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German Pages [344] Year 1999
V&R
HELMUT UMBACH
In Christus getauft von der Sünde befreit Die Gemeinde als sündenfreier Raum bei Paulus
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Herausgegeben von Wolfgang Schräge und Rudolf Smend 181. Heft der ganzen Reihe
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Umhach, Helmut: In Christus getauft - von der Sünde befreit: die Gemeinde als sUndenfreier Raum bei Paulus / Helmut Umbach. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1999 (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments; H. 181) Zugl.: Göttingen, Univ., Diss., 1992 ISBN 3-525-53865-0
© 1999 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschünt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielföltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen.
Vorwort εί ης εν Χριστώ^ καιι/ή κ,τίσις Wie man Pfarrer wird - das habe ich nicht zuletzt im Studium der Theologie gelernt. Wie man Pfarrer bleibt - dazu bedurfte es angesichts vielfaltiger und langer Gemeindeerfahrungen ebenfalls vieler Theologen: Seelsorger, Vorbilder, Traumdeuter und Schriftgelehrter im besten Sinne des Wortes, die dem Pfarrer halfen. „Wachstum im Glauben wird für ihn bedeuten, die Konsequenzen des Wortes, das er zu verkündigen hat, bereitwillig zu übernehmen" (M. Josuttis, Der Traum des Theologen, München 1988, S. 209). Diese exegetische Arbeit wurde - angestoßen durch die Pfarrstellenteilung mit meiner Frau - angeregt durch meinen damaligen Propst Prof. Dr. Rudolf Gebhardt (f), Kassel. Ihm ist sie deshalb auch gewidmet. Die vorliegende Untersuchung ist die leicht überarbeitete Dissertationsschrift, die der Theologischen Fakultät der Georg-AugustUniversität 1992 vorgelegen hat. Eingefügt wurde lediglich ein kleiner Exkurs zum Stichwort αμαρτάνειν, der meine These nur präzisiert, sowie die Bearbeitung der seit 1992 erschienenen und zum Thema relevanten Literatur. Dank gilt sodann der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, die mich im Sommer 1991 von den Pflichten des Pfarramts beurlaubte, so daß ich den Text im wesentlichen verfassen konnte. Besonderer Dank gebührt hierbei meinem „Doktorvater" Herrn Prof. Dr. Dr. Hartmut Stegemann, der mir nicht nur die Brücken baute zwischen meinem Studium 1972—1977 und der gegenwärtigen Forschung, sondern auch mit Enthusiasmus, Freiheit und Beharrlichkeit zugleich ein neuer Lehrer wurde. Herrn Prof. Dr. Hans Hübner, dem Zweitkorrektor, danke ich für manchen wichtigen Hinweis und manche Ermutigung.
6
Vorwort
Zu danken ist außerdem Herrn Pfr. Reinhold Hornung und Herrn Dirk Stoll für das Tippen des Manuskripts und die computermäßige Bearbeitung der Textgrundlage, ebenso Frau Dr. Annette Steudel und Herrn Alexander Maurer, die die Korrekturen gelesen haben. Mein Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Wolfgang Schräge und Herrn Prof. Dr. Rudolf Smend D. D. für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe der FRLANT, sowie Herrn Dr. Arndt Ruprecht und Frau Renate Hartog vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. Weihnachten 1997
Helmut Limbach
Inhalt A
Einleitung
13
Das Gegenstandsinteresse
15
В
Hauptteil
21
1.
Forschungsgeschichte 1.1 Das protestantische Vorverständnis: Martin Luther 1.2 Die Problemanzeige durch Paul Wernle (1897) 1.3 Die Entsündigungstheorie von Hans Windisch (1908) 1.4 Das Problem der Ethik und der SündenbegrifF bei Rudolf Bultmann (1924) 1.5 Bernhard Poschmann: PAENITENTIA SECUNDA (1940) 1.6 Günter Röhser: Metaphorik und Personifikation der Sünde (1987) 1.7 Ingrid Goldhahn-Müller: Die Grenze der Gemeinde (1989)
25
2.
Textexegesen zu „Fehlverhalten" und „Hamartia" 2.1 Methodische Vorbemerkungen zur verwendeten Begrifflichkeit 2.2 1 Thess 4,1-8: Heiligung als Enthaltung von Unzucht und Habsucht 2.2.1 AI AM ΑΡΤΙ AI und der Zorn Gottes: Tun und Ergehen der Mitchristen (1 Thess 2,16) 2.2.2 Lob der Gemeinde und christliche Paränese angesicht der Parusie des Kyrios als Gliederungsstruktur des 1 Thess
25 38 39 45 48 51 57 65 65 67
68
70
Inhalt
2.2.3
2.3 2.3.1
2.3.1.1 2.3.1.2 2.3.2 Exkurs: 2.3.3 2.4 2.4.1
2.4.2
Exkurs:
2.5
2.6 2.7
Warnung vor ΠΟΡΝΕΙΑ und ΠΛΕΟΝΕΞΙΑ als Konkretion des ΑΓΙΑΣΜΟΣ (1 Thess 4,3-8) Fehlverhalten und Hamartia in Gal Die Verurteilung des falschen Verhaltens des Petrus in Antiochien durch Paulus (Gal 2,11-21) Die Benennung des Fehlverhaltens in Gal 2,11-14 Die grundsätzliche Frage: Christus Diener der Sünde? Gal 2,15-21 ΝΟΜΟΣ und ΑΜΑΡΤΙΑ in Gal 3 und 4 . . .
87 90
OfFenbarungsmittler im zeitgenössischen Judentum
98
76 81
84 85
Verfehlungen von Christen: Gal 6,1fr 1 Kor 5,1-6,20: Unzuchtsfälle und Rechtsstreitigkeiten in der Gemeinde Zu den anthropologisch-soteriologischen Implikationen: INA TO ΠΝΕΥΜΑ ΣΩΘΗΙ EN THI Η МЕР AI TOY ΚΥΡΙΟΥ (1 Kor 5,5b) Zu den ekklesiologisch-kultischen Implikationen: INA ΑΡΘΗΙ EK ΜΕΣΟΥ ΥΜΩΝ О TO ΕΡΓΟΝ ΤΟΥΤΟ ΠΡΑΞΑΣ (1 Kor 5,2b)
118
Institutionalisiertes Handeln der Gemeinde bei Matthäus an Gemeindegliedern mit Verfehlungen
120
1 Kor 8-10: Sakrament und Ethik. Der Umgang mit Götzenopferfleisch und das warnende Beispiel Israels 1 Kor 11,17-34: Tod und Krankheit in der Gemeinde als Strafe für Fehlverhalten 2 Kor 12,19-13,10: Der Beweis der Vollmacht des Apostels zur Erbauung der Gemeinde
102 106
114
136 147 155
Inhalt 2.7.1
2.7.2 2.7.2.1 2.7.2.2 2.7.2.3 2.7.3
2.8 2.8.1 2.8.2
2.8.2.1 2.8.2.2 2.8.2.3 2.8.3 2.9 2.9.1 2.9.2 2.9.3 2.10
Literarkritische Untersuchungen zur Stellung von 2 Kor 12,19-13,10 im Briefcorpus des Paulus Die Argumentationsstruktur von 2 Kor 12,19-13,10 J)ie Drohung des Apostels, nicht zu schonen: 2 Kor 12,19-13,4 Mahnung zur Selbstprüfung: 2 Kor 13,5-9 Der Zweck des apostolischen Schreibens: ΟΙΚΟΔΟΜΗ (2 Kor 13,10) Die Deutung des Ausdrucks „П POH M APT Η KOT E Σ KAI ΜΗ ΜΕΤΑΝΟΗΣΑΝΤΕΣ^' vor dem Hintergrund und Ziel des Schreibens 2 Kor 2,5-11: Die Erledigung eines Streitfalls in Korinth 2 Kor 2,5-11 im Rahmen des „Versöhnungsbriefes" ΜΕΤΑΝΟΙΑ der Gemeinde, ΕΠ ITIMI A durch die Gemeinde, Vergebung durch die Gemeinde: Belege für Exkommunikation und Rekonziliation „postbaptismaler Sünder"? Die ΜΕΤΑΝΟΙΑ der Gemeinde Die ΕΠ ITI MI A durch die Gemeinde Vergebung, Tröstung, der Erweis von Liebe durch die Gemeinde Die in allen Dingen dem Apostel gehorsame Gemeinde und das vergebliche Wirken Satans. Phil 2,3; 3,2; 4,2: Paränese Fehlverhalten in den paränetischen Imperativen (Phil 2,3; 3,2; 4,2) EN ΧΡΙΣΤΩΙ EINAI und Paränese (Phil 2,5) Parusieerwartung und Paränese (Phil 4,5) Rom 5,12-21: Adam und Christus. Die Macht der Sünde und die größere Macht der Gnaxie ..
9
158 160 161 163 166
166 170 172
174 174 175 178 180 182 185 190 192 196
10
Inhalt
Exkurs: 3.
AM APT ANEIN, ΑΜΑΡΤΙΑ
ΑΜΑΡΤΩΑΟΣ
und
Textexegesen zur Ekklesiologie des Paulus 3.1 Methodische Vorbemerkungen zur Erhebung der paulinischen Ekklesiologie 3.2 2 Kor 5,17-21: Die Gemeinde „in Christus" als „neue Schöpfung" 3.2.1 EN ΧΡΙΣΤΩΙ: Tradition und Interpretation in 2 Kor 5,19-21 3.2.1.1 EN ΧΡΙΣΤΩΙ EINAI in Gal 3,26-28 3.2.1.2 EN ΧΡΙΣΤΩΙ in 2 Kor 5,21 3.2.2 EN ΧΡΙΣΤΩΙ und ΚΑΙΝΗ ΚΤΙΣΙΣ 3.2.2.1 ΚΑΙΝΗ ΚΤΙΣΙΣ als Folge des Taufgeschehens (2 Kor 5,14ίΤ) 3.2.2.2 ΚΑΙΝΗ ΚΤΙΣΙΣ und die Konsequenzen für die paulinische Ekklesiologie (2 Kor 5,17).. 3.2.3 ΚΑΙΝΗ ΚΤΙΣΙΣ: Ablösung der ΑΜΑΡΤΙΑ durch die ΔΙΚΑΙΟΣΥΝΗ ΘΕΟΥ EN ΧΡΙΣΤΩΙ 3.3 Röm 6,1-23: Die Taufe „in Christus": Der Hamartia gestorben 3.3.1 Der Indikativ des Heils: Röm 6,1-11 3.3.1.1 Röm 6,3f: Tradition und Interpretation
207 215 215 218 218 219 222 228 228 230
233 234 238 239
Exkurs:
Mysterienreligionen und christliche Taufe
244
3.3.1.2 3.3.1.3
Röm 6,8: Gestorben mit Christus Röm 6,11: Die Hamartia als Vergangenheitsgröße Der Imperativ des neuen Dienens: Röm 6,12-23 Röm 6,14: ΑΜΑΡΤΙΑ ΓΑΡ ΥΜΩΝ OY ΚΥΡΙΕΥΣΕΙ Röm 6,18: Nicht Diener der Sünde, sondern Diener der Gerechtigkeit ΣΩΜΑ ΧΡΙΣΤΟΥ bei Paulus (1 Kor 12) . . . Zur Herkunft der Í7Í2MA ΧΡ/ΣΤΟΚ-Vorstellung
248
3.3.2 3.3.2.1 3.3.2.2 3.4 3.4.1
249 252 252 254 258 260
Inhalt
3.4.2 3.4.3 4.
Die Eingliederung in den Christusleib durch die Taufe Sündenvergebung durch Taufe und Abendmahl?
Textexegesen zur Anthropologie des Paulus (Rom 7 und 8) 4.1 Methodisch-systematische Vorbemerkungen zur Exegese von Rom 7 und 8 4.2 Rom 7: Der fleischliche Mensch: im Gesetz der Hamartia gefangen 4.2.1 Rom 7,l-€: Die Gegenwart: Freiheit vom Gesetz 4.2.2 Rom 7,7-25: Rückblick in die Vergangenheit: Das Gesetz der Sünde in mir 4.2.2.1 Rom 7,7-13: ΝΟΜΟΣ, ΕΝΤΟΛΗ und ΑΜΑΡΤΙΑ 4.2.2.2 Rom 7,14-25: Die Klage des Versklavten 4.2.2.3 Die Bedeutung des ΝΟΜΟΣ für das Leben EN ΧΡΙΣΤΩΙ 4.3 Rom 8: Der geistliche Mensch: in Christus zur Kindschaft befreit 4.3.1 Rom 8,1-11: Fleisch und Geist 4.3.1.1 Rom 8,3: Die „Sendungsformel" 4.3.1.2 Rom 8,3d ff: Tradition und paulinische Interpretation 4.3.2 Rom 8,12-17: Durch Gottes Geist: Gottes Kinder 4.3.3 Rom 8,18-30: Der Geist als ΑΠΑΡΧΗ angesichts der Zukünftigkeit der Erlösung 4.3.3.1 Rom 8,19-27: Das Seufzen der ganzen Schöpfung und das Seufzen des Geistes 4.3.3.2 Rom 8,28-30: Die Gegenwart des Eschatons... 4.3.4 Röm 8,31-39: Die Gegenwart des Heils „in Christus"
11
261 263 265 267 268 268 271 277 279 282 293 293 294 295 298 302 302 306 307
12
С
Inhalt
Schlußteil
311
Ergebnisse
313
Literaturverzeichnis
319
Autorenregister
341
Teil A
Einleitung
Das Gegenstandsinteresse Wer den gegenwärtigen ökumenischen Dialog aufmerksam verfolgt, merkt sehr schnell, daß die wichtigsten Fragen des Dialogs hinsichtlich der früheren gegenseitigen Lehrverurteilungen um einige zentrale Hauptthemen kreisen: Einmal sind es „Evangelium, Sakramente und Amt"^, bei denen der Ökumenische Arbeitskreis Evangelischer und Katholischer Theologen (ÖAK) und die Gemeinsame Ökumenische Kommission zur Überprüfung der Verwerfungen des 16. Jahrhunderts (GÖK) das Ringen um ein gemeinsames Grundverständnis des Evangeliums und der Gabe der Sakramente betonen und dabei wissen, daß beide Seiten auf eine - gemeinsame - gründliche Exegese, besonders der neutestamentlichen Schriften angewiesen sind^. Zum anderen ist es der Kirchenbegriif selbst, der in diesem ökumenischen Annäherungsprozeß neu hinterfragt werden muß, wenn denn wirklich die Grundlage der Kirche bzw. der Kirchen mit diesen Themen zur Debatte steht, so wie z. B. die reformatorische Tradition einen inhaltlich qualifizierten Rahmen absteckte mit ihrer Behauptung, die Rechtfertigung des Sünders durch Gott in Jesus Christus sei der „articulus stantis et cadentis ecclesiae"'^. Damit ist deutlich, wie die ' K . LEHMANN u n d E . SCHLINK, Eveuigelium.
^K. LEHMANN und W. PANNENBERG, Lehrverurteilungen, S. 29f. Vgl· dazu auch U. WILCKENS, Schriftauslegung, S. 13-71. ®Vgl. H. CONZELMANN, Rechtfertigungslebre, der auf S. 206 die Rechtfertigungslehre eils den „articulus stantis et cadentis theologiae" bezeichnet. Dieser Gedanke bildet nach G. Ebeling daher auch einen Hauptgesichtspunkt bei dem gewählten Aufbau seiner Dogmatik (G. EßELING, Dogmatik, S. 72): „Das Thema Sünde, in dem es ja шп nichts anderes geht, cds den Menschen in seiner wahren Konkretion zur Sprache zu bringen, wird nicht an nur einer Stelle der Dogmatik behandelt und so erledigt, sondern ist ein Grundthema, das die gesamte Dogmatik durchzieht". Bezeichnenderweise wird dieses Thema dann in drei Hauptaussagen entfîdtet, nach denen sich die Dogmatik gliedern soll, es sind „drei verschiedene, aber untrennbeir zusammengehörende Situationsbestimmungen in bezug auf den Menschen als Sünder: im Hinblick auf sein durch die Sünde nicht aufgehobenes Geschöpfsein inmitten der Geschöpflichkeit der Welt vor Gott dem
16
Das
Gegenstandsinteresse
reformatorische Interpretation der paulinischen Rechtfertigungslehre erneut im Zentrum der ökumenischen Debatte steht und zum Zustandekommen eines wirklichen Dialogs besonders die paulinischen Texte selbst gehört werden müssen. Vor diesem Hintergrund gegenwärtigen Fragens bekommt das Thema dieser Arbeit eine erhebliche Relevanz, wird doch hier im Zusammenhang der paulinischen Rechtfertigungslehre neu nach dem Sündenbegriif des Paulus zu fragen sein. Wie notwendig die neutestamentliche Arbeit für gegenwärtiges ökumenisches Fragen ist, zeigt allein schon J. Baurs kritische Rückfrage: „Einig in Sachen Rechtfertigung?", wenn er dem ÖAK hinsichtlich der neu testamentlichen Begrifflich keit ein „beliebige[s] Verhältnis zur biblischen Botschaft" vorwirft^. Ist der Gerechtfertigte noch ein Sünder im Sinne eines dialektischen Verständnisses, oder ist - besonders z. B. mit den Argumenten von Röm 5,8 und 6,2-4 u. a. - die „Sünde" für den getauften Christen grundsätzlich eine Vergangenheitsgröße geworden? Das ist die zentrale Frage dieser Arbeit. Dies muß sowohl in anthropologischer Hinsicht entfaltet werden (der Christ einerseits als καινή κτίσις und andererseits Fehlverhalten von Christen) als auch in seiner Bedeutung für die Ekklesiologie {σώμα
Χρίστου
und εν Χριστψ
είναι).
D a b e i werden notwendiger-
weise neben den paulinischen Tauf- auch bestimmte Abendmahlsaussagen entfaltet werden müssen (1 Kor 10 und 11). Das heißt, es kommen neutestamentliche Themenkreise zur Sprache, die für die heutige Diskussion um „Taufe, Eucharistie und Amt"® in ihrer kritischen Rückfrage schlicht unentbehrlich sind, wenn denn im ökumenischen Schöpfer, femer im Hinblick auf sein die Sünde nicht bagatellisierendes, sondern allererst großmachendes Versöhntsein durch Christus mit Gott inmitten der von ihrer Versöhnung so wenig ahnenden unversöhnten Welt; schließlich im Hinblick auf sein Unterwegssein in der Welt als Gerechter und Sünder auf das Ziel und Ende hin, wo durch den Tod die Sünde aufgehoben wird und alles zur Vollendung kommt" [Hervorhebungen vom Verfasser]. Ob der natürliche Tod des Menschen es ist, der die Macht der Sünde abschließt, oder ob es der Tod Christi ist, in den der Mensch hineingetauft, der Sünde bereits gestorben ist (Röm 6,2), wie Paulus ja behauptet, wird im Rahmen dieser Arbeit exegetischzu klären sein. Dies dürfte dcum erhebliche Relevanz für eine christliche Dogmatik haben. ^J. BAUR, Einig, S. 69: Der neutestamentliche „Sachverhalt". ®Vgl. das sogenannte „Limapapier": Taufe, Eucharistie und Amt.
Das Gegenstaadsinteresse
17
Dialog das Prinzip der zu erstrebenden Einigkeit in der Interpretation neutestamentlicher Schriften als Grundlage der Einheit der Kirchen auch nur annähernd gelten soll. Das heißt aber auch, daß die neutestamentliche Wissenschaft in ihrer Relevanz für heutiges systematisches Denken im ökumenischen Horizont in Wahrheit aktueller denn je ist, bilden die ihrer Arbeit zugrunde liegenden Texte doch das „letzte" gemeinsame Forum für kirchliche Fragen im vollen Sinne der „Katholizität" der Kirche einerseits, und andererseits sind sie als Denkvoraussetzung des „sola scriptum" der Reformatoren hermeneutisches Prinzip bei der Frage nach dem Wesen der Kirche gerade auch im „ökumenischen Zeitalter"®. Wenn man diesen Horizont vor Augen hat, ist es jedoch sachlich notwendig und ausdrücklich zu betonen, daß das Gegenstandsinteresse dieser Arbeit^ gerade auch, wenn sie im aktuellen systematischen Fragehorizont steht, um so mehr und um so strenger rein historisch sein muß, nicht nur, um die Gefahr einer vorschnellen und dann auch oft falschen „Vermarktung" dieser Texte abzuwehren (diese Gefahr besteht gerade auch bei einem allzu eilfertigen sogenannten ökumenischen Interesse^), sondern auch um der „alten" Texte willen: nur so können wir den paulinischen Texten in ihrer Zeit und aus ihrer Zeit so nahe wie möglich kommen, wobei ihre „Fremdheit" für den heutigen Theologen kein falsches Ärgernis sein darf, sondern vielleicht gerade eine neue Chance des Verstehens bedeuten kann®. Außerdem ist eine neutestamentliche Arbeit gerade in der Beschränkung z. B. auf die paulinischen Texte genau bei ihrer Sache, wenn sie nämlich nicht der Versuchung erliegt, vorschnell etwa eine „Religion des Neuen Testaments" zu konstruieren. Gerade in ihrer Selbstbeschränkung kann sie als rein historisch fragende und analysierende Arbeit auch anderen eine eigenständige Hilfe und eine Antwort mit eigenem Gewicht sein. Das bedeutet für diese Arbeit: Es soll untersucht werden, ob es einen ganz spezifisch paulinischen Begriff von Sünde gibt, der mehr bzw. etwas anderes meint als die Summe menschlichen Fehlverhaltens, sondern vor dem Hintergrund der paulinischen Rechtfertigungslehre zu sehen ist®. ®Vgl. die Bemühungen in: verurteilungen, S. 29ff.
K . LEHMANN
und
''VgL J. BAXJR, Rechtfertigung, S. 69.
'Vgl. R. BULTMANN, Exegese, bes. S. 144ff.
W . PANNENBERG
[Hrsgg.], Lehr-
18
Das Gegenstandsinteresse
Bevor also z. B. Unterschiede zum klassischen griechischen Sinn von αμαρτία^ zu alttestamentlichen Sündenvorstellungen und zu den Sündenaussagen der übrigen neutestamentlichen Schriften (etwa der Johannesbriefe und des Hebräerbriefs) und anderen zeitgenössischen (auch nachkanonischen altkirchlichen) Texten aufgewiesen werden, soll versucht werden, diese Frage möglichst „paulusimmanent", also aufgrund der heute unumstritten als „echt" geltenden Briefe des Corpus Paulinum zu untersuchen, ergo den speziellpauUnischen Sündenbegriff zu entwickeln. Wenn es z. B. richtig sein sollte, daß ή αμαρτία bei Paulus eine Größe wäre, die ¿1/ Χριστψ grundsätzlich (und für immer) überwunden ist, dann stellt sich nicht nur die Frage nach der Reinheit bzw. Heiligkeit der Gemeinde {σώμα Χρηστοί)-Aussagen, σύι/-Aussagen; vgl. Rom 6; 1 Kor 12; aber auch 1 Kor 10, 1 Kor ll,17ff), also der Ekklesiologie, sondern auch die Frage nach der Reinheit bzw. Heiligkeit der Christen selbst, also der Anthropologie (Wertung von Fehlverhalten bei Christen 1 Kor 5.6; Gal 2,11-21; Gal 6,lff, aber auch die Tri/eü/xa-Aussagen 1 Kor 6,17ff; Röm 8). Dabei dürften anthropologische Aussagen nicht in einem existenzphilosophischen Sinn aus sich selbst heraus, sondern nur in ihrer Beziehung zu ekklesiologischen Aussagen zu interpretieren sein und umgekehrt, d. h. hier werden neben den kv Χριστψ - und den ττι/εϋμο;-Aussagen (1 Kor 6; Röm 8) auch die paulinischen Imperative zu berücksichtigen sein (etwa Röm 6,llff u. a.). Bedeuten sie als Mahnung eo ipso schon, daß Fehlverhalten vorliegt (z. B. Röm 6), oder ziehen sie lediglich die ethische Konsequenz aus einer neuen Seinsbestimmtheit? Andererseits gibt es eindeutige Texte, in denen Paulus nun doch ganz konkret von Fehlverhalten von Christen reden muß, und er tut dies mit Leidenschaft, weil es seiner Meinung nach den Bestand der christlichen Gemeinde bedroht. Wie benennt er dann aber dieses Fehlverhalten? Nennt er es αμαρτία oder anders? Wie ordnet er andere Begriffe (z. B. παράπτωμα, αμάρτημα) seinem Begriff von αμαρτία zu? Sind sie identisch oder (graduell) unterschieden? Gibt es für Paulus überhaupt einen „sündigen Christen" im Sinne 'Vgl. zu der FVage, ob und wie die paiilinischen Rechtfertigungsaussagen eine speziell paulinische Weiterentwicklung vorpatilinischer Taufaussagen bilden: U . SCHNEIXE, Gerechtigkeit, bes. S. lOOff.
Das Gegenstandsinteresse
19
der späteren altkirchlichen Traditionen oder einen „postbaptismalen Sünder", wie Ingrid Goldhahn-Müller ihn nennt^°, oder einen Christen als Sünder der frühreformatorischen lutherischen Rede des „simul iustus et peccator" , wie es schon in der allerersten der 95 Thesen Luthers bezeichnenden Ausdruck findet^^? Kennt Paulus überhaupt schon eine „Buße" getaufter Christen^ wie B. Poschmann behauрь tet^^, oder hatte er diese noch gar nicht im Blick? Und wenn er hier und da von μετάνοια redet, wie ist dies zu verstehen? Im Sinne des späteren katholischen BußbegriiFs mit dem Ziel der „reconciliatio"? Wie argumentiert Paulus, wenn er Christen in der Gemeinde z. B. in Korinth - ermahnt? Ist nicht dagegen für Paulus die christliche Gemeinde ein Raum, in dem es grundsätzlich keine Einflüsse der αμαρτία mehr gibt? Wie entsprechen sich Anspruch und Erfahrung? Wie geht Paulus mit beidem um? Als „Gegenprobe" gleichsam ist schließlich zu fragen, wie sich dazu die vereinzelt zu findenden Redewendungen von αμαρτάνειν verhalten: In welchem Zusammenhang sind sie zu verstehen? Können sie als Belege für die These vom „sündigen Christen" dienen oder nicht? Mit diesem ersten Fragehorizont sei das Gegenstandsinteresse und das Vorverständnis umrissen, mit dem die paulinische Literatur erarbeitet und analysiert werden soll.
'°Vgl. I. GOLDHAHN-MÜLLER, Grenze. ''Vgl. M. LUTHER, Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum. '^B. POSCHMANN, Paenitentia secunda.
Teil В
Hauptteil
Im Hauptteil der Arbeit soll versucht werden, in vier Schritten einen Weg nicht nur durch die paulinischen Texte, sondern auch durch die Fülle des Materials der Interpretationen zu gehen: In einem ersten Schritt sollen die wichtigsten Auffassungen der jüngeren Forschung, insofern sie die Fragestellung dieser Arbeit berühren, dargestellt, hinterfragt und kritisch gewürdigt werden. Im zweiten Schritt sollen die eigenen Ansätze und die Methode der Arbeit erörtert und dann durchgeführt werden: Oft werden zur Paulusinterpretation die paulinischen Textbefunde entweder quer durch die Briefe herangezogen, ohne Rücksicht auf einen eventuellen „Gedankenfortschritt" im Lauf der Entstehungsgeschichte der verschiedenen Paulusbriefe^, oder es wird ein Brief oder eine Briefaussage als vermeintlicher „Schlüssel" für die gesamte Paulusliteratur verwendet, ohne die „Schattierungen" wahrzunehmen, die die jeweilige Einzelaussage modifizieren könnten^. Um den paulinischen Sündenbegriff bzw. seine Entwicklung zu verfolgen, muß die paulinische Literatur zunächst historisch-chronologisch durchmustert werden (1 Thess; Gal; 1.2 Kor; Phil; Phlm; Röm)^. Es wird sich dabei erweisen, ob im relativ „späten" Römerbrief^, der ja einen sysiemaiiscÄ durchreflektierten Sündenbegriff aufweist (Kap. 5-8), Erfahrungen aus den Gemeinden in Thessalonike, Galatien und Korinth zu einer Abänderung bzw. Korrektur oder einer Verfeinerung bzw. Modifizierung der dort gebrauchten theologischen Voraussetzungen und Gedanken geführt haben^. Auf diese Weise wird jedenfalls ausgeschlossen, daß eine bestimmte Methode ein bestimmtes „Ergebnis" präjudiziert. Nach diesen Begriffsbestimmungen soll dann in einem dritten Schritt sozusagen eine systematische „Gegenprobe" an Hand von Textexegesen zur Ekklesiologie des Paulus erfolgen (2 Kor 5,17ff und Rom 6), also eine Analyse der kv Χρλστ^-Aussagen, der συν Χρι-
' Z . В . В . POSCHMANN, siehe K a p . 1.5, o d e r a u c h H. WINDLSCH, s i e h e K a p . 1.3.
^Extrem: G. RÖHSER, siehe Kap. 1.6. ®Vgl. die einschlägigen Einleitungen, bes. W. G. KÜMMEL, Einleitung. ^Vgl. dcizu die im wesentlichen bis heute gültige These von G. BoRNKAMM, Römerbrief, S. 123ff. ®Zmn Thema „Gesetz" hat Hans Hübner diesen Vergleich zwischen Gal und Rom durchgeführt: H. HÜBNER, Gesetz.
24
Prolegomena
στί^-Aussagen (mit Hinweis auf den Terminus σώμα Χριστού) sowie der Taufaussagen insgesamt, besonders in Rom 6. Im vierten Schritt soll ein anthropologischer Teil in der Analyse von Rom 7 und 8 (einschließlich der übrigen Pneuma-Aussagen) die Texte vom „Fehlverhalten" von Christen auf ihre systematischen Denkvoraussetzungen hin überprüfen. Der Schlußteil schließlich wird die in diesen vier Denkschritten gewonnenen Ergebnisse zusammenfassen.
Kapitel 1
Forschungsgeschichte 1.1
Das protestantische Vorverständnis: Martin Luther
Folgenreich für jede Paulusinterpretation im protestantischen Bereich bis heute ist Martin Luthers dialektisches Verständnis des Christen als eines „simul iustus - simul peccator" geworden, wie er es erstmals, gleichsam systematisch ausgearbeitet, in seinen Römerbriefvorlesungen von 1515/16 dargestellt hat^. Er entfaltet dieses Verständnis bei seiner Interpretation von Rom 7 als eines paulinischen Selbstzeugnisses, das exemplarisch für jeden „geistlichen" Menschen, d. h. Christen, gilt: ein und derselbe Mensch besteht als ganzer aus Fleisch und Geist, wegen der Gemeinschaft der Eigenschaften ist ein und derselbe Mensch geistlich und fleischlich, gerecht und Sünder, gut und böse. Der fleischliche, nichtgläubige Mensch ist dagegen néich Luther als ganzer Mensch vollständig Fleisch, weil er den Geist Gottes nicht hat: Propter
camem
est camalis
cit malum; propter Ideo Notandum,
spiritum
seu spiritum,
carnem
refertur.
totalis,
et camalis, Christi
et quieta etc. propter alterius
proprium
ad camalem
constat
Quod idem
conueniat,
sui homo
Bonus et malus. Sicut ea-
et viua, simul passa et beata,
communionem
ho-
seu ad
que ex contrariis
Ideomatum,
lustus et peccator,
simul morta
bonum.
idem vnus homo
tribuit vtraque contraria,
Sic enim fit communio
dem persona naturarum
et „operor"
Sed quia ex carne et spiritu
ideo toti homini veniunt.
et bonus, quia facit
„Volo" et „odio" ad spiritualem
„facio" autem
est spiritualis operata
est spintualis
Quod hoc verbum
minem
partibus
et malus, quia non est bonum in eo et fa-
Ideomatum,
Sed contrarissime
'M. LUTHER, Divi Pauli apostoli ad Romanos Epistola.
licet
simul neutri
dissentiat,
26
Forscbungsgesducbte
vt notum est. Нес autem in Camali
homine
nequaquatn habent
Vbi omnio totus homo caros est, quia non permansit
locum,
in eo spiritus
Def.
Während der Apostel exemplarisch für jeden Gläubigen als homo spirituali^, also dialektisch verstanden wird, Quia eadem persona est spiritus et caro'^, ist der Nicht-Gläubige omnino totus homo caro^, ja, er spürt noch nicht einmal den Widerspruch, weil er sich der Sünde ganz ergeben hat. Der geistliche Mensch Paulus dagegen redet nach Luther zwischen zwei Gesetzen, die einander feindlich zuwider sind: Ex quo patet se loqui vt pugilem
inter duas contrarias
vt victum,
lex membrorum
cui non repugnant,
dédit manus,
Qualis est in carnali homine.
ruire et deditum seruire.
Que repugnantia
carnali nequaquam
autem
Sed
meus
Immo indicat se vni legi se-
esse atque aliam repugnantem
Sed potius reluctari.
tia in homine
leges, Non
legi mentis.
auditur,
sibi sustinere
ac non ei
aut querela de
repugnan-
vt notum
esfi.
Der ganze Mensch, ein und dieselbe Person, steht also in dieser zwiefiichen Dienstbarkeit. Die entgegengesetzte Meinung, in Rom 7 rede Paulus nicht vom „gläubigen", sondern vom „vorgläubigen" Menschen aus der Sicht des Glaubens, die in diesem Jahrhundert grundlegend vertreten wurde von W. G. Kümmel^ und R. Bultmann® und dann auch zu ganz anderen Ergebnissen als Luther kommen muß®, wird von Luther als „trügerische Metaphysik und Philosophie des Aristoteles" bezeichnet, die behaupte, „die Sünde werde in der Taufe oder Buße gänzlich vernichtet"^". Ideo hoc verbum potissime noxiam
^M. ®М. ^M. ®M. ®M.
opinionem,
LUTHER, LUTHER, LUTHER, LUTHER, LUTHER,
Divi Divi Divi Divi Divi
eos offendit,
Apostolum
Pauli Pauli Pauli Pauli Pauli
apostoli apostoli apostoli apostoli apostoli
vt ruerent
in hanc falsam
seil, non in persona
ad Romemos ad Romanos ad Romanos ad Romanos г«1 Romanos
Epistola, Epistola, Epistola, Epistola, Epistola,
sua, Sed
S. S. S. S. S.
et
hominis
343. 339. 334. 345. 346.
^ W . G . KÜMMEL, R ö m e r 7. ' R . BULTMANN, R ö m e r 7.
®R. BULTMANN, Römer 7, S. 202: „Vielmehr: σάρκινος ist der Mensch gerade, weil er durch den Zwiespalt des WoUens und Tuns charakterisiert ist." LUTHER, Divi Pauli apostoli ad Romanos Epistola, S. 349.
Das protestantische VorverständnJs: M. Luther
27
camalis esse locutum, quem omnino nullum peccatum habere contra eius multipharias et apertissimas assertiones in multis Epistolis Que stulta opinio eo profecit nocentissime fraudis,
garriunt.
Vt Baptisati Vel ab-
soluti statim se sine omni peccato arbitrantes, securi fierent de adepta lustitia et manibus remissis quieti, nullius seil, conscii peccati, quod gemitu et lachrymis, lugendo et laborando expugnarent atque
expurgarent.
Igitur peccatum est in spirituali homine relictum ad exercitium tie, ad humilitatem superbie, ad repressionem
gra-
presumptionis^^.
Luthers Wortgebrauch zeigt, daß „Sünde" hier ganz im Sinn einer „Tatsünde" interpretiert wird, obwohl er auch den Machtaspekt der Sünde kennt, wie u. a. sein Beispiel vom Reiter zeigt: Sicut Sessor, dum equi non omni voto eius incedunt, ipse et non ipse facit, quod incedit taliter. quia non est equus sine eo пес ipse sine equo. Camalis autem vtique, quia consentit legi membrorum,
vtique ipse ope-
ratur, quod peccatum operatur. quia iam non tantum vnius sunt persone mens et caro, Sed etiam vnius voluntatis^^.
Hier ist bei Luther peccatum verstanden als Macht, die sich aber in der Tat des Menschen ausdrückt und für die er selbst verantwortlich gemacht wird. Das ist aber genau die Frage dieser Arbeit an Paulus: 1. Meint Paulus mit dem Begriff ά/χαρτ/α auch die Tat des Menschen, die sich konkret im sittlichen Fehlverhalten zeigt, oder betont er ganz einseitig den Machtaspekt der αμαρτία, der der Christ grundsätzlich nicht mehr unterworfen ist, sich gleichwohl nach außen hin gegen sie wehren muß und dies, eben weil er ihr nicht mehr unterworfen ist, auch erfolgreich tun kann? 2. Redet Paulus schon dialektisch vom Christen, so daß „Sünder" einerseits den Nichtchristen in seiner Totalität beschreibt, dem nichts hinzuzufügen ist, andererseits aber auch den Christen, der - dialektisch verstanden - einerseits in seiner Totalität Sünder ist (weil er fleischlich ist), andererseits in seiner Totalität Gerechtfertigter, d. h. Gerechter (weil er geistlich ist)? " M . LUTHER, Divi Pauli apostoli ad Romanos Epistola, S. 349f. '^M. LUTHER, Divi Pauli apostoli ad Romanos Epistola, S. 343.
28
Forscbimgsgescbicbte
Der Widerspruch des Nichtgläubigen richtete sich dann als der des Unversöhnten direkt gegen Gott als seinen Schöpfer, den er nicht anerkennt (Rom l,18ff) und dem er nicht die Ehre gibt, der Widerspruch des Gläubigen, Versöhnten (Röm 5,lif) jedoch bestünde dann weiter, nämlich mitten in ihm selbst, jedenfalls solange er noch irdisch ist. 3. Hätte dann z. B. H. J. Iwand recht, wenn er sagt: „In der Form der Paradoxic wird der dialektische Charakter der Offenbarung anerkannt und dem Rechnung getragen, daß es zwei Zeiten, zwei Aeonen sind, in denen sich das heilsgeschichtliche Geschehen abspielt" so daß die Gerechtigkeit des Christen bei Luther allein eschatologisch qualifiziert ist^'', Gerechtigkeit und Sünde also in je einem anderen „Wirklichkeitsbereich" gegeben sind^®? Es liegt also wesentlich an der Interpretation von Röm 7, ob man eine derartige Dialektik im Sinn eines Neben- bzw. Gegeneinanders zweier Bereiche mit Luther bei Paulus annehmen muß, oder ob nicht der Apostel, anders als Luther ihn interpretiert, von einem Nacheinander dieser Bereiche spricht. Andererseits: Wenn Paulus an dieser Stelle „einfacher" denkt als Luther, muß er sachlich dasselbe Problem an anderer Stelle lösen: Paulus nimmt ja Fehlverhalten von Christen zur Kenntnis und bekämpft es aufs schärfste. Bezeichnet er es aber mit dem Begriff J. IWAND, Rezension. '^H. J. IWAND, Glaubensgerechtigkeit; vgl. auch H. HÜBNER, Rechtfertigung. '®So H. HÜBNER, Rechtfertigung, S. 103, wo seine Unterscheidung zwischen personalem und ontischem Bereich zum Tragen kommt. H. HÜBNER meint zu Recht in seiner Interpretation von M. LUTHER, Divi Pauli apostoli ad Romanos Epistula, S. 269, 29ff: Quia dum sancti peccatum suum semper in conspectu habent et lustitiam a Deo secundum misericordiam ipsius implorant, eoipso semper quoque lusti a Deo reputantur. Ergo sibiipsis et in veritate Iniusti sunt, Deo autem propter hanc confessionem peccati eos reputanti lusti: Re vera peccatores. Sed reputatione miserentis Dei lusti: Ignoranter lusti et Scienter in lusti; peccatores in re, lusti autem in spe: „Die Übersetzung ,Sünder in Wirklichkeit' für ^•e vera peccatores' ist nicht ganz korrekt, denn ^-e vera' soll doch wohl den Bereich des Ontischen bezeichnen im Gegensatz zum Bereich des Personellen, beide Bereiche aber sind .Wirklichkeit' . . . " (S. 102f, Anm. 357). Vgl. dort auch zur eschatologischen Qualiñzieruiig der Gerechtigkeit bei Bultmann (S. 103).
Das protestantische
Vorverständnis: M. Luther
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αμαρτία, oder gebraucht er dann andere Termini, die zwar der Sache nach exakt die lutherische Dialektik beschreiben (Imperative!), die aber andererseits dem Apostel helfen, den Begrìfίaμaρτίa „rein" als MachtbegriiF, der für den Christen grundsätzlich eine Vergangenheitsgröße bezeichnet, zu erhalten? Bei dieser Frage setzt die neuere Forschung ein. Diese These einer Diastase zwischen Paulus und Luther wird in gewisser Weise gestützt von einer Arbeit, die zwar im protestantischen Raum bekannt, aber in ihren systematischen Konsequenzen keineswegs ausgewertet ist. Paul Althaus arbeitet in seiner Schrift „Paulus und Luther über den Menschen"^® an Hand von Rom 7 den Unterschied zwischen Luther und Paulus deutlich heraus. Anders als Adolf Schlatter^^, der vier Hauptunterschiede zwischen Paulus und Luther feststellt, nämlich: 1. Die Gerechtigkeit Gottes, die bei den Reformatoren in Gottes Erbarmen auf- und unterginge; 2. den Vorwurf des Anthropozentrismus gegen Luther; 3. Sünde als Gesinnung bei Augustinus und Luther (gegen Paulus); 4. der Christ bleibt bei Luther (anders als bei Paulus) Sünder und bedarf der täglichen Vergebung (simul iustus et peccator), konzentriert sich Althaus auf zwei Punkte: „den Menschen ohne Christus" und den „Christenmenschen"in paulinischer und lutherischer Sicht. Zentrum des Dissenses ist die Auslegung von Rom 7. Nach R. Bultmann, W. Kümmel u. a.^® redet Paulus vom „vorgläubigen" Menschen, nach Luther vom Christen. Danach liegen folgende Unterschiede offen zu Tage: ALTHAUS, Paulus.
SCHLATTER, Gottes Gerechtigkeit. ALTHAUS, Paulus, S. 31ff, 41ff, 50ff, 55. '®Dazu P. ALTHAUS, Paulus, S. 31f, dort ausführlich zur Literatur, und sein Ergebnis: „die Deutimg Augustine und der Reformatoren läßt sich exegetisch nicht halten" (S. 36).
30
ForscbuBgsgescbicbte
Der Mensch ohne Christus ist nach Paulus „Fleisch" und „Vernunft" oder „inwendiger Mensch, nach Luther ganz und gar „Fleisch"20. Er hat nach Paulus Freude an Gottes Gesetz (7,22), er haßt Gottes Gesetz nach Luther, nach Paulus wird er durch zwei einander widerstreitende „Gesetze" bestimmt (7,22ff), nach Luther durch das Fleisch. Die Not des Menschen in Rom 7 besteht darin: nach Paulus möchte er das Gute tun, tut es aber nicht, nach Luther wollte er lieber anders, wenn das Gesetz nicht wäre. Nach Paulus wird das wollende Ich durch das handelnde „geknechtet", nach Luther lähmt das heimliche, unwillkürliche Wollen das bewußt wollende und handelnde Ich. Nach Paulus hat das Ich keine Freiheit des Handelns, nach Luther keine Freiheit des Wollens. Nach Paulus kommt die rechte Gesinnung nicht zur Tat, nach Luther verbirgt sich unter der Tat böse Gesinnung. Der Widerstreit des Menschen ist nach Rom 7 bei Paulus ein Kampf im vorchristlichen Menschen zwischen „Vernunft" und „Fleisch", nach Luthers Interpretation ein Kampf im Christen zwischen „Geist" und „Fleisch". Die Frage nach der Erlösung aus dem Todesleib, der Ruf nach der Erlösung aus der Not von Kap. 7 hat bei Paulus Antwort gefunden in 8,2, durch das Christsein und die Verleihung des Geistes Christi; nach Luther ist es der Ruf des Christen nach dem leiblichen Tod und wird erst durch ihn erfüllt^^. Die Klarheit der Arbeit von Althaus liegt in der Analyse der Unterschiede zwischen Paulus und Luther, die Frage seiner Systematik der inneren Einheit beider trotz ihrer Verschiedenheit steht dagegen hier nicht zur Debatte^^. Im Zusammenhang dieser Arbeit ist nur folgende Zusammenfassung durch Althaus wichtig, insofern sie den „fremden" Paulus zeigt: „Beiden wurde die Rechtfertigung des Sünders das Herz ihres Glaubens und ihrer Verkündigung. Aber ihr innerer Weg war nicht der gleiche. ^"P. ALTHAUS, Paulus, S. 55.
^'Vgl. die Liste bei P. ALTHAUS, Paulus, S. 55. 22 л Vgl. dazu die Einführung und die Auseinandersetzung mit verschiedenen katholischen Interpretationen und mit P. WERNLE, A. RrrscHL, W. HERRMÜLLER u. a.
Das protestantische
Vorverständnis: M. Luther
31
Das Thema der Geschichte bei Paulus vor und nach seiner Bekehrung ist die Frage neich Christus, das Thema Luthers seine Sünde und Gottes Haltung zu ihm, dem Sünder . . . Dort: von Christus her zu der eigenen, vergeingenen Sünde. Hier: mit der eigenen, gegenwärtigen Sünde zu Christus! Paulus bricht angesichts Christi mit seiner Vergangenheit, die ihm jetzt zur Sünde wird. Luther empfängt die Freiheit von seiner Gegenwart, sofem sie Sünde ist. Paulus wird bekehrt, Luther getröstet . . . Paulus ist als Mann bekehrt, Luther als Kind getauft worden. Für Paulus bedeutet die Berufung und Versetzung in die Gemeinde Jesu die Wende seines Lebens; der Eintritt in die Kirche ist zugleich die entscheidende religiöse Befreiung. Luther lebt von Anfang an in der Kirche . . . und erlebt . . . , als Mensch in der Kirche, die große Not, aus der ihn dann die Erkenntnis des Evangeliums rettet, die Not der unüberwundenen Sündigkeit Neben diesem unterschiedlichen Blickpunkt wird nach Althaus noch ein Unterschied in der Beurteilung des „Fleisches" 2μϊ%&ι(λ^. Bei Paulus bedeutet es „Versuchlichkeit, die Möglichkeit der Sünde, bei Luther die Sünde selbst"^'*. So kommt Althaus zu dem Ergebnis: Bei der Frage nach dem Menschen ohne Christus komme die differenziertere Anthropologie des Paulus der Wirklichkeit näher, bei der Frage nach dem Christenleben komme es erst bei Luther zum „vollen Ausdruck der Wahrheit"^®. Der Maßstab des Urteils liege dabei in der „Erfahrung unser selbst vor Christus und in Christus"^®. Uber das Recht, Paulus und Luther sachlich zu vergleichen, soll hier nicht geurteilt werden, das kann auch nicht Thema dieser Arbeit sein, wir sehen nur eben auch hier, daß ein Sündenbegriff, der im systematischen Vergleich mehr oder weniger unreflektiert sowohl als „Tat-" wie als „Macht-"hegriS angelegt wird, mehr verschleiert als klärt. So schreibt z. B. Althaus: „An die Begierden ergeht die Absage (Gal 5,24), damit es nicht zur Sünde komme"^^. Von αμαρτία steht im Zusammenhang dieses Satzes bei Paulus nichtsl ALTHAUS, P a u l u s , S. 80f. ^^P. ALTHAUS, P a u l u s , S. 9 0 . ALTHAUS, P a u l u s , S. 95. ALTHAUS, P a u l u s , S. 95.
" P . ALTHAUS, Paulus, S. 87. Ganz ähnlich bei W. JOEST, Paulus, der S. 284 „zu einer kurzen Erwägung des pauliiiischen Sündenbegriffs" folgendes sagt: „Daß
32
Forscbungsgescbicbte
„Sünden" aber sind erst die offenkundigen Rückfalle in die „Werke des Fleisches", wie Paulus sie aufzählt Auch hier wird „Sünde" mit „ Tateünde" - ohne irgendeinen Textbeleg - ineinsgesetzt, obwohl es dann wieder richtig heißt: „die Triebe selber sind nicht schon Sünde und Schuld"^®. In dieser unterschiedlichen Beurteilung der Triebe liegt es begründet, daß nach Luther der Christ es nötig hat, „gegenüber seiner unvermeidlich fortdauernden Sünde"^° mit der Vergebung sich zu trösten, „während Paulus nur von vereinzelten Sünden einzelner Christen redet"^^ An dieser Stelle gehen auch bei Althaus historische und systematische Begrifflichkeit eine „unheilige Allianz" ein, die nicht der Klarheit der Begriffe dient, obwohl gleichzeitig bei aller Begriffsunklarheit in der Sache genau das festgestellt wird, was sich diese Arbeit zum Ziel gesetzt hat: zu zeigen, daß bei Paulus der Christ nicht mehr unter der Macht der αμαρτία steht und - was dann mit paulinischer Begrifflichkeit exegetisch zu präzisieren ist - daß das Fehlverhalten {παράπτωμα κτλ.) einzelner Christen, das traditionell mit „Sünde" im Sinn von „Tatsünde" bezeichnet wird, von Paulus an keiner einzigen Stelle mit dem Begriffά/ίαρτία belegt wird. Die Forderung nach einer „paulusimmanenten" Begriffsanalyse ist damit noch dringlicher zu stellen.
bei Paulus ein starker Akzent auf dem Tatcharakter der Sünde liegt, ist offenkundig. Er spricht im Hinblick auf das vergangene Leben der Christen von παραπτώματα, konkreten Taten der Übertretung des Gesetzes. Von Adcun kam der Tod über гШе Menschen daraufhin, daß sie alle gesündigt haben - der verbale Ausdruck kennzeichnet den Aktcharakter" (S. 284). Allerdings: „In den Mahnimgen, die Pauliis an die Christen richtet, geht es nicht nur lun das Vermeiden einzelner Akte, sondern darum, die Sünde nicht mehr über sich herrschen zu leissen. Man kann also das Herrschen der Sünde in der Person und ihr Hervortreten in einzelnen Akten nicht trennen; dieses ist in jenem begründet. Die Sünde ist nicht erst Tat, sondern zuvor επιϋυμία-, d. h. innerliches Aus-sein auf etwas" (S. 284f). Uber den Total-Aspekt des lutherischen simul und dessen Partial-Aspekt sowie die Auffeissung des Christseins als Progressas imd des Gesetzes aJs Nötigung zum Transitus bzw. als Steuerung des Progressus vgl. W. JOEST, Gesetz. ^'P. ALTHAUS, ALTHAUS, ®°P. ALTHAUS, ALTHAUS,
Paulus, Paulus, Paulus, Paulus,
S. S. S. S.
87. 83. 90. 90.
Das protestantische
Vorverständnis: M, Luther
33
Der Unterschied zwischen Paulus und Luther müßte dann so lauten: Paulus: Der Christ kann ständig gegen die Macht der Hamartia siegen. Luther: Der Christ ist simui iustus et peccatot^"^. An anderer, späterer Stelle kann Luther jedoch noch ausgeprägter vom Machtaspekt der Sünde bzw. des Teufels reden, wenn er in „De servo arbitrio"^^ ebenfalls das Bild vom Reiter bzw. Reittier gebraucht. Ist in den Römerbriefvorlesungen von 1515/16 der „fleischliche" Mensch das Pferd, das nicht ganz nach dem Wunsch seines „geistlichen" Reiters dahintrabt, der nach der Lehre der œmmunicatio idiomatum derselbe eine Mensch ist (also gleichsam Pferd und Reiter in einer Person), so daß der Christ ein Reiter ist, der sozusagen auf seinem eigenen schlechten Pferd sitzt (σάρξ), so vereinfacht Luther in De servo arbitrio 1525 dieses dialektische Bild wieder, indem er den Menschen nicht mehr als Reiter (sessor), sondern gerade als Lasttier {iumentum) bezeichnet, das entweder von Gott oder vom Teufel geritten wird: Sic humana voluntas in medio posita est, ceu iumentum, Deus, vult et vadit, quo vult Deus, ut Psalmus iumentum
et ego semper tecum. Si insederit
si
insederit
dicit: Factus sum sicut Satan, vult et vadit, quo
vult Satan, пес est in eius arbitrio, ad utrum sessorem currere aut eum quaerere, sed ipsi sessores
certant
ob ipsum obtinendum
et
possiden-
dum^.
So wird in dieser Schrift die Frage, ob das „Lasttier" Mensch gut oder schlecht sei, sekundär und tritt völlig in den Hintergrund gegenüber der Frage, welcher der beiden Reiter, Gott oder der Satan, seinen Weg bestimmt, und führt schließlich zu der Frage nach der Allmacht Gottes, der auch der Satan untergeordnet ist: Quando ergo Deus omnia movet et agit, necessario movet etiam et agit in Satana et impio. Agit autem in Ulis taliter, quales Uli sunt et quales dazu H. HÜBNER, Rechtfertigung, S. 129, der Luthers Exegese von Rom 7,25 beschreibt: „Die Heiligen sind, indem sie Gerechte sind, Sünder". LUTHER, De servo arbitrio. ^•'М. LUTHER, De servo arbitrio, S. 635.
34
Forscbungsgescbichte invenit,
hoc est, cum Uli sunt aversi et mali et rapiantur
пае omnipotentiae,
non nisi aversa et mala faciunt,
agat equum tripedem
vel bipedem,
hoc est equus male incedit.
agit quidem taliter,
Sed quid faciat
motu ilio divi-
tanquam
si eques
qualis equus est,
eques? equum talem
simul
agit cum equis sanis, ilio male, istis bene, aliter non potest,
nisi equus
sanetur.
motum
actionem
...
Omnipotentia
Dei evadere,
Dei facit,
sed necessario
ro seu aversio sui a Deo facit, suam omnipotentiam
non posait
Uli subiectus paret. Corruptio
ut bene moveri
et rapi non possit.
non potest omittere propter
pius vero suam aversionem necessario
ut impius
non potest
mutare.
Ita fit, ut perpetuo
Imet
In his vero om-
nibus Satan adhuc in pace regnat et atrium suum quietum possidet motu isto divinae
veDeus
illius aversionem.
peccet et erret, donec spiritu Dei corrigatur.
et
sub
omnipotentiae^^.
Auch wenn das Lasttier, d. h. der Mensch, „schlecht" läuft, herrscht Satan nur solange über ihn unter der Allmacht Gottes, bis der Gottlose durch Gottes Geist auf den richtigen Weg geführt und dann „gesund" wird {sanetur). Wenn Gott durch seinen Geist dann am Menschen wirkt, ist dies aber reines Gnadenhandeln Gottes, welches der Mensch in keiner Weise beeinflussen kann (wie Erasmus denkt, um im humanistischen Sinn den Menschen frei zu halten für seine eigene - zu verantwortende - Entscheidung und damit Gott gleichsam zu „entschuldigen"). Wenn bei Paulus der Machtcharakter der Sünde, die „in Christus" grundsätzlich überwunden ist, im Mittelpunkt seines Nachdenkens йЪетαμαρτία steht, dann wäre das auch bei Luther in De servo arbitrio 1525 schon viel deutlicher erkannt als in der Römerbriefvorlesung 1515/16! Es findet ja nach Paulus, um mit Luther im Bild zu sprechen, beim Gläubigen kein permanenter „Reiterwechsel" mehr statt, auch wenn das „Lasttier" Gott nicht immer sogleich erkennt und ihn oft nur sub contrario wahrnimmt. Die Rede vom simul iustus, simul peccator gehört also, von De servo arbitrio her gesehen, als Beschreibung des Gläubigen nicht unbedingt zum status confessionis eines „Lutheraners", sondern ist „volkstümliches", bis heute wirksames Nebenprodukt einer im Grunde noch aus der „katholischen" Phase Luthers stammenden Denkfigur der communicatio idiomatum, für die eine bestimmte Exegese LUTHER, De servo arbitrio, S. 709f.
Das protesteoìtische Vorverständms: M. Luther
35
von Rom 7 nicht gerade der beste „biblische" Beleg ist. Auch in den 95 Thesen von 1517 ist dies noch die Denkvoraussetzung, wie die Interpretation von der „täglichen Buße"^® beweist. In De servo arbitrio jedenfalls denkt Luther - angestoßen von der These des Erasmus vom „freien Willen" des Menschen - weiter, sozusagen „paulinischer": entweder ist der Mensch von der Macht der Sünde, d. h. Satans, beherrscht - oder von der Macht Gottes, die ihn von der Macht der Sünde befreit hat. Wer dagegen wie Erasmus „die Sünde so auch Gott moralisch domestiziert, der hat mit dem Gott, der im Kreuz verborgen ist und sich so offenbart, alles miteinander verloren: Christus, die Schrift und das Thema der Theologie"^^. Als Übergang und Brücke zwischen dem Sündenverständnis der Römerbriefvorlesung 1515/16 und dem von De servo arbitrio 1525 ®®М. LUTHER, Disputatio pro declaratione virtutis indulgentianim (1517), S. 233: отпет vitam fìdelius penitentiam esse voluit. Die volkstümliche, verbreitete Übersetzung redet von der „täglichen Buße". Von Luther selbst jedoch ist hier, wie der Originaltext zeigt, das ganze Leben als Buße bzw. Umkehròeuiegung gemeint. EßELING, L u t h e r s t u d i e n B d . III, S. 70. Wie der „ s p ä t e " M . LUTHER for-
mulieren kann, zeigen exemplarisch die Schlußthesen 35-^0 aus der Disputiation De homine, S. 177: 35: Quare homo huius vitae est pura materia Dei ad futurae formae suae vitam. 36: Sicut et tota creatura, nunc subiecta vanitati, materia Deo est ad gloriosam futuram suam formam. 37: Et qualis fuit terra et caelum in principio ad formam post sex dies completam, id est, materia sui. 38: Talis est homo in hac vita ad futuram formam suam, cum reformata et perfecta fuerit imago Dei. 39: Interim in peccatis est homo in dies vel iustificatur vel polluitur magis. 40: Hinc Paulus ista rationis regna пес mundum dignatur appellare, sed schema mundi potius vocat. So kann G. Ebeling dгιnn Luthers Verständnis des „Sein[s] des Menschen als Gottes Hiuideln an ihm" (G. EBELING, Sein) zusammenfassen, indem er die Vereirbeitung des traditionellen Vier-causae-Schemas bei Luther aufzeigt imd die Imago Dei eJs causa fineilis beschreibt. These 39 zeigt zwcir einerseits bei Luther einen Pluralgebrauch («n peccatis), der die Summe der Verfehlungen als „Tatsünden" definiert. Andererseits - und hier ist der wesentliche Gedanke von De servo arbitrio aufgenommen - wird alternativ (vel iustificatur - vel polluitur magis) die jeweilige flichtung beschrieben, in die n2ich Luther „die Menschen in zwei gegensätzliche Haufen" (G. EßELING, Sein, S. 56) geschieden sich bewegen. Die Sp>2mnung des Christen zwischen Taufe und
36
Forscbimgsgescbichte
findet sich in der 1521 auf der Wartburg verfaßten Schrift Rationis Latomianae confutatici^ bereits eine Differenzierung im Sündenbegriif bei Luther. Gegen Latomus verteidigt Luther den Satz: omne opus bonum est peccatum^^, und hält damit fest, daß auch der Christ ohne die Gnade in seinen guten Werken Sünder sei. Quid ergo? peccatores sumus? imo iustificati sumus, sed per gratiam. lustitia non est sita in formis Ulis qualitatum, sed in misencordia dei. Revera enim si a piis removeris misericordiam, peccatores sunt et verum peccatum habent, sed quia credunt et sub misericordias regno degunt, et damnatum est et assidue mortificatur in eis peccatum, ideo non imputator ем"*".
So kann Luther einerseits gegen Latomus das simul iustus et peccator für den Christen festhalten, andererseits aber den Begriff der Sünde differenzieren in „herrschende" (im Nichtchristen) und „beherrschte Sünde" (im Getauften): Domine numerator testimoniorum et non ponderator eorum, vos valde bene probatis, non esse in sanctis vel operibus eorum peccatum regnatum, sed non pobatis, non esse peccatum regnatum, seti illud quod Paulus tangit, dum dicit: ,Νοη obediatis concupiscenciis eius"^^.
Der hier eingeführte Machtaspekt liegt begründet im Verständnis der Gnade: Habemus ergo duo bona euangelii adversus duo mala legis, donum pro peccato, gratiam pro iVa"*^. Tod, zwischen Statik u n d Bewegung drückt Luther in dem Bild des Kindes aus, das schön gewamdet in des Vaters Schoß sitzt, „nur die Füße schauen noch heraus, nach denen der Satain schnappt, sodaß d a s Kindlein zappelt imd schreit. In spirit u gilt das eine, in c a m e díis íindere, bis schließlich der gctnze Mensch aus dieser Welt errettet wird. ,Denn d u mußt d a s Füßlein mit u n t e r den Mantel [der Taufe; der Verfasser] ziehen, sonst hast d u keinen Frieden'" ( G . EßELING, Sein, S. 60, zitiert a m Schluß M. Luther, 3. Ant. Disp. (1538), WA 39,1, S. 521,5-522,3); vgl. auch: G . EßELING, Lutherstudien Bd. II, S. 538f. LUTHER, Rationis Latomianae confutatio. LUTHER, Rationis Latomianae confutatio, S. 59. LUTHER, Rationis Latomicuiéte confutatio, S. 92. ^ ' M . LUTHER, Rationis Latomicoiae confutatio, S. 94. LUTHER, Rationis Latomianae confutatio, S. 106.
Das protestantische
Dabei ist die G a b e {donum) {gratia) jedoch total: Remissa
37
Vorverständnis: M. Luther
partiell zu verstehen, die Gnade
sunt omnia per gratiam,
sed nondum
omnia sanata per do-
num^^. Für die Herrschaft der Gnade jedoch gilt: Quem enim deus in gratiam recipit, totum recipit, et cui favet, in totum favet. Kursus, сиг irascitur, in totum irascitur. Non enim partitur gratiam, sicut dona partitur, animae et odit
hanc
пес diligit caput et odit pedes, пес favet
corpus^^.
So - aber auch nur so - kann für den Christen im Machtbereich der Gnade die Sünde peccatum sine ira, sine lege, peccatum mortuum, peccatum innoxium^^ genannt werden, ihrer Natur nach ist sie nicht unterschieden, aber ihrer Behandlung nach ante gratiam et post gratiam, differì vero a sui tractatu'^^. Ja, Luther kann sie so - aber auch nur so - „Gnadensünde" nennen: Sic enim verissime dicunt, peccatum illud gratiae (sie dixerim animi causa) prorsus neminem reum constituere, non damnare, non nocere, prorsus nihil commune habere cum peccato extra gratiam. Nonne et ego sic dico, Latome?'^'^ Auf diese Weise deutet sich gegen die scholastische Tradition über den paulinisch gefundenen Begriff der Gnade den ganzen Sünde
Menschen
der Machtaspekt
als Machtbereich
als Strukturelement
auch
über der
an bis in die letzten Konsequenzen hinein:
Ita aliud est peccatum extra gratiam, aliud in gratia, ut possis imaginan gratiam seti donum dei esse impeccatificatum et peccatum gratificatum, quam diu hic sumus, ut propter donum et gratiam peccatum iam non peccatum sit [nämlich in ihrer Herrschaftsfunktion; der Verfasser]. Sed haec est meditatio ocio maiori tractanda'^^. LUTHER, ^ ^ M . LUTHER, LUTHER, LUTHER, ^ ^ M . LUTHER, • " M . LUTHER,
Rationis Rationis Rationis Rationis Rationis Rationis
Latomianae Latomianeie Latomianae Latomianae Latomianeie Latomianae
confutatio, confutatio, confutatio, confutatio, confutatio, confutatio,
S. 107. S. 107. S. 107. S. 107. S. 102. S. 1 2 6 .
38
Forschungsgescbicbte
Anders als Erasmus (und Latomus) domestiziert hier Luther die Sünde nicht, sondern nennt sie Sünde, der aber die viel mächtigere Gnade als Machtbereich ¿u Χριστψ gegenübergestellt wird. Damit ist der „hermeneutische Schlüssel" für die Fragestellung dieser Arbeit gefunden. Dieser Fragestellung gilt nun die folgende, von Luther selbst geforderte meditatio ocio ... tractanda.
1.2
Die Problemanzeige durch Paul Wernle (1897)
In der „jüngeren" Paulusforschung hat P. Wernle mit seiner 1897 in Freiburg i. Br. und Leipzig erschienenen Schrift: „Der Christ und die Sünde bei Paulus"'^^ als gedruckter und veröifentlichter Teil seiner Arbeit zur Promotion mit dem Titel: „Die Sünde in der Gemeinde des Urchristentums" die Frage erstmals wieder gründlicher behandelt. „Dass der Christenstand mit der Sünde nichts mehr zu tun habe, dass der Christ ein sündenfreier Mensch sei und als solcher vor Gott erscheine am nahen Gerichtstag, das ist das Ergebnis dieser Untersuchung"®". Rechtfertigungslehre und „Wiedergeburtstheorie in Rom 6"®^ bilden nach Wernle die theoretische Verarbeitung der „enthusiastischen Parusiehoffnung"®^ des Apostels, so daß er zu dem Ergebnis kommt, „dass Paulus die Sünde im Christenleben, obwohl er sie kannte, als Theoretiker geleugnet hat"®^. Der Sündenbegriff selbst ist in dieser Arbeit Wernles noch ganz unscharf, wie z. B. die Behandlung der Passagen aus den Korintherbriefen zeigt. Die „Stimmung des Apostels gegenüber der Sünde in Corinth"®^ sei durchaus von Optimismus gekennzeichnet, so daß er in 1 Kor 6,11 von der schlechten Wirklichkeit einfach „an das Ideal, wie es in der Taufe vorläufig realisiert wurde"®®, appelliere. Als Defizit zeigt sich bei P. Wernle einmal ein unausgesprochenes bzw. ''®P. WERNLE, Christ, dort im Vorwort, S. V, die Erwähnung des ursprünglichen Titels. ^''P. WERNLE, WERNLE, " P . WERNLE, WERNLE,
Christ, Christ, Christ, Christ,
S. S. S. S.
126f. 121. 121. 121.
" P . WERNLE, Christ, S. 42-46. 55 T
^P. WERNLE, Christ, S. 43.
Die Entsündigungstheoríe
von Hans Windisch (1908)
39
unreflektiertes Übernehmen bzw. Eintragen von neuzeitlicher idealistischer Philosophie, die Paulus zwischen „Ideal" und „Wirklichkeit" schweben und das Problem von „Sünde" in den Gemeinden nur mit Hilfe von „Theorien" bearbeiten läßt^®. Zum anderen, und eben damit eng zusammenhängend, kommt es bei Wernle noch nicht zu einer Klärung des paulinischen Sündenbegriffs selbst. So nennt z. B. nach Wernle der Apostel in Korinth „alle Mängel und Sünden in der Gemeinde beim Namen"®^. Gleichzeitig gibt es aber für ihn kein „wirkliches Problem der Sünde in der Gemeinde . . . infolge seiner starken Hoffnung"®®. Wernle sieht z.B. noch nicht den unterschiedlichen Gebrauch von αμαρτία, όιμάρτημα und παράπτωμα in Rom 5; 1 Kor 6 u. a. Eine klare Analyse der Begrifflichkeit αμαρτία, αμάρτημα, παράβασις, παράπτωμα κτλ. fehlt denn auch ganz. Darüberhinaus werden die Lasterkataloge und Rom 14,23 nur äußerst kurz und im Anhang erwähnt. Und erst ganz am Ende seiner Arbeit wird das Problem der Begriffsbestimmung erkannt und benannt: „Für die Frage nach der Sünde in der Gemeinde bei Paulus ist es äußerst wichtig, wie er die ¿αμαρτία bestimmt"®^. Trotz dieser Defizite wurde jedenfalls die weitere Diskussion durch die Arbeit Wernles erneut angeregt und weiter vorangetrieben. Darüberhinaus bestimmt die Problemanzeige Wernles den Maßstab und den Horizont dieser Arbeit besonders in der Frage nach dem Verhältnis zwischen αμαρτία und dem Fehlverhalten von Christen.
1.3
Die Entsündigungstheoríe von Hans Windisch (1908)
Wernles Arbeit erfuhr zwar von vielen seiner Kritiker durchgehend Ablehnung, dennoch wurde von nun an eine „Sündlosigkeitstheorie" in der Gedankenwelt des Paulus überhaupt erst wieder ernsthaft diskutiert, besonders von H. Windisch in zwei Schriften®".
®®P. WERNLE, C h r i s t , S. 121FF. WERNLE, C h r i s t , S. 4 2 . ® ' P . WERNLE, Christ, S. 45. " F . WERNLE, C h r i s t , S. 135. 60 7
H. WINDISCH, Entsündigung; ders., Taufe.
40
Forscbungsgesdúchte
Aus dem Raxlikalismus der prophetischen Predigt entwickelt Windisch den Gedankenzusammenhang von „Buße und Entsiindigung". Im hebräischen sûb liege „das völlige Sichlosreißen von aller Schlechtigkeit beschlossen"®^. Die Vorstellung einer radikalen Umwendung ist nach Ez 18,21f und 18,31 für den prophetischen BußbegrifF charakteristisch. Sach 13 und die kultischen Bäder der Essener formen nach Windisch den späteren Bußbegriff mit: „Die radikale und endgültige innere Reinigung stellt sich in einer äußren Zeremonie dar"®^, die er „Entsündigungstaufe" nennt®^. Bei Philo von Alexandrien sieht Windisch eine Synthese von jüdischer Bußtheorie und stoischer Theorie vom Weisen entwickelt: für Philo ist nun das Weisewerden eine permanente μετάνοια. Der Weise, der das Vollkommene besitzt, blickt auf die Sünde als auf etwas Vergangenes. Allerdings gibt es dann doch bei Philo die Buße des gefallenen Weisen, der durch Sünde vom Himmel in den Hades gefallen war®^. Jedoch paßt Philo seine Entsündigungstheorie seiner Erfahrungswirklichkeit an, so daß sie „in ihrem innersten Kern erweicht" ist: „damit ist aber dem Weisen das Prädikat der Sündlosigkeit im strengen Sinne genommen"®®. „Sünde" wird auch hier als Tatbegriff gebraucht. Als messianischer Bußprediger in Palästina gilt für Windisch Johannes der Täufer, der: 1. eine eschatologische Generalbuße verkündet habe, der 2. ein Tauchbad nebenher ging; 3. diese einmalige Taufe sei verbunden mit letzter Buße und reinige für das Gericht; 4. daraus ergebe sich die Verpflichtung, nicht mehr zu sündigen; 5. über die Vergebung der Sünde nach der Taufe werde nichts gesagt. WINDISCH, WINDISCH, ®®H. WINDISCH, WINDISCH, ®®H. WINDISCH,
Taufe, Taufe, Taufe, Taufe, Taufe,
S. S. S. S. S.
9. 50. 49f. 70. 71.
Die Entsimdigungstheorìe von Hans Wmdisch (1908) Jesus setzt nach Windisch diese Tätigkeit fort, allerdings ohne zu taufen. Für die paulinische Theologie kommt Windisch zu folgenden Ergebnissen: Im 1 (und 2) Thess und Phil zeigt sich, daß beide Gemeinden dem Ideal des Paulus in ihrem wirklichen Leben nahegekommen und -geblieben sind. Windisch nennt als Belege Phil 2,12f: πάντοτε νπηκονσατε, 3,15: τέλειοι sowie 1 Thess 5,23: τηρηΰείη; wenn damit die Bewahrung des Gewonnenen gemeint sei, wäre hier die „ideale Anschauung auf ihren stärksten Ausdruck gebracht"®®. Die Christen in diesen Gemeinden wären keine Sünder mehr. 1 und 2 Kor dagegen zeigen nach Windisch eine Gemeinde, die dem paulinischen Sündlosigkeitsideal in vielen Dingen nicht entspreche. Als Grundlage der paulinischen Argumentation wird hier 2 Kor 5,17fF benannt: dort ist nach Windisch der prophetische Bußbegriff konkretisiert in der spezifisch christlichen Abwaschung bzw. Sühnung der Sünden, die dem Gläubigen erworben ist in Christus, d. h. Paulus redet hier von der Vergebung der früheren Sünden. Der Entsündigungsgedanke stellt sich in einer in Christus erlebten realen Entsündigung dar: in Christus ist der entsündigte Mensch der messianischen Zeit innerhalb der Gemeinde Wirklichkeit {vvv καιρός ... uvu ήμερα σωτηρίας 2 Kor 6,2b). Dies gebe Paulus auch in Korinth nicht auf, die Mißstände in Korinth ließen ihn vielmehr zum Bußprediger werden. Damit werde die Theorie der Wirklichkeit angepaßt, aber nicht fallengelassen. 1 Kor 10,lfF bezieht sich zwar auch nach Windisch in der Tat auf das Problem der Sünde nach der Taufe, d. h. es wird konzediert: „Sünde nach der Taufe ist möglich; Sünde nach der Taufe gefährdet das Heil; durch Gottes Treue werden die Getauften von Sünde und Verderben bewahrt bleiben. Er löst also die Frage ganz im Sinne einer Sündlosigkeitstheorie"®^. Allerdings zeigen auch 1 Kor 9,26 (und 1 Kor 5 und 6) im Licht von 2 Kor 6,1 überhaupt nichts von einer „täglichen Vergebung der Sünden"®®, das παρακαΧονμεν (6,1) ist nach Windisch also geprägt von der „Missi®®H. WINDISCH, Taufe, S. 112. WINDISCH, Taufe, S. 137. ®'H. WINDISCH, Taufe, S. 149.
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Forscbimgsgeschidìte
onsrede"®®, d. h. als Bekehrungsforderung „als einmalig in das Leben einschneidender Akt v o r g e s t e l l t P a u l u s gibt demnach auch in Korinth das Ideal der Sündlosigkeit nicht auf, sondern antwortet mit der radikalen Bekehrungstheorie des immerwährenden Kampfes, der zu gewinnen sei. Gal 3,27 ist als Schliisselstelle für Windisch als „mystische Tauftheorie eine Entsündigungstheorie"'^^. In 5,16 gebe Paulus „sündigen Christen eine Anweisung zum sündlosen Leben"''^^, in 5,17 denke er sogar einen Augenblick den sündigen Pneumatiker, ein Gedanke, den er aber sofort wieder fallenließe, das πνενμα^ das das sündige Wesen erstickt hat, wird nun nach Windisch zum Grund der ParänesefÜT sündige Christen (5,25): Ei ζωμεν πνενματι, πι/ενματι καΐ στοιχώμεν. Ergebnis: In Gal ermäßige Paulus „bisweilen den Gegensatz von sündlosen und sündhaften Menschen" (gemeint sind von Windisch Christen!), „auf den er freilich immer wieder zurückgreift"^^. In Röm wird nach Windisch die Rechtfertigungslehre des Paulus zunächst unter der Uberschrift ορ^η ·&εον (womit Elemente der prophetisch-jüdischen Gerichtspredigt aufgenommen sind) als Macht der αμαρτία über jüdische und heidnische Menschen entfaltet. In einem zweiten Schritt wird die in Christus dem Sünder geschenkte Gerechtigkeit dargestellt (nach Windisch: erneuerte und umgestaltete Bußpredigt); Rechtsprechung gründet sich nun nicht auf die Buße des Sünders, sondern wird ihm von Gottes Gnaden frei erwirkt. Weil bisher niemand wirksame Buße tun konnte, hat Gott Gerechtigkeit geschenkt. Damit scheidet Gott eindeutig Vergangenheit und Gegenwart. „Der neue Gerichtsspruch erscheint zeitlich fixiert, er setzt die πάρεσις τώι/ πρσ^εηονστων αμαρτημάτων voraus (3,25)"^"*. Das bedeutet Generalamnestie durch χάρις (3,24). Paulus frage in diesem Zusammenhang also gar nicht, ob der Gerechtfertigte in der Gegenwart noch sündige, sondern danach, was Gott schenke. Die Gegenwart ist nach Windisch weniger vom „sündlosen" Menschen ®®H. WINDISCH, WINDISCH, " H . WINDISCH, ''^H. WINDISCH, " H . WINDISCH, '^"H. WINDISCH,
Taufe, Taufe, Taufe, Taufe, Taufe, Taufe,
S. S. S. S. S. S.
149. 149. 157. 158. 163. 165.
Die Entsündigungstbeone von Hans Wmdisch (1908)
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als von Gottes Vergebung gekennzeichnet (4,25). Von Sündenvergebung in der Zukunft ist mit keinem Wort die Rede. Eine „Sünde" des Christen ist hier nicht gedacht. Das Problem taucht nach Windisch aber auch „nur" theoretischargumentativ erst in 6,lfF auf, vorher nicht. Die Ausführungen des Paulus bezeichnen nach Windisch aber gerade nicht den armen Sünder in der Christengemeinde, sondern mit έπιμενειν rfj ¿χμαρTtcf sei das Leben des Unbekehrten gemeint. Nach Windisch wird hier die Rechtfertigungslehre mit dem „Bekehrungsbegriif' (durch die Taufe) ergänzt. Die Bekehrung wird aber nicht allmählich realisiert, Rom 6,12ff zeigt im Gegenteil die Einteilung des Lebens in zwei Perioden (einst - jetzt). Die Hauptfrage für Windisch ist nun, ob sich in der Paränese an Längstgetaufte, die ja hier wie Unbekehrte angesprochen werden, indirekt die Anerkennung ausdrücke, daß diese Christen noch Sünde haben. Die Bußform ist aber nach Windisch reine Redeform der Christenparänese in der Form der Gemeindepredigt, die immer ein Predigtpublikum von Ungetauften, Ebengetauften und Längstgetauften vor Augen habe. In dieser missionarischen Stilform wurden nach Windisch auch Längstgetaufte wie Unbekehrte behandelt, auch wenn nichts an ihnen zu tadeln war. Paulus ergänze also in Rom 6 seine Rechtfertigungslehre um zwei „Entsündigungstheorien die mystische der Taufe und die paränetische der Imperative. Beide schützen die Gnadenlehre vor Mißbrauch: die Taufe betont, der Christ habe durch Gottes Kraft ein unsündiges Wesen gewonnen, die Paränese schärft ein, daß er zu unsündlichem Wandel verpflichtet und befähigt sei. Auch Rom 7 stellt diese These nicht in Frage, da hier nicht der Kampf des wiedergeborenen Paulus beschrieben werde, sondern das vorchristliche Leben: „Der ideale Christ hat beim Lesen dieser Ausführungen ein jubelndes Nichtmehr auf den Lippen"^®. In den Indikativen wird nach Windisch das Ideal sündlosen Lebens hochgehalten: wieweit in den Imperativen der Paränese schon die Unmöglichkeit der Theorie des entsündigten Menschen unausgesprochen angelegt ist, bleibt als Frage in der Konsequenz mehr oder weniger offen. Bei Rom 13,8ff muß Windisch zugeben, daß Paulus 75
H. WINDISCH, Taufe, S. 184.
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Forschungsgeschichte
hier die Christen wie Unbekehrte behandelt, wenn er von ihnen das „Ablegen der Werke der Finsternis" verlangt. Es ist die Frage, ob hier nicht Taufe und Bekehrung, Gläubigwerden und sittliche Erneuerung zeitlich auseinanderfallen, wenn ja - implicite - behauptet wird, Christen haben noch wie Heiden gelebt. Aber auch hier geht es nach Windisch nicht um eine allmähliche Realisierung, sondern um den Ubergang von der Sünde zur Sündlosigkeit; der Text zeigt nicht empirische Missionssituation, sondern Gewöhnung des Apostels an die Missionsrede. Windischs Hauptthese, daß die an die Gnadenlehre angeschlossene Bekehrungstheorie (Taufe) „den Sündlosigkeitscharakter des normalen Christen festzuhalten und doch zugleich mit der Sünde des Christen zu rechnen"^® vermag, bleibt als Ergebnis allerdings umstritten und ist im Rahmen dieser Arbeit erneut kritisch zu hinterfragen: Findet sich in Rom 6 als Taufmystik ein neuer „unabhängiger" Gedanke, der einen Zusatz zur Rechtfertigungslehre des Paulus in Rom 3 bildet, oder sind beide doch viel mehr und enger aufeinander bezogen, als eine bloße „Addition zweier Theorien" erkennen läßt^^? Auch die Frage, ob die Imperative der Paränese, im Sinn einer zusätzlichen „Entsündigungstheorie" an die Judikative der Rechtfertigungslehre „angehängt", diese vor Mißbrauch schützen sollen, bleibt bei Windisch ungeklärt^®. Als „Auslegung" bzw. „Konkretisierung" des Indikativs wären sie ja genauso denkbar
•'^Н. WINDISCH, Taufe, S. 215.
^^Wie P. Wemle seine „Entsimdigung" in den übrigen neutestamentlichen Briefen und der Literatur bis Origenes durchspielt, wäre zwar interessant darzustellen, muß aber hier aus Raumgründen unterbleiben. Auf dieses ungeklärte Problem macht bereits P. WERNLE in seiner Rezension aufmerksam. Jedoch nimmt er darin Abstand von der in seiner eigenen Schrift (wie in der von Windisch) geäußerten These und bezeichnet die Sündlosigkeitstheorie insgesamt aJs wirklichkeitsfremd. Die „Praxis" ist für ihn der Telos, von dem aus nun plötzlich „auch alle beschreibenden Judikative letztlich nichts anderes ab verstärkte Imperative sind. Das Nichtsündigenkönnen in Rom 6 ist der stärkste Imperativ, über den Paulus zu verfügen hat, vmd geht daher g2inz korrekt am Schluß in das NichtsündigensoUen über" (Sp. 588). Hier erleben wir, wie ein Theologe sein Erstlingswerk ab „Jugendsünde" bezeichnet und dann vollständig ins andere Extrem verfallt! Dieser Weg führt selbstverständlich nicht weiter. ^®Vgl. nur Gal 5,22-25: hier ist der Imperativ gerade als FVucht des πνεύμα indikativisch verankert!
Ethik und Sündenbegríff bei R. Bultmann (1924)
1.4
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Das Problem der Ethik und der SündenbegrifF bei Rudolf Bultmann (1924)
Die bei Windisch offene Frage wird in Rudolf Bultmanns Untersuchung „Das Problem der Ethik bei Paulus"®" erkannt und weitgehend beantwortet. Diese Untersuchung ist oft zitiert, jedoch in einer ihrer Hauptthesen, daß bei Paulus ein Unterschied sei zwischen dem Begriff „Sünde" und menschlichem Fehl verhalten, zu Unrecht weitgehend folgenlos geblieben. Der mit den Begriffen „Indikativ - Imperativ" ausgedrückte Sachzusammenhang, den Bultmann bei Paulus in Gal 5,25 auf den - paradoxen - Begriff gebracht sieht {Ei ζώμεν πμενματί, πνενματι καΐ στοιχώμεν), ist für Bultmann eine echte Antinomie, d. h. eine von der Sache der δικαιοσύνη als eschatologischem Heilsgut her gedachte sachliche Notwendigkeit. Dies wird an den verschiedenen Interpretationen der sogenannten paulinischen „Sündlosigkeitsaussagen" durchgespielt: Die Antinomie wird weder von H. Weinel^^ noch von P. Weml^^ gesehen. So ist bei H. Weineis psychologischem Versuch, die Sündlosigkeitsaussagen zu erklären, der Impera^ tiv als Zusatz zum Indikativ der erlebten Gnade Gottes ein Rückfall in Gesetzesreligion. Bei P. Wernle liegt der Fehler darin, „Sündlosigkeit" als ethisches Vermögen des Menschen zu denken; das ist auch gar nicht anders möglich, so R. Bultmann, wenn neben die Ethik des Wunders (Rechtfertigung, Indikativ) die Ethik des Willens tritt (Imperativ). Dagegen ist, so stellt Bultmann nun klar heraus, für Paulus „Sündlosigkeit" nicht ein Positives, das den Willen und die Kraft des Menschen beschreibt, „sondern etwas Negatives . . . die Freiheit von der Macht der Sünde"^^, so wie der gerechtfertigte Mensch eine eschatologische Größe ist, an dem Gott gehandelt hat, und nicht der Mensch, der seine eigene Sittlichkeit entfaltet. Auch H. J. Holtzmann und H. Lietzmann haben, so zeigt Bultmann, in ihrer Addition von mystischer Theorie (akuter Entsündigungsakt) und empirisch-psychologischer Auffassung den Gedanken BULTMANN, Problem. WEINEL, Theologie. WERNLE, Christ. BULTMANN, Problem, S. 38.
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Forscbungsgescbicbte
des Paulus nicht als echte Antinomie erfaßt®^, so daß der Begriff „Siindlosigkeit" nicht als durch Gott bewirkte Freiheit von der Macht der αμαρτία gedacht wird, die bewahrt werden kann und soll, sondern als menschliche Eigenschaft, die zu entwickeln ist. Auch F. C. Baur^^, der diese Antinomie zwar erkennt, löst sie nach Bultmann aber aus einer rein idealistischen Auffassung vom Wesen des Menschen auf, wenn er Rechtfertigung als Aufnahme des Prinzips der Gesetzeserfüllung oder des sittlichen Verhaltens definiert. A. Juncker^ gar, so Bultmann, geht völlig an Paulus vorbei, wenn er den Glauben &h. die entscheidende sittliche Tat des Menschen bezeichnet und das menschliche πνεύμα für gottverwandt hält. Diese Ansätze denken nach Bultmann den Menschen nicht wirklich radikal als Sünder, ist doch für Paulus die Rechtfertigung als Befreiung von der Sünde gerade allein „begründet durch Gottes Tat, sie besteht in Gottes Urteil"®^, d. h. sie ist jenseitiges Heilsgut. Und so ist nach Bultmann bei Paulus die Gerechtigkeit oder Sündlosigkeit - höchst paradox - gerade nicht als Veränderung der sittlichen Qualität des Menschen zu verstehen, „sie kann eben nur geglaubt werden"®®. Umgekehrt ist auch die Sünde nicht etwas am empirischen Menschen Wahrnehmbares, sondern kann nur von Gott her erkannt werden. „Sie ist also nicht identisch mit den sittlichen Verfehlungen, so gewiß sie sich in diesen darstellen kann"^^: genauso kann sittliche Vollkommenheit nichts bedeuten ohne das entscheidende Urteil Gottes, d. h. ob der sittliche Wandel „wirklich den Charakter des Gehorsams trägt, ist nicht allgemein wahrnehmbar"®®. In der Betonung der Jenseitigkeit der δικαιοσύνη als Gottes Handeln kann Bultmann zu einem radikaleren Sündenbegriff kommen als seine Vorläufer. Hier hat Bultmann Wesentliches an der herkömmlichen Paulus-Deutung, die relativ naiv mit idealistischen Maßstäben Paulus rezipierte, korrigiert und sie überholt. Auch in der BetoJ. HoLTZMANN, Lehrbuch, redet S. 164 vom „himmelsstürmenden" Idealismus des Paulus. C . BAUR, V o r l e s u n g e n . '®A. JUNCKER, E t h i k . "^R. BULTMANN, P r o b l e m , S. 4 8 . BULTMANN, P r o b l e m , S. 4 9 . ' ^ R . BULTMANN, P r o b l e m , S. 4 9 . ®°R. BULTMANN, P r o b l e m , S. 52.
Ethik und Sündenbegriíf bei R. Bultmann (1924)
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nung des Machtcharakters der αμαρτία, von der der Gerechtfertigte grundsätzlich befreit ist, sind für die Diskussion neue Horizonte eröffnet worden. Sündlosigkeit ist aJs Freiheit von der Macht der Sünde schon verwirklicht in der δικαιοσύνη ϋεον, der Mensch entspricht ihr in der υπακοή πίστεως^^. In einem zweiten Schritt geht Bultmann dann allerdings über Paulus hinaus, wenn er die Antinomie von GaJ 5, dialektisch verstanden, in Rom 4,5 hineinträgt und formuliert, „daß der Gläubige nie aufhört, βίτίάσεβής zu sein, und immer nur αΐδάσεβής gerechtfertigt ist, selbst wenn man diesen Satz nicht sicher aus Rom 4,5 herauslesen darf^"^. Was bei Paulus angesichts der Vorstellung vom baldigen Ende dieses Aons nicht zu Ende gedacht sei, komme als Leben der Gläubigen in dieser Welt der Sache nach bei Luther deutlicher in den Blick, wenn dieser von der täglichen Buße und der immer neuen Vergebung rede und Sündersein und Gerechtsein im Sinn eines dialektischen simul - simu/verstehe. So verstanden wäre nax:h Bultmann die lutherische Rechtfertigungslehre eine legitime Weiterentwicklung der Rechtfertigungslehre des Paulus. Jedoch wird festgehalten: „Davon, daß der Glaube täglich die Sünden tilgt, ist bei Paulus so wenig die Rede wie von der täglichen Buße und der immer neuen Vergebung"®^. Hier wird bei Bultmann ein theologisch-hermeneutisches Problem deutlich, das wir bei Poschmann - dort allerdings meist nicht ausgesprochen - wiederfinden: Ist die wichtigste Aufgabe der Interpretation das Aufzeigen einer Konzeption in der Ausgestaltung ihrer zeitgeschichtlichen Situation oder auch die Entwicklung in ihren Konsequenzen für spätere Konzepte®"*? Auf jeden Fall muß beides deutlich gemacht und methodisch voneinander geschieden sein, um nicht fortwährend fremde, spätere Gedanken in einen älteren, historischen Text einzutragen. Für Paulus, das hat Bultmann allerdings klar gezeigt, besagt das Vorhandensein des Imperativs nicht notwendigerweise ein Sündersein des Christen nach der Taufe, sondern ist auch als Forderung immer Gabe Gottes, durch das πνεύμα gewirkt und auf den Indikativ gegründet®®. ®'VgI. auch R. BULTMANN, Theologie, S. 334. '^R. BULTMANN, Problem, S. 52 [Hervorhebung vom Verfasser], ®®R. BULTMANN, Problem, S. 53.
®^Diese Fragestellung liegt letztlich auch der Arbeit von P. ALTHAUS, Paulus, und ihrem Lösungsversuch zugrunde.
48
1.5
Forscbungsgeschichte
Bernhard Poschmann: PAENITENTIA SECUNDA
(1940)
Angeregt durch Windischs Arbeit und sie Schritt für Schritt zu widerlegen versuchend, setzt der katholische Theologe und Dogmengeschichtler Bernhard Poschmann mit seiner Untersuchung der „Christenbuße im Neuen Testament" bei den paulinischen Texten in Rom 13,llfF an. „Den sündigen Christen gilt also dieselbe Forderung wie den neu bekehrten Heiden. Sie haben nicht nur die Sünden abzulegen, sondern müssen auch ,Christus anziehen'"^. In Windischs „Entsündigungstheorie", die nebeneinander gehe mit „Bekehrungstheorie", „mystischer Entsündigungstheorie", „Tauftheorie", „Selbstentsündigung" und zusammen mit allen übrigen Theorien letztlich „Paradoxien" bilde, sieht er eine logische Konsequenz des reformatorischen Irrwegs: „Zur Annahme solcher ^^ΕΓειθοχΙβη' wird man nur genötigt, wenn man im Verfolg der reformatorischen Rechtfertigungslehre das Wirken der Gnade und die menschliche Selbstbetätigung in dem Entsündigungsprozeß gewaltsam auseinanderreißt und dementsprechend dann auch die einzelnen Gedanken Pauli voneinander isoliert und jeden für sich bis in die letzten Konsequenzen ausdeutet. Auf diese Weise kommt man dann zu der Behauptung, daß bei ihm verschiedene zum Teil gegensätzliche Theorien, die entweder der Tradition oder der eigenen Erfahrung entstammten, mehr oder weniger unausgeglichen nebeneinEinder gingen"^7.
An dessen Stelle setzt Poschmann dann klar den traditionellkatholisch ausgeprägten und später bei Thomas von Aquin abgeschlossenen Büß- und Sündenbegriff, in dem die kirchliche Buße als ein in sich geschlossenes und ausdiflferenziertes Sakrament mit allen '®Vgl. dazu H. HÜBNER, Paulusforschung, bes. 2802f, wo er Bultmann richtig würdigt, aber vorsichtig zu bedenken gibt: „Bultmann kommt das Verdienst zu, diese beiden Aussagen [Indikativ und Imperativ; der Verfasser] als keineswegs sich widersprechende Ausseigen verständlich gemacht zu haben. Keineswegs ist es so, daß der Imperativ ak ein Rückfall in die Gesetzesreligion interpretiert werden muß . . . Denn Paulus gründet den Imperativ gerade auf die T a t s a c h e der Rechtfertigimg, er leitet den Imperativ aus dem Indikativ ab" (2802f). POSCHMANN, Paenitentia secunda, S. 23. ^'^В. POSCHMANN, Paenitentia secunda, S. 22.
в. Poscbmann: PAENITENTIA SECUNDA (1940)
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Formen des Bindens und Lösens durch das bischöfliche Amt, Sühneleistungen durch den Paenitenten und der Rekonziliation als Abschluß des Bußverfahrens mit Wiederaufnahme in die Gemeinde/Kirche dargestellt wird. Exkommunikation einerseits und Rekonziliation andererseits sind dabei die wesentlichen kirchlichen „Akte"^®. Schlüsselstelle für seine These der „Christenbuße" (im Neuen Testament, im nachapostolischen Zeitalter und bis hin zu Origenes) ist aber nicht, wie in reformatorischer Tradition, die Rechtfertigungslehre des Paulus (also weder Röm 3 noch Rom 6), sondern Mt 18,15-18 („sündigt aber ein Bruder an dir . . . ") und die Darstellung der Bindeund Lösegewalt besonders des kirchlichen Amtsträgers. Dieser für Poschmann zentrale Text ist der Hauptbeleg und Kardinaltext für die Möglichkeit der Sündenvergebung nach der Taufe, die für Poschmann immer an das kirchlich autorisierte Amt gebunden ist. Das gesamte Textmaterial vom Neuen Testament bis Origenes wird nun als Entfaltung dieses Bußbegriffs gesehen. Auch jedes Schweigen der Textzeugen wird als Zustimmung gedeutet: „Man sage nicht, das Ganze sei eine unstatthafte Konstruktion . . . Der Einwand ist freilich insoweit berechtigt, als wir aus den paulinischen Briefen allein die SündenvergebungsgewaJt der Kirche tatsächlich nicht mit absoluter Sicherheit zu begründen vermögen. Aber andererseits steht ebenso fest, daß die Deutung auf diese Gewalt sich nicht nur ohne jede Schwierigkeit in die Lehre des Apostels einfügt, sondern auch durch starke Gründe nahegelegt wird"^^.
In diesem Zusammenhang interessieren hier zunächst nur die Belege, die Poschmann im Rahmen der paulinischen Theologie anführt. Es sind dies nach Röm 13,llff: 2 Kor 7,9ff [μετάνοια εις σωτηρίαν), 2 Kor 12,21 {πει/'άήσω ποΧΧονς των προημαρτηκότων καΐ μη μετανοησάντων) sowie Röm 2,4. Die „Buße" eines Längstgetauften ist für Paulus nach Poschmann kein Problem und besteht aus Bekehrung, Strafe und Sühne. 1 Kor 5, Iff ist Poschmanns Hauptbeleg für die kirchliche Vermittlung der Sündenvergebung: nach erfolgter Exkommunikation wird der Schuldige zu Reue und Buße geführt. Poschmann deutet hier 1 Kor 5,6 zwar auch als Vorbeugungsmittel gegen ®'B. POSCHMANN, Paenitentia secimda, S. 487f; vgl. auch ders., Art. „Buße". POSCHMANN, Pcienitentia secunda, S. 37.
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Forscbungsgescbicbte
„Ansteckungsgefahr"^®®, mehr aber noch „von dieser heilenden Wirkung der Exkommunikation" Darüberhinaus ist diese Stelle für ihn ein Hauptbeleg für die (spätere) Unterscheidung in „schwere oder geringere Verfehlungen"^^"^. Wenn Poschmann dann, im Zusammenhang mit 2 Thess 3,6.14-16, betont, daß die Strafe „aber nur zum Besten des Sünders verhängt" zeigt dies einen zumindest unscharfen Sündenbegriff, der „Verfehlung" als „Tatsünde" interpretiert: „Jede Sünde erfordert Buße. Die Buße ist das Gericht, das der Sünder an sich selbst vollzieht, um das Gericht Gottes abzuwenden''^""*. Hauptziel der Exkommunikation ist aber nach Poschmann auch bei Paulus der positive Akt der kirchlichen Begnadigung (Rekonziliation). Hauptbeleg schließlich hierfür ist 2 Kor 2,5-11. Gegen die traditionelle These der Indentität der Sachverhalte von 1 Kor 5 und 2 Kor 2 sieht Poschmann hier eine Beleidigung des Apostels und folgert: „Der Exkommunikation folgt die Rekonziliation, wenn wir die späteren Termini anwenden wollen. Beides ist der Sache nach verwirklicht Poschmann ist bei der Untersuchung des paulinischen Textmaterials mehr an der Begründung für die Vergebungsgewalt der Kirche bzw. des Amtsträgers für bußfertige „Sünder" interessiert als an einer Klärung des Sündenbegriffs selbst. Aus dem Vorkommen von μετανοεί!/ (2 mal insgesamt bei Paulus für Christen) folgert er „Sünde"·, „sündigen" von Christen kommt nur 1 mal überhaupt vor: 2 Kor 12,21. Eine Überlegung über ¿χμαρτία,αμαρτάνείν und über ihre Beziehungen und Abstufungen zueinander fehlt bei Poschmann ganz. Ist damit gemeint, was Paulus an anderer Stelle mit αμαρτία bezeichnet? Das wird im Lauf dieser Arbeit zu klären sein. Wenn auch durch Poschmanns Arbeit das unverbundene Nebeneinander В. '"^В. '"^B. '"•^B.
POSCHMANN, POSCHMANN, POSCHMANN, POSCHMANN, POSCHMANN, POSCHMANN,
Paenitentia Paenitentia Paenitentia Paenitentia Paenitentia Paenitentia
secunda, secunda, secunda, secunda, secunda, secunda,
S. S. S. S. S. S.
29. 29. 25f. 30. 35. 34.
Günter Röbser: Personißkation der Sünde (1987)
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der verschiedenen Theorien bei Windisch als höchst fraglich deutlich herausgearbeitet wird, ist umgekehrt mit einer gewaltsamen „Harmonisierung" der Textaussagen zugunsten einer späteren katholischen Dogmatik nichts gewonnen^®®. Bevor nun die Studien von Ingrid Goldhahn-Müller zum Problem der zweiten Buße und ihrer Auseinandersetzung mit Poschmann kurz umrissen und kritisch gewürdigt werden sollen, ist noch, zumindest aus forschungsgeschichtlichen, aber auch aus methodologischen Gründen, eine im Jahr 1987 erschienene Arbeit von Günter Röhser zum paulinischen Sündenbegriff von Bedeutung und zu behandeln.
1.6
Günter Rohser: Metaphorik und Personifikation der Sünde (1987)
In seiner Untersuchung^"''^ stellt Röhser den inzwischen weitgehend anerkannten Machtbegriff der ¿χμαρτία bei Paulus in Frage und bezieht sich dabei besonders auf spätere, von seiner existentialen Interpretation der paulinischen Aussagen geprägten Äußerungen R. Bultmanns, die seiner Meinung nach weniger den Macht- und mehr den Taicharakter der paulinischen α μ α ρ τ ί α betonen: „ . . . die Sünde kam durch das Sündigen in die Welt"^°®. Röhser möchte nun einen allzu einseitigen Gebrauch des Machtaspekts der Sünde kritisch hinterfragen, verleite er doch dazu, „die konkrete Tatsünde der ,Sündenmacht' nach- und damit unterzuordnen" so daß man logischerweise von Ohnmacht des Menschen in diesem Zusammenhang reden müsse. Wieweit allerdings Paulus selbst von „Tatsünden" redet (bzw. nicht redet), wird nicht wirklich hinterfragt; auch wird nicht weiter ausgeführt, ob nicht gerade das, was Röhser (abwertend) mit „Ohnmacht des Menschen"^^® bezeichnet, eben exakt den paulinischen Sachverhalt des Menschen „unter der Sünde" trifft. Daß Bultmann nicht völlig auf den Machtaspekt verzichtet, wird von Röhser zwar '°®Vgl. hierzu auch die richtige Díirstellung und kritische Würdigung Poschmemns durch I. GOLDHAHN-MÜLLER, Grenze, S. 3-8 imd ihre Kritik: „Unverkennbar ist der Einfluß des Dogmas auf die historische Darstellung" (S. 7). RÖHSER, Metaphorik.
'"'R. BULTMANN, Theologie, S. 251; vgl. auch ders., Christus, S. 432. RÖHSER, Metaphorik, S. 3. " ° G . RÖHSER, Metaphorik, S. 3.
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Forscbungsgescbichte
zur Kenntnis genommen, aber nicht weiter verfolgt^^^. Methodisch, und das macht die Arbeit Röhsers im Zusammenhang dieser Untersuchung eben so interessant, geht er folgendermaßen vor: In drei Teilen nähert er sich dem paulinischen SündenbegrifF: Teil I behandelt als grundlegendes Merkmal des paulinischen SündenbegrifFs Rom 3,9 {νφ^ αμαρτίαν είναι) als dessen Einführung und deutet Rom 3,23 {πάντες ')схд ημαρτον) von Rom 5,12 her mit dem Ergebnis, das gleichzeitig Prämisse zu sein scheint: Der Tathegriff dürfe dem Machtbegriff nicht untergeordnet werden, so daß der Tatcharakter einerseits und die Universalität andererseits beide grundlegende Merkmale des paulinischen SündenbegrifFs seien. In diesem 1. Teil blendet er bewußt ein wesentliches Merkmal aus, „daß ,hamartia' in Rom 5-7 in einer Vielzahl von Aussagen als handelndes Subjekt auftritt"ii2. Durch diese Ausblendung von Rom 5-8 an dieser Stelle wird nunmehr mit „methodischer" Sicherheit jedes mögliche andere Ergebnis nicht zugelassen, wie sich gleich zeigt. Der traditionelle Machtbegriff wird nun in Тег///durch den der „Metaphorik" ersetzt und erscheint als „der eigentliche Schlüssel zu einer Neuorienierung im Verständnis der paulin. hamartia"^^^. Eine von H. Weinrich übernommene „Bildfeldtheorie", die eine Metapher aufteilt in „bildspendendes" und „bildempfangendes Feld", läßt ihn dann allgemein im griechischantiken Bereich „Sünde" beschreiben als 1. Last, 2. Schmutz bzw. Befleckung, 3. das Aufschreiben von Sünde, 4. ihr Wegnehmen bzw. Lösen, 5. als Krankheit, 6. ihr Verbergen und Enthüllen, 7. Metaphern der Bewegung (fliehen), 8. Sünde als Frucht. Viele griechischantike Metaphern erscheinen als Ubergangsformen zur paulinischen Denkfigur der „Personifikation" (dies sind z. В.: Wachstum, Pflanze, Frucht, Verlebendigung des Begriffs, Tiervergleiche, z. B. Holzwurm, und andere „Personifikationen"). In der Regel, und das ist für Röhser zentral, wird in ihnen „keine Minderung der menschlichen Verantwortlichkeit zum Ausdruck gebracht"^^''. Erst in einem nächsten Schritt wendet er nun seine Ergebnisse auch auf Röm 5-7 ' " G . RÖHSER, Metaphorik, "^G. RÖHSER, Metaphorik, RÖHSER, Metaphorik, "^G. RÖHSER, Metaphorik,
S. S. S. S.
1. 18. 5. 100.
Günter Röbser: PersonifikatioB der Sünde (1987)
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an und benutzt die „paulinische[n] Hauptmetaphern für Sünde"^^® als „Herr-Sklave-Metaphorik", die die Seinsbezirke der politischen, Militär- und Sklavenherrschaft miteinander verbinden, wobei einerseits die menschliche „Verantwortung und Schuld andererseits die „Aussichtslosigkeit der Lage des sündigen Menschen herausgestellt" wird. Daneben finden sich noch die Betrugsmetapher sowie die Metapher des Innewohnens (Christus bzw. der Geist als „Konkurrenten" der Sünde bei Paulus: Rom 7,17; Rom 8,9f; 1 Kor 6,19; Gal 2,20). Selbst in diesen Texten, die die Sünde schildern als eine Größe, die mit Christus bzw. dem Geist in Konkurrenz um den vorchristlichen Menschen tritt, betont Röhser im Unterschied zur „Personalstruktur" der beiden anderen Größen die fundamentale „Tatstruktur" der Sünde^^®. Um nun den paulinischen Texten einigermaßen gerecht zu werden, d. h. die Tatstruktur der Sünde zusammenzubringen mit ihren Eigenschaften als Gegenspielerin, Konkurrentin bzw. Vorgängerin Christi bzw. des Pneumas im Menschen, führt Röhser abschließend im 2. Teil den Begriif der „Personifikation" bzw. der „Prosopoiie" ein als Strukturmuster für a) konkrete Gegenstände, b) Naturkräfte, c) Abstraktnomina, die „mit Prädikaten kombiniert sind, die normalerweise nur Lebewesen zukommen" Obwohl Röhser im Verlauf seiner Untersuchung durch das paulinische Textmaterial gezwungen wird (mit seiner eigenen Bildfeldtheorie) zu erkennen, daß Gerechtigkeit, Gott, Geist, Gnade, Glaube, das „Ich" in Röm 7 allesamt Oppositionsbegriffe bilden zu Sünde, Gesetz und Tod, die also alle als gleichartige Personifikationen zu werten sind, behauptet er weiter den „Tatbegriif"^^^ der Hamartia (die großen Anfangsbuchstaben bezeichnen für Röhser immer die „personifizierte Größe")^^^, um sie dann, in Abwandlung des „Sphäre"-
RÖHSER, RÖHSER, RÖHSER, RÖHSER, RÖHSER, RÖHSER, '^'G. RÖHSER, ""G. RÖHSER, "®G. "^G. "*G. "®G.
Metaphorik, Metaphorik, Metaphorik, Metaphorik, Metaphorik, Metaphorik, Metaphorik, Metaphorik,
S. S. S. S. S. S. S. S.
103. III. III. 120. 125. 134. 141. 132, Anm. 2.
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Forschungsgeschichte
Begriffs von K. als „Tatsphäre"^^^ zu bezeichnen, so daß sich personifizierendes Denken „als solches im Falle der Sünde ohne weiteres aus atl. Tatsphäreaussagen herleiten läßt"^^®. In Auseinandersetzung mit Wilckens' „wirksamer Machtsphäre"^^® gibt er dann den Begriff der „Sphäre" bzw. „Macht" allerdings wieder ganz auf. Erst bei Rom 5,12 gerät die Röhsersche These ins Wanken: hier läßt sich nicht völlig ausschließen, „daß Paulus in Rom 5,12 den Überschritt in Mythologie und ,weltanschauliche' Personifikationen . . . vollzogen hat"^^''^. Von Röhsers bisherigem Ansatz her „ist dies aber äußerst unwahrscheinlich"^^®. Auch daß „Gott" bei Paulus der mit Abstand häufigste Oppositionsbegriff zu „Hamartia" ist, interpretiert Röhser keinesfalls in dem Sinn, „daß die Sündenmacht so etwas wie ein Gegenspieler Gottes ist, fast so etwas wie der Teufel"^^®, sie ist vielweniger „rein innerweltlich"^^ entstanden und keineswegs ein „in Wartestellung befindliches dämonisches U n g e h e u e r " d a s durch den ersten Menschen „wie durch ein Eingangstor in die Menschenwelt eingedrungen" ist^^^. Wenn man den „Tatbegriff" zum alleinigen Maßstab erhebt, an dem man den paulinischen Textbefund mißt, muß man zu diesem „Ergebnis" gelangen! So kann Röhser abschließend nur feststellen, daß „1. die Hamartia für die Christen der Vergangenheit angehört . . . und damit deutlich Gott - der keine zeitliche Begrenzung kennt - untergeordnet jg^ui33 цд^ 2 ¿jg Vorstellung von der eigendynamischen Hamartia bei Pis gleichsam ,eingefaltet' erscheint in den Gedanken des göttlichen Gerichts über den Sünder, ohne jedoch in ihm aufzugehen"^^. Während der 1. Teil der 1. These richtig ist, und das dürfte im Verlauf dieser Arbeit noch deutlicher werden, muß jedoch KOCH, Vergeltungsdogma; ders., Prinzip. RÖHSER, Metaphorik, S. 146. RÖHSER, Metaphorik, S. 154. RÖHSER, Metaphorik, S. 156. '^'^G. RÖHSER, M e t a p h o r i k , S. 1 6 0 .
RÖHSER, Metaphorik, SCHLIER, Römerbrief, RÖHSER, Metaphorik, RÖHSER, Metaphorik, RÖHSER, Metaphorik, RÖHSER, Metaphorik, RÖHSER, Metaphorik,
S. S. S. S. S. S. S.
160. 203, zu Rom 6,13. 159. 159f. 160. 164f. 165.
Günter Röhser: Personißkation
der Sünde (1987)
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mit Nachdruck darauf verwiesen werden, daß Röhser das Subjektsein Gottes in Rom Ι,ΙδΑΓ nicht hinreichend bedacht hat, wenn er von der „Eigendynamik der Hamartia"^^® als gottwidriger menschlicher Tat spricht. „Göttliches Strafhandeln" und „Eigendynamik der Hamartia"^^ müssen für Röhser am Ende - logischerweise - doch mehr oder weniger unverbunden nebeneinander stehen, Paulus dar gegen kann „die Macht der Hamartia" der „Macht Gottes" zu- bzw. unterordnen, indem er z. B. wiederholt von „τταρεδωκεν"· spricht (Röm 1,24.26.28). Auch hier wird noch einmal deutlich, daß der „TatbegrifiF" als hermeneutischer Schlüssel zum Verständnis der paulinischen „Hamartia" völlig unbefriedigend bleiben muß^^^. Für die Beurteilung der Arbeit Röhsers ergibt sich: 1. Die Aporie am Ende der Röhserschen Arbeit zeigt die Aufgabe, ernsthaft in Erwägung zu ziehen und exegetisch durchzuprüfen, ob es nicht sinnvoller ist, Röm 3,9 von Röm 5,12 her zu interpretieren als Vorwegnahme des in Kap. 5 entfalteten Gedankens, und nicht umgekehrt, wie Röhser es getan hat, Röm 5 von Röm 3 her zu sehen. 2. Man kann dabei durchaus, um den Röhserschen Sprachgebrauch aufzugreifen, „Hamartia" bei Paulus als „Personifikation" bezeichnen, muß aber dann offen bleiben für Ergebnisse, die in Röm 5 gewonnen werden und z. B. nicht zu l,18ff in Widerspruch stehen und einen - wie immer auch qualifizierten - Machtcharakter der Hamartia bezeichnen. Ob dann von „Macht", „Machtsphäre", „Sphäre" oder „Einflußbereich" der Hamartia gesprochen werden muß, wird eine Analyse von Röm 5,12-21 zu zeigen haben. 3. Die Aporien der Arbeitsergebnisse Röhsers führen allerdings in den wirklichen Fragehorizont bei der Bestimmung des paulinischen Sündenbegriffs: er liegt weniger - und das dürfte schon RÖHSER, Metaphorik, S. 177. RÖHSER, Metaphorik, S. 180. '^^An dieser Stelle müßte dem Verfasser der „uralte" Streit zwischen Erasmus und Luther im Blick sein: Während der eine - um der Vereintwortlichkeit des Menschen willen - das menschliche liberum arbitrium neben, d. h. über den Willen Gottes steUt, unterwirft der andere das servum arbitrium des Menschen der absconditas Dei und weiß es so besser „aufgehoben".
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Forscbungsgescbicbte hier hinreichend deutlich geworden sein - in „einer intensiven Beschäftigung mit den Begriffen σάρξ und έπΐ'θνμία^''^^, wie Röhser sie vorschlägt, die doch nur wiederum einseitig den Taicharakter der Sünde betonen als „das falsche Trachten des Menschen, . . . das Leben κατά σάρκα zu führen"^^®, sondern, wie Brandenburger^^® zeigt, in der Frage nach den „Tiefenschichten"^^^, die eventuell im paulinischen Sündenbegriff immer mitenthalten sind: So bezeichnet die „Hamartia" bei Paulus die Tiefendimension des menschlichen Fehlverhaltens, von dem sie noch einmal unterschieden ist Diese Aspekte hat, wie Röhser bescheinigen muß, Bultmann immer mitgedacht, wenn er - auch später - den Machtaspekt der Sünde nicht preisgibt^"^^. Allerdings darf dann der paulinische Gebrauch der mythologischen Rede (Angelologie, Dämonologie, Satanologie) gerade nicht ausgeblendet oder vorschnell „metaphorisch" interpretiert werden, wie z. B. ein zeitgenössischer Vergleich mit den Apokryphen und Pseudepigraphen und der rabbinischen Literatur überhaupt zeigt^'*^. Für Paulus dürfte sie nicht nur „Bild" oder „Metapher" sein, sondern „Wirklichkeit" benennen. 4. Röhser hätte seine These der „Tatsünde" außerdem stützen können mit der übrigen paulinischen Literatur in 1 und 2 Kor, Gal u. a. Dort bieten sich Hinweise für menschliches „Fehlverhalten" in großer Zahl. Warum tut er das nicht? Sind diese Hinweise eventuell keine wirklichen „Argumente", weil sie nämlich den Begriff der αμαρτία überhaupt nicht in diesem Zusammenhang gebrauchen? Das bleibt in dieser Arbeit zu überprüfen^^"*. RÖHSER, M e t a p h o r i k , S. 181.
RÖHSER, Metaphorik, S. 181, zitiert R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen ^^1977, S. 247. '^"E. BRANDENBURGER, B ö s e .
BRANDENBURGER weist aiif Gen 3 als Voraussetzung für Rom 5 imd 7. BULTMANN, Ethik, S. 49; ders., Theologie, S. 332ίΤ. "®Wie z. B. Gen 6,1-4 weitergewirkt hat, belegen Arbeiten von G. E. GLOSEN, Sünde, und P. SCHÄFER, Rivalität. '^^Zu den Stellen finden sich auch Exegeten, die Röhser ids ihren „Gewährsmann" angeben. Wie die These Röhsers aufgenommen wird, dokumentieren z. B. Stuhlmacher imd Berger. So kann P. STUHLMACHER, Biblische Theologie, zwar in
Ingrid Goidbabn-MüUer: Die Grenze der Gemeinde (1989)
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Ingrid Goldhahn-Müller: Die Grenze der Gemeinde (1989)
Als protestantisches „Gegenstück" zu Poschmanns Paenitentia secunda erschien 1989 Ingrid Goldhahn-Müllers Studie über die Grenze der Gemeinde. In ihrer Gesamttendenz grenzt sie sich sowohl gegen diesem Zusammenhang formulieren (S. 282): „Aus Gal 3,26-28; 4,4-6; 1 Kor 6,11; 12,13; 2 Kor 5,17 und Rom 8,3-4 ergibt sich, daß Paulus die durch Glaube und Taufe unter die Herrschaft Christi gestellten Christen in einer grundsätzlich anderen Position vor Gott sieht als die Ungläubigen. ... Sünde und Tod haben über sie keine Macht mehr (Rom 6,9.14), und um der Fürsprache Christi willen stehen sie bis ins Endgericht hinein anders da eJs die imgläubigen αμαρτωλοί (vgl. 1 Kor 3,15; 5,5; Rom 8,31-39). So mächtig und gewichtig für den Apostel die Sünde ist, so entschieden erldärt er sie durch Christus für überwunden und hält auch die in imd durch Christus neu gewordenen Christen für fähig, sich aus der Kraft des Hl. Geist heraus der Versuchimg zu sündigen zu erwehren (Rom 8,9-13; Phil 2,12-13)". Diesem Sündenbegriff, der eindeutig den Machtaspekt imterstreicht, stellt er aber einen Tataspekt gegenüber, wenn er schreibt (S. 282): „Wie z. B. 1 Kor 5,1-13; 6,1-8; 11,27-31 zeigen, kannte Paulus das Problem der Christensünde durchaus, imd alle drei Texte dokumentieren, daß er der Sünde auch in der imd für die Gemeinde tödliches Gewicht beigemessen hat". Welches paulinische Wort übersetzt Stuhlmacher hier mit „Sünde"? Hamartia jedenfckUs nicht, s. u. Diese Unsauberkeit hinsichtlich des á/