächt chunt immer mit dä Schwester Oberin argumentiert hän ja d’Schwester Oberin weiss das ja gar nid aber sie geits ihre sicher go verzellä und so wiiter also wier sind detä eifach eso en gwüsse chlösterliche Drill gsi das hät mer ou müesse also so jungi Ding und und (…) ja aso pfff aso det häre wärded (…) ich müess jetzt s::::: gliche mache also ehrlich //mhm// nei (1) aber glich häts mer dänn dä Ärmel glich wieder innegnoh (297-313)
Dem ersten Kontakt mit den Schwestern ihrer jetzigen Gemeinschaft misst sie abermals eine biographische Bedeutung bei. Gleichzeitig distanziert sie sich aber von den Klosterfrauen, indem sie diese als „sehr menschlich“, „nid viel besser als die andere“, „sehr es bitzli sträng“ und „unterenand es sehr bitzeli giftig“ beschreibt. Mit diesen abgeschwächt negativen Bewertungen scheint Sr. Heidi ein gängiges Bild von Ordensschwestern zu relativieren, zu „vermenschlichen“ und damit die Schwestern zu normalisieren. Indem Sr. Heidi die Klosterfrauen in einen bedingt negativen Gegenhorizont stellt, vermittelt sie auch von sich selbst ein Bild eines „ganz normalen“ Kindes. Die im Laufe ihrer biographischen Entwicklung erfahrene Orientierungsänderung („aber glich häts mer dänn dä Ärmel glich wieder innegnoh“), führt sie nicht weiter aus. Sr. Heidis Schilderung der Disziplinierungsmaßnahmen der Schwestern, Verfehlungen der Kinder der Oberin zu melden, erinnert nicht nur an kindliches Petzen, sondern weist auf die hierarchische Struktur im Kloster hin. Mit der abstrakten Beschreibung, dass dort „en gwüsse chlösterliche Drill“ herrscht, liefert sie einen Hinweis auf Erziehungsmaßnahmen, die an militärische Zucht und Ordnung erinnern. Ihre heutige Befürwortung dieses „Drills“ weist auf eine Orientierung an einem eher autoritären Erziehungsstil hin.
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Zwischenfazit (184-313) Die Tatsache, dass Sr. Heidi sowie auch ihre Geschwister in den Sommerferien einer Arbeit nachgehen und dass dies darüber hinaus kulturelle Praxis ihres sozialräumlichen Milieus ist, bestätigen die einfachen Verhältnisse, in denen sie aufwächst. Dass die auswärtige Beschäftigung der Kinder ein Bedürfnis der Mutter ist und das Organisieren von Arbeitsplätzen in ihren Verantwortungsbereich fällt, weist nochmals auf die Familienstruktur hin, die durch die zeitweilige Abwesenheit des Vaters geprägt ist und dadurch zum Frauenhaushalt wird. Sr. Heidis Selbstbezeichnung als Magd könnte einerseits als Inkorporation der bescheidenen katholischen Verhältnisse, andererseits als Vorwegnahme ihres zukünftigen Lebens verstanden werden, denn auch im Kloster steht sie als Jungfrau in „fremden“ Diensten, Magd sein wird zum Habitus.25 Mit der Aufnahme der Ferienarbeit eröffnen sich für Sr. Heidi neue soziale Erfahrungsräume. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist sie von ihrer Herkunftsfamilie getrennt und erlebt in den ersten drei Jahren ihrer Arbeitstätigkeit Familienverhältnisse, die sich stark von ihren gewohnten unterscheiden. Mit dem sexuellen Übergriff des Großvaters der Bauernfamilie (nicht ihres eigenen Großvaters) erlebt sie eine tiefe Verletzung ihrer körperlichen Integrität. Die „Als-obHandlung“, mit der sie diesen Übergriff szenisch darstellt, weist auf eine geringe Distanz zum Erlebten hin und muss daher als biographisch relevante Erfahrung gedeutet werden. Indem sie ihre Belästigungserfahrung generalisiert und damit auch normalisiert, spaltet sie diese von sich ab und macht sich unverwundbar. Interessanterweise konstruiert sie mit dieser Strategie ein Machtverhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern, bei dem nur die Generation, nicht aber das Geschlecht als konstitutives Element für die Unterdrückung Relevanz hat. Die Frage ist, ob sie hier nicht nur sexuelle Übergriffe, sondern auch andere Unterdrückungsformen anspricht. Andernorts setzt sich aber nicht nur mit dem Machtverhältnis zwischen den Generationen, sondern auch mit demjenigen zwischen den Geschlechtern auseinander. Obwohl sich darin eine gewisse Sensibilität für Geschlechterfragen und eine Parteilichkeit für Frauen zeigt, verlässt sie auch hier die Ordnung der männlich dominierten Hegemonialkultur nicht. Mit der Art und Weise, wie sie den rauen Umgang der beiden Väter mit andern Familienmitgliedern und die sexuelle Belästigung durch den Großvater der Bauerfamilie beschreibt, setzt sie diese beiden Familien in eine Differenz zur eigenen. Die intendierte Idealisierung ihrer Herkunftsfamilie kann aber nicht
25 Ordensschwestern, die im Dienste ihrer Kongregation, letztlich im Dienste Gottes stehen, werden auch als Mägde Gottes verstanden.
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aufrechterhalten werden. Während sich Sr. Heidi in der Bauernfamilie gegen die sexuelle Belästigung zu wehren vermag, Bewältigungsstrategien gegen ihre seelischen Nöte findet und sich ihren Arbeitgebern gegenüber durchsetzen kann, weiß sie sich innerhalb ihrer eigenen Familie nicht zu helfen. Sie kann sich ihrer Mutter nicht anvertrauen und muss lernen, mit ihren Problemen alleine zurechtzukommen. Es liegt die Vermutung nahe, dass ihr mangelndes Durchsetzungsvermögen innerhalb ihrer Herkunftsfamilie mit der Tabuisierung von Sexualität zusammenhängt. Sowohl der Schatten der Pfarrkirche als auch ihre Orientierung an einer eher konservativ autoritären Erziehung und der damit zusammenhängenden Fügsamkeit entfalten ihre Wirkung. Mit ihrer Ferienbeschäftigung im von Ordensfrauen geführten Hotel P eröffnet sich für Sr. Heidi nochmals ein neuer Erfahrungsraum, den sie im Gegensatz zu ihrer Tätigkeit in den beiden Familien ausnehmend positiv bewertet. Sie selbst interpretiert den ersten Kontakt mit den Klosterfrauen ihres zukünftigen Ordens als biographisch relevant, obwohl sie sich deutlich von den damaligen Schwestern distanziert. Im Zentrum ihrer Erzählung stehen vielmehr die mit anderen Kindern geteilten Erlebnisse (Arbeit und Freizeit). Zum ersten Mal überhaupt thematisiert Sr. Heidi soziale Beziehungen zu Gleichaltrigen, wobei es ihr nicht um ihre Beziehung zu einzelnen Kindern, sondern um das Gemeinschaftserlebnis geht. Geteilte Zeit und gemeinsam gemachte Erfahrungen gehören zu ihrem positiven Gegenhorizont. Darüber hinaus tritt sie mit ihrer Arbeit im Hotel P in die Welt ihres geliebten Vaters ein. Jetzt bringt nicht mehr nur der Vater „die Welt und die Dinge, die die Welt bedeuten“, zu ihr nach Hause, sie selbst begibt sich mit der Arbeit im Hotel sozusagen in den Kristallisationspunkt des „Fremden“. Es wird also immer deutlicher, dass sich bei Sr. Heidi ein eher unspezifisches Interesse am Neuen, Unbekannten und Fremden zeigt. Ihr Interesse an der Hotellerie, welches sie als von ihrem Vater ererbt betrachtet, kann auch als Orientierung am Vater interpretiert werden, wobei nicht ganz klar ist, worauf sich diese Orientierung bezieht. Ist es eine berufliche Orientierung, die Suche nach dem (abwesenden) Vater oder die Suche nach dem (positiven) männlichen Element? Auffällig in diesem Themenbereich sind Fragen, die sich um Normen und Normalität kreisen. Dies zeigt sich in Sr. Heidis Bemühungen, sich über Generalisierungen und Normalisierungen als „normales“ Kind darzustellen, sowie in ihrer Distanzierung von den Ordensschwestern des Hotels P (im Sinne von: ein „normales“ Kind hat keine Affinitäten zu Klosterfrauen). Fragen nach dem Allgemeinen und dem Besonderen sowie Konstruktionen einer „normalen“ Kindheit sind bereits Themen des ersten biographischen Teils. Dies könnte darauf hindeuten, dass Sr. Heidi bestimmten Klischeevorstellungen von Klosterfrauen
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entgegenzuwirken versucht (nur Frauen, in deren Kindheit etwas passiert ist bzw. die eben keine „normale“ Kindheit hatten, gehen ins Kloster). Thema 6: Berufswahl und Berufsbildung (313-426) und nach dem Ufenthalt (.) isch mer dänn au langsam uf us dä Schuel cho, also nach dä Schuel das sind jetzt nur s:::o Zwüscheschuelziite gsi //mhm// dänn isch dänn mal d’Frag uftaucht was will mer lernä //mhm// das het das het=mer gmacht mit em Schuelberatig zäme; (.) ja:: die isch dänn druf cho was chönt ich mache technischi Zeichnerin viellicht mit ihre dä die Üebige gmacht und derä Test (.) oder viellicht äppis Kaufmännisches (.) oh ja (.) dänn hän ich für Kaufmännisch dänkt das wer ä besseri Grund(.)vorussetzig für später hän s’KV gmacht //mhm// (1) aber in ünscher Ziit händ sich nid d’Elterä um das kümmeret. //mhm// sondern das hät mer eifach sälber abgmacht //mhm// mit dr ((atmet)) Bruefsberaterin und derna hät die einem viellicht Stellä zeigt wo mer sich chönti sich bewerbe //mhm// und hät sich detä beworbe, (313-325)
Sr. Heidi fährt in ihrer Erzählung chronologisch weiter, nicht ohne das vorangegangene Thema nochmals einzuordnen („das sind jetzt nur s:::o Zwüscheschuelziite gsi“). In entpersonalisierter Weise und im Sinne einer allgemeinen Statuspassage thematisiert sie den Übergang von der Volksschule zur Ausbildung und spricht darin die Frage der beruflichen Orientierung an. Die berufliche Laufbahn zusammen mit der Berufsberatung zu planen, legt Sr. Heidi als übliche kulturelle Praxis dar („das het das het=mer gmacht mit em Schuelberatig zäme“). Sie verwendet hier fälschlicherweise den Begriff „Schuelberatig“, welcher für psychologische und pädagogische Beratung von Fachpersonen und/oder Schülerinnen bzw. Schülern benutzt wird. Es ist zu vermuten, dass sie infolge der vorherigen Erwähnung der Schule den Begriff Berufsberatung in Schulberatung umwandelt, denn aus der biographischen Erzählung ist nicht ersichtlich, dass sie jemals eine schulische Beratung in Anspruch genommen hat. Die Lega-sthenie wäre ein Grund gewesen, diese wird aber, wie sie selbst sagt, nie diagnostiziert. Im Hinblick auf ihre Berufswahl orientiert sich Sr. Heidi an den Vorschlägen der Berufsberaterin. Die Wahl fürs KV26 begründet sie mit der besseren „Grund(.)vorussetzig für später“. Sr. Heidi orientiert sich in Bezug auf ihre berufliche Ausbildung also nicht an ihren Talenten oder Interessen (Gastgewerbe) oder am Programm der Horizonterweiterung, sondern am Prinzip der Verwertbarkeit der Ausbildung und damit an der Existenzsicherung ihrer zukünftigen
26 Kaufmännischer Verband Schweiz; umgangssprachlich für kaufmännische Berufsausbildung.
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Erwerbsarbeit. Dass sich nicht die Eltern um die Berufsfindung kümmern, sondern dies die Aufgabe der Kinder und der Berufsberatung ist, wird von Sr. Heidi wiederum als historisch-kulturelle Praxis präsentiert. Dies könnte aber auch ein Hinweis darauf sein, dass Sr. Heidis Herkunftsfamilie (und vermutlich auch ihr sozialräumliches Milieu) weder bildungs- noch karriereorientiert ist. Darüber hinaus ist zu vermuten, dass Sr. Heidi davon ausgeht, dass Eltern heute stärker in den Bildungs- und Berufsfindungsprozess ihrer Kinder involviert sind. und ich bin dänn bi der Versicherig in U-Stadt hän ich mich um ä Stell beworbe und also Lehrstell //mhm// hän die kriegt (.) und dänn isch dänn die Phase cho wo mer eifach hät müesse (.) nur übers Wuchenend heigange isch //mhm// also dänn das isch doch ä zweistündigi Fahrt gsi //mhm// hät mer halt in U-Stadt müesse en Unterkunft sueche und dänn bin i wieder bi Schwestere glandet was die händ eso Studenteheim gha wo da so //mhm// Stifte und Studente händ chöne wohne //mhm// hät mer mal detä iilogiert (1) dänn bin i dänn detä hän i es Einzellzimmer kriegt aber usgrächnet uf ä nä Chrüzig us //@(.)@// Stärnewätter hä doch nid gwüsst was (
) dä cheibe Lärme bin i nid gwöhnt gsi vom
Strasseverkehr @(2)@ //@(3)@// @das isch@ verruckt gsi also die Lärme die hed mich doch jetzt fast gstresst bis am Schluss. ich hän müesse uszieh wieder. //mhm// nach anderthalb Jahr (…) dänkt das wird wier z’viel näbst dä Lehr ich chan nümme schlafe will das @so luut isch oder,@ (.) ((räuspert sich)) und dänn hän i dänn dete mit dä Schwester zäme (1) di säb isch dänn cho go Lehrerin lernä in in U-Stadt //mhm// dänn händ wier zäme es Zimmer gmietet im Fuchsbau das isch dänn swo näbed us gsi eso hinedüre und das hät ünsch dänn detä gfalle //mhm// simer unabhängiger gsi //mhm// und au viel ruhiger //mhm// guet. aber d’Lehr hän i eigentlich au (.) °ohni Schwierigkeite gmeisteret ja ja° aber es isch sträng gsi also einersits Lehr also där Iisatz im Betrieb und dänäbed Schuel und KV //mhm// und dänn öpe no Sprache Friifächer gno aber das isch au guet verbiigange //mhm// au guete Abschluss gmacht; (325-346)
Sr. Heidi erhält, nach nur einem Bewerbungsschreiben, eine Lehrstelle bei einer Versicherung in U-Stadt. Die Abgeschiedenheit ihres Heimatdorfes und die damit zusammenhängenden wenigen Arbeitsmöglichkeiten machen eine Stellensuche in der weit entfernten U-Stadt erforderlich. Dies hat zur Folge, dass sich Sr. Heidi in U-Stadt eine Unterkunft suchen muss und nur übers Wochenende nach Hause kehren kann. Die Art und Weise dieser Erzählung weist wiederum auf eine ortsübliche kulturelle Praxis hin. In der Formulierung „und dänn bin i wider bi Schwestere glandet“ zeigt sich, dass sie den wiederholten Begegnungen mit Klosterfrauen eine Bedeutung für ihren Lebensentwurf zuschreibt, aber auch, dass sie diesbezüglich eine passive Haltung einnimmt. Die Dinge oder zumindest diese Dinge geschehen, kommen auf sie zu. Obwohl Sr. Heidi im Studentenheim
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ein Einzelzimmer erhält, was anscheinend nicht selbstverständlich ist, sucht sie sich aufgrund des Straßenlärmes zusammen mit einer ihrer Schwestern eine ruhigere Unterkunft. Über die Lärmbelästigung konstruiert Sr. Heidi ansatzweise eine Stadt-Land-Dichotomie. Darüber hinaus zeigt sich bei Sr. Heidi im Zusammenhang mit der neuen Unterkunft eine Orientierung an Unabhängigkeit. Es geht hier aber nicht um die Ablösung von ihrer Familie, sondern um einen Freiheitsgewinn durch weniger reglementierte Wohnverhältnisse. Erst jetzt kehrt Sr. Heidi in ihrer Erzählung zurück zu ihrer Lehre, dies fast ausschließlich in Form von Bilanzierungen („ohni Schwierigkeite gmeisteret“, „es isch sträng gsi“, „aber das isch au guet verbiigange au guete Abschluss gmacht“). Bis auf die Erwähnung der Freifächer (Fremdsprachen) kommt es nicht zu einer inhaltlichen Bestimmung ihrer Berufsausbildung. Thema 7: Die Welt kennen lernen (346-627) und denaa hät mer dänkt was mache=wer jetzt @(.)@ also zerst hän ich mal welä äs bitz go d’Welt aluege (3) bin glaubi nach dä Lehr direkt anen Kibbuz; wänn ich mich (.) rächt erinnere hä=wer derna no drii Monät zäme ene Kibbuz nach äh nach äh (.) Israel zäme mit=ere Kollegin vo X-Dorf, //mhm// das isch intere- au das isch interessant gsi @(1)@ dänn sind wier da ine Kibbuz als Volontärinne händ wier ünsch verpflichtet da häts Organisatione ghä damals //mhm// wo derä äh Volontäre gsammlet händ //mhm// viellicht händ sie das au scho ghört, //mhm// (1) //ja// da sind wier da vo April bis drii Monät bis Juli oder irgendäsoäppis det hi und das isch natürli au wieder äppis ganz Nüüs gsi //@(1)@// @(1)@ (346-356)
Die biographische Erzählung wird wieder chronologisch fortgesetzt, indem Sr. Heidi die Zeit unmittelbar nach dem Lehrabschluss thematisiert. Ihre geäußerte Unsicherheit im Hinblick auf ihren weiteren Lebensweg und der Wunsch, auf Reisen zu gehen, deuten darauf hin, dass sie ihren Beruf nicht als biographisches Projekt versteht. Die Art der Formulierung („und denaa hät mer dänkt was mache=wer jetzt“) legt die Vermutung nahe, dass sie sich nicht als die einzige Jugendliche mit unausgereiften Zukunftsplänen versteht. Was sich aber erneut zeigt, ist ihr unspezifisches Interesse an der großen, weiten Welt („äs bitz go d’Welt aluege“). Von der gesamten Welt entscheidet sich Sr. Heidi für ein dreimonatiges Volontariat in einem Kibbuz in Israel, zusammen mit einer Freundin aus ihrem Heimatdorf. In der Entscheidung, in einem Kibbuz zu arbeiten, deuten sich Parallelen zu ihren früheren Ferienarbeitstätigkeiten an. Sowohl als Magd als auch als Volontärin in einem Kibbuz stellt sie sich als Helferin zur Verfügung. Im ersten Fall durch ihre Mutter initiiert, im zweiten aus eigener Ent-
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schlusskraft. Eine weitere Entsprechung findet sich in ihrer Orientierung an (religiös motivierten) Gemeinschaften. Mit dem Hinweis auf die dreimonatige Verpflichtung zeigt sich Sr. Heidi als verantwortungsvoller Menschen. In ihrer an die Interviewerin gerichteten Erklärung, wie sie dazu kommt, in einem Kibbuz zu arbeiten („da häts Organisatione ghä damals wo derä äh Volontäre gsammlet händ“), finden sich aber keine Hinweise über ihre Beweggründe. Auch die positive Evaluation ihrer Zeit im Kibbuz wird nicht näher ausgeführt. @also@ derä derä harmlose also ich muss säge also wänn::: über die ganzi Lehrziit oder e so hän ich äh mit Männer oder so ä kei (.) ä festi Beziehig gha oder mich stark mit dem iiglah z’wenig Ziit gha und z’wenig Interesse glaub i au no während dä Lehr //mhm// (.) °also ich bi da so schö (.)° brav //@(2)@// @(2)@ @dure, aber@ aber ich hän glich ich hän allerlei äh (.) Züüg usprobiert; (356-361)
Die Erwartung an die Fortschreibung der Lebensgeschichte ist diejenige, dass Sr. Heidi über ihre Erfahrungen im Kibbuz berichtet. Sie setzt zu einer Erzählung an („@also@“ derä derä harmlose“), bricht diese jedoch zugunsten einer Hintergrundkonstruktion über ihre bis dato fehlenden Beziehungen zu Männern ab. Diese Hintergrundkonstruktion scheint mit dem Kibbuz in einem Zusammenhang zu stehen, inwiefern ist aber noch unklar. Die Art und Weise, wie Sr. Heidi ihre nicht vorhandenen heterosexuellen Beziehungen zu Jungen einführt (umschreibend, mit Füllwörtern), weist auf einen unsicheren Umgang mit dem Thema hin. Begründet werden ihre fehlenden biographischen Erfahrungen mit dem „anderen“ Geschlecht mit mangelnder Zeit und anderen Interessen. Indem sie sich am Ende dieser Passage als „brav“ im Sinne von sittsam und tugendhaft beschreibt, setzt sie sich implizit mit anderen Weiblichkeitskonstruktionen in Bezug. (.) uf ähm (.) °ähm was wo bini gsi, ich hän eso Verastaltige bsuecht° will ich dänkt hän was isch jetzt au das überall äso s:::o s’Bergchind eso i derä U-Stadt dänn //mhm// häts eso derä religiöse Verastaltige gä wo=s also derä Bekenner da @(.)@ ufträte sind und verzellt händ vo Jesus was immer passiert dänn hät mer eifach mal es Inserat oder äh eswo än Annonce gläse da sig än Verastaltig mit mit Jesus-Bekenntnis und weiss z’Gott oder was mer früener gseit hät //mhm// dä bin ich eifach mal go luege was das isch //mhm// das hät mich eifach interessiert //mhm// det (2) äh //@(.)@// äh komisch also mä äh mä mä luegt da äppis ah aber das hät mich da nid zuezoge //mhm// ich hän dänkt das isch nüt für mich //mhm// d::as isch komisch was die Lüüt da ihres Glaube wie sie bekehrt worde sind verzelled und so Züg ich hän dänkt das isch ja sowieso gspässig //mhm// (.) aber ich hän als was irgendäswo gsi isch an (.) Horizonterwiiterig versuecht emal i derä U-Stadt i derä
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Grossstadt @(1)@ //mhm// ä bitzli uszprobiere oder de bin i au an andere philosophische Zirkle gsi; wo dänn eso ich weiss gar nüm Anthroposophe oder denä Wiederge- äh äh derä äh::::::: het eine verzellt er seg wiedergebore scho es paar Mal //mhm// und er sig en Atlantiker und weiss Gott was chan ich mich no erinnere //mhm// uheimlich interessant gsi //@(.)@// isch en alte Herr gsi mit=erä wo da verzellt hät aber ich ich ha weiss nüme genau was es gsi isch wie mer das richtig seit //mhm// (.) und ich=s ebä sowieso falsch säge wahrschiindli (.) aber das isch en älterä Herr gsi mit=erä wahnsinnige Usstrahlig //mhm// und er hät Vorträg ghä vo sine vergangene Erlebniss //mhm// (1) und das hät mich gfesslet was dä verzellt //mhm// isch interessant gsi; //mhm// es hät mi eifach nu interessiert aber es hät mi nid (3) eso überzügt das i jetzt au uf das i(.)gstige wär //mhm mhm// ich hän eifach nomal äppis völlig neus ghört //mhm// dänn bin i da e paar mal gsi //mhm// und dänkt °ou spannend° //mhm// (1) eifach so so als als Jugendliche hän ich versuecht äh:: dä Horizont z’erwiitere und eifach luege was gits dänn alles //mhm// (361-390)
Die vorangegangene Selbstdarstellung scheint eine Korrektur oder zumindest eine Ergänzung nötig zu machen. Da Sr. Heidi dafür weiterer Hintergrundkonstruktionen bedarf, ist sie etwas verunsichert hinsichtlich ihres Vorhabens, ihre Lebensgeschichte chronologisch und konsekutionslogisch aufzubauen. Sie lässt sich davon nicht abhalten und konstruiert sich mittels längerer Erzählungen über esoterische Veranstaltungen (Jesus-Bekenner, Atlantiker) als experimentierfreudig. Obwohl sittsam und tugendhaft, will sie sich nicht als langweilig und uninteressiert verstanden wissen. Ihr Augenmerk richtet sich aber nicht auf das männliche Geschlecht, sondern – wie sie selbst sagt – auf ihre Horizonterweiterung. Die „Großstadt“ mit ihren neuen und für sie bis dato unbekannten Angeboten ermöglicht es ihr, ihrem Interesse an Neuem und Unbekanntem nachzugehen. Den Besuch quasireligiöser Veranstaltungen bewertet sie zwar als interessant, distanziert sich aber sowohl auf semantischer Ebene als auch über ihren Beobachterstatus von diesen Gruppierungen. Damit scheint sie eine Grenze zwischen dem Zugänglichen (katholische Religion) und dem Nicht-Zugänglichen (Esoterik) zu ziehen. da dänn bin i sogare in d’Sauna gange das isch für mich dänn ä gwaltigi Überwindig gsi //@(.)@// also wier sind ja relativ äh äh::: ja wie das @gsi isch@ prüd oder oder äh::: mä het sich da nid eifach eso //mhm// (.) also mä hät gnueg Hemmige gha zum sich abzieh //mhm// aber ich hän dänkt also jetzt i dä Sauna das sig so det geisch jetzt eifach au mal //@(2)@// @(2)@ @das muess jetzt ja au mal sie@ ob du das öb das äppisch isch oder oder das wirsch jetzt wohl chöne; //mhm// guet und dänn hän i scho damals @das isch ebä luschtig gsi@ @(1)@ äh nid äh scho Brille treit also bin i //mhm// eher churzsichtig gsi; also //mhm// scho us dä Schuel und während dä Lehrziit isch das gsi dänn hän ich die
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Brille abzoge oder und (
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) gegenüber wo da blut gsi isch (sind die) bin dänn aber scho
in s’Fraue- //mhm// Sauna gange will ich dänn nüme so guet gseh //mhm// ganz verschwumme und dänn hän ich dänk s’Gfühl gha die gseched mich au so verschwumme //@(.)@// @dänn isch die Sach in der Ordnig gsi @(1)@ //@(3)@// @äso hän ich @ @(2)@ und dänn bin ich no zwei- drümal //@(1)@// scho früeh au mal d’Sauna usprobiert und das hän ich dänn au später no sehr gmacht //@(.)@// (390-407)
Als weiteres exemplarisches Beispiel ihrer Experimentierfreudigkeit erzählt Sr. Heidi in Form eines verwegenen und Mut erfordernden Abenteuers von ihrem Besuch der Sauna. Ihre entsprechenden Hemmungen erklärt sie mit ihrer prüden Erziehung, die sie als historisch-kulturelle Praxis ihres sozialen Milieus darstellt. Sich öffentlich nackt zu zeigen, auch innerhalb eines gleichgeschlechtlichen Rahmens, löst bei ihr ein Schamgefühl aus. Darüber hinaus darf auch der eigene Blick nicht schamlos sein. Der Gang in die Frauensauna gelingt ihr wesentlich durch das Ablegen ihrer Brille, also dank ihrer verschwommenen Wahrnehmung. Die prozesshafte Überwindung ihrer Nacktscham (im gleichgeschlechtlichen Rahmen) zeigt, dass manche Grenzen, an die Sr. Heidi stößt, nicht unabänderlich, sondern bis zu einem gewissen Grad plastisch und damit ausdehnbar sind. guet; aber nur zum säge @dass ich wirklich bemüeht gsi bin@ ä bitz äppis anders no z’gseh oder z’erläbe; //mhm// das was mer jetzt eifach i dem X-Dorf hät chöne; //mhm// aber ich muess säge ich hän nie die moralischi Grenzä überschritte won ich vo diheime natürlich eifach mitbecho hän //mhm// (1) //mhm// das muess ich also säge //mhm// keine sexuellen Erfahrungen //mhm// (.) das hät ich aber äbä au nid wellä; wills //mhm// für mich äh (.) nid gstattet gsi isch, vom Gwüsse herä //mhm// so isch das äh iprägt gsi //mhm// vo dä Muetter here sicher bringsch mer dänn nid öpe so (.) Chind hei as ledigs //mhm mhm// das hän ich (.) done wo wier d’Muetter das emal gseit hät was chunt dänn dier eigentlich z’Sinn //mhm// also das chüm wier also doch nid i //mhm// das mach ich doch nid //mhm// da hän ich scho so dänkt //mhm// hän ich au nid gmacht; //mhm// mä isch eifach ich muess ich säge i bin starch prägt gsi vo dä Moralvorstellige vo dä katholische Chile. //mhm// und hän das au ernst gno //mhm// und das au (.) düre (.) ghebt eigentlich //mhm// aber ohni grossi (1) äh wie soll i säge ohni grossi Überwindig es hät (.) sich au nid so ergäh dass ich //mhm// hetti dä richtige Partner grad in denä in derä relativ churze Ziit gfunde //mhm// also es isch für mich eigentlich kei so grosses //mhm// (.) äh Problem gsi oder //mhm// irgendsowas (.) ich hän z’tue gha //mhm// bin sust eigentlich guet bsetzt gsi //mhm// (407-426)
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Die anschließende Argumentation weist abermals auf Sr. Heidis Orientierung an Neuem, Anderem und Fremden hin. Dies sucht sie aktiv über Erfahrungen, die über die Begrenzung des Bergdorfes X hinaus reichen. Einige Grenzen sind aber unabänderlich, können weder überschritten noch ausgedehnt werden. Für Sr. Heidi ist dies die „moralischi Grenzä“ bezüglich sexueller Erfahrungen, womit sie die Grenzsetzungen der katholischen Sexualmoral anspricht. In ihrer Erzählung wird deutlich, dass die über ihre Mutter vermittelte katholische Sexualmoral nicht nur eine äußere, sondern eine internalisierte Grenze ist („das hät ich aber äbä au nid wellä“; „so isch das äh iprägt gsi vo dä Muetter here“). Da die katholische Sexualmoral zu ihrer eigenen wird, scheint sich Sr. Heidi nicht wirklich anstrengen zu müssen, sich an deren Begrenzungen zu halten. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch ein anderes Bild. Die relativierende Negierung ihrer diesbezüglichen Schwierigkeiten („düre (.) ghebt“; „ohni grossi Überwindig“; „eigentlich kei so grosses (.) Problem“) und ihre an Sublimierung erinnernde Beschäftigung mit anderen Dingen lassen die Vermutung zu, dass ihre jugendliche sexuelle und emotionale Enthaltsamkeit doch nicht ganz unproblematisch ist. Die Tabuisierung von Sexualität ist bei Sr. Heidi, wie oben bereits erwähnt, heute noch wirksam. Obwohl sie in dieser Passage einmal die korrekte Terminologie benutzt („keine sexuellen Erfahrungen“), tut sie dies in distanzierender Weise in hochdeutscher Sprache. Darüber hinaus sind ihre Vorstellungen von Sexualität mit Ängsten verbunden. Dies zeigt sich darin, dass sie die Sexualmoral der katholischen Kirche vor allem über ihre Verbote (uneheliche Sexualität) und – im Falle einer Grenzüberschreitung – Folgen (uneheliches Kind) präsentiert. In der narrativen Belegerzählung, in der sie sich z. T. wieder des Stilmittels der direkten Rede bedient, zeigen sich diese Ängste in eindrücklicher Weise. Auch wenn sich Sr. Heidi in ihrer sexuellen Enthaltsamkeit zeigt, schließt sie Sexualität nicht grundsätzlich aus. Die Möglichkeit, Sexualität zu leben, ist für sie aber an „dä richtigi Partner“ und somit an die Ehe (oder an das Eheversprechen) gebunden. Auch darin dokumentiert sich die katholische Sexualmoral: Die Ehe muss mit unversehrtem Körper eingegangen werden. äh guet jetzt simer da bi dä Lehr also ich hän eso paar (.) nach där Lehr (1) bin ich no im Kibbuz gsi, det hän ich au erläbt das mues mer au verzälle meine Güte (1) dänn sind wier in der Wüesti Negev glandet; //@(.)@// in der nöchi vo Beerscheba no 40 Kilometer südlicher also würkli in der Wüesti, (.) ime Kibbuz wo dür Bewässerig relativ grüen gsi isch; //mhm// und i däm Kibbuz (.) hät mer fast rund ume zue gha das isch die Ziit usgrächnet die Ziit gsi wo die Terroriste detä so umenand balleret händ in in::: in in:: Israel; //mhm// es hät zum Teil Toti gäh und mä hät nie gwüsst öb die wieder irgendäppert i-
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erschiessend (2) und dänn händ wier detä müesse mit denä Pion- Kibbuzpionier (1) bewaffnet (.) ufs Feld und go ässe (1) also es isch so es bitz (1) ja; (.) eigenartig gsi, die händ immer Gwehr mittreit //mhm// will mer ja nie gwüsst hät ob wieder Terroriste viellicht eza mal au in dier Kibbuz ifallend und äppis umenand chnätschend //mhm mhm// das isch mal ei Begleiterschiinig gsi aber sust dä Kibbuzufenthalt isch au spannend gsi äh es isch eifach äppis Neus gsi //mhm// also dä hät mer am Morge am füüfi müesse uf s’Feld //mhm// in Plantage wo wo äh Aprikose oder äh Pfirsich //mhm// (426-443)
Die Hintergrundkonstruktionen, die Sr. Heidi in Zeile 356 beginnt, ordnet sie erneut in die Zeit ihrer Berufsausbildung ein, um anschließend mit der Erzählung über den Kibbuz fortzufahren. Sie versucht sich also weiterhin am chronologischen und konsekutionslogischen Aufbau der Biographie zu orientieren. Sie beginnt ihre erneute Erzählung über ihre Zeit im Kibbuz mit einer Ankündigung von besonderen Erlebnissen. Unklar ist aber noch, welcher Art diese Erlebnisse sind. Als Nächstes erwähnt sie den geographischen Standort des Kibbuz und die aufgrund dieses Standortes benötigte Bewässerungsanlage. Weiter äußert sie sich zur politischen Lage in Israel. Die Tatsache, dass die Kibbuzpioniere wegen den unsicheren politischen Verhältnissen bewaffnet sind, ist für sie ungewohnt, scheint ihr aber nicht wirklich Angst einzuflößen. Im Gegensatz zur „Begleiterschiinig“ der bewaffneten Pioniere fällt die pauschale Evaluation des Kibbuz-aufenthaltes positiv aus („spannend“; „eifach äppis Neus“), und wiederum bezieht sich die Bewertung auf das Neue. Sie beschreibt aber Tätigkeiten auf dem Feld und auf den Plantagen, die sie bereits aus der Schweiz kennt. Neu daran ist nur die Tatsache, dass die Arbeiten in einem fremden Land ausgeführt werden und dass es sich um Südfrüchte handelt. und d’Schwiizer händs gäre gha will die guet gschafft händ //mhm// oder (.) aber au d’Schwiizer Fraue händsch gäre gha //mhm// das isch unglaublich gsi //mhm// (.) die sind bekannt gsi dass die vo einem Männerzimmer in s’andere hüpfend //mhm// die Ruef händsch gha (.) und da dahie so=nen Kibbuz isch ja so ufbaue gsi dass jedi Altersgruppe es Huus für sich gha hät also da häts //mhm// Altersgruppe für Chlichind gäh, (.) die sind vo Chlichindbetreuerinne betreut worde sind äs bitz die grössere Chind cho (.) und dänn Jugendlichi und die (…) i d’Schule gäng und so wiiter und am Abed wän d’Elterä vom Feld hei cho sind oder vo der Arbet händ die Chind meini hei zu dä Elterä chöne; und //mhm// undertags sind die immer in ihrne Altersgruppe //mhm// gsi (.) wier isch ufgfalle dass die Chind nie zwängelet händ; //mhm// dass es nid äs Gschrei gäh hät in: in:: denä verschiedenä:: Abteilige wo wier in denä Hüüser wo die gwohnt händ //mhm// hän ich dänkt das isch meini au es System wo wo guet funktioniert aber //mhm// ganz es anders als das was in der Schwiiz //mhm// was wier gwöhnt sind //mhm// sind is das isch isch
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idrücklich gsi; //mhm// aber die die ((räuspert sich)) Israeli händ dänn natürli anderi Sittene gha dass wier katholische Bergchind //mhm// ((Getränk wird eingeschenkt)) mini Kollegin isch au @ähnlich ufgwachse wien ich wahrschiindli uf jedä Fall au nie bi=ne=me andere glandet@ detä (.) wier händ dänn eifach gseh (1) dass das üschi wier sind äppe viellicht 20 Persone gsi derä Volontäre //mhm// dass da die (.) än Teil vo denä Schwiizer Volontäre jede Abend us=emä andere en andere Junggsellehuus verschwinden und so, //mhm// jaja guet das wier händ dänn au wieder hä? was isch jetzt da los? oder //@(.)@// aber au nid mit@gmacht@ wänn mer mä muess ja ufpasse dass::: oder @(1)@ und dänn händ wer (1) äh:: ja (.) das eifach beobachtet wier händ eigentlich meh beobachtet (443-469)
Sr. Heidi fährt weiter, indem sie die Arbeitsmoral der Schweizer Volontäre aus der Sicht der Israelis positiv bewertet. Nachfolgend äußert sie sich in distanzierender Weise über die Promiskuität der Schweizer Volontärinnen. Der von ihr verwendete Begriff „Männerzimmer“ scheint erklärungsbedürftig zu sein, worauf sie in einer längeren Hintergrundkonstruktion den Aufbau eines Kibbuz hinsichtlich der verschiedenen Häuser für die unterschiedlichen Altersgruppen beschreibt. Beeindruckt zeigt sich Sr. Heidi von der Kollektiverziehung im Kibbuz, welche sie als einen gelungenen Gegenentwurf zur in der Schweiz üblichen patriarchalischen Kleinfamilie darstellt. Darin eingelassen, zeigt sich nicht nur eine gewisse Offenheit neue Erziehungsformen betreffend, sondern auch hinsichtlich der Idee eines egalitären Geschlechterverhältnisses. Den Kibbuz bewertet sie in seiner Andersartigkeit aber nicht als besser, sondern als gleichwertig („das isch meini au es System wo wo guet funktioniert“). Nach dieser Hintergrundkonstruktion distanziert sie sich mithilfe einer soziokulturellen und sozialräumlichen Verankerung („wier katholische Bergchind“) deutlich von der Sexualmoral der Israelis und nochmals von der sexuellen Freizügigkeit einiger anderer Schweizer Volontärinnen. Über die katholische Moral wird also eine Differenzkonstruktion vorgenommen (Schamhaftigkeit vs. Schamlosigkeit). Ihre Freundin, die aus demselben katholischen Milieu stammt, dient ihr dabei als Vergewisserung ihres Standpunktes. In der narrativen Belegerzählung, in der die beiden als Beobachterinnen mehrerer Tändeleien auftreten, zeigen sich sowohl naive Verwunderung („hä? was isch jetzt da los?“) als auch Ängste im Hinblick auf die vorausgeahnte Schande („mä muess ja ufpasse dass::: oder“). Darin zeigt sich die Vorstellung, dass Sexualität für Frauen eine gefährliche Komponente hat und dass diese die Folgen sexueller Handlungen zu tragen haben. Über das nach Bestätigung suchende „oder“ spricht sie die Interviewerin als weibliche Verbündete an.
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und derna händ=wer au festgstellt dass es plötzlich nach nach sechs Wuche händ die meiste Schwiizer dä Koller kriegt; weiss nid öb dä Kibbuzkoller oder dä Wüestekoller? und d’H und wier so hät mini Kollegin gheisse vo X-Dorf au (.) wier händ das eifach au so wieder voll Erstuune festgstellt (.) dass da wieder äppis anders ablauft wo bi ünsch gar nid gross betrifft, aso wier händ kei Koller gha //mhm// irgendswie sind wier ich weiss au nid werum (.) äh:: isch ä beschränkti Ziit gsi und ünsch hät das nid usgmacht dass mer jetzt da eifach da in dem Gebiet inne sind; und halt nid immer usechönd //mhm// wier händs eifach nur festgstellt dass bi dä andere das (…) nid so guet geit aber ünsch wier sind guet düre cho //mhm// (469-479)
Es wird immer deutlicher, dass sich Sr. Heidi und ihre Freundin H (sie wird hier zum ersten Mal mit Namen genannt) als eigene Untergruppe innerhalb der Gruppe der Schweizer Volontäre versteht. Wiederum konstruiert sie aus einer Beobachterperspektive heraus eine Differenz zwischen ihnen beiden (wir) und den anderen, diesmal über den Kibbuz- bzw. Wüstenkoller. Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit scheint den beiden Freundinnen weniger auszumachen als anderen Volontären. Es dokumentiert sich hier eine Kultur des Durchhaltevermögens. Obwohl sie an dieser Stelle nicht so argumentiert, könnte wiederum das mit der Freundin geteilte soziokulturelle und sozialräumliche Milieu ihr Orientierungsrahmen für die Differenzkonstruktion sein. mä hät dänn i derä Ziit au chöne Reise mache und s’Land känne lernä, //mhm// und das hät mich au sehr interessiert //mhm// entweder uf eigeni Fust zweite? dür ganz Israel die Städt go aluege (.) oder dänn hät mer au mit Kibbuz sälber au mal ä Reis gmacht im Lastwage //mhm// im Lastwage //@(.)@// hine inne @(1)@ Zält mitgno oder nid //mhm// und dänn chan ich mich erinnere wo mer mal so=ne Reis °gmacht händ° ((Geräusch)) (2) dänn sind wer (1) äh (.) in das (1) än die Teich cho, wo e Verbindig ä engä Tunnel düre geit bis nach Jerusalem; ich weiss aber nüme wie där heisst sind äppe 500 Meter wiite Wassertunnel wo s’Wasser von=eme Teich in d’Stadt ine gfüehrt hät //mhm// das existiert no, chan ine dä Name aber leider nid säge //mhm// dänn händ wier da en Expedition derdür gmacht; //mhm// mit em Kibbuzleiter (.) das macht mer schiinbar eso das isch es Erlebnis da so en enge Tunnel da zum Teil hät mer dänn da so müesse laufe //@(.)@// also würkli das isch grad eso so breit gsi //mhm// und unne häts no Wasser ghä, (.) und dänn hät mer ä Cherzä in d’Händ kriegt und dänn isch mer 500 Meter also doch immerhin en halbe Kilometer //mhm// dür die Tunnel derdüre eis nach hinder em andere also meh hät nid chöne näbenenand laufe; //mhm// wie=nen (Schärre). @das isch doch au spannend gsi@ oder; aber uf eimal hän ich gmerkt dass das Wasser so stiigt, dass s’Wasser wo wer zerst guet d’Füess //ui ja// dine gsi sind isch immer höcher worde //ähä// dänn hän ich dänkt was isch jetzt da los? //mhm// süscht hät me s’Wasser da ueche ghä //mhm// da isch dänn no so viel gsi für
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dä Chopf //mhm// vorne dra isch au en Gruppe gsi und hät scho äh langsam fast äs bitz Panik kriegt //mhm// denkt äppis mues stimmt glaubi nid ganz //mhm// das setti nid si dass es eso viel Wasser in dem Kanal dine isch; wenn das wenns noch zweche Zentimeter stiigt versufe=wer denn; //jaa// (.) aber dänn muess irgendäswo än (1) s’Wasser nid rächt än- ich hän emal ghört es seg irgendwo en Ibruch gsi ähh äppis Schotter zuecho hät äppis zuegmacht uf jedä Fall isch es nid ganz en Normalzuestand gsi; wier sind dänn zwar us däm (.) Tunnel wieder führe cho ohni z’vertrinke. @Gott sei Dank@ aber pflätschnass bis z’oberst //mhm// Chleider und das Wasser isch chalt gsi; //mhm// ich chan mi erinnere (
) ah jetzt muesch eifach ufpasse blieb ruhig Bluet; //mhm// düre isch
wie es Abentüür gsi //mhm// dä Andere nah und davorne schreien=sch zwar aber es es geit fürschi, derna sind wier zu dem Tunnel usecho, und ich hän gschlotteret wie verruckt, es isch e so underchüelt gsi efangs //mhm mhm// (479-515)
Die Weiterführung der biographischen Erzählung über ihre Reisemöglichkeiten in Israel relativiert die beschränkte Bewegungsfreiheit. Die folgende längere exemplarische Erzählung über einen Ausflug des Kibbuz in einen Wassertunnel weist hohe narrative Anteile auf. Es scheint, dass Sr. Heidi die bedrohliche Situation des steigenden Wassers nochmals durchlebt. Sie schafft es, sich selbst zu beruhigen und unversehrt aus dem Abenteuer herauszukommen (wie die anderen auch). und dänn häts @(.)@ dernöchi en::: isch dänn derzwüschet der Lastwage zringob gfahre mit trochne Chleider i gschwind trochni Chleider gfasst und dernaa dänkt so jetzt muess ich mich chöne umzieh; (.) und dänn isch in dr nöchi es das isch äs Araberrestaurant gsi //mhm// mit Araber und d’Araber sind ja so wie d’Araber sind die sind au immer allne Mäitli naa; i dem Israel da hät mer immer en Schwarm vo dernä Männer ghä vo mä hät müsse abwe- aber uf jedä Fall hät dä gmerkt dass wier pflätschnass hwhwhw //mhm// hän dörfe in s’Hüüsli mich go umzieh (.) das isch nume so es grusigs Hüüsli gsi miteme Loch uf em Bode; aber das isch mer gliich gsi; ha ich döfe us- umzieh mich warm alege und wieder use und ich muess säge ich säge ihne ich bin (.) ich bin so dankbar gsi dem Araberwirt //mhm// und denä Männer det inne dass ich hän dörfe mich detä go go go go:: umzieh ich muess eifach säge det hän ich (2) eifach de ah danke vielmal dass ihr mich heit la da iigah //mhm// das hän i au nie vergässe denä denä Araber; //mhm// äh:: Beiz oder was au immer wo ich ja suscht nid inneghört hätti //mhm// i=ne so=nes Lokal //mhm// dass mer sich hät dörfe go wächsle und denn isch es derna wieder gange und s’Abentüür isch überstande gsi (.) ich chan nid säge es isch irgend für mich än (3) ja (.) ich hä no (
) ich vertrinki würklich; //mhm// aber gwüssi Lüüt händ glaubi die
Angst ghä wo det inne gsi sind; //mhm mhm// aber es isch au es Erlebnis, won ich nüme vergässe //mhm// muess ich säge däm Israel (515-536)
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Thematisch fährt Sr. Heidi mit der Erzählung über den Ausflug zum Wassertunnel weiter, fokussiert jedoch die Problematik, sich in der Öffentlichkeit umzuziehen. Ihre Nacktscham verunmöglicht es ihr, in einer gemischtgeschlechtlichen Gruppe ihren Körper zu entblößen. Weder die Ausnahmesituation noch das Kollektiv bewirken eine Überwindung ihres Schamgefühls. Im Gegensatz zum gleichgeschlechtlichen Saunabesuch sind die Grenzen hier klar gesetzt. Ihre sittliche Haltung macht sie aber erfinderisch, sie sucht in einem arabischen Restaurant Zuflucht. In der nun folgenden Hintergrundkonstruktion schreibt Sr. Heidi den Arabern die kollektive Eigenschaft zu, jungen Frauen gegenüber ihr sexuelles Interesse offen zu äußern („und d’Araber sind ja so wie d’Araber sind die sind au immer allne Maitli naa“). Mit diesem „au“ weist Sr. Heidi darauf hin, dass nicht nur die jüdischen Israeli, sondern auch die Araber in Israel den Mädchen nachsteigen. Die von Männern ausgehende Zudringlichkeit gegenüber Frauen scheint sie als kulturelle Praxis Israels zu verstehen. Die Konsequenz für (anständige) Frauen besteht nach Sr. Heidi darin, sich in Israel ständig gegen die männlichen Annäherungsversuche zu wehren. Über diese Hintergrundkonstruktion zeigt Sr. Heidi ihre innere Not, der sie sich ausgesetzt fühlt (Aufrechterhaltung ihrer Schamhaftigkeit), und den aus dieser Not entstandenen Mut, sich ausgerechnet bei den (in ihren Augen ebenfalls aufdringlichen) Arabern Hilfe zu suchen. Ihre in direkter Rede formulierte und szenisch präsentierte, fast religiös anmutende Dankbarkeit („danke vielmal dass ihr mich heit la da iigah“) für den unbehelligten Einlass in einen ansonsten klar männlich definierten Raum weist nochmals deutlich auf ihr Dilemma hin. Erst mit dem unter Aufrechterhaltung ihres Schamgefühls erfolgten Wechsel der Kleider ist für Sr. Heidi das Abenteuer dieses Ausflugs beendet. (2) und derna (1) äh (.) detä ahja @(1)@ ((Geräusch im Hintergrund)) in Israel (.) wo wier da also am Afang wo da hän ich also meh Angst ghä (1) dänn sind wir da wo mer acho sind i dem Israel; häts gheisse es isch dänn Nacht gsi, wo wer in die Hüttene verteilt worde sind wo wer händ als als Volontäre chöne schlafe //mhm// häts gheisse wier müssed dänn ufpasse es heg au Schlange //@(.)@// dä hät mer wier natürlich s’richtige Stichwort gäh //@(.)@// Schlange (.) giftigi //@(1)@// z’Nacht wä=mer nüüd gseht //@(.)@// und underem Spalt vor derä Baragge wo wier ünschi Britsche gha händ //mhm// und dänn übrigens mit mit irgendwie anderne Volontäre zäme gschlafe wo Französisch gred händ das isch ja no gange zwei drü Wort hät mer chöne //mhm// aber det une bi dä Türe häts ä so nen Spalt gha und dä hän ich s’Liecht gseh und dä het doch chöne e Schlange inecho. //@(.)@// ich hän die ganz Nacht nüt gschlafe, wills da chönti giftigi Schlange hä, //mhm// oder. das isch än absolute Stress gsi (…) die ersti Nacht //mhm// also detä hän ich meh Todesängst ghä dass en dem an dem mh:::::: äh:::: Wasserkanal dine wo s’Wasser eim
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scho bis bis fast bis an Hals ue cho //@(.)@// da isch ä Schlange wo dänn eifach einem chan cho go bisse und dänn stirbsch also dänn heimers dänn @(2)@ aber es hät denah nie Schlange gha das hät sich dänn beruhiged. //@(1)@// @(1)@ das hät sich beruhigt hän also nie en Schlange gseh (.) ja ja aber detä in dem Israel hät me eifach ou würkli ganz ä anderi Welt könneglärned //mhm// au mal isch also würkli en en=so en Vogelspinne wo so gross isch wie e Hand, //mhm// isch da eifach emal würkli ähm im Näbezimmer @irgend einere@ eso in in s’Zimmer inemarschiert //mhm// ja guet (.) dänn springt mer wahrschiindli also ich hän nid zuegluegt wills ja nid i mim Zimmer gsi isch //@(.)@// @isch dänn würklich uf s’Bett uf- ufägschdande@ und hät gschraue //mhm// oder so Sache oder es es sind einem dä ä Ameisestrass isch wier eifach mitte übers Chüssi glüffe //mhm// das isch da bi dä Britsche ufecho //mhm// z’Bei und da über dä Chopfteil durä ä ganzi Strass? //@(1)@// und uf dä andere Siite wieder ab @(1)@ @nid eso Züg ebä@ //@(1)@// ich hän dänkt was mache=mer jetzt? ich meine wier sind ja a allerlei gwöhnt i dä Bergä, wämers äppe so mal inere Alphüte übernachtet isch //mhm// isch au nid alles eso (1) aber gliich Lüüt wie wännd sie schlafe wänn ä Ameisestrass drüber hät //@(2)@// ja also @(1)@ @das das isch aso ja guet@ dänn sind mer halt gange und dänn häts gheisse ja mer müess mit Petrol //mhm// äh detä wo die Ameise usechömed @nid wosch higänd@ //mhm// äs bitzeli druf tue und dänn hör=is uf //mhm// und das händ wier dänn gmacht. //mhm// und dänn hät mer die Amesch- äh die Ameisestrass isch dänn underbroche worde und dä Restä isch no durä @marschiert (
) @ ja ja //@(1)@// so Züüg händ wer also
äh oder wänn mer detä hät müesse (.) uf z’WC; z’WC isch dänn so=nes Hüttli so wie da sones Bauhüttli näbed us gsi //mhm mhm// äh guet also wier sind nid eso ufgwachse dass mer uf s’WC geiht und Türe lat mer offe; //mhm// (1) also die Tür isch eifach mängmal zwei drei Meter wiiter dune gläge; dänn hät mer mal zerscht mal müsse die Türe go hole @hät mer die ufebuglet@ und dra gstellt und derna isch mer würkli no so en grosse Frosch in der WC-Schüssle dine ghockt //mhm @(1)@// also guet dänn hät mer mal müesse luege dass die Frosch die Hobschel wier säged dem Hobschel //mhm// die Hobschel usechunt und derna die Tür anestelle und die Tür mit einem Fuess hebä und dänn hät mer dänn chöne (1) ja (1) s’Gschäft verrichte wie mer hät welle //@(.)@// also eifach so Züg aber ich hän mich hät das gliich immer interessant dunkt und das hät //mhm// mer eigentlich kei Schwierigkeite gmacht; ebä nur die ersti Nacht die Angst vor giftige Schlange wo eime chöned bisse und dänn wird mer mal dävor gwarnt aber dänn isch es doch ernst //mhm// oder au in dem Kibbuz hät s::: mer so gmeinsami Duschene, zum Glück Männer und Fraue trännt, das isch dänn gange; dänn weiss i au dänn häts eimal es nuh:: Gekreische gäh; und dänn isch z’Wasser bim Ablauf überlüffe (.) dänn häts gheisse ühhö lueged mal det inne isch ä Kröte grad uf=em Ablauf also än Pflätsche en grosse Hobschel //@(.)@// dänn händ sie gseit was müessemer jetzt mache? @(1)@ @ja dass das Wasser wieder ablauft ja dänk dä Hobschel äweg näh@ //@(.)@// guet das hän=i dänn sälber gmacht äh:::: än Wäschplätz die Frosch oder Hobschel go hole und die ((macht ein
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Sauggeräusch)) @vo dem Ablauf wägnä und zur Türe us@ und dänn isch das Züg wieder glüffe //mhm// also es isch in dem Israel eigentlich (2) rudimentärer zue- und hergange das was bi ünsch diheieme uf dä Alpe ja das mues ich säge //mhm// aber es isch es Erläbnis gsi; (536-602)
Sr. Heidi fährt mit narrativen Erzählungen über besondere Erfahrungen während ihres Aufenthalts in Israel fort. Über die Thematisierung der örtlichen Tierwelt (Giftschlangen, giftige Spinnen, Ameisenstraße, Frosch, Kröte) und der einfachen sanitären Anlagen im Kibbuz konstruiert sie eine Differenz zwischen Israel und ihrem Herkunftsland bzw. ihrem sozialräumlichen Herkunftsmilieu. Israel ist für sie nicht nur „ä anderi Welt“, sondern eine „rudimentärere“ als „bi ünsch diheime uf dä Alpe“. Damit definiert sie ihr Herkunftsmilieu als bescheiden, aber nicht als rückständig. Im Umgang mit Neuem, Fremdem zeigt sie sich kreativ, die Grenzen, an die sie stößt, scheinen hier wieder plastisch zu sein. (.) und wänn mer dänn äh au die nach Jerusalem und all dene wichtige Stätt hät chöne gah //mhm// oder Masada und all das (1) da bin ich das hät mich au interessiert //mhm// aber es hät mich au abgstosse (2) und zwar da die Chilchene überall wird irgend dä Fuessabdruck vom heilige Josef, (1) Sch::: äh d’Stei wo d’Muetter Gottes druf gsässe isch, dä Berg wo dä Jesus dobe gsi isch //mhm// (
) alles wird vermärtet //mhm// (1) überall än u Truble
überall es nu Gschäft überall ä hufe Souvenir wo verchauft werdäd das hät mich als junge Mensch abgstosse ich hän dänkt //mhm// wo chan mer da würklich in Rueh //mhm// äh stille si oder au emal äppis bätte obwohl ich früener da nid eso viel hän wellä bete (.) aber wo isch dänn eigentlich der Ort wo mer es bitzeli ä gwüssi Heiligkeit spürbar isch //mhm// es isch eifach alles Gschäft //mhm// das hät mich als 20-jährigi ehnerd es bitz abgstosse //mhm// muess ich säge //mhm// (602-615)
In der positiven Bewertung ihres Besuchs der heiligen Stätten Jerusalems zeigt sich bei Sr. Heidi wieder ihr Interesse an Neuem, Fremdem, Anderem („interessant“, „spannend“). Die Vermarktung der heiligen Stätten bewertet sie jedoch negativ. Zu ihrem negativen Gegenhorizont gehört nicht nur die ökonomische Ausbeutung, sondern der dadurch entstehende Verlust der spirituellen Dimension dieser Orte. Interessant ist ihre erneute Distanzierung von der Religiosität („obwohl ich früener da nid eso viel hän wellä bete“). Wiederholt versucht sich Sr. Heidi als „normale“ Jugendliche darzustellen. aber suscht isch äh spannend; sind wer dänn nach drii Monät wieder gsund und munter und ohni jegliche Schade heicho @(1)@ //@(1)@// @würkli also ich@ muess säge wier sind eifach (1) bravi, also ich bin sicher es bravs (.) harmloses (.) Bergchind gsi.
190 | A NDERE W EIBLICHKEITEN //@(1)@// wo immer no (.) obwohl ich mis Läbe scho sälber in d’Händ gno hän; also ich bin nid frömdbestimmt gsi; //mhm// ich hän eigentlich immer sälber (1) das möcht ich jetzt mache //mhm// und das mach ich jetzt au wänd Muetter jetzt viellicht Angst hät //mhm// (1) oder äh aber ich mache nid eso dass d’Eltere eso nä Chumer händ dass sie gränned und fast in s’Grab sinket //mhm// das sicher nid //mhm// aber ich hän eigentlich mis Läbe scho sälber in d’Händ gno; sälber entschiede was ich will //mhm// das was mich interessiert; //mhm// (1) oder au das underlah wo wier (.) s’G- Gwüsse nid zueglah hät //mhm// damals. //mhm// (616-627)
Sr. Heidi fährt evaluativ weiter, indem sie sich damals wie heute als „bravs (.) harmloses (.) Bergchind“ bezeichnet. Ihre Sittsamkeit bringt sie wiederholt in Verbindung mit ihrem sozialräumlichen Herkunftsmilieu. Wie bereits oben bedarf diese Selbstdarstellung einer Berichtigung. Im Zentrum der Korrektur steht diesmal weniger ihre Experimentierfreudigkeit, sondern vielmehr ihr selbstbestimmtes Handeln („obwohl ich mis Läbe scho sälber in d’Händ gno hän; also ich bin nid frömdbestimmt gsi“). Sr. Heidi versteht sich zwar als tugendhafter, nicht aber als unmündiger Mensch. In ihren Ausführungen wird allerdings deutlich, dass ihrer Autonomie Grenzen gesetzt sind. Sie will weder ihre Eltern enttäuschen noch ihr Gewissen zu stark strapazieren. Letztlich sind ihre Grenzen im sozialräumlichen Milieu des katholischen Bergdorfes zu suchen. Interessant ist, dass sie am Ende dieser Passage ihr selbstbestimmtes Handeln zeitlich lokalisiert („damals“). Im Zusammenhang mit ihrer antizipierten Biographie deutet dies darauf hin, dass sie sich aktuell nicht mehr als autonom handelnde Person versteht. Thema 8: Sekretärin im Hotel P (627-669) (1) und derna wo mer vo däm Kibbuz zrug cho sind, (.) hän ich dänn müesse ä Stell sueche, (1) und dänn hän ich ghört dass ebä in dem Hotel P sie än Sekretärin suechend; vo dr Schwester D won ich scho ghört äh kännt hän därvor //mhm// hän ich dänkt aha (.) P Hotel Hotel-Sekretärin das wär no würd mi scho no interessiere //mhm// das:: würd wier ganz ligge dänn hän ich mich detä beworbe, //mhm// bin au herä cho, (627-633)
Nach dem Kibbuzaufenthalt sieht sich Sr. Heidi der Notwendigkeit ausgesetzt, eine Arbeitsstelle zu suchen. Sie muss sich aber nicht aktiv darum bemühen, da die freie Stelle als Sekretärin im Hotel P sozusagen an sie herangetragen wird. Die Art und Weise, wie sie über das ihr aus der Kindheit im positiven Sinne bekannte Hotel P spricht, deutet darauf hin, dass ihr Interesse an der Stelle weniger in ihrer beruflichen Orientierung als vielmehr im Ort und in dem, was sie mit diesem Ort verbindet, zu suchen ist.
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chum bin ich detä gsi isch d’Oberin wo ja eigentlich au än hufe Arbet gmacht hät detä //mhm// da als Priorin oder damals als Frau Muetter dahäre gwählt worde, //mhm// also isch die wäg cho und ich bin grad herägrutscht also bin ich detä hän ich müesse enä Stell herä wo d’Chefin fählt; aber nid ich hän müesse d’Chefin natürlich spiele sondern dänn isch dänn än anderi Schwester Oberin worde aber ich hän müesse än u hufe Arbet eigentlich dänn müesse übernäh //mhm// also ich bin rächt gforderet gsi //mhm// (633-640)
Im Zentrum der Fortsetzung der Erzählung stehen zunächst nicht der Hotelbetrieb oder der konkrete Inhalt ihrer Arbeit, sondern der Leitungswechsel des Hotels und die damit verbundene Übernahme eines großen Teils der anspruchsvollen operativen Aufgaben ihrerseits. Sowohl den Leitungswechsel als auch ihren Aufgabenbereich formuliert Sr. Heidi nicht selbstbestimmt. Sie übernimmt die ihr aufgetragenen Aufgaben aber in selbstverständlicher Weise, auch wenn sie diese sehr beanspruchen. Obwohl Sr. Heidi (noch) nicht im Kloster ist, zeigt sich hier eine typisch klösterliche Argumentations- und Handlungslogik, die im Gehorsamsgelübde basiert. aber das isch vielsiitig gsi Hotellerie das Hotel hät au en hufe Gäscht gha, isch immer glüffe aber da das hät mir gfalle //mhm// bin mindestens äppe zwei Jahr detä (.) gsi als Hotelsekretärin; //mhm// Lüüt känneglärned; (1) ja. wie::: dätä sind das isch damals no inter- äh guet gsi in Z-Dorf da häts dä Ärztekongress ghä da häts än hufe Ärzt ghä //mhm// us us Düütschland hauptsächlich //mhm// dänn sind dä die die (.) ähm im Ärztekongress häts au immer so:: äh Referänte gäh wo ower ganz bstimmti Themene so gstudierti Herre, au renommierti Autore zum Teil, //mhm// hän i dä später gmärkt da wo bi dä Büecher gseh und ähä dä Herr känn i au dersäb au dä isch ja au mal bi ünsch gsi die händ dänn au vielmal im Hotel P logiert //mhm// dänn isch mer mit Lüüt in Kontakt cho wo eifach än (2) wiitere Horizont gha händ und wänn mer an dä Resup- äh Rezeption gsi isch, bin meistens au detä gsi, (1) da isch alles öpe am gliiche Ort //mhm// ähm d’Verwaltig isch mit dr Rezeption kombiniert gsi //mhm// dänn hät mer mit denä Lüüt vielmal am Abend Fiirabend wänn dä grossi Trubel verbii gsi isch dänn sind viellicht heicho oder in dä Lobby gsässe oder in der nöchi dänn hät mer Kontakt kriegt dänn sind=s cho go redä und so isch eifach spannend gsi //mhm// mal es bitzeli Züüg mitbecho äh:::: Künstlerinne häts gäh (.) ganz verrückti Fraue @(.)@ oder äh::: Chlosterfraue die Frau die Schwester I da us Düütschland wo ja so e Hufe derä Büechli gschriebe hät hän i au jahrelang erläbt (1) eifach interessanti Lüüt //mhm// das isch guet gsi //mhm// (640-661)
Trotz der anspruchsvollen Arbeit bewertet Sr. Heidi ihre Zeit im Hotel P positiv. Der Grund dafür liegt ihren Angaben zufolge in der Vielseitigkeit ihrer Tätigkeit und der guten Belegung. Dies führt offenbar dazu, dass sie gut zwei Jahre im
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Betrieb arbeitet. Über die alltägliche Arbeit ist in Sr. Heidis Erzählung wenig zu erfahren, umso mehr über ihre Kontakte mit den interessanten, internationalen, studierten, renommierten, künstlerisch begabten und verrückten Gästen. Im Zentrum ihrer Erzählung steht also weiterhin das Neue, Fremde und Besondere. Bemerkenswert ist die geschlechtsspezifische Beschreibung der Hotelgäste: Männer sind studiert und renommiert, Frauen verrückt. andersiits hät mer natürlich au intern müesse luege dass e sone Betrieb überhaupt wirtschaftlich über d’Rundi chunt //mhm// das isch es gro::sses Problem (…) hät mer zwenig Finanze ghä //mhm// (.) dät hän ich glärned rächne meine Güte //@(.)@// guet @(2)@ //@(1)@// also ä Betrieb in Schwung halte mit allem mit Agstellte //mhm// dass es ufgeit bis am Schluss also das forderet einiges; det hän=i gseh dass es da nid eso guet lauft; //mhm// guet; aber ich hän ja nid vo minem jung- jugendliche Alter alles chöne (
) das
isch ja nid a wier gsi //mhm// ich häns eifach festgstellt //mhm// (661-669)
Nach der positiven Evaluation ihrer Kontaktmöglichkeiten mit den Hotelgästen fährt Sr. Heidi mit dem Begriff „anderersiits“ weiter. Dies impliziert, dass nun die negative Seite ihrer Tätigkeit im Hotel P folgen muss. Sie problematisiert denn auch die wirtschaftliche Rentabilität des Hotelbetriebs, für die sie offenbar zuständig ist. Damit gibt sie einen inhaltlichen Aspekt ihrer Tätigkeit preis, der in Richtung Management führt. Ihren Aufgaben, sich mit Finanzproblemen auseinanderzusetzen und Finanzierungsmöglichkeiten zu suchen, kann sie einen Kompetenzzuwachs abgewinnen („dät hän ich glärned rächne meine Güte“), Freude daran scheint sie aber nicht zu haben. In der abschließenden Evaluation entbindet sie sich von der wirtschaftlichen Verantwortung für das Hotel und begründet dies mit ihrem jungen Alter und der damit einhergehenden fehlenden Erfahrung. Zwischenfazit (313-669) Der Umstand, dass Sr. Heidi ihren Berufsfindungsprozess weitgehend alleine bewältigt (zusammen mit der Berufsberaterin) und von ihren Eltern anscheinend keine Förderung in Bezug auf ihre intellektuellen Fähigkeiten erhält, weist erneut auf ein einfaches und eher bildungsfernes Milieu hin. Ihre Entscheidung, eine kaufmännische Lehre zu absolvieren, begründet sie mit der Verwertbarkeit der Ausbildung. Darin zeigt sich hinsichtlich ihres Lebensentwurfs zwar eine gewisse Berufsorientierung, da die Verwertbarkeit der Ausbildung sowohl Existenzsicherung beinhaltet als auch eine Weiterbildung offenlässt. Eine Berufsoder gar Karriereorientierung als biographisches Projekt lässt sich jedoch nicht
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erkennen. Beruf und Karriere als Möglichkeiten der Selbstverwirklichung fehlen in ihrer Begründung für die Wahl ihrer Ausbildung gänzlich. Darüber hinaus formuliert sie kein konkretes Berufsziel. Die These, dass sich bei Sr. Heidi zwar eine gewisse Berufsorientierung zeigt, diese aber nicht zu ihrem zentralen Lebensentwurf erhebt, zeigt sich auch darin, was sie während und nach der Ausbildung thematisiert bzw. nicht thematisiert. Weder die Lehrstelle bei der Versicherung noch die Berufsschule finden Eingang in die weitere lebensgeschichtliche Erzählung, bis auf die verhalten positive Evaluation der Berufsausbildung insgesamt. Im Mittelpunkt ihrer Erzählung stehen UStadt und die mit dieser Stadt verknüpften neuen Erfahrungen. Das Neue am sozialen Erfahrungsraum Stadt ist das vom Elternhaus und anschließend vom stark reglementierten Studentenheim unabhängige Wohnen sowie Veranstaltungen und Orte, die sich in X-Dorf nicht finden lassen. Trotz ihrer Verankerung in X-Dorf sucht sie Erfahrungen, die über die Begrenzung ihres Heimatortes hinausreichen. Ihre Orientierung am Neuen zeigt sich auch unmittelbar nach der Ausbildung. Indem sie sich für ein Volontariat in einem Kibbuz in Israel entscheidet, sprengt sie nicht nur die Grenzen ihres Heimatortes, sondern auch diejenige der Schweiz. Sie zieht nun in die große weite Welt hinaus. Die Aufnahme der beruflichen Tätigkeit nach dem Kibbuzaufenthalt dokumentiert zwar ein berufsbezogenes Handlungsschema, aber eines, das sich weder durch gezielte Planung noch durch Interesse am beruflichen Kerngeschäft auszeichnet. Im Zentrum ihrer Erzählung stehen vielmehr der Ort, der ihr aus der Kindheit in bester Erinnerung ist, und ihr Interesse an den Hotelgästen, also wieder am Neuen, Unbekannten, Besonderen. Da Sr. Heidi nicht nur eine bescheidene Berufsorientierung aufweist, sondern auch wenig Interesse an einer Partnerschaft zeigt und keine Hinweise in Richtung Familiengründung zu finden sind, sie sich aber für Neues und Fremdes (Hotel, Vorträge, Sauna, Reisen) interessiert, kann ihre Orientierung vorläufig als „hedonistisch-sozial“ (vgl. Goebel 1997) bezeichnet werden.27 Bei genauerer Betrachtung ihrer Neigungen lassen sich zwei Hinweise finden, die für ihren biographischen Entwurf relevant sein könnten. Zum einen zeigt Sr. Heidi eine Affinität zu lebensphilosophischen Fragen (esoterische Veranstaltungen), und zum anderen erwärmt sie sich für gemeinschaftlich-kollektive
27 Der Begriff ist m. E. nicht unproblematisch, da er sehr weit und damit unpräzise gefasst ist. Es stellt sich z. B. die Frage, ob religiöses Interesse und ein daraus entstehender Lebensentwurf, der ebenfalls weder dem produktiven noch dem reproduktiven Bereich zuzuordnen ist, ebenfalls unter der hedonistisch-sozialen Orientierung zu fassen ist. Der Begriff soll hier im Sinne eines heuristischen Konzepts verwendet werden.
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Lebensformen (Kibbuz, Hotel P). Sie selbst schreibt dem aber keine biographische Bedeutung zu. Vielmehr versucht sie über ihr katholisches Herkunftsmilieu und den darin verankerten kulturellen Praxen sowie über ihre Begegnungen mit Schwestern (Kindergärtnerinnen, Hotel P, Studentinnenheim) biographische Kontinuität herzustellen. Sr. Heidis Suche nach Neuem und Anderem weist sie aber zugleich in ihre (alten) Schranken. In ihren Erzählungen wird deutlich, dass sich das Neue ihrer Erfahrungen jeweils vor dem Hintergrund des ihr Bekannten entfaltet (Stadt– Bergdorf, Esoterik–Katholizismus, Israel–Schweiz, Promiskuität–katholische Sexualmoral). Dabei stößt sie oft an Grenzen. Diese Grenzen werden ausgelotet im Sinne von zugänglich–nicht zugänglich, dehnbar–nicht dehnbar. Eine Grenzöffnung oder eine Orientierungsänderung lässt sich aber nicht feststellen. Im Gegenteil: Das Neue ihrer Erfahrungen verankert Sr. Heidi nur noch stärker in ihrem sozialräumlichen Milieu. Obwohl sie den Ausbruch aus ihrem Herkunftsmilieu sucht, zeigt sie sich in zunehmendem Maße als „katholisches Bergkind“. Worum es hier geht, ist letztlich die Suche nach sich selbst. Ihre Identität, die Sr. Heidi zu Beginn ihrer biographischen Erzählung über die Identifikation mit dem katholischen Herkunftsmilieu entfaltet, entwickelt sie nun zusätzlich aus der Abgrenzung (von ebendiesen neuen Erfahrungen) heraus. Besonders eindrücklich zeigt sich dies in ihren Erzählungen über die sexuelle Freizügigkeit im Kibbuz. Sie grenzt sich gegenüber biographischen Verläufen mit heterosexuellen Erfahrungen radikal ab. Die Schweizer Volontärinnen dienen ihr dabei als Negativfolie für ihre bisherige und antizipierte Biographie. Indem sie die aus demselben Milieu stammende Freundin als Nachweis für die Richtigkeit ihrer moralischen Vorstellungen heranzieht, sichert sie ihre prekäre weibliche Identität ab. Die Abspaltung ihrer Sexualität bewältigt sie – wie sie auch selbst erwähnt – über andere Interessen. In diese prekäre weibliche Identität eingelassen sind Sr. Heidis geschlechtsspezifische Dichotomisierungen und Zuschreibungen. In der Tendenz werden Männer (ob nun positiv oder negativ konnotiert) als machtvoll, aktiv und als Täter beschrieben, Frauen erscheinen als unterlegen, passiv und als (z. T. selbst verschuldete) Opfer. Gleichzeitig distanziert sie sich von Ordensschwestern und stellt sich – obwohl tugendhaft – als interessierte, abenteuerlustige, reisefreudige (und nicht etwa religiöse, langweilige) junge Frau dar. Auch ihr Erzählmodus, der zu großen Teilen an der Logik des Besonderen orientiert ist, weist in diese Richtung. Dies sind erneut Hinweise dafür, dass sie sich vom typischen Klosterfrauenklischee abgrenzen will. In diesem ständigen Wechsel von Identifikation und Abgrenzung, Herstellung von Kontinuität und Distanzierung, Orientierung am Neuen, Fremden und Verankerung im Bekannten scheint Sr. Heidi einen Weg zu suchen, sich als (Kloster-)Frau zu legitimieren.
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Thema 9: Berufung und Ordensausbildung (669-842) (2) und nach äm dere Ziit; (2) ((räuspert sich)) chan ich mich erinnere (1) hän ich glaubi langsam ä gwüssi Unrueh kriegt. @so zwüsched 20 und 22@ //mhm// ä gwüssi Unrueh. //@(2)@// @(2)@ dänn uf eimal dänkt ja, wa- was jetzt wiiter also jetzt muess äppis Neus cho //mhm// nach=eme anderthalb Jahr äppe jetzt muess ich äppis anders mache, jäh ich hän dänn no Kontakt gha mit mit Schwestere vom Chloster D wo d’Fraueschuel in RStadt gfüert händ; //mhm// ja söll ich mich jetzt im soziale Bereich ä bitzeli wiiterschuele Fraueschuel mache oder irgend-äppis (2) dänn @(.)@ dänn händsch mi dänn de hän ich mich agmolde für dä Informationstag für d’Fraueschuel in R-Stadt und dänn hät d’Schwester S irgendwie händ die wahrschiindli gmeint jä ich wetti viellicht eigentlich in s’Chloster, nur merk ich das no=nid; //@(1)@// (669-680)
Etwas unsicher den Zeitpunkt betreffend, setzt Sr. Heidi ihre Erzählung dennoch chronologisch mit dem Beginn ihrer inneren Unruhe fort. Aufgrund ihres Alters und der Fragen, die sie sich stellt („wa- was jetzt wiiter“), kann ihre Ruhelosigkeit als entwicklungsstandspezifische Sinnsuche gedeutet werden. Sie selbst interpretiert ihre Unruhe als Anzeichen dafür, sich beruflich verändern zu müssen. Durch ihren Kontakt zum Kloster D, welches die Frauenschule in R-Stadt führt, rückt die Idee, sich im sozialen Bereich weiterzubilden, in ihren Denkhorizont. Auch hier zeigt sich wieder, dass nicht der Inhalt der Ausbildung bzw. des zukünftigen Berufes im Zentrum ihres Interesses steht. Darüber hinaus weist die Art, wie sie über ihre Anmeldung zum Informationstag der Frauenschule berichtet („dänn händsch mi dänn de hän ich mich agmolde“), auf Fremdinitiative hin. Die Schwestern im Hotel P deuten Sr. Heidis Krise aber nicht in Richtung einer beruflichen Veränderung, sondern als Anzeichen für eine grundsätzliche Neuorientierung ihres Lebensentwurfs. Die Idee des religiösen Lebensweges wird also von außen an sie herangetragen. @guet@ händ die mich da da herä gfüert also ich hän ä Nacht da übernachtet also ich hätti das nid gschafft vo Z-Dorf ache //mhm// in=eim Tag abe und in=eim Tag ufe //mhm// also hän ich da i däm Chloster A mal dörfe übernachte. //mhm// das Chloster A hät damals grad isch alles neu baue worde ich glaube dä ganzi Trakt neu gmacht //mhm// worde uf jede Fall chan ich mich erinnere dass da vorne im Vortragssaal d’Kapelle gsi isch; und das chan ich mich ganz guet erinnere; nid d’Kapelle detä isch wo sie würkli isch //mhm// also das isch äs Provisorium gsi; //mhm// ja guet ich hän da (.) mal ä Nacht übernachtet und dänk Zmorge und Zmittag gässe und bin wieder wiiters derna wieder wiiter //mhm// an die Fraueschuel go die Informationstag, (1) und däna wieder hei; (681-691)
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Im Zentrum der Fortführung ihrer Erzählung steht nicht mehr der Informationstag der Frauenschule, sondern ihre zukünftige Gemeinschaft. Die Schwestern im Hotel P eröffnen ihr nicht nur die Möglichkeit eines religiösen Lebensentwurfs, sondern führen sie geradezu ins Mutterhaus („händ die mich da da herä gfüert“). Obwohl es sich nur um eine Übernachtung auf dem Weg in die Frauenschule handelt, gibt Sr. Heidi der Erzählung eine andere Gewichtung. Zum ersten Mal betritt sie das Kloster A, in das sie später eintreten wird. An die im Umbau befindlichen Räumlichkeiten kann sie sich sehr gut erinnern. In einem übertragenen Sinne steht das Kloster an einem ähnlichen Punkt wie sie selbst. Es befindet sich in einem Übergangszustand, in einer Phase der Neugestaltung, oder wie sie selbst sagt: Die Kapelle befindet sich nicht dort, wo sie wirklich ist. Am Ende der Passage kommt Sr. Heidi nochmals auf den Informationstag zurück, dem sie aber keine große Bedeutung mehr beimisst. (1) und dänn isch das immer unruhiger worde @(.)@ //@(.)@// das isch also irgendwie hät detä agfange z’überlege ob ich nä- (1) ob i nid söll in s’Chloster, oder öb ich nid in s’Chloster müess; //mhm// also (1) //mhm// also ich hän eifach allmählich ei Unrueh kriegt würklich in derä Ziit (.) und immer meh also au wänn das jetzt blöd tönt viellicht für ihri Auge aber ich häns Gfühl gha ich (.) wärdi in s’Chloster (.) zoge. //mhm// beorderet. (1) ich hän äh immer das isch immer meh cho und dänkt du muesch glaub in s’Chloster, aber ich wetti ja gar nid; ich weiss ganz genau dänn gib ich mini Freiheite uf, und so wiiter chan=i nüme mache was ich will chan au nüme hürate obwohl das sicher nid grad s’Wichtigste gsi wär für mich, aber dänn also mues ich jetzt würklich in s’Chloster (.) und ich hän nid ich hän eifach s’Gfühl gha ich heig än Uftrag //mhm// ich müess jetzt gah, (.) und will ich än Ufgab im Chloster zerfülle heig //mhm// also mä chönti ja jetzt im Nachhinein säge ich heig mich mit dä Ziit eifach allmählich in s’Chloster beruefe gfühlt; oder gschickt gfühlt //mhm// (1) ich hän das nid äh bewusst gsuecht oder jetzt gang ich überall go luege oder jetzt will ich das sondern (…) Gottfriedstutz ich muess glaub=i das mache, das laat wier keini Rueh was da im Hirni ablauft oder in dä Gfühl ablauft das chan mer ja d- so nid eso genau säge //mhm// (691-710)
Nach der Übernachtung im Kloster A wird Sr. Heidis Unruhe grösser. Sie beginnt darüber nachzudenken, ob sie ins Kloster eintreten „söll“ oder „müess“. Sr. Heidis Überlegungen, ins Kloster einzutreten, sind weder durch vernunftmäßige Gründe geleitet (ein Leben mit und für Gott, ein sozial-caritatives Leben, eine tragende Gemeinschaft), noch scheint es ihre eigene Entscheidung zu sein. Sie wird, wie sie sich ausdrückt, ins Kloster „zoge“ bzw. „beorderet“, um dort einen (nicht näher bestimmten) Auftrag zu erfüllen. Man könnte sagen, es handelt sich um eine Form von Fremdbestimmung, die aber nicht an irdischen Dingen fest-
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zumachen ist. Sr. Heidi konstruiert die Fremdbestimmung als etwas Übersinnliches, ohne direkt auf Gott oder den katholischen Glauben Bezug zu nehmen. Der gesamte Prozess verläuft nicht konfliktfrei, sondern ist von inneren Spannungen gekennzeichnet. Obwohl sie einleuchtende Argumente gegen einen Klostereintritt aufzählt, entscheidet sie sich für den nicht rational zu begründenden Weg, den sie eigentlich nicht einschlagen will („aber ich wetti ja gar nid“) aber muss („ich müess jetzt gah“). uf jedä Fall isch es @isch de@ bi wier doch allmählig ziemli rasch (.) wahrschindli °wie das eso bi wier üblich isch° (.) dä Entschluss griift. //@(2)@// mich schweren Herzens //mhm// muess ich säge azmälde da, Chloster da bi dä Frau (.) Muetter ehemaligi Oberin vo da won ich da nid eso bsunders (.) °baa° //mhm// also isch eifach da d’Muetter gsi; dänn hän ich halt a ihre en Brief gschickt gschriebe ob ich in s’Chloster (.) chön cho oder was ich //mhm// i:: hän s’Gfühl gha ich müess jetzt eifach gah, ja und dänn hät sich das //((hustet))// eso ergäh söll ich wieder zue mache? //nei isch scho guet// nur es bitzli frischi Luft //ja ja isch guet// hän ich mich agmolde und dänn nach zwei Jahr (1) und bin dänn würkli hets=schi gseit ja ich chön cho go das ganze Prozedere go mache da, (.) womer (.) zerscht wird mer Kandidatin //mhm// und dänn chunt mer in s’Noviziat //mhm// und so wiiter und so fort (710-726)
Die widersprüchliche Formulierung „allmählig ziemli rasch“ ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass Sr. Heidis Entscheidungsprozess zwar ein längerer ist („hän ich mich agmolde und dänn nach zwei Jahr“), sie nach dem Entschluss aber zügig handelt. In dieser Vorgehensweise vermutet sie ein für sie typisches Verhalten. Trotz ihres Entschlusses schreibt sie ihr Aufnahmegesuch, welches sie den klösterlichen Gepflogenheiten entsprechend an die damalige „Frau Mutter“28 richtet, „schweren Herzens“. Ihren inneren Konflikt (rationale Entscheidung vs. irrationale Entscheidung; Freiheit vs. Gehorsam; säkularer vs. religiöser Lebensweg usw.) scheint sie mit dem Entscheid noch nicht gelöst zu haben. Obwohl sie sich mit der Anmeldung ins Kloster als aktiv handelnde Person zeigt, konstruiert sie ihren Weg letztlich abermals als etwas, das ihr ohne eigenes Zutun widerfährt, als Fügung. Die Passage beendet Sr. Heidi mit dem positiven Bescheid des Klosters und der an die Interviewerin gerichteten Erklärung, dass nun die Probezeit und die Ordensausbildung folgen. (1) also ich bin do uf jedä Fall dänn mit 22 glaub=i ja mit 22 im Oktober das hän ich no ufgschriebe 76 //mhm// bin ich dänn @ (.) in das Chloster cho@ (.) ja ja und dänn (1)
28 Die Generaloberin wurde früher „Frau Mutter“ genannt. Vgl. hierzu auch Kap. 2.1.
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dänn hät dänn diä würklichi Kriise agfange. //mhm// @also@ dänn isch dänn eigentlich mini also im Chloster sälber (1) also da hät mer abgschlosse nach zwei Jahr, //mhm// han s’Gfühl gha das isch würkli endgültig das isch ernst //mhm// für mich //mhm// (726-732)
Sr. Heidi nennt ihr junges Alter beim Eintritt ins Kloster und das Datum, welches sie sich für den Interviewtermin notiert hat. Ihre bereits im Vorfeld des Klostereintritts vorhandene innere Unruhe nimmt mit dem Beginn der Kandidatur nicht ab, sondern entwickelt sich im Gegenteil zu einer Krise. Diese Krise erklärt sie damit, dass sie in den ersten zwei Jahren in der Klostergemeinschaft mit der säkularen Welt abschließt. Die Verabschiedung vom früheren Leben und vom weltlichen Lebensentwurf ist für Sr. Heidi ein Prozess der Trauer. Trotzdem ist für sie der Entschluss für den religiösen Lebensweg ein endgültiger. dä Eltere das gseit, d’Muetter hät gar kei Freud ghä //mhm// mim Vater isch das scho rächt gsi wänns der gf- gfallt bliibsch und susch chusch wieder das isch scho rächt //mhm// mine Gschwüsterti ou (2) da hän ich im Nachhinein no erfahre dass mini zweit also mini Schwestere wo nach wier chunt wo sie das ghört hät fast afange brüele hät, zwar (mit-) (.) äh und zwar us folgendem Grund, will ich ihre @jetzt quasi s’Chloster scho äwäg näm sie well nämli in s’Chloster@ @(2)@ //@(2)@// hän ich gseit ja Sternäwätter @(2)@ //@(2)@// also ja guet //@(2)@// bin ich halt wieder z’früeh gsi für das arm G //@(1)@// @aber sie isch ja@ dänn au dänn au in s’Chloster //aha// aber das hän ich erst im Nachhinein erfahre und denkt ähä sie isch eigentlich viel, (.) für sie isch es viel sälbverständlicher gsi //mhm// als für mich; (732-743)
Sr. Heidi verlässt hier ihren ansonsten meist chronologischen Aufbau ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung und geht zurück in die Zeit vor ihrem Klostereintritt. Es wird deutlich, dass ihre Kernfamilie nicht in ihren Entscheidungsfindungsprozess bezüglich ihres zukünftigen Lebensweges miteinbezogen, sondern erst nach ihrem endgültigen Entschluss informiert wird. Obwohl aus einem katholischen Milieu stammend, in dem der religiöse Lebensentwurf noch immer kulturelle Praxis ist, stellt sich die Mutter für ihre Tochter einen anderen Lebensweg vor. Dem Vater bereitet ihre Entscheidung keine Probleme. Er eröffnet ihr aber die Option, wieder nach Hause zu kommen bzw. in die säkulare Welt zurückzukehren. Auch ihre Geschwister akzeptieren ihren Entscheid. In einer Hintergrundkonstruktion erläutert Sr. Heidi, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt erfährt, dass ihre bereits oben erwähnte Schwester G, die hier zum ersten Mal beim Namen genannt wird, nicht nur positiv auf ihre Entscheidung reagiert. In der nachfolgenden Beschreibung des Problems wird deutlich, dass die Beziehung zwischen den beiden Schwestern eine asymmetrische ist. Für ihre
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Schwester G scheint Sr. Heidi eine Konkurrentin zu sein, und umgekehrt stellt Sr. Heidi bei G eine Überempfindlichkeit fest. Abschließend macht Sr. Heidi deutlich, dass ihre Entscheidung für den religiösen Lebensweg im Gegensatz zu der ihrer Schwester von Unsicherheit geprägt ist. guet. also jetzt da im Chloster. (2) da bin ich (1) das isch nachkonzliäri Ziit gsi oder? 76 //mhm// ((schnalzt)) da hät s’Chloster sälber da glaub=i scho ziemlichi Kriise hinder sich ghä mit ä hufe Ustritt //mhm// oder, das isch die //mhm// äh dä ganzi Ufbruch nach em Konz- nach em zweite Konzil losgange und die händ ä hu::fe Jungi au verlore oder es isch au in der Ziit won ich dänn da gsi hen=i gmerkt da geiht ja eini nach der andere //mhm// ich hän s’Gfühl das isch äm (.) än Umbruchziit gsi im Chloster //mhm// mä hät au s’Huus z- erst grad neu baue ghä //mhm// d’Schuel neu baue //mhm// s’alte müesse abrisse (
)
also es isch alles so es bitz eso gange //mhm// und ich bin bereits in=ere Ziit cho wo wo=s fast keneme Nachwuchs gäh hät; //mhm// ich bin ällei i minem Jahrgang //mhm// bin zwar s’zweite gsi am Afang, //mhm// no mit=ere mit=ere Mitkandidatin zäme //mhm// aber die hät dänn müesse gah will sie z’krank gsi isch; //mhm// jah s’isch nid gange //mhm// und so sind wer nu also vor wier und nach wier immer so Einzelpersone ghä //mhm// (1) °aber au Einzelpersone (.) ich bin wier als einzig normali vorcho° (3) das müends sie (
)
//@(2)@// @(2)@ es hät die Mit(.)kandidatinne und so //mhm// oder die wo vor wier gsi sind, (.) ich häns Gfühl gha die sind alli (1) vo dä Person här oder vor Psyche här (.) gstört. //mhm// (1) eifach nid eso wien ich wier gwöhnt bin wie d’Lüüt eigentlich normal sind. //mhm// eifach verhaltensgstört; //mhm// (2) äh äh äh schwierig. //mhm// isch strapaziös gsi. //mhm// (743-764)
Sr. Heidi fährt weiter, indem sie sich wieder explizit am chronologischen Aufbau ihrer Biographie orientiert, und verortet ihre Kandidatur in der nachkonziliaren Zeit. Es ist, wie sie selber sagt, „än Umbruchziit“, in der viele Schwestern aus dem Kloster austreten und fast keine Neueintritte zu verzeichnen sind. Darüber hinaus hat ihre Gemeinschaft gerade einen großen Um- und Ausbau hinter sich gebracht. Sr. Heidi kommt also in einer Zeit ins Kloster, in der nicht nur sie selbst, sondern die ganze Gemeinschaft sich neu orientieren muss. In der etwas naiven Verwunderung hinsichtlich der Austritte anderer Schwestern zeigt sich, dass Sr. Heidi Schwierigkeiten damit hat. Vermutlich erkennt sie, dass ihr gewählter Weg zwar nach wie vor kulturelle Praxis in X-Dorf ist, jedoch seine Allgemeingültigkeit verloren hat. Ihr Lebensweg ist nicht (mehr) die Norm. Ihre darauf folgende massive Distanzierung von den restlichen (Mit-)Kandidatinnen kann nun aus der gewonnenen Erkenntnis erklärt werden. Ihr Lebensweg entspricht zwar nicht der Norm, sie ist aber im Vergleich zu den anderen die „einzig normali“. Indem sie andere Kandidatinnen als „vo dä Person här oder vor Psyche
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här (.) gstört“ bzw. als „verhaltensgstört“ bezeichnet, bedient sie sich eines gängigen Klischees. Es wird immer deutlicher, dass sie in der Abgrenzung von den Anderen, nicht Normalen ihre Identität als (Kloster-)Frau sucht. Die Kandidatur evaluiert sie am Ende der Passage nachdrücklich negativ als „strapaziös“. also am Afang häm=mer eso chliineri Grüppli also jedi für sich ja wüsset sie da wird mer es bitzeli abgsonderet im Noviziat, //mhm// wohnt für sich, //mhm// damals no hät das gheisse mä hät au no ä Noviziemeisterin //mhm// die teiled einem d’Arbet zue, //mhm// dä chunt mer da i d’Wäsch oder in d’Chuchi oder wo au immer det hät mer dänn wieder die neu Chefin wo detä zueständig isch //mhm// die behandlet jedi Novizin oder Kandidatin wien es chliises Chind, oder? damals da bisch (.) ähm hundert Mal erchlärt kriegt wo jetzt der Wäschtopf versorgt ghört, also dä Eimer ghört immer in das Gstell das hän ich jedi Wuche ghört; //@(2)@// @(1)@ °jedi Wuche° //mhm// (numer) in dä Wäsch gsi oder än anderi (Farb) eini wo=no über ä Liste womer nid abgstaubt hät //mhm// obwohl ja niemert da wohnt da nur wier paar //mhm// und eifach so so blöds Züüg oder das Lümpli ghört immer nur an där Ort //mhm// und nu ä so ufghängt und nid andersch //mhm// und ja immerhin hän ich zwei Jahr äh äh äh:: Verantwortig treit (.) imä (.) Betrieb; //mhm// in der ganze Administration //mhm// Buechhaltig gmacht müesse //mhm// fast das Hotel fast administrativ schmeisse; (.) ich häns Gfühl gha i i i hän scho äppis Sälbständigkeit gha //mhm// und derna im Noviziat im Chloster oder das isch au immer Kandidatur mit-gmeint (.) äh fangt mer ganz unne ah; (1) sie sind überall neu sie werdäd vo allne als nichtswissend nichts-chönänd behandlet. @(1)@ @und das isch@ guet ich bin ja 22 gsi glaub i (.) oder 2- 22 ja; (1) also äh °ich hän scho öpe müesse leer schlucke° //@(.)@// °mein Gott° //@(.)@// (764-786)
Sr. Heidi fährt in ihrer Erzählung mit der Isolierung der Kandidatinnen und Novizinnen innerhalb des Klosters weiter. Es zeigt sich, dass die Anfangszeit im Kloster nicht nur durch eine Loslösung von der säkularen Welt, sondern auch durch eine Absonderung innerhalb der klösterlichen Welt gekennzeichnet ist. Über die längere Beschreibung ihrer Aufgaben als Kandidatin/Novizin und der negativen Beurteilung sowohl der Tätigkeiten („blöds Züüg“) als auch des Umgangs der vorgesetzten Schwestern mit den Kandidatinnen und den Novizinnen („die behandlet jedi Novizin oder Kandidatin wien es chliises Chind“) wird deutlich, dass Sr. Heidi ihre Anfangszeit im Kloster als entmündigend erlebt und dass diese entmündigende Form der Einübung von Disziplin und Gehorsam zu ihrem negativen Gegenhorizont gehört. Dass sie Schwierigkeiten hat, sich der klösterlich-hierarchischen Ordnung zu fügen, wird über das Heranziehen ihrer beruflichen Kompetenzen offensichtlich. Sr. Heidi, die sich in beruflicher Hinsicht als kompetente selbständige Person versteht, als jemand der Verantwortung
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tragen kann, muss im Kloster „ganz unne“ anfangen und wird als „nichtswissend nichts-könnend behandlet“. uf jedä Fall anderthalb Jahr hän ich Kandidatur und Noviziat gmacht; es hät niemert absichtlich mich schikaniert das möcht ich säge //mhm// äs sind d’Umständ gsi vo däm neue Läbe; aber ich bin //mhm// in ä die Läbenskriise geraten absolut depressiv worde (.) zähche Kilo abgnoh in anderthalb Jahr, //mhm// ich hän usgseh wien än Stäcke würkli elegant schlank gsi emal //@(.)@// aber d’Muetter hät mi fast nüme kännt //@(.)@// ((Fenster wird geschlossen)) °hän ich dänkt ja aber jetzt° am End vom Noviziat, nach denä anderthalb Jahr bin ich am Bode gsi hän ich dänkt ich chan niemeh ä Arbet übernäh won ich Verantwortig träge //mhm// ich weiss nid was ich sell, ich weiss nid wien ich das Läbe ushalte //mhm// ich entscheide ich chän chum meh entscheide also ich chönt °jesses Gott ich chan ja nüt meh° also für mich isch das im Nachhinein die absolute Kriise gsi absoluti Grenzerfah- erfahrig für mich (.) °Grenzerfahrig° //mhm// also @ich weiss nid wo die Grenzä gsi isch (
) däbi zeigt@ //mhm// (786-800)
Ihre Schwierigkeiten in der Kandidatur und im Noviziat macht sie nicht an einzelnen Personen, sondern an den Gegebenheiten ihres neuen Lebens fest. Sr. Heidis Krise verschärft sich während der Kandidatur und des Noviziats zunehmend und mündet in eine Depression. Sie schildert eindrücklich den Verlust ihrer Selbständigkeit, ihres Selbstwertgefühls, der Selbstwirksamkeit und des Lebensoptimismus. Darüber hinaus äußerst sich ihre Krise in einem massiven Gewichtsverlust. Die Entfremdung scheint so groß zu sein, dass ihre eigene Mutter sie „fast nüme kännt“. Obwohl Sr. Heidi nicht genau definieren kann, wo sich die Grenze des noch Aushaltbaren befindet, spürt sie ganz klar, dass es sich um eine „Grenzerfahrig“ handelt. (1) das isch au en ganz ä gueti Erfah@rig gsi@ also z’wüssä mä wird depressiv //mhm// die Möglichkeit besteit, (1) und mä verliert jedes Sälbstbewusstsii jedes Selbstvertraue //mhm// es isch eifach nüt meh da ich ha dänkt °jesses wie chunt mer da wieder use° //mhm// (1) und ich hän au nid chöne entscheide z’gah //mhm// sondern jetzt eifach (.) ja z:::::: bisch weiss au nid wie wiiter, (2) hüt muess ich säge ich weiss was (1) äh äh wies eim z’Muet isch wänn me (.) ine sone Kriese chunt no depressiv wird; (3) und gwüssi (.) Veranlagig viellicht isch au da °vo dä° Familie her das chönt ja das hän ich im Nachhinein au dänkt es hät in der Verwandschaft au Lüüt wo wo mal depressiv worde sind, aber ich bin sicher das worde will ich eifach im luftleere Ruum //mhm// sozäge (…) äppis Neus müsse und du bisch du häsch nüt meh rächts z’tue //mhm// aber das isch viellicht au dä Sinn vo dr ganze (.) Ordensusbildig (1) das chan eine si mä muess an ane Gränze cho vo sich sälber //mhm// emal (.) emal läärä sie, ich dänke ja es chan emal eifach au nüt meh vo
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eige (.) nüt meh Eiges da sie //mhm// also ich muess säge ich bin um die Erfahrig nid undankbar; es isch relativ churz gsi; //mhm// und die hät sich dänah wieder behobe //mhm// und dänn bin ich wieder us däm teufe Loch usächo //mhm// und derna isch das wieder (.) äweg gsi //mhm// aber ich hän ich ich bin dunnä gsi. //mhm// (3) und das händ dänn erstundlicherwiis d’Umgäbig da nid realisiert dass da än junge Mensch eigentlich uf dä Felgä lauft anderthalb Jahr //mhm// das hät mi es bitz überrascht; //mhm// dass ä Novizemeisterin nid merkt dass d’Frau Muetter nüd seid (2) dass das nur d’Muetter diheime feststellt wo sie mich mal gseht was isch au da los? //mhm// (800-824)
Nicht die Tatsache, dass sie eine Depression hat, sondern das Wissen darum, dass sie depressiv werden, Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen verlieren kann, bewertet Sr. Heidi positiv („das isch au en ganz ä gueti Erfah@rig gsi@“). Innerhalb der Frage „Wer bin ich?“, also der Frage nach der persönlichen Identität, gehört es für Sr. Heidi zum positiven Gegenhorizont, nicht nur ihre eigenen Stärken, sondern auch ihre Schwächen zu kennen. Einen weiteren Kompetenzgewinn sieht sie im Wissen, „wies eim z’Muet isch wänn me (.) ine sone Krise chunt no depressiv wird“. Obwohl sie hier nicht explizit andere Menschen erwähnt, kann der Kompetenzgewinn dahingehend gedeutet werden, dass sie durch ihre Krise an Empathiefähigkeit gewinnt. Ursachen für ihre Depression sucht Sr. Heidi in der verwandtschaftlichen Veranlagung und in der Tatsache, dass sie sich zu Beginn ihrer Klosterzeit „im luftleere Ruum“ befindet. Mit diesem luftleeren Raum deutet sie den Übergang an, in dem das Alte nicht mehr gilt und das Neue noch nicht greift. Auch die eintönige Arbeit kann ihr keinen Halt geben, da sie in dieser keinen Sinn zu erkennen vermag. In dieser Grenzerfahrung und dem vollständigen Ablegen des Alten sucht sie denn auch den Sinn der Ordensausbildung. Obwohl sie den Gedanken nicht weiterdenkt, geht es ihr vermutlich darum, dass nur durch das Abstreifen der weltlichen Identität und durch die Verabschiedung vom alten Lebensentwurf sich eine religiöse Identität und ein religiöser Lebensentwurf entwickeln können. Für Sr. Heidi ist dies ein krisenhafter Prozess, sie ist aber „um die Erfahrig nid undankbar“. Obwohl sie sich in dieser Zeit in großer Not befindet, scheint weder jemand aus dem Kloster zu bemerken, dass es ihr schlecht geht, noch scheint sie sich aktiv Hilfe zu holen. Sie sitzt ihr Problem sozusagen aus, wartet, bis es vorübergeht. Dinge kommen auf sie zu und gehen auch wieder weg, ohne dass sie oder sonst jemand tätig darauf einwirkt. Nur ihre Mutter, die sie einmal oder höchst selten sieht, bemerkt die psychische Krise ihrer Tochter und spricht sie darauf an. Zum einen zeigt sich hier Sr. Heidis hohe Bewertung der Primärbeziehung zwischen ihr und ihrer Mutter und damit, dass sie ihre „alte Identität“ noch nicht
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(ganz) abgelegt hat, zum andern macht sie über diese Erzählpassage deutlich, dass sie sowohl von der Novizenmeisterin als auch von ihrer geistlichen Mutter mehr Einfühlungsvermögen und darüber hinaus aktive Hilfe erwartet hätte. Damit macht sie, im Gegensatz zu oben, doch einzelne vorgesetzte Schwestern für ihre Krise oder zumindest für die unterlassene Hilfeleistung verantwortlich. guet (2) aber nach dem (1) Noviziat oder während em Noviziat au no hät mer da ja no überleit (.) was mer mit wier söll mache (.) was ich sell später für en Ufgab übernäh, dänn hän i au mal chöne in s’Chloster B in d’Druckerei; @(.)@ und detä drucke lärne und Buechbinderei //mhm// will das früener au im Huus sälber gha händ //mhm// und das öper viellicht mal sötti //mhm// hätti sölle übernäh dänn hän ich emal (.) Bleisatzdruck glärnet; //mhm// so für dä Huusgebruch für Todesanzeige chöne z’schriebe wo wier früener eso sälber gmacht händ //mhm// und wie mer Büecher bindet das hän ich dänn zwar nid bis in s’Letschtä s::: z’wenig Ziit gha //mhm// aber ich bin i däm Bereich gsi (.) was für Papier, wie mer druckt, wie mers es bitzeli welli Schrifte dass mer kombiniert, uf was mer mues achte s::::: isch no guet gsi //mhm// also das hän ich detä so jedä jedi Wuche hän ich ä gwüssi Ziit det hi chöne zwei, drüü Täg //mhm// go das lernä und und während mitti i minere äh Kriiseziit dine und das hät wier guet ta //mhm// °hän ich dänkt ou das isch jetzt wieder äppis anders jetzt chasch äppis lärne jetzt bisch nid (.) eifach dä letschti Totsch° //mhm// irgendeswo bin ich immer det hi zwei, drüü Täg und diä reschtä Täg da hän ich putzt will da hät mer ja immer Novize brucht zum s’Huus putze //mhm// guet (.) @(2)@ //@(2)@// also (.) aber das isch scho Mal guet gsi (824-842)
Sr. Heidi fährt in ihrer Erzählung mit der Frage nach ihrem zukünftigen Wirkungsbereich in der Gemeinschaft fort. Obwohl sie sich in der Art der Formulierung als Teil der Suche nach einer sinnvollen Tätigkeit nicht ausschließt, fällt dennoch auf, dass sie sich in selbstverständlicher Weise als (alleinige) Entscheidungsträgerin herausnimmt („hät mer da ja no überleit (.) was mer mit wier söll mache (.) was ich sell später für en Ufgab übernäh“). Sr. Heidi wird als Novizin zwei bis drei Tage in der Woche in ein anderes Kloster geschickt, um dort in der Druckerei und Buchbinderei eine Ausbildung zu absolvieren. Die erlernten Fertigkeiten sollten später in der eigenen Gemeinschaft zur Anwendung gebracht werden. Sie schließt die Ausbildung jedoch nicht ab, gibt aber außer zeitlichen keine weiteren Gründe für den Abbruch an. Die Tätigkeit in der Druckerei/Buchbinderei bewertet Sr. Heidi positiv. Das Positive bezieht sich vor allem auf den Kompetenzgewinn. Im Gegensatz zur eintönigen Tätigkeit im Mutterhaus kann sie in der Druckerei/Buchbinderei ihren Horizont erweitern. Sr. Heidi gewinnt über diese für sie sinnstiftende Arbeit wieder etwas an Selbstwertgefühl („bisch nid (.) eifach dä letschti Totsch“).
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Anschließend bringt sie nochmals ihre Missbilligung in Bezug auf den Umgang mit Novizinnen zum Ausdruck („will da hät mer ja immer Novize brucht zum s’Huus putze“). Wenn hinter dem verlangten Gehorsam zweifelhafte Absichten feststellbar sind, wie hier die Ausbeutung junger Frauen als willige Arbeitskraft, steht sie der Unterwerfung unter die klösterlich-hierarchische Ordnung kritisch gegenüber. Abschließend evaluiert Sr. Heidi ihre zwischenzeitliche Tätigkeit in der Druckerei/Buchbinderei nochmals verhalten positiv. Zwischenfazit (669-842) Auch wenn sich Sr. Heidis Berufungsprozess durch innere Spannungen und Unsicherheiten auszeichnet und von (irdischer und nicht irdischer) Fremdbestimmung geprägt ist, wird der Klostereintritt zumindest auf der Vorderbühne stimmig dargestellt, auf der Hinterbühne gibt es aber Erklärungsbedarf. Der Eintritt ins Kloster kann im Zusammenhang mit ihrer hedonistischsozialen Orientierung bzw. ihrem Interesse an Neuem, Fremdem und Besonderem als Ausbruch aus ihrem Herkunftsmilieu gedeutet werden. Gleichzeitig verbleibt Sr. Heidi innerhalb ihres religiös-kulturellen Normalitätsrahmens. Die bereits weiter oben geäußerte These, dass ihr Lebensentwurf in einer mehr oder weniger selbstverständlichen Orientierung am milieuspezifischen Konsens über mögliche Lebenspläne gründet, findet hier Bestätigung. Die argumentativ hergestellte Kontinuität ihres Lebensentwurfs (religiöser Lebensweg als kulturelle Praxis ihres Herkunftsmilieus, wiederholter Kontakt mit Klosterfrauen), scheint so weit eine zu sein. Auch hinsichtlich ihrer konflikthaften Geschlechterkonstruktion ist Sr. Heidis Lebensentwurf nicht freischwebend. Sie wächst nicht nur in einem katholischen Milieu auf, sondern auch in eine geschlechtercodierte Welt hinein, deren Geschlechterordnung sie grundsätzlich akzeptiert. Mit dem Eintritt ins Kloster schließt sie an der gesellschaftlichen Geschlechterordnung an, aber nicht nahtlos. Sie erfüllt den gesellschaftlich und (so ist zu vermuten) von ihrer Mutter erwarteten Lebensentwurf, der mit einer Heirat verbunden ist, nicht und sucht sich ihren eigenen Weg. Leitend dabei sind ihre bis dato gemachten Erfahrungen, dass Beziehungen zu Frauen (Mutter, Klosterfrauen) zwar alltäglich, aber verlässlich, Beziehungen zu Männern (Vater) besonders, aber auch bedrohlich (in sexueller Hinsicht und in Paarkonstruktionen) sind. Der Eintritt ins Kloster schützt Sr. Heidi vor dem bedrohlich Männlichen. Zudem können zwischen dem Kloster und ihrer Kernfamilie Parallelen gezogen werden. Nicht nur ihre Familie, sondern auch das Kloster ist frauengeprägt. In der weiblichen Gemeinschaft sind die Beziehungen zu den Frauen die alltäglichen, diejenigen zu den Männern
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bzw. zum Klerus die besonderen.29 Klosterfrau zu werden, ist für Sr. Heidi also ein legitimer und gesellschaftlich akzeptierter Lebensweg, ohne Paarbeziehung, Heirat, ohne körperliche Nähe und ohne Sexualität. Damit wird auch deutlich, dass religiösen katholischen Frauen ein Lebensentwurf zur Verfügung steht, der anderen Frauen verschlossen bleibt. Mit dem Einschlagen des religiösen Weges wird ihr aber zugleich der weltliche verschlossen. Dies ist für Sr. Heidi kein freudiges, sondern ein ernstes Ereignis. Sie trauert um die nicht mehr realisierbaren Möglichkeiten. Der Prozess der Verabschiedung vom säkularen und der Aneignung des religiösen Weges stürzt sie in eine tiefe Krise, die sie selbst als Depression bezeichnet. In dieser Identitäts- und Orientierungskrise kann sie sich weder mit anderen Ordensschwestern noch mit der Gemeinschaft identifizieren. Sie grenzt sich radikal von ihren Mitschwestern und von ihren Aufgaben im Kloster ab. Da greifende soziale Beziehungen fehlen, kann das, was ihr fremd ist, nicht durch andere Schwestern oder die Gemeinschaft aufgefangen werden. Auch an ihre Familie kann sie sich nicht wenden, da diese zur säkularen Welt gehört. Eine zusätzliche Schwierigkeit, mit der sich Sr. Heidi konfrontiert sieht, ist die Austrittswelle nach dem II. Vatikanischen Konzil. Nicht nur sie, sondern die ganze Gemeinschaft bzw. die gesamte klösterliche Welt befindet sich im Umbruch. Dies macht überdeutlich, dass der von ihr gewählte Weg noch kulturelle Praxis in X-Dorf sein mag, jedoch seine Allgemeingültigkeit verloren hat. Ihr Lebensweg ist nicht (mehr) die Norm. Ein weiteres Problem, das sich bei Sr. Heidi zeigt, ist der Verlust ihrer Handlungsautonomie. Obwohl sich bei ihr bereits vor ihrem Eintritt ins Kloster eine typisch klösterliche, d. h. dem Gehorsamsgelübde geschuldete Handlungs- und Argumentationslogik zeigt, hat sie zumindest zu Beginn Schwierigkeiten, sich der klösterlich-hierarchischen Ordnung zu fügen. Das Einüben in den Gehorsam fällt ihr sichtlich schwer. Im Zusammenhang mit dem Verlust ihrer Handlungsautonomie versucht sie über ihre frühere berufliche Tätigkeit biographische Kontinuität herzustellen, obwohl diese bis anhin nicht als Selbstverwirklichungsentwurf im Zentrum ihrer Biographie gestanden hat. An ihre hedonistisch-soziale Orientierung kann sie im Kloster nicht mehr anschließen. Sr. Heidis Suche nach dem Sinn ihrer Krise und nach dem Sinn der Klosterausbildung dient einerseits der Neutralisierung ihrer geäußerten Abweichung von der klösterlichen Norm, andererseits ist dies ein Versuch, ihren biographischen Kontinuitätsabbruch zu plausibilisieren. Ihre gesamte Erzähl- und Argumentationslogik läuft darauf hinaus, dass sie sich einmal mehr als (Kloster-)Frau bzw. ihren religiösen Lebensweg zu legitimieren versucht.
29 Der Priester ist nur zeitweilig anwesend, Jesus in Form der Hostie (Leib Christi).
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Was in diesem biographischen Ausschnitt nicht thematisiert wird, ist die Religiosität. Bis auf den impliziten Verweis auf Gott in ihrem Berufungsprozess spricht Sr. Heidi in dieser von Berufung und ersten Klostererfahrungen geprägten Lebensphase nirgends über ihren Glauben zu Gott. Dies könnte damit zusammenhängen, dass religiöse Erfahrungen einer Angehörigen der säkularen Welt schwierig zu vermitteln sind. Auch Geschlecht und die Geschlechterverhältnisse werden weder explizit noch implizit zum Thema gemacht. Die selbstverständlich nach Geschlecht differenzierte klösterliche Welt und die sozial oder zumindest äußerlich geteilte Identität als Klosterfrau führen anscheinend dazu, dass Geschlecht und die Geschlechterverhältnisse biographisch nicht aktualisiert werden müssen (Undoing Gender). Thema 10: Leben im Kloster (842-1009) Unterthema 1: Sprachaufenthalte (842-922) und wo dänns Noviziat won ich dänn die erst äh äh Profess gmacht hän die ersti Profess glaub i im Juli 78 ((hustet)) das gmacht hän händs mi nach (.) London gschickt zum Englisch lernä; //mhm// zerst glaub ja viellicht isch es au es bitzeli in anenand ine- nei das muess scho nach em (.) Noviziat gsi sie; Englisch lernä in dä International School, dänn isch mini Schwester mitcho; ich hän gseit du chunsch du nid au mit; also sie isch ja do ä Lehrerin gsi (.) nid (.) im Chloster sechs Wuche go go go go Englisch lernä einfach in z’London; London hät mich dänn scho interessiert //mhm// das isch dänn wieder äh än Stadt gsi won i nie gsi bin übrigens zwüscheddrin bin i au mal go ä Reis mache nach Moskau //mhm// also Reise hän ich dänn au no es bitzeli gmacht; (1) und dänn sind wier nach London da ebä die International School ich als Ordensperson i dem London umenand glüffe und dänn händ wier wieder bi B-Schwestere gwonnt im Swiss Cottage das isch dänn irgendeswo bitz wiiter äweg gsi und d’Schuel sind wer am Piccadilly Zirkus Zürkus Circus sie wissend wies heisst //mhm// detä isch die Schuel gsi, aber dänn han i au wieder festgstellt ich gang wieder in dr Tracht das isch ja klar äppis anders häts nid gäh ich falle ja uf wien en rote Hund in der Stadt //@(1)@// @(.) aso das isch nid zum säge@ dänn händ d’Lüüt mich agsproche u gfrägt wo das isch u wo dies isch //mhm// ich hän richtig in dem London als Uskunfts(.)person dient //@(2)@// @(1) wie das so@ isch ja. ja mä lernät dänn ja d’Sprache? //@(.)@// @(.)@ guet; also es me isch eifach ufgfalle wäm=mer eso gange isch und die Schuel isch natürlich in der Mitti im rote Viertel gsi //mhm// oder det hän ich au ti::ptop heräpasst //@(1)@// @(.)@ ja aso guet; die sechs Wuche, (1) am Vormittag isch mer in d’Schuel gangen, (1) hän ich detä ganz neui Schuelmethode känneglernt mit Kamera wo mer gfilmet wird mit mit //mhm// mit guet dä hät mer sogar sich müesse Pantomime mache zu irgendäppisem und so derä Züüg wie mer hützutags oder
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damals moderni //mhm// Schuelunterrichtsmethode gsi sind da hän ich mitgmacht obwohl ich wie gseit Sprache isch de nid grad äso mis (.) ja sicher nid grad s’Bestä ((räuspert sich)) chan ich nid am bestä //@(.)@// aber gliich ich hän die Schuel bsuecht, und am Namittag sind wier immer go alli Museeä abchlöpfe //mhm// (1) also d’Kunstmuseeä; technischi Museeä; äh:: aso es hät ja über hundert Museeä i dem London (1) oder dänn där dä dä Park wo da da immer die die wie heist dä Hyde Park? //mhm// Hyde Park, Hyde Park, //mhm// °wo da die die die Sprächer da sind° //mhm @(1)@// @(1)@ das isch doch interessant gsi; ja und ebä und da::::: äh::::: möglichst an allne (1) Museeä umenand das das hät ünsch das händ wier gmacht ja (
) //mhm// dä hät mer no äppis kännegleret
us:: derä Stadt //mhm// oder; oder es bitz Usflüg gmacht nach Canterbury und weiss Gott wo überall hi das isch (.) näbscht em Studium vo @der Sprach@ für mich viel °interessanter° gsi //mhm// das hät wier würkli gfalle. dänn isch mer natürli detä in Kontakt cho mit denä hufe Bettler //mhm// als Ordensperson hän ich s’Gfühl gha mä werdi extrem viel agsproche //mhm// oder dänn das Gstung das Gstung an denä (.) Untergrundbahne //mhm// (1) also (.) guet @also also das isch au eige gsi@ die Fahrerei det unne //mhm// (1) da bin i dä:::: isch auwe äs Gstung gsi und dä häts ämal gstoppt dä bin ich grad an=eme Herr uf dä Schoss gsässe //@(1)@// @ja wills (1)@ und dänn hän ich gseit Entschuldigung dä hät dänn au nur glached das isch dänn gange aber äh (1) jaha:: ich weiss nid ob mä als Ordensperson gschützter isch oder usgsetzter in=erä sone Grossstadt also wänn sie d’Tracht ahänd //mhm// es isch wier eigentlich ja::: (1) weiss nüme es bitzli ufpasse muess mer //mhm// (.) aber au da sind wer heil und ungefährdet nach Hause gekehrt //@(1)@// @(2)@ ja ja; (842-895)
Sr. Heidi fährt wiederum chronologisch weiter. Nach ihrer ersten Profess wird sie in einen Sprachaufenthalt nach London geschickt. Dies entscheidet nicht sie, sondern das Kloster. Die Selbstverständlichkeit, mit der dies kommuniziert wird, weist auf eine Internalisierung der klösterlich hierarchischen Strukturen bzw. des Gehorsamsgelübdes hin. Nach einer Unterbrechung des Erzählstrangs durch eine Metakommunikation über den biographischen Zeitpunkt des Englischaufenthalts benennt Sr. Heidi ihre Schule in London und erzählt, dass ihre Schwester sie nach England begleitet. Es handelt sich dabei um ihre Schwester G, die ebenfalls ins Kloster geht. Warum sie ihre Schwester nach London mitnimmt, erläutert sie nicht. Sr. Heidi kennt London noch nicht und äußert zunächst ein nicht weiter differenziertes Interesse an dieser Stadt. Ihre hedonistisch-soziale Orientierung scheint also weiterhin vorhanden zu sein. Die kurze Hintergrundkonstruktion über ihre Reise nach Moskau und ihre Reisefreudigkeit überhaupt bestätigen diese Vermutung. Indem sie sich abermals als abenteuerlustig und experimentierfreudig schildert, weist erneut auf eine Abgrenzung vom Klosterfrauenklischee hin.
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Anschließend fährt Sr. Heidi mit der Erzählung über ihren Aufenthalt in London weiter. Obwohl sie sich auch zur Art („B-Schwestere“) und zum Standort ihrer Unterkunft („irgendeswo bitz wiiter äweg“) sowie zur Lage ihrer Schule („Piccadilly Circus“) äußert, steht sie selbst als Ordensperson in der Großstadt im Zentrum ihrer Erzählung. Sr. Heidi fällt in ihrer Ordenstracht in London auf „wien en rote Hund“. Das Tragen des Ordenskleides außerhalb der Gemeinschaft, die Tatsache, dass sie in der Welt nun anders wahrgenommen und mit ihr anders umgegangen wird, ist ihr noch fremd. Sie fühlt sich einerseits deplatziert („Mitti im rote Viertel“), andererseits ist sie erstaunt über den Zuwachs an Autorität („Uskunfts(.)person“). Diese Unsicherheiten weisen darauf hin, dass sie sich als Klosterfrau noch nicht ganz gefunden hat. Die weiteren Erzählungen über den Aufenthalt in London sind dadurch gekennzeichnet, dass das Allgemeine nur am Rande thematisiert wird, das Besondere jedoch im Mittelpunkt steht. Sr. Heidi beschreibt die für sie neuen Lernmethoden, die an der Schule angewendet werden, und evaluiert ihren schulischen Erfolg wegen ihres bereits früher erwähnten sprachlichen Defizits als mittelmäßig. Ob auch die Schwester die Schule besucht, ist unklar. Da Sr. Heidi nur vormittags Unterricht hat, nutzen sie und ihre Schwester die freien Nachmittage für den Besuch von Sehenswürdigkeiten in und um London, fahren mit der für sie ungewohnten U-Bahn und kommen mit den vielen Bettlern in London in Kontakt. Da ihre Erzählungen über ihre Erfahrungen außerhalb der Schule ausführlicher sind und diese Erfahrungen positiver evaluiert werden, kann die These, dass sich Sr. Heidi nach wie vor eher am hedonistisch-sozialen Lebensentwurf und nicht an Ausbildung und Beruf orientiert, weiterhin aufrechterhalten werden. Eine Ausnahme findet sich in ihrer Zeit als Kandidatin und Novizin. An dieser Stelle drängt sich zusätzlich die Frage auf, ob das Besondere dieser freien Nachmittage mit einer zwar vorübergehenden, aber für diesen Moment neu gewonnenen Freiheit zu tun hat. Sie und ihre Schwester erkunden, wie bereits früher schon, eine neue Stadt. Das Neue an dieser Situation ist aber das Ordenskleid. Die Bettler sprechen nicht Heidi, sondern die von außen erkennbare Ordensschwester an, offensichtlich aufgrund der Antizipation ihrer christlichen Barmherzigkeit. Sie ist sich dessen bewusst, hat aber den Umgang damit noch nicht gefunden. Auch der Vorfall in der U-Bahn, der von ihr als Anekdote erzählt wird, verweist auf ihre Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Ordenstracht. Ob eine Frau mit oder ohne Ordenskleid einem Herrn auf dem Schoss sitzt, macht einen bedeutenden Unterschied. Sr. Heidi ist letztlich unentschieden, ob das Tragen des Ordensgewandes in einer typisch säkularen Welt (Großstadt) eher schützt (Respekt, Autorität, Macht, Schutz der körperlichen Integrität) oder im Gegenteil aussetzt (An-
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sprechperson: ungewollt und ungerechtfertigt, Sichtbarkeit der religiösen Gesinnung und damit auch des Keuschheitsgelübdes, Anfeindungen). Passiert ist ihr und ihrer Schwester nichts, sie kommen „heil und ungefährdet nach Hause“. (1) wo sind wer ah ja und nacher (2) dänn (.) häts gheisse jetzt mal Französisch lärne @(2)@ also so es bitzeli churz churz churz //mhm// (.) dä hän ich müsse nach W-Stadt, //mhm// in es (.) Institut, wo nur uf Französisch unterrichtet worde isch bi dä ESchwestere; (1) und dänn hän ich detä irgend so ä französischi Schuel gmacht, (1) °wie hät das jetzt gheisse weiss i nüme° nüü Monät lang eifach alle Unterricht mit es sind mehrheitlich eigentlich jüngeri Fraue us aller Welt gsi, //mhm// würkli us Malta, und und Italie, und und dä Schweiz, Düütschland und überall, //mhm// und wier händ eifach uf Französisch Unterricht ghä und detä irgend en Abschluss gmacht. //mhm// vo dä Alliance Française glaub i; (1) //mhm// gwohnt händ hän i detä bi dä (.) D-Schwestere also es hät immer mit Schwestere irgendäppis ztue ghä und d’Schwester O hät det isch au detä gsi; sie hät detä gstudiert. in W-Stadt und dä sind wier zwenä bi denä äh::::: DSchwestere gwohnt also XY hät das gheisse //mhm// händ det eifach Logie gha und d’Schuel sind wer bin ich bi dä E-Schwestere //mhm// und die nüü Monät in W-Stadt das isch für mich dä Himmel gsi nach miner Kriise (.) //mhm// de muess ich säge hän ich wieder agfange (.) uftaue (1) mit also d’Schwester O hät wier da sicher viel zuelose müesse; ((schnalzt)) ich hän immer gred über das Züüg gred und gred bis es (1) so wien ich das wieder hän chöne verdaue verarbeite und detä bin ich dänn wieder zwäg gsi; //mhm// (2) nach denä nüü Monät müesse äbä d’Prüefige mache und Französisch und (.) jede jede Samstig (1) eso en blöde französische Uufsatz; (1) das hän i jetzt würkli ghasst //@(1)@// uf Französisch (.) das isch immer en Chrampf gsi //@(1)@// @(1) Französischuufsatz @die andere händ fangs glachet@ will sie händ frii ghä und ich hän müesse in d’Schuel @go än französische Uufsatz mache@ //@(1)@// @(.)@ ja guet; isch dänn au verbii gange; //@(.)@// (895-922)
Nach einer kurzen Metakommunikation über die chronologische Orientierung innerhalb ihrer biographischen Erzählung setzt Sr. Heidi ihre Erzählung mit ihrem Fremdsprachenaufenthalt in der französischen Schweiz fort. Wiederum präsentiert sie in selbstverständlicher Weise, dass die Idee, Französisch zu lernen, nicht ihre ist. Interessanterweise bezeichnet sie den Zeitrahmen zum Erlernen der französischen Sprache als „so es bitzeli churz churz churz“, obwohl es sich im Gegensatz zum nur sechswöchigen Aufenthalt in London um neun Monate handelt. Dass Sr. Heidi vom Kloster zweimal hintereinander in unterschiedliche Sprachaufenthalte geschickt wird, weist darauf hin, dass ein bestimmter (beruflicher) Plan verfolgt wird. Interessanterweise wird dies von Sr. Heidi nicht erwähnt. Entweder kennt sie den Plan nicht, oder er ist für ihre Erzählung nicht relevant. Obwohl Sr. Heidi auch
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in London bei Schwestern wohnt, scheint die Tatsache, dass sowohl die Schule (ESchwestern) als auch ihre Unterkunft (D-Schwestern) von Klosterfrauen geführt wird, für sie eine andere Relevanz zu haben. Bemerkenswert ist, dass sich Sr. Heidi kaum an den Namen der Schule erinnert und nicht (mehr) weiß, welchen Abschluss sie dort gemacht hat. Auch wenn die Erzählung über die Schule und das Erlernen der französischen Sprache, das sie am Ende der Passage als anstrengend evaluiert, den größeren Anteil in dieser Passage ausmachen, geht es ihr vor allem um die Überwindung ihrer Krise. Die aus derselben Gemeinschaft wie Sr. Heidi stammende Sr. O ist ihr dabei eine große Hilfe. Ihr gegenüber kann sich Sr. Heidi öffnen, sie wird wieder kommunikationsfähig. In Sr. O findet Sr. Heidi also eine wichtige Bezugsperson, was ihr während der Kandidatur und des Noviziats gefehlt hat. Über diese Bezugsperson scheint sie wieder zu sich selbst zu finden – oder zu ihrer neuen Identität als Klosterfrau. Unterthema 2: Berufliche Tätigkeiten im Kloster (922-967) (2) und nacher won ich zrug cho bin häts gheisse jetzt müess ich nach Z-Dorf wieder in s’Hotel P als Schwester //mhm// scho wieder; das wär jetzt scho dä dritti I- Isatz gsi im P //mhm// (3) ja dänn bin i wieder det uf (1) °wie lang bini dänn detä gsi,° zwölf Jahr (.) wieder als pf:::: eifach als kaufmännisch (.) Gschueleti (.) in in s’Hotel und dänn isch zerst die einti Oberin da gsi won gar nüt verstande hät das Huus (.) ((atmet)) uf dä Grund gschaffed gha hät //uh// mhm finanziell //mhm// zwar ä Hufe Gäst aber finanziell völlig uf dä Söcke //mhm// uf dä Felgä (.) müesse luege dass u::fe wieder dass wieder ufe chunt also dass dä Betrieb isch en AG gsi und hät en Verwaltigsrat ghä //mhm// dä hät natürlich au sini Forderige gstellt und händ au rächt gha //mhm// da häts Oberinnewächsel ghä da isch dänn ä Oberin cho wo dänn das au gseh hät, //mhm// wos besser hät chöne und womer dänn würkli zäme am gliiche Strick zoge hät //mhm// und dänn hät mer das wieder chöne ufschaffe und dänn isch das wieder besser gange und dänn isch ä dritti Oberin cho wieder (2) dänn bin ich uf jedä Fall zwölf Jahr det obe gsi und hän meh oder weniger wett ich säge dä Betrieb müesse (.) schleipfe. (1) //mhm// ja aber das isch:: wie gseit det hät mer (.) die Gäst won ich als Sekretärin känneglernt und sind vieli detä au scho gsi und händ dänn immer en hu::fe Stammgäst gha (1) so hät mer Jahr für Jahr äbä immer wieder mit dä gliiche Lüüt ztue gha also wier hät die Arbet im Hotel sehr gfalle //mhm// det hät mer eigentlich dä ganzi Stock glärnet vo der Arbet was ich jetzt da als Ökonomin jetzt muess im grössere Rahme mache //mhm// (922-944)
Sr. Heidi fährt in ihrer Erzählung wiederum chronologisch weiter. Sie wird von der Klosterleitung nach Z-Dorf geschickt, um im Hotel P, das sie bereits von früher kennt, für die nächsten zwölf Jahre als „kaufmännisch (.) Gschueleti“ zu arbeiten.
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Abermals erzählt sie die fremdbestimmte Zukunftsplanung als unhinterfragte und selbstverständliche Tatsache. Die vom Kloster angeordnete Auffrischung ihrer Fremdsprachenfähigkeiten macht hinsichtlich dieser Tätigkeit Sinn. Von diesem Vorhaben (wenn es denn eines war) scheint Sr. Heidi aber nichts zu wissen, denn sie wird vom Kloster erst kurz vor ihrem Einsatz im Hotel P darüber informiert. Dieses Hotel scheint für Sr. Heidi eine Art schicksalhafte Bestimmung zu sein („scho wieder; das wär jetzt scho dä dritti I- Isatz gsi im P“). Da sie im Hotel P nicht die Funktion der Oberin einnimmt, ist zu vermuten, dass es sich um eine ähnliche Arbeit handelt, vielleicht mit größerem Kompetenzbereich und mehr Mitspracherecht, wie bereits zuvor als Sekretärin des Betriebs. Die Beschreibung ihrer Arbeitstätigkeit untermauert diese Vermutung. Im Zentrum ihrer Erzählung stehen diesmal weniger die Hotelgäste, sondern die jeweilige Zusammenarbeit mit den wechselnden Oberinnen. Sr. Heidi orientiert sich in ihrer Tätigkeit als Kauffrau stark an der finanziellen Rendite des Hotels. Es geht ihr aber nicht um eine Gewinnmaximierung, sondern um das Überleben des Betriebs. Um dieses Ziel zu erreichen, ist sie auf eine kompetente und kooperative Oberin angewiesen („da isch dänn ä Oberin cho wo dänn das au gseh het, wos besser het chöne und womer dänn würkli zäme am gliiche Strick zoge het“). Was sie hier zwischen den Zeilen anspricht und mit der Aussage „hän meh oder weniger wett ich säge dä Betrieb müesse (.) schleipfe“ konkretisiert, ist einerseits die Problematik des Oberinnenwechsels30 und andererseits die Diskrepanz zwischen ihrem durch langjährige Erfahrung erworbenen ökonomischen Wissen und ihrer fehlenden Einflussnahme als Untergebene (außer bei guter Zusammenarbeit). Das erworbene Wissen aus der Zeit im Hotel P beschreibt sie als Grundlage für ihre heutige Tätigkeit als Ökonomin des Klosters. Was sich hier zeigt, ist eine Orientierung an praktischer Bildung. Fähigkeiten werden also weniger in der Schule, sondern über praktische Tätigkeiten erlernt. Darüber hinaus dokumentiert sich bei Sr. Heidi eine gewisse berufliche Orientierung, wie sie sich in der bisherigen Lebensgeschichte noch nicht gezeigt hat. Über die zwölf Jahre im Hotel P berichtet sie ausschließlich über ihrer Arbeit, und diese evaluiert sie positiv („also wier het die Arbet im Hotel sehr gfalle“). Da sie diese zwölf Jahre aber mit vergleichsweise wenigen Sätzen abhandelt, nirgends ins Detail geht und keine besonderen Erlebnisse erzählt, kann vermutet werden, dass ihre Konzentration auf den Beruf nicht ihr eigenes biographisches Projekt ist. Mit der Arbeit im für das Kloster offenbar wichtigen Hotel P hat sie eine Aufgabe zu erfüllen, die sie nicht selbst gewählt hat. Diese durch Fremdbestimmung gekennzeichnete Lebensphase kann von Sr. Heidi nicht mehr detailliert erzählt werden.
30 Die Amtszeit einer Oberin beträgt maximal sechs Jahre. Vgl. hierzu auch Kap. 2.1.
212 | A NDERE W EIBLICHKEITEN (1) nach zwölf Jahr häts dänn gheisse (.) (…) ich müess in s’Muetterhuus und ebä d’Ökonomie übernäh //mhm// (1) jaha und das mach ich jetzt da sit em (.) 92 //mhm// (3) //@(.)@// dr Afang isch au nid so eifach gsi //mhm// @(3)@ //@(3)@// in=eme Chloster gits au so @verschiedeni Strömige@ und verschiedeni Asichte und so wiiter //mhm ja// und am Afang isch das jetzt viellicht au es bitzeli dä ganzi Bereich nid i so=ne=me gordnete Zuestand gsi hän i da au wieder müesse vo vorne afa und mich düre wüele also das isch das isch::: dä hä=mer Schuel ghä; (.) Landwirtschaft, //mhm// Krankekasseverwaltig, Pflegeabteilig, z’Chloster (1) Chindergarte glaub i au no; vermieteti Hüüser a Personal Hüüser eifach das isch äh ä ä ä u Chueche //riesig// riesig im Grund gno //mhm// und sich da ischaffe w::::as lauft überhaupt; //mhm// wo wo sind Date, wie wie wie wie wie gfind ich mich da zrächt wo gfind ich da dä Überblick. //mhm// das isch sehr sträng gsi am Afang; ((räuspert sich)) (1) aber (1) mä hät sich düräbisse dürägwüelt und @gschafft wies in=eme Chloster so geit@ jetzt natürlich isch es isch es entschlackter //mhm// d’Schuel hät ufghört d’Landwirtschaft händ wer verpachtet will das muess //mhm// s:::ust häte=mer kei Bundesbiiträg kriegt dänn sind die Grüppli immer wieder es bitzli für sich, (.) eh Krankekasseverwaltig hät das so gschwind das möglich abgäh dass mer da (1) sich (.) zäme tuet mit dä oder eifach sich aschliesst dä dä B-Schwestere damit mer nid au sälber verwalte die ganzi Sach //mhm// uf jedä Fall ä hufe abbaue mit Fachlüüt rundum //mhm// und jetzt jetzt @händ mer ä Lade@ wo au lauft wie verruckt //mhm// aber es es isch es isch zmache es isch über(.)sichtlicher. //mhm// (944-967)
Die Weiterführung ihrer Erzählung verläuft im selben Modus wie im vorangegangenen Abschnitt: chronologisch und mit der selbstverständlichen und unhinterfragten Erwähnung ihrer von der Klosterleitung bestimmten Versetzung ins Mutterhaus. Sie gibt den Zeitpunkt ihrer Übernahme der betriebswirtschaftlichen Leitung des Klosters an und vermittelt damit auch, dass sie nach wie vor in dieser Funktion amtiert. Die Versetzung kommt einem bedeutenden Karriereschritt gleich. Sie evaluiert den Wechsel vom Hotel P ins Mutterhaus als „nid so eifach“ und begründet dies zum einen mit unterschiedlichen Strömungen und Ansichten in einem Kloster, was vermutlich bedeutet, dass Änderungen in einem Großbetrieb schwieriger durchzusetzen sind als im überschaubaren Hotel P, zum anderen bezieht sich ihr „nid so eifach“ auf die von der Vorgängerin übernommene Unordnung im Finanzbereich. In diesem Zusammenhang zählt Sr. Heidi die (ungeordneten) Bereiche auf, welche unter ihre Verantwortung fallen, und verdeutlicht die Schwierigkeit, sich – vermutlich ohne fremde Hilfe – einzuarbeiten. Nochmals evaluiert sie den Anfang im Mutterhaus als „sehr sträng“. Dass Sr. Heidi eine seriöse und zuverlässige Schafferin ist, zeigt sich auch in folgendem Satz: „aber (1) mä het sich düräbisse dürägwüehlt und @gschafft wies in=eme Chloster so geit@“. Mit der verallgemeinernden Formulierung („mä“)
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und dem generellen Verweis auf die hohe Arbeitsmoral in Klöstern nimmt sie sich aber als aktive Gestalterin ihres Berufslebens hinaus. Zum einen kann dies damit erklärt werden, dass sie zu vermeiden versucht, sich als allzu lobenswerten Menschen darzustellen, zum anderen ist dies ein erneuter Hinweis darauf, dass die betriebswirtschaftliche Leitung des Klosters nicht ihr eigenes biographisches Projekt, sondern dasjenige des Klosters ist. Weiter beschreibt Sr. Heidi den heutigen betriebswirtschaftlichen Bereich als „entschlackter“. Sie begründet dies mit der Schließung der Schule, der Verpachtung des landwirtschaftlichen Betriebs und des Zusammenschlusses der Krankenkassenverwaltung mit einem anderen Kloster. Darüber hinaus hat sich ihre Arbeit auch dahingehend verändert, dass sie vermehrt mit „Fachlüüt“ zusammenarbeitet. Neu ist der – ihren Angaben zufolge – gut laufende Klosterladen. In der Beschreibung der Verkleinerung und Umgestaltung ihres Aufgabenbereichs zeigen sich die vielfältigen Veränderungen und Anpassungsleistungen des Klosters, einerseits infolge der immer kleiner werdenden Gemeinschaft, andererseits aufgrund sich wandelnder gesellschaftlicher und rechtlicher Bedingungen (Verstaatlichung der Lehrerinnenausbildung, Bundesbeiträge für Landwirtschaft). Ihre Arbeit als Ökonomin evaluiert sie am Ende der Passage verhalten positiv („aber es es isch es isch zmache es isch über(.)sichtlicher.“). Auch in dieser Passage werden die mehr als eineinhalb Jahrzehnte ihres Lebens in aller Kürze und ausschließlich auf ihre Arbeit bezogen, dargestellt. Narrative Erzählungen fehlen, die überwiegenden Darstellungsmodi sind diejenigen der Beschreibung und der Argumentation. Indem Sr. Heidi ihre biographischen Entscheidungen ans Kloster abtritt, nicht mehr aktiv Handelnde, sondern Gehandelte ist, hat sie keine eigene Geschichte mehr, die sie erzählten könnte. Unterthema 3: Reise nach Moskau, eine Rückblende (967-1009) (8) hän ich jetzt äppis no äh also gsehnd jetzt händ mer über anderthalb Stund //mhm// @(2)@ //@(2)@// also was jetzt (1) ja äppis hän i mini Reise //mhm// won ich als so zwüsched Chlosteritritt und und und Lehr oder während Lehr oder eso eini ebä no gmacht (1) nach äh: Moskau //mhm// äh::: Russland, det isch dänn no Kommunismus gsi also äh:: isch no nid äh: usänandgfloge gsi; //mhm// ziemli::::: find ich no muetig gsi dass mer in das Land geit //mhm// es isch zwar mit ere Reisegruppe gsi aber au det hän i dänn wieder Züüg gseh won ich dervor halt eifach no nie gseh hän; det häts mi zum Biespiel entsetzt. @(.)@ das muess mer jetzt ja au nüme dass mer detä äh::: wänn mer über Land gfahre isch //mhm// mit Bus hät mer gseh was mit dä Chilchene alles passiert //mhm// entweder sind die alte orthodoxe Chilche verfalle, //mhm// oder es hät Museeä drin ghä, oder Schupe, Lagerrüüm, oder äh::: Schlittschue(.)hallene, alles mögliche. //mhm// und ich hän
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dänkt mein Gott (.) dass mer das mit Chilchene so macht; //mhm// isch scho truurig //mhm// aber jetzt mues i säge ischs bi ünsch ja au so wier händ au viel zviel Chilchene wo wier nüme wüsset was mit=ne mache und die tuet mer au alli umnutze; verkaufe und umnutze °uns so wiiter° es isch also nid viel anders aber damals häts mi doch no rächt betrüeblich gstimmt. //mhm// (1) und in dem Russland ((räuspert sich)) hän i au ä anderi Welt gseh; (3) äh::::: Schlange stah:: wäget (1) Bananä und so Züüg (.) als mer (…) kriegt häd hän ich gmerkt ja mä cha zwar in en Brotlade und det kriegt mer Brot s’hät so en Hufe Brot ghä //mhm// hät mer da chöne mit eme Löffel chöne go dra trücke öbs weich sig oder ned, //@(.)@// und dänn hät mers gno oder nid gno, aber zerst händs in der Kasse müesse es Brot zahle ich hän also s’System nonig eso gnau kännt //mhm// wänn ich mal a=nä Lade bin wägis wellä wie geiht jetzt s’System? @oder?@ //@(2)@// isch ganz anders gsi als bi ünsch also zerscht geit mer go ä- än Bon go holle für es Brot und dänn gang i go dä Brot umänanddrücke nimm i das jetzt oder nimm is nid, //mhm// nacher gang i wieder zrug mit em Brot oder mit em Bon oder was (.) es isch anders gsi. und ä teil Orte hän i äbä gseh wie det mengmal das Schlange stah wänn irgend äppis will chaufe //ja// guet; dass isch au neu gsi (.) ((räuspert sich)) das ganze (.) Moskau das rote Züüg aso (1)°ah dät dä Platz (.) und die grosse° där Gum oder wie das grosse Kaufhuus detä am Rote Platz dä hät dänn doch nid eso viel Züüg dinne und vo allem z’’gliiche //mhm// und dänn hät mer z’Leningrad z’gliiche Wasser trunke und z’Moskau dune au genau z’gliiche Wa- Wasser M- Mineralwasser, mä hät det dobe zoberst äh immer die gliiche Glacechugle kriegt und z’Moskau hät die Glacechugle ä anderi Farb ghä aber genau gliich gschmeckt //mhm// (
) ganz anders Züüg alsch bi ünsch bi jedäm Esse hät mer au ä Vodka
müesse trinke aber däfür häts Kaviar ghä zu jedem Alass //mhm// isch eifach au ä frömdi Welt aber es isch //@(1)@// für 14 Tag geiht das ja //@(2)@// ja ja; (967-1009)
Nach einer langen Pause fährt Sr. Heidi mit der unvollständigen und wohl eher an sie selbst gerichteten Frage, ob sie etwas vergessen hat zu erzählen, weiter. Anschließend wendet sie sich an die Interviewerin und äußerst sich in Form einer bestätigten Vermutung zur Zeitdauer ihrer Lebensgeschichte, worauf Sr. Heidi und die Interviewerin lachen. Unklar ist, ob sie diese „über anderthalb Stund“ als kurze oder lange Erzählzeit empfindet. Obwohl die lebensgeschichtliche Erzählung hier beendet sein könnte, entscheidet sie sich, ihre Erzählung in Form einer Rückblende über ihre Reisen und insbesondere über ihrer Reise nach Moskau fortzusetzen. Sr. Heidi fährt während oder nach ihrer Berufsbildung mit einer Reisegruppe nach Russland. Ähnlich wie bereits in vorherigen Erzählungen über diese Lebensphase präsentiert sie sich als abenteuerlustige, interessierte und offene junge Frau. Ihre expliziten und impliziten Vergleiche mit dem Herkunftsland zeigen erneut, dass sie stark in ihrem Herkunftsmilieu verankert ist. Die abschließende
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Evaluation verdeutlicht dies nochmals („isch eifach au ä frömdi Welt aber es isch für 14 Tag geiht das ja“). Augenfällig ist, dass diese Rückblende, obwohl ebenfalls vorherrschend im Modus der Beschreibung präsentiert, lebendiger und detaillierter dargestellt wird als die beiden berufsbezogenen Lebensabschnitte im Kloster. Einerseits hängt dies sicherlich damit zusammen, dass das Besondere eher erzählt werden kann als das Allgemeine. Diese Erklärung alleine greift aber zu kurz. Es verdeutlicht nochmals, dass Sr. Heidis biographische Kontinuität durch den Klostereintritt abgebrochen wird, ihr Leben nicht mehr ihr eigener Entwurf ist und daher nicht mehr erzählt werden kann. Thema 11: Reflexionen über das Klosterleben (1009-1102) (7) °was sell i jetzt° (
) ((räuspert sich)) mini Biografie isch jetzt das eigentlich;
//mhm// also so (.) was ich öpe so gmacht hän (3) und warum i in s’Chloster bin, ah das wird au immer gfrägt das chönt sie ebä nie so genau säge; //mhm// will das isch es inners Gscheh (1) äh (2) irgendwie lauft innerlich äppis ab (2) und als religiöse Mensch; in ünscher (.) Sprach würde=wer säge, mä fühlt sich beruefe; //mhm// und seit derna eifach mal ja; //mhm// geiht. //mhm// muess ich säge. //mhm// anders chan ich=s nid erchläre //mhm// es isch für mich nid ä Weltflucht (.) gsi //mhm// sondern scho scho mit zweiezwenzg //mhm// (.) oder //mhm// (2) wett ich säge; //mhm// und wenn ich jetzt äh scho jetzt bin ich füfezwen- driisg Jahr im Chloster; (5) äh:::: ich äh ich ich muess säge ich ich bin glücklich im Chloster @(2)@ ich chan das leider nid //@(1)@// @(1)@ ich chan nid ich ich wier gf- gfallt ((räuspert sich)) wier gfallt mini Uufgab das isch eis, //mhm// interessanti Arbet das bruch ich jetzt vo minem Typ herä scho ä interessanti //mhm// Uufgab, //mhm// dänn gfallt wier d’Läbensstil so wie ne wer handhabed dä benediktinischi Rhythmus und die benediktinischi Usrichtig //mhm// (3) das gordnete Läbe, und das Bemüeh irgendeswo (5) ((atmet aus)) dem Läbe würklich im Läbe en Sinn zgseh //mhm// wo eifach über das (1) Vordergründige usgeiht; //mhm// was ich immer wieder sueche //mhm// isch isch=es jetzt eso //mhm// gits jetzt dä Gott //((räuspert sich)) mhm// wier läbed nid also ich läbe sicher nid ohni Glaubenszwiifel; das isch nid eifach alles eso wie d’Chilche jetzt das vorgit; //mhm// für mich mä muess au sälber mit nahdänke //mhm// zun=ere Erkenntnis cho //mhm// und dänn dänke (.) isch es jetzt für mich au eso, oder nid oder hoff ich nu es sig eso //mhm// also für mich isch es:: rein religiös ä ständigi Suechi (.) es ständigs Bemühe (3) ich hoffe immer ich hoffe immer es isch eso wie wier=s als Katholike glaubend. es git dä Gott (.) hoff ich (.) es git es Läbe nach em Tod (.) hoff ich //mhm// aber ich bin nid sicher //mhm// aber ich äh vo det herä (.) isch d’Useforderig; die geistig (2) da:: es isch nid eifach eso //mhm// oder s’immer immer dra bliibe //mhm// das isch die eint Siite und die ander isch ebä dä Bruef; detä isch d’Useforderig natürlich (.) d’Ufgab au
216 | A NDERE W EIBLICHKEITEN no da, //mhm// und s’ganze Umfeld won muess stimme dass me zfriede isch, glücklich chan sii irgendswie müend sie ja au gueti Beziehige hä //mhm// in dä Gmeinschaft sälber //mhm// das isch für mich jetzt au gäh, vo det herä (.) bin ich fühl ich mich @am richtige Ort@ //@(1)@// also i- für mich isch mis Läbe jetzt eigentlich (2) ziemlich stimmig //mhm// (1) und der Wäg isch pfihu bi wier halt relativ (1) äh nid nid es isch nid mini Art //mhm// gsi also es isch ziemli gordnet (.) zielsträbig irgendswo higange; //mhm// ich hän nid grossi Abbrüch oder Umweg oder retour und wieder fürschi und dänn die Irri und wieder hin und her //mhm// s’isch äh:: bi wier ziemli entschiede, //mhm// find ich äh::: relativ ei- ich weiss nid ob mer dem cha säge relativ grad eifach gange //mhm// da gits sicher anderi Gschichte //mhm// wo wo meh müend suche //mhm// oder //mhm// (2) aber es isch es Läbe für mich ebä eine Möglichkeit isch vo verschiedenen aber wo durchus (1) au im Bereich des Möglichen liegt für ünsch //mhm// (1009-1053)
Nach einer längeren Pause ergreift Sr. Heidi nochmals das Wort, ist sich aber nicht sicher, ob, und wenn ja, wie sie in ihrer Erzählung weiterfahren soll. An den chronologischen Aufbau kann sie sich nicht mehr halten, da sie ihre Lebensgeschichte eigentlich zu Ende erzählt hat („mini Biographie isch jetzt das eigentlich; also so (.) was ich öpe so gmacht hän“). Sr. Heidi entscheidet sich weiterzuerzählen und geht nach einer erneuten Pause auf das Thema Berufung ein, da sie aufgrund bereits gemachter Erfahrungen bei der Interviewerin ein dementsprechendes Interesse antizipiert. Zum ersten Mal in ihrer biographischen Erzählung bezieht sie sich auf ihren Glauben. Sie versucht die Berufung als „inners Gscheh“ zu erklären. Ihr fehlen jedoch die Worte, um diesen inneren und auf ihre Religiosität bezogenen Prozess zu beschreiben. Sie verfällt erstens in verallgemeinernder Weise in die klösterliche Terminologie („in ünscher (.) Sprach würde=wer säge, mä fühlt sich beruefe“) und nimmt sich zweitens als Akteurin ihres biographischen Plans heraus („und seit derna eifach mal ja; geiht“). In einem erneuten Anlauf, und diesmal in IchForm, bemüht sich Sr. Heidi ihren Entscheid, ins Kloster einzutreten, nicht als Weltflucht darzustellen, und distanziert sich damit einmal mehr von einem bestimmten Klosterfrauenklischee. Der anschließende, durch mehrere Abbrüche gekennzeichnete Versuch einer Gegendarstellung misslingt jedoch („sondern scho scho mit zweiezwenzg (.) oder (2) wett ich säge;“). Sie schließt diesen missglückten Erklärungsversuch mit der Feststellung ihres langjährigen Aufenthalts im Kloster und versucht darüber einen Nachweis für ihren religiösen Lebensweg zu erbringen. Wieder folgt eine längere Pause. Anschließend evaluiert Sr. Heidi ihre Zeit im Kloster zögerlich positiv („äh:::: ich äh ich muess säge ich bin glücklich im Chloster“). Unterbrochen durch zwei kürzere Lacher, versucht sie mitzuteilen, dass sie
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dieses Glücklichsein nicht erklären kann („@(2)@ ich chan das leider nie @(1)@ ich chan nid ich ich“). Nachdem sie auch diese Erklärung abbricht, fährt sie mit der Beschreibung dessen, was ihr am Klosterleben gefällt, weiter. Hier findet sie die Worte und nennt zum einen ihre berufliche Aufgabe und zum anderen den benediktinischen Lebensstil. Dass sie ihre Arbeit nennt, erstaunt insofern nicht, als sie ihr Leben nach dem Klostereintritt zum größeren Teil aus der beruflichen Perspektive erzählt. Neu ist jedoch, dass sie sich auf ihre gelebte Religiosität bezieht. Zunächst nennt sie „dä benediktinischi Rhythmus“ und spricht damit den durch verschiedene Gebetsformen und Arbeit rhythmisierten Alltag an.31 Anschließend nennt sie „diä benediktinischi Usrichtig“ und differenziert diese als geordnetes Leben32 und als Bemühung, dem Leben Sinn abzugewinnen. Sinn ist für Sr. Heidi verbunden mit der Suche nach Gott. Interessanterweise meldet sie hier, zuerst in der Wir-Form, dann explizit auf sich selbst bezogen, Glaubenszweifel an. Im Hinblick auf ihre religiöse Suche und dem damit verbundenen Glaubenszweifel geht es nicht nur darum, die Beziehung zu Gott zu vertiefen oder den richtigen Weg zu finden, sondern um die grundlegende Frage nach der Existenz Gottes („gits jetzt dä Gott“). Die Frage, bezogen auf ihren Lebensweg, ist eine existenzielle, denn je nach Antwort müsste sie diesen anzweifeln. Ihre Hoffnung auf eine positive Beantwortung der Frage wird dadurch umso verständlicher. In der Auseinandersetzung mit ihrem Glauben und ihren Glaubenszweifeln orientiert sich Sr. Heidi nicht nur an den Vorgaben der katholischen Kirche. Indem sie diese als Anregung aufnimmt, um selber über den Glauben nachzudenken und zu eigenen Erkenntnissen zu gelangen, zeigt sie einen eigenständigen Umgang mit Glaubensfragen. Die Beschäftigung mit diesen Fragen ist für sie ein anspruchsvoller und ein nicht, vielleicht nie abgeschlossener Prozess. In der weiteren Darlegung dessen, warum ihr das Klosterleben gefällt, verweist sie nochmals auf ihr Berufsleben. Schließlich ist es aber „s’ganze Umfeld won muess stimme“, und meint damit vor allem „gueti Beziehige“, obwohl gerade diese in ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung nach dem Klostereintritt nur spärlich thematisiert werden. Insgesamt evaluiert Sr. Heidi ihr Klosterleben verhalten positiv („vo det herä (.) ich fühl ich mich @am richtige Ort@ also i- für mich isch mis Läbe jetzt eigentlich (2) ziemlich stimmig“). Ihren eigenen Lebensweg beschreibt Sr. Heidi als „ziemli gordnet“ ohne „grossi Abbrüch oder Umweg oder retour und wieder fürschi und dänn i d’Irri und wie-
31 Vgl. hierzu Kap. 2.5. 32 Mit dem „geordneten Leben“ spricht Sr. Heidi vermutlich erneut den rhythmisierten Alltag an, darüber hinaus könnte sie damit aber auch das durch wiederkehrende Feiern und Zeremonien des Kirchenjahres sowie Hierarchien und Regeln strukturiere Ordensleben meinen.
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der hin und her“. Anschließend vergleicht sie ihren gradlinigen Weg mit anderen „wo wo meh müend sueche“. Bezogen auf die Stationen ihres Lebenslaufs mag diese Einschätzung sicherlich stimmen. Ein Leben, in dem einmal getroffene Entscheidung nicht mehr rückgängig gemacht werden (wie in der Bauernfamilie zu arbeiten, nach Israel zu reisen, ins Kloster einzutreten), auch wenn diese Entscheidungen viel abverlangen, erscheint relativ geordnet. Damit blendet sie aber die darin enthaltenen belastenden Erfahrungen, wie z. B. die sexuelle Belästigung, ihre Unsicherheit in Bezug auf den Klostereintritt, ihre depressive Krise zu Beginn ihres Klostereintritts und vielleicht auch ihre anhaltenden Glaubenszweifel aus. Abschließend stellt Sr. Heidi ihr gewähltes Leben als Klosterfrau als „eine Möglichkeit von verschiedenen“ dar. Damit bekennt sie sich zwar zu ihrem Lebensweg, eröffnet damit aber gleichzeitig ein Spektrum ungelebter Möglichkeiten. Dass das Leben im Kloster für sie und die anderen Ordensschwestern „im Bereich des Möglichen liegt“, ist einerseits nochmals eine verhalten positive Evaluation ihres Lebensweges und bestätigt andererseits die bereits oben geäußerte These, dass religiösen katholischen Frauen ein Lebensentwurf zur Verfügung steht, der anderen Frauen verschlossen ist. (7) und die ganzi Fraueemanzipation oder (.) also guet vo dem hän i no gar nüt gret //@mmh@// wänd sie sich jetzt scho um das kümmeret //@(1)@//um so Männer Fraue (1) also (1) ich hän ich äh m- mis Läbe isch jetzt extrem fraueprägt //mhm// also wier händ sälber entschiede; //mhm// wier sind ünscher eige Chef //mhm// ich bin Chef vo Männer //mhm// (3) en Chef als Maa hän ich jetzt eigentlich i mim Läbe während dä Lehr ghä, (1) und viellicht en Verwaltigsratspräsident wänn er sie au no Verwaltigsrätin sind also guet das isch denn nur am Rand das isch eifach, und sus sind isch (1) äh::: sind wier Froue sälbständig; //mhm// ich hän eigentlich nie Schwieri- also n::: nie würkli müesse Männer underordne in dem Sinn //mhm// dass es äh Chile isch äh isch natürlich ganz //mhm// da red i lieber nid druber; das isch natürlich in der Chilche isch es anders //mhm// in der Chilche isch es eifach mein=i Männer Gott Gebot mä hät d’Männer also so es paar zölibatäri Herre //mhm// es sig Gott gewollt d- d- das müend sie dänn au es bitz anders säge dass jetzt eifach nur d’Männer dörfend und äh::: und eigentlich d’Chilche leite; //mhm// das stimmt nid. //mhm// ich bin uberzügt das isch en Irrtum. //mhm mhm// das isch en Irrtum. //mhm// pf:: °also (.) guet° @(.)@ nei aso das da bin ich obwohl ich sälber für mich chämt so äppis jetzt gar nid in frag ich wetti nid Lehrerin sie ich wetti nid Priesterin sie ich wetti nid en Bühneuftritt //mhm// das sind Bühneuftritts- //mhm// Brüef //mhm// und da bin ich viel zghemmt ich hän viel zviel Lampefieber für dä Bühneuftritt //mhm// tuen ich ä so=nen Bruef nid a=@strebe@ will wier das z’viel Nervechraft brucht also Lampefieber uszhalte isch:: äh u Asträngig //mhm// guet; also für mich chunts nid in Frag aber grundsätzlich muess ich säge dä Chilche es ischt für mich (.) der grösste Irrtum oder d’Chile irrt
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in der Frag. //mhm// bin ich felsefest überzügt spielts kei Rolle öb wier Maa oder Frau sind zum am Altar stah ä Rock träge und °chöchele° //mhm// oder (.) also sie mached ganz wiiblichi Ufgabe sie wandlet wandle tuet ä Frau ä Frau gebiirt Neus //mhm// nid dä Maa (.) oder? und und äh:: dänn in der Mässfiir wandlet mer äppis; //mhm// es isch so wiiblich //mhm// aber es dürfet nur d’Männer mache //mhm// oder Chranki sägne; das isch doch en Frauebruef wie nur äppis was macht dänn ä Muetter die ganz Ziit? //mhm// das Chind tröste und Chranki pflegä und sägne //mhm// das dörfed nur d’Männer //mhm// das isch doch verchert. also es isch eifach mini Überzügig //mhm// aber viellicht chunts in der Chilche au no mal sowiitt (1) es brucht halt Ziit ((räuspert sich)) //mhm// also ich dänke scho aso (1) pf:: (.) obwohl detä händ ja d’Chlöster einiges gleistet also jetzt grad die Kongregatione händ in der Frauebildig Fraueemanzipation in der letschtä 150 Jahr Wesentlichs gleistet. sie händ die d’Fraue usbildet; Lehrerinne; das sind doch wichtigsti Funktionen das sind ja d’Erzieherinne vo dä vo dä junge Lüüt //mhm// oder Chrankeschwestere all das; //mhm// ich denkä det durä händ d’Chlöster einersiits sehr viel ta in der Fraueemanzipation und anderersiits (.) sind sie in dem männerprägte Gefüge vo dä katholische Chilchene und bliibend eifach immer die Blöde. (.) nei nid alli aber mh::::::: aber da muess mer eifach mängmal sälber überlege; //mhm// und nid immer nur (.) das übernäh was die Kirche oder wer au immer (.) was die offizielli Lehre isch, mer muess sälber überlege ob das überhaupt stimmig isch und ich meine nei. (4) wettet sie gerä än Kafi? (1053-1102)
In der Orientierung am (antizipierten) Interesse der Interviewerin greift Sr. Heidi anschließend das Thema „Frauenemanzipation“ auf. Sie beschreibt ihr Leben abermals als „fraue-prägt“, gar als „extrem fraueprägt“, bezieht sich hier aber nicht wie zu Beginn ihrer biographischen Erzählung auf ihre Herkunftsfamilie. In erster Linie bezieht sie sich auf die klösterlichen Frauengemeinschaften, innerhalb derer Frauen Entscheidungskompetenzen innehaben und an der Hierarchiespitze sitzen. Auch sie selbst bezeichnet sich als „Chef vo Männer“ und betont, dass sie in ihrem Leben nur ganz selten Männern untergeordnet war. Sie beschreibt die weibliche Ordensgemeinschaft als eine Frauenmacht, was durch die Situierung der Gemeinschaft in die katholische Kirche ein jähes Ende findet. Mit der rhetorischen Bemerkung „da red i lieber nid drüber“ macht sie deutlich, dass sie mit der Geschlechterordnung in der katholischen Kirche nicht einverstanden ist. Sie setzt ihre Erzählung fort, indem sie die patriarchalen Strukturen der katholischen Kirche („Männer Gott Gebot“) und die darin angelegte männlichen Definitionsmacht als vermeintlich gottgewollte kritisiert. Die an die Interviewerin gerichtete Aufforderung, ihre Kritik umzuformulieren, weist darauf hin, dass es sich dabei um eine heikle Angelegenheit handelt. Problematisch für Sr. Heidi ist, dass sie als Klosterfrau
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die zwingenden Vorgaben der katholischen Kirche bezüglich der ausschließlich Männern vorbehaltenen Priesterweihe und der damit zusammenhängenden Leitung der Kirche anzweifelt („das stimmt nid. ich bin uberzügt das isch en Irrtum“). In ihrem Ungehorsam stellt sie sich letztendlich gegen den Papst, der in der Nachfolge Christi den Willen Gottes erfüllt. 33 Weiter argumentiert Sr. Heidi mit der grundsätzlichen Gleichwertigkeit von Mann und Frau und mit den als typisch weiblich identifizierbaren Handlungen eines Priesters. Wie bereits zu Beginn der biographischen Erzählung dokumentiert sich bei Sr. Heidi auch hier eine Sensibilität für Geschlechterfragen, ohne dass sie die gesellschaftliche Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit außer Kraft setzt, im Gegenteil, diese wird hier geradezu zementiert. In ihren Reflexionen über Geschlecht und die Geschlechterverhältnisse in der katholischen Kirche geht es ihr weniger um ihre eigenen biographischen Erfahrungen, sondern vielmehr um eine allgemeine Kritik der kirchlichen Macht- und Autoritätsverhältnisse und der damit verbundenen strukturellen Benachteiligung der Frauen. Sie hofft auf eine entsprechende Öffnung der Kirche, ist sich dessen aber nicht sicher. Konkrete Lösungsvorschläge oder Handlungsoptionen eröffnet sie allerding keine. Abschließend geht Sr. Heidi auf die Vorreiterrolle der weiblichen Gemeinschaften ein. Sie erkennt in der Frauenbildung („Lehrerinne“; „Chrankeschwestere“) ein emanzipatives Ansinnen. Indem sie die auf Emanzipation ausgerichteten Frauengemeinschaften sogleich wieder im „männerprägte Gefüge vo dä katholische Chilche“ situiert, verdeutlicht sie nochmals das auf Geschlecht und die Geschlechterverhältnisse ausgerichtete Spannungsverhältnis zwischen den
33 „Obwohl die Lehre über die nur Männern vorbehaltene Priesterweihe sowohl von der beständigen und umfassenden Überlieferung der Kirche bewahrt als auch vom Lehramt in den Dokumenten der jüngeren Vergangenheit mit Beständigkeit gelehrt worden ist, hält man sie in unserer Zeit dennoch verschiedenenorts für diskutierbar, oder man schreibt der Entscheidung der Kirche, Frauen nicht zu dieser Weihe zuzulassen, lediglich eine disziplinäre Bedeutung zu. Damit also jeder Zweifel bezüglich der bedeutenden Angelegenheit, die die göttliche Verfassung der Kirche selbst betrifft, beseitigt wird, erkläre ich kraft meines Amtes, die Brüder zu stärken, dass die Kirche keinerlei Vollmacht hat, Frauen die Priesterweihe zu spenden, und dass sich alle Gläubigen der Kirche endgültig an diese Entscheidung zu halten haben“ (Johannes Paul II., 1994). „Die Kirche hat ‚keinerlei Vollmacht‘, Frauen zu weihen. Es ist nicht so, dass wir sagen, wir mögen nicht, sondern: Wir können nicht. Der Herr hat der Kirche eine Gestalt gegeben mit den Zwölfen – und in deren Nachfolge dann mit den Bischöfen und den Presbytern, den Priestern. Diese Gestalt der Kirche haben wir nicht gemacht, sondern sie ist von Ihm her konstitutiv“ (Benedikt XVI./Seewald, 2010).
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Frauengenossenschaften und der Kirche. Dass die Frauengemeinschaften „immer die Blöde“ bleiben, nimmt sie sogleich wieder zurück, erläutert dies aber nicht weiter. Wie bereits oben in Bezug auf Glaubensfragen fordert Sr. Heidi einen mündigen Umgang mit den Lehren der katholischen Kirche. Indem sie nochmals ihre Zweifel gegenüber kirchlichen Dogmen äußert, zeigt sie sich erneut widerständig. Nach einer längeren Pause beendet sie schließlich mit der Frage, ob die Interviewerin einen Kaffee möchte, ihre biographische Eingangserzählung. Zwischenfazit (842-1102) Sr. Heidi präsentiert die von der Klosterleitung bestimmten Ausbildungs- und Berufspläne und die damit einhergehenden Versetzungen nicht nur in selbstverständlicher Art und Weise, sondern auch losgelöst aus ihrem biographischen Gesamtzusammenhang. Es scheint, als ob die weiteren Schritte ihres Lebenslaufs aus dem Nichts entstehen und frei von Zukunftsplänen sind. Obwohl Sr. Heidi ihre Lebensgeschichte weiterhin chronologisch darlegt, hat sie Mühe, Kontinuität herzustellen. Diese Schwierigkeit hat sicherlich auch damit zu tun, dass sie ihren vorklösterlichen Lebensentwurf, also ihre hedonistisch-soziale Orientierung, im Kloster aufgeben muss. Zunehmend präsentiert sie ihre Lebensgeschichte aus beruflicher Perspektive, wobei immer deutlicher wird, dass es sich dabei nicht um ihr eigenes biographisches Projekt, sondern um dasjenige des Klosters handelt. Dies zeigt sich in den immer kürzeren und vorwiegend in den Modi der Argumentation und Beschreibung dargelegten Lebensphasen. Darüber hinaus präsentiert sie ihr Berufsleben vor allem in der Wir-Form und nimmt sich somit als aktive Gestalterin ihrer (beruflichen) Biographie heraus. Im Reflexionsteil zeigt sich bei Sr. Heidi zwar ein eigenständiger Umgang mit Glaubensfragen, aber vorwiegend in den Darstellungsmodi der Argumentation und Evaluation. Auch die Frage, warum sie den spirituellen Weg gewählt hat, kann sie nicht erzählen, sondern nur über den Begriff „Berufung“ und damit in der institutionalisierten Terminologie des Klosters erklären. Hier zeigt sich vermutlich abermals die Problematik, persönliche religiöse Erfahrungen einer Angehörigen der säkularen Welt auf plausible Weise darzustellen und intersubjektiv nachvollziehbar zu vermitteln. Ihr Hinweis auf den benediktinischen Lebensstil offenbart eine weitere Schwierigkeit in Bezug auf das biographische Erzählen. Während Biographien mit abwechslungsreicher Lebensführung und vielfältigen Lebenssituationen Geschichten und Emotionen evozieren, ist es schwierig, einen hochgradig rhythmisierten Lebensalltag zu erzählen.
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Sr. Heidis allmähliche Übernahme neuer Orientierungen (Regeln der klösterlichen Institution, fremdbestimmter Lebensentwurf, Fremdtheorien usw.), die damit einhergehende Einschränkung ihrer Handlungsautonomie und ihr gleichförmig rhythmisierter Klosteralltag führen dazu, dass das Spezifische und Unverwechselbare ihrer Lebensgeschichte verloren geht. Ihre vorklösterliche IchPerspektive entwickelt sich zunehmend zu einer Wir-Perspektive des Klosters. Während Sr. Heidi ihre Biographie vor dem Klostereintritt problemlos erzählen kann, sinkt der Narrativitätsgrad nach dem Klostereintritt deutlich. Der Verlust der Ich-Perspektive zeigt sich bei Sr. Heidi als allmählicher Prozess, der mit der Überwindung ihrer Krise in der Hauptsache abgeschlossen ist. Was sich in diesem Themenbereich ebenfalls zeigt, ist Sr. Heidis prozesshafte Aneignung einer neuen weiblichen Identität. Nach den durch Geschlechterneutralität geprägten Lebensphasen Berufung und Ordensausbildung wird Geschlecht im städtischen Kontext wieder relevant. Erst die Deutlichkeit des Sichtbaren in der säkularen Welt bringt ihre nonkonforme weibliche Wirklichkeit hervor. Die Tatsache, dass sie in der Welt nun anders wahrgenommen wird und die Menschen ihr anders begegnen (Auskunftsperson, Antizipation christlicher Barmherzigkeit), ist ihr noch fremd. Sie selbst fühlt sich als Klosterfrau einerseits deplatziert, empfindet die Ordenstracht andererseits als Schutz hinsichtlich ihrer körperlichen Integrität. Der Prozess der Aneignung einer alternativen Form des Frauseins scheint ebenfalls mit der Überwindung ihrer Krise zu einem Abschluss zu kommen. Die biographische Darstellung der aus der beruflichen Perspektive präsentierten Lebensphasen ist erneut durch ein Undoing Gender geprägt. Geschlecht und die Geschlechterverhältnisse werden erst wieder im Reflexionsteil thematisiert, wenn auch ausschließlich im Modus der Argumentation. Während Sr. Heidis klösterlicher (und damit auch beruflicher) Alltag ein Ausklammern der Geschlechterverhältnisse in der Kirche erlauben, gelingt ihr das beim gedanklichen Verlassen des frauengeprägten Raumes nicht mehr. Obwohl ihr das Kirchensystem, die darin eingebundene klösterliche Hierarchie und das damit verknüpfte Gehorsamsgelübde das laute Nachdenken über die auf Geschlecht bezogenen Ungleichverhältnisse in der Kirche verbieten, kritisiert Sr. Heidi die patriarchalen Strukturen der katholischen Kirche und die darin angelegte männliche Definitionsmacht. Das Eindringen des männlichen Klerus in die weibliche Gemeinschaft empfindet sie nicht direkt als Bedrohung, sondern beschreibt dies (ähnlich wie bereits bei ihrem Großvater) als vom falschen Geschlecht vollzogene religiöse Handlungsweisen. In ihren gedanklichen Auseinandersetzungen mit der patriarchalen Kirche und den eingeschränkten Möglichkeiten der Frauen ist bei ihr aber keine Widerständigkeit im Sinne von
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aktivem Protesthandeln, sondern die Aufforderung eines mündigen Umgangs mit den Lehren der katholischen Kirche und passive Hoffnung auf eine Veränderung der Verhältnisse zu finden. Obwohl Sr. Heidi in ihrer gesamten lebensgeschichtlichen Erzählung immer wieder versucht, Kontinuität herzustellen, werden insbesondere in den letzten Themenbereichen die Kontinuitätsabbrüche offensichtlich. Der Klostereintritt ermöglicht ihr zwar ein Leben jenseits von heterosexuellen Bedrohungen, aber um den Preis ihrer Handlungsautonomie. In ihrer Evaluation, dass das Leben als Ordensschwester eine Möglichkeit u. a. ist, zeigt sie in eindrücklicher Weise, wie sie mit ihren biographischen Diskontinuitäten umgeht. Einerseits verweist sie damit auf ihre nicht realisierten Möglichkeiten, andererseits versucht sie die biographischen Bruchstücke zusammenzuhalten, indem sie damit aufzeigt, dass sie als religiöse Frau eine alternative weibliche Seinsmöglichkeit gefunden hat. 6.2.3 Zusammenfassende Darstellung biographischer Muster Sr. Heidis Lebensgeschichte ist in zwei Hälften geteilt: in eine vorklösterliche und in eine klösterliche Lebenswelt. Die Erzählung vor dem Klostereintritt ist deutlich durch eine hedonistisch-soziale Orientierung sowie durch emotionale und narrative Erzählanteile geprägt. Nach dem Klostereintritt ist Beruflichkeit zentraler Strukturgeber, Emotionen und Narrationen sind kaum mehr zu finden. In ihrer gesamten biographischen Erzählung sucht Sr. Heidi nach Gründen ihres Klosterbeitritts bzw. versucht, ihren gewählten Lebensweg als Klosterfrau zu legitimieren. Fragen nach Normen und Normalität sind dabei zentrale Bestandteile. Religiosität konstruiert Sr. Heidi erst im Nachhinein, am Ende ihrer lebensgeschichtlichen Eingangserzählung. Sr. Heidi wächst, eingebettet im katholischen Milieu eines Bergdorfes, in einem stabilen familiären Rahmen auf, zusammen mit ihrem Vater, ihrer Mutter, vier Geschwistern und – in ihrer frühen Kindheit – mit einem Großelternpaar. Sie stammt aus einer einfachen, eher bildungsfernen Familie. Aufgrund des Arbeitskraftüberangebots arbeitet der Vater außerhalb des Bergdorfes und ist nur zeitweilig zu Hause. Dies macht Sr. Heidis Mutter immer wieder zur Alleinerziehenden und den Haushalt zum frauengeprägten. Die Orientierung an der Zweielternschaft wird dadurch aber nicht aufgegeben. Obzwar Sr. Heidi in einer weiblich geprägten Familie aufwächst, hat sie einen engen Bezug zum Vater. Sie orientiert sich an seiner berufsbedingten Verbindung zur großen, weiten Welt. Die Beziehung zur Mutter ist eine lokal verankerte und durch die alltäglichen Notwendigkeiten geprägte.
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In Sr. Heidis Darstellungen ihrer Kernfamilie dokumentieren sich, trotz der engen Beziehung zum Vater und ihrer Konstruktion einer glücklichen Kindheit, prekäre Verhältnisse in Form von fehlender emotionaler Zuwendung. Im Zusammenhang mit ihren Erfahrungen als Magd und den daraus entstehenden seelischen Nöten wird sie von den Eltern, vor allem von der Mutter, alleine gelassen. Sie ist mit ihren Problemen auf sich gestellt. Ihre Erzählungen über die Belästigung als Magd und über ihre Beobachtungen promiskuitiven Verhaltens im Kibbuz weisen darauf hin, dass Körperlichkeit und Sexualität hoch besetzt sind und dass sie den Prozess des Frauwerdens als riskant erfährt. Sexualität und Bedürftigkeit spaltet sie in der Folge mehrfach ab. Für die Bewältigung von Konstruktionsleistungen im Hinblick auf ihre Weiblichkeit kann Sr. Heidi nicht auf ihre Mutter zurückgreifen, sondern versucht, über das katholische Milieu des Bergdorfes und der darin eingelagerten kulturellen Praxis des weiblichen religiösen Lebensweges biographische Kontinuität herzustellen. Trotz dieser starken Verankerung im sozial-kulturellen Herkunftsmilieu sucht Sr. Heidi den Ausbruch. Mit ihrem hedonistisch-sozialen Lebensentwurf versucht sie immer wieder, die Begrenzungen des katholischen Bergdorfes zu sprengen. Das Mehr an Neuem wirft sie jedoch umso stärker zurück in die alten Strukturen. Daraus wird deutlich, dass sie ihre Identität primär aus der Identifikation mit dem sozialkulturellen Milieu heraus konstruiert. Die Bedeutung des katholischen Milieus ist für ihre Frauwerdung und ihr Frausein letztlich wichtiger als die Familie. Mit dieser anderen Form der Verwurzelung löst sie sich von ihrer Familie ab und tritt ins Kloster ein. Die religiöse Frauengemeinschaft als alternative Lebensform jenseits von Heirat und Familiengründung bietet Sr. Heidi zwar den größtmöglichen Schutz vor dem bedrohlich Männlichen, jedoch um den Preis ihres hedonistischsozialen Lebensentwurfs und um den Preis ihrer Handlungsautonomie. Sr. Heidi leidet vor allem zu Beginn ihres klösterlichen Lebens unter den hierarchischen Strukturen der Gemeinschaft bzw. unter dem Verlust ihrer autonomen Lebensführung und stürzt in eine tiefe Lebenskrise. In dieser Krise versucht sie über ihre Beruflichkeit, die bis anhin nie ihr zentraler Lebensentwurf war, biographische Kontinuität herzustellen. Obwohl sie die Krise zu überwinden vermag, zeigen sich die biographischen Diskontinuitäten deutlich. Die Beruflichkeit ist nicht ihr eigenes biographisches Projekt, sondern dasjenige des Klosters. Dies führt dazu, dass sie ihre Biographie nicht mehr aus der Ich-, sondern aus der Wir-Perspektive des Klosters erzählt. Während Sr. Heidi ihre vorklösterliche Lebensgeschichte noch ausführlich und emotional zu erzählen vermag, kann der hochgradig rhythmisierte und fremdbestimmte Alltag im Kloster nicht mehr erzählt werden.
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Zudem verläuft die Aneignung einer neuen weiblichen Identität nicht problemlos. Sr. Heidi bewältigt ihre weibliche Identität teilweise über Neutralität (Undoing Gender). Diese Ausklammerung von Geschlecht und der Geschlechterverhältnisse funktioniert allerdings nur implizit, also solange Geschlecht und die Geschlechterverhältnisse (in der Gemeinschaft) nicht sichtbar werden. Erst die Deutlichkeit des Sichtbaren unter der Bedingung herrschender Wahrnehmungsweisen (säkulare Welt) bringen ihre nonkonforme Weiblichkeit und eine Auseinandersetzung mit ebendieser hervor. Aber auch innerhalb der religiösen, katholischen Lebenswelt bleibt Geschlecht eine relevante Strukturkategorie, die sichtbar Hierarchisierungen und Machtverhältnisse hervorbringt. Auch hier gelingt Sr. Heidi nur implizit eine Ausklammerung der Geschlechterordnung, auf der expliziten Ebene reflektiert und kritisiert sie die patriarchalen Strukturen der katholischen Kirche und die darin angelegte männliche Definitionsmacht. Indem sie dies tut, obwohl das Gehorsamsgelübde ihr dies verbietet, zeigt sich bei ihr ein Aufblitzen von Aufständigkeit. Im Hinblick auf die Entwicklung ihrer weiblichen Identität kann Sr. Heidis Klostereintritt als sinnvolles Arrangement mit Ambivalenzen bezeichnet werden. Trotz biographischer Diskontinuitäten und nicht realisierter Möglichkeiten findet sie eine alternative weibliche Existenzweise.
7 Vergleichende Reflexionen und theoretische Weiterführungen Vergleichende Reflexionen und theoretische Weiterführungen Im vorangegangenen Kapitel wurden zwei detaillierte Fallrekonstruktionen als Ankerfälle dargestellt. Dabei handelt es sich um je individuelle Formen der biographischen (Re-)Konstruktion von Geschlecht und der Geschlechterverhältnisse. Im Folgenden werden die lebensgeschichtlichen Erzählungen der beiden Frauen unter Einbezug fünf weiterer Biographien1 neu betrachtet und aus der Logik übergreifender Perspektiven2 zueinander in Bezug gesetzt. Dabei handelt es sich einerseits um die biographische Dimension des Geschlecht-Werdens. Soweit (Re)Konstruktionsprozesse von Geschlecht als ein Prozess des Werdens verstanden werden, gilt es, geschlechtsstrukturierende Handlungsumwelten und deren subjektive Verarbeitungen in die Analyse miteinzubeziehen. Als besonders relevante geschlechtsstrukturierende Handlungsumwelten der Ordensfrauen haben sich die Herkunftsfamilie bzw. das Herkunftsmilieu, die Rolle der Religion im Herkunftsmilieu und das Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlichen (geschlechtercodierten) Erwartungen und eigenem Lebensentwurf erwiesen. Andererseits handelt es sich um die biographische Dimension des Geschlecht-Seins. In dieser Dimension zeigt sich der konjunktive Erfahrungsraum Kloster als spezifisch weiblicher Sozialraum, eingebettet in Kirche und Gesellschaft, als ein relevanter Aspekt hinsichtlich der (Re)Konstruktion von Geschlecht. Mithin werden Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede der Ordensschwestern deutlich gemacht. Zentrale Themen und Sachverhalte, die sich aus dem empirischen Material herauskristallisiert haben, werden jeweils mit theoretischen Überlegungen und Positionen diskutiert. Ziel dieses Kapitels ist es aber nicht, einen vollständigen Theorieentwurf zu verfassen, vielmehr sollen wichtige Aspekte aus dem empiri1
Biographische Kurzbeschreibungen siehe Anhang.
2
Vgl. hierzu Kap. 4.
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schen Material herausgearbeitet, theoretisch durchleuchtet und so ansatzweise für eine Theoriebildung hinsichtlich der biographischen Modi der Geschlechterkonstruktionen und der Geschlechtsgebundenheit biographischer Konstruktionen (vgl. Dausien 2002, S. 207) über einen bestimmten Gegenstandsbereich fruchtbar gemacht werden.
7.1 B IOGRAPHISCHE K ONSTRUKTIONSPROZESSE G ESCHLECHT : K LOSTERFRAU WERDEN
VON
Wenn Individuen ihre Biographien (re-)konstruieren, beziehen sie sich auf konkrete geschlechtsstrukturierende Handlungsumwelten (Herkunftsfamilie, Milieu usw.). Diese tangieren jegliche Dimensionen des sozialen Raumes und sind „in komplexer Weise in die Strukturwidersprüche (Differenzen) und Machtstrukturen (Hierarchien) eingebaut“ (Dausien 1996, S. 579f.; Herv. i. O.). Gemeint sind hier z. B. die geschlechtsspezifischen Rollen- und Arbeitsteilungen. Geschlecht ist jedoch „nicht nur horizontal bestimmt, sondern hat ebenfalls einen kumulativen Effekt in vertikaler Perspektive“ (op. cit., S. 580; Herv. i. O.). Besonders gut nachweisen lässt sich dies an den „sozial vorstrukturierten Berufswegen von Frauen und Männern“, […] „quer zu verschiedenen Bildungs- und Milieufaktoren“ (ibid.). Milieu und Lebenswelt begrenzen demnach die Möglichkeiten individuellen Handelns, fixieren sie aber keineswegs (vgl. op. cit., S. 581). Mit dem Vorschlag Bettina Dausiens (op. cit., S. 581f.; Herv. i. O.), „auch die individuelle Biographie als Handlungsumwelt zu betrachten“, kann „der unmittelbare soziale Nahraum, in dem eine Biographie beginnt und sich weiterentwickelt, als eine ‚um das Individuum zentrierte‘ raum-zeitliche Bewegungsstruktur interpretiert werden“, im Sinne eines „Akkumulationsprozess[es]“, der „selektiv, aber prinzipiell offen“ ist. Relevant für die biographischen Konstruktionsprozesse von Geschlecht sind also auf der einen Seite die geschlechtsstrukturierenden Handlungsumwelten, auf der anderen Seite werden die nach Geschlecht differenzierten Strukturen aber in der je konkreten Erfahrungsaufschichtung der gesamten Lebensgeschichte „vom Individuum selektiv angeeignet und in einzigartiger Weise biographisch verknüpft“ (op. cit., S. 585). Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass gesellschaftliche geschlechtercodierte Strukturen bei den Ordensschwestern zu unterschiedlichen, aber auch zu ähnlichen Konsequenzen führen. „Das entscheidende ‚Scharnier‘ zwischen gesellschaftlicher Struktur (Handlungsumwelten) und individueller Performanz (biographischer Konstruktion) ist deshalb im Aneignungsprozess selbst zu suchen: in der Art der Verknüpfung, in den generativen Konstruktionsprinzipien“ (ibid.).
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7.1.1 Geschlecht und Geschlechterverhältnisse im Herkunftsmilieu Zu den geschlechterstrukturierenden Handlungsumwelten gehören sowohl die Kern- bzw. Herkunftsfamilie der Ordensschwestern, als auch das gesamte Herkunftsmilieu mit den darin enthaltenen Beziehungen zu signifikanten Anderen. Aus allen sieben biographischen Interviews wird deutlich, dass die Frauen in Familien aufwachsen, die sich durch eine gewisse Beständigkeit und Kontinuität auszeichnen, trotz der z. T. nicht unproblematischen Familienverhältnisse. Auch wenn die Frauen in unterschiedlichen historischen Situationen und somit auch unter unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen in Bezug auf Geschlecht aufwachsen,3 dokumentieren sich in den jeweiligen Herkunftsfamilien traditionelle Arrangements im Geschlechterverhältnis. Es zeigt sich zumindest eine geschlechtsspezifische Rollenteilung, in der Regel auch eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, aber in unterschiedlicher Ausprägung. Im Folgenden soll diskutiert werden, wie sich die in den jeweiligen Familien gelebten Geschlechterarrangements auf die Konstruktionsprozesse von Geschlecht auswirken. In Sr. Inges4 Schilderungen ihrer Kernfamilie dokumentiert sich eine klare Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Raum. Der Vater hat eine hohe berufliche Stellung inne, ist der Ernährer und die dominante Figur in der Familie. Die Mutter ist zuständig für den Privatbereich. Trotz des stabilen familiären Rahmens wird deutlich, dass Sr. Inge vor allem von der Mutter im Stich gelassen wird. Sowohl die verwehrte emotionale Zuwendung und die fehlende Geborgenheit als auch die (Mit-)Verantwortung hinsichtlich der fehlenden sozialen Einbindung von Sr. Inge und ihrer Geschwister verunmöglichen ihr eine Identifikation mit ihrer Mutter. Im Hinblick auf Bildung und Beruf identifiziert sie sich mit ihrem Vater. Auch in Sr. Heidis5 Kernfamilie zeigt sich ein traditionelles Arrangement in Bezug auf die Arbeits- und Rollenteilung. Aufgrund des Arbeitskraftüberangebots in der Region arbeitet der Vater außerhalb des Wohnortes und ist nur zeitweilig zu Hause. Obwohl oder gerade weil Sr. Heidi durch die häufige Abwesenheit des Vaters in einem weiblich geprägten Haushalt aufwächst, identifiziert sie sich mit dem Vater und idealisiert ihn. Die Beziehung zur Mutter ist vor allem durch geteilte Alltagssorgen und -pflichten gekennzeichnet. Auch in Sr.
3
Die älteste Ordensschwester wird Ende der 1920er-Jahre, die jüngste Ende der 1960er-Jahre geboren.
4
Geb. Ende der 1920er-Jahre. Zu Sr. Inge vgl. Kap. 6.1.
5
Geb. Mitte der 1950er-Jahre. Zu Sr. Heidi vgl. Kap. 6.2.
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Heidis Darstellungen ihrer Kernfamilie dokumentieren sich, trotz der engen Beziehung zum Vater und ihrer Konstruktion einer glücklichen Kindheit, prekäre Verhältnisse in Form von fehlender emotionaler Zuwendung. Im Zusammenhang mit einer sexuellen Belästigung während ihrer Arbeitstätigkeit als Magd auf einem Bauernhof wird die Tabuisierung von Sexualität in ihrer Familie deutlich. Sie wird von den Eltern, vor allem von der Mutter, mit den daraus entstehenden seelischen Nöten allein gelassen. Für die Bewältigung von Konstruktionsleistungen im Hinblick auf ihre Weiblichkeit kann Sr. Heidi nicht auf ihre Mutter zurückgreifen. Sr. Ruth6 stammt aus einer eher bildungsfernen Bauernfamilie, in der sie mit ihrer Zwillingsschwester und fünf weiteren Geschwistern aufwächst. Obwohl die Mutter im bäuerlichen Betrieb mitarbeitet, zeichnet sich eine geschlechtsspezifische Arbeits- und Rollenteilung ab. Die Mutter wird vor allem in ihrer Funktion als Hausfrau und Erzieherin dargestellt (sie näht Kleider, ist für die Bildung der Kinder und deren Moralerziehung verantwortlich), der Vater ist hauptsächlich für die Arbeiten auf dem Hof zuständig. Im Vergleich zur Mutter scheint der Vater aber eine untergeordnete, fast unsichtbare Rolle zu spielen. Die Beziehung zur Mutter ist allerdings ambivalent. Einerseits hat Sr. Ruth zu ihrer Mutter aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Aufgaben und damit ihrer Präsenz im Haus eine engere Beziehung als zu ihrem Vater, andererseits ist diese nicht mit liebevoller Zuwendung und Unterstützung gekoppelt. Emotionale Zuwendung und Geborgenheit erfährt Sr. Ruth vor allem durch ihre älteren Geschwister, die angesichts der Arbeitsbelastung der Eltern Erziehungsaufgaben übernehmen. Eine ähnliche Tendenz zeigt sich in der Lebensgeschichte von Sr. Jakoba 7. Sie wächst in einer eher bildungsfernen, bescheidenen bäuerlichen Großfamilie auf, zusammen mit zehn weiteren Geschwistern. Der Bauernbetrieb wird von Vater und Mutter gemeinsam bewirtschaftet. Auch bei Sr. Jakobas Eltern lässt sich eine innerfamiliäre Arbeits- und Rollenteilung nach Geschlecht feststellen. Der Vater ist für die Arbeiten auf dem Feld, die Mutter für den Garten und den Haushalt zuständig. Sr. Jakoba bezeichnet ihre Eltern einige Male als „gueti Vorbilder“. Mit ihrer Mutter identifiziert sie sich vor allem aufgrund ihrer christlich-sozialen Haltung, dem Vater ist sie dankbar für sein Arbeitsbelohnungssystem (Schokolade, Geld). Als zweitjüngstes Kind der Großfamilie wird Sr. Jakoba vorwiegend von ihren älteren Geschwistern aufgezogen, was darauf hindeutet, dass die Mutter zumindest zeitlich wenig präsent ist.
6
Geb. Mitte der 1960er-Jahre.
7
Geb. Ende der 1930er-Jahre.
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Sr. Rebecca8 wächst in einer intakten Familie mit Vater, Mutter und einer jüngeren Schwester auf. Weitere wichtige Bezugspersonen sind ihre Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits. In ihren Erzählungen über ihre Kernfamilie treten Vater und Mutter oft gemeinsam als Eltern auf. Trotzdem wird deutlich, dass auch sie in einer Familie aufwächst, die durch eine geschlechtsspezifische Arbeits- und Rollenteilung der Eltern geprägt ist. Der Vater arbeitet als Bankangestellter und nimmt die Ernährerrolle ein, die Mutter ist für den Haushalt und die Erziehung der Kinder zuständig. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings auch hier ein ambivalentes Verhältnis zur Mutter. Diese verhindert und untergräbt die Bestrebungen ihrer Tochter, eine selbständige Persönlichkeit zu werden und ein eigenständiges, von ihr unterschiedenes Leben zu führen (vor allem im Hinblick auf ihren Wunsch, die Religionszugehörigkeit zu wechseln und Ordensschwester zu werden). Der Vater nimmt diesbezüglich eine versöhnlichere Haltung ein. Sr. Paula9 kommt als uneheliches Kind zur Welt. Die Mutter ist bei ihrer Geburt noch sehr jung. Da sie einer Erwerbsarbeit nachgehen muss, lebt Sr. Paula die ersten zwei Jahre nicht bei ihren Eltern, sondern bei den Großeltern mütterlicherseits. Das zweitgeborene Kind stirbt in den ersten Stunden nach der Geburt. In den darauf folgenden Jahren kommen zwei weitere Kinder zur Welt, eine Schwester und ein Bruder. Die Mutter trauert dem verstorbenen Kind lange nach. Innerhalb der Kernfamilie ist der Vater die dominante Figur. Er ist äußerst bestimmend und gewalttätig (vor allem der Mutter gegenüber). Sein Einfluss im privaten, familiären Bereich ist umso grösser, je mehr er aufgrund seiner wiederholten Arbeitslosigkeit zu Hause ist. Dadurch wird die Mutter immer wieder zur Ernährerin der Familie, ohne dass dies die „geschlechtsständische Hierarchie“ (Beck-Gersheim 1994) außer Kraft setzen würde. Die Beziehung zum Vater gestaltet sich für Sr. Paula durchwegs schwierig und konflikthaft. Er baut weder zu ihr noch zu ihrem Bruder eine emotionale Beziehung auf, nur ihrer Schwester bringt er Zuwendung und Wertschätzung entgegen, Sr. Paula zufolge aufgrund stereotyper Vorstellungen von Weiblichkeit, verbunden mit bestimmten körperlichen Merkmalen. Die Mutter ist mit der Situation überfordert. Trotzdem versucht sie den Anforderungen des gesellschaftlich vermittelten Frauen- bzw. Mutterbildes zumindest äußerlich zu entsprechen, emotional verschließt sie sich aber und wird vorübergehend krank. Aus der biographischen Erzählung wird zwar deutlich, dass Sr. Paula der Mutter zugewandt ist und versucht, ihre positiven Seiten hervorzuheben, emotionale Geborgenheit und Anerkennung ihrer
8
Geb. Ende der 1940er-Jahre.
9
Geb. Anfang der 1940er-Jahre.
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Person findet sie aber auch bei ihr nicht. Zur Schwester und vor allem zum Bruder vermag die Mutter aber eine gewisse Nähe aufzubauen. Damit nimmt Sr. Paula innerhalb der Kernfamilie eine Außenseiterposition ein. Die verwehrte emotionale Zuwendung als auch die gelebte Paarbeziehung der Eltern, in der die Mutter die Mindere, die Andere ist, verunmöglichen es Sr. Paula, für die Bewältigung von Konstruktionsleistungen im Hinblick auf ihre Weiblichkeit auf ihre Mutter zurückzugreifen. Emotionale Geborgenheit und Wertschätzung ihrer Person erlebt Sr. Paula nur bei ihren bereits erwähnten Großeltern mütterlicherseits. Als einziges Kind der Familie verbringt sie nicht nur ihre ersten zwei Lebensjahre, sondern auch alle ihre Schulferien bei ihnen. Vor allem der Großvater ist ein wichtiger sozialer Bezugspunkt. Obwohl er für sie kein Vaterersatz ist, findet eine Identifizierung und eine Idealisierung seiner Person statt („er isch dä Grossvater schlechthin gsi“). In diesen sechs biographischen Interviews dokumentiert sich jeweils ein ambivalentes Verhältnis zur Mutter. Zum Teil erleben die Töchter eine engere Verbindung mit der Mutter als mit dem Vater10, diese muss aber nicht mit emotionaler Zuwendung und Anerkennung ihrer Person verknüpft sein. Die Frauen identifizieren sich aufgrund desselben Geschlechts mit der Mutter, erleben diese jedoch nicht als positive Identifikationsfigur (vgl. Sommer 1998, S. 272). Die Problematik, die sich daraus ergibt, ist „ein ambivalentes Verhältnis zu sich selbst und die Suche nach einem Gegenüber, das Identifikation und Selbstannahme ermöglicht“ (ibid.). Bei Sr. Inge und Sr. Heidi verläuft die Identifikation innerhalb der Kernfamilie in erster Linie über den Vater. Sr. Heidi sucht eine enge emotionale Verbindung zu ihrem Vater und konstruiert ein idealisiertes Vaterbild. Sie nimmt ihn als „entfernte Figur“ wahr und sucht bei ihm „ein Gefühl der Separatheit und […] Bestätigung ihrer Besonderheit“. „Wegen der Distanz und der Bedeutung des Vaters besteht die Beziehung also hauptsächlich aus Phantasie und Idealisierung“ (Chodorow 1994, S. 252f.). Sr. Inge hingegen erlebt in ihrer Familie, dass das männliche Geschlecht über mehr Autorität und Anerkennung verfügt. Im Bestreben nach Selbstannahme und Annahme ihrer Person in der Familie grenzt sie sich von ihrer Mutter ab, bzw. das von der Mutter repräsentierte Weiblichkeitsbild wird zur Negativfolie, und sie sucht Anerkennung über einen „typisch“ männlichen Lebensentwurf (Bildung und Beruflichkeit).
10 Sr. Ruth, Sr. Jakoba, Sr. Rebecca, Sr. Paula
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Anders verhält es sich bei der bis anhin noch nicht erwähnten Sr. Louisa 11. Bei ihr dokumentiert sich kein ambivalentes Verhältnis zur Mutter, trotzdem identifiziert sie sich zeitweilig mit dem Vater. Sr. Louisa wächst in einer Großfamilie auf, zusammen mit ihren Eltern, zwei älteren Schwestern und zwei jüngeren Brüdern. In späteren Jahren lebt auch die Großmutter väterlicherseits im Haus. Die Familie hat ein bescheidenes Einkommen, meistert einige Schwierigkeiten und Schicksalsschläge und zeichnet sich durch eine außerordentliche Beständigkeit und Kontinuität aus. In Sr. Louisas Erzählung tauchen viele Kindheitserinnerungen im Zusammenhang mit ihrer Herkunftsfamilie auf sowie Erzählungen über die wenigen, aber positiv erlebten gemeinsamen Aktivitäten. Sie reflektiert die Form des Zusammenlebens, den Stellenwert und die Qualität der einzelnen Beziehungen. Das in Sr. Louisas Familie gelebte Ehemodell ist grundsätzlich am tradierten Geschlechterverhältnis orientiert. Der Vater ist für die Erwerbsarbeit und die Renovation des Hauses zuständig, die Mutter für die Reproduktionsarbeit. Wie die Mutter von Sr. Heidi übernimmt sie aber nicht nur die klassischen Erziehungs- und Hausarbeiten, sondern auch diejenigen Aufgaben, die oft vom Ehemann ausgeführt werden (Rechnungen zahlen, Steuererklärung ausfüllen usw.). Umgekehrt betreut der Vater in Notsituationen die Kinder. Die Orientierung am traditionellen Arrangement im Geschlechterverhältnis wird aber auch hier nicht außer Kraft gesetzt. Weiter übernehmen ähnlich wie bei Sr. Ruth und bei Sr. Jacoba auch in dieser Familie die älteren Geschwister einen Teil der Erziehungsaufgaben, was von Sr. Louisa aber negativ bewertet wird. Als junges Kind schreibt sie sich eher eine „Bueberolle“ zu. Sie bezeichnet sich als Wildfang und identifiziert sich mit dem Vater und seiner Arbeit. Diese Rolle stößt innerhalb der Familie nicht auf Ablehnung ihrer Person, aber auf Belustigung und damit auf eine gewisse „Abwertung ‚unweiblichen‘ Verhaltens“ (Sommer 1998, S. 280). In der Folge zieht sie sich stark zurück und sucht schließlich über stereotype Aspekte von Weiblichkeit (Helfen und Dasein für andere) Rückbindung an die Familie. Das problematische Moment, das sich in diesen Biographien zeigt, ist das nicht bruchlose Vonstattengehen der Identifikation mit dem Vater bzw. mit dem Männlichen. Innerhalb des „kulturellen Systems der Zweigeschlechtlichkeit“ (Hagemann-White 1984) ist „das andere Geschlecht […] etwas, was wir nie erlangen werden“ (Rendtorff 2006, S. 96). Somit legt die Identifikation mit dem Vater bzw. mit dem Männlichen die Frauen „immer wieder auf ihr Anders- und Weiblich-sein“ fest (Sommer 1998, S. 273). Besonders deutlich zeigt sich dies in der Biographie von Sr. Inge (vgl. Kap. 6.1).
11 Geb. Ende der 1960er-Jahre.
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Identifikationsfiguren (positive und negative), welche biographische Relevanz für Konstruktionsprozesse von Geschlecht haben, lassen sich aber nicht ausschließlich innerhalb der Herkunftsfamilie finden. Im Material hat sich gezeigt, dass insbesondere dann, wenn sich die Identifikation mit der Mutter bzw. mit den Eltern ambivalent gestaltet, im weiteren Umfeld signifikante Andere gesucht werden. Solche Positivfiguren können reale Bezugspersonen, aber auch fremde, historische oder fiktive Figuren sein. In einigen Biographien erweisen sich Gleichaltrige und Gleichaltrigennetzwerke als biographisch relevant für die Bewältigung von Konstruktionsleistungen hinsichtlich Geschlecht. Deutlich wird dies bei Sr. Louisa, die sich zwar von Gleichaltrigennetzwerken (z. B. Clique) distanziert, aber in ihrer Kindheit und Jugend je eine beste Freundin hat. Beide erwähnten Freundschaften zeichnen sich durch Stabilität, Intensität und Kontinuität aus. Es werden intensive Gespräche geführt und Differenzen, z. B. hinsichtlich der unterschiedlichen biographischen Entwürfe, gegenseitig anerkannt. Geschlechtshomogene Zweierbeziehungen können für die Konstruktion von Geschlecht in der weiblichen Biographie eine zentrale Rolle einnehmen (vgl. Bütow 2006, S. 236). Insbesondere in gemeinsamen Gesprächen, in denen für bestimmte Probleme Lösungen gesucht werden, „spielt das Geschlecht eine nicht zu hinterfragende und nicht weiter begründbare Rolle“ (Breitenbach 2000, S. 306). Breitenbach (ibid.) nennt dies einen „zirkulären Prozess der Geschlechtsattribuierung“, indem „Mädchen auf ihre Ähnlichkeit als Mädchen/Frauen bzw. auf die Ähnlichkeit der Lebenssituationen der Frauen und auf die Geschlechterdifferenz“ zurückgreifen und diese damit gleichzeitig neu bestätigen. „Solche Konstruktionen haben auch die Funktion, den Raum der Mädchenfreundschaft als exklusiven weiblichen Raum vor dem Zugriff von Außenstehenden des anderen Geschlechts […] zu schützen“ (op. cit. S. 307). Dies zeigt sich bei Sr. Louisa besonders deutlich im Zusammenhang mit ihren ersten Erfahrungen mit dem bzw. ihren Abgrenzungen vom männlichen Geschlecht aufgrund ihres Wunsches, Ordensschwester zu werden. In ihrer eigenständigen und individuellen Bezugnahme auf das andere Geschlecht und in Abgrenzung von ihm (vgl. Bütow 2006, S. 242) scheint insbesondere die zweite Freundin eine wichtige weibliche Bezugsperson zu sein. Auch in Sr. Heidis Biographie (vgl. Kap. 6.2) lässt sich eine Mädchenfreundschaft nachweisen, die für ihre Bewältigung von Konstruktionsleistungen hinsichtlich Geschlecht relevant ist. Sr. Heidi und ihre Freundin schützen ihren weiblichen Raum nicht nur vor Zugriffen des männlichen Geschlechts, sondern auch vor weiblichen Negativfiguren, die sich in ihren Verhaltens- und Orientierungsmustern im heterosexuellen Geschlechterverhältnis von ihren eigenen unterscheiden. Im Vergleich mit und der Abgrenzung von anderen (promiskuiti-
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ven) jungen Frauen nehmen sie „einen reflexiven Bezug auf das eigene Geschlecht“ (Bütow 2006, S. 236) und entwickeln eigene Standards angemessener Weiblichkeit (vgl. Breitenbach 2000, S. 308f.). Wie Sr. Louisa und Sr. Heidi hat auch Sr. Ruth eine beste Freundin, die für ihre Konstruktionsprozesse von Geschlecht biographisch relevant ist. Eine wichtige signifikante Andere in Sr. Ruths Biographie ist aber auch ihr eineiiger Zwilling. Die beiden Schwestern orientieren sich in ihrer Kindheit und Jugend sehr stark aneinander. In der Art und Weise, wie Sr. Ruth Kindheitserlebnisse im Zusammenhang mit ihrer Zwillingsschwester erzählt (Wir-Form), wird deutlich, dass die beiden Schwestern eine Paaridentität aufweisen, die sich in späteren Jahren in zwei eigenständige Identitäten trennt. Als Jugendliche besucht Sr. Ruth zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Partys in privaten Kellerräumen. Im Zusammenhang mit diesen Anlässen werden erste Erfahrungen in der Aufnahme von Kontakten und Beziehungen zum männlichen Geschlecht angedeutet. Diese Erfahrungen haben für sie allerdings nur eine marginale Bedeutung. Von biographischer Relevanz ist allerdings, dass ihre beiden wichtigsten gleichaltrigen weiblichen Bezugspersonen gleichzeitig beschließen, Ordensschwestern zu werden (unmittelbar nach der Ausbildung). Dies löst bei Sr. Ruth einerseits Verlustängste aus, andererseits eine tiefe Auseinandersetzung mit ihren eigenen Weiblichkeits- und Lebensentwürfen. Sr. Rebecca und Sr. Paula sprechen beide von zahlreichen Spielkameradinnen und -kameraden in ihrer Kindheit. Während der Sekundarschule nehmen aber beide Frauen eine Außenseiterinnenposition ein, Sr. Rebecca aufgrund der strengen Erziehung der Eltern und der damit einhergehenden Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit, Sr. Paula aufgrund ihrer sozialen Herkunft und der Problemlagen in ihrer Familie. Erst im jungen Erwachsenenalter erfahren die beiden Frauen Wertschätzung und Anerkennung ihrer Person in weiblichen und gemischtgeschlechtlichen (Gleichaltrigen-)Gruppen. Sr. Rebecca wird als Angehörige der reformierten Kirche in eine gemischtgeschlechtliche katholische Gruppe integriert, Sr. Paula findet Bestätigung und Anerkennung ihrer Person in unterschiedlichen religiösen Vereinen. Beide Frauen machen in diesem katholischen Milieus erste heterosexuelle Beziehungserfahrungen, von denen sie sich dann jedoch aufgrund ihres Lebensentwurfs, Klosterfrau zu werden, distanzieren. Bei Sr. Rebecca kommt hinzu, dass die Mutter ihres damaligen Partners mit ihren Erwartungen an ihre zukünftige Schwiegertochter zur weiblichen Distinktionsfigur wird. Weiblichkeit, verbunden mit Heirat und Familiengründung, wird für sie zur Negativfolie und Gegenstand der Auseinandersetzung mit ihren eigenen Weiblichkeits- und Lebensentwürfen.
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In Sr. Jakobas biographischer Erzählung erscheinen keinerlei Beziehungen zu Gleichaltrigen oder anderen Personen außerhalb ihrer Kernfamilie, die als signifikante Andere zu bezeichnen wären. Interessant im Hinblick auf ihre Konstruktionsprozesse von Geschlecht ist, dass sie sich mit fünfzehn Jahren mit einem in einer Zeitschrift entdeckten Bild einer Ordensschwester bzw. einer Generaloberin identifiziert. In ihrer Erzählung benutzt sie den heute nicht mehr gebräuchlichen Begriff „Frau Mutter“. Dieses Bild wird für sie zur symbolischen Repräsentation ihres zukünftigen Lebensweges, es repräsentiert ihre zukünftige „spirituelle Mutter“. Daraus entwickelt sie ihr biographisches Projekt, lebenslang Tochter zu sein. Mit solchen symbolischen Verwandtschaftsmetaphern gehen bestimmte Respekts-, Abhängigkeits- und Autoritätsbeziehungen einher. Sie „prägen die sozialen Beziehungen von Ordensfrauen und tragen zur weiblichen Identität bei“ (Hüwelmeier 2004, S. 217). Über die „spirituelle Mutter“ löst sich Sr. Jakoba gleichzeitig von ihrer leiblichen ab. Sr. Inge thematisiert zu Beginn ihrer Lebensgeschichte ihre konflikthaften und fehlenden sozialen Beziehungen (vgl. Kap. 6.1). Daraus wird deutlich, dass sie ihre Identität primär aus der Abgrenzung heraus konstruiert. Gleichzeitig sucht sie sich in ihrem weiteren Umfeld (und in der Literatur) „starke“, in der Regel berufstätige Frauen, die ihr als signifikante Andere dienen. Als junge Erwachsene erfährt sie während ihrer beruflichen Tätigkeit in einer Ordensgemeinschaft zum ersten Mal Anerkennung ihrer Person und entdeckt im Kloster Frauen, mit denen sie sich identifizieren kann. Ihre anfänglich aus der Distinktion entwickelte Identität stößt hier auf ein gleiches oder zumindest ähnliches Gegenüber. Ordensschwestern als signifikante Andere oder zumindest als weibliche Positivfiguren lassen sich nicht nur in Sr. Jakobas und Sr. Inges, sondern auch in allen anderen lebens-geschichtlichen Erzählungen finden. Es werden aber nicht nur Ordensschwestern, sondern auch Religionslehrerinnen und -lehrern, Vikaren und Theologen biographische Relevanz zugeschrieben. 7.1.2 Zur Bedeutung der Religion für die Konstruktionsleistungen von Geschlecht Wenn im Folgenden Religion im Hinblick auf die Konstruktionsleistungen von Geschlecht untersucht werden soll, muss zunächst das Verhältnis von Religion und Biographie bzw. biographischer Entwicklung in den Blick genommen werden. Nachstehende Aspekte scheinen dafür zentral zu sein (von Engelhardt 2004, S. 149f.):
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„Die Religion liefert (1) ein Welt- und Selbstverständnis und eine kulturelle Praxis für die Gestaltung der Lebensgeschichte (Ausrichtung, Sinn, Moral, Einbettung in einen übergreifenden Zusammenhang, für die Bewältigung der Lebensprobleme (Umgang, Deutung) und für die Identität (Bezugspunkt der Selbst-Reflexivität, Abgrenzung des Eigenen vom Anderen/Fremden). Sie begründet (2) eine sinnhafte (rück- und vorausblickende) Strukturierung der Lebensgeschichte durch die kulturelle Ausgestaltung und Deutung existentiell bedeutsamer Ereignisse und Übergänge im Lebenslauf (Taufe, Firmung/Konfirmation, Trauung, Beerdigung) von der Geburt bis zum Tod mit einer zugehörigen Vor- und Nachgeschichte (im Jenseits). Sie geht (3) in die Biographie als religiöse Bildung- und Entwicklungsgeschichte der Person ein, als Geschichte der religiösen Vervollkommnung, der selbstverantwortlichen Annahme des Glaubens, der religiösen Suche, des religiösen Zweifels, des Abfalls vom Glauben und der Hinwendung zu anderen (religiösen oder weltlichen) Glaubenssystemen.“
Aus den biographischen Interviews wird deutlich, dass bei allen sieben Schwestern die Religion oder zumindest die Religionszugehörigkeit der Herkunftsfamilie von biographischer Bedeutung ist, aber in unterschiedlicher Art und Weise. Bei fünf Schwestern12 erweist sich Religion als „eine zentrale und (weitgehend) selbstverständlich vorausgesetzte Grundlage“ (op. cit., S. 152) ihrer Biographie. Ihre Lebensgeschichten nehmen „die Form einer konfessionellen Biographie an, die […] eine unverwechselbare Gestalt besitzt“ (op. cit., S. 153). Dies zeigt sich zum einen darin, dass „die kulturelle Ausgestaltung des Tages, der Woche, des Jahres und des Lebenslaufs […] stark von Kirche und Religion durchdrungen“ (ibid.) ist. Kirche und Religion findet sich „in der Lebenswelt der Familie, der Nachbarschaft, der Schule und der Ausbildung“ (ibid.). Dabei stellen „das religiöse Welt- und Selbstbild, die kirchlich-religiöse kulturelle Praxis und die kirchlichreligiöse Auseinandersetzung der existentiellen Lebensereignisse und der Übergänge im Lebenslauf“ (ibid.) ein weitgehend unhinterfragtes Fundament und einen verlässlichen Orientierungsrahmen für die biographische Entwicklung dar. Der biographische Entwurf entwickelt sich also nicht freischwebend, sondern vor dem Hintergrund dieses religiösen Milieus mit seinen religiös-kulturellen Praxen (z. B. auch religiös-moralischen Erziehungspraxen) und den darin eingelassenen Geschlechtercodierungen, die bestimmte Möglichkeiten in der biographischen Entwicklung (auch hinsichtlich Geschlecht) prädisponieren. Im Folgenden sollen nun Fragen nach dem Einfluss des religiösen Herkunftsmilieus für die Konstruktionsleistungen von Geschlecht nachgegangen werden. Es soll geklärt werden, inwiefern das religiöse Herkunftsmilieu bzw. die
12 Sr. Ruth, Sr. Heidi, Sr. Jakoba, Sr. Louisa und Sr. Inge.
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Erfahrungen, welche die Frauen mit Religion und Kirche machen, bestimmte Konstruktionen von Geschlecht begünstigen. Sr. Ruth wächst in einer katholischen Familie auf. Obwohl sie ihre Familie als nicht besonders religiös bezeichnet, wird aus der biographischen Erzählung deutlich, dass Religion bzw. die kirchlich-religiösen Traditionen und Rituale „einen integralen Bestandteil der Lebenskultur“ (ibid.) im Alltag darstellen. Die Familie nimmt regelmäßig am Gottesdienst teil, und die Mädchen gehen jeweils mit der Mutter zum Rosenkranz-Beten in die Kirche. Weiter dokumentiert sich in der biographischen Erzählung eine religiös-moralische Erziehung hinsichtlich der Vermittlung einer religiösen Moralvorstellung, die überwiegend verstärkend auf die Aneignung typisierter weiblicher Eigenschaften zielt wie Liebsein, Selbstlosigkeit, Gehorsam und Demut. Eigene Lebensimpulse und Handlungsfähigkeit werden damit eingeschränkt (vgl. Sommer 1998, S. 291). Dass Sr. Ruth diese Eigenschaften internalisiert, zeigt sich nicht nur darin, dass sie ein gehorsames und unproblematisches Kind ist, sondern auch darin, dass sie während ihrer Ausbildung zur Lehrerin den Gottesdienst widerwillig, aber trotzdem gehorsam besucht. Zudem offenbart sich hier eine eher strenge bzw. strafende Gottesvorstellung. Wie ihre Mitschülerinnen dem Gottesdienst fernzubleiben, würden bei ihr wahrscheinlich religiöse Schuldgefühle oder gar Verdammnisängste hervorrufen. Prägend für Sr. Ruth sind ihre ersten Kontakte mit Ordensschwestern während ihrer Ausbildungszeit. Interessanterweise beschreibt sie diese Frauen gerade nicht mit typisierten weiblichen Eigenschaften, sondern als „starke“ Frauen, die sich gemeinsam für andere Frauen engagieren. Sie betont darüber hinaus den guten Unterricht der Schwestern und konstruiert im Kontrast zu diesen den negativen Gegenhorizont der weltlichen Lehrpersonen. Dass die Ordensschwestern für Sr. Ruth eine Vorbildfunktion innehaben und der Entscheid zweier weiblicher Positivfiguren, ihrer Zwillingsschwester und ihrer besten Freundin, ins Kloster einzutreten, als positiver Weiblichkeits- und Lebensentwurf wahrgenommen wird, ist bei ihr vor dem Hintergrund ihrer kirchlich-religiösen Grundlage zu verstehen. Daraus wird deutlich, dass sie ihre (weibliche) Identität primär aus der Identifikation mit dem religiös-kulturellen Milieu heraus konstruiert und ihr Lebensentwurf in einer Orientierung am milieuspezifischen Konsens über mögliche Lebenspläne gründet. Obwohl sich Sr. Heidi mit anderen Religionen auseinandersetzt, zeigt sich in ihrer Biographie eine tiefe Verankerung in ihrer Herkunftsreligion. Auch ihr biographischer Entwurf kann nicht losgelöst von ihrem katholischen Herkunftsmilieu betrachtet werden (vgl. Kap. 6.2). Besonders deutlich zeigt sich dies im Zusammenhang mit ihrer religiös-moralischen Erziehung. Vor allem vonseiten der Mutter werden ihr christlich-moralische Werte wie Selbstlosigkeit, dienende
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Nächstenliebe und geschlechtliche Reinheit vermittelt (vgl. hierzu auch Sommer 1998, S. 289). Die religiös-moralische Erziehung des Elternhauses tabuisiert Körperlichkeit und Sexualität in abwertender Weise, was dazu führt, dass Sr. Heidi Schwierigkeiten hat, ein positives Selbst- und Körperbild auszubilden, bzw. Sexualität mehrfach abspaltet. Für die Bewältigung von Konstruktionsleistungen im Hinblick auf ihre Weiblichkeit kann Sr. Heidi nicht auf ihre Mutter zurückgreifen. Sie versucht vielmehr, über die christlich-moralischen Grundsätze der katholischen Kirche, den religiösen Vorgaben eines gottgefälligen Lebens und der darin eingelagerten möglichen weiblichen Lebensführung biographische Kontinuität herzustellen. Die Bedeutung des tradierten religiösen Welt- und Selbstbildes ist für Sr. Heidis Weiblichkeits- und Lebensentwurfs letztlich wichtiger als ihre Familie. Mit dieser anderen Form von Verwurzelung löst sie sich von dieser ab und tritt ins Kloster ein. Sr. Jakobas Weiblichkeits- und Lebensentwurf kann, wie oben bereits erläutert, als biographisches Projekt, lebenslang „Tochter“ zu sein, beschrieben werden. Auch in ihrer Lebensgeschichte wird deutlich, dass ihre Berufung zur Klosterfrau auf „fruchtbaren Boden“ fällt. Sie wächst in einer katholischen Familie auf, in der Religion eine zentrale Rolle in der Lebensführung spielt. Prägend für Sr. Jakobas religiöses Welt- und Selbstbild sind die von der Mutter vorgelebte christliche Nächstenliebe und die in der Familie gelebte Ökumene. Auch Sr. Louisa stammt aus einem katholischen Milieu, und auch bei ihr wird deutlich, dass Religion bzw. kirchlich-religiöse Traditionen und Rituale ein wichtiges Element in ihrer Lebenskultur darstellen. In ihrer Kindheit ist die katholische Religionszugehörigkeit eine derart selbstverständliche Grundlage ihrer Biographie, dass ihr erst in der neu zusammengesetzten fünften Klasse bewusst wird, dass auch noch andere Religionen existieren. Die ersten Schuljahre besucht Sr. Louisa bei Ordensschwestern. Indem sie den Unterricht ihrer ersten weltlichen Lehrerin wie Sr. Ruth als negativen Gegenhorizont konstruiert, wird deutlich, dass für sie Ordensschwestern weibliche Positivfiguren darstellen. In der elterlichen Erziehung, in der auf der expliziten Ebene keine religiösmoralischen Wertvorstellungen zu finden sind, zeigen sich aber klare Vorstellungen, wie sich ein Junge oder ein Mädchen verhält. Wie bereits erwähnt, wandelt Sr. Louisa ihr von den Eltern eher abgelehntes „jungenhaftes“ Gebaren in ein mit dem weiblichen Geschlecht korrespondierendes Verhalten, das mit Selbstlosigkeit und Dasein für andere beschrieben werden kann. Aus diesen „typisch“ weiblichen Eigenschaften heraus konstruiert Sr. Louisa ihren Weiblichkeits- und Lebensentwurf, Klosterfrau zu werden. Daraus wird deutlich, dass auch Sr. Louisa ihren biographischen Entwurf vor dem Hintergrund des religiöskatholischen Herkunftsmilieus entwickelt. Im Gegensatz zu Sr. Ruth und Sr.
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Heidi bildet sich dieser aber weder aus einem gesamtgesellschaftlichen noch aus einem milieuspezifischen Konsens über mögliche Lebenspläne heraus. 13 Auch wenn ihre Eltern den Entscheid anerkennen und ihr weiteres Umfeld sie in ihrem Vorhaben bestärkt, zeigt sich in ihrem biographischen Entwurf ein hoher Anteil an Autonomie. In Sr. Inges Herkunftsfamilie sind in erster Linie die religiös-kulturelle Ausgestaltung bedeutender Ereignisse und Übergänge im Lebenslauf (wie z. B. die Taufe) und die religiöse Bildung als katholische Identitätserhaltung in einer andersgläubigen Umgebung zentrale Momente der religiösen Lebensführung (vgl. Kap. 6.1). Dieses Fremd- und Anderssein (nicht nur hinsichtlich der Religionszugehörigkeit) und die daraus folgende Suche nach sozialer Einbindung und Anerkennung ihrer Person sind bei Sr. Inge integrale Bestandteile ihres biographischen Entwurfs. Die religiöse Frauengemeinschaft als alternative Lebensform bietet ihr letztlich die größtmögliche Kohärenz ihrer Person. Auch wenn Sr. Inge unter historisch-gesellschaftlichen Verhältnissen ins Kloster eintritt, in denen der religiöse Lebensweg gängige kulturelle Praxis ist, entwickelt sie diesen aber nicht aus einem milieuspezifischen Konsens über mögliche Lebenspläne heraus. Auch ihr Weiblichkeits- und Lebensentwurf weist einen hohen Anteil an Autonomiebestrebungen aus. Das Verhältnis von Biographie und Religion zeigt sich in den Lebensgeschichten von Sr. Rebecca und Sr. Paula nochmals anders. Die beiden Frauen entwickeln ihren biographischen Entwurf nicht auf der selbstverständlichen Grundlage ihrer Religionszugehörigkeit, sondern in der „Auseinandersetzung mit Religion“ (von Engelhardt 2004, S. 155): „In dieser Konstellation verliert die Religion, in die der Mensch hineingeboren wird, den Charakter einer weitgehend selbstverständlich vorausgesetzten Gegebenheit des Daseins. Die Auseinandersetzung mit der Religion wird zu einem Bestandteil der Biographie, der Bildungs- und Entwicklungsgeschichte der Person und ihres soziokulturellen Werdegangs.“
Sr. Rebecca wächst in einer reformierten Familie auf, besucht den Religionsunterricht und wird konfirmiert. Religion wird in der Familie allerdings nicht aktiv praktiziert, z.T. gar tabuisiert. Dennoch konstruieren die Eltern eine Differenz zwischen ihrer christlichen Herkunfts- und anderen Konfessionen, die sich darin äußert, dass sie sich von Menschen katholischer Konfessionszugehörigkeit dis-
13 Zum Zeitpunkt des Klostereintritts von Sr. Louisa haben die Frauenkongregationen schon längst an Attraktivität verloren (vgl. hierzu Kap. 1.4).
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tanzieren (von der Schwester der Mutter und deren Ehemann). Mit der katholischen Religion, der katholischen Lebenskultur und mit Ordensschwestern kommt Sr. Rebecca, aufgrund eines Stellenwechsels in ein katholisches Milieu, erst als junge Erwachsene in Berührung. Integriert in einen neuen Freundeskreis, in dem Religiosität aktiv gelebt wird, lernt sie die kirchlich-religiöse kulturelle Praxis dieser anderen Konfession kennen und schätzen und begibt sich auf eine religiöse Suche. Sr. Rebecca fühlt sich von der „Atmosphäre des Katholischen“ angezogen und konstruiert ihre „emotionslose“ Herkunftsreligion, welche mit ihrer „steifen“ Familie verknüpft ist, als negativen Gegenhorizont. Das Verlassen ihrer Herkunftskonfession und die Hinwendung zu einer anderen, der katholischen Konfession stehen im Zusammenhang mit ihrer Ablösung vom Elternhaus. Ihr biographischer Entwurf, Ordensschwester zu werden, ist ein Handeln gegen die starren Strukturen in ihrer Herkunftsfamilie und gegen die Vorstellungen von Weiblichkeit ihrer Fast-Schwiegermutter (vgl. Kap. 7.1.1). Sie versucht sich von den (schwieger-)elterlichen Lebensplänen (und von denen ihrer Schwester) zu lösen und entwirft ihren Weiblichkeits- und Lebensentwurf als „Gegen-Schema“ (Dausien 1996, S. 339). Sr. Paulas Eltern haben unterschiedliche Konfessionszugehörigkeiten. Der Vater ist Katholik, die Mutter gehört der reformierten Kirche an. In den 1940erJahren ist es übliche kulturelle Praxis, die Kinder in gemischtreligiösen Ehen in die Religion der Mutter zu integrieren (Reproduktionsfunktion der Mutter). Sr. Paula und ihre Geschwister gehören in den ersten Lebensjahren daher der reformierten Kirche an. Auf Drängen des Vaters konvertiert die Mutter in späteren Jahren zum katholischen Glauben, und mit ihr auch die Kinder. Obwohl in der Familie katholische Rituale praktiziert werden (z. B. Rosenkranz-Beten), Sr. Paula religiöse Bildung zuteilwird (katholischer Religionsunterricht), bestimmte Ereignisse und Übergänge im Lebenslauf religiös-kulturell gestaltet werden (Erstkommunion, Firmung) und sie eine von Ordensschwestern geführte katholische Mädchensekundarschule besucht, entwickelt sie aufgrund der höchst prekären Beziehung zum Vater einen Widerstand gegenüber der katholischen Konfessionszugehörigkeit. Religiosität verbindet sie mit einer stark kontrollierenden, Gefühle und Körperlichkeit abwertenden Erziehung. Einen anderen Bezug zur Religiosität und zum katholischen Glauben entwickelt Sr. Paula erst als Leiterin einer religiösen Kinder- und Jugendorganisation. Sie entdeckt ihre spirituellen Neigungen, spürt eine Sehnsucht nach Gott und fängt an, sich mit Religion auseinanderzusetzen. Ihre sich entwickelnde religiöse Orientierung zeigt sich auch darin, dass sie sich in zwei weiteren religiösen Vereinen engagiert und in ihrer religiösen Suchbewegung einen Glaubenskurs besucht. Zudem erlebt Sr. Paula innerhalb dieses katholischen Milieus erste positive Bezugnahmen auf das männliche Geschlecht. Im Gegensatz zu denjenigen in ihrer Herkunftsfamilie
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sind ihre späteren mit Religion und Religiosität verbundenen Erfahrungen im katholischen Milieu mit Bestätigung und Anerkennung ihrer Person bzw. ihrer Weiblichkeit und mit positiven Emotionen verbunden, was Identifikation und Selbstannahme ermöglicht. Diese befreienden (religiösen) Erfahrungen bilden denn auch die Grundlage für ihre Suche nach einer neuen, für sie sinnvollen sozialen beruflichen Betätigung, welche sie in einem von Ordensschwestern geführten Krankenhaus findet. Auch hier erlebt sie, vor allem im Zusammenhang mit ihren beruflichen Leistungen, Bestätigung und Anerkennung ihrer Person. Sr. Paula beginnt sich mit den Ordensschwestern zu identifizieren. Für die Bewältigung von Konstruktionsleistungen im Hinblick auf ihre Weiblichkeit kann Sr. Paula nicht auf ihre Mutter zurückgreifen, sondern versucht über ihr neues religiöses Welt- und Selbstbild biographische Kontinuität herzustellen und tritt ins Kloster ein. 7.1.3 Zum Spannungsverhältnis zwischen subjektivem Lebensentwurf und gesellschaftlichen (geschlechtercodierten) Erwartungen und Erwartungsfahrplänen In den biographischen Interviews hat sich gezeigt, dass die Ordensschwestern „auf der Suche nach dem ‚eigenen Leben‘ […], immer auch mit einer gesellschaftlichen Anforderungsstruktur konfrontiert“ (Dausien 1996, S. 356) sind. Diese gesellschaftlichen Anforderungsstrukturen bzw. Erwartungen (auch hinsichtlich Geschlecht) stehen in Abhängigkeit von den historisch-gesellschaftlichen Verhältnissen und den unterschiedlichen Herkunftsmilieus, in denen die Schwestern aufwachsen. Sowohl die gesellschaftlichen Verhältnisse als auch die unterschiedlichen Milieus verweisen auf „Möglichkeiten und Grenzen für individuelles Handeln“ (op. cit., S. 580). Einerseits können die Möglichkeiten „auf der Ebene konkreter Biographien nie vollständig ausgeschöpft werden“ (ibid.), andererseits sind die Grenzen für individuelles Handeln dehnbar. Dabei zeigt sich, dass „die in Milieu und Lebenswelt gegebenen Strukturen sowohl Entlastungsfunktionen haben als auch Konflikte produzieren“ (op. cit., S. 582). Im Folgenden geht es nun darum, die etwaigen Widersprüche zwischen dem subjektiven Lebensentwurf der jeweiligen Schwestern und den gesellschaftlichen (geschlechtercodierten) Erwartungen aufzuspüren und ihr „Handlungsund Widerstandspotenzial“ (op. cit., S. 356) zu beschreiben. Zunächst lässt sich feststellen, dass alle sieben Frauen den gesellschaftlich erwarteten Lebensentwurf, der die Heirat mit einem gegengeschlechtlichen Partner und die Gründung einer eigenen Familie miteinschließt, nicht erfüllen. Sie suchen einen alternativen Lebensweg.
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Die beiden jüngsten Klosterfrauen, Sr. Louisa und Sr. Ruth, wachsen in historisch-gesellschaftliche Verhältnisse hinein, in denen Frauen genügend Handlungsmöglichkeiten für einen attraktiven Lebensweg außerhalb der Gründung einer eigenen Familie haben. Ein weiblicher Lebensentwurf, der sich an Berufstätigkeit und Eigenständigkeit orientiert, gehört mittlerweile zum gesellschaftlichen Konsens über mögliche Lebenspläne. Sr. Louisa zeigt bereits in ihrer Kindheit eine ausgeprägte soziale Orientierung. Sie versucht, finanziell und sozial benachteiligten Kindern zu helfen. Anerkennung und soziale Einbindung und damit Bestätigung ihrer Person sucht sie über das Helfen und Dasein für andere. Darüber hinaus zeigt sich bei ihr eine gewisse Bildungsorientierung, die jedoch losgelöst ist von Lerninhalten an der Schule. Sr. Louisa liest sehr viel und schreibt Geschichten. Ihre Bildungsorientierung mündet jedoch nicht in eine Berufsorientierung. Diese ordnet sie ihrer sozialen Orientierung unter. Ihre Vorstellung des Daseins für andere führt aber nicht zur Familiengründung. Auf der Suche nach dem „eigenen“ Leben transformiert sie ihre soziale Orientierung in einen „eigenen Weg“. Der stereotype Aspekt des dem weiblichen Geschlecht zugeordneten Handlungsmusters Dasein für andere greift Sr. Louisa zwar fraglos auf, schreibt es in der Reproduktion jedoch nicht bloß fort, sondern verändert es in Richtung Dasein für andere als Ordensschwester. Ihre soziale Orientierung wird zum biographischen Projekt. Bei Sr. Ruth lässt sich ebenfalls eine soziale Orientierung im Sinne von Dasein für andere feststellen. In selbstloser Art und Weise übernimmt sie früh Aufgaben im familiären Bauernhaushalt. Darüber hinaus ist sie stets gehorsam und unproblematisch, kommt pünktlich nach Hause und verhält sich schicklich (z. B. in Bezug auf ihre ersten Erfahrungen mit dem männlichen Geschlecht). Damit erfüllt sie die elterlichen und gesellschaftlichen Erwartungen hinsichtlich der „weiblichen Sozialisation“, aber nicht ungebrochen. Trotz ihres eher bildungsfernen Herkunftsmilieus zeigt sich bei Sr. Ruth bereits früh eine Bildungsund schließlich auch eine Berufsorientierung. Sie bewältigt die Schule problemlos und entwickelt während der Sekundarschule klare Berufswünsche, die auch von den Eltern unterstützt werden. In ihrer beruflichen Orientierung an sozialen, pflegenden Berufen und ihrer Berufswahl (Lehrerin) dokumentiert sich ein sozial vorstrukturierter bzw. ein geschlechtstypischer Bildungs- und Berufsweg (vgl. Dausien 1996, S. 580). Leitend für ihren – gesamtgesellschaftlich betrachtet – „eigenen“, alternativen religiösen Lebensweg sind ihre Identifikation mit dem religiösen Milieu und die Einigkeit innerhalb ihres Bezugssystems über mögliche Weiblichkeits- und Lebensentwürfe. Insofern ist ihr biographischer Entwurf ein allgemeiner und ein besonderer zugleich.
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So auch bei Sr. Heidi. Der religiöse Lebensweg ist zwar ein denkbarer innerhalb ihres katholischen Herkunftsmilieus, entspricht aber nicht den gesamtgesellschaftlichen Erwartungen über mögliche Lebenspläne (vgl. Kap. 6.2). Obwohl sich in Sr. Heidis Biographie vor allem eine hedonistisch-soziale Orientierung zeigt, versucht sie über ihr katholisches Herkunftsmilieu, dem darin eingelagerten Welt- und Selbstbild und der religiös-kulturellen Praxis des weiblichreligiösen Lebensweges, biographische Kontinuität herzustellen. Das Kloster bietet ihr einen Weiblichkeits- und Lebensentwurf, der verbunden ist mit der „Entdeckung und Entfaltung neuer Beziehungs-, Arbeits- und Lebensformen“ (Sommer 1998, S. 287) jenseits heterosexueller Geschlechterkonstruktionen (Schutz vor dem bedrohlich Männlichen), jedoch um den Preis ihrer hedonistisch-sozialen Orientierung. In Sr. Rebeccas Biographie zeigt sich eine klare Berufsorientierung und – zunächst – eine Orientierung an Partnerschaft. Auch bei ihr dokumentiert sich in ihrem angestrebten Berufswunsch (Krankenschwester) die Orientierung an sozialen, pflegenden Berufen und damit ein geschlechtstypischer Bildungs- und Berufsweg (vgl. Dausien 1996, S. 580). Während der Beziehung zu einem Arzt, an ihrem neuen (katholischen) Arbeits- und Wohnort, setzt sie sich mit dem Weiblichkeits- und Lebensentwurf Heirat und Kinderhaben auseinander. Letztlich erfüllt sie die gesellschaftlichen bzw. ihrem Herkunftsmilieu entsprechenden Erwartungen nicht, die mit Heirat verbunden sind und eine Hinwendung zu einer anderen religiösen Konfession ausschließen, sucht sich trotz massiven familiären Widerstands ihren „eigenen“ Weg und gestaltet ihre eigene Biographie als „Gegen-Schema“ (op. cit., S. 339). Sr. Rebecca beendet ihre Beziehung, verlässt ihre Herkunftskonfession, konvertiert zum katholischen Glauben und wird Ordensschwester. In Sr. Paulas Kindheit und Jugend zeigt sich weder eine ausgeprägte Bildungs- noch eine Berufsorientierung. Auf Anraten ihrer Eltern absolviert sie eine Ausbildung in einem Bekleidungsgeschäft. Im Zentrum ihrer Erzählung steht aber weniger ihr Interesse an der Ausbildung und dem Beruf, sondern vielmehr die damit verbundene Möglichkeit der Unabhängigkeit von der Herkunftsfamilie. Im Zusammenhang mit ihrem Engagement in mehreren religiösen Vereinen und ihrem neu entdeckten religiösen Welt- und Selbstbild dokumentiert sich bei Sr. Paula aber eine soziale Orientierung. Zu dieser Orientierung tritt jedoch noch eine andere hinzu. Auch wenn in ihrer Biographie keine Familienorientierung auszumachen ist, so zeigt sich doch eine Orientierung an heterosexuellen Partnerschaften. In der Intensität der emotionalen Liebesbeziehung findet sie Bestätigung und Anerkennung ihrer Person und ihrer Weiblichkeit. Schließlich versucht Sr. Paula ihre soziale Orientierung mit Beruflichkeit zu verbinden und
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findet diese Möglichkeit in einem von Ordensschwestern geführten Krankenhaus. Aus diesem neu entdeckten (beruflichen) Entfaltungsbereich heraus beschließt sie, die Ausbildung zur Krankenschwester zu machen, die mit dem Eintritt ins Kloster verbunden ist (die Ausbildung entspricht dem Noviziat). Ihre um den Aspekt Beruflichkeit erweiterte soziale Orientierung wird zu ihrem zentralen Lebensentwurf, den sie mit der alternativen Lebensform im Kloster realisieren kann. Sie findet ihr „eigenes Leben“ und kann sich (partiell) von ihrer Herkunftsfamilie lösen. Hinsichtlich ihrer Orientierung an einer möglichen heterosexuellen Partnerschaft bleiben bei ihr aber „Teile des biographischen Autonomiepotenzials ungelebt“ (Dausien 1996, S. 339). Als Kind antizipiert Sr. Jakoba über das Spielen mit ihren Puppen geschlechtertypische Vorstellungen von gesellschaftlicher Arbeitsteilung in Produktion und Reproduktion, Beruf und Familie. Diese Vorstellung von geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung zeigt sich auch hinsichtlich ihrer nicht vorhandenen Bildungs- und Berufsorientierung. Ganz im Sinne des Daseins für andere verzichtet sie trotz des elterlichen Appells auf den Besuch der Sekundarschule, macht nach sechs Jahren Primarschule ein Haushaltslehrjahr und hilft schließlich auf dem elterlichen Bauernhof mit. Ihre Orientierung am Dasein für andere mündet jedoch nicht in einen „typischen“ biographischen Entwurf, der mit Heirat und Familiengründung verbunden ist. Auch sie sucht sich eine alternative Lebensform jenseits üblicher heterosexueller Geschlechterarrangements. Als Ordensschwester kann sie bei einer „Frau Mutter“ für immer fürsorgliche „Tochter“ sein. Ohne einen Beruf zu erlernen, tritt sie ins Kloster ein, mit dem Ziel, in dessen Haushalt tätig zu sein (eine Ausbildung macht sie erst später). Sr. Jakobas religiöser Lebensweg ist nicht nur ein denkbarer innerhalb ihres sozialräumlichen Herkunftsmilieus, sondern entspricht auch den Erwartungen über mögliche Weiblichkeits- und Lebensentwürfe der damaligen historisch-gesellschaftlichen Verhältnisse. In Sr. Inges biographischer Erzählung dokumentieren sich innerhalb ihrer Kernfamilie und des Bildungssystems Degradierungserfahrungen aufgrund ihres Geschlechts (vgl. Kap. 6.1). Da sie für die Bewältigung von Konstruktionsprozessen hinsichtlich Geschlecht nicht auf ihre Mutter zurückgreifen kann, versucht sie ihre Benachteiligung durch eine Fokussierung auf Bildung und Beruflichkeit zu bewältigen. Ihre damit verbundene Intention nach Anerkennung ihrer Person gelingt ihr jedoch nicht. Trotz ihrer Bildungsbenachteiligung und gegen familiäre Widerstände konstruiert Sr. Inge Bildung und Beruflichkeit als biographisches (Aufstiegs-)Projekt, das sie konsequent verfolgt. In ihrem Weiblichkeits- und Lebensentwurf haben den historisch-gesellschaftlichen Verhältnissen entsprechende tradierte Formen der Weiblichkeit keinen Platz. Damit komplizie-
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ren sich ihre Konstruktionsprozesse im Hinblick auf Geschlecht, was Auswirkungen auf ihre weiteren Lebenspläne hat. Auf ihrer Suche nach Anerkennung ihrer Beruflichkeit und ihrer fragmentarischen Weiblichkeit tritt Sr. Inge ins Kloster ein. Dieses bietet ihr die größtmögliche Kohärenz ihrer Person und stellt, vor dem Hintergrund ihres Zugehörigkeitsnormativs in Bezug auf ihre soziale Schicht, die einzig mögliche Vergesellschaftungsform dar. Die Ausführungen haben gezeigt, dass die Lebensentwürfe der Ordensschwestern unter der Perspektive der biographischen Bildungsprozesse in ihrer Geschlechtsgebundenheit erkennbar sind (vgl. Dausien 1996, S. 584). Der Prozess des Geschlecht-Werdens verweist aber auf eine „individuell-biographische ‚Organisation‘“ (ibid.) hin. Die Aneignung gesellschaftlicher Strukturen hinsichtlich Geschlecht und der Geschlechterverhältnisse werden je individuell in das je unterschiedliche biographische Erfahrungswissen integriert und mit weiteren Erfahrungen verknüpft (vgl. ibid.). Obwohl die Handlungsumwelten der Schwestern klar nach Geschlecht strukturiert sind, produzieren diese in ihrer je eigenen „biographischen Verknüpfungslogik“ zunächst „individuelle ‚Geschlechtergeschichten‘“, die „keine trennscharfe Typologie“ (ibid.) weiblicher Lebensgeschichten von Ordensfrauen begründen lässt. Was sich aber nachzeichnen lässt, sind generative Konstruktionsprinzipien der Entwicklung des biographischen Entwurfs, Klosterfrau zu werden.
7.2 B IOGRAPHISCHE K ONSTRUKTIONSPROZESSE G ESCHLECHT : K LOSTERFRAU SEIN
VON
Wie in Kapitel 3.1 gezeigt wurde, können Frauenkongregationen als spezifischer konjunktiver Erfahrungsraum gefasst werden. Zugleich sind Frauengemeinschaften sozial konstruierte und mit einem symbolischen Ordnungssystem ausgestaltete weibliche Sozialräume14. Der Sozialraumbegriff, wie er hier verstanden wird, „geht über die Frage, wie sich Subjekte bestehende Räume […] aneignen, hinaus und fragt nach den wechselweise wirkenden Konstruktionen des sozialen Raumes in Verbindung mit den Möglichkeiten und Beschränkungen der Subjekte, soziale Räume herzustellen“ (Bitzan 2007, S. 196). Ein sozialer Raum besteht also nicht von vornherein, sondern wird von handelnden Subjekten konstruiert, indem diese Dinge und Menschen anordnen, „ihnen Relevanz geben“ und „Bedeutung zuschreiben“ (ibid.). Zentral für diesen Sozialraumbegriff ist die Gid-
14 Zum Sozialraumbegriff vgl. Löw 2007, S. 95-99.
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dens’sche These der Dualität von Struktur und Handeln.15 Der soziale Raum als Anordnung – „im Sinne von Potenzial und Zwang“ – wirkt einerseits strukturierend, diese Strukturen müssen „jedoch im Akt der Platzierung und Synthese individuell und kollektiv hergestellt werden“ (Löw 2007, S. 99). Den Sozialraumbegriff mit einem Geschlechterbezug zu theoretisieren, ist insbesondere deshalb sinnvoll, da Sozialräume „auf der symbolischen Ebene verschiedene Codierungsmuster von Weiblichkeit bzw. Männlichkeit“ (Bütow 2006, S. 47) enthalten, zu denen sich Individuen (deutend und modifizierend) ins Verhältnis setzen. „Konstruktionsprozesse von Geschlecht vollziehen sich in verschiedensten Sozialräumen“ (ibid.), wie z. B. in Familien, Peergroups usw. Die Untersuchung hat aber gezeigt, dass der von Frauen gestaltete und mit Bedeutung versehene weibliche Sozialraum Kloster bezogen auf die Geschlechterkonstruktionen der Ordensschwestern eine immense Bedeutung hat. 7.2.1 Weiblicher Sozialraum Kloster als Insel der Gesellschaft und der Verhältnisse Die auf dem „kulturellen System der Zweigeschlechtlichkeit“ (HagemannWhite 1984) basierende Geschlechterordnung ist für die soziale Organisation der katholischen Kirche konstitutiv. Die Differenz und Ordnung der Geschlechter ist in der Institution Kirche „Grundlage einer Teilung der Sozialund Symbolwelt“ und „zentral für den Aufbau des Selbst- und Weltbildes“ (Möwe 2000, S. 31). Die Extremform dieser Geschlechterordnung zeichnet sich durch eine konkrete und symbolische Teilung der Gesellschaft in Männerund Frauenräume aus (vgl. ibid.). Eine solche Geschlechtersegregation findet sich insbesondere in der Ordenskultur der katholischen Kirche. 16 Die Trennung der Geschlechter hat aber auch zur Folge, dass den Ordensschwestern bestimmter (sozialer) Raum eigen ist (vgl. ibid.), der nicht allen Menschen (Geschlechtern) in gleichem Maße Zugang gewährt. Insofern haben wir es hier mit einer geschlechtsspezifischen Hierarchisierung mit – bezogen auf die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse – umgekehrten Vorzeichen zu tun. Ein solch vergeschlechtlichter sozialer Raum eröffnet den Ordensfrauen alternative Handlungsmöglichkeiten bzw. andere Weiblichkeits- und Lebensentwürfe. Das Autonomiepotenzial des weiblichen Sozialraums Kloster hat Gertrud Hüwelmeier (2004, S. 220) folgendermaßen beschrieben:
15 Vgl. hierzu Giddens 1992. 16 Hierzu gilt es anzumerken, dass auch einige gemischtgeschlechtliche Glaubensgemeinschaften existieren.
248 | A NDERE W EIBLICHKEITEN „Erstens rekrutieren sie ausschließlich Frauen als Mitglieder; zweitens ist die Leitungsebene weiblich. Und drittens schließlich sind Ordensfrauen, bis auf den Priester, der die Hl. Messe zelebriert, die rituellen Akteure. Außerdem geben sie sich mit ihren Konstitutionen eigene Lebensregeln, die allerdings, da es sich um Gemeinschaften päpstlichen oder bischöflichen Rechts handelt, von der Amtskirche anerkannt werden müssen. Auch hinsichtlich des Kirchenrechts und der Beichtpraxis sind weibliche Ordensgemeinschaften an eine männliche Amtskirche gebunden. Aber sie gestalten ihren Alltag autonom. Ordensgemeinschaften sind materiell abgesichert, ökonomisch unabhängig und verwalten ihre Gemeinschaften selbst. Durch die Freistellung von jeglicher Hausarbeit ermöglichen weibliche Kongregationen ihren Mitgliedern die Einhaltung regelmäßiger Gebetszeiten sowie eine Berufstätigkeit außerhalb des Klosters. Viele Ordensfrauen sind außerordentlich gut qualifiziert, verfügen über theologische Kenntnisse und nehmen bis ins hohe Alter an Fort- und Weiterbildungen teil.“
Dass Frauenkongregationen im 19. Jahrhundert die einzig relevante Vergesellschaftungsform für katholische Frauen waren, hat Relinde Meiwes (2000) hinlänglich herausgearbeitet. Verbunden mit gesellschaftlichem Ansehen hatten die Frauen die Möglichkeit, eine alternative Lebensform zu wählen, und insbesondere über die (caritative) berufliche Tätigkeit gelang ihnen gesellschaftliche Partizipation. In ähnlicher Form zeigt sich dies bei Sr. Inge (vgl. Kap. 6.1). Sie wächst in gesellschaftlich-historische Verhältnisse hinein, in denen mit Bildung und Beruflichkeit verbundene Weiblichkeits- und Lebensentwürfe noch immer kaum Platz haben. Das Kloster bietet Sr. Inge die Möglichkeit, den geschlechtercodierten gesellschaftlichen Erwartungen nicht entsprechen zu müssen und in einer Art und Weise, die gesellschaftlich anerkannt ist, ihr eigenes biographisches Projekt umzusetzen. Bei Sr. Louisa, die erst nach der neuen Frauenbewegung in die Ordensgemeinschaft eintritt und bei der Selbstbestimmtheit und Individualität im Leben von Frauen bereits einen anderen Stellenwert haben, stellen sich die Fragen hinsichtlich Bildung und Beruf nicht in gleicher Weise wie bei Sr. Inge. Verbunden mit einer ökonomischen Absicherung erhält sie aber innerhalb des Klosters die Möglichkeit eines verlängerten Berufsfindungsprozesses. Ihre berufliche Suche führt sie an die unterschiedlichsten Arbeitsorte und in die unterschiedlichsten Tätigkeitsbereiche, wie dies außerhalb einer solchen Gemeinschaft kaum möglich gewesen wäre. Sr. Heidi und Sr. Jakoba entwickeln erst im Kloster eine berufliche Orientierung, die bei Sr. Heidi allerdings nicht nur mit erweiterten Handlungsmöglichkeiten verbunden ist (vgl. Kap. 6.2). Sr. Jakobas im Kloster entwickelte Berufsorientierung muss im Zusammenhang mit ihrem biographischen Entwurf, lebenslang
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„Tochter“ zu sein, betrachtet werden (vgl. Kap. 7.1). Erst in dem Moment, in dem Sr. Jakoba innerhalb des weiblichen Sozialraums Kloster in ein MutterTochter-Verhältnis treten kann, von ihrer „Frau Mutter“ Fürsorge, Verständnis und Zuwendung erfahren darf und sie als „Tochter“ Anerkennung ihrer Person findet, kann sie sich zu einem autonomen Subjekt entwickeln. In konventionellen Individuationsprozessen scheinen sich Autonomie und Anerkennung/ Abhängigkeit auszuschließen. Abhängigkeiten können aber auch Prozesse der Selbstbehauptung bzw. Entwicklungsprozesse auf ein autonomes Selbst hin auslösen (vgl. Ammicht Quinn, S. 227). Sr. Jakoba bleibt im Kloster zwar „Tochter“, aber, wie eine Ordensschwester in Gertrud Hüwelmeiers Untersuchung in ähnlicher Weise sagt: Auch Töchter können erwachsen werden (vgl. Hüwelmeier 2004, S. 223). Eine weitere Verwandtschaftsmetapher lässt sich für den Weiblichkeitsentwurf von Sr. Ruth heranziehen. Sie konstruiert ihre Identität vor allem in der Identifikation mit ihrem eineiigen Zwilling und orientiert sich im Ablösungsprozess vom Elternhaus (und von der Zwillingsschwester) an Ordensschwestern (vgl. Kap. 7.1). Im weiblichen Sozialraum Kloster existieren Bedingungen, die egalitäre Beziehungen zu Frauen und schwesterliche Liebe im Erwachsenenleben ermöglichen. Sr. Ruth findet eine weibliche Existenzweise als „Schwester“. Der weibliche Sozialraum Kloster ermöglicht aber nicht nur weibliche Existenzweisen, die mit weiblichen Verwandtschaftsbeziehungen zu bezeichnen sind: „Tochter“, „Schwester“, „Mutter“.17 Die Analyse der biographischen Interviews hat gezeigt, dass sich auch eine weitere Metapher zu bemühen lohnt, diejenige der „Braut“: „Der Begriff Braut, so wie wir ihn in unserer Alltagssprache verwenden, geht mit einem Übergangsstadium einher, einer liminalen Phase, die mit dem Zeitpunkt der Heirat beendet ist, jenem Zeitpunkt nämlich, wo idealerweise die geschlechtliche Vereinigung stattfinden sollte. Nach der Hochzeit ist die Frau keine Braut mehr, also auch keine Jungfrau, sondern Ehefrau und zukünftige Mutter“ (op. cit., S. 217).
Ordensschwestern, die ihr ganzes Leben nach einer Vereinigung mit Christus streben, bleiben ihr Leben lang Bräute. In der Untersuchung wurde deutlich, dass dem Verbleiben in der liminalen Phase aber nicht nur auf der spirituellen Ebene Bedeutung zukommt. Insbesondere bei Sr. Heidi zeigt sich, dass der weibliche Sozialraum Kloster eine weibliche Existenzweise anerkennt, in der die Frauen
17 Zur Analyse weiblicher Verwandtschaftsmetaphern in Frauenkongregationen vgl. Hüwelmeier 2004, S. 215-223.
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Jungfrauen bleiben dürfen. Als Klosterfrau ist Sr. Heidi kein sexualisierbares Objekt, sie kann sich dem „männlichen Blick“ entziehen, Sexualität und Körperlichkeit können weiterhin ausgegrenzt werden. Auch Sr. Paula, deren biographischer Entwurf sich u. a. am Negativbeispiel ihres Vaters bzw. der Ehe ihrer Eltern orientiert, findet im Kloster eine Möglichkeit, im Schwellenzustand zu verbleiben. Trotz Liebesbeziehungen zu Männern – auch als Ordensschwester – muss sie den letzten Schritt, der mit Heirat oder einer festen Partnerschaft verbunden ist, nicht eingehen. Sie kann sich immer wieder auf ihr „Klosterfrau sein“ bzw. „Braut Christi sein“ berufen. Insofern das Kloster einen Lebensraum verkörpert, der von der (sexuellen) Bezugnahme auf das männliche Geschlecht befreit, ist diesem weiblichen Sozialraum ein gewisses Autonomiepotenzial im heterosexuellen Geschlechterverhältnis inhärent. Eine weitere Form von Autonomie zeigt sich darin, dass die Schwestern ihre Identität im weiblichen Sozialraum Kloster teilweise über Geschlechterneutralität konstruieren. Exemplarisch wurde dies an der Biographie von Sr. Heidi aufgezeigt (vgl. Kap. 6.2), in der Geschlecht bzw. die Geschlechterverhältnisse in bestimmten Lebensphasen keine relevanten Kategorien sind. Deutlich wird dies auch in den Lebensgeschichten von Sr. Ruth, Sr. Rebecca, Sr. Jakoba und Sr. Louisa. Mit Hirschauer (2001, S. 227) lässt sich dies dadurch begründen, dass ein klar nach Geschlecht differenzierter Raum, in dem „die Geschlechtergrenze architektonisch gewährleistet wird“, von „Interaktionen vom Bezug aufs andere Geschlecht entlastet“. Das durch die Geschlechtersegregation ermöglichte Undoing Gender erlaubt den Ordensschwestern eine Form des Frauseins, ohne sich permanent in der Geschlechterdifferenz konstruieren zu müssen. Diese Ausklammerung von Geschlecht und der Geschlechterverhältnisse funktioniert allerdings nur implizit, bzw. solange Geschlecht und die Geschlechterverhältnisse (in der Gemeinschaft) nicht sichtbar sind und nicht thematisiert werden müssen. Der weibliche Sozialraum Kloster eröffnet den Frauen somit Möglichkeiten hinsichtlich einer alternativen weiblichen Lebensform, gleichzeitig sind auf der individuellen und kollektiven Ebene aber auch Einschränkungen festzustellen. Ordensgemeinschaften, nicht nur kontemplative, sondern auch Kongregationen, weisen bestimmte Merkmale totaler Institutionen auf (vgl. Kap. 2), da die wesentlichen Lebensbereiche der Ordensschwestern (Arbeit, Gebet, Freizeit und Schlaf) unter derselben Autorität vereint sind, die Schwestern den Alltag in der Gemeinschaft bestreiten, der Tagesablauf sehr stark strukturiert ist und sowohl ihre (caritativen) Tätigkeiten als auch das Gebet unter einem vom Kloster bzw. der katholischen Kirche vorgegebenen Ziel steht (vgl. Goffman 1973, S. 17). Damit eine Institution solche Merkmale aufweisen kann, muss sich diese durch konsequente hierarchische Strukturen auszeichnen. Die damit verbundenen
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massiven Einschränkungen und Reglementierungen können zu einem Verlust der eigenen Identität führen (vgl. op. cit., S. 26f.). Symbolisch manifestiert sich das Ablegen der eigenen bzw. weltlichen Identität bereits in der „Aufnahmeprozedur“ fürs Kloster, mit dem „Ent- und Bekleiden“, der „Wegnahme des Eigentums“ und des „Eigen-namen[s]“18 (op. cit., S. 29). Welch problematischen Auswirkungen (Depression, „leer werden“) der Verlust der säkularen Identität auf ein Individuum haben kann, zeigt sich in eindrücklicher Weise in Sr. Heidis Erzählungen über ihre Noviziatszeit (vgl. Kap. 6.2). Der von Goffman (1973, S. 23f.) diagnostizierte Verlust der eigenen Identität in totalen Institutionen wird im biographischen Material mit dem Verlust der Ich-Biographie und der zunehmenden Entwicklung einer „Wir-Biographie des Klosters“ (Rosenthal 1995, S. 113) deutlich, wie dies in der Fallanalyse von Sr. Heidi exemplarisch aufgezeigt wurde (vgl. Kap. 6.2). Die Übernahme neuer kollektiver Orientierungen (Regeln der klösterlichen Institution, religiöse [Fremd-]Theorien usw.), die damit einhergehende und im Zusammenhang mit den hierarchischen Strukturen und dem Gehorsamsgelübde stehende Einschränkung der individuellen Handlungsautonomie sowie der gleichförmig rhythmisierte Klosteralltag führen dazu, dass das Spezifische und Unverwechselbar der jeweiligen Lebensgeschichte verloren geht (vgl. Riemann 1986, S. 147) und die eigene Geschichte nicht mehr oder nur noch unter erschwerten Bedingungen erzählt werden kann (lückenhaft, geringer Narrativitätsgrad). Diese Tendenz der „Dethematisierung der eigenen Lebensgeschichte“ (Rosenthal 1989, S. 110) hin zu einer nach bestimmten sozialen Regeln konstituierten Darstellung, die mit der sozialen Konstellation, in der die Frauen leben, übereinstimmt (vgl. Rosenthal 1995, S. 113), findet sich in allen Biographien in mehr oder weniger starker Ausprägung. Es ist allerdings nicht zwingend, dass die Schwestern, so wie dies Gabriele Rosenthal (op. cit., S. 112) festhält, „mit dem Eintritt ins Kloster […] aus ihrer biographischen Selbstpräsentation“ verschwinden. In einigen Biographien zeigt sich diese Tendenz als ein erst später einsetzender prozesshafter Verlust der eigenen Biographie, bei Sr. Inge bspw., die als Klosterfrau über einen langen Zeitraum ihren verberuflichten Lebensentwurf aufrechterhalten kann, ihre Beruflichkeit aber immer mehr zum Projekt der Gemeinschaft wird (vgl. Kap. 6.1). In ähnlicher Weise auch bei Sr. Rebecca, die ihre Berufsorientierung im Kloster lange Zeit in einer Balance zwischen Autonomie und Abhängigkeit halten und ihr nachgehen kann, bis ihr von der Ordensleitung eine an-
18 In einigen Gemeinschaften steht es den Frauen heute frei, Zivilkleidung zu tragen, die sich in der Regel aber durch einen besonders schlichten Stil auszeichnet. Auch der Eigenname muss nicht mehr in jedem Fall abgelegt werden (vgl. Kap. 2.3).
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spruchsvolle Aufgabe im Generalkapitel auferlegt wird. Die Einschränkung ihrer individuellen Handlungsautonomie bewältigt sie über eine physische und psychische Erkrankung. Dadurch gelingt es ihr schließlich, sich von der ungewollten Aufgabe zu befreien. Dass religiöse Frauenkongregationen keine „Frauenmacht ohne Herrschaft“ (Lenz/Luig 1995; zit. in: Hüwelmeier 2004, S. 221) sind, hat auch Gertrud Hüwelmeier in ihrer Untersuchung festgestellt (vgl. Hüwelmeier 2004, S. 221). Obwohl sich ihr zufolge die Konzeptionen von Hierarchie und Autorität in den Ordensgemeinschaften „heute mehr in eine egalitäre Richtung verschieben“ (op. cit., S. 221) und sie den „Willen zum Gehorsam“ in den Klöstern als „freien Willen“ zum Gehorsam bzw. den Gehorsam mit Talal Asad (1993, S. 125; zit. in: Hüwelmeier 2004, S. 197) „als eine eigene Fähigkeit“ […], „als ein Potential, als eine Macht, eine christliche Tugend, die durch Disziplin erworben wird“ (Hüwelmeier 2004, S. 197f.), versteht, dokumentieren sich in allen biographischen Interviews der vorliegenden Untersuchung Einschränkungen von individueller Handlungsautonomie, die von biographischer Bedeutung sind. Einschränkungen innerhalb des weiblichen Sozialraums Kloster zeigen sich aber auch auf anderer Ebene. In der reflexiven Bezugnahme auf den eigenen Lebensweg dokumentieren sich implizit oder explizit Hinweise darauf, dass das individuelle Potenzial des im Prinzip Möglichen in der Lebensweise als Klosterfrau nicht verwirklicht werden kann. Es zeigen sich Spuren liegen gebliebener Entwicklungsmöglichkeiten, Spuren „ungelebten Lebens“ (Dausien 1996, S. 6064). Der Blick auf das „ungelebte Leben“ ist im Zusammenhang mit der Analyse von Biographien insbesondere deshalb wichtig, weil sich „die konkrete Gestalt einer Lebensgeschichte […] nicht nur aus der Abfolge realisierter Handlungen und Entscheidungen, tatsächlich stattgefundener Ereignisse und Erlebnisse“ (op. cit., S. 62) ergibt. „Sie konstituiert sich vielmehr vor dem – sich selbst im Laufe der Biographie ändernden – Hintergrund der nicht verwirklichten Möglichkeiten, der Verhinderungen und Versagungen, der Verzichte und verpassten Chancen“ (ibid.). Viktor von Weizsäcker (1956; zit. in: Dausien 1996, S. 63) ist diesbezüglich noch radikaler und behauptet, „dass nicht das Gelebte, sondern das Ungelebte allein wirksam“ sei. Sr. Paula verzichtet auch als Ordensschwester nicht auf Liebesbeziehungen zum männlichen Geschlecht, verbleibt aber, wie bereits im Zusammenhang mit dem Autonomiepotenzial des weiblichen Sozialraums Kloster erwähnt, im Schwellenzustand der „ewigen Braut“. In der rückwärts gerichteten Perspektive von der Gegenwart in die Vergangenheit (vgl. Dausien 1996, S. 64) macht Sr. Paula aber auch auf das ungenutzte Potenzial ihrer Existenzweise als Klosterfrau aufmerksam,
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das mit einer festen Beziehung, mit Heirat und Kindern verbunden ist. Im Laufe ihres Ordenslebens hat sie sich in dem Maße von ihren Eltern und den Erlebnissen ihrer Kindheit emanzipiert, dass sich Heirat und Familiengründung zu einem möglichen, aber nicht verwirklichten Lebensentwurf entwickeln konnte. Auch Sr. Ruth spricht Anteile „ungelebten Lebens“ explizit an. Trotz ihrer Nähe und den intensiven Beziehungen zu einigen Mitschwestern gibt es Phasen in ihrem Leben, in denen ihr eine partnerschaftliche Beziehung zu einem Mann fehlt. In diesem Zusammenhang bezeichnet sie sich explizit als „kein asexuelles Wesen“. Als Klosterfrau hat sie jedoch eine weibliche Existenzweise gewählt, die ihr eine gelebte Sexualität verbietet, und ihr Gehorsamsgelübde verunmöglicht ihr ein „Ausbrechen in eine andere Welt“. Bei Sr. Heidi und bei Sr. Rebecca zeigen sich die Anteile „ungelebten Lebens“ eherimplizit, indem sie ihren Lebensweg als eine Möglichkeit von verschiedenen darstellen und damit auf nicht realisierte Alternativen aufmerksam machen. Frauenkongregationen sind ein von Schwestern konstruierter weiblicher Sozialraum, der Konstruktionen von Geschlecht und der Geschlechterverhältnisse ermöglicht, aber auch beschränkt. Die Ermöglichung alternativer Formen des Frauseins beinhaltet für die Ordensschwestern Momente der Entlastung. Zugleich nehmen die Schwestern aber auch Zumutungen auf sich, welche sie in der Regel aufgrund des Gehorsamsgelübdes bzw. des Überlebens in der Gemeinschaft einhalten. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Ermöglichung und Begrenzung, Entlastung und Zumutung etabliert sich „eine komplexe vergeschlechtlichte und vergeschlechtlichende Praxis“ (Löw/Ruhe 2011, S. 10). 7.2.2 Weiblicher Sozialraum Kloster im Kontext der Kirche und der Gesellschaft Ordensgemeinschaften sind aber nicht nur aus sich heraus zu verstehen. Sie sind keine „in sich abgeschlossenen Kulturen“ (Hüwelmeier 2004, S. 16), sondern eingebunden in die Strukturen der katholischen Kirche und in diejenigen der Gesellschaft. In den ersten beiden Kapiteln konnte gezeigt werden, dass gesellschaftliche Transformationsprozesse Auswirkungen auf Kirche und Ordensleben haben. Wie Gertrud Hüwelmeier (2004) in ihrer Studie über Ordensfrauen anhand zentraler Dimensionen klösterlicher Lebenspraxis aufzeigt, lassen sich insbesondere seit dem II. Vatikanischen Konzil vielfältige Modernisierungsprozesse nachweisen. Im Zentrum ihrer Betrachtungen stehen die Reinterpretationen der Gelübde, Veränderungen der Kleidungspraktiken, der Beziehungspraktiken (Partikular-
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freundschaften) und der Praktiken von Ein- und Unterordnung. Eindrücklich zeigt Hüwelmeier auf, wie die Schwestern in „einer sich verändernden Welt“ (op. cit., S. 16) auf der Suche sind „nach einem neuen Verständnis von Schwesternschaft“ (op. cit., S. 17). Von großer Relevanz sind dabei auch gesellschaftliche Veränderungen hinsichtlich Geschlecht und der Geschlechterverhältnisse obwohl zwischen dem gesellschaftlichen Wandel des Geschlechterverhältnisses und den individuellen biographischen Konstruktionen von Geschlecht keine schlichte Kausalbeziehung unterstellt werden darf. Sowohl in der Studie von Hüwelmeier (2004) als auch in der vorliegenden Arbeit zeigt sich aber, dass sich die meisten Schwestern eine egalitärere Beziehung zwischen Frau und Mann wünschen. In der Art und Weise der Thematisierung des Geschlechterverhältnisses zeigen sich z. T. Korrespondenzen zu gesellschaftspolitischen Anliegen in Richtung Demokratisierung der Geschlechterordnung. Sr. Inge und Sr. Heidi reflektieren beide die patriarchalen, autoritären Strukturen der katholischen Kirche in Bezug auf das Abhängigkeits- und Machtverhältnis zwischen Klerikern und Ordensschwestern. Sr. Inge kritisiert zusätzlich die Begrenzung ihrer (bildungs- und berufs-)biographischen Möglichkeiten als Ordensfrau. Sie versteht sich als Feministin und kämpft bis zum Ende ihrer Tage (mehr oder weniger intensiv) für die Gleichstellung von Mann und Frau in der katholischen Kirche (vgl. Kap. 6.1). Auch Sr. Paula will sich als Ordensschwester nicht länger von der männlich definierten Amtskirche bevormundet wissen. Nebst einer negativen Beispielerzählung eines selbst erlebten Machtkonflikts macht sie aber auch deutlich, dass egalitäre Beziehungen zwischen Ordensfrauen und Klerikern möglich sind. Wie Sr. Inge (vgl. Kap. 6.1) macht sie ihre Mitschwestern mitverantwortlich für ihre Benachteiligungen und Unterdrückungen. Sr. Ruth beruft sich darauf, dass sie innerhalb des Klosters weniger mit der „Männerkirche“ konfrontiert ist, als sie dies außerhalb sein würde, kann sich aber vorstellen, dass die Frauen in der säkularen Welt mit den Verlautbarungen der katholischen Kirche (z. B. in Bezug auf die Empfängnisverhütung oder den Schwangerschaftsabbruch) Schwierigkeiten haben. Sie selbst fühlt sich als Nicht-Angehörige der säkularen Welt außerstande, ein Urteil in Bezug auf diese Angelegenheiten zu fällen. Problematisch findet sie, dass die Öffentlichkeit die Qualität der Kirche nur anhand dieser Themen bemisst. Auch für Sr. Louisa zeigt sich der Machtkonflikt zwischen den Geschlechtern nicht als Alltagsproblem. Trotzdem wünscht sie sich aber auf allen Ebenen eine Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann. Die Orientierung an Gleichberechtigung begründet sie mit ihrer egalitären Gottesvorstellung. Außerdem sei
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die Gleichheit zwischen Frau und Mann im Christentum verankert, aber von der Kirche im Laufe der Geschichte nicht umgesetzt worden. Sr. Louisa versteht sich nicht als Feministin, sondern plädiert für mehr gegenseitige Toleranz. Sr. Jakoba weicht in ihrer biographischen Erzählung der Thematisierung von Ungleichbeziehungen und Unterdrückungsverhältnissen hinsichtlich Geschlecht aus. Sie konstruiert Geschlecht als Differenzkategorie und rekurriert auf den spezifisch weiblichen Geschlechtscharakter. Als Frau, die etwas „Frauliches“ einbringt, wird sie in der Zusammenarbeit mit männlichen Berufskollegen immer geschätzt. Sr. Rebecca distanziert sich von Emanzipationsfragen und der Kritik an der patriarchalen Hierarchie der Kirche. Sie spaltet die in der säkularen Welt geführte Diskussion um Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern vom Lebenszusammenhang in der religiösen Frauengemeinschaft ab. Dies begründet sie einerseits damit, dass die Zeit für ein egalitäres Verhältnis zwischen Mann und Frau in der Kirche nicht reif sei, andererseits plädiert sie für hierarchische Strukturen in der katholischen Kirche, die Differenzkategorie sei dabei nicht entscheidend. Die Vorstellungen darüber, wie das Geschlechterverhältnis in der katholischen Kirche neu zu gestalten sei, gehen stark auseinander. Sie reichen von feministischen Orientierungen bis hin zu Orientierungen, in denen die Differenz der Geschlechter als irrelevante Kategorie gesetzt wird, ohne aber das „kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit“ (Hagemann-White 1984) und die darin inhärenten Geschlechterhierarchisierungen zu verlassen. Bedeutsam sind diese Schilderungen hinsichtlich Geschlecht und der Geschlechterverhältnisse innerhalb der katholischen Kirche aber nicht nur aufgrund der darin festzustellenden Transformations- bzw. Modernisierungsprozesse, sondern auch im Hinblick auf die in Kapitel 7.2.1 diskutierte These, dass Frauenkongregationen Inseln der Gesellschaft und der Verhältnisse seien. Sobald die Ordensschwestern den weiblichen Sozialraum Kloster (und sei es nur gedanklich) verlassen und sich zu Kirche und Gesellschaft ins Verhältnis setzen, können sie ihre Konstruktionen von Geschlecht, insbesondere die Geschlechterneutralität und die Existenzweise als „Schwester“, nicht mehr oder nur noch z. T. aufrechterhalten. Im Verhältnis zu Kirche und Gesellschaft muss die Kategorie Geschlecht erstens relevant gemacht werden (auch wenn sie explizit als irrelevante Kategorie deklariert wird) und zweitens auf andere Art und Weise relevant gemacht werden, als dies innerhalb des weiblichen Sozialraums Kloster der Fall ist. Dabei wird „das Geschlechterverhältnis als (zumindest potenziell) hierarchisch oder als Unterdrückungs- oder Benachteiligungsstruktur reflektiert“ (Thon 2008, S. 445f.). Im Zusammenhang mit Kirche und Gesellschaft ist Ge-
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schlecht „in der biographischen Rekapitulation keine ‚unschuldige‘ Kategorie mehr“ (op. cit., S. 446). Die im Sozialraum Kloster hervorgebrachten alternativen weiblichen Existenzweisen stehen insbesondere auch im physischen Verlassen des klösterlichen Raums und im Eintreten in den öffentlichen Raum auf dem Prüfstand. Die Deutlichkeit, mit der die Zugehörigkeit der Ordensschwestern zu einer religiösen Frauengemeinschaft sichtbar wird (auch ohne Ordenskleid bzw. in Zivilkleidung), bringt unter der Bedingung herrschender Wahrnehmungsweisen eine bestimmte weibliche Wirklichkeit hervor,19 die dem gesamtgesellschaftlichen Konsens über mögliche Weiblichkeits- und Lebensentwürfe nicht (mehr) entspricht. Zugleich verweist diese Sichtbarkeit aber auch auf die Möglichkeit, „‚Geschlecht‘ […] in einer grundsätzlich anderen Weise zu leben“ (Schirmer 2010, S. 408). Durch das Offensichtlichwerden dieser nonkonformen Weiblichkeit kann Geschlecht nicht mehr neutralisiert, außer Kraft oder als irrelevante Kategorie gesetzt werden (vgl. ibid.). Geschlecht wird im öffentlichen Raum konstitutiv. Dass die Schwestern auf die geschlechtliche Selbst- und Fremdwahrnehmung im säkular geprägten öffentlichen Raum reflexiv Bezug nehmen, zeigt sich in den biographischen Interviews mit Sr. Ruth, Sr. Rebecca, Sr. Louisa, Sr. Paula und Sr. Heidi. Insbesondere bei Sr. Heidi (vgl. Kap. 6.2) wird deutlich, dass die Entwicklung zu einem Selbstverständnis als Klosterfrau nicht nur aus den Möglichkeiten (und Begrenzungen) des weiblichen Sozialraums Kloster gespeist wird, sondern sich ebenso in der Bezugnahme auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen bzw. Strukturen hinsichtlich Geschlecht und der Geschlechterverhältnisse realisiert. Wie Birgit Bütow (2006, S. 243) in ihrer Untersuchung über sozialräumliche Konstruktionsprozesse von Geschlecht in der weiblichen Adoleszenz festgestellt hat, zeigt sich auch hier, dass Geschlecht „biographische, kulturelle und milieuspezifische bzw. sozialräumliche Dimensionen“ hat und „in konkreten Situationen interaktiv und kommunikativ hergestellt“ wird, „versehen mit spezifischen Bedeutungs- und Funktionszuweisungen“. Geschlecht ist kein „monolithisches, soziales, durchgängig für alle Menschen generalisierbares Konstrukt […], das qua Sozialisation in hierarchischen gesellschaftlichen Strukturen entsteht und reproduziert wird“ (ibid.). Geschlecht wird hier vielmehr als biographische und sozialräumliche Aneignung und Konstruktion verstanden, die unterschiedliche geschlechtliche Wirklichkeiten hervorbringt. Die hier herausgearbeiteten (durchaus auch ambivalenten, prekären oder durch Widersprüchlichkeiten gekennzeichneten) Seinsmöglichkeiten als Klosterfrau sollen über die Tatsache der
19 Im Zusammenhang mit Drag Kinging vgl. Uta Schirmer 2010.
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Konstruktion hinaus als biographisches und sozialräumliches Produkt gefasst werden, aber als ein vorläufiges, modifizierbares Produkt offengehalten werden (vgl. Breitenbach 2000, S. 16). Die Entwicklung eines Selbstverständnisses als Klosterfrau im Spannungsfeld zwischen Kloster, Kirche und Gesellschaft bzw. die (Re-)Konstruktion einer Lebensgeschichte, die eindeutig als Biographie einer Klosterfrau erkennbar ist, ist letztlich eine je individuell zu lösende (biographische) Aufgabe, die den einzelnen Schwestern unterschiedlich großen Aufwand abverlangt (vgl. Schirmer 2010, S. 329).
8 Andere Weiblichkeiten – eine Verortung Andere Weiblichkeiten – eine Verortung In den Fallanalysen und in den anschließenden weiterführenden Reflexionen konnten „geschlechtliche Möglichkeiten und Wirklichkeiten“ der Ordensschwestern „in Interaktionen, Beziehungen und Bezugnahmen“ herausgearbeitet werden sowie „unterschiedliche Möglichkeiten, sich auf sich als ein geschlechtliches Selbst zu beziehen“ (Schirmer 2010, S. 396f.). In den (Re-) Konstruktionen der Biographien hat sich aber gezeigt, dass diese geschlechtlichen Möglichkeiten begrenzt sind. In einer zweigeschlechtlich organisierten Gesellschaft (re)konstruriert das Individuum in der eigenen Biographie immer auch „seine Geschichte als Frau bzw. als Mann“ (Dausien 1996, S. 583; Herv. i. O.). Obwohl es die Frau als solche bzw. den Mann als solchen nicht gibt, können die Menschen derzeit nur als eines der beiden Geschlechter leben (vgl. Beauvoir 2003, S. 10f.). „‚Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘ sind für unsere Gesellschaften nach wie vor hegemoniale Existenzweisen“ (Maihofer 2004b, S. 38). Die Aneignung bzw. das Werden eines bestimmten Geschlechts (und dieses zu sein) ist ein vielschichtiger und durch Widersprüchlichkeiten gekennzeichneter Prozess, „in dem differenzierte ‚Geschlechterumwelten‘ von den Subjekten auf hochdifferenzierte Weise angeeignet werden. Gleichzeitig wird im alltäglichen sozialen Handeln eine eindeutige Zuordnung im System der Zweigeschlechtlichkeit verlangt“ (Dausien 1996, S. 588; Herv. i. O.). In dieser Aneignung und Konstruktion von Geschlecht orientieren sich die Individuen an gesellschaftlichen (Geschlechter-)Präskripten. „Interpretationsspielräume sind gegeben“, aber erstens „deutlich begrenzt“ und zweitens in der Regel „ohne die Reproduktion des Geschlechterverhältnisses akut infragezustellen [sic!]“ (ibid.). Dass dies auch für die biographische Selbstpräsentation und -konstruktion der Ordensschwestern gilt, konnte in der vorliegenden Untersuchung bestätigt werden. Dennoch sind weder „Weiblichkeit“ noch „Männlichkeit“ etwas fraglos Gegebenes.
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Mit einer biographischen Analyseperspektive, wie sie hier eingenommen wurde, ergeben sich Möglichkeiten, Variationen in der Aneignung und Konstruktion von Geschlecht sichtbar zu machen. Dabei geht es nicht um ein schlichtes Nachzeichnen unterschiedlicher Biographien, hier Frauenbiographien, genauso wenig geht es um die Beschreibung von geschlechtsspezifischen Eigenschaften und Verhaltensweisen bzw. um deren Ausweitung und Differenzierung, sondern um die Rekonstruktion der in den lebensgeschichtlichen Erzählungen angelegten Reproduktions-, vor allem aber auch Transformationsprozesse hinsichtlich Geschlecht. Biographien bieten sich „als aufschlussreiches empirisches Material an, weil sich darin häufig keine glatten Kategorisierungen, sondern widersprüchliche, fragmentierte oder konkurrierende ‚Weiblichkeiten‘ und ‚Männlichkeiten‘ finden lassen“ (Thon 2008, S. 94), wie dies auch in den lebensgeschichtlichen Erzählungen der Ordensschwestern deutlich geworden ist. In diesen ambivalenten Konstruktionen von Geschlecht reproduzieren die Subjekte „die zweigeschlechtliche Ordnung nicht [zwingend] bruchlos“, sondern durchzogen „von Irritationen, Verfehlungen, Inkongruenzen und Rissen“ (Schirmer 2010, S. 405). Der Blick, der hier eingenommen wird, richtet sich also nicht nur auf die (beharrliche) Reproduktion der hegemonialen Existenzweise, sondern auf das Brüchigwerden der zweigeschlechtlichen Ordnung, das sich „in vielen kleinen Momenten des Stolperns, in diffusem Unbehagen und Prozessen des Scheiterns, in Ahnungen, Wünschen und Fantasien, in den Widersprüchlichkeiten geschlechtlicher Lebensentwürfe und teils noch in den Versuchen, diese zu glätten“ (op. cit,. S. 405f.), zeigt. Das Brüchigwerden der Geschlechterdualität ist nicht nur in den „offensichtlichen ‚Abweichungen‘ vom ‚Normalen‘“ (ibid.), im Dazwischen bzw. im Anderen zu suchen,1 sondern in jeglichen geschlechtlich hervortretenden Dimensionen (vgl. Sedgwick 1997, S. 358). Veranschaulicht werden kann dies mit Eve K. Sedgwick (ibid.), die „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ als „SchwellenEffekte“ bestimmt. Sie macht deutlich, dass Menschen, egal unter welche Rubrik sie fallen (männlich, weiblich, beides, sonstiges), nicht nur als männlicher oder weiblicher im Vergleich zu anderen gelten können, „sondern dass einige Menschen einfach mehr und dabei auch verschiedene Geschlechtseigenschaften haben als andere“ (ibid.). Mit einer solchen Konzeption wird es möglich, Trans-
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Obwohl auch der Wechsel des Geschlechtes nicht zwingend „Beleg für eine soziale Aufweichung der Geschlechterdualität“ (Metz-Göckel 2000, S. 42) sein muss. Insbesondere Andrea Maihofer (2004b, S. 38) macht deutlich, dass sich „subversive Varianzen des Existierens“ letztlich genauso an der hegemonialen Existenzweise orientieren.
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V ERORTUNG
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formationsmöglichkeiten von Geschlecht, Verschiebungen und Veränderungen in Bezug auf die gesellschaftliche Geschlechterordnung auch innerhalb des gesellschaftlich zugeschriebenen Geschlechts zu erkennen und zu artikulieren. In den Blick rücken sollten also nicht nur subkulturell geprägte und offensichtlich reformulierte Geschlechtlichkeiten (vgl. Schirmer 2010, S. 411). „Zu untersuchen wäre auch, ob, wo und wie sich in den Ritzen und an den Rändern einer zunächst zwei-geschlechtlich strukturierten ‚Alltäglichkeit‘ Praxen, Selbstverhältnisse und Bezugnahmen ausmachen lassen, in denen sich ein anderes Verständnis von Geschlecht abzeichnet – und unter welchen Bedingungen dieses ‚Andere‘ tatsächlich einen Unterschied zu machen vermag“ (ibid.).
Gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen „und autonome Handlungschancen für Frauen und Männer […] zu entwickeln“, ist jedoch kein einfacher Schritt, „sondern ein widersprüchlicher und langfristiger (Ver)Lernprozess“ (Dausien 1996, S. 592). Das Konstrukt Geschlecht bzw. die hegemoniale Form der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit zeigt sich dabei in einer Stabilität, welche weitaus mehr Reproduktions- denn Transformationskraft besitzt (vgl. ibid.). Impulse gesellschaftlicher Veränderungen können aber durch die Sichtbarkeit von anderen Erfahrungen, Erfahrungen, die aus „gesellschaftlichen Präskripten herausfallen, ihnen widersprechen und alternative [z. T. auch ambivalente] Handlungsmöglichkeiten aufzeigen“ (Dausien 1996, S. 588), freigesetzt werden. Dabei handelt es sich um Erfahrungen, durch welche Alternativen vorstellbar werden (vgl. Schirmer 2010, S. 407). Genau hier setzt die rekonstruktive Biographieforschung an, auch wenn diese – und damit auch die vorliegende Untersuchung – nur als ein kleiner Schritt „auf dem Weg, das gesellschaftliche Geschlechterverhältnis neu zu konstruieren“ (Dausien 1996, S. 592), verstanden werden darf.
Dank Dank Die Auseinandersetzung mit Lebensgeschichten katholischer Kongregationsschwestern stellte eine Herausforderung dar, die mich mehrere Jahre beschäftigte und der ich mich nur im Wissen um die Unterstützung, Hilfe und Zuwendung vieler Menschen gewachsen fühlte. So waren letztlich viele Personen an der Fertigstellung dieses Buches beteiligt. Danken möchte ich zunächst meinem Doktorvater, Prof. Dr. Reinhard Fatke, für seine langjährige Unterstützung, die hilfreichen Kommentare und dafür, dass er mich stets meinen eigenen Weg gehen ließ. Für die anregenden Gespräche und kritische Lektüre in der Schlussphase der Dissertation möchte ich mich bei meiner Zweitgutachterin, Prof. Dr. Birgit Bütow, bedanken. Nicht am Anfang, aber im Zentrum des Arbeitsprozesses stehen die biographischen Interviews mit den Ordensschwestern. Meinen Interviewpartnerinnen, die mir mit großer und nicht selbstverständlicher Offenheit ihre Lebensgeschichte erzählt haben, gebührt ein ganz besonderer Dank. In den Begegnungen mit den Frauen spürte ich eine hohe Bereitschaft, mein Forschungsprojekt zu unterstützen. Bedanken möchte ich mich auch bei der Provinz- und der Generalleitung der jeweiligen Gemeinschaften. Ohne deren Wohlwollen wäre mein Forschungsprojekt nicht möglich gewesen. Gut drei Jahre lang bin ich in den Genuss der finanziellen Beiträge durch das Marie Heim-Vögtlin-Programm des Schweizerischen Nationalfonds gekommen. Neben der wirtschaftlichen Unabhängigkeit schätzte ich vor allem die unterstützende und motivierende Art von Susanne Matuschek. Dafür herzlichen Dank. Bei Prof. Dr. Jürgen Oelkers, Prof. Dr. Lucien Criblez und Prof. Dr. Catrin Heite bedanke ich mich für das Gastrecht am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich und die Nutzung der Infrastruktur. Ohne die Fürsorge, Ermutigung und unablässige Hilfsbereitschaft meines Ehemanns Roland Unternährer hätte ich dieses Buch, das auch zu einem Teil
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seiner Lebensgeschichte geworden ist, nicht schreiben können. Er und unsere Tochter Rea haben meine Höhen und Tiefen in besonderem Maße miterlebt. Für ihre Liebe und Geduld bin ich zutiefst dankbar. Bei folgenden Personen bedanke ich mich für inhaltliche Auseinandersetzungen, inspirierende Lesarten, konstruktive Diskussionen, gemeinsame Arbeitswochen, aufwändige Transkriptionsarbeiten, tatkräftige Literaturrecherchen und -beschaffung, unermüdliches Korrekturlesen, die liebevolle Betreuung meiner Tochter und weitere Unterstützungen jeglicher Art: Prof. Dr. Sabine Andresen, Myrta Bachmann, Helena Benz, Dr. Christa Binswanger, Prof. Dr. Ralf Bohnsack, Simone Brauchli, Liliane Bürkli, Dr. Stefanie Duttweiler, Andrea Erzinger, Rosmarie Fellmann, Dr. Barbara Fontanellaz, Dr. Uta Teresa Fromherz, Dr. Bettina Grubenmann, Renate Gutmann, Barbara Hobi, Dr. Rebekka Horlacher, Prof. Dr. Bettina Hünersdorf, Stefan Hürlimann, Beatrice Kohler, Dr. Kathrin Krammer, Beat Leu, Ursula Leu, Veronika Magyar-Haas, Rebecca Mörgen, Esther Nellen, Piero Raselli, Marion Pomey, Erika Rohner, Peter Rohrbach, Dunja Rutschmann, Sharon Saameli, Clarissa Schär, Anna Schnitzer, Meret Stöckli, Renate Stohler, Tobias Studer, Richard Unternährer, Ruth Unternährer, Dr. Margot Vogel, Christoph Wenger, Daniel Werner, Franziska Widmer, Dr. Elena Wilhelm, Andrea Wullschleger, Dr. Bettina Wyer.
Zürich, im Mai 2015 Myriam Rutschmann
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Anhang Anhang
B IOGRAPHISCHE K URZBESCHREIBUNGEN
Sr. Ruth Mitte der 1960er-Jahre wird Sr. Ruth als eineiiger Zwilling geboren. Sie wächst mit fünf älteren Geschwistern in einer ländlichen Gemeinde auf. Zu ihrer Zwillingsschwester hat sie bis heute ein enges und harmonisches Verhältnis. Die Eltern bewirtschaften einen Bauernhof. Sr. Ruth wie auch ihre Geschwister werden schon früh in die Pflichten des Haushalts und in die Arbeiten auf dem Bauernhof eingebunden. Die obligatorische Schulzeit besucht Sr. Ruth gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester. Sie bewältigt die Schule problemlos, empfindet die Schulzeit aber nicht nur als positiv. Als eineiige Zwillinge fallen die beiden Schwestern auf und werden oft gehänselt. In ihrer Freizeit spielt Sr. Ruth draussen mit anderen Kindern, musiziert zusammen mit ihren Geschwistern und macht gerne Sport. Während der Sekundarschulzeit macht sie an privaten Partys erste Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht, es kommt zu Berührungen und zu Küssen. Nach der Sekundarschule besucht Sr. Ruth das Lehrerinnenseminar in WDorf und erlangt zusätzlich ein Sportdiplom. Prägend für diese Zeit sind die Trennung von ihrer Zwillingsschwester und die ersten Kontakte mit Ordensschwestern. Fasziniert vom sozialen Engagement der Schwestern, bildet sich während Sr. Ruths Ausbildung ihr religiöses Bewusstsein heraus. Nach Abschluss der Berufsausbildung arbeitet sie als Lehrerin in der Volksschule und macht eine Weiterbildung zur Katechetin. Unmittelbar nach Sr. Ruths Ausbildung beschließen ihre Zwillingsschwester und ihre beste Seminarfreundin, Ordensschwestern zu werden. Dies löst bei Sr. Ruth einerseits Verlustängste aus, andererseits eine vertiefte Auseinandersetzung
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mit ihren eigenen Lebensentwürfen. Trotz Zweifel und Ängsten und dem bevorstehenden Austritt ihrer Zwillingsschwester aus der Ordensgemeinschaft, fasst Sr. Ruth den Entschluss, Klosterfrau zu werden. Mit dem Klostereintritt beginnt für Sr. Ruth eine Suche nach ihrer eigenen Identität. Sie versteht sich nicht ausschliesslich als Ordensschwester, sondern primär als Mensch und dann als Frau. Weiterhin wichtig sind ihr sportliche Betätigungen bzw. die Balance zwischen Körper und Geist. Sr. Ruth unterrichtet in der klostereigenen Schule und in der Volksschule, zusätzlich ist sie in der Weiterbildung tätig. Nach der Aufhebung der Klosterschule beginnt für sie eine berufliche Neuorientierung. Sie absolviert eine mehrjährige psychologisch orientierte Ausbildung. Im Gegensatz zu früher könnte sie sich heute vorstellen, Partnerin und Mutter zu sein. Obwohl sie die Richtigkeit des Klostereintritts nicht mit absoluter Sicherheit für sich bestätigen kann, spürt sie die innere Verpflichtung, diesen Weg solange weiterzugehen, als dass nicht triftige Gründe dagegen sprechen.
Sr. Jakoba Ende der 1930-er-Jahre kommt Sr. Jakoba als eines der jüngsten Kinder einer bescheidenen bäuerlichen Großfamilie zur Welt. Sie wächst mit zehn weiteren Geschwistern auf, die jüngste Schwester stirbt bald nach der Geburt. Der Bauernbetrieb wird von Vater und Mutter gemeinsam bewirtschaftet. Die älteren Geschwister übernehmen einen Teil der Betreuungs- und Erziehungsaufgaben für die jüngeren. Die von der Familie gelebte Ökumene und vor allem die von der Mutter praktizierte christliche Nächstenliebe sind für Sr. Jakoba prägend. Die Vorschulzeit verbringt Sr. Jakoba hauptsächlich im Kreis ihrer Herkunftsfamilie. Die Primarschule besucht sie zusammen mit gleichaltrigen Nachbarskindern in ihrer Heimatgemeinde. Auf den Besuch der Sekundarschule verzichtet sie, absolviert stattdessen ein Haushaltslehrjahr und hilft anschließend auf dem elterlichen Betrieb mit. In dieser Zeit entdeckt Sr. Jakoba in einer Zeitschrift einen bebilderten Artikel über eine Ordensschwester bzw. Generaloberin. Fasziniert von dieser Schwester, bewahrt sie den Artikel längere Zeit auf. Nach einem Aufenthalt in der französischen Schweiz, erkundigt sie sich nach den Aufnahmebedingungen des Klosters der erwähnten Generaloberin. Ein weiteres Jahr später tritt Sr. Jakoba als junge Frau ins Kloster ein. Während des Postulats absolviert Sr. Jakoba die klosterinterne Ausbildung zur Hauswirtschaftslehrerin. Nach dem anschließenden Noviziat legt sie Mitte Zwanzig ihre zeitliche Profess ab.
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In den folgenden Jahren arbeitet Sr. Jakoba als Hauswirtschaftslehrerin in der Nordostschweiz und übernimmt zusätzliche Aufgaben in einer Pfarrgemeinde. Später entschließt sie sich eine Ausbildung im Bereich der praktischen Theologie zu machen. Nach dem obligatorischen Praktikum wird sie mit einem Vollpensum in der Pfarrgemeinde angestellt. Zu Beginn ihres beruflichen Wechsels arbeitet sie vor allem mit Kindern und Jugendlichen, später mit betagten Menschen. Die Aufgaben entsprechen ihr so sehr, dass sie einige Jahre über ihr Pensionsalter hinaus arbeitet. Zurzeit bewirtschaftet Sr. Jakoba zusammen mit einer Mitschwester ein klostereigenes Bildungshaus.
Sr. Rebecca Sr. Rebecca kommt Ende der 1940er-Jahre in J-Stadt zur Welt. Sie wächst mit einer jüngeren Schwester in einer reformierten Familie auf, welche die Religion allerdings nicht aktiv praktiziert. Der Vater arbeitet als Bankangestellter, die Mutter ist für den Haushalt und die Erziehung der Kinder zuständig. Weitere wichtige Bezugspersonen sind ihre Großeltern sowohl mütterlicher- als auch väterlicherseits. Die Eltern und die Großeltern väterlicherseits pflegen eine strenge Erziehung und lassen den beiden Schwestern wenig Handlungsspielraum. Zur Schwester hat sie bis heute keine innige Beziehung. Aufgrund mangelnder Plätze kann Sr. Rebecca den Kindergarten nicht besuchen, was zu ungeduldiger Vorfreude auf die Schule führt. Diese bewältigt sie mit Leichtigkeit und Freude. Schon früh zeigt Sr. Rebecca Interesse an sozialen Berufen. Nach einem Zwischenjahr nach der obligatorischen Schulzeit absolviert sie eine Ausbildung zur Krankenschwester in ihrer Heimatstadt. Anschließend arbeitet sie weitere drei Jahre in ihrer Ausbildungsinstitution und erhält die Möglichkeit, sich fachlich zu spezialisieren. Aufgrund ihres Bedürfnisses nach mehr Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von ihrem Elternhaus bewirbt sie sich auf eine außerkantonale Stelle im ländlichen Krankenhaus in L-Dorf. Leben und Arbeiten am neuen Ort sind ist geprägt von engem Kontakt mit Ordensschwestern, katholischen Arbeitskolleginnen und religiösen Ritualen. Dies führt dazu, dass Sr. Rebecca beginnt, sich mit religiösen Fragen auseinanderzusetzen. Da sie in der reformierten Kirchengemeinde vor Ort nicht fündig wird, beginnt sie die katholische Kirche zu besuchen. Immer stärker interessiert und fasziniert sie das Leben der Ordensschwestern. Ihr anschließender religiöser Findungsprozess ist durch viele Unterbrüche gekennzeichnet. Sie verliebt sich in einen Mann, löst die Beziehung jedoch wieder auf, verlässt auf Anraten ihrer Eltern das katholische Milieu, arbeitet
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einige Monate in einem evangelischen Kirchenzentrum und besucht nachfolgend eine religiöse Kollektivsiedlung im Ausland. Zurück in der Schweiz erhält Sr. Rebecca eine Anstellung in einem städtischen Krankenhaus. Zusammen mit ihrer Arbeitskollegin Sr. N, leitet sie einen Konfessionswechsel in die Wege. Nach zwei Jahren tritt Sr. Rebecca trotz Widerstand ihrer Familie ins Kloster ein. Die erste Zeit im Kloster erlebt Sr. Rebecca als unbelastet. Während des Noviziats ist sie allerdings einer großen Beanspruchung ausgesetzt, da sie neben der klösterlichen Ausbildung zugleich eine leitende Position im oben erwähnten Krankenhaus übernimmt. Trotz anhaltender Ablehnung des von Sr. Rebecca gewählten Lebensweges, nimmt die ganze Familie an der Professfeier teil. Nach fünf Jahren Arbeitstätigkeit im Stadtspital wird Sr. Rebecca für die Leitung einer medizinischen Abteilung ins Mutterhaus zurückberufen. Diese Position hat sie noch heute inne. Zwischenzeitlich wird ihr eine anspruchsvolle Aufgabe im Generalkapitel auferlegt. Aufgrund auftretender gesundheitlicher Beschwerden tritt sie vorzeitig aus dem Generalkapitel zurück. Nach langer Zeit kommt es zwischen Sr. Rebecca und ihren Eltern zu einer Versöhnung. Zu ihrer Schwester hat sie zeitlebens keinen engen Kontakt.
Sr. Paula Sr. Paula kommt Anfang der 1940er-Jahre als uneheliches Kind zur Welt. Da die Mutter noch sehr jung ist und einer Erwerbsarbeit nachgehen muss, lebt Sr. Paula die ersten zwei Jahre bei den Großeltern mütterlicherseits. Auch später verbringt sie alle ihre Schulferien bei diesen. Vor allem der Großvater ist für Sr. Rebecca ein wichtiger sozialer Bezugspunkt. In den darauf folgenden Jahren kommen drei weitere Geschwister zur Welt, das zweitgeborene Kind stirbt allerdings in den ersten Stunden nach der Geburt. Die Familie lebt in L-Stadt in sehr beengten Wohnverhältnissen. Der Vater arbeitet als Metzger, verliert aber aufgrund einer psychischen Erkrankung mehrmals seine Stelle. Der Mutter gegenüber ist er wiederholt gewalttätig. Als ungelernte Kraft geht die Mutter diversen Gelegenheitsarbeiten nach. Sr. Paulas Eltern haben unterschiedliche Konfessionszugehörigkeiten. Der Vater ist Katholik, die Mutter gehört der reformierten Kirche an. Sr. Paula und ihre Geschwister gehören in den ersten Lebensjahren der reformierten Kirche an. Auf Drängen des Vaters konvertiert die Mutter in späteren Jahren zum katholischen Glauben. Mit ihr wechseln auch die Kinder die Konfession.
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Kindergarten und Primarschule besucht Sr. Paula in der Volksschule nahe dem eigenen Wohnquartier, die private katholische Sekundarschule jedoch in einem entfernten Stadtteil. Die Primarschule bewältigt sie mit Leichtigkeit, in der Sekundarschule treten jedoch schulische Probleme auf, sodass sie die dritte Klasse nicht mehr besuchen darf. Aufgrund einer neuen Arbeitsstelle des Vaters zieht die Familie in dieser Zeit aus der Stadt nach W-Dorf in eine größere Wohnung. Da der Vater bald darauf die Stelle verliert muss die Familie die Wohnung wieder wechseln. In der Folge ziehen sie innerhalb von W-Dorf mehrmals um. Die Wohnverhältnisse entsprechen der jeweiligen finanziellen Lage der Familie. Nach der Sekundarschule macht Sr. Paula ein Zwischenjahr in einer französisch sprechenden Familie und entschließt sich für eine Ausbildung als Verkäuferin in der Bekleidungsbranche. In ihrer Freizeit ist Sr. Paula in verschiedenen religiösen Vereinen tätig, parallel dazu absolviert sie eine Ausbildung im Bereich der praktischen Theologie. Innerhalb dieses katholischen Milieus erlebt sie Bestätigung und Anerkennung ihrer Person macht erste positive Erfahrungen mit dem männlichen Geschlecht. Nach zwei weiteren Jahren im Verkauf, sucht Sr. Paula eine für sie sinnvollere berufliche Betätigung und findet diese als Hilfsschwester in einem von Ordensschwestern geführten Krankenhaus. Sie entscheidet sich die Ausbildung zur Krankenschwester zu machen, welche gleichzeitig mit dem Eintritt ins Koster verbunden ist. Als Ordensfrau arbeitet Sr. Paula in verschiedenen Krankenhäusern, macht eine Kaderausbildung im Gesundheitsbereich und ist schließlich als Ausbildnerin tätig. Später vertieft sie ihre Kenntnisse in der praktischen Theologie und arbeitet bis heute als spirituelle Begleiterin in unterschiedlichen Krankenhäusern. Auch während ihrer Zeit als Ordensschwester verliebt sich Sr. Rebecca in verschiedene Männer, mit denen sie beruflich oder in ihren Ausbildungen zu tun hat. Sie deutet diese Liebe auf einer spirituellen Ebene. Ein Austritt aus dem Kloster stand für sie nie zur Frage.
Sr. Louisa Sr. Louisa kommt Ende der 1960er-Jahre zur Welt und wächst in einer großen Familie auf, zusammen mit ihren Eltern, zwei älteren Schwestern und zwei jüngeren Brüdern. In späteren Jahren lebt auch die Großmutter väterlicherseits im Haus. Die Familie hat ein bescheidenes Einkommen, lebt anfangs in einer kleinen Mietwohnung und zieht, als Sr. Louisa dreijährig ist, in ein renovations-
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bedürftiges Haus im ländlichen N-Dorf. Der Vater arbeitet als Handwerker und renoviert in seiner Freizeit das Haus. Die Mutter ist für den Haushalt, die Erziehung der Kinder und die finanziellen Angelegenheiten der Familie zuständig. Die Vorschulzeit verbringt Sr. Louisa hauptsächlich im Kreis ihrer Herkunftsfamilie, bis auf einen längeren Aufenthalt bei einer Verwandten in Z-Stadt. Ohne den Kindergarten besucht zu haben, wird Sr. Louisa früh eingeschult. Die Primarschule bewältigt sie mit Leichtigkeit, fällt aber als lebhaftes und zugleich verträumtes Kind auf. In dieser Zeit interessiert sie sich immer mehr für soziale Belange und eröffnet der Familie zum ersten Mal, dass sie später in ein Kloster eintreten möchte. In der Sekundarschule verschließt sich Sr. Louisa immer mehr. Aus dem munteren wird ein außergewöhnlich ernstes Kind. Auf Initiative der Schule sucht sie eine Psychologin auf. Im Gymnasium wird Sr. Louisa erstmals mit schulischen Schwierigkeiten konfrontiert, die sie aber bewältigen kann. Der Wunsch, Ordensschwester zu werden, bleibt über all die Jahre bestehen. Unmittelbar nach dem Mittelschulabschluss tritt Sr. Louisa ins Kloster ein. Die Kandidatur und das Noviziat erlebt sie positiv, da sie sich auf dem gewählten Lebensweg sicher fühlt. Ungewiss bleibt lange Zeit jedoch ihre berufliche Entwicklung. Die ersten Jahre im Kloster arbeitet sie als Zeichenlehrerin, kann aber die dazu erforderliche Ausbildung aufgrund nicht bestandener Aufnahmeprüfung nicht machen. Anschließend studiert sie Mathematik in G-Stadt, bricht das Studium nach zwei Jahren ab, um Primarlehrerin zu werden. Sie unterrichtet einige Jahre in einem Mädcheninternat und entschließt sich, berufsbegleitend eine psychologische Ausbildung zu machen. Nach der Schließung der Internatsschule reist Sr. Louisa für ein halbes Jahr ins Ausland und wird hinterher für klosterinterne Angelegenheiten im Provinzkapitel verpflichtet. Heute arbeitet sie in einer vom Kloster geführten sozialen Institution. Im Vergleich mit der Tätigkeit als Primarlehrerin schätzt sie an der neuen Aufgabe, dass der Leistungsdruck eine weniger zentrale Rolle spielt und dass Handlungserfolge unmittelbar sichtbar werden.
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T RANSKRIPTIONSNOTATION 1 (2) (.) ja °nein° . ; ? , odnei::n haben=wir (doch nicht) ( ) ((stöhnt)) @nein@ @(.)@ @(2)@ //
1
Pause, Dauer in Sekunden kurzes Absetzen, weniger als eine Sekunde betont, laut sehr leise stark sinkende Intonation schwach sinkende Intonation stark steigende Intonation schwach steigende Intonation Abbruch eines Wortes Dehnung, die Häufigkeit von : entspricht der Länge der Dehnung schleifend, ineinander übergehend gesprochene Wörter Unsicherheit bei der Transkription unverständliche Äußerung, je nach Länge parasprachliche, nicht-verbale oder gesprächsexterne Anmerkungen lachend gesprochen kurzes Auflachen Lachen, Dauer in Sekunden knappes Unterbrechen des Sprechers z. B. Hörersignal //mhm//
In Anlehnung an Nohl 2008, S. 135; Bohnsack 2008, S. 235.
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Ü BERSETZUNGEN Schwester Inge: mehrfache Grenzgängerin Thema 1: Erzählaufforderung (1-2) 1-2 ja das läuft, ((atmet ein)) gut Schwester Inge, (.) ich möchte Sie bitten (.) mir (.) jetzt Ihre (.) Lebensgeschichte zu erzählen. Thema 2: Herkunftsmilieu (3-95) 3-5 ((atmet ein)) ich bin (.) geboren (.) am im Februar 1929, (1) in M-Stadt (.) das war (.) die Heimatstadt meiner Eltern. ((atmet ein)) sie sind (.) beide dort aufgewachsen, ((atmet ein)) 5-7 mein Vater (.) ist (.) Mediziner zuerst Chemiker hat ein Doktorat in Chemie gemacht, und dann in Medizin, ((atmet en)) und hat sich dann auf Toxikologie (.) spezialisiert. 7-10 ((atmet ein)) meine Eltern haben sich in N-Stadt kennengelernt (2) und aber sie kannten sich schon lange. Das ist so wie in einer Stadt, in der eine gewisse Oberschicht (1) sich kennt. (1) man weiß voneinander. 10-17 (1) und (.) dann hat mein Vater 1926 meine=ich eine Stelle erhalten in (.) bei der X AG in O-Stadt. //mhm// ((atmet ein)) und daraufhin (.) haben sie (.) in O-Stadt (.) auf dem Standesamt geheiratet, (.) haben aber ihre kirchliche Hochzeit aus Familiengründen (.) bei=der Schwester meiner Mutter bei der älteren Schwester meiner Mutter irgendwo in Deutschland (.) gefeiert wo diese mal gewohnt hat. (3) und (.) das bedeutet, dass meine Eltern von Anfang an in O-Stadt also von meinem Anfang an //mhm// in O-Stadt gewohnt haben, //mhm// 17-19 weil mein Vater eine Professur als Toxikologe an=der Universität M. hatte, (.) fuhr er regelmäßig dorthin, (.) wir hatten (noch) die ganze Verwandtschaft dort //mhm//
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19-20 und (3) er hat (3) ja jetzt komm ich wo habe ich jetzt genau er hat irgendetwas Bestimmtes 20-22 also sie haben in O-Stadt gewohnt, ((atmet ein)) und mein Vater hatte Beziehungen natürlich zu den Medizinern der Universität. //mhm// 22-25 und da beschlossen meine Eltern, dass wir alle (.) in M-Stadt in der Heimatstadt der Eltern (.) gebo- auf die Welt kommen //mhm// also (.) ich bin mit (.) drei Wochen, (.) nach O-Stadt importiert worden, //mhm// 25-29 ((atmet ein)) und=äh dann in O-Stadt in der Sankt-U-Kirche getauft worden //mhm// vom Pfarrer der Sankt-U-Kirche damals das war der spätere (.) Bischof A (.) der ein Cou-Cousin meines Vaters war //mhm// also das waren Beziehungen //mhm// damals //mhm// 29-32 (2) wir sind (.) ich hatte vie- noch drei Geschwister, (1) einen Bruder (.) ich bin die Älteste (.) einen Bruder eine Schwester und nochmals einen Bruder //mhm// wir sind (.) zu viert also in O-Stadt (.) aufgewachsen (1) und (1) gingen dort auch zur Schule die ganze Schule alles durchgemacht //mhm// (3) weil (1) wir=haben=aber viel (1) über die Grenze geschaut (.) also für mich ist (.) eine Grenze etwas äh (.) Selbstverständliches man geht hin und her (.) man weiß wie man schmuggeln muss, (.) meine Mutter hat jeweils gesagt wenn ich //@(1)@// etwas äh (.) über die Grenze bringen wollte, von //((hustet))// Deutschland in Deutschland war es ein bisschen billiger als in (.) in O-Stadt, zum Beispiel auch in Q-Dorf, oder äh O-Stadt ist ja heute überall die Grenze rundherum //mhm// dann hat sie gesagt man müsse=es nur, in (.) eine stinkige Kinderwindel einpacken und dann bringt man alles @durch@ //@(2)@// ((atmet ein)) @also im i-@ im im Kleinschmuggel für Privatbedarf natürlich (.) hatten wir Erfahrungen, //@(5)@// und wir haben (.) also wenn man auf die Reise ging dann hat manalso in O-Stadt gibt es ja den Bahnhof Z //mhm// gibt’s da hat man immer ein=Taschentuch gebraucht, (.) und Billet und einen Reisepass. //mhm// also das war selbstverständlich //mhm// ((atmet ein)) also wir haben auf beiden Seiten der Grenze gelebt
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46-51 (1) m=große Bedeutung hatten für mich (1) äh die Schwestern meines Vaters. (.) er hatte (.) bisschen jüngere Zwillingsschwestern, a ich muss noch sagen der Unter- der Altersunterschied zwischen meinen Eltern war sehr groß (.) mein Vater war 18 Jahre jünger äh älter //mhm// Entschuldigung 18 Jahre älter //mhm// als meine Mutter //mhm// er hat also sehr spät geheiratet und war (.) weit über vierzig als=ich auf die Welt kam. 52-67 ((atmet ein)) und (3) die Schwestern (.) meines Vaters haben in der Nähe von MStadt (.) einen landwirtschaftlichen Betrieb geführt (.) waren Zwillinge aber ungleiche völlig ungleiche Zwillinge (.) die eine (.) hatte eine landwirtschaftliche Ausbildung da gibt es ein Bild (.) von ihr (.) als äh (1) in=einer landwirtschaftlichen Schule Anfang des (.) 20. Jahrhunderts, sie alleine als Frau unter lauter Männern. //mhm// ((atmet ein)) und sie hat dann einfach ihre (.) Schwester ihre Zwillingsschwester geholt um den Hof zu betreiben //mhm// sie haben das als Beruf haben sie das gewählt. //mhm// und durch die Ferien dort (2) äh hatte ich (1) einen sehr intensiven Kontakt mit Landwirtschaft, also (.) ich habe mit der Zeit melken gelernt und ich konnte (.) Pferde satteln und ich konnte (.) lernen wie man (.) von Hand säht so //mhm// ((Bewegung hörbar)) alles was man so macht. (.) Kühe gehütet natürlich selbstverständlich alles das Kälber füttern (.) Säue füttern (1) Hühner füttern und so weiter. //mhm// ((atmet ein)) also eine intensive- (.) einen intensiven Kontakt zur zu Tieren. //mhm// und zur Arbeit (.) auf so=einem Hof. //mhm// den ich vor allem (.) äh bevor ich in=die Schule kam (.) und in den Ferien (.) erlebt habe. //mhm// als Kind. 67-95 ((atmet ein)) wir (.) wir sind (.) alle nicht in den Kindergarten, (1) weil (.) meine Mutter fand wir seien vier Kinder, da braucht man also keinen (.) Kindergarten um sozialisiert zu werden. //mhm// ((atmet ein)) dann (6) habe ich gelegentlich auch mit=dem Nachbarsbuch mit=dem Nachbarsbuben gespielt, (.) der war ein Jahr älter als ich (1) als mein Vater hat dann ein hat ein Haus gebaut, (1) so=ein Reihenhaus //mhm// in (1) im Stadtteil O. //mhm// und (.) die Nachbarn (.) hatten einen Buben und ein Mädchen der Bub war ein Jahr älter als (1) als ich war und das Mädchen (1) ein bisschen jünger als ich (1) so wie meine Schwester eher (1) und (.) ich erinnere mich (.) an=einen Spielnachmittag an=dem er mir eine Drehscheibe gezeigt hat (.) er zu seiner Eisenbahn, das ist also (.) so eine Scheibe (.) ne, (1) und ich habe verstanden (1) wo=man wo=man (.) ein Gleis (.) umlegen kann also man
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//mhm// man schiebt den Bahnwagen auf das Gleis das Ersatzgleis (rollt) (1) und dann (.) äh (.) ist=es äh ist=es verbunden mit anderen Gleisen also es hat vier Ausgänge //mhm// und er sagt mir die Drehscheibe hat davon gesprochen. (2) und dann dachte ich immer noch das ist aber komisch (1) ich habe das in meinem deutschen Dialekt verstanden (1) drei (1) schei- (1) schiibe (1) also schieben //mhm::// drei (1) schieben //@(1)@// dass man dort (.) einen Zug geschoben hat habe ich schon gesehen, aber ich war noch=nicht in der Schule //mhmm// an der Schule (.) äh und noch=nicht in der Schule (.) aber ich ni- ich (1) und habe das völlig falsch verstanden ich habe gesehen das=sind ja vier Ausgänge warum sagt=er drei. (1) und ähm aber er hat ja nicht drei gesagt er hat gesagt drei und das //@(2)@// und das heißt @( )@ und ich habe damals=davon erzählt ich erzähle Ihnen die Geschichte (.) weil das illustriert (.) dass ich (.) äh das Schweizerdeutsche als eine Fremdsprache lernen musste. //mhm// und zwar im Moment in dem=ich in die Schule kam. //mhm// vorher (.) ist man das äh (.) hat man das gar nicht gebraucht (1) und (.) die=ähm dieses Gefühl (1) ich sei hier (.) eigentlich fremd //mhm// das (.) ist mir immer geblieben und wahrscheinlich meinen Geschwistern auch. //mhm// 95-112 ((atmet ein)) (1) wir sind (.) alle in Privatschulen geschickt worden, (.) ich kam (.) in eine kleine Privatschule (1) zusammen (.) mit (.) der Tochter von Bekannten, (.) die waren von I-Stadt also auch ein bisschen fremd in O-Stadt (1) äh auch katholisch wie wir (2) und (1) äm (.) mit ihr zusammen kam ich in diese Privatsch- und diese kleine Privatschule (.) sind ja doch vier Jahre in O-Stadt mehr hat man nicht (.) an Primarschule (1) und oder damals gehabt also inzwischen ist alles anders. //mhm// (1) und (2) wir waren sieben (1) Mädchen in einer Klasse (.) also //mhm// sehr (.) ich=meine (1) es sind zwei Klassen in-miteinander im selben Raum unterrichtet worden //mhm// von der Besitzerin von dieser Schulbetreiberin von der Schule eine ältere Lehrerin (1) und dann hatte sie eine jüngere angestellt für die dritte und vierte Klasse. //mhm// (2) und das war (.) eigentlich (1) ganz=äh gemütlich und und sehr persönlich (1) familiär (1) andererseits aber (.) habe ich das Fremdsein (.) immer gespürt. //mhm// in diesen Jahren. (2) e ich gehöre irgendwie nicht dazu (.) und ich äh (1) ich sehe m- m- meine Freundin dort mit der bin ich da in diese Schule gesteckt worden (1) äh die hat einen Haufen Beziehungen hier in O-Stadt (.) die=ich nicht habe (.) und ich werde in diese Beziehungen nicht eingeweiht (.) also ich stand am Rand (1) immer am Rand. //mhm//
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112-148 ((atmet ein)) gleichzeitig (1) habe ich (.) in O-Stadt (.) weil ich in=einer Privatschule war (.) und weil (.) wir müssen sagen wir (1) meine meine Freundin N äh war ja (.) im glei- in der gleichen Situation ((atmet ein)) und das war eine reform- eine protestantische Schule (1) //mhm// und wir dort in=dieser protestantischen Schule haben wir natürlich all die schönen (1) protestantischen Choräle (.) gelernt das war eine fromme Lehrerin und man hat am am Morgen gebetet (.) und sie hat das (.) sie stehend so hat man gebetet //mhm// als ich fand das sehr komisch (1) und diese Art wie sie vom Herrn Jesus erzählt hat fand ich auch sehr komisch war mir fremd (1) aber=äh gut, (1) ich habe dann mit der N zusammen habe ich äh Religionsunterri- richt bekommen //((räuspert sich))// äh Privatstunden nur wir zwei. (2) von=einer Schwester, (1) von F-Berg (.) also Sankt L hieß das Pfarrhaus (.) von F-Berg (.) Sankt L ist ja die älteste (1) ääh Pfarre- Pfarrkirche in/mhm// katholische //mhm// in O-Stadt. ((atmet ein)) und (2) das=waren=äh Schwestern aus der Region R (.) aber von O-Stadt //mhm// und die (1) gaben (.) und (.) einen sehr guten Religionsunterricht, (1) ich habe ich meine heute noch in diesen vier Jahren habe ich die ganze Bibel kennengelernt //mhm// sie konnte sie konnte erzählen (.) diese Schwester //mhm// (2) äh (.) das heißt wir hatten sie nur in der ersten (1) und in der dritten und vierten Klasse zwischendrin musste sie einmal in ihr Mutterhaus gehen wahrscheinlich musste sie ewigen Gelübde machen. //mhm// und war also auch noch (1) war sehr jung, //mhm// und (1) ((atmet ein)) (2) ich meine (.) ich habe in dieser in diesem drei Jahren (.) in den ich diese Schwester hatte (.) habe ich die ganze Bibel kennengelernt (.) durch das was sie erzählt hat, //mhm// und außerdem (.) den ganzen Katechismus, //mhm// das heißt die ganze katholische Dogmatik. //mhm// (2) äh irgendwie hört sich das heutzutage wo man (.) Kinder von Dogmatik verschont und sie haben von nicht eine Ahnung, //mhm// hört sich das fast pervers an (1) aber mir ging das irgendwie rein //mhm// auch durch diese Personalisierung dieser Schwester die wirklich (.) einen einen echten (.) Glauben (.) hatte //mhm// und diese Verbindung von Bibel (.) biblischer Geschichte (1) //mhm// und=äh Katechismus //mhm// hat sehr gut (1) funktioniert //mhm// also das ist (1) das ging ineinander ich habe da keinen (.) Widersprich (.) gespürt //mhm// und (.) das lag mir irgendwie, //mhm// (2) und ich habe äh auch die as- s- das Wesentliche meine mein wesentliches theologisches Wissen (1) habe=ich aus diesen drei Jahren bei dieser Schwester- bilde ich mir heute @so ein@ //@(2)@// @das hört sich ein bisschen kindlich an @ ((atmet ein)) @(2)@ //@(2)@//
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148-183 dann (.) wir sind ja nachher (.) nach der (.) vierten Klasse also mit zehn Jahren anno (1) anno (.) 39 (1) also 35 kam=ich in die Schule (2) (dort) 39 (.) ins Gymnasium (1) ((atmet ein)) ich hatte nie Probleme in der Schule also das ging alles ohne weiteres. (1) ((atmet ein)) in- ins Gymnasium gekommen (1) und /1) ich habe damals am ersten Tag (1) an dem wir eingeteilt wurden sind wir sind (.) in ist es eine riesige Schule mit über tausend äh Schülerinnen dieses Mädchengymnasium in O-Stadt (1) ((atmet ein)) äh damals gewesen (1) und wir sind eingeteilt worden war eine ganze Aula voll von (.) Mädchen in unserem Alter und dann hat man (so) die Namen runtergelesen (.) //mhm// und äh da (.) von meiner Klasse (.) sind=äh (.) drei in diese- in (.) also wir kamen zu dritt in dieselbe Klasse, (1) und ich habe das Entsetzliche erlebt damals (1) dass=äh meine gute Freundin N (1) sich auf die andere gestürzt hat und sich neben die gesetzt hat und we- //mhm// und mich hat sie (.) //mhm// hängen gelassen. //mhm// und=äm inzwischen ist mir natürlich auch der Begriff äh (.) Sch- der S-Sauschwabe (1) äh übergegangen (.) in Fleisch und Blut ne, //mhm// ich wusste ich bin (.) ich bin einfach (1) nicht wie die anderen ich bin marginalisiert. //mhm// und (.) aber ich habe mich gleichzeitig auch (1) früh daran gewöhnt (1) anders zu sein als die anderen, //mhm// und (.) das=äh (1) auszuhalten. //mhm// also ich erinnere mich auch an Details mit Kleidung (1) ist kam (.) äh dazumals in Mode (1) dass äh die Mädchen also d- die Kinder (.) so genannte Sch- Schuhe mit Käsesohle (1) gekauft haben bekommen haben //mhm// das waren die ersten Gummisohlen, //mhm// und die waren gelb. //mhm// ganz dicke (.) //mhm// Gummisohle. //mhm// und ich hätte unbedingt auch solche Käsesohlenschuhe gehabt //mhm// aber die Mutter fand also (.) nnein das sei also nicht nötig und das kaufe sie nicht und so (.) //mhm// gut also ich bin einfach anders und außerdem hat meine Mutter dann auch (1) mir uns Kleider (1) verschafft oder auch auch ich erinnere mich an eine Strickjacke die sie uns gemacht hat die typisch (1) deutsche (1) Dirndel-Stil gewesen ist //mhm// also auch mit dem //mhm// sie hat das nicht gemerkt //mhm// sie hat so ihren Haushalt (.) äh gehabt //mhm// und ((atmet aus)) gut. (1) und hat hatte wenig zu wenige Beziehungen (1) u- unter den Leuten dass dass dass dass=man das aber ich habs getragen (.) und habe einfach gesagt (.) es ist jetzt einfach so, (1) ich bin anders, (1) und man muss das aushalten können. //mhm// und das gab mir auf=eine Art (.) auch au- aufs Leben eine gewisse Stärke. //mhm// denn äm //((räuspert sich))// (2) äh (2) ich konnte mich gar nicht (1) an die anderen oder an das Gros oder an die Mehrheit (1) anpassen; //mhm//
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183-195 (4) bei uns zuhause also wir sind (.) ähm ein sogenanntes (.) bildungsreiches Milieu es gab einen Haufen Bücher immer an Weihnachten war das wichtigste was was für neue Bücher gab es //mhm// immer, (.) wir haben äh (.) unsere Mutter hat uns viel (.) früh schon immer vorgelesen Märchen die ganzen GrimmMärchen auch //mhm// die N kam manchmal zu uns //((hustet))// (1) und hat äh (.) fand also ihre Mutter will nicht dass sie Märchen kennenlerne aber bei uns hat man Märchen gelesen (.) //mhm// und die Mutter hat vorgelesen ich konnte also nicht lesen bevor in die Schule kam, //mhm// das äh wollte meine Mutter nicht, (.) //mhm// also (1) aber ich habe d- man lernt das ja, ne, //mhm// gut (1) an=einem schönen Tag habe=ich hat selber lesen können hat sie gesagt also jetzt (.) jetzt lies das selber das kannst du doch lesen. Gut dann habe=ich mich also aufgerafft //@(2)@// das ist so der (.) der bildungsmäßige (.) //mhm// Hintergrund //mhm// 195-228 ((atmet ein)) (1) gut dann (1) äh (.) Gymnasium wo=ich den Religionsunterricht stinklangweilig fand //((schmunzeln))// äh:: (.) bei (.) habe mir immer die Abteilung ausgesucht (.) in der=äh: in=der man am meisten lernen kann, also ich habe äh (1) das Gymnasium ist in- (.) ging acht Jahre lang, also mit (.) nach zwölf Jahren hat man die Matura gemacht, also acht und vier (.) //mhm// und äh (.) ich habe nach nach zwei Jahren Untergymnasium (.) hat man dann sich entscheiden müssen (1) auf A- A- Auswahl, zwischen drei Abteilungen, (1) ich habe selbstverständlich die Gymnasialabteilung gemacht (.) einer Lateinmatura //mhm// und alldem. ((atmet ein)) wir hatten (19 sehr gute, (1) Lehrkräfte, (.) vor allem in den letzten vier Jahren (1) wir haben=uns in dem (.) so in der äh (1) ich muss ichs umrechnen (1) im (1) im siebten und achten Schuljahr (1) haben wir uns seemäßig benommen, //((schmunzelt))// und waren nachher relativ große Klasse, (.) //mhm// und daraufhin, (1) haben sie uns (1) strenge Lehrer das heißt @vor allem gute Lehrer verpasst@ in diese Ober- //mhm// (1) in die Oberstufe für die letzten vier Jahre //mhm// und da hatten wir Glück //mhm// und (1) äm (.) die wichtigste (.) Person (.) damals im im Gymnasium (1) war (.) die die Lehrerin für Deutsch und Geschichte, (1) das war (1) in O-Stadt (1) wahrscheinlich die prominenteste Frauenrechtlerin. //mhm// die (.) uns (.) natürlich entsprechende Ideen beigebracht hat, //mhm// sie hat auch an einer anderen Abteilung an der (.) allgemeinen Abteilung gab sie auch Rechtskunde //mhm// wir haben selbstverständlich (1) in der oberen Klassen haben wir (.) sind wir vertraut geworden mit (1) mit=äh (2) Verfassungen //mhm// mit (1) äh (1) ja also (meine) mit rechtliche Aspekten //mhm// von der Politik und von der Geschichte //mhm// und haben
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auch gelernt zu lesen sie hat beigebracht dass man schauen muss was dort wirklich steht und nicht was ich gerne lesen möchte aus dem Text //mhm// raus (1) also war=eine sehr em (1) eine eine wichtige Person gewesen für mich, (1) eben n=auch (1) mit ihrer Überzeugung (1) dass die Frauen (1) ohne Stimmrecht (2) einfach schlecht behandelt sind. //mhm// also das ist dieselbe die (1) anno (.) N::eunundfünfzig (1) in O-Stadt (2) den Frauenstreik (.) organisiert hat //mhm// nachher nachdem wieder einmal das Frauenstimmrecht //mhm// bachab geschickt worden //mhm// ist. //mhm mhm// äh dass das Frauenstimm- Frauenstimmrecht eingeführt worden ist hat sie leider nicht mehr erlebt. //mhm// sie ist (2) 68 meine=ich ist sie umgekommen //mhm// bei=einem Unfall //mhm// Thema 4: Geschlechtsspezifische Diskriminierungserfahrungen (228-263) 228-242 (3) also //((räuspert sich))// das wäre das Bewusstsein, (1) dass man als Frau (1) w:- weniger Rechte hat (.) oder das ein ein minderwertiges Wesen ist (.) //mhm// in der öffentlichen Meinung. (.) das habe=ich natürlich auch gemerkt (1) in der Literatur und der Geschichte, (1) die Helden sind immer Männer. //mhm// (3) und ähm (1) ich meine (.) was man liest, Faust und Tasso und (.) Schillers Helden (meine) gut ein bisschen Maria Stuart und äh Elisabeth aber: es gibt auch noch (1) andere Helden bei Schiller. Ich weiß jetzt //mhm// nicht den Räuber und so und dass die He- die Großen Helden sind immer Männer, (.) //mhm// auch in der Geschichte sind di Großen Helden immer Männer //mhm// die einzige Heldin, (1) die man mal kennengelernt hat war Jeanne d’Arc //mhm// die etwas geleistet hat, und ich=meine das kann man ja (1) das kann man ja nachweisen. Die war nicht einfach //mhm// nur eine Spinnerin. Das war eine Frau mit äh mit Intelligenz. //mhm// und Witz auch (.) ich habe=einmal diese (1) diese Protokolle (.) gelesen. //mhm// später //mhm// 242-263 (.) in=meinem Studium. //mhm// (3) dass man als Frau (1) benachteiligt ist habe ich natürlich schon als Kind erfahren, (1) mein Bruder der ältere der zwei Brüder (.) war f:::- fünfviertel Jahre jünger als ich, //mhm// (1) und=äh (.) noch bevor wir zur Schule gingen habe ich begriffen dass er große Vorrechte hat (.) //mhm// die ich nicht habe, //mhm// (2) und (.) der Spruch ging um (.) ja=m es ist schade (.) für diese Begabung (1) schade dass du nur ein Mädchen bist. //mhm// @2@ voila //mhm// ((atmet ein)) also (1) und das wurde mir gesagt (1) //mhm// ich weiß nicht mehr wann (1) ich weiß nicht mehr in welchem in welchem Alter ich das- aber das habe ich in der Familie zu hören gekriegt. //mhm// es war eben
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tatsächlich so dass (.) meine beiden Brüder in der Schule (.) relativ wenig Erfolg (.) äh hatten //mhm// und äh große große Schulgeschichten und Tragödien gemacht haben (1) und (.) meine Schwester hat sich für die Schule einen Dreck interessiert, sie wurde Innendekorateurin (.) sie ist (.) sie hat äm (.) eine praktische Intelligenz. Sie ist ab- einfach anders konstruiert als ich //mhm// ich bin einfach die Intellektuelle. //mhm// (1) gut das sind (1) das sind diese (.) weil sie=es interessiert (5) //((Schreibgeräusch))// wie das ist (.) was man (.) was man s- s- was was man lernt (.) so (.) quasi als Frau. Also ich habe früh begriffen dass ich als Frau (1) wesentlich weniger Möglichkeiten habe (1) als (1) //mhm// ein Mann. //mhm// und dass ich da: (1) sehr benachteiligt bin. (2) aber ich habe=ja=auch gelernt dass man mit Nachteilen leben muss, ne, diese Fremdheit (.) die=ich immer hatte (1) die ist geblieben Thema 5: Soziale Isolation während der Kriegsjahre (263-319) 263-280 39 ist der Krieg ausgebrochen, (.) ich erinnere mich auch noch (1) an (.) äh=den Herbst 38, (.) Sie erinnern (.) Sie wissen (1) das ist diese (.) m: (.) diese Tschechien-Krise als (.) Hitler sich mit Mussolini und Chamberlain in (.) München traf. (1) und als sie (1) als sie Hitler (1) Tschechien geschenkt haben (1) und=äh ich weiß noch (.) ich hatte (1) a- im Herbst 38 habe ich große Ängste ausgestanden. (2) weil ich mir sagte jetzt gibt’s Krieg. //mhm// und von meinen Eltern wusste ich die hatten den ersten Weltkrieg erlebt, //mhm// und wusste was das bedeutet, //mhm// (1) und (4) dann (.) erinnere ich mich auch (.) an diese em (.) an diese grauenhaften Geschichten die Verwandte (.) die uns besucht haben in O-Stadt (1) erzählten, (1) von dieser so genannten Kristallnacht //mhm// wie die Nazis mit den Juden umgingen //mhm// ((schluckt)) wie sie (dann) bestimmte Leute die sie gekannt haben (.) der alte so=wie=so (.) wie sie den (.) wie sie den (1) ich weiß es nicht (.) misshandelt haben auf offener Straße und so //mhm mhm// und das k-kam so zusammen (.) in (.) in (.) in=äh große Ängste eigentlich //mhm// Angst vor der Politik und dann gleichzeitig kommt noch am Schluss des Kirchenjahres kommen (.) diese Weltuntergangsevangelien @also@ //mhm// @das ist im Herbst@ (1) 38 (.) habe=ich so zum ersten Mal geschichtliche (.) Ängste ausgestanden. //mhm// 281-290 und dann kam der Krieg äh=ein Jahr später, (1) 39 da war=ich also (.) gut 10 (.) Jahre alt //mhm// und (.) damit gingen die Grenzen zu. //mhm// (1) und das (.) hat praktisch, (.) also vor meinem 10. (1) bis zu meinem: (1) 16. Jahr (.) das sind
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ja sechs Jahre ne, //mhm// des Krieges. //mhm// (2) sin- war ich oder waren wir (.) in O-Stadt völlig isoliert. //mhm// einerseits äh:: diese Sauschwaben, //mhm// (1) und mit der ganzen Angst (.) die=man in der Schweiz hatte (1) vor den Ausländern die nächstens einmarschieren könnten, //mhm// und andererseits (1) äh mit (.) mit=dem (1) mit=dem Verlust von (.) von Beziehungen, (1) wir //mhm// hatten wenige Beziehungen innerhalb von O-Stadt, //mhm// 290-299 (1) ich ha- ich habe in der- im unter meinen Mitschülerinnen habe ich eigentlich nicht gelitten (.) aber ich habe mich //mhm// ich bin eher jemand der introvertiert der sich zurückhält //mhm mhm// und d- d- äh habe ((druckst)) ja äh ich äh s- swieder es war wieder das (.) N war eingeladen (.) da und dort //mhm// zu=einem Ball und so //mhm// und- äh (.) aber ich nicht //mhm// @(1)@ //mhm// und ne, dann hatten=wir Tanzstunde (.) mit fünfzehn oder sechzehn Jahren (.) und äh //mhm// und diese Männer sin=ä kamen=mir alle bis hierhin ((zeigt zum Hals)), //@(2)@// @(2)@ ((atmet ein)) also es ist äh es ist einfach keine glückli- so genannte glückliche Jugend (1) //mhm// hatte=ich nicht. //mhm// 299-319 und (1) diese Isolierung (2) wie schlimm diese Isolierung eigentlich war habe ich nur erlebt (.) als (.) diese Grenzen wieder aufgegangen sind (.) 48 (.) 49 (.) 50, (1) und als=ich wieder den direkten Kontakt hatte (1) mit meinen Verwandten, //mhm// (1) in M-Stadt, (1) als=ich auf einmal merkte ja da kann ich ja sein (.) wie=ich bin. //mhm mhm// (1) und (.) ich war eigentlich nie (.) ich war irgendwie immer in in=einem in=einem gewissen Panzer drin. //mhm// ((atmet ein)) //mhm// wegen dieser (.) Fremdheit //mhm// (1) oder wegen diesem Gefü- wegen diesem Gefühl, (1) ich bin eine Ausländerin, natürlich wurde dann wieder geschimpft über diese Deutschen, //mhm// auch diese Lehrer die Lehrer und Lehrerinnen vor allem in Geschichte, (.) schimpften über diese Deutschen, //mhm// und das habe=ich natürlich nie gern gehört, //mhm// das=ist klar (.) das ist immer verletzend (2) und (5) ja (.) ich habe erst nachträglich begriffen, (1) was (.) in was für=einer Isolierung (.) ich (.) ich weiß nicht meine Geschwister wahrscheinlich auch (.) lebte (.) in dieser Zeit, (1) auch (1) dass die anderen in der Schule reden konnten (.) wie sie zuhause redeten. //mhm// und ich habe in=einer anderen Sprache in der Schule geredet (.) als zuhause. //mhm// (2) //mhm// und das das macht in der in der in der Jugend macht das schon etwas aus. //mhm// also ich muss immer (.) ich musste immer umschalten (.) auf auf eine=Art wie (.) wie eine Fremdsprache //mhm// ich=meine (.) ich ich kanns (.) ich habs irgendwie gelernt ne, //mhm// aber es ist irgend- es ist auch (.) auch ein Symptom. //mhm//
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Thema 6: Studium und erste Berufserfahrungen (319-404) 319-345 ich habe dann (.) zuerst einmal überlegt ob ich äh Mathematik Physik und so studieren will das hat mich eigentlich interessiert (.) und dann hat mir das der Rektor damals das ist wieder eine Frauengeschichte (.) gesagt, (1) ja hören Sie das müssen Sie jetzt nicht studieren (.) da a haben wir immer genug Männer. (2) für Mathematik und Physik. //mhm// und dann habe=ich also beschlossen man man man=ging einfach so beim Rektor vorbei um die Maturazeit rum //mhm// und äh: hat sich äh:: auch sofort zu- es hat ihm interessiert. //mhm// dann habe=ich also (.) m- (.) äh (.) ich habe übrigens auch Griechisch gemacht, fakultativ, //mhm// und nachher noch die griechische Matura, (.) dazu, (1) äm also (.) äh (.) ein Ersatz- wie sagt man das ein Ergänzungsfach (.) als Ergänzungsfach im Herbst (1) nach der Matura habe ich das noch (1) bestanden. (1) und (1) dann wollte=ich (1) äh Deutsch die üblichen Fächer Deutsch Deutsch Französisch äh (.) Lateinisch machen, (1) und habe dann (.) dann habe=ich in S-Stadt studiert, im ver- (.) in im zwei- im dritten und vierten (.) nein im zweiten und dritten Semester und war in S-Stadt, (.) da=war ein Professor für Griechisch und Lateinisch. Nicht, beides. In S-Stadt war es so, (.) dass äh diese m: (.) äh d- d- äh Welschen (1) diese Altphilolo- das Altphilologische ist in (.) (äh Wäl-) hatte eins ein Franzose und eins ein Deutscher also //mhm// Deutschschweizer. ((atmet ein)) ja (.) und äm (.) der musste dann beides machen //ja// Lateinisch und Griechisch und dann habe=ich gesehen dass der (.) dass man nicht Lateinisch studieren kann wenn man (.) Griechisch, (.) wenn man nicht Griechisch macht gleichzeitig //mhm// und das wollte=ich nicht (.) weil das eine zu schmale Sache war und dann habe=ich umgesattelt auch Geschichte also Lateinisch fallen lassen, (.) und Geschichte vor allem (.) weil (.) ich immer ich war immer gut in Geschichte (.) hat mich immer fasziniert (1) und (1) der äm (.) Professor äm B, (1) in OStadt (.) seine Vorlesungen (1) haben=mich auch fasziniert. //mhm mhm// 345-358 (3) in diesen (1) in diesen jungen Jahren (.) ist man (.) also (jetzt) um das religiöse Thema wieder aufzunehmen, (2) äh wir hatten vor allem Religionsunterricht (.) bei Jesuiten, (1) in O-Stadt gibt es gab es ja eine jesuitische Gemeinschaft. (1) und (2) in der obersten Klasse vor der Matura, (1) hatten=wir ein ein ein=Jahr (.) nein zwei Jahre lang (.) einen sehr äm (.) einen sehr trockenen und dürren (1) fast Dogmatiker als (.) der uns Moral (.) und und äh Philosophie und und alles ich weiß nicht mehr was er uns alles beigebracht hat. (1) aber mir lag das, (1) irgendwie (.) also Dogmatik liegt mir //mhm// @das ist das äh@ das das Intel-
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lektuelle (.) das=ich habe (.) und (2) äh das ist auch (.) äm ein gutes Stück weiterbildend war ich (nat- dort) und dann bin ich natürlich C begegnet (1) der damals (1) ein (1) ein Säkularinstitut (.) mit Frauen gründete (.) in O-Stadt (1) und habe (1) viele seiner Vorträge gehört als das ist auch (.) eine=Art Bildungs(.) äh ein religiöses Bildungserlebnis //mhm// 358-368 (1) in S-Stadt (1) in meinem zweiten Semester, (.) kam ich nach S-Stadt um Französisch zu sprechen weil ich Französisch als Fach hatte //mhm// und kam da (.) in eine sehr elitäre (1) in ein=elitäres Mädchenpensionat, //mhm// das eine so genannte Finishing School, (1) eigentlich sehr interessant gewesen, (1) mit Mädchen, (.) das ist nach=dem Krieg natürlich //mhm// mit Mädchen aus äm (.) England (1) Frankreich (1) Belgien (2) äh (1) es hatte natürlich keine Deutschen (.) und keine Österreicher (.) es hatte noch zwei andere Schweizerinnen. //mhm// und (1) da durfte man nicht wissen dass ich aus Deutschland bin. //mhm// nach=dem Krieg. //mhm// (1) und gut (1) elle vient de O-Stadt (1) da habe ich Englisch und Französisch äh richtig gelernt und konnte auch Französisch (1) sprechen und habe dort an der Uni studiert (.) ein Jahr lang 368-380 (1) bin dann aber wieder nach O-Stadt habe dort einmal (.) eine Mittellehrerprüfung gemacht (.) das ist so=eine=Art Sekundarlehrer, //mhm// und dann bin=ich (.) habe=ich ein Jahr lang (.) war ich in Deutschland zum Studium, (.) in MStadt, (.) wieder hauptsächlich Geschichte (.) und Deutsch (1) Französisch habe=ich dann hängenlassen (1) und äm in T-Stadt. //mhm// war=ich auch ein Semester lang. //mhm// und äh (.) von dort habe=ich noch (.) einen guten Freund von (.) von damals. (2) also Beziehungen das sind (5) naja dann habe=ich eine eine eine Dissertation begonnen, und die Dissertation bestand dann darin bei B (2) äh dass ich äh (1) diese Hauptchronik des Konzils von O-Stadt (1) die zwar gedruckt ist aber nicht kommentiert, (.) habe lesen müssen. (1) und das sind zwei Mal tausend (1) Folioseiten //((schmunzelt))// auf Lateinisch. //mhm// und das habe=ich gemacht, 380-388 (1) und (1) habe (.) nachdem ich das Oberlehrer-Examen hatte (.) hatte=ich (1) auch (1) mh: dann (3) Stunden, (1) aber der Direktor des Mädchengymnasiums in=dem=ich vorher ja auch war (.) der hat gar nicht viel von mir gehalten. //mhm// ich habe- ( ) von Anfang an gewusst äm (2) der äm der will mir gar nicht anstellen. Dann gab er mir (.) //mhm// Französisch (.) auf der Unterstu-
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fe, (.) und das lag mir nicht. //mhm// mir wäre Geschichte mit Oberstufe (.) Geschichte und Deutsch mit Oberstufenschülerinnen (.) lag mir. //mhm// das war dann später auch so. //mhm// also ich habe diese Stelle nach drei Jahren verloren, 388-404 habe dann meine Dissertation aber fertig gemacht abgeschlossen, (1) und (.) dann (.) habe ich eine Stelle gebraucht, (.) und habe dann ( ) hat mir jemand empfohlen solle mich hier (.) im Kloster V anmelden die suchen eine Lehrerin für Deutsch und Geschichte. //mhm// und bin dann mit 30 hier: auf V-Dorf gekommen und habe vier Jahre lang am Seminar (.) Deutsch und Geschichte unterrichtet //mhm// und habe hier (.) guten=Erfolg gehabt. //mhm// natürlich Seminaristinnen (.) sind=äh (.) schulbrav (.) die sind schulfreundlich //((schmunzelt))// @(2)@ @das war etwas anderes als Gymnasiastinnen in O-Stadt@ //@(2)@ ((hustet)) // und (2) dann (1) nach diesen vier Jahren sagten sie ja jetzt hätten sie wieder eine Schwester für diese Stelle, dann habe ich sofort gekündigt und habe dann (1) nach einigem Suchen wieder eine Stelle erhalten am glei- an der gleichen Schule in O-Stadt, (1) bin m- (.) inzwischen war der Rektor (1) mein ehemaliger Geschichtslehrer der mich kannte, //mhm// der kam halt hier nach VDorf rauf und hat einen äh (.) Schulbesuch gemacht bei mir und fand also man könne mich anstellen, (.) und dann habe ich ein volles Pensum (1) bekommen (.) in O-Stadt (.) in vier Klassen in Deutsch und Geschichte. //mhm// und habe mir eine Wohnung (1) äh genommen, Thema 7: Leben im Kloster I (404-477) 404-418 (1) und dann aber (.) sind meine (.) meine Erinnerungen an (.) ans äm (.) Ordensleben und solche Sachen sind wieder (.) kamen wieder hoch. //mhm// so dass ich mich im Laufe dieses Jahres entschlossen habe ins Kloster V einzutreten. //mhm// (2) Vorbilder sind zum Teil (.) Geschichten von Heiligen, (1) //mhm// äh äh meine meine Patin hat mir einmal (1) ein Buch gegeben mit (.) mit vielen Heiligengeschichten die ( ) eigentlich nicht schlecht gemacht die ä waren ich habe also viele Geschichtlein gesehen viel gelernt und das hat mich immer interessiert //mhm mhm// und (.) dann bin ich mit äh (.) 34 (1) oder 35 35 bin ich hier eingetreten, habe=aber gesagt ich möchte das Schuljahr fertig machen in O-Stadt, //mhm// bin dann (1) mh war aber nur (.) zwölf Wochen lang Postulantin oder Kandidatin, //mhm// aber sie kannten mich ja und ich kannte sie auch, //mhm// und ich fand die vom Kloster V das sind so: (.) kurlige und verschiedenartige Leute, //((schmunzelt))// also hier (1) @hier
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lässt es sich leben@ //@(1)@// die sind nicht alle nach Schema F. //mhm// sondern sie sind sehr verschieden und //mhm// und es sind sehr starke Persönlichkeiten (.) hier lässt es sich leben. //mhm// 418-437 und (.) bin dann (1) habe Profess gemacht 19(1)65, und dann haben sie mich nach S-Stadt geschickt, (.) in S-Stadt (.) ist=äh (1) haben unsere Schwestern immer noch ein Mädchengymnasium geführt. //mhm// und ich bin dort auch äh Lehrerin für Deutsch und Geschichte (.) und dann sehr schnell Religion, (.) denn ich habe (1) in der Zeit während=ich im Kloster V unterrichtet habe (.) habe=ich einen Theologiekurs gemacht. //mhm// also es ist ja ein vierjähriger Kurs (1) und (.) ich habe die zweite Serie (1) mitgemacht //mhm// das hat mir jemand empfohlen (.) der die erste Serie mitgemacht hat //mhm// und fand das ist eine gute Sache man sollte //mhm// als Laie (1) gerade als Frau sollte man ein bisschen etwas Theologie machen, und Theologie hat mich immer interessiert //mhm// und (.) habe mh also mh (.) 59 bis 63 (.) dort in B-Stadt diesen Theologie- also in in mit mit äh Sommer- (.) mit (.) äh Intensivkursen in A-Stadt (1) das war auch interessant //mhm// ja dort hatten wir E und F und G und H also viele Leute die (.) die gute Leute waren //mhm// also //mhm// sehr gute Leute (1) und äh dort habe ich eine=Art Theologie(.) also (1) ein elementares Theologiestudium wenigstens gehabt, //mhm// und habe dann in S-Stadt auch (.) sehr schnell (.) Religions(.)unterricht gegeben. //mhm// das haben sie gebraucht, es begann langsam auch weniger Geistliche zu haben, bis bis jetzt gaben //mhm// die Geistlichen den Religionsunterricht 437-446 (1) und (3) was mir gefiel (1) war ä (.) die zweisprachige Situation in S-Stadt. //mhm// also Deutsch und Französisch, (.) und mir hat das Französischsprechen hat mir keine Mühe gemacht. //mhm// ich bin in O-Stadt hat man h- h- haben sie mal gesagt, also als=ich noch im Studium war (1) also alle müssen jetzt (.) in=einen äm einen Phonetikkurs (2) //mhm// bei Herrn so wie so //mhm// Französisch-Phonetik //mhm// weil man wollte (.) dass die Französischlehrer wirklich anständig französisch sprechen, (.) der hat mich in der ersten Stunde rausgeworfen //mhm// und sagte das haben Sie nicht nötig //mhm// also ist mir Französisch ist=mir irgendwie //mhm// ist=mir ging gut //mhm// 446-470 und (.) dann (2) ja das hat sich so (.) im Internat hatte ich keinen Erfolg. (.) da bin ich nicht ich ich habe ich habe zu wenig für Ordnung geschaut (1) //mhm// ich war das natürlich nicht gewohnt @(1)@ //mhm @(1)@// ich wurde nicht
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in=einem Internat groß, ich wurde auch nicht in=einer katholischen Schule groß, //mhm// also der (.) ich weiß in O-Stadt (.) der Pfarrer sagte gelegentlich zu meinen Eltern ihr solltet eure Kinder in eine katholisch- es gab eine katholische Privatschule. //mhm// und meine Eltern haben nur den Kopf geschüttelt. //mhm// (1) und äm (1) äh das Milieu (.) einer richtigen katholischen Schule (.) war mir völlig fremd //ja// also die Lehrerin die=ich damals hatte in Deutsch und Geschichte vier Jahre lang die sagte sie sei eine Heidin //mhm// also hat sie nicht einmal (.) also protestantisch war sowieso das Milieu //mhm// äh sie hat sich nicht einmal mehr als Christ //mhm// betrachtet. //mhm// also Heidin im Sinne Goethes //mhm// und //mhm// alle diese großen Leute //mhm// gut (.) 18. Jahrhundert eigentlich //@(2)@// und (1) auf alle Fälle nicht (.) nicht (.) ich bin nicht in=einem katholischen Milieu aufgewachsen. Was ich nicht gesagt habe was ich noch vergessen habe zu sagen (1) ich habe meinen Vater nie in eine Kirche gehen sehen //mhm// wenn ein //mhm// Familienfest war äm (1) Erstkommunion oder äh (.) eine Taufe oder äh (.) weiß=nicht Beerdigung dann stand er jeweils hinten drin und wartete bis es vorbei war. //mhm// also mh //mhm// (2) er konnte damit nichts anfangen. //mhm// (1) und die Mutter schaute einfach dass wir (1) regelmäßig zu Kirche gehen und so. //mhm// (3) also da kam ich in S-Stadt in das in das eigentlich katholische Milieu, aber auch wieder als ein bisschen ein Fremd- Fremdkörper, (.) weil (1) ich- die andere sind alle: (.) ganz katholisch aufgewachsen, 470-477 und (2) im Internat hatte=ich keinen Erfolg (.) dann haben sie mir das Internat weggenommen (.) dann war=ich froh. //mhm// und (.) äh (.) gab dann nur noch Schule, und habe sehr bald (.) habe dann bald auch einmal (.) äm (.) Allemande gegeben, (.) unterrichtet, (.) und habe (.) sogar an der französischen Abteilung Histoire, (1) und gelegentlich sogar manchmal noch im Notfall wenn sie niemanden hatten Religion. //mhm// unterrichtet. Also ich bin dort ziemlich zweisprachig habe dort //mhm// ziemlich zweisprachig gelebt. //mhm// (.) und das habe=ich genossen. //mhm// Thema 8: Leben im Kloster II (477-590) 477-506 (.) und dann (1) geschah folgender Skandal, (1) eine Schwester war Oberin in=einem unserer grösseren Häuser, (1) und sie haben sie nach drei Jahren wieder abgesetzt. //mhm// die hat sich (.) irgendwie nicht durchgesetzt, oder es=ging einfach nicht, //mhm// und dann kam sie: (.) nach S-Stadt, (1) in=unsere Schule,
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(1) in=unsere Gemeinschaft, (1) und man musste nicht was mit ihr machen, (1) an sich sie hatte auch vorher mal im Seminar unterrichtet, (.) an sich konnte sie unterrichten, an dieser Schule, (1) aber äm (2) d- d- das Schuljahr war schon verteilt, (.) //mhm// sie kam einfach in den Sommerferien. //mhm// und dann sagte man (.) ja (.) ja studieren sie halt einmal Theologie. //mhm// und dann habe=ich gesagt (.) wurde=ich wütend, stinkwütend, (.) und habe gesagt (1) aha (1) man muss in seinem (1) Job (.) versagen (.) //mhm// um Theologie studieren zu dürfen. //mhm// und (1) dann habe=ich ge- (.) mir gesagt jetzt wehre ich mich. //mhm// jetzt will=ich (.) jetzt habe=ich diese diese (.) diese Theologische Fakultät in S-Stadt vor der Nase, (.) //mhm// jetzt will ich Theologie studieren. Dann habe=ich zwei Jahre lang habe=ich äh (1) philosophische Vorlesungen (.) besucht, //mhm// denn das muss man immer machen, (1) in (.) //mhm// wenn=man katholisch ist, //mhm// und (.) dann (.) habe=ich äm (.) mich immatrikuliert, //mhm// ich habe: (.) Lateinisch und Griechisch hatte ich, (1) //mhm// also musste ich nur noch Hebräisch machen, //mhm// (.) und (.) äh habe dann gesagt (.) ob sie mir könnten also das Theologiestudium in S-Stadt (.) bis zum Lizenziat war (.) war=äh fünf Jahre (.) auf fünf Jahre angelegt, und ich=habe gesagt ob sie mir wegen meinen Vorkenntnissen (.) das erste Jahr schenken könnten. //mhm// ich=habe=dann gesehen dass=es das erste Jahr, äh (.) dass ich da schon einiges verpasst habe, //mhm// inzwischen hat sich da war das Konzil ja schon vorbei, ne, //mhm// inzwischen //mhm// (.) hat sich einiges (.) an theologischen (.) vor allem au (.) Bibel (1) theologische Vorstellungen geändert, //mhm mhm// und (.) äh (.) ich habe dann gemerkt dass ich da schon Lücken habe (.) äh also (.) im Unterschied zum Theologiekurs den=ich gemacht habe zwischen 59 und 63 //mhm// (1) und (.) aber ich habe dann (.) blieb dann dabei und habe meine vier Jahre Theologie gemacht 506-523 und dann haben sie gesagt (.) ha- (.) zuerst haben sie natürlich gesagt ja es reicht doch wenn du als Hörerin (.) gehst, und dann habe ich gesagt das reicht nicht (1) wenn (.) ich (.) nicht (.) wenn ich nicht (.) E-Examen mache //mhm// dann (.) schaffe ich auch nichts. //mhm// @(1)@ //mhm// (1) das ist so. drum hat der Mensch ist faul, also ich habe damals (.) ein Lizenziat gemacht, //mhm// noch vier Jahre (1) und habe (.) in dieser Zeit (.) habe ich (.) eine Klasse (.) am Anfang hatte ich noch eine Allmandklasse dazu, (.) bis zur ( ) Matura, (.) und dann hatte=ich eine Klasse in Deutsch und Geschichte, //mhm// und war Klassenlehrerin, bei denen, und nebendran habe ich das Theologiestudium gemacht //mhm// und im selben Sommer (1) oder um dieselbe Zeit (.) als=ich meine Lizexamen gemacht habe (1) in=äh (.) äh (.) Dogmatik (1) Alttestament (1) und=äh
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(.) Moral. //mhm// Dogmatik und Moral waren obligatorisch, //mhm// wobei ich (.) in Dogmatik äh (.) die Lizarbeit in Dogmatik gemacht habe (.) äh (.) habe ich äh (.) nachher noch frei wählen können frei wählen und das dritte Fache, da habe=ich das Alte Testament genommen, (1) und äm (1) in derselben Woche (.) habe die geprüft in Deutsch und Geschichte, (.) Maturaprüfung. //mhm// also es war ein bisschen ein Stress. //mhm// aber es ging immerhin 523-552 und dann gab ich vier Jahre lang, (.) äh (.) ganz gewöhnlich Schule auf beiden Abteilungen mit Allmand (.) und und Deutsch und Geschichte und Religion, (1) und (.) danach (.) wurde ich dann von der Erziehungsdirektorin (1 ) zur äh (.) zur Rektorin ernannt, //mhm// und war: zehn Jahre lang Rektorin, //mhm// und habe: (.) betrieben dass das Haus (.) in dem wir (.) unsere Schule drin hatten (.) äh verkauft wird, und dass die Erziehungsdirektion (.) ein Haus neues Haus bauen muss. //mhm// und habe das erreicht //mhm// zum (.) ich bin habe=mich da da bei unseren Leuten unbeliebt gemacht, (.) weil sie fanden äh (.) das eigene Haus ist eine (.) Sache und so, und ich fand gar nicht, man lebt nicht von Steinen, //mhm// und (.) die Erziehungsdirektion (.) wir hatten nie genügend Turnhallen, wir hatten (.) äh //mhm// die Schule ist gewachsen, (.) als als=ich nach S-Stadt kam anno (1) äh anno 65 waren’s ungefähr (.) äh dreihundertfünfzig Schülerinnen, (.) inzwischen war es eine gemischte Schule (.) Buben Mädchen (.) und es waren ein (.) über achthundert (.) //mhm// und wir haben (.) in der in der ganzen Umgebung mussten wir (.) //mhm// Pavillons haben //((hustet))// und und //ja// Zimmer mieten und //ja// so weiter und darum habe=ich also //ja// dem Erziehungsdirektor erklärt er müsse bauen. //mhm// und das hat er gar ni- das hat ihm nicht gepasst, aber (.) es geschah dann //mhm// @diese Schule steht@ //@(2)@// @(2)@ und (.) äm im im Moment (.) hat=äh als m- (.) als d- Neu- der Neubau bezogen werden konnte, (1) hat (.) haben sie in S-Stadt, (.) das Untergymnasium (.) aufgehoben. //mhm// und brauchten in der Sekundarschule (.) mehr (.) Platz, (.) durch das, (.) das sind in=den ersten drei Jahren, also nach sechs Jahren primarschule drei Jahre (.) //mhm// Sekundarschule (1) haben mehr Platz gebraucht für die S- gebraucht für die zwei Sekundarschulen die Welchen //mhm// zwei Se- welsche Sekundarschulen (1) und dann haben sie (1= unser Haus gekauft (1) für eine dritte (1) //mhm// welsche Sekundarschule. //mhm// °da war ich natürlich froh° @(2)@ //@(3)@// @das wir dieses Haus verkaufen konnten@ //ähä// ((atmet ein// und=ä (2) ja (.) und dann (.) war ich also zehn Jahre (.) hier (2) äh Rektorin,
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552-569 (1) und danach (.) äh n- n- anno: 89, (1) haben sie mich ins Kloster V versetzt, (1) und zwar (.) ist einfach wieder einmal (1) eine Amtszeit abgelaufen, und sie haben eine neue, (1) eine neue Provinzrätin gebraucht, //mhm// und haben (.) eine Umfrage gemacht, //mhm// und dann (.) gut dann bin ich also empfohlen worden, und habe musste weg von S-Stadt in den letzten vier Jahren bin=ich hatte ich eine eigene Wohnung (.) in S-Stadt, //mhm// ich habe darauf gepocht, (.) dass ich eine=eigene Wohnung hatte (.) weil die Schwestern, (.) nach=dem Verkauf, (.) dieses Hauses, (1) haben die haben neu gebaut (.) nebendran (.) aber sie wohnten noch in der alten Schule während die neue gerade begonnen hat und=da=fand=ich nein das mach=ich nicht mit. //mhm// ich lebe nicht (.) mit einem Kollegen (1) Di-Direktoren einer Sekundarschule und ich (.) nein das geht einfach nicht //mhm// ich brauche eine=eigene Wohnung //mhm// gut (.) hatte=ich also vier Jahre lang in S-Stadt eine=eigene Wohnung, //mhm// ich bin sehr ungern von S-Stadt weg, //mhm// von diesem: (.) auch universitären Milieu, //mhm// und (.) also einerseits äh es ist äh (.) e ein Milieu mit hohem Bildungsrang (.)(.) und durch die Universität und viele Angebote und Kultur, //mhm// und andererseits das Zweisprachige, //mhm// lag mir. (1) das Deutsch-Welsche. 569-590 (1) dann haben sie mich hier hoch versetzt, (.) und dann hat (.) im äh gleichen Jahr (.) in dem das also lief hat dann noch der Direktor des (.) Lehrerinnenseminars in V-Dorf gekündigt, (.) dann fanden sie ich könne ja das auch noch machen. //mhm// und dann war ich also zur Hälfte, (.) Seminardirektorin, (.) ich habe dann von S-Stadt (.) eine Kollegin mitgenommen die als Vizedirektorin (.) //mhm// und=äm (.) zur anderen Hälfte (1) äh (.) Provinzrätin. //mhm mhm// und (.) dann, (1) das habe=ich sechs Jahre lang gemacht, (4) dann wurden Knieoperationen fällig, (1) und (.) dann war auch noch ein Generalkapitel, (.) ich habe mich ziemlich engagiert in=äh (.) in den neuen Satzungen und solchen Sachen //mhm// ich habe also (bei uns) //mhm// ich war an vielen vielen Generalkapiteln habe gerade nach dem Konzil habe=ich mich sehr engagiert (.) für neue Satzungen. //mhm// und (.) dann=äh (.) ist (2) nach diesem Generalkapitel dann hat (.) äh hat (.) haben=sie mir haben sie erklärt ich müsse das Archiv übernehmen. (.) die Archivarin die man hatte //mhm// da //mhm// die sei jetzt langsam pensionsberechtigt //mhm// die war hoch in den 80ern und ich solle jetzt das Archiv übernehmen, (1) dann habe ich auch eine Ausbildung gemacht (.) e so=eine (1) ä (.) wie=sagt=man=dem (.) berufsbegleitend in Deutschland, (1) gibt’s einen Archivkurs (.) für (.) kirchliche (.) //mhm// Archivare die also (.) Ordensleute (.) den bes- besuchen (.) oder oder Leute die
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(.) in in Pfarreien oder eben //mhm// im Bistum arbeiten. //mhm// den habe=ich gemacht, (1) und auch da eine=Arbeit geschrieben (1) und (1) ja das mache ich jetzt seither, //mhm// Thema 9: Frau und Kirche (590-613) 590-592 (3) und s=in Sachen (.) in Sachen K- Frau und Kirche, (1) es hat mich (.) eigentlich äh (.) ich habe natürlich (.) immer gewusst wenn ich ein Mann wäre hätte ich Theologie gemacht. //mhm// von Anfang an. //mhm// 592-605 (1) aber äm (1) richtig gestört (.) massiv gestört hat es mich, (.) als (.) ich dort (.) in der=äh in F- in S-Stadt in einer Frauengemeinschaft (.) war, (.) mit vielen gebildeten, (.) Frauen, Gymnasiallehrerinnen, //mhm// und die Messe (.) list (.) ein jugendlicher Benediktiner. //mhm// (1) dann muss man da von auswärts reinkommen, //mhm// und (.) die waren alle auch damals schon als=ich noch jung war waren sie jünger als ich, die sind zum Studium für ein paar Jahre nach S-Stadt //mhm// und hatten auch eine Ausbildung als Lehrer für ihr- ihre Stiftschule, (.) ist klar, (.) äh ich hatte ni- nichts persönlich gegen //mhm// (.) im Allgemeinen im Allgemeinen nichts Persönliches gegen sie. //mhm// aber ich habe das als als (.) ganz massives Unrecht (.) empfunden. //mhm// dass: (.) wir abhängig sind wie wir als Frauen in der Kirche von Sakramenten (.) abhängig sind, (.) und ich habe mh mit der Zeit eben (.) angefangen das Sakrament als eine Form einer Machtausübung (1) anzusehen. //mhm// 605-613 (4) dann bin=ich äh (.) was man vielleicht auch noch erwähnen muss, ich bin (1) °für (.) wie lange° (3) mehrere Jahre (3) ich weiss nicht einmal genau wie lange (2) vielleicht sieben acht Jahre (1) in der bischöflichen Frauenkommission, //mhm// (.) und habe dort (1) da haben wir uns natürlich sofort (.) auf Frauenthemen gestürzt, (1) Diakonat (1) Diakonenweihung (.) für Frauen (.) und haben uns da damit auseinandergesetzt und da habe ich auch sehr viel geschrieben. //mhm// (4) und da bin ich auch theoretisch habe ich mich auseinandergesetzt mit diesen Frauenfragen und verschiedene feministische Sachen gelesen. //mhm// so //mhm// (2) voilà,
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1079-1100 ich habe ich habe zwei (.) Projekte (.) liegen (.) für für äh für Bücher. (.) //mhm// ich bin langsam (.) zu alt um solche Sachen zu machen, (.) aber das eine Buch will heissen, (.) Frauen Kirche Streik (.) //mhm// (4) aber (.) ich habe das auch einmal in=einer Diskussion, (.) äh aufgebracht (.) und äh also man sollte eigentlich als Frau äh, (.) sollte man einfach die Kirche bestreiken, (.) //mhm// einfach nicht mehr zur Kirche gehen, //mhm// einfach nicht mehr, //mhm// (1) und (1) ich bin sehr ermuntert worden, (.) anlässlich von (.) Exerzitien (.) äh Einzelexerzitien, //mhm// wobei ich habe mal (.) mir geschworen ich mache nur=noch bei=einer Frau Exerzitien, //mhm// (1) dann (.) ich lasse mich nicht mehr anpredigen von einem solchen Mannsbild, //mhm// und @von so einem hochmütigen@ @(2)@ //mhm @(1)@// und der hat mich sehr ermutigt (.) und hat gesagt gerade in=den (.) in=den Frauenklöstern (.) sei sei der Zorn der gross. //ja// (2) und das das bestätigt das was Sie jetzt gesagt haben, //mhm// also mh (.) ich habe (.) der Abt von W der (.) der J hat ja (1) mal äh (.) Kirche im Clinch (.) da hat er einmal das Thema Patriarchat, gemacht, in einem Jahr, (.) //mhm// ich weiss nicht mehr wann das war (.) und da (.) habe ich den Auftrag bekommen einen (.) Vortrag zu machen, (.) //mhm// und dann habe ich natürlich den Vortrag begonnen mit ja die Kirche ist ein Patriarchat //mhm// das ist ganz klar (.) //mhm// und habe diese Dinge aufgezählt, auch die ganze Frauenverachtung, die viele Kleriker an (.) an den Tag legen. (.) bei den jüngeren gibt sich das jetzt so langsam. //mhm// aber (.) die älteren Kleriker waren im Grunde Frauenverachter, 1108-1134 eben (.) man kann eigentlich nichts anderes tun (.) als Streik. //mhm// (2) und wenn ich (.) wenn ich (.) Gottesdienste in denen ein Mann vorne steht (.) bestreike, //mhm// dann (1) das habe ich mir auch schon überlegt, (1) und habe es auch zeitenweise schon getan, //mhm// irgendwie (.) bin ich dann nicht konsequent (.) wie jetzt gehöre ich zu dieser Gemeinschaft und in dieser Gemeinschaft ist das üblich, (.) dass da ein Mann vorne steht. //mhm das meine ich (.) ja (.) genau// ja //mhm (.) dass es schwierig ist// das ist //mhm// das ist völlig falsch und daneben, (1) und, (1) aber das kann=man hier nicht sagen, //mhm// also ich ich weiss noch ich habe einmal (.) //mhm// ich habe (.) mal lau- lau- deutlicher über solche Themen gesprochen in der Gemeinschaft //mhm// und dann hat (mich) Schwester (.) gerade Schwester K, die Sie offenbar kennen, //mhm// die Generaloberin war (.) //mhm// und jetzt Pro- also und vorher Provinzoberin //mhm// die hat gesagt Sie: (.) i- ich soll aufhören, (.) sie wolle keine Polarisierung, //mhm// also ich war mit ihr im Noviziat, //mhm// ich war ihre Kollegin in S-Stadt, //mhm// also (.) wir kennen uns gut, //mhm// also (.) so gut man sich so als Kollegen
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kennen kann. //mhm// und (.) sie will einfach keine Polarisierung, //mhm// gut ja //mhm// (3) was ich vielleicht schreibe ich das Buch Frauen Kirche Streik doch, //mhm// wo alles das drinsteht, was=ich da (.) zusammengesucht habe, //mhm// in auch in der Frauenkommission, //mhm// und das das andere Buch (.) heisst äh (.) M. ((Ordensgründerin)) eine Frau (2) gegen den Klerus //mhm// (4) und dann hat sie sich überworfen (1) mit L ((Ordensgründer)) //genau// sie hat sich überworfen, (1) mit dem Pfarrer von V-Dorf, //genau// und mit Abt D, //genau// hat sie sich überworfen, //mhm// und äm (.) nur weil sie eine starke Persönlichkeit war, //mhm mhm// (2) //mhm// 1222-1251 aber also diese Unzufriedenheit (.) von der (.) Frau in der Kirche (1) ich habe sie jetzt einfach für mich (.) zur Seite gelegt. //mhm// ich habe nicht im Sinn (.) mich ständig (.) zu ärgern und zu hintersinnen //ja das ja// also (.) wenn ich vielleicht vierzig Jahre alt wäre (.) dann wäre das etwas anderes, //mhm// aber in meinem Alter (.) was bringt das, ich kanns nicht ändern, (1) also m- (.) mache ich die (.) das so am Rand. //mhm// einigermassen mit. //mhm// aber (.) äh ich //mhm// ich finds falsch, //mhm// (.) ich finds falsch, also ich ich äh (.) ich finde auch uns- unsere(.) diese Inder die wir jetzt immer haben //mhm// also am am Anfang als die kamen hiess es noch ja der arme der kann ja nicht gut predigen (.) predige du mal //mhm// gut dann habe ich gepredigt, ich hatte meistens Erfolg mit meinen Predigten damals //mhm// am am Sonntag, //mhm// aber äh (.) jetzt die holen einfach äm eine Predigt aus=dem Internet raus uns lesen das vor mit mehr oder weniger schlechtem Deutsch, und @das macht@ @(3)@ @das ist ein Mann@ @(3)@ ja so ist=es //ja// so ist=es //mhm// und noch schlimmer sind die Afrikaner, //mhm// die reden noh schlechter Deutsch (.) als die Inder. //mhm// die versteht man fast nicht //mhm// (3) aber es sind Priester, ich weiss=es ich weiss es nicht also, //mhm// ich habe auf=eine=Art habe ich (.) äh ich habe nicht meine Meinung geändert, (.) aber äh //mhm// als äh in in Sachen aktiv (.) habe ich (.) habe ich (.) resigniert. Also jetzt gerade bin ich daran (.) ein Büchlein zu schreiben über alle unsere Provinzen. (.) also die Gesamtgeschichte der Kongregation, //mhm// das (.) übersetzt werden kann in alle Sprachen, //mhm// also so dass äh //mhm// die Leute in Afrika wissen wie man in Indien lebt, //mhm// und und dass de- dass=es da //mhm// ein gemeinsames //mhm// Bewusstsein gibt //mhm// also ist (.) ich denke dass Geschichte immer ein Stück der Identität ist. //mhm// so //schön// daran bin ich jetzt //ja// und das gibt mir viel Arbeit, //ja// und wenn ich dann noch Zeit habe (.) dann kommt äh (.) M. eine Frau gegen den Klerus, //mhm// und dann kommt noch Frauen Kirche Streik //genau// und das wird wahrscheinlich dann mit ziemlich viel (.) Ironie durchsetzt. //ähä// aber das vers- Ironie verstehen die braven Leute nicht.
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Schwester Heidi: Geschlecht als riskante Erfahrung Thema 1: Erzählaufforderung (1-19) 1-12 Hoffe dass es läuft und es läuft jawohl. ((schnauft)) a:lso (.) Sr. Heidi ich möchte Sie jetzt bitten Ihre Lebensgeschichte mir zu erzählen und zwar von Anfang an bis jetzt. Ehm so wie eigentlich (.) ehm ja wie alles angefangen hat ehm wie sich eins nach dem anderen ergeben hat bis zum jetzigen Zeitpunkt; (1) und wie ich Ihnen schon gesagt habe können Sie sich so viel Zeit nehmen wie Sie sich wollen (.) //mhm// für diese Geschichte und ich möchte einfach nochmals sagen ich werde nur zuhören (.) werde Sie nicht unterbrechen und werde aber ein paar Notizen machen und (.) äh im Nachfrageteil dann einfach noch gewisse Dinge nachfragen. //gut// gut. 13-19 brauchen Sie keinen Test ob es wirklich (gut) funktioniert // ich habe zuhause getestet // achso // ich hoffe es geht und es läuft. //gut //@(2)@// Thema 2: Herkunftsmilieu (20-76) 20 ja also am besten beginnt man wahrscheinlich bei meiner Geburt //mhm// 20-22 (2) ich bin die älteste von fünf Kindern. (.) kam 1954 in X-Dorf zur Welt und meine Eltern sind äh MB und FH; 22-30 (2) das waren (.) einfache Leute; der Vater war Hotelserviceangestellter; (.) er musste eigentlich die Saisons immer auswärts arbeiten; weil zuhause (.) keine Arbeit war für so viele Kinder Bergleute //mhm// er stammt aus=einer Familie die elf Kinder hatte. //mhm// die Mutter selber war Hausfrau; (.) und es war so dass die Frauen aus X-Dorf mehrheitlich oder viele mussten die Kinder fast alleine erziehen weil die Männer immer auswärts waren. (1) also bin ich eigentlich von einem in=einem frauengeprägten Haushalt aufgewachsen sagen=wir das (einmal so schon) so
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30-36 (.) äh (.) wenn ich mich zurückerinnere hatte ich (.) eine (.) gute Kind- und fröhliche (.) glückliche Kindheit. (2) man hat zwar als vor allem als älteste immer die Mitverantwortung getragen für die jüngeren Geschwister; die kamen dann eins nach dem anderen meine Schwester war drei Jahre jünger; ist dann geboren und dann ein Bruder, (hm) ein Jahr später und dann noch (.) die jüngeren beiden Geschwister die waren dann acht und neun Jahre jünger als ich; //mhm// 36-41 (3) äh (.) wir haben in=einem kleinen Haus gewohnt neben der Kirche; das ist auch so typisch, (.) also im Schatten der Pfarrkirche aufgewachsen (.) rechts und links ist das Haus wie die im Dorf drin eins von den ältesten Häusern von der Substanz her von der Bausubstanz her rund um gab es andere Häuser also=wir sind mitten im Dorf auf- aufgewachsen im Zentrum eigentlich. //mhm// 41-57 (2) es (1) in X-Dorf (.) war es (1) wie=s so in den Bergen ist @schön was=ich sage /( ) mir hat@ das gefallen also wir sind wir konnten spielen wir haben (.) uns hat eigentlich obwohl der Vater nicht viel Geld verdient hat (.) hat es uns eigentlich an nichts gemangelt; also wir haben nicht gemerkt dass wir knapp durchkommen könnten (.) obwohl ich schon hier und da (.) äh gemerkt habe die Mutter hat dann immer gewartet bis das Trinkgeld vom Vater heimkam aus aus den Hotels ne, die haben Trinkgeld verdient also //mhm// eigentlich dem Hauptharst so verdient //mhm// also so einen kleinen Grundlohn gehabt //mhm// dann musste er die Wäsche heimschicken zum Waschen und immer in=einem Strumpf drin waren die Münzen drin Fünffränkler, Zweifränkler @Fünfziger@ und so weiter //mhm// und wenn das jeden Monat einmal kam war dann halt doch hier und da so dass das Geld langsam knapp kam; dann //mhm// hat die Mutter mir gesagt sie wäre wieder froh wenn der Vater wieder einmal die Wäsche heim@schicken@ würde dass wieder einige Münzen ins Haus kommen; aber das war eigentlich das einzige da ich gedacht habe manchmal ist es manchmal ein bisschen knapp aber //mhm// sonst hat man das nicht gemerkt. //mhm// 58-70 (1) mein Hintergrund (.) äh religiöser Hintergrund (.) ist (1) halt (2) äh äh stark (.) will=ich sagen wir hatten in der Verwandtschaft einen Haufen Verwandte (.) die (.) schon Ordenspersonen waren; also auf der Mutterseite war eine (.) von mir aus gesehen Tante ( ) bei den (.) bei den (.) B-Schwestern
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//mhm// und beim Vater eine Schwester auch bei den B-Schwestern. //mhm// (.) und so ist auch ganz::: Ordensleben war für uns ein Faktum das es einfach gibt //mhm// das war nicht ausserordentlich //mhm// und auch in dem ganzen X-Dorf hatten wi- äh haben in meinem Alter waren wir einen ganzen Schuppen der ins Kloster ging sieben acht //mhm// ein ein ein ein diesen Fünfzigern ( ) dort oben da und vorher gab es auch schon einen Haufen Priester und Klosterfrauen also von daher war das::: religiöse Umfeld katholisch geprägt (.) Ordens::leben oder das Priester werden ist eine Normalität. //mhm// also nicht so ausserordentlich (2) nur dass dass man=s noch weiss warum man vielleicht ins Kloster fällt //mhm// 70-76 hm und dann (.) übrigens sind eine von meinen Schwestern ist auch im Kloster //mhm// denn die ist jetzt Generaloberin im Kloster C //mhm// der dritte Bruder ist dann auch noch ins Kloster (.) //@(.)@// der war in bei den A-Brüdern ist dann aber in der Zwischenzeit bereits gestorben. //mhm// und die jüngsten beiden Geschwister die haben dann doch ( ) ein normales Leben, für die sind beide verheiratet, und haben äh Kinder. ((räuspert sich)) Thema 3: Schulzeit (76-131) 76-90 (4) jetzt sollte ich wohl wieder zurück auf @meine@ Kindheit also ich ging gerne zur Schule, also in den (.) bevor wir zur Schule gingen gab es meiner Zeit bereits Kindergärten. //mhm// jetzt beginne ich wirklich von vorn; Kindergärten und ich habe in dem X-Dorf in drei verschiedenen Häusern Kindergärten besucht; war auch interessant //mhm// es hat immer (1) war der Kindergarten in=einem Gebäude und dann musste man das Gebäude wieder abreissen oder umdisplatzieren dann kam man in=ein anderes Haus dann hab=ich mal schon in drei verschiedenen Häusern äh den Kindergarten besucht zwei Jahre (.) bei Klosterfrauen natürlich das hat haben C @Schwestern@ dort Kinderschule gegeben bei zwei verschiedenen; das ist so ein breites Ausbildungsangebot @gehabt@ in meiner Jugend //@(.)@// und danach ist das hat mir aber gefallen ich habe in den Kinderschule was ich gerne gemacht habe dort kann ich mich erinnern am liebsten habe ich gezeichnet. Ich habe ganze Stapel gezeichnet und gezeichnet und gezeichnet, (2) und sonst ging=ich gerne zur Kinderschule;
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90-116 und danach als wir zur Schule gingen ging=ich in zwei verschiedenen Schulhäusern zur Schule //@(.)@// weil man gerade das Schulhaus neu gemacht hat in den paar Jahren in denen wir zur Schule gingen die Sek //mhm// habe ich auch besucht; //mhm// ging auch gerne zur Schule (.) weil mir hat das interessiert (.) lernen und es ist mir auch leicht gefallen //mhm// und gute Noten gehabt ausser dass ich mit den Sprachen ein bisschen Mühe hatte ich glaube ich bin eine Legasthenikerin. Im Nachhinein hat man mir das gesagt du ich glaube //@(.)@// du bist eine //@(.)@// gut und ich glaube das jetzt @gern@ //@(2)@// @(2)@ //gemeinsames Lachen)) @ich glaube das jetzt gern@ (1) weil ich einfach hier und da Mühe habe (1) mit den Buchstaben; ich kann die Wörter völlig anders sagen als was sie da stehen //mhm// aber für mich ist es klar was es heisst aber nur die die zuhört verstehts manchmal nicht ganz; //mhm// @ja gut@ //@(1)@// oder ein B und ein D kann ich dort habe ich in der ersten Klasse das weiss ich ganz genau. (1) habe ich das immer total verwechselt, es war mir auch nicht logisch wenn Sie jetzt gerade schon ähäh:::: Primarlehrerin sind //mhm// nur früher ein B mit einem Bett dargestellt hat in der ersten Klasse //mhm// also so da war das Kissen und da das Deckenbett //mhm// (.) und das soll ein B sein? Dann dachte ich immer das kommt doch darauf an wie man das Bett aufstellt; //@(.)@// also das B liegt ja, also könnte man es ja so aufstellen dann ist es glaub=ich ein D //@(2)@// und wenn=wir es so aufstellen dann ist es ein B also das mir das Bild hat mir gar nichts genützt um mir //@(1)@// diese Buchstaben zu merken. //@(1)@// (1) gut. Aber ich habe das gut gemeistert (.) das hat man dann glaube=ich damals hat das niemand festgestellt. Oder auch niemand etwas draus gemacht auf jeden Fall (.) hatte ich Freude an der Sprache ich habe gerne Aufsätze geschrieben und konnte ich auch gut; in der deutschen Sprache 116-131 später als dann Französisch kam das war dann schwieriger um die Wörter auswendig zu lernen; (.) Rechnen konnte ich auch und Zeichnen habe ich gerne gemacht (.) und Turnen und Skifahren das war zum Glück weniger das mussten wir als Schulkinder auch //mhm// und im Winter hauptsächlich immer Skifahren gehen auf diese Berge auf denen gabs da noch keine Skilifte; //mhm// °wir haben die Felle angeschnallt und° die Berge=hoch gelaufen (.) furchtbar (…) oben runtergefahren im Tiefschnee und dann war ich immer bei den langsamsten aber ich muss sagen ich war auch immer ein bisschen fester, gross zwar aber ein bisschen fest, (.) u:nd mir hat das Mühe gemacht. Wenn der Sommer kam dann habe ich immer gehofft dass es regnet, weil man dann mussten wir zu Berge, //@mhm@//
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das ist auch diese diese diese Schulausflüge mit denen schweren Rucksäcken und vom Morgen um sieben bis am Abend um sieben bergauf und bergab, das habe=ich nicht gern gemacht; es hat mir auch Mühe gemacht und so gut dass also die die sportliche Tätigkeit in der Schule hatt=ich weniger gerne alle anderen hab=ich eigentlich gemocht und dann die Schule leicht bestanden, Thema 4: Herkunftsfamilie (131-184) 131-142 (.) zuhause (.) hatten wir halt (.) gelebt ja? Frauenhaushalt, mit Brüdern zusammen und der Vater kam eigentlich immer nur in der Zwischensaison nach Hause; //mhm// das war für aber für mich immer ein wahnsinniges Fest //mhm// muss ich sagen das aso das habe=ich später nie mehr erlebt dass man sich so freuen kann dass jemand heimkommt. //mhm// das ist auch ein ganz ein (1) im Nachhinein für mich ganz ein ri- ä:::h reiche Erfahrung ich sass hier in der Schule habe zum Fenster rausgeschaut und dann °oh da kommt ja der Vater heim und dann hat° das Herz gleich begonnen zu flattern vor Freude //mhm// später hat man das vielleicht @nur noch erlebt wenn man verliebt gewesen wäre@ aber das ist das war wunderbar wenn der Vater heimkam; für mich als älteste wie es die jüngeren hatten weiss ich jetzt nicht so genau; //mhm// 142-157 und dann brachte er auch immer Dinge nach Hause aus diesen Hotels (.) er hat im Hotel O in Z-Dorf das war ja das beste Hotel dort oder im Hotel F in Y-Dorf gearbeitet also in renovierten Betrieben, nicht, wo dann die besseren Leute kamen (.) und dann haben die Dinge heimgebracht Fix-und-Foxi-Heftchen //@(.)@// und zwar @sicher nicht so gut gewesen sind für die Bildung die man@ //@(.)@// @aber uns hat das doch interessiert@ //@(.)@// und Mickey Mouse und all das:: die die Comicheftchen und (.) und sogar Globiheftchen hatten wir mal (…) aber die hat die Mutter organisiert; und die und das das::: dort haben=wir uns auch einen @Teil von der Bildung geholt@ //mhm// ja ja und äh der Vater heimkam da hat er:: an Neujahr (.) oder ( ) hat er sie auch nach Hause geschickt (1) die (.) aufblasbaren Ballone, ähh von denen äh::: Silvesterfesten, und und und Zuckermandeln und und alles solche Sachen was ab und zu zurückblieb und von dem man dachte die Kinder haben Freude haben haben wir dann einfach bekommen und das hat mir gefallen; (.) //mhm// und wenn der Vater zuhause war dann (.) kam ein neues Element in die Familie; ja der Vater war wieder da und nicht nur der Grossvater;
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157-163 also in gewissen Teilen meiner Jugend habe=ich auch noch mit meinem Grossvater zusammengelebt //mhm// und den Grosseltern die dort im gleichen haus //mhm// gewohnt haben aber die sind dann doch relativ (1) re- ((tief einatmen)) früh gestorben also als ich drei vier oder so war //mhm// aber ich habe trotzdem Erinnerungen und äh Grossvater auch und Grossmutter (.) besonders Grossbater war bei uns ein (.) tief gläubiger Mann. //mhm// 163-170 (1) ich switsche jetzt halt ein bisschen herum //mhm das macht nüt// also immer noch so (…) sonst hätte ich eine Liste machen müssen //ja ja nei das macht // der Reihe nacht //nein nein das macht gar nichts// 171-184 aber der Grossvater zum Beispiel (.) der hat (.) es ist auch eine Erinnerung von mir, wenn ich auch manchmal nachdenke wieso bist du ins Kloster gegangen //mhm// oder was hat uns geprägt //mhm// der der hat wenn die Rosenkranz- äh wenn=s den Engel des Herrn läutete um elf oder zwölf am Mittag //mhm// das tuts ja ähm überall eigentlich (.) dann ist er alte Mann (.) wo er stand oder wo er war auch wenn das am Hühnerstall drin war und er sich dort hingekniet und hat den Engel des Herrn gebetet (2) und wir K- Kinder standen dann noch ziemlich fassungslos daneben; dass da jemand so (1) so fromm ist //mhm// oder und dann noch ein Mann //mhm// also das hat Eindruck gemacht. //mhm// auf jeden Fall aber sonst äh (.) war das ein (.) lieber Mann also ich (.) bin (.) von irgend (.) welchen Belästigungen (.) irgendwelcher Art (.) habe ich keine (1) keine Erlebnisse oder keine Erinnerungen und nichts //mhm// von zuhause als wir sind da in einer Familie aufgewachsen die (.) ich meine (1) di::: die Familienverhältnisse stimmten //mhm// Thema 5: Ferienarbeit während der Schulzeit (184-313) 184-186 (3) wo sind wir wo soll ich jetzt weiterfahren; (1) äh Schule //mhm// @(1)@ gut wieder zurück (.) in der Schule 186-188 (1) die Sek hat man auch gemacht das war auch keine Sache; (.) und danach hat sich dann die Frage gestellt bei mir äh ja noch etwas was meiner zu meiner Jugendschulzeit auch gehört
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188-194 also wir hatten ja (.) in in diesen Bergdörfern vier Monate Schulferien //mhm// über Sommer das ist ganz eine //mhm// lange Zeit warum hatte man das? Damit die die jungen Leute auf die Alp konnten //mhm// oder zuhause helfen äh heuen? //mhm// und wir waren keine Bauern (.) mh der Grossvater noch das hat das war nicht mehr relevant, (2) was hätte die Mutter mit uns allen sollen, (.) so irgendwo müssen //@(.)@// als Magd gehen oder irgendso //mhm// 194-201 und dann weiss ich dass ich äh äh mit elf und zwölf bereits als Magd nach YDorf hinkam; man hat dann das durch ein Inserat irgendwo gefunden in=der Zeitung dass die so (.) solche Bergmädchen suchen immer über den Sommer und dort war ich zwei Sommer lang //mhm// bei einem Bauern in Y-Dorf (.) und das war jetzt doch eine von meinen ersten eher bitteren (.) Erfahrungen //mhm mhm // äh (.) und zwar nicht weil ich fort musste; //mhm// sondern weil ich so miserable Ver- Familienverhältnisse in dieser Familie angetroffen habe //mhm// 201-204 °also das müsste man dann noch° (1) //mhm// neutralisieren //mhm// also dass man nicht weiss wer es ist. //ja auf jeden Fall// 205-227 das war für dort für mich als junges Kind furchtbar wie der Bauer mit mit seiner Frau und seinen Kindern umgegangen ist; //mhm// geschrien und herumgetobt und den ältesten Sohn abgeschlagen //((tief einatmen))// und ich dachte Gott das ist ja furchtbar das gibt (.) wa- was ist da los also ich ich ha- habe plötzlich ein anderes Familienverhältnis live miterlebt; //mhm// das mir fremd war und das hat mich (.) das hat dann wirklich Heimweh gemacht und //mhm// ich ich selber bin zwar nicht involviert worden ich bin nicht zusammengeschlagen worden aber nur zeitweise da von dem da hat es dann noch der Grossvater das erzähle ich auch das ist das einzige Erlebnis das ich habe (.) äh Grossvater der mir zu nah geworden gekommen ist; //mhm// weil als dann die anderen (.) auf dem Feld waren am arbeiten hat dann der Grossvater gedacht so jetzt mache ich mich an das junge Mädchen ran, (.) da habe ich mich aber dann als ich gemerkt habe der macht da an mir rum, was macht der da, habe ich das (.) dem Bauern gesagt, //mhm// erstaunlicherweise //mhm// nicht da war ich dann unverfroren habe gesagt s::ie der der kommt mir zu nahe, der macht an mir rum //mhm// und dann hat der Bauer das bei seinem Vater abgestellt //mhm// er hat dann natürlich ich weiss nicht (.) //mhm// mit ihm geredet also danach hats aufgehört //mhm// bin
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ich nicht mehr belästigt worden (.) aber da habe ich gedacht aha nein das denke ich jetzt im Nachhinein //mhm// also jedes Kind macht wahrscheinlich mal irgendso eine Erfahrung dass (.) dass es (diese Seite ) dass es belästigt werden könnte von //mhm// von älteren Leuten, //mhm// je nachdem wie man sich das bei mir ist das gut abgelaufen, //mhm// 227-235 ((räuspert sich)) aber wie gesagt ich habe dort zwar viel gelernt als Kind; gelernt wie man (.) Reben anschafft das war etwas Neues das war interessant //mhm// obwohl ich nicht gerne aufs Feld ging die Sonne hat mir zugesetzt //mhm// es hat mir Kopfschmerzen gemacht und verbrannte Arme und so mir war es nicht wohl //mhm// ich war eben lieber im Haus //mhm// dann haben sie mich halt danach einfach den ganzen Haushalt @machen lassen ne@ //@(.)@// von morgens um sechs bis abends um acht hat man gearbeitet zwischendrin kaum einmal frei gehabt //mhm// 235-251 (.) aber nach dem ersten Sommer habe ich gehofft oh °hoffentlich sagt Mama nicht nochmals ich müsse gehen° es ist einfach es ist einfach das Drum und Dran das mir nicht gefällt; die Familienverhältnisse; //mhm// da hat sie mich doch ich- aber da hatte ich nicht den Mut der Mutter zu sagen ich wolle nicht mehr gehen //mhm// dann ging ich halt nochmals einen zweiten Sommer //mhm// (1) oder geschickt worden oder abgemacht gekommen (2) gut man hat den zweiten Sommer auch noch durchgestanden (1) ich habe einen Haufen Lebenserfahrung gemacht, aber ich hatte verrückt Heimweh dort //mhm// also dann b::in ich wenn die Leute aufs Feld sind mit dem Traktor, ne, oben runtergefahren und ich zurückgeblieben bin äh und Berg abgewaschen Mittageseen also @wirklich von@ sieben Personen (.) dann stand ich immer unter die Haustüre die da das war am Berg oben habe da ins:::: Tal runtergeschaut und habe begonnen zu weinen aber ich habe immer gewartet bis die anderen weg sind @(1)@ man konnte dann richtig laut rausweinen und dann mein Gott wie ist das furchtbar und ich will jetzt nach Hause und fertig und Schluss mit Heimweh //mhm// und wenn sie wiederkamen habe ich nicht mehr geweint //@(.)@// also das @(1)@ //@(1)@// was solls aber das war eine intensive Erfahrung; //mhm// 251-258 ((räuspert sich)) und dann war ich auch noch an anderen Orten auch aan=einem in einem Sommer war ich mit einer Kollegin zusammen in I-Dorf bei einer Kantonspolizistenfamilie //mhm// die hatten auch Kinder da hätte ich auch
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die Kinder hüten sollen (.) da hatte der Vater Mann einen scharfen Hund so einen Polizeihund (.) und die Frau war mir ((tiefes ohhh)) nicht so eine sympathische der hat auch mit der Frau geschimpft also es war auch nicht so oho //mhm// komisch das habe ich nicht ertragen als Kind wenn die Männer mit den Frauen sich so anstellen (.) was solls (.) da hat man war ich aber nur einen einen einen Sommer 259-297 und danach kam die schöne Zeit @(.)@ von von Magdzeit dann je:::tzt //mhm// kommt wieder so ein Faden zu meinem späteren Ordensleben (.) nachher war ich in Z-Dorf; zwei Sommer im Hotel P (.) das Hotel P wurde von unseren Schwestern geführt worden; //mhm// von den A-Schwestern (1) das war also ein: Hotel das immer viele Gäste hatte und die hatten im Sommer generell (.) Kinder zum Helfen über Sommer sei das in der Küche oder im Speisesaal oder wo auch immer //mhm// auf der Etage und dort war ich mit meiner Cousine damals zusammen waren wir dort und später war dann auch noch eine Schwester von mir und der Bruder also wir waren immer ganz ein paar Kinder (.) die in dem Hotel P in ZDorf eine Sommersaison machen konnten (.) das war::: waar interessant; (.) also erstens die vielen Kontakte mit den vielen Gästen //mhm// (1) und jedes Jahr (.) ich war dann noch ein paar mal im Hotel P das sehen Sie dann noch äh::: Gäste aus allen Himmelsrichtungen und weil Hotellerie in unserer Familie ein bisschen war vom Vater her //mhm// war das natürlich irgendwie vertraut, ne, ein bisschen im Blut also ich habe dort äh von Anfang an (.) als als als vierzehn- oder fünfzehnjährige oder wie alt wir damals waren habe ich die Hotellerie gekannt (…) wir haben dann sind dann eingesetzt worden auf der Etage mit der Schwester L zusammen und die Schwester L war dann eine ganz genaue //@(.)@// hat man die Zimmer machen müssen, ne, so und so viel also von Anfang an wie=man das richtig macht wie=man äh das Kistchen macht auf dem Bett da gab es also ganz ein bestimmtes System, kaum war das dann fertig wurde man im Speisesaal eingesetzt mit einer anderen Schwester (.) Chefin //mhm// dort haben wir dann gelernt wie man richtig serviert //mhm// korrekt ( ) im Service //mhm// von der Suppe bis zum Dessert und so weiter von welcher Seite und das hat man alles gelernt; //mhm// das war gut; //mhm// oder dann ist man danach hinten äh Office eingesetzt worden musste abwaschen //mhm// ganze Haufen für 250 Personen glaube dort waren wir mit einer alten Frau zusammen, und ein Teil war in der Küche //mhm// oder man hat dann ein bisschen abgewechselt je nachdem ((holt Luft)) und dann ist ((schnauft aus)) hat man eben Trinkgeld bekommen das war auch schön //@(1)@// @(1) hier und da zwischendrin@ oder wenn wir Zimmerstunde hatten dann waren so ein paar dieser Kinder zusammen, nicht, wir konnten
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Z-Dorf anschauen gehen oder man ging schwimmen oder so es war es war (1) m::: ganz ein interessanter Sommer also man hat viel gelernt man hat etwas verdient obwohl wir jetzt fanden also jetzt im zweiten Sommer dürften=wir dann schon z-mehr verdienen als im ersten Sommer @(.)@ //@(.)@// und diese Schwester Oberin hat uns gleich viel gegeben wie im ersten Sommer und hatten dann das Gefühl es dürfte schon ein bisschen mehr sein @(.)@ aber das war auch egal ne //mhm// 297-313 (1) dort hatt=ich eigentlich die ersten Kontakte mit den (1) A-Schwestern //mhm// obwohl wir als Kinder hat uns das nicht sehr imponiert wie die Schwestern sind; //mhm// man hat dann bald gemerkt dass die auch sehr menschlich sind //mhm// das hat man sogar sehr intensiv gemerkt; (.) und dann habe ich gedacht das imponiert mir da also auch nicht gerade besonders @also die sind ja gar nicht viel besser als die anderen und so also man hat keine also absolut keine Illusion gehabt@ //@(4)@// dass etwa die Klosterfrauen ein besseres Leben führen könnten als die and- die waren erstens alle sehr ein bisschen streng und dann waren=s untereinander ein sehr bisschen giftig und danach hab=ich immer gesagt ich jetzt kommt dann die Schwester Oberin wenn etwas ist und wie nicht recht kommt immer mit der Schwester Oberin argumentiert haben ja die Schwester Oberin weiss das ja gar nicht aber sie geht’s ihr sicher erzählen und so weiter also wir waren dort einfach so ein gewisser klösterlicher Drill das hat man auch müssen also so junge Dinger und und (…) ja aso ((pf)) aso dorthin werden (…) ich müsste jetzt das::::: selbe machen also ehrlich //mhm// nein (1) aber doch hats mir dann den Ärmel doch wieder reingenommen Thema 6: Berufswahl und Berufsbildung (313-426) 313-325 und nach dem Aufenthalt (.) kam man dann auch langsam auf zur Schule raus, aso nach der Schule das waren jetzt nur s:::o Zwischenschulzeiten //mhm// dann ist dann mal die Frage aufgetaucht was will man lernen //mhm// das hat das hat man gemacht mit der Schulberatung zusammen; (.) ja:: die kam dann drauf was könnte ich machen technische Zeichnerin vielleicht mit ihr da diese Übungen gemacht und diese Tests (.) oder vielleicht etwas Kaufmännisches (.) oh ja (.) dann dachte ich für Kaufmännisch das wäre eine bessere Grund(.)voraussetzung für später habe das KV gemacht //mhm// (1) aber in unserer Zeit haben sich nicht die Eltern um das gekümmert. //mhm// sondern das hat man einfach selber abgemacht //mhm// mit der ((schnaufen)) Berufsberaterin und danach hat die
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einem vielleicht Stellen gezeigt bei denen man sich könnte sich bewerben //mhm// und hat sich dort beworben, 325-346 und ich bin dann bei dieser Versicherung in U-Stadt habe ich mich um eine Stelle beworben und also Lehrstelle //mhm// habe die bekommen (.) und dann kam dann diese Phase in der man einfach musste (.) nur übers Wochenende heimging //mhm// also dann das war doch eine zweistündige Fahrt //mhm// musste man halt in U-Stadt eine Unterkunft suchen und dann bin ich wieder bei Schwestern gelanden was die hatten solche Studentenheime in denen da so //mhm// Lehrlinge und Studenten wohnen konnten //mhm// hat man mal dort einlogiert (1) dann bin ich dann dort habe ich ein Einzelzimmer bekommen aber ausgerechnet auf eine Kreuzung hinaus //@(.)@// Sternenwetter habe doch nicht gewusst was ( ) den Lärm war ich nicht gewohnt vom Strassenverkehr @(2)@ //@(3)@// @das war@ verrückt also dieser Lärm der hat mich doch jetzt fast gestresst bis am Schluss. Ich musste ausziehen wieder. //mhm// nach eineinhalb Jahren (…) gedacht das wird mir zu viel nebst der Lehre ich kann nicht mehr schlafen weil das @so laut war, nicht@ (.) ((räusper)) und dann habe ich dann dort mit der Schwester zusammen (1) die ist dann gekommen um Lehrerin zu lernen in in U-Stadt //mhm// dann haben wir zusammen ein Zimmer gemietet im Fuchsbau das war dann nebenan draussen irgendwo hintendurch und das hat uns dann dort gefallen //mhm// waren wir unabhängiger //mhm// und auch viel ruhiger //mhm// gut. Aber die Lehre habe ich eigentlich auch (.) °ohne Schwierigkeiten gemeistert ja ja° aber es war streng also einerseits Lehre also dieser Einsatz im Betrieb und daneben Schule und KV //mhm// und dann ab und zu noch Sprachen Freifächer genommen aber das ging auch gut vorbei //mhm// auch guten Abschluss gemacht; Thema 7: Die Welt kennen lernen (346-627) 346-356 und danach hat man gedacht was machen=wir jetzt @(.)@ also zuerst wollte ich mir mal ein bisschen die Welt ansehen (3) bin ich glaube nach der Lehre direkt an einen Kibbuz; wenn ich mich (.) recht erinnere haben wir danach noch drei Monate zusammen einen Kibbuz nach äh nach äh (.) Israel zusammen mit einer Kollegin von X-Dorf, //mhm// das war intere- auch das war interessant @(1)@ dann waren wir da in einen Kibbuz als Volontärinnen haben wir uns verpflichtet ha gab es Organisationen damals //mhm// die solche äh Volontäre gesammelt haben //mhm// vielleicht haben Sie das auch schon gehört, //hm// (1) //ja// da
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sind wir da von April bis drei Monate bis Juli oder irgendsowas dorthin und das war natürlich auch wieder etwas ganz Neues //@(1)@// @(1)@ 356-361 @also@ solche solche harmlose also ich muss sagen also wenn::: über die ganze Lehrzeit oder so hatte ich äh mit Männern oder so keine (.) ä feste Beziehung oder mich stark damit eingelassen zu wenig Zeit gehabt und zu wenig Interesse glaube ich auch noch während der Lehre //mhm// (.) °also ich bin da so schön (.)° brav //@(2)@// @(2)@ @durch, aber@ aber ich habe doch ich habe allerlei äh (.) Zeug ausprobiert; 361-390 (.) auf ähm (.) °ähm was wo war ich, ich habe solche Veranstaltungen besucht° weil ich dachte was ist jetzt auch das überall so s:::o das Bergkind so in dieser UStadt dann //mhm// gab es solche religiöse Veranstaltungen wo es also solche Bekenner da @(.)@ aufgetreten sind und erzählt haben von Jesus was immer passiert dann hat man einfach mal ein Inserat oder äh irgendwo eine Annonce gelesen da sei eine Veranstaltung mit mit Jesus-Bekenntnissen und weiss Gott oder was man früher gesagt hat //mhm// da bin ich einfach mal schauen gegangen was das ist //mhm// das hat mich einfach interessiert //mhm// dort (2) äh //@(.)@// äh komisch also man äh man man schaut da etwas an aber das hat mich da nicht hingezogen //mhm// ich habe gedacht das ist nichts für mich //mhm// d:::as ist komisch was diese Leute da ihres Glauben wie sie bekehrt worden sind erzählen und so Zeug ich dachte das ist ja sowieso eigenartig //mhm// (.) aber ich habe als was irgendwo eine (.) Horizonterweiterung war versucht einmal in dieser U-Stadt in dieser Grossstadt @(1)@ //mhm// ein bisschen auszuprobieren oder dann war ich auch an anderen philosophischen Zirkeln; in denen dann so ich weiss gar nicht mehr Anthroposophen oder solche Wiederge- äh äh solche äh:::::::: hat einer erzählt er sei wiedergeboren schon ein paar mal //mhm// und er sei ein Atlantiker und weiss Gott was kann ich mich noch erinnern //mhm// unheimlich interessant gewesen //@(.)@// war ein alter Herr mit=ihr der da erzählt hat aber ich ich habe weiss nicht mehr genau was es war wie man das richtig sagt //mhm// (.) und ich=s eben sowieso falsch sage wahrscheinlich (.) aber das war ein älterer Herr mit=einer wahnsinnigen Ausstrahlung //mhm// und er hat Vorträge gehalten von seinen vergangenen Erlebnissen //mhm// (1) und das hat mich gefesselt was der erzählt //mhm// war interessant; //mhm// es hat mich einfach nur interessiert aber es hat mich nicht (3) so überzeugt dass ich jetzt auch auf das ein(.)gestiegen wäre //mhm mhm// ich habe einfach nochmals etwas völlig neues gehört //mhm// dann war ich da ein paar Mal //mhm// und habe gedacht °oh spannend° //mhm// (1)
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einfach so so als als Jugendliche habe ich versucht äh:: den Horizont zu erweitern und einfach zu schauen was gibt es denn alles //mhm// 390-407 da dann bin ich sogar in die Sauna gegangen das war für mich dann eine gewaltige Überwindung //@(.)@// also wir sind ja relativ äh äh ja wie das @war@ prüfe oder oder äh::: man hat sich da nicht einfach so //mhm// (.) also man hatte genug Hemmungen um sich auszuziehen //mhm// aber ich dachte also jetzt in der Sauna das sei so da gehst du jetzt einfach auch mal //@(2)@// @(2)@ @das muss jetzt ja auch mal sein@ ob du das ob das etwas ist oder oder das wirst du jetzt wohl können; //mhm// gut und dann habe ich schon damals @das war eben lustig@ @(1)@ äh nicht äh schon Brille getragen also war ich //mhm// eher kurzsichtig; also //mhm// schon aus der Schule und während der Lehrzeit war das dann habe ich diese Brille ausgezogen oder und ( ) gegenüber der da nackt war (sind die) ging dann aber schon in die Frauen- //mhm// Sauna weil ich dann nicht mehr so gut sehe //mhm// ganz verschwommen und dann hatte ich natürlich das Gefühl die sähen mich auch so verschwommen //@(.)@// @dann war diese Sache in Ordnung @(1)@ //@(3)@// @so habe ich @ @(2)@ und dann bin ich noch zwei drei Mal //@(1)@// schon früh auch mal die Sauna ausprobiert und das habe ich dann auch später noch sehr gemacht //@(.)@// 407-426 gut; aber nur ums zu sagen @dass ich wirklich bemüht war@ ein bisschen etwas anderes noch zu sehen oder zu erleben; //mhm// das was man jetzt einfach in dem X-Dorf konnte; //mhm// aber ich muss sagen ich habe nie die moralische Grenze überschritten die ich von zuhause natürlich einfach mitbekommen habe //mhm// (1) //mhm// das muss ich also sagen //mhm// keine sexuellen Erfahrungen //mhm// (.) das hätte ich aber eben auch nicht wollen; weil es //mhm// für mich äh (.) nicht gestattet war, vom Gewissen her //mhm// so war das äh eingeprägt //mhm// von der Mutter her sicher bringst du mir dann nicht etwa so (.) Kinder heim als Lediges //mhm mhm// das habe ich (.) damals als mir die Mutter das einmal sagte was kommt denn dir eigentlich in den Sinn //mhm// also das käme mir also doch nicht in //mhm// das mache ich doch nicht //mhm// da habe ich schon so gedacht // hätte ich auch nicht gemacht; //mhm// man ist einfach ich muss ich sagen ich war stark geprägt von den Moralvorstellungen der katholischen Kirche. //mhm// und habe das auch ernst genommen //mhm// und das auch (.) durch (.) gehalten eigentlich //mhm// aber ohne grosse (1) äh wie soll ich sagen ohne grosse Überwindung es hat (.) sich auch nicht so ergeben dass ich //mhm// den richtigen Partner
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gerade in diesen in dieser relativ kurzen Zeit gefunden hätte //mhm// also es war für mich eigentlich kein so grosses //mhm// (.) Problem oder //mhm// irgendsowas (.) ich hatte zu tun //mhm// war sonst eigentlich gut besetzt //mhm// 426-443 äh gut jetzt sind wir da bei der Lehre also ich habe so paar (.) nach der Lehre (1) war ich noch im Kibbuz, dort habe ich auch erlebt das muss man auch erzählen meine Güte (1) dann sind wir in der Wüste Negev gelandet; //@(.)@// in der Nähe von Beerscheba noch 40 Kilometer südlicher also wirklich in der Wüste, (.) in einem Kibbuz in dem die Bewässerung relativ grün war; //mhm// und in diesem Kibbuz (.) hatte man fast rundum zu das war diese Zeit ausgerechnet diese Zeit als diese Terroristen dort so rumgeballert haben in in::: in in:: Israel; //mhm// es gab zum Teil Tote und man wusste sie ob die wieder irgendjemanden i- erschiessen (2) und dann mussten wir dort mit diesen Pion- Kibbuzpionieren (1) bewaffnet (.) aufs Feld gehen und essen gehen (1) also es war so ein bisschen (1) ja (.) eigenartig, die haben immer Gewehre mitgetragen //mhm// weil man ja nie wusste ob wieder Terroristen vielleicht jetzt mal auch in den Kibbuz einfallen und etwas rumwerken //mhm mhm// das war mal eine Begleiterscheinung aber sonst der Kibbuzaufenthalt war auch spannend äh es war einfach etwas Neues //mhm// also da musste man morgens um Fünf aufs Feld //mhm// auf Plantagen wo wo äh Aprikosen oder äh Pfirsiche //mhm// 443-469 und die Schweizer hatten sie gerne weil die gut gearbeitet haben //mhm// ne, (.) aber auch die Schweizer Frauen hatten sie gerne //mhm// das war unglaublich //mhm// (.) die waren bekannt dass die von einem Männerzimmer ins andere hüpfen //mhm// diesen Ruf hatten sie (.) und da hier so=ein Kibbuz war ja so aufgebaut dass jede Altersgruppe ein Haus für sich hatte also da gabs //mhm// Altersgruppe für Kleinkinder, (.) die wurden von Kleinkindbetreuerinnen betreut ein bisschen kamen die grösseren Kinder (.) und dann Jugendliche und die (…) zur Schule gingen und so weiter und am Abend wenn die Eltern vom Feld heimkamen oder von der Arbeit konnten die Kinder wohl heim zu den Eltern; und //mhm// untertags waren die immer in ihren Altersgruppen //mhm// (.) mir ist aufgefallen dass diese Kinder die gequengelt haben; //mhm// dass es nie ein Geschrei gab in: in:: diesen verschiedenen:: Abteilungen in denen wir in diesen Häusern in denen die gewohnt haben //mhm// habe ich gedacht das ist aber auch ein System das das gut funktioniert aber //mhm// ganz ein anderes als das was in der Schweiz //mhm// was wir gewohnt sind //mhm// sind is das war war ein-
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drücklich; //mhm// aber die die ((räuspert sich)) Israeli hatten dann natürlich andere Sitten als wir katholische Bergkinder //mhm// ((Getränk wird eingeschenkt)) meine Kollegin ist auch @ähnlich aufgewachsen wie ich wahrscheinlich auf jeden Fall auch nie bei=nem anderen gelandet@ dort (.) wir haben dann einfach gesehen (1) dass das unsere wir waren etwa vielleicht 20 Personen solche Volontäre //mhm// dass da die (.) ein Teil von diesen Schweizer Volontären jeden Abend aus einem anderen ein anderes Junggesellenhaus verschwinden und so //mhm// jaja gut das wir haben dann auch wieder hä? Was ist jetzt da los? Nicht, //@(.)@// aber auch nicht mit@gemacht@ wenn man man muss ja aufpassen dass::: nicht, @(1)@ und dann haben wir (1) äh:: ja (.) das einfach beobachtet wir haben eigentlich mehr beobachtet 469-479 und dann haben=wir auch festgestellt dass es plötzlich nach nach sechs Wochen bekamen die meisten Schweizer den Koller; weiss nicht ob den Kibbuzkoller oder den Wüstenkoller? Und H und ich so hiess meine Kollegin von X-Dorf auch (.) wir haben das einfach auch so wieder voller Erstaunen festgestellt (.) dass da wieder etwas anders abläuft was bei uns gar nicht gross betrifft, also wir hatten keinen Koller //mhm// irgendwie sind wir ich weiss auch nicht warum (.) äh:: war eine beschränkte Zeit und uns hat das nichts ausgemacht dass man jetzt da einfach da in diesem Gebiet drin sind; und halt nicht immer rauskönnen //mhm// wir habens einfach nur festgestellt dass bei den anderen das (…) nicht so gut geht aber uns wir sind gut durchgekommen //mhm// 479-515 man konnte dann in dieser Zeit auch Reisen machen und das Land kennenlernen, //mhm// und das hat mich auch sehr interessiert //mhm// entweder auf eigene Faust zu zweit? Durch ganz Israel diese Städte anschauen (.) oder dann hat man auch mit Kibbuz selber auch mal eine Reise gemacht im Lastwagen //mhm// im Lastwagen //@(.)@// hintendrin @(1)@ Zelte mitgenommen oder nicht //mhm// und dann kann ich mich erinnern dass wir mal so eine Reise °gemacht haben° ((Geräusch)) (2) dann sind wir (1) äh (.) in dieses (1) an diese Teiche gekommen, wo eine Verbindung ein enger Tunnel durchgeht bis nach Jerusalem; ich weiss aber nicht mehr wie der heisst sind etwa 500 Meter weite Wassertunnel wo das Wasser von einem Teich in die Stadt reinführte //mhm// das existiert noch, kann Ihnen den Namen aber leider nicht sagen //mhm// dann haben wir da eine Expedition durchgemacht; //mhm// mit dem Kibbuzleiter (.) das macht man scheinbar so das ist ein Erlebnis da so ein enger Tunnel da zum Teil musste man da so durchgehen //@(.)@// also wirklich das war grad einmal
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so breit //mhm// und unten hatte es noch Wasser, (.) und dann bekam man eine Kerze in die Hände und dann ist man 500 Meter also doch immerhin einen halben Kilometer //mhm// durch diese Tunnels durch eins nach dem andern also man konnte nicht nebeneinander gehen; //mhm// wie ein ( ). @das war doch auch spannend@ nicht, aber auf einmal dachte ich dass das Wasser so steigt, dass das Wasser wo wir zuerst gut die Füsse //ui ja// drin waren wurde immer höher //ähä// dann dachte ich was ist jetzt da los? //mhm// sonst hatte man das Wasser da hoch gehabt //mhm// da war dann noch so viel für den Kopf //mhm// vorne dran war auch eine Gruppe und hat schon äh langsam fast ein bisschen Panik bekommen //mhm// gedacht etwas muss stimmt glaube ich nicht ganz //mhm// das sollte nicht sein dass es so viel Wasser in dem Kanal drin ist; wenn das wenns noch zwei Zentimeter steigt versaufen=wir dann; //jaa/ (.) aber dann muss irgendwo ein (1) das Wasser nicht recht an- ich habe einmal gehört es wär irgendwo ein Einbruch gewesen ähh etwas Schotter dazugekommen hat etwas geschlossen auf jeden Fall war es nicht ganz ein Normalzustand; wir sind dann zwar aus dem (.) Tunnel wieder hervorgekommen oder zu ertrinken. @Gott sei Dank@ aber pitschnass bis zuoberst //mhm// Kleider und das Wasser war kalt; //mhm// ich kann mich erinnern ( ) ah jetzt musst du einfach aufpassen bleib ruhig Blut; //mhm// das war wie ein Abenteuer //mhm// den anderen hinterher und davorne schreien sie zwar aber es es geht vorwärts; danach sind wir zu diesem Tunnel rausgekommen, und ich habe geschlottert wie verrückt, es war so unterkühlt inzwischen //mhm mhm// 515-536 und dann hats @(.)@ in der Nahe einen::: fuhr dann dazwischen der Lastwagen nach oben mit trockenen Kleidern ich geschwind trockene Kleider gefasst und danach gedacht so jetzt muss ich mich umziehen können; (.) und dann war in der Nähe es das war ein Araberrestaurant //mhm// mit Arabern und die Araber sind ja so wie die Araber sind die waren auch immer allen Mädchen hinterher; in diesem Israel da hatte man immer einen Schwarm dieser Männer die musste man abwe- aber auf jeden Fall hat der gemerkt dass wir pitschnass hwhwhw //mhm// durfte aufs Klo mich umziehen gehen (.) das war nur so ein ekliges Klo mit einem Loch auf dem Boden; aber das war mir egal; durfte mich aus- umziehen mich warm anziehen und wieder raus und ich muss sagen ich sage Ihnen ich war (.) ich war so dankbar diesem Araberwirten //mhm// und diesen Männern dort drin dass ich mich dort umziehen durfte ich muss einfach sagen da habe ich (2) einfach dann ah danke vielmals dass ihr mich da reingelassen habt //mhm// das habe ich auch nie vergessen diesen diesen Arabern; //mhm// äh:: Gaststätte oder was auch immer wo ich ja sonst nicht hingehört hätte //mhm// in=so=ein
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Lokal //mhm// dass man sich dort wechseln durfte und dann ging es danach wieder und das Abenteuer war überstanden (.) ich kann nicht sagen es war irgend für mich ein (3) ich habe noch ( ) ich ertrinke wirklich; //mhm// aber gewisse Leute hatten glaube ich diese Angst die dort drin waren; //mhm mhm// aber es ist auch ein Erlebnis, das ich nicht mehr vergesse //mhm// muss ich sagen dem Israel 536-602 (2) und danach (1) äh (.) dort ahja @(1)@ ((Geräusch im Hintergrund)) in Israel (.) wo wir da also am Anfang dort hatte ich also mehr Angst (1) dann sind wir da als wir ankamen in diesem Israel; hiess es es war dann Nacht, als wir in die Hütten verteilt wurden in denen wir als als Volontäre schlafen konnten //mhm// hiess es wir müssten dann aufpassen es habe auch Schlangen //@(.)@// das gab mir natürlich das richtige Stichwort //@(.)@// Schlangen (.) giftige //@(1)@// nachts wenn man nichts sieht //@(.)@// und unter der Spalte dieser Baracke in der wir unsere Pritsche hatten //mhm// und dann übrigens mit mit irgendwie anderen Volontären zusammen geschlafen die Französisch redeten das ging ja noch zwei drei Worte konnte man //mhm// aber dort unten bei der Türe hatte es so eine Spalte und dann sah ich das Licht und da hätte doch eine Schlange reinkommen können. //@(.)@// ich habe die ganze Nacht nichts geschlafen, weil es da giftige Schlangen haben könnte, //mhm// ne, das war ein absoluter Stress (…) die erste Nacht //mhm// also dort hatte ich mehr Todesängste dass einem dann an diesem mh:::::: äh::: Wasserkanal drin wo das Wasser einem schon bis bis fast bis an den Hals hochkam //@(.)@// das ist eine Schlange die dann einfach einen beissen kommen kann und dann stirbst du dann haben wirs dann @(2)@ aber es hatte danach nie Schlangen das hat sich dann beruhigt. //@(1)@// @(1)@ das hat sich beruhigt also nie eine Schlange gesehen (.) ja ja aber dort in dem Israel hat man einfach auch wirklich ganz eine andere Welt kennengelernt //mhm// auch mal ist also wirklich so eine Vogelspinne die so gross ist wie eine Hand, //mhm// ist dann einfach mal wirklich ähm im Nebenzimmer @irgendjemandem@ so in ins Zimmer reinmarschiert //mhm// ja gut (.) dann springt man wahrscheinlich also ich habe nicht zugeschaut weils ja nicht in meinem Zimmer war //@(.)@// @stand dann wirklich aufs Bett rau-rauf@ und schrie //mhm// oder solche Sachen oder es es sind einem da eine Ameisenstrasse lief mir einfach mitten übers Kissen //mhm// das kam da bei der Pritsche hoch //mhm// zum Bein und da über den Kopfteil durch eine ganze Strasse? ((@(1)@// und auf der anderen Seite wieder runter @(1)@ @nicht so Zeug eben@ //@(1)@// ich dachte was machen=wir jetzt? Ich meine wir sind ja an allerlei gewohnt in den Bergen, wenn man ab und zu so mal in einer Alphütte übernachtet hat //mhm// ist auch nicht alles so (1) aber doch Leute wie wollen sie
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schlafen wenn eine Ameisenstrasse darüber hat //@(2)@// ja also @(1)@ @das das ist aso ja gut@ dann gingen wir halt und dann hiess es ja man müsse mit Petrol //mhm// äh dort wo die Ameisen rauskommen @nicht wo sie hingehen@ //mhm// ein bisschen drauf tun und dann höre es auf //mhm// und das haben wir dann gemacht. //mhm// und dann hat man die Amesch- äh die Ameisenstrasse wurde dann unterbrochen und der Rest ist noch durch @marschiert ( ) @ ja ja //@(1)@// so zeug haben wir also äh oder wenn man dort (.) aufs Klo musste; das Klo war dann so ein Hüttchen so wie da so ein Baumhüttchen nebenan draussen //mhm// äh gut also wir sind nicht so aufgewachsen dass man aufs Klo geht und die Türe offen lässt; //mhm// (1) also diese Tür lag einfach manchmal zwei drei Meter weiter unten; dann musste an zuerst mal diese Türe holen @hat man die raufgebuckelt@ und drangestellt und danach hockte mir wirklich noch so ein grosser Frosch in der Kloschüssel drin //mhm @(1)@// also gut dann musste man mal schauen dass dieser Frosch die Hobschel wir sagen denen Hobschel //mhm// die Hobschel rauskommt und danach die Türe hinstellen und die Türe mit einem Fuss halten und dann konnte man dann (1) ja (1) das Geschäft verrichtet wie man wollte //@(.)@// also einfach solche Sachen aber ich habe mich dünkte das doch immer interessant und das hat //mhm// mir eigentlich keine Schwierigkeiten gemacht; eben nur die erste nacht die Angst vor giftigen Schlangen die einen beissen können und dann wird man mal davor gewarnt aber dann ist es doch ernst //mhm// oder auch in dem Kibbuz hats::: man so gemeinsame Duschen, zum Glück Männer und Frauen getrennt, das ging dann; dann weiss ich auch dann gabs einmal ein grosses Gekreische; und dann ist das Wasser beim Ablauf überlaufen (.) dann hiess es ühhö schaut mal da drin ist eine Kröte grad auf=dem Ablauf also ein Pflätsche eine grosse Hobschel //@(.)@// dann sagte sie was müssen wir jetzt machen? @(1)@ @ja dass das Wasser wieder abläuft ja wohl den Hobschel wegnehmen@ //@(.)@// gut das habe ich dann selber gemacht äh:::: an den Waschplatz diesen Frosch oder die Hobschel holen gegangen und die ((macht ein Sauggeräusch)) @von dem Ablauf weggenommen und zur Tür raus@ und dann lief das Zeugs wieder //mhm// also es ging in diesem Israel eigentlich (2) rudimentär zu und her das was wir bei uns zuhause auf den Alpen ja das muss ich sagen //mhm// aber es war ein Erlebnis; 602-615 (.) und wenn man dann äh auch die nach Jerusalem und all diesen wichtigen Städten gehen konnte //mhm// oder Masada und all das (1) da bin ich das hat mich auch interessiert //mhm// aber es hat mich auch abgestossen (2) und zwar da diese Kirchen überall wird irgend der Fussabdruck des heiligen Josef, (1) Sch::: äh die Steine der Mutter Gottes draufsassen, der Berg auf dem Jesus war
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//mhm// ( ) alles wird vermarktet //mhm// (1) überall riesiger Trubel überall nur Geschäfte überall einen Haufen Souvenirs die verkauft werden das hat mich als junger Mensch abgestossen ich dachte //mhm// wo kann man hier wirklich in Ruhe //mhm// äh Sillen sein oder auch einmal etwas beten obwohl ich früher da nicht so viel beten wollte (.) aber wo ist denn eigentlich dieser Ort wo man ein bisschen eine gewisse Heiligkeit spürbar ist //mhm// es ist einfach alles Geschäft //mhm// das hat mich als 20-Jährige eher ein bisschen abgestossen //mhm// muss ich sagen //mhm// 616-627 aber sonst ist äh spannend; sind wir dann nach drei Monaten wieder gesund und munter ohne jeglichen Schaden heimgekehrt @(1)@ //@(1)@// @wirklich also ich@ muss sagen wir waren einfach (1) brave, also ich war sicher ein braves (.) harmloses (.) Bergkind. //@(1)@// das immer noch (.) obwohl ich mein Leben schon selber in die Hand genommen haben; also ich war nicht fremdbestimmt; //mhm// ich habe eigentlich immer selber (1) das möchte ich jetzt machen //mhm// und das mache ich jetzt auch wenn Mutter jetzt vielleicht Angst hat //mhm// (1) ne, äh aber ich mache nicht so dass die Eltern so noch Kummer haben dass sie weinen und fast ins Grab sinken //mhm// das sicher nicht //mhm// aber ich habe eigentlich mein Leben schon selber in die Hand genommen; selber entschieden was ich will //mhm// das was mich interessiert; //mhm// (1) oder auch das unterlassen was mir (.) das G- Gewissen nicht zugelassen hat //mhm// damals. //mhm// Thema 8: Sekretärin im Hotel P (627-669) 627-633 (1) und danach also wir aus diesem Kibbuz zurückkamen, (.) musste ich dann eine Stelle suchen (1) und dann habe ich gehört dass eben in diesem Hotel P sie eine Sekretärin suchen; von der Schwester D die ich schon gehört äh gekannt habe davor //mhm// habe ich gedacht aha (.) P Hotel Hotel-Sekretärin das wär noch würde mich schon noch interessieren //mhm// das:: würde mir ganz leichtfallen dann habe ich mich dort beworben, //mhm// bin auch hingekommen, 633-640 kaum war ich dort ist die Oberin die ja eigentlich auch einen Haufen Arbeit gemacht hat dort //mhm// da als Priorin oder damals als Frau Mutter hierher gewählt worden, //mhm// also kam die weg und ich bin grade hingerutscht also bin ich dort musste ich an eine Stelle ran bei der die Chefin fehlt; aber nicht ich
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musste die Chefin spielen natürlich sondern dann wurde dann eine andere Schwester Oberin aber ich musste einen Haufen Arbeit eigentlich dann musste ich übernehmen //mhm// also ich war recht gefordert //mhm// 640-661 aber das war vielseitig Hotellerie das Hotel hatte auch einen Haufen Gäste, lief immer aber da das gefiel mir //mhm// war mindestens etwa zwei Jahre dort (.) als Hotelsekretärin; //mhm// Leute kennengelernt; (1) ja. wie::: dort sind das war damals noch inter- äh gut in Z-Dorf da hatte es einen Ärztekongress da hatte es einen Haufen Ärzte //mhm// aus aus Deutschland hauptsächlich //mhm// dann sind dann die die (.) ähm im Ärztekongress gab es auch immer so:: äh Referenten die über ganz bestimmte Themen so studierte Herren, auch renommierte Autoren zum Teil, //mhm// habe ich da später gemerkt da als bei den Büchern gesehen und ähä den Herrn kenne ich auch den dort auch da war ja auch mal bei uns die haben dann auch vielmal im Hotel P logiert //mhm// dann kam man mit Leuten in Kontakt die einen (2) weiteren Horizont hatten und wenn man an der Resup- äh Rezeption war, war meistens auch dort, (1) da ist alles etwa am selben Ort //mhm// ähm die Verwaltung war mit der Rezeption kombiniert //mhm// dann hat man mit diesen Leuten vielmal am Abend Feierabend wenn der grosse Trubel vorbei war ist dann kamen viele nach Hause oder sassen in der Lobby oder in der Nähe dann hat man Kontakt bekommen dann sind=sie reden gekommen und so war einfach spannend //mhm// mal ein bisschen Zeugs mitbekommen äh:::: Künstlerinnen gabs (.) ganz verrückte Frauen @(.)@ oder äh::: Klosterfrauen die Frau die Schwester I da aus Deutschland die ja einen Haufen solche Bücher geschrieben hat habe ich auch jahrelang erlebt (1) einfach interessante Leute //mhm// das war gut //mhm// 661-669 andererseits musste man natürlich auch intern schauen dass ein solcher Betrieb überhaupt wirtschaftlich über die Runden kommt //mhm// das war ein gro::sses Problem (…) hatte man zu wenig Finanzen //mhm// (.) dann habe ich gelernt zu rechnen meine Güte //@(.)@// gut @(2)@ //@(1)@// also den Betrieb in Schwung gehalten mit allen mit Angestellten //mhm// dass es aufgeht bis am Schluss also das fordert einiges; dort habe ich gesehen dass es da nicht so gut läuft; //mhm// gut; aber ich konnte ja nicht von meinem jung- jugendlichen Alter alles ( ) das war ja nicht ich //mhm// ich habs einfach festgestellt //mhm//
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Thema 9: Berufung und Ordensausbildung (669-842) 669-680 (2) und nach äm dieser Zeit; (2) ((räuspert sich)) kann ich mich erinnern (1) habe ich glaube ich langsam eine gewisse Unruhe bekommen. @so zwischen 20 und 22@ //mhm// eine gewisse Unruhe //@(2)@// @(2)@ dann auf einmal gedacht, ja, wa- was jetzt weiter also jetzt muss etwas Neues kommen //mhm// nach einem eineinhalb Jahren etwa jetzt muss ich etwas anderes machen, ja ich hatte dann noch Kontakt mit mit Schwestern vom Kloster D die die Frauenschule in R-Stadt geführt haben; //mhm// ja soll ich mich jetzt im sozialen Bereich ein bisschen weiterschulen Frauenschule machen oder irgendwas (2) dann @(.)@ dann haben sie mich dann habe ich mich angemeldet für den Informationstag für die Frauenschule in R-Stadt und dann hat die Schwester S irgendwie hat die wahrscheinlich gedacht ja ich wolle vielleicht eigentlich ins Kloster, nur merke ich das noch=nicht //@(1)@// 681-691 @gut@ haben die mich da hingeführt also ich habe eine Nacht da übernachtet also ich hätte das nicht geschafft von Z-Dorf hinunter //mhm// in=einem Tag runter und in einem=Tag hoch //mhm// also durfte ich in dem Kloster A mal übernachten. //mhm// das Kloster A hat damals grade wurde alles neu gebaut ich glaube der ganze Trakt neu gemacht //mhm// worden auf jeden Fall kann ich mich erinnern dass da vorne im Vortragssaal die Kapelle war; und das kann ich mich ganz gut erinnern; nicht die Kapelle dort ist wo sie wirklich ist //mhm// also das war ein Provisorium; //mhm// ja gut ich habe da (.) mal eine Nacht übernachtet und wohl Frühstück und Zumittag gegessen und bin wieder weiter danach wieder weiter //mhm// an die Frauenschule diesen Informationstag, (1) und danach wieder nach Hause; 691-710 (1) und dann wurde das immer unruhiger @(.)@ //@(.)@// das ist also irgendwie hat dort begonnen zu überlegen ob ich no- (1) ob ich nicht ins Kloster soll, oder ob ich nicht ins Kloster müsse; //mhm// also (1) //mhm// also ich bekam einfach allmählich eine Unruhe wirklich in dieser Zeit (.) und immer mehr also auch wenn das jetzt vielleicht blöd klingt vielleicht für Ihre Augen aber ich hatte das Gefühl ich (.) werde ins Kloster (.) gezogen. //mhm// beordert. (1) ich habe äh immer das kam immer mehr und gedacht du musst glaub ich ins Kloster, aber ich will ja gar nicht; ich weiss ganz genau dann gebe ich meine Freiheiten auf, und so weiter kann=ich nicht mehr machen was ich will kann auch nicht mehr
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heiraten obwohl das sicher nicht gerade das Wichtigste gewesen wäre für mich, aber dann also muss ich jetzt wirklich ins Kloster (.) und ich habe nicht ich hatte einfach das Gefühl ich hätte einen Auftrag //mhm// ich müsse jetzt gehen, (.) und weil ich eine Aufgabe im Kloster zu erfüllen habe //mhm// also man könnte jetzt im Nachhinein sagen ich hätte mich mit der Zeit einfach allmählich ins Kloster berufen gefühlt; oder geschickt gefühlt //mhm// (1) ich habe das nicht äh bewusst gesucht oder jetzt gehe ich überall schauen oder jetzt will ich das sondern (…) Gott ich muss glaub=ich das machen, das lässt mir keine Ruhe was da im Hirn abläuft oder in den Gefühlen abläuft das kann man ja d- so nicht so genau sagen //mhm// 710-726 auf jeden Fall ist es @ist es@ bei mir doch allmählich ziemlich rasch (.) wahrscheinlich °wie das so bei mir üblich ist° (.) der Entschluss gereift. //@(2)@// mich schweren Herzens //mhm// muss ich sagen angemeldet hier, Kloster da bei der Frau (.) Mutter ehemalige Oberin dort wo ich da nicht so besonders (.) °baa° //mhm// also war einfach da die Mutter; dann habe ich halt ihr einen Brief geschickt geschrieben ob ich ins Kloster (.) kommen könne oder was ich //mhm// i:: hatte das Gefühl ich müsse jetzt einfach gehen, und dann hat sich das //((hustet))// so ergeben soll ich wieder zumachen? //nein ist schon gut// nur ein bisschen frische Luft //ja ja ist gut// habe ich mich angemeldet und dann nach zwei Jahren (1) und bin dann wirklich hat=sie gesagt ja ich könne kommen das ganze Prozedere machen da, (.) das man (.) zuerst wird man Kandidatin //mhm// und dann kommt man ins Noviziat //mhm// und so weiter und so fort 726-732 (1) also ich bin da auf jeden Fall dann mit 22 glaub=ich ja mit 22 im Oktober das habe ich noch aufgeschrieben 76 //mhm// bin ich dann @ (.) in das Kloster gekommen@(.) ja ja und dann (1) dann hat dann die wirkliche Krise begonnen. //mhm// @also@ dann ist dann eigentlich meine also im Kloster selber (1) also da hat man abgeschlossen nach 2 Jahren, //mhm// hatte das Gefühl das ist wirklich endgültig das ist ernst //mhm// für mich //mhm// 732-743 den Eltern das gesagt, die Mutter hatte gar keine Freude //mhm// meinem Vater war das schon recht wenns dir gefällt bleibst du und sonst kommst du wieder das ist schon recht //mhm// meine Geschwister auch (2) dann habe ich im Nachhinein noch erfahren dass meine zweite also meine Schwester die nach mir
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kommt als sie das gehört hat fast zu weinen begonnen hat, zwar (mit-) (.) äh und zwar aus folgendem Grund, weil ich ihr @jetzt quasi das Kloster schon wegnehme sie wolle nämlich ins Kloster@(2)@ //@(2)@// habe ich gesagt ja Sternenwetter @(2)@ //@(2)@// also ja gut //@(2)@// war ich halt wieder zu früh für das arme G //@(1)@// @aber sie ist ja@ dann auch dann auch ins Kloster //aha// aber das habe ich erst im Nachhinein erfahren und gedacht aha sie ist eigentlich viel, (.) für sie war es viel selbstverständlicher //mhm// als für mich; 743-764 gut. also jetzt da im Kloster. (2) da bin ich (1) (hä) das war eine nachkonzliäre Zeit, ne? 76 //mhm// ((schnalzt)) da hatte das Kloster selber da glaube ich ziemliche Krisen hinter sich mit einem Haufen Austritten //mhm// ne, da ging diese //mhm// äh der ganze Aufbruch nach dem Konz- nach dem zweiten Konzil los und die haben einen Hau::fen Junge auch verloren oder es war auch in der Zeit als ich dann da war habe ich gemerkt da geht ja eine nach der anderen //mhm// ich hatte das Gefühl das war äm (.) eine Umbruchszeit im Kloster //mhm// man hatte auch das Haus erst gerade neu gebaut //mhm// die Schule neu gebaut //mhm// das alte abreissen müssen ( ) also es ging alles so ein bisschen //mhm// und ich kam bereits in einer Zeit als als=es fast keinen Nachwuchs gab; //mhm// ich war alleine in meinem Jahrgang //mhm// war zwar zu zweit am Anfang, //mhm// noch mit=einer mit=einer Mitkandidatin zusammen //mhm// aber die musste dann gehen weil sie zu krank war; //mhm// ja es ging nicht //mhm// und so sind wir nur also ich und nach mir immer so Einzelpersonen gehabt //mhm// (1) °aber auch Einzelpersonen (.) ich kam mir als einzig normale vor° (3) das müssen Sie ( ) //@(2)@// @(2)@ es gab diese Mit(.)kandidatinnen und so //mhm// oder die wie wir waren, (.) ich hatte das Gefühl die sind alle (1) von der Person her oder von der Psyche her (.) gestört. //mhm// (1) einfach nicht so wie ich gewohnt bin wie die Leute eigentlich normal sind. //mhm// einfach verhaltensgestört; //mhm// (2) äh äh äh schwierig. //mhm// war strapaziös. //mhm// 764-786 also am Anfang hatten=wir so kleinere Grüppchen also jede für sich ja wissen Sie da wird man ein bisschen abgesondert im Noviziat, //mhm// wohnt für sich, //mhm// damals noch hiess das man hatte auch noch eine Novizenmeisterin //mhm// die teilt jedem die Arbeit zu, //mhm// da kommt man dann in die Wäsche oder in die Küche oder wo auch immer dort hat man dann immer wieder die neue Chefin die dort zuständig ist //mhm// die behandelt jede Novizin oder Kandidatin wie ein kleines Kind, nicht? Damals da bist du (.) ähm hundert Mal
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erklärt bekommen wo jetzt der Waschtopf verräumt gehört, also der Eimer gehört immer in das Gestell das habe ich jede Woche gehört; //@(2)@// @(1)@ °jede Woche° //mhm// (nur) in der Wäsche gewesen oder eine andere (Farbe) eine die noch über eine Latte die man nicht abgestaubt hat //mhm// obwohl ja niemand da wohnt da nur wir paar //mhm// und einfach so blödes Zeugs oder das Lümpchen gehört immer nur an den Ort //mhm// und nur so aufgehängt uhnd nicht anders //mhm// und ja immerhin habe ich zwei Jahre äh äh äh:: Verantwortung getragen (.) in einem (.) Betrieb; //mhm// in der ganzen Administration //mhm// Buchhaltung machen müssen //mhm// fast das Hotel fast administrativ schmeissen; (.) ich hatte das Gefühl ich ich ich habe schon etwas Selbständigkeit gehabt //mhm// und danach im Noviziat im Kloster oder da ist auch immer Kandidatur mitgemeint (.) äh beginnt man ganz unten; (1) sie sind überall neu sie werden von allen als nichtswissend nichtskönnend behandelt. @(1)@ @und das ist@ gut ich war ja 22 glaube ich (.) oder 2- 22 ja; (1) also äh °ich musste schon manchmal leer schlucken° //@((.)@// °mein Gott° //@(.)@// 786-800 auf jeden Fall eineinhalb Jahre habe ich Kandidatur und Noviziat gemacht; es hat niemand absichtlich mich schikaniert das möchte ich sagen //mhm// es waren die Umstände dieses neuen Lebens; aber ich bin //mhm// in ä diese Lebenskrise geraten absolut depressiv geworden (.) zehn Kilo abgenommen in eineinhalb Jahren, //mhm// ich sah aus wie ein Stock wirklich elegant schlank gewesen einmal //@(.)@// aber die Mutter hat mich fast nicht mehr gekannt //@(.)@// ((Fenster wird geschlossen)) °habe ich gedacht ja aber jetzt° am Ende des Noviziats, nach diesen eineinhalb Jahren war ich am Boden habe ich gedacht ich kann nie mehr eine Arbeit übernehmen bei der ich Verantwortung trage //mhm// ich weiss nicht was ich soll, ich weiss nicht wie ich dieses Leben aushalte //mhm// ich entscheide ich kann kaum mehr entscheiden also ich könnte °mein Gott ich kann ja nichts mehr° also für mich war das im Nachhinein die absolute Krise absolute Grenzerfah- erfahrung für mich (.) °Grenzerfahrung° //mhm// also @ich weiss nicht wo diese Grenze war ( ) dabei zeigt@ //mhm// 800-824 (1) das war auch eine ganz gute Erfah@rung@ also zu wissen man wird depressiv //mhm// die Möglichkeit besteht, (1) und man verliert jedes Selbstbewusstsein jedes Selbstvertrauen //mhm// es ist einfach nichts mehr da ich dachte °Gott wie kommt man da wieder raus° //mhm// (1) und ich konnte auch nicht entscheiden //mhm// sondern jetzt einfach (.) ja bist weiss auch nicht wie weiter, (2) heute muss ich sagen ich weiss was (1) äh äh wie es einem zumute ist wenn
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man (.) in so eine Krise kommt noch depressiv wird; (3) und gewisse (.) Veranlagung ist vielleicht auch da °von der° Familie her das könnte ja das habe ich im Nachhinein auch gedacht es hat in der Verwandtschaft auch Leute die die mal depressiv wurden, aber ich wurde das sicher weil ich einfach im luftleeren Raum //mhm// sozusagen (…) etwas Neues müssen und du bist du hast nichts mehr rechts zu tun //mhm// aber das ist vielleicht auch der Sinn dieser ganzen (.) Ordensausbildung (1) das kann einer sein man muss an an eine Grenze kommen von sich selbst //mhm// einmal (.) einmal leer sein, ich denke ja es kann einmal einfach auch nichts mehr vom eigen (.) nichts mehr Eigenes da sein //mhm// also ich muss sagen ich bin um die Erfahrung nicht undankbar; es war relativ kurz; //mhm// und die hat sich danach wieder behoben //mhm// und dann bin ich wieder aus diesem tiefen Loch rausgekommen //mhm// und danach war das wieder (.) weg //mhm// aber ich habe ich ich war unten. //mhm// (3) und das hat dann erstaunlicherweise die Umgebung da nicht realisiert dass da ein junger Mensch eigentlich auf den Felgen fährt eineinhalb Jahre //mhm// das hat mich ein bisschen überrascht; //mhm// dass eine Novizenmeisterin nicht merkt dass die Frau Mutter nichts sagt (2) dass das nur die Mutter zuhause feststellt als sie mich mal sah was ist auch da los? //mhm// 824-842 gut (2) aber nach dem (1) Noviziat oder während des Noviziats auch noch hat man da ja noch überlegt (.) was man mit mir machen soll (.) was ich später für eine Aufgabe übernehmen soll, dann konnte ich auch mal ins Kloster B in die Druckerei; @(.)@ und dort drucken gelernt und Buchbinderei //mhm// weil das früher auch im Haus selber hatten //mhm// und das jemand vielleicht mal sollte //mhm// hätte übernehmen sollen dann habe ich einmal (.) Bleisatzdruck gelernt; //mhm// so für den Hausgebrauch für Todesanzeigen schreiben zu können die wir früher so selber gemacht haben //mhm// und wie man Bücher bindet das habe ich dann zwar nicht bis ins Letzte s::: zu wenig Zeit gehabt //mhm// aber ich war in dem Bereich (.) was für Papier, wie man druckt, wie man ein bisschen welche Schriften dass man kombiniert, auf was muss man achten s:::: war noch gut //mhm// also das habe ich dort so jede jede Woche konnte ich eine gewisse Zeit dorthin 2, 3 Tage //mhm// das lernen gehen und und während mitten in meiner äh Krisenzeit drin und das hat mir gut getan //mhm// °habe ich gedacht oh das ist jetzt wieder etwas anderes jetzt kannst du etwas lernen jetzt bist du nicht (.) einfach der letzte Pfosten° //mhm// irgendwo bin ich immer dorthin 2, 3 Tage und die restlichen Tage da habe ich geputzt weil da hat man ja immer Novizen gebraucht um das Haus zu putzen //mhm// gut (.)@(2)@ //@(2)@// also (.) aber das war schon Mal gut
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Thema 10: Leben im Kloster (842-1009) Unterthema 1: Sprachaufenthalte (842-922) 842-895 und als dann das Noviziat als ich dann die erste äh äh Profess gemacht habe die erste Profess glaube ich im Juli 78 ((hustet)) das gemacht habe haben sie mich nach (.) London geschickt um Englisch zu lernen; //mhm// zuerst glaube ja vielleicht war es auch ein bisschen in aneinander rein- nein das muss schon nach dem (.) Noviziat gewesen sein; Englisch lernen in der International School, dann kam meine Schwester mit; ich habe gesagt du kommst du nicht auch mit, also sie war ja damals Lehrerin (.) nicht (.) im Kloster sechs Wochen Englisch lernen gehen einfach in London; London hat mich dann schon interessiert //mhm// das war dann wieder äh eine Stadt in der ich nie war übrigens zwischendrin war ich auch mal eine Reise machen nach Moskau //mhm// also Reisen habe ich dann auch noch ein bisschen gemacht; (1) und dann sind wir nach London da eben diese International School ich als Ordensperson in dem London rumgelaufen und dann haben wir wieder bei B-Schwestern gewohnt im Swiss Cottage das war dann irgendwo bisschen weiter weg und die Schule waren wir am Piccadilly Zirkus Zürkus Circus Sie wissen wies heisst //mhm// dort war diese Schule, aber dann habe ich auch wieder festgestellt ich gehe wieder in der Tracht ja ist ja klar etwas anderes gabs nicht falle ja auf wie ein roter Hund in der Stadt //@(1)@// @(.) also das ist nicht zum aussprechen@ dann haben die Leute mich angesprochen und gefragt wo das ist und wo jenes ist //mhm// ich habe richtig in diesem London aus Auskunfts(.)person gedient //@(2)@// @(1) wie das so@ ist ja. Ja man lernt dann ja die Sprache? //@(.)@// @(.)@ gut; also es man ist einfach aufgefallen wenn man so ging und die Schule war natürlich in der Mitte im roten Viertel //mhm// nicht, da habe ich auch ti::ptop reingepasst //@(1)@// @(.)@ ja also gut; die sechs Wochen, (1) am Vormittag ging man zur Schule, (1) habe ich dort ganz neue Schulmethoden kennengelernt mit Kamera wo man gefilmt wird mit mit //mhm// mit gut da hat man sogar sich Pantomime machen müssen zu irgendwas und so dieses Zeug wie man heutzutage oder damals moderne //mhm// Schulunterrichtsmethoden waren da habe ich mitgemacht obwohl ich wie gesagt Sprache ist dann nicht grad so meins (.) ja sicher nicht gerade das Beste ((räuspert sich)) kann ich nicht am besten //@(.)@// aber doch ich habe die Schule besucht, und am Nachmittag gingen wir immer alle Museen abklappern //mhm// (1) also die Kunstmuseen; technische Museen; äh:: aso es hat ja über hundert Museen in diesem London (1) oder dann der der der Park in dem da da immer die die wie heisst der Hyde Park?
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//mhm// Hyde Park, Hyde Park, //mhm// °wo da die die die Sprecher da sind° //mhm @(1)@// @(1)@ das war doch interessant; ja und eben und da::::: äh::::: möglichst an allen (1) Museen umher das das hat uns das haben wir gemacht ja ( ) //mhm// da hat man noch etwas kennengelernt aus:: dieser Stadt //mhm// nicht, oder ein bisschen Ausflüge gemacht nach Canterbury und weiss Gott wo überall hin das war (.) nebst dem Studium @dieser Sprache@ für mich viel °interessanter° //mhm// das hat mir wirklich gefallen. dann kam man natürlich dort in Kontakt mit diesen Haufen Bettlern //mhm// als Ordensperson hatte ich das Gefühl man werde extrem viel angesprochen //mhm// oder dann das Gstung das Gstung an diesen (.) Untergrundbahnen //mhm// (1) also gut @also das war auch eigen@ diese Fahrerei dort unten //mhm// da bin ich dann:::: war auch ein Gstung und dann hats einmal gestoppt da bin ich gerade einem Herrn auf den Schoss //@(1)@// @ja weils @(1)@ und dann habe ich gesagt Entschuldigung der hat dann auch nur gelacht das ging dann aber äh @ (1) jaha:: ich weiss nicht ob man als Ordensperson geschützter ist oder ausgesetzter in so=einer Grossstadt also wenn sie die Tracht tragen //mhm// es ist mir eigentlich ja::: (1) weiss nicht mehr ein bisschen aufpassen muss man //mhm// (.) aber auch da sind wir heil und ungefährdet nach Hause zurückgekehrt //@(1)@// @(2)@ ja ja; 895-922 (1) wo sind wir ah ja und danach (2) dann (.) hiess es jetzt mal Französisch lernen @(2)@ also so ein bisschen kurz kurz kurz //mhm// (.) da musste ich nach W-Stadt, //mhm// in ein (.) Institut, wo nur auf Französisch unterrichtet wurde bei den E-Schwestern; (1) und dann habe ich dort irgend so eine französische Schule gemacht, (1) °wie hiess das jetzt weiss ich nicht mehr° neun Monate lang einfache allen Unterricht mit es waren mehrheitlich eigentlich jüngere Frauen aus aller Welt; //mhm// wirklich aus Malta, und und Italien, und und der Schweiz, Deutschland und überall, //mhm// und wir haben einfach auf Französisch Unterricht gehabt und dort irgend einen Abschluss gemacht. //mhm// der Alliance Française glaube ich; (1) //mhm// gewohnt haben habe ich dort bei den (.) D-Schwestern also es hatte immer mit Schwestern irgendwas zu tun und die Schwester O hat dort war auch dort; sie hat dort studiert. in W-Stadt und da sind wir zwei bei denen äh::::: D-Schwestern gewohnt also XY hiess das //mhm// hatten dort einfach Logie und die Schule sind wir bin ich bei den E-Schwestern //mhm// und diese neun Monate in W-Stadt das war für mich der Himmel nach meiner Krise (.) //mhm// da muss ich sagen habe ich wieder angefangen (.) aufzutauen (1) mit also die Schwester O hat mir da sicher viel zuhören müssen; ((schnalzt)) ich habe immer geredet über das Zeug geredet und geredet bis es (1)
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so wie ich das wieder habe verdauen verarbeiten können und dort war ich dann wieder auf den Beinen; //mhm// (2) nach diesen neun Monaten musste ich eben die Prüfungen machen und Französisch und (.) jeden jeden Samstag (1) so einen blöden französischen Aufsatz; (1) das habe ich jetzt wirklich gehasst //@(1)@// auf Französisch (.) das war immer ein Krampf //@(1)@// @(1) Französischaufsatz @ die anderen haben jeweils gelacht@ weil sie hatten frei und ich musste in der Schule @einen französischen Aufsatz machen @ //@(1)@// @(.)@ ja gut; ging dann auch vorbei; //@(.)@// Unterthema 2: Berufliche Tätigkeiten im Kloster (922-967) 922-944 (2) und danach als ich zurückkam hiess es jetzt müsse ich nach Z-Dorf wieder ins Hotel P als Schwester //mhm// schon wieder; das wäre jetzt schon der dritte Ei- Einsatz gewesen im P //mhm// (3) ja dann bin da wieder rauf (1) °wie lang war ich dann dort,° 12 Jahre (.) wieder als pf:::: einfach als kaufmännisch (.) Geschulte (.) in ins Hotel und dann war zuerst die eine Oberin da die gar nichts verstanden hat dieses Haus (.) ((schnauft)) zu Grunde gearbeitet hatte //uh// mhm finanziell //mhm// zwar einen Haufen Gäste aber finanziell völlig auf den Socken //mhm// auf den Felgen (.) musste sehen dass rau:::f wieder dass wieder rauf kommt also dass der Betrieb war eine AG und hatte einen Verwaltungsrat //mhm// der hat natürlich auch seine Forderungen gestellt und hatte auch recht //mhm// da hatte es Oberinnenwechsel da kam dann eine Oberin die dann das auch sah, //mhm// die es besser konnte und wo man dann wirklich zusammen am selben Strick zog //mhm// und dann konnte man das wieder aufarbeiten und dann ging das wieder besser und dann kam eine dritte Oberin wieder (2) dann war ich auf jeden Fall 12 Jahre dort oben und habe mehr oder weniger will ich sagen den Betrieb (.) schmeissen müssen. (1) //mhm// ja aber das ist:: wie gesagt dort hat man (.) die Gäste die ich als Sekretärin kennengelernt und waren viele dort auch schon und hatten dann immer einen Hau::fen Stammgäste (1) so hatte man Jahr für Jahr eben immer wieder mit denselben Leuten zu tun also mir hat die Arbeit im Hotel sehr gefallen //mhm// dort hat man eigentlich den ganzen Stock gelernt von der Arbeit was ich jetzt da als Ökonomin jetzt muss im grösseren Rahmen machen //mhm// 944-967 (1) nach 12 Jahren hiess es dann (.) (…) ich müsse ins Mutterhaus und eben die Ökonomie übernehmen //mhm// (1) jaha und das mache ich jetzt da seit (.) 92 //mhm// (3) //@(.)@// der Anfang war auch nicht so einfach //mhm// @(3)@
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//@(3)@// in einem Kloster gibt’s auch so @verschiedene Strömungen@ und verschiedene Ansichten und so weiter //mhm ja// und am Anfang war das jetzt vielleicht auch ein bisschen der ganze Bereich nicht in so=einem geordneten Zustand habe ich da auch wieder von vorne anfangen müssen und mich durchwühlen also das ist das ist::: da hatte man Schule; (.) Landwirtschaft, //mhm// Krankenkassenverwaltung, Pflegeabteilung, das Kloster (1) Kindergarten glaube ich auch nicht; vermietete Häuser ans Personal Häuser einfach das war äh ein ein ein Kuchen //riesig// im Grunde genommen //mhm// und sich da einarbeiten w:::as läuft überhaupt; //mhm// wo wo sind Daten, wie wie wie wie wie finde ich mich da zurecht wo finde ich da den Überblick. //mhm// das war sehr streng am Anfang; ((räuspert sich)) (1) aber (1) man hat sich durchgebissen durchgewühlt und @gearbeitet wies in einem Kloster so geht@ jetzt natürlich ist es ist es entschlackter //mhm// die Schule hat aufgehört die Landwirtschaft haben wir verpacktet weil das muss //mhm// s:::onst hätten wir keine Bundesbeiträge bekommen dann sind diese Grüppchen immer wieder ein bisschen für sich, (.) eh Krankenkassenverwaltung hat das so schnell als möglich abgegeben dass man da (1) sich (.) zusammentut mit den oder einfach sich anschliesst den den BSchwestern damit man nicht auch selber verwaltet die ganze Sache //mhm// auf jeden Fall viel abbauen mit Fachleuten rundum //mhm// und jetzt jetzt @haben wir einen Laden@ der auch läuft wie verrückt //mhm// aber es es ist es ist zu machen es ist über(.)sichtlicher. //mhm// Unterthema 3: Reise nach Moskau, eine Rückblende (967-1009) 967-1009 (8) habe ich jetzt etwas noch äh also sehen jetzt haben wir über eineinhalb Stunden //mhm// @(2)@ //@(2)@// also was jetzt (1) ja etwas habe ich meine Reise //mhm// als ich als so zwischen Klostereintritt und und und Lehre oder während Lehre oder so eine eben noch gemacht (1) nach äh: Moskau //mhm// äh::: Russland, dort war dann noch Kommunismus also äh:: ist noch nicht äh:: auseinandergeflogen; //mhm// ziemlich::::: finde ich noch mutig gewesen dass man in dieses Land geht //mhm// es war zwar mit einer Reisegruppe aber auch dort habe ich dann wieder Zeug gesehen das ich vorher halt einfach noch nie gesehen habe; dort hats mich zum Beispiel entsetzt @(.)@ das muss man jetzt ja auch nicht mehr dass man dort äh::: wenn man über Land fuhr //mhm// mit Bus hat man gesehen was mit den Kirchen alles geschieht //mhm// entweder sind die alten orthodoxen Kirchen verfallen, //mhm// oder es hatte Museen drin, oder Schuppen, Lagerräume, oder äh::: Schlittschuh(.)hallen, alles mögliche. //mhm// und ich dachte mein Gott (.) dass man das mit Kirchen so macht; //mhm// ist
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schon traurig //mhm// aber jetzt muss ich sagen ists bei uns ja auch so wir haben auch viel zu viele Kirchen mit denen wir nicht mehr wissen was machen und die nutzt man auch alle um; verkaufen und umnutzen °und so weiter° es ist also nicht viel anders aber damals hats mich doch noch recht betrüblich gestimmt. //mhm// (1) und in dem Russland ((räuspert sich)) habe ich auch eine andere Welt gesehen; (3) äh::::: Schlange stehen:: wegen (1) Bananen und so Zeug (.) also man (…) bekommen hat habe ich gemerkt ja man kann zwar in einen Brotladen und dort kriegt man Brot es gab haufenweise Brot //mhm// konnte man da mit einem Löffel dran drücken obs weich sei oder nicht, //@(.)@// und dann hat mans genommen oder nicht genommen, aber zuerst haben sie an der Kasse ein Brot zahlen müssen ich habe also das System noch nicht so genau gekannt //mhm// wenn ich mal in einen Laden bin ( ) wie geht jetzt das System? @nicht?@ //@(2)@// war es ganz anders als bei uns also zuerst geht man eieinen Bon holen für ein Brot und dann gehe ich in den Broten rumdrücken nehme ich das jetzt oder nehme ichs nicht, //mhm// danach gehe ich wieder zurück mit einem Brot oder mit einem Bon oder was (.) es war anders. und an teils Orten habe ich eben gesehen wie dort manchmal das Schlange stehen wenn irgendetwas kaufen will //ja// gut; das war auch neu (.) ((räuspert sich)) das ganze (.) Moskau das rote Zeug aso (1) °ah dort der Platz (.) und die grosse° der Gum oder wie das grosse Kaufhaus dort am Roten Platz der hat dann doch nicht so viel Zeug drin und von allem dasselbe //mhm// und dann hat man in Leningrad dasselbe Wasser getrunken und in Moskau unten auch genau dasselbe WaWasser M- Mineralwasser, man hat dort oben zuoberst äh immer dieselbe Eiskugel bekommen und in Moskau hatte die Eiskugel eine andere Farbe aber genau gleich geschmeckt //mhm// ( ) ganz anderes Zeug als bei uns bei jedem Essen hat man auch Vodka trinken müssen aber dafür gabs Kaviar zu jedem Anlass //mhm// ist einfach auch eine fremde Welt aber es ist //@(1)@// für 14 Tage geht das ja //@(2)@// ja ja; Thema 11: Reflexionen über das Klosterleben (1009-1102) 1009-1053 (7) °was soll ich jetzt ( ) ((räuspert sich)) meine Biografie ist das jetzt eigentlich; //mhm// also so (.) was ich etwa so gemacht habe (3) und warum ich ins Kloster bin, ah das wird auch immer gefragt das können sie eben nie so genau sagen; //mhm// weil das ist ein inneres Geschehen (1) äh (2) irgendwie läuft innerlich etwas ab (2) und als religiöser Mensch; in unserer (.) Sprache würden=wir sagen, man fühlt sich berufen; //mhm// und sagt danach einfach mal ja; //mhm// geht. //mhm// muss ich sagen. //mhm// anders
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kann ich=s nicht erklären //mhm// es war für mich nicht eine Weltflucht (.) //mhm// sondern schon schon mit zweiundzwanzig //mhm// (.) nicht //mhm// (2) will ich sagen; //mhm// und wenn ich jetzt äh schon jetzt bin ich fünfundzwan- dreissig Jahre im Kloster; (5) äh:::: ich äh ich ich muss sagen ich ich bin glücklich im Kloster @(2)@ ich kann das leider nicht //@(1)@// @(1)@ ich kann nicht ich mir gef- gefällt ((räuspert sich)) mir gefällt meine Aufgabe das ist etwas, //mhm// interessante Arbeit das brauche ich jetzt von meinem Typ her schon eine interessante //mhm// Aufgabe, //mhm// dann gefällt mir der Lebensstil so wie wir ihn handhaben der benediktinische Rhythmus und die benediktinische Ausrichtung //mhm// (3) das geordnete Leben, und das Bemühen irgendwo (5) ((schnauft aus)) dem Leben wirklich im Leben einen Sinn zu sehen //mhm// der einfach über das (1) Vordergründige hinausgeht; //mhm// was ich immer wieder suche //mhm// ist ist=es jetzt so //mhm// gibt’s jetzt diesen Gott //((räuspert sich)) mhm// wir leben nicht also ich lebe sicher nicht ohne Glaubenszweifel; das ist nicht einfach alles so wie die Kirche jetzt das vorgibt; //mhm// für mich man muss auch selber mit nachdenken //mhm// zu einer Erkenntnis kommen //mhm// und dann denke (.) ist es jetzt für mich auch so, oder nicht oder hoffe ich nur es sei so //mhm// also für mich ist es:: rein religiös eine ständige Suche (.) ein ständiges Bemühen (3) ich hoffe immer ich hoffe immer es ist so wie wir als Katholiken glauben. es gibt diesen Gott (.) hoffe ich (.) es gibt ein Leben nach dem Tod (.) hoffe ich //mhm// aber ich bin nicht sicher //mhm// aber ich äh von daher (.) ist die Herausforderung; die geistige (2) da:: es ist nicht einfach so //mhm// oder das immer Dranbleiben //mhm// das ist die eine Seite und die andere ist eben der Beruf; dort ist die Herausforderung natürlich (.) die Aufgabe auch noch da, //mhm// und das ganze Umfeld das stimmen muss dass man zufrieden ist, glücklich sein kann irgendwie müssen sie ja auch gute Beziehungen haben //mhm// in der Gemeinschaft selber //mhm// das ist für mich jetzt auch gegeben, von daher (.) bin ich fühle ich mich @am richtigen Ort@ //@(1)@// also i- für mich ist mein Leben jetzt eigentlich (2) ziemlich stimmig //mhm// (1) und der Weg ist bei mir halt relativ (1) äh nicht nicht es war nicht meine Art //mhm// also es ging ziemlich geordnet (.) zielstrebig irgendwohin; //mhm// ich habe nicht grosse Abbrüche oder Umwege oder retour und wieder nach vorn und dann die Irre und wieder hin und her //mhm// es ging äh:: bei mir ziemlich entschieden; //mhm// finde ich äh::: relativ ei- ich weiss nicht ob man das sagen kann relativ gerade einfach //mhm// da gibt’s sicher andere Geschichten //mhm// die die mehr suchen müssen //mhm// nicht //mhm// (2) aber es ist ein Leben für mich eben eine Möglichkeit ist von verschiedenen aber die durchaus (1) auch im Bereich des Möglichen liegt für uns //mhm//
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1053-1102 (7) und die ganze Frauenemanzipation ne, (.) also gut davon habe ich noch gar nicht gesprochen //@mmh@// wenn Sie sich jetzt schon darum kümmern //@(1)@// um so Männer Frauen (1) also /1) ich habe ich äh m- mein Leben ist jetzt extrem frauengeprägt //mhm// also wir haben selber entschieden; //mhm// wir sind unser eigener Chef //mhm// ich bin Chef von Männern //mhm// (3) ein Chef als Mann hatte ich jetzt eigentlich in meinem Leben während der Lehre, (1) und vielleicht ein Verwaltungsratspräsident wenn er sie auch noch Verwaltungsrätin sind also gut das ist dann nur am Rand das ist einfach, und sonst sind ist (1) äh::: sind wir Frauen selbständig; //mhm// ich habe eigentlich nie Schwieri- also n::: nie wirklich Männer unterordnen müssen in dem Sinn //mhm// dass es äh Kirche ist äh ist natürlich ganz //mhm// darüber rede ich lieber nicht; das ist natürlich in der Kirche ist es anders //mhm// in der Kirche ist es einfach mein=ich Männer Gott Gebot man hat die Männer also so ein paar zölibatäre Herren //mhm// es sei gottgewollt d- d- das müssen Sie dann auch ein bisschen anders sagen dass jetzt einfach nur die Männer dürfen und äh::: und eigentlich die Kirchen leiten; //mhm// das stimmt nicht. //mhm// ich bin überzeugt das ist ein Irrtum. //mhm mmhm// das ist ein Irrtum. //mhm// pf:: °also (.) gut° @(.)@ nein also das da bin ich obwohl ich selber für mich käme so etwas jetzt gar nicht infrage ich will nicht Lehrerin sein ich will nicht Priesterin sein ich will nicht einen Bühnenauftritt //mhm// das sind Bühnenauftritts- //mhm// Berufe //mhm// und da bin ich viel zu gehemmt ich habe viel zu viel Lampenfieber für den Bühnenauftritt //mhm// strebe ich so einen Beruf nicht @an@ weil mir das zu viel Nervenkraft braucht also Lampenfieber auszuhalten ist:: eine grosse Anstrengung //mhm// gut; also für mich kommts nicht infrage aber grundsätzlich muss ich sagen die Kirche es ist für mich (.) der grösste Irrtum oder die Kirche irrt in dieser Frage. //mhm// bin ich felsenfest überzeugt spielts keine Rolle ob wir Mann oder Frau sind um an den Altar zu stehen einen Rock zu tragen und zu °köcheln° //mhm// nicht (.) also sie machen ganz weibliche Aufgaben sie wandelt wandeln tut eine Frau eine Frau gebärt Neues //mhm// nicht der Mann (.) nicht? Und und äh:: dann in der Messefeier wandelt man etwas; //mhm// es ist so weiblich //mhm// aber es dürfen nur die Männer machen //mhm// oder Kranke segnen; das ist doch ein Frauenberuf wie nur etwas was macht denn eine Mutter die ganze Zeit? //mhm// das Kind trösten und Kranke pflegen und segnen //mhm// das dürfen nur die Männer //mhm// das ist doch verkehrt. also es ist einfach meine Überzeugung //mhm// aber vielleicht kommts in der Kirche auch mal noch so weit (1) es braucht halt Zeit ((räusper)) //mhm// also ich denke schon als (1) pf:: (.) obwohl dort haben ja die Klöster einiges geleistet also jetzt gerade die Kongregationen haben in der Frauenbildung Frauenemanzipation in
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den letzten 150 Jahren Wesentliches geleistet. sie haben die die Frauen ausgebildet; Lehrerinnen; das sind doch wichtigste Funktionen das sind ja die Erzieherinnen der der jungen Leute //mhm// oder Krankenschwestern all das; //mhm// ich denke dadurch haben die Klöster einerseits sehr viel getan in der Frauenemanzipation und andererseits (.) sind sie in dem männergeprägten Gefüge der katholischen Kirche und bleiben einfach immer die Blöden. (.) nein nicht alle aber mh::::::: aber da muss man einfach manchmal selber überlegen; //mhm// und nicht immer nur (.) das übernehmen was die Kirche oder wer auch immer (.) was die offizielle Lehre ist, man muss selber überlegen ob das überhaupt stimmig ist und ich meine nein. (4) hätten Sie gerne einen Kaffee?
Gender Studies Sabine Hark, Paula-Irene Villa (Hg.) Anti-Genderismus Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen Oktober 2015, 264 Seiten, kart., 26,99 €, ISBN 978-3-8376-3144-9
Yvonne Franke, Kati Mozygemba, Kathleen Pöge, Bettina Ritter, Dagmar Venohr (Hg.) Feminismen heute Positionen in Theorie und Praxis 2014, 408 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2673-5
Mariacarla Gadebusch Bondio, Elpiniki Katsari (Hg.) ›Gender-Medizin‹ Krankheit und Geschlecht in Zeiten der individualisierten Medizin (unter Mitarbeit von Tobias Fischer) 2014, 212 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2131-0
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Gender Studies Mike Laufenberg Sexualität und Biomacht Vom Sicherheitsdispositiv zur Politik der Sorge 2014, 368 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2841-8
Erik Schneider, Christel Baltes-Löhr (Hg.) Normierte Kinder Effekte der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz 2014, 402 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2417-5
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