Im Bett mit der Macht: Kulturgeschichtliche Blicke in die Schlafzimmer der Herrschenden 9783205786290, 3205786297

Die Erotik der Macht und die Macht der Erotik werden nicht selten als naturgegebene und zeitlose Phänomene betrachtet. M

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German Pages 203 [208] Year 2011

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Im Bett mit der Macht: Kulturgeschichtliche Blicke in die Schlafzimmer der Herrschenden
 9783205786290, 3205786297

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Johannes Giessauf /Andrea Penz / Peter Wiesflecker (Hrsg.)

Im Bett mit der Macht Kulturgeschichtliche Blicke in die Schlafzimmer der Herrschenden

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

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Gefördert durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung das Amt der Steiermärkischen Landesregierung die Universität Graz die Grazer Morgenländische Gesellschaft

Mit Unterstützung von Universalmuseum Joanneum Graz Österreichische Hochschülerschaft Graz BDO Graz GmbH Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-205-78629-0 Coverabbildung: Universalmuseum Joanneum Graz Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Über­ setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf ­fotomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar www.boehlau-verlag.com

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier Druck: Generál, HU-6726 Szeged

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Inhaltsverzeichnis

Das Reich als Mitgift. Die Frauen der Adoptivkaiser Sabine TAUSEND . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vom Bart der Hatschepsut zu den vier Ehen der Kleopatra. Eine schematische Skizze zur Bedeutung von Pharaoninnen Heribert AIGNER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Wenn Khane kuscheln. Werben raue Reiter wilder? Johannes GIESSAUF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Die Macht des Harems. Gisela PROCHÁZKA-EISL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Der kurze Weg vom Appartamento Borgia bis zum Konzil von Trient, oder: Das (un-?)gewöhnliche Leben des Papstes Paul III. Stefan SCHIMA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Von „idealen Erzherzoginnen“ und den „Hengsten Europas“. Initation, Heirat und Ehe an Europas Fürstenhöfen Peter WIESFLECKER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Von einer sexuellen Großmacht zum Hanswurst seiner Hormone. Don Juan im Prozess der Zivilisation Beatrix MÜLLER-KAMPEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Signior Dildo. Dichter, Höfling, Wüstling. John Wilmot Earl of Rochester (1647–1680) Andrea PENZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

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Inhaltsverzeichnis

Prostitution und die feinen Leute. Der Sklave am antiken Sklavenmarkt und andere Klienten Roland GIRTLER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Das Haus Habsburg-Lothringen und seine „Häuser“. Ein Rundgang mit Einblicken vom 18. in das 20. Jahrhundert Lorenz MIKOLETZKY . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193



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Einleitung

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er vorliegende Sammelband Im Bett mit der Macht. Kulturgeschichtliche Blicke in die Schlafzimmer der Herrschenden ging aus einer gleichnamigen, im Wintersemester 2008/2009 an der Karl-Franzens-Universität Graz abgehaltenen Ringvorlesung hervor. Sowohl die Lehrveranstaltung als auch die nunmehrige Publikation verstehen sich als ein bewusstes Konzept wider eine nicht selten öffentlichkeitsscheue Wissenschaft. Eine wesentliche Intention dieser Veranstaltungsreihe war es, einen Dialog zwischen wissenschaftlicher Forschung und einer breiten Öffentlichkeit anzustoßen, der an der Karl-FranzensUniversität Graz auch in anderer Form, etwa durch die Etablierung der siebenten fakultät – Zentrum für Gesellschaft, Wissen und Kommunikation forciert wird. Themen aus unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen bzw. solche, die eine aktuelle gesellschaftspolitische Relevanz besitzen, sollen auf diesen Wegen einer breiten, auch nichtakademischen Öffentlichkeit durch Expertinnen und Experten nahegebracht werden. Die Ringvorlesung hatte es sich zum Ziel gesetzt, einen chronologisch-thematischen Überblick über die vielfältigen kulturellen Erscheinungsformen und Wechselbeziehungen von Macht und Erotik zu vermitteln. Den Initiatoren war es dabei wichtig, Fachleute aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen als Referentinnen und Referenten zu gewinnen. Bis auf einen sind auch alle Vortragenden der Einladung, ihre Ausführungen für diesen Sammelband zu verschriftlichen, gefolgt. Der Vorwurf, den man nicht selten gegen Sammelbände erhebt, ist jener, dass sie disparat wirken. Auch gegen diesen mag dies ins Treffen geführt werden. Nicht wenige Herausgeber begegnen dieser möglichen Kritik dadurch, dass sie ihrer Publikation gleichsam als inhaltliche Klammer einen theoretischen und geistesgeschichtlichen Diskurs voranstellen, der zugleich auch einen Überblick über Forschungsstand und Forschungstendenzen wiedergibt. Auch darauf haben die Herausgeber dieses Bandes bewusst verzichtet, denn eine gültige Definition von Macht und Erotik im Spiegel von Kulturgeschichte unter Einschluss aller Disziplinen wäre ein aussichtsloses Unterfangen gewesen und erschien daher wenig sinnvoll. Allein in den historischen Wissenschaften ist es bislang nicht gelungen, zu einer allgemein anerkannten und inhaltlich abgestimmten Begriffsdefinition von Kulturgeschichte zu gelangen. Nach wie vor finden sich die unterschiedlichsten Theorien, Konzepte und Methoden in einer – mehr oder weniger friedlichen – Koexistenz nebeneinander bzw. einem – mitunter weniger verhalten geführten – permanenten wissenschaftlichen Diskurs.

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Die folgenden kurzen Bemerkungen sollen daher weniger als Einführung zum großen Themenkreis Macht und Erotik verstanden werden, sondern lediglich auf Fragestellungen hinweisen, die für die Konzeption der Veranstaltungsreihe maßgeblich waren und im Rahmen der Ringvorlesung aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet wurden. Die Erotik der Macht und die Macht der Erotik werden nicht selten als naturgegebene und zeitlose Phänomene betrachtet. Ist es ein überkommenes Denkschema, ein stark strapaziertes Klischee, dass Macht und die Erotik der Macht anziehen und verführen? Oder wohnt der Erotik der Macht doch eine geheimnisvolle Kraft inne? Mächtige waren und sind wohl stets anziehend. Macht und Erotik ziehen demnach nicht nur an, sondern faszinieren vor allem, nicht nur die Akteure allein, sondern auch den Betrachter der Wechselbeziehungen zwischen Macht und Erotik. Vor allem der Boulevard lebt von dieser Faszination und dem nie versiegenden Interesse der Öffentlichkeit daran prächtig. So setzte das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel anlässlich der bekanntgewordenen Verbindung des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy zu seiner späteren Frau Carla Bruni Die Erotik der Macht auf das Cover seiner Ausgabe vom April 2008. Und diese ließ – einem Ondit zufolge – wissen, sie wolle nur einen Mann mit nuklearer Macht haben. Erotik und Macht stehen also bis heute in einem spannungsreichen Verhältnis, sind demnach aufeinander bezogen und miteinander verknüpft, wie die in diesem Band zusammengefassten Beiträge aus den Bereichen Altertumswissenschaft, Geschichte, Orientalistik, Rechtsphilosophie, Germanistik und Soziologie zeigen, in denen zehn österreichische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht nur kulturgeschichtliche Blicke in die herrschaftlichen Schlafgemächer von Kleopatra, römischen Kaisern, Tschinggis Khan, Süleymān dem Prächtigen, Papst Paul III. und anderen historischen Persönlichkeiten werfen, sondern zugleich Initiation, Heirat und Ehe an den Fürstenhöfen Europas und Asiens beleuchten. Sie thematisieren dabei interdisziplinär Fragen nach Sitte und Scham, Intimität und Kontrolle im Spiegel von Sexualität und Repräsentation. Die Annäherung an diese Fragen erfolgt unterschiedlich. Einige Beiträge sind bestimmten Epochen gewidmet, wie jener über die Frauen der Adoptivkaiser bzw. Cäsar und Kleopatra. Andere wiederum erschließen die Thematik durch Blicke auf die im weitesten Sinn „höfische“ Welt unterschiedlichster Provenienz. Hier spannt sich der Bogen von den Steppenkhanen, über Hof und Harem der Osmanen bis hin zu Europas Höfen zwischen beginnender Neuzeit und 20. Jahrhundert. Andere Beiträge nähern sich der Wechselbeziehung von Macht und Erotik in biografischen Abrissen, so jener über Papst Paul III. oder über einen Günstling und Höfling Karls II. von England. Der literarisch und musikalisch wirkmächtigen Figur des „Don Juan“ ist ein weiterer Beitrag gewidmet, ein anderer jener – wenn man so will – region de passage der Halb- und Unterwelt, in der sich unterschiedlichste Lebens- und Wirkungskreise berühren.

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Schlussendlich haben die Herausgeber einer Reihe von Personen zu danken, ohne die dieser Band nicht hätte erscheinen können. Der Dank gilt den Vortragenden im Rahmen der Ringvorlesung, insbesondere dafür, dass sie der Einladung, ihre Vorlesung für die Drucklegung einzurichten, gefolgt sind. Dem Böhlau Verlag, insbesondere Dr. Eva Reinhold-Weisz sind die Herausgeber für die Bereitschaft, den Sammelband in das Verlagsprogramm aufzunehmen, ebenso verbunden wie Mag. Elisabeth Klöckl-Stadler, die das Korrektorat besorgte. Die Wissenschaftsabteilung des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung (Mag. Anita Rupprecht), das Vizerektorat für Forschung und Weiterbildung der Karl-Franzens-Universität Graz (Univ.-Prof. Dr. Irmtraud Fischer) und die Grazer Morgenländische Gesellschaft haben die Drucklegung durch die Gewährung der Druckkostenzuschüsse ermöglicht. Diesen sei ebenso gedankt wie jenen Institutionen, aus deren Sammlungsbeständen die Vorlagen für die Illustrationen dieses Bandes stammen, insbesondere dem Universalmuseum Joanneum Graz und Dr. Andreas Schnitzler. Nicht zuletzt gilt unser Dank dem Vizerektor für Studium und Lehre der Karl-FranzensUniversität Graz, ao. Univ.-Prof. Dr. Martin Polaschek, der dieses Projekt von Anfang an tatkräftig unterstützt hat. Graz, Jänner 2011

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Das Reich als Mitgift Die Frauen der Adoptivkaiser

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ereits 1978 hat Hildegard Temporini die nach wie vor kontroversiell diskutierte Frage aufgeworfen, wie es von der noch relativ bescheidenen Hervorhebung der Frauen im ersten Jahrhundert zu der ‚Frauenherrschaft‘ des dritten Jahrhunderts1 kommen konnte, und beantwortete diese mit ihrer Monografie über die Frauen am Hofe Trajans. Die Position, welche die Gattinnen der sogenannten Adoptivkaiser einnehmen, scheint nämlich durchaus geeignet, die Brücke zu den machtvollen Severerinnen zu schlagen, ohne für dieses Phänomen den Import orientalischer Gewohnheiten nach Rom bemühen zu müssen. Mit ihrer Studie hat sie eine systematische strukturgeschichtliche Untersuchung zur Funktion der Kaiserfrauen initiiert, während diese in vielen älteren Arbeiten auf ein voyeuristisches Schwelgen in Hofskandalen reduziert blieben.2 Der mittlerweile in der Forschung dominierende Terminus ‚Adoptivkaiser‘ – Alfred Heuss präferiert die Bezeichnung „humanitäres Kaisertum“3 – betont als Charakteristikum dieser Phase römischer Kaiserherrschaft, dass die Nachfolge im Amt nicht der leibliche Nachkomme antrat. Vielmehr wurde ein optimal für die Ausübung des Amtes geeigneter Kandidat adoptiert.4 Es besteht allerdings kein Zweifel daran, dass im Panegyricus, einer von Plinius dem Jüngeren auf den Kaiser Trajan verfassten Lobrede5, das Prozedere, 1 2

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Temporini, Hildegard: Die Frauen am Hofe Trajans. Ein Beitrag zur Stellung der Augustae im Principat. Berlin/New York 1978, S. 6. Vgl. etwa Stahr, Adolf: Römische Kaiserfrauen. Berlin 1865; McCabe, Joseph: The Empresses of Rome. New York 1911; Ferrero, Guglielmo: Die Frauen der Caesaren. Leipzig 1912; Kornemann, Ernst: Große Frauen des Altertums. Leipzig 1942. Zur Forschungsgeschichte vgl. Hartmann, Elke: Frauen in der Antike. Weibliche Lebenswelten von Sappho bis Theodora. München 2007, S. 202–208. Gehrke, Hans-Joachim / Dahlheim, Werner / Bleicken, Jochen u. a. (Hrsg.): Römische Geschichte. Paderborn 61998, S. 342. Vgl. dazu Nesselhauf, Herbert: Die Adoption des römischen Kaisers. In: Hermes 83 (1955), S. 477– 495; Büchner, Karl: Tacitus und Plinius über Adoption des römischen Kaisers. In: Rheinisches Museum 98 (1955), S. 289–312. Vgl. dazu Barbu-Moravová, Magdalena: Trajan as an ideal ruler in Pliny’s Panegyric. In: Acta Universitatis Carolinae. Philologica. Graecolatina Pragensia 18 (2000), S. 7–18; Münscher, Karl: Kritisches zum Panegyrikus des jüngeren Plinius. In: Rheinisches Museum 73 (1920–1924), S. 174–198;

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einen passenden Nachfolger zu adoptieren, als Remedium jener verstanden wird, denen leibliche Nachkommen versagt geblieben sind.6 Das Verfahren stellt an und für sich weder ein neues noch ein besonders imponierendes Phänomen7 dar. Zahlreiche Mitglieder der iulisch-claudischen Familie wie Augustus, Tiberius und Nero waren adoptiert worden und auch der kinderlose Galba hatte dieses Instrument der Nachfolgeregelung8 benutzt, um Calpurnius Piso Licianus als Kandidaten um das höchste Amt ins Spiel zu bringen. Angesichts der Reputation, die den Herrschern Tiberius und Nero anhaftete, und in Anbetracht des kläglich gescheiterten Experiments mit Piso9 empfahl sich diese Form der Sukzession jedoch nicht zwingend. Das qualitativ Neue10 an der Adoption Pisos war die Tatsache gewesen, dass zwischen Galba und Piso kein wie immer geartetes Verwandtschaftsverhältnis bestand. Das mag der Grund für die ausführliche Schilderung11 der vorgebrachten Argumente in den Historien des Tacitus gewesen sein. Am Exempel des Augustus12 wird der gravierende Unterschied zu der von Galba präferierten Alternative deutlich herausgearbeitet. Während der erste Princeps die Exponenten seiner diversen Erbfolgeregelungen stets in domo13 zu rekrutieren pflegte, sei Letzterer in re publica14 fündig geworden. In diesem Zusammenhang wird betont, dass es Galba keineswegs an für eine Adoption verfügbaren Familienmitgliedern gefehlt hätte.15 Die neue Stilisierung operiert mit dem Hinweis, ursprünglich wäre man

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Maroti, Egon: Bemerkungen zum Panegyricus des Jüngeren Plinius (Ad. Paneg. 13,3). In: Acta classica Universitatis Scientiarum Debreceniensis 26 (1990), S. 77–78; Woytek, Erich: Der Panegyricus des Plinius. Sein Verhältnis zum Dialogus und den Historiae des Tacitus und seine absolute Datierung. In: Wiener Studien 119 (2006), S. 115–156; Molin, Michel: Le Panégyrique de Trajan: éloquence d’apparat ou programme politique néo-stoicien? In: Latomus 48 (1989), S. 785–797. Plin. paneg. 94,5. Vgl. dazu Temporini, Hildegard: Die Kaiserinnen Roms. Von Livia bis Theodora. München 2002, S. 190. Christ, Karl: Geschichte der römischen Kaiserzeit: Von Augustus bis Konstantin. München 2005, S. 288. Ebd. Vgl. dazu McCulloch, Harold Y.: The ill-omended murder of Piso (Tac. Hist. 1,43). In: Hermes 110 (1982), S. 380–384. Ebd. Tac. hist. 1,14–1,17. Vgl. dazu O’Gorman, Ellen: Alternate Empires: Tacitus’s virtual history of the Pisonian Principate. In: Arethusa 39 (2006), S. 281–301. Tac. hist. 1,15,1. Tac. hist. 1,15,2. Ebd. Dass diese Galba in den Mund gelegte Behauptung kaum verifizierbar ist, scheinen die nur unzureichend dokumentierten und damit mühsam rekonstruierbaren Verwandtschaftsverhältnisse des

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unius familiae quasi hereditas16 gewesen, während nunmehr verwandtschaftliche Beziehungen aus prinzipiellen Erwägungen durch ein klar umrissenes Anforderungsprofil ersetzt werden sollten.17 Diese Vorstellung wird auch zum essenziellen Bestandteil der Ideologie des Adoptivkaisertums. Nach der Ermordung Domitians empfahl sich der betagte und kinderlose M. Cocceius Nerva als Übergangslösung, die eine Vertagung der Machtfrage gestattete.18 Als dieser seinerseits, gleichermaßen von Soldaten, die dem ermordeten Domitian die Treue hielten, und Senat bedrängt, die Flucht nach vorne antrat und Traian adoptierte19, geschah dies unter völlig anderen Vorzeichen. Der zum minister degradierte Adoptivvater tritt gänzlich in den Hintergrund.20 In diesem Fall verheißen göttliche Zeichen die Herrschaft und die auf diese Weise signalisierte Zustimmung Jupiters hebt sich augenfällig von den unheilvollen omina des völlig gescheiterten Adoptionsaktes ab.21 Auch der Umstand, dass die Adoption Traians auf dem Capitol22 im Zusammenhang mit einem militärischen Erfolg23 feierlich verkündet wird, betont den Aspekt der Sieghaftigkeit als bedeutsam für das Gelingen dieses Unternehmens.24

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Kaisers nahezulegen. Zur gens Sulpicia vgl. Münzer, Friedrich: RE IVA1 (1931), Sp. 772–808, hier 774f. Tac. hist. 1,16,1. Vgl. dazu Kostermann, Erich: Das Charakterbild Galbas bei Tacitus. In: Pöschl, Viktor (Hrsg.): Tacitus. Darmstadt 1969, S. 413–431; Nawotka, Krystof D.: Imperial virtues of Galba in the „Histories“ of Tacitus. In: Philologus 137 (1993), S. 258–264; Welwei, Karl-Wilhelm: Verdeckte Systemkritik in der Grabrede des Tacitus. In: Gymnasium 102 (1995), S. 353–363; Fusshoeller, Elisabeth: Prinzipatsideologie und Herrschaftsübertragung im Vierkaiserjahr: Der Reformversuch Galbas und seine Bedeutung für die Ereignisse 68/69. Bonn 1958. Berriman, Andrew / Todd, Malcolm: A very Roman coup: The hidden war of imperial succession, AD 96–98. In: Historia 50 (2001), S. 12–331; Geer, Russell M.: Second thoughts on the imperial succession from Nerva to Commodus. In: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 67 (1936), S. 47–54; Grainger, John D.: Nerva and the Roman succession crisis of AD 96–99. London/New York 2003. Plin. paneg. 6,4. Plin. paneg. 8,1–2. Siehe Tac. hist. 1,18,1; Plut. Galba 23. Vgl. dazu Kienast, Dietmar: Nerva und das Kaisertum Trajans. In: Historia 17 (1968), S. 51–71, hier 70. Der Senat wird vor vollendete Tatsachen gestellt und erst nachträglich in Kenntnis gesetzt. Vgl. Cass. Dio 68,3,4. Vgl. dazu Eck, Werner: Traian – Der Weg zum Kaisertum. In: Nünnerich-Asmus, Annette (Hrsg.): Traian. Ein Kaiser der Superlative am Beginn einer Umbruchzeit? Mainz 2002, S. 7–20; ders.: An emperor is made: Senatorial politics and Trajan’s adoption by Nerva in 97. In: Gillian Clark / Rajak, Tessa (Hrsg.): Philosophy and power in the Graeco-Roman world. Essays in honour of Miriam Griffin. Oxford 2002, S. 211–226.

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Die von Plinius als glücklich geschilderte Ehe25 des Kaisers Traian mit seiner Gattin Plotina blieb jedoch kinderlos. Obwohl Traian einen Neffen zweiten Grades26, den Enkel seiner Tante Ulpia, hatte, als dessen Vormund27 er fungierte, schien bei allfälligen Sukzessionsüberlegungen primär die Nachkommenschaft seiner Schwester Ulpia Marciana eine Rolle zu spielen. Wiewohl Plinius das Ideal der Adoption in höchsten Tönen preist, 28 scheint er diese Vorgangsweise dennoch als Surrogatlösung zu betrachten, wenn er für den Kaiser von Jupiter einen leiblichen Nachkommen erbittet.29 Die verwitwete Schwester des Princeps zog mit ihrer ebenfalls verwitweten Tochter und ihren Enkelinnen in den kaiserlichen Palast. Ein rundum positives Verhältnis der Schwägerinnen zueinander bezeugt Plinius30, der der kaiserlichen Schwester simplicitas, veritas und candor attestiert.31 Die Geschicklichkeit des Kaisers hätte vornehmlich darin bestanden, die Damen seiner Familie durch Gleichrangigkeit in Eintracht miteinander zu verbinden. Allerdings werden beide Frauen in der Hauptsache darauf reduziert, die hervorragenden Eigenschaften Traians zu verstärken und einen passenden Hintergrund für die kaiserliche Vorzüglichkeit zu schaffen.32 Die völlige Absenz familiärer Zwistigkeiten soll vermutlich den Kontrast zu den unter Domitian herrschenden Verhältnissen deutlich machen.33 Als erste soror Augusti wird Marciana mit dem Augusta-Titel geehrt34 und auf einer eigenen Münze verewigt. Zur Bestätigung ihrer Würdigkeit wird sie mit dem Privileg des carpentum ausgezeichnet35 und die Darstellung der fecunditas auf dem Revers der Mün25 Plin. paneg. 83,6. 26 Zum Verwandtschaftsverhältnis vgl. SHA Hadr. 1,2; Epit. Caes. 14,1; Cass. Dio 69,1,1; Epit. Caes. 13,11. Vgl. den Stammbaum bei Temporini, Kaiserinnen, S. 222f. 27 SHA Hadr. 1,4. 28 Plin. paneg. 7,4. 29 Plin. paneg. 94,5. 30 Plin. paneg. 83 und 84. Vgl. Cass. Dio 68,5,5. 31 Plin. paneg. 84,5. Vgl. dazu die ausführliche Darstellung bei Kirchleitner, Stefanie: Die Frauen der Adoptivkaiser. Ungedr. Diplomarbeit Graz 2008/09, S. 18–21. 32 Vgl. dazu Mause, Michael: Die Darstellung des Kaisers in der lateinischen Panegyrik. Stuttgart 1994, S. 125, der die Damen als „Appendix“ bezeichnet. 33 Vgl. Plin. paneg. 52,3; Plin. epist. 4,11,6; Cass. Dio 67,3,1f.; Suet. Dom. 3,1. Vgl. Seelentag, Gunnar: Taten und Tugenden Traians. Herrschaftsdarstellung im Prinzipat, Stuttgart 2004. 34 Siehe Kirchleitner, Frauen, S. 22 mit Quellen und Literaturangaben. Vgl. Seelentag, Taten, S. 354–356. 35 Pagnotta, M. A.: Carpentum: privilegio del carro e ruolo sociale della matrona romana. In: Annali della facoltà di lettere e filosofia di Perugia 15 (1977–1978) 1, S. 159–70; Lucchi, G.: Sul significato del carpentum nella monetazione romana imperiale. In: Rivista italiana di numismatica e scienze affini 70 (1968), S. 131–143. Vgl. dazu Stoll, Richard: Frauen auf römischen Münzen. Biographisches und Kulturgeschichtliches im Spiegel der antiken Numismatik. Trier 1996.

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chen weist auf ihren Reichtum an Nachkommen hin.36 Ähnlich präsentiert sich das Bildprogramm der Münzen für die Gattin des Kaisers. Selbstverständlich wird angesichts der Kinderlosigkeit Plotinas das Motiv der Fruchtbarkeit durch passendere Bilder wie pudicitia und andere ersetzt.37 Nach ihrem Tode werden beide Frauen divinisiert.38 Unmittelbar nach dem Tod und der Konsekration ihrer Mutter39 folgt die Nichte Traians, Matidia die Ältere40, ihrer Mutter als Augusta nach.41 Gemeinsam mit ihren Töchtern Matidia der Jüngeren42 und Vibia Sabina43 garantiert sie den Fortbestand der Dynastie. In der Münzprägung dominiert pietas, die Verkörperung familiärer Eintracht.44 Um 100 n. Chr. wurde die Großnichte des Kaisers, Sabina, die nunmehr ausschließlich über göttliche Vorfahren verfügte45, mit dem einzigen männlichen Verwandten des Princeps, Hadrian, verheiratet. Als treibende Kraft dieser dynastischen Verbindung wird vom Autor der Vita explizit Plotina genannt, die diese Eheschließung sogar gegen den ausdrücklichen Willen ihres Gatten durchgesetzt haben soll.46 Vom favor Plotinae weiß der die Kaisergattin konsequent negativ beurteilende Cassius Dio nichts zu berichten.47 Jedenfalls scheint sich der von Hadrian etablierte ‚Schwiegermutterkult‘ nicht unwesentlich durch den Umstand zu erklären, dass er über Matidia maior, die durch die Adoption auch seine consobrina, Cousine, wird, eine direktere Anbindung an Traian erzielt als durch sein eigenes Verwandtschaftsverhältnis zu diesem.48

36 Zur Münzprägung Marcianas vgl. Temporini, Frauen, S. 100–115; Kirchleitner, Frauen, S. 21–25 mit Quellen und ausführlichen Literaturangaben. 37 Zur Münzprägung Plotinas vgl. Temporini, Frauen, S. 255–258; Kirchleitner, Frauen, S. 25–28 mit Quellen und ausführlichen Literaturangaben. 38 Zur Diva Marciana vgl. Temporini, Frauen, S. 246–259; zur Diva Plotina, ebd., S. 168–175. 39 Bickermann, Elias J.: Diva Augusta Marciana. In: American Journal of Philology 95 (1974), S. 362– 376. 40 Vgl. Gualerzi, Saverio: Una matrona sul confine: Matidia maggiore. In: Hernández Guerra, Liborio (Hrsg.): La Hispania de los Antoninos (98–180). Valladolid 2004, S. 213–234. Zu Matidia maior vgl. auch Kirchleitner, Frauen, S. 54–58. 41 Fast. Ost. XXII 39–43; siehe dazu ausführlich Temporini, Frauen, S. 194. 42 Taliaferro Boatwright, Mary: Matidia the Younger. In: Échos du monde classique 36 (1992), S. 19– 32. 43 Traverso, Marco: Donne al confine: il caso di Aelia Sabine. In: Buonopane, Alfredo / Cenerini, Francesca (Hrsg.): Donna e lavoro nella documentazione epigrafica. Bologna 2002, S. 57–62. 44 Vgl. Kirchleitner, Frauen, S. 48–54. 45 Zur Einmaligkeit dieser Konstellation vgl. Temporini, Kaiserinnen, S. 376. 46 SHA Hadr. 2,10. 47 Cass. Dio 69,1,1. 48 Vgl. Kirchleitner, Frauen, S. 58 Anm. 430 mit Literaturdiskussion.

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Eine ähnlich aktive Rolle wird Plotina unisono von allen Quellen nachgesagt, die von der Adoption Hadrians berichten.49 So etwa prahlt Cassius Dio mit seinem ‚Insiderwissen‘, das er seinem 60 Jahre nach Traians Tod als Statthalter in Kilikien amtierenden Vater verdankt, wenn er erklärt, Plotinas Engagement für ihren Günstling Hadrian sei Êx Êrwtik²V filíaV50 („aus erotischer Zuneigung“) erfolgt. Tatsächlich lassen sich die Vorgänge am Totenbett das Kaisers im kilikischen Selinus nicht rekonstruieren.51 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang erscheint der Umstand, dass allfällige Machenschaften der ebenfalls vor Ort weilenden Matidia, der Schwiegermutter des nachmaligen Princeps, mit keiner Silbe erwähnt werden. Umso befremdlicher ist die deutliche Bevorzugung Matidias. Ebenfalls bemerkenswert scheint, dass der mit Hadrian befreundete hochdekorierte Prätorianerpräfekt Acilius Attianus, der gemeinsam mit Plotina die Adoption bezeugte, bereits im Jahre 119 sein Amt verlor. Es wird sogar berichtet, Hadrian hätte ihm nach dem Leben getrachtet.52 Ein gewichtiges Argument für Verfechter von Verschwörungstheorien bietet das unerwartete Hinscheiden des M. Ulpius Phaedimus, eines Freigelassenen und Dieners des Kaisers,53 der kurz nach seinem Herrn im jugendlichen Alter von 28 Jahren ebenfalls in Kilikien verstarb. Ob es sich bei diesem Todesfall um ein weiteres Opfer einer möglicherweise aus den Angaben von Cassius Dio zu erschließenden Epidemie handelt,54 oder ob ein lästiger Mitwisser der Adoptionsscharade beseitigt werden sollte, lässt sich nicht beantworten. Angesichts der Spekulationen um die lediglich vorgetäuschte oder tatsächlich noch auf dem Sterbebett erfolgte Adoption Hadrians überrascht der Umstand, dass sogar der skeptische Cassius Dio nicht verschweigt, dass Traian Hadrian als Statthalter von Syrien eingesetzt und ihm die Legionen für den anstehenden Partherkrieg überantwortet hatte.55 Auch Aurelius Victor erwähnt, dass der Kaiser bereits vor dem Ausbruch seiner Krankheit 49 SHA Hadr. 4,10; Cass. Dio 69,1,1ff.; Eutr. 8,6,1; Epit. Caes. 13,13. Vgl. dazu Kirchleitner, Frauen, S. 35–44 mit ausführlicher Literaturdiskussion. 50 Cass. Dio 69,1,2. 51 Vgl. dazu Weber, Wilhelm: Die Adoption Kaiser Hadrians. Dissertation Universität Heidelberg 1907; Brassloff, Stephan: Die Rechtsfrage bei der Adoption Hadrians. In: Hermes 49 (1914), S. 590–601; Merten, Elke W.: Die Adoption Hadrians. In: Lippold, Adolf / Himmelmann, Nikolaus (Hrsg.): Bonner Festgabe Johannes Straub zum 65. Geburtstag. Bonn 1977, S. 247–259; Whitton, Christopher L.: The rhetoric of accession. Tacitus’ early historical works as trajanic legitimation. Dissertation Cambridge 2008. 52 SHA Hadr. 9,3–5; 15,2. 53 CIL VI 1884 = ILS 1792. 54 Cass. Dio 68,31,4 berichtet nämlich von Mücken, die sich auf Speisen und Getränken niederließen. 55 Cass. Dio 68,33,1; 69,1,1f. Temporini, Frauen, S. 156 resümiert: Wie planmäßig vorsichtig und wirkungsvoll der Kaiser aber seinen Nachfolger aufgebaut hat, wurde bisher kaum erkannt.

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seinen männlichen Verwandten zur Teilhabe an der Herrschaft herangezogen hätte.56 Die Behauptung Eutrops, Hadrian sei gegen den ausdrücklichen Willen Traians an die Macht gekommen,57 scheint seine Schlüsselposition im Osten des Reiches nicht ins Kalkül zu nehmen. Auch die Mutmaßung der Historia Augusta58, Traian habe nach dem Vorbild Alexanders des Großen bewusst keinen Nachfolger erkoren, kann keine hohe Plausibilität beanspruchen. Weit wahrscheinlicher ist es, dass der Kaiser, dem der Senat einen Triumph gewährt hatte,59 aus diesem Grund nach Rom zurückkehren wollte. Möglicherweise hatte er geplant, bei dieser Gelegenheit die Adoption Hadrians zu verkünden. Der in diesem Zusammenhang erforderliche Aspekt der Sieghaftigkeit, den Nerva zu betonen bemüht war, hätte sich im Rahmen eines Triumphzugs perfekt transparent machen lassen. Krankheit und Tod des Kaisers könnten die sorgfältig geplante Regie des Adoptionsaktes auf dem Capitol vereitelt haben, weswegen der staatserhaltende Vorgang nicht coram publico in Rom, sondern in camera caritatis in Selinus erfolgen musste. Der für den vergöttlichten Herrscher posthum organisierte Triumph über die Parther60 wäre der bescheidene Rest dieser von langer Hand sorgfältig vorbereiteten Inszenierung. Der auffallende Umstand, dass Plotina als ‚Kaisermacherin‘ gilt, während Matidia nicht in die sinistren Machenschaften involviert scheint, korrespondiert mit den Ehrungen, die Hadrian den Frauen seiner Familie nach diesem Ereignis zukommen ließ. Während der Kaiser stets die Dynastie schaffende Funktion seiner Schwiegermutter betonte,61 wird Plotina vergleichsweise ‚stiefmütterlich‘ behandelt.62 Ob aus dem Phänomen, dass nach Plotinas Tod keine Konsekrationsmünzen geschlagen werden und auch auf Memoria-Prägungen verzichtet wird, geschlussfolgert werden darf, dass Hadrian sich der kompromit56 Epit. Caes. 13,11. 57 Eutr. 8,6,1. 58 SHA Hadr. 4,9: Et multi quidem dicunt Traianum in animo id habuisse, ut exemplo Alexandri Macedonis sine certo successo remoreretur, multi ad senatum eum orationem voluisse mittere petiturum, ut, si quid ei evenisset, principem Romanae rei publicae senatus daret, additis dum taxat nominibus ex quibus optimum idem senatus eligeret. 59 Epit. Caes. 13,11. 60 SHA Hadr. 6,3. 61 Vgl. dazu Roche, Paul A.: The public image of Trajan’s familiy. In: Classical Philology 97 (2002), S. 41–60; ders.: Selling Trajan’s saeculum. Destiny, abundance, assurance. In: Athenaeum 94 (2006), S. 199–229; ders.: Mixed messages: Trajan and the propaganda of personal status. In: Deroux, Carl (Hrsg.): Studies in Latin Literature and Roman History XI. Bruxelles 1992, S. 428–447; Currie, Sarah: The empire of adults: The representation of children on Trajan’s arch at Beneventum. In: Elsner, Jas (Hrsg.): Art and text in Roman culture. Cambridge 1996, S. 153–181. 62 Vgl. dazu die vergleichenden Betrachtungen von Temporini, Frauen, S. 173–175 (Plotina) sowie S. 234–258 (Matidia). Siehe dazu Kirchleitner, Frauen, S. 57.

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tierenden Rolle63 seiner Adoptivmutter wohl bewusst gewesen war und sich aus diesem Grunde von ihr distanzieren wollte, um dem Verdikt, er verdanke den Thron den Intrigen dieser Frau, entgegenzuwirken, muss dahingestellt bleiben. Jedenfalls lässt sich festhalten, dass die hadrianfeindliche Historiografie sich darin gefiel, die Bedeutung Plotinas zu betonen, um Hadrian als willenlose Marionette diskreditieren zu können.64 Auch Hadrian und Sabina waren – glücklicherweise, wenn man Aurelius Victor glauben möchte, der einen zynischen Kommentar der Kaiserin über ihre Kinderlosigkeit überliefert65 – keine leiblichen Nachkommen beschieden. Die Ehe der beiden soll so zerrüttet gewesen sein, dass man Hadrian nahelegte, sich von seiner Frau scheiden zu lassen. Ein Ratschlag, dem er als Privatmann auch durchaus nahegetreten wäre, wie die Historia Augusta berichtet.66 Ungeachtet dieser von der Historiografie einhellig düster gezeichneten Partnerschaft dominiert in der Münzprägung Sabinas concordia, das Symbol ehelicher Eintracht.67 Während die Geschichtsschreibung in der Schilderung außerehelicher Verhältnisse beider Ehepartner schwelgt68, tituliert der Kaiser in der auf seine Schwiegermutter gehaltenen laudatio funebris seine Gattin liebevoll als Sabina mea69. Um die Nachfolge zu regeln, war auch Hadrian gezwungen, einen Nachfolger zu adoptieren. Eine Erkrankung70 veranlasste den Kaiser, einen Kandidaten zu benennen. Zum Erstaunen vieler fiel seine Wahl auf Lucius Ceionius Commodus, der im Alter von 36 Jahren eine bestenfalls bescheidene zivile politische Karriere vorweisen konnte und mit gesundheitlichen Problemen behaftet war. Immerhin hatte der Thronprätendent bereits einen leiblichen Sohn. Die Historia Augusta erklärt diese ungewöhnliche Entscheidung mit der Homosexualität des Kaisers: Die Schönheit des Mannes soll den Ausschlag gegeben haben.71 Auch in der Sekundärliteratur wird gerätselt, welche Vorzüge für den von Hadrian favorisierten Nachfolger gesprochen haben könnten. So wird gemutmaßt, es könne sich um den illegitimen Sohn des Kaisers72 oder den von der Senatsopposition ins

63 Vgl. die ausführliche Doxographie bei Temporini, Frauen, S. 151–159. 64 Vgl. ebd., S. 151. Allerdings gehört absolute Aufrichtigkeit nicht zu den genosspezifischen Besonderheiten dieser Quellengattung. 65 Epit. Caes. 14,8. 66 SHA Hadr. 11,3. 67 Vgl. Kirchleitner, Frauen, S. 65. 68 Vgl. ebd., S. 67–70. 69 CIL VI 3579, Z.5. 70 SHA Hadr. 23,1,9; Dio Cass. 69,17,1. 71 SHA Hadr. 23,10. 72 Vgl. dazu Priwitzer, Stefan: Faustina minor – Ehefrau eines Idealkaisers und Mutter eines Tyrannen. Bonn 2009, S. 17 Anm. 12 mit ausführlicher Literaturdiskussion.

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Spiel gebrachten Kandidaten73 handeln. Es wurde auch die Vermutung geäußert, er sei lediglich als Platzhalter für Marcus Aurelius installiert worden, wofür dessen Verlobung mit der Tochter Ceionia Fabia74 spricht. Nach dem frühen Tod des Favoriten im Jahre 138 sah sich Hadrian gezwungen, seine Sukzessionsplanung zu adaptieren.75 Er entschied sich für den nachmaligen Antoninus Pius, der seinerseits den leiblichen Neffen seiner Gattin Faustina, Marcus Aurelius, sowie Lucius, den Sohn des verstorbenen Aelius Caesar, adoptierte.76 Die bildliche Umsetzung dieses komplexen Vorgangs bietet das Adoptionsrelief des Parthermonuments in Ephesos. Ungeachtet kontroversieller Überlegungen zur Datierung77 wird der Aspekt der Sieghaftigkeit im Zusammenhang mit der geglückten Nachfolgeregelung hier augenfällig demons­triert. Auch die Frauen des Kaiserhauses finden in diesem Bildprogramm, das explizit die Sicherung der Dynastie durch Adoption thematisiert, ihren Platz. Besonders Faustina maior präsentiert sich – bekleidet mit einem peplos und mit cornucopia in der Hand78 – deutlich von der Personengruppe separiert. Alexandridis attestiert altertümlichsakrale Züge,79 wenngleich die Deutung abstrakt bleibe. Das Füllhorn als typisch weibliches Attribut könnte fecunditas verheißen und das Thema der auf zwei Generationen gesicherten Sukzession wieder aufnehmen. Die auffallende Positionierung der älteren

73 74 75 76 77

Ebd., S. 17–19. SHA MA 4,5. Ceionia Fabia war die Tochter des L. Aelius Caesar. Ebd., S. 15–21. Zu den Adoptionen siehe SHA Hadr. 24,1; SHA Pius 4,5; SHA MA 7,2; Dio Cass. 69,21,1f. Für eine Datierung in die Regierungszeit des Antoninus Pius haben sich neben Liverani, Paolo: Il cosidetto Monumento Partico di Lucio Vero. Problemi di interpretazione e di cronologia. In: Friesinger, Herwig (Hrsg.): 100 Jahre österreichische Forschung in Ephesos. Akten des Symposions Wien 1995. Wien 1999, S. 639–645, und Alexandridis, Annetta: Exklusiv oder bürgernah? Die Frauen des römischen Kaiserhauses im Bild. In: Kunst, Christiana / Riemer, Ulrike (Hrsg.): Grenzen der Macht. Zur Rolle der römischen Kaiserfrauen. Stuttgart 2000, S. 9–28, hier 22f., zudem in jüngster Zeit ausgesprochen: Taeuber, Hans: Das „Parthermonument“ – Historische Grundlagen. In: Seipel, Wilfried (Hrsg.): Das Partherdenkmal von Ephesos. Akten des Kolloquiums Wien, 27.–28. April 2003. Wien 2006, S. 24–31, hier 28f.; Fittschen, Klaus: Die Porträts am sogenannten Parthermonument. Vorbilder und Datierung. In: Seipel, Partherdenkmal, S. 24–31, hier 71–87, bes. 85; Fuchs, Michaela: Ein unbequemer Verwandter im Kalkül dynastischer Planung: Pedanius Fuscus am Parthermonument? In: Seipel, Partherdenkmal, S. 88–101, hier 89; Chausson, François: Antonin le Pieux, Éphèse et les Parthes. In: Seipel, Partherdenkmal, S. 32–69, hier 61f.; Landskron, Alice: Das „Partherdenkmal“ von Ephesos. Ein Monument für die Antoninen. In: Jahreshefte des Österreichischen Archäologischen Instituts in Wien 75 (2006), S. 143–183, hier 172 und 178. 78 Alexandridis, Frauen im Bild, S. 22. 79 Ebd.

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Faustina könnte deren Schlüsselrolle im Adoptionsreigen unterstreichen.80 Tatsächlich kommt ihr als Tante des Thronfolgers besondere Bedeutung zu. Die Verlobung des Marcus mit seiner leiblichen Cousine und Adoptivschwester Faustina maior81 mag man als „planmäßige Allianz“82 und Garantie für die Nachfolge interpretieren. Bemerkenswert an dieser Adoptionsrochade ist der Umstand, dass Hadrian – nach dem Vorbild Traians – einer alternativen, auf den Nachkommen seiner Schwester Domitia Paulina83 aufbauenden Thronfolgeregelung nicht nähergetreten war und die Dynastie keinesfalls über die Kinder seiner Nichte Iulia Paulina fortzuführen gedachte. Während er auf Ehrenbezeugungen für seine verstorbene Schwester verzichtete84 und erst sehr zögerlich einer Phyle in der nach seinem verstorbenen Liebling Antinoos benannten Stadt Antinoopolis85 ihren Namen gab, soll er seinen Schwager, L. Iulius Ursus Servianus, meist ehrenvoll behandelt86, ja in ihm sogar seinen möglichen Nachfolger gesehen haben.87 Allerdings wird berichtet, dass der Kaiser später rücksichtslos den Selbstmord seines greisen Schwagers erzwungen haben soll.88 Auch dessen Enkel, quod imperium praesagiis et ostentis agitatus speraret,89 sowie viele andere90 mussten ihr Leben lassen. Cassius Dio betont,91 dass Hadrian den Marcus Aurelius wegen dessen familiärer Abstammung seinem Adoptivbruder Lucius vorgezogen haben soll.92 Die Einbindung des Letzteren in die Herrscherfamilie sei primär durch den Wunsch nach Kontrolle motiviert. 80 Anders dagegen die Feststellung von Kampen, Natalie B.: Between public and private: Women as historical subjects in Roman art. In: Pomeroy, Sarah B. (Hrsg.): Women’s history and ancient his­ tory. Chapel Hill 1991, S. 218–244, hier 243, dass die Darstellung kaiserlicher Frauen immer dann prominent ponderiert sei, wenn die Nachfolge als ungesichert galt. Siehe dazu auch Diddle Uzzi, Jeannine: Children in the visual arts of imperial Rome. Cambridge 2005, S. 46 und 168. 81 SHA MA 6,2. 82 Temporini, Frauen, S. 137. 83 SHA Hadr. 1,2. Vgl. dazu Watkins, Thomas H.: Colonia Marciana Traiana Thamugadi: Dynasti­ cism in Numidia. In: Phoenix 56 (2002), S. 84–108. 84 Dio Cass. 69,11,4. 85 Hahn, Ulrike: Die Frauen des römischen Kaiserhauses und ihre Ehrungen im griechischen Osten anhand der epigraphischen und numismatischen Zeugnisse von Livia bis Sabina. Saarbrücken 1994, S. 302. 86 SHA Hadr. 8,1. 87 SHA Hadr. 23,2. 88 SHA Hadr. 23,8; 15,8. 89 SHA Hadr. 23,3. Vgl. Dio Cass. 69,2,6. Siehe Kirchleitner, Frauen, S. 89. 90 SHA Hadr. 23,4–8. 91 Dio Cass. 69,21,2 und 71,35,2–3. 92 Zu einer möglichen Verwandtschaft des Marcus Aurelius mit Hadrian vgl. ausführlich Priwitzer, Faustina, S. 22–31.

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Das vorhandene dynastische Potenzial des Sohnes von Aelius Caesar sollte unbedingt an das Kaiserhaus gebunden werden, damit es nicht für Lucius selbst oder ehrgeizigen Personen, die sich seiner bedienten, als Trumpf für alternative Thronfolgekonzepte disponibel wäre.93 Als bemerkenswert wird in der Forschung der Umstand registriert, dass unter Antoninus Pius erstmals das kaiserliche Ehepaar im Gestus der dextrarum iunctio in die Reichs­ prägung Eingang fand. Die Wahl dieses Motivs wird als Ausdruck ehelicher concordia interpretiert und als Zeichen emotionaler Verbundenheit der Partner gedeutet.94 Unter Berufung auf Paul Veyne wird einer zunehmenden Emotionalisierung und Erotisierung des Ehebildes95 das Wort geredet, womit sich die Auslegung des numismatischen Befundes in deutlichem Widerspruch zur literarischen Überlieferung befände, die in den Ehe­ schließungen der Antoninen primär einen staatspolitisch relevanten Akt zu sehen geneigt ist. Tatsächlich berichtet die Historia Augusta wenig Romantisches über das kaiserliche Eheleben, und das viel strapazierte Münzmotiv der Handreichung könnte – wie auch die häufige Beschwörung ehelicher Eintracht – ebenso gut die Bekräftigung eines unter gleichwertigen Partnern geschlossenen Rechtsbundes symbolisieren. Die bereits durch die Hochzeit mit Faustina minor im Jahre 145 gestärkte Position des Marcus Aurelius als Thronfolger erfuhr anlässlich der Geburt des ersten aus dieser Verbindung entstammenden Kindes eine weitere Aufwertung. Durch die Verleihung der tribunizischen Gewalt und des prokonsularischen Imperiums wurde der designierte Nachfolger de facto zum Mitregenten erhoben. Seine Gattin Faustina wurde als Garantin des Fortbestandes der Dynastie mit dem Augusta-Titel geehrt.96 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der glückliche kaiserliche Großvater die Sicherung der Nachfolge für die nächste Generation bereits durch seine Enkeltochter als gewährleistet empfand. Ab diesem Zeitpunkt lässt sich ein penetrantes Nachwuchsprogramm97 auf Münzen registrie-

93 Priwitzer, Faustina, S. 93 Anm. 617 mit ausführlicher Literaturdiskussion. Vgl. auch Barnes, Timothy D.: Hadrian and Lucius Verus. In: Journal of Roman Studies 57 (1967), S. 65–79. 94 Alexandridis, Frauen im Bild, S. 18f. mit ausführlicher Doxographie. Siehe dazu auch Reinsberg, Carola: Concordia. Die Darstellung von Hochzeit und ehelicher Eintracht in der Spätantike. In: Beck, Herbert / Bol, Peter C. (Hrsg.): Spätantike und frühes Christentum. Frankfurt 1983, S. 312– 314. 95 Stavrianopoulou, Eftychia: „Gruppenbild mit Dame“. Untersuchungen zur rechtlichen und sozialen Stellung der Frau auf den Kykladen im Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit. Stuttgart 2006, S. 312 Anm. 165. Vgl. dazu Taliaferro Boatwright, Mary: The imperial women of the early second century A.C. In: American Journal of Philology 112 (1991), S. 513–540. 96 Priwitzer, Faustina, S. 96; Kirchleitner, Frauen, S. 113f. 97 Alexandridis, Frauen im Bild, S. 23.

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ren.98 Der Kinderreichtum des Paares wird propagandistisch ‚ausgeschlachtet‘.99 Offenbar sollte die ungewöhnlich kinderreiche Ehe Stabilität und Prosperität des Staatswesens garantieren. Um die Gleichwertigkeit seines Mitregenten und Adoptivbruders zu verdeutlichen, wird Lucius Verus unverzüglich mit Annia Lucilla, der Tochter des Kaiserpaares, verlobt.100 Nach dem frühen Tod des Gatten fällt Augusta Lucilla gewissermaßen in die dynastische Verfügungsmasse zurück und wird mit T. Claudius Pompeianus verehelicht.101 Die Gattenwahl mag sich aus dem Umstand erklären, dass der Kaiser zu diesem Zeitpunkt dringend einen fähigen General für den Germanienkrieg benötigte. In der Person seines leiblichen Sohnes Commodus verfügte er zudem über einen schon heranwachsenden Erben des Purpurs.102 Ungeachtet der augenfällig demonstrierten fecunditas galt die Verbindung von Marcus Aurelius und Faustina als unglücklich.103 Diese Tatsache wird in der Historia Augusta thematisiert, wo man dem Kaiser wegen des unwürdigen Verhaltens seiner Gemahlin dringend die Scheidung empfahl. Marcus Aurelius repliziert nüchtern, dass es sich bei der an die Ehefrau zurückfallende dos um das von ihr in die Ehe mitgebrachte Reich handle.104 Mit großer Selbstverständlichkeit hatte die Kaiserin während der Erhebung des syrischen Generals Avidius Cassius über ihre Mitgift verfügt, indem sie – als vermeintliche Witwe – sich und das Reich dem Insurgenten angetragen haben soll, wie Cassius Dio berichtet.105 Von einer unorthodoxen externen Nachfolgeregelung weiß auch die Historia Augusta106 98 Fittschen, Klaus: Die Bildnistypen der Faustina minor und die Fecunditas Augustae. Göttingen 1982; Ameling, Walter: Die Kinder des Marc Aurel und die Bildnistypen der Faustina minor. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 90 (1992), S. 147–167. Vgl. auch Keltanen, Minerva: The public image of four empresses – Ideal wives, mothers and regents? In: Setälä, Päivi u. a. (Hrsg.): Women, wealth and power in the Roman Empire. Rome 2002, S. 105–145. 99 Priwitzer, Faustina, S. 97. Zur Anzahl der Geburten vgl. ebd., Anm. 18 mit ausführlichen Literatur­ angaben. Vgl. dazu Kirchleitner, Frauen, S. 113–115. 100 SHA MA 7,7. 101 SHA MA 20,6. Vgl. Priwitzer, Faustina, S. 189–192; Temporini, Frauen, S. 136; Kirchleitner, Frauen, S. 118 mit Quellen und Literatur. 102 Temporini, Frauen, S. 137. 103 Zum gegen Faustina erhobenen Vorwurf des lockeren Lebenswandels siehe SHA MA 19,1; 19,19,6; 23,7; 26,5; 29,1–3; Epit. Caes. 16,2. Vgl. dazu Kirchleitner, Frauen, S. 121–123; Priwitzer, Faustina, S. 99f. 104 SHA MA 19,8f: Si uxorem dimittimus, reddamus et dotem. Dos autem quid habebatur [nisi] imperium, quod ille ab socero volente Hadriano adoptatus acceperat? 105 Dio Cass. 72,22,3. 106 SHA MA 24,6: Atque imperatorem se appellavit, ut quidam dicunt, Faustina volente, quae de mariti valetudine desperaret. Sowie SHA Cass.7,1: Hic imperatorem se in oriente appellavit, ut quidam

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zu berichten.107 Ob Faustina tatsächlich leidenschaftlich für den Usurpator entflammt war, wie Temporini108 vermutet oder ob die Sorge um einen möglichen durch den Tod ihres Gatten ausgelösten Statusverlust für ihre Entscheidung ausschlaggebend gewesen sein mochte, muss unbeantwortet bleiben. Jedenfalls steht die Feststellung des Kaisers, seine Gattin habe das Reich in die Ehe eingebracht, nicht im Widerspruch zu den von Cassius Dio beschriebenen Aktivitäten Faustinas. Ungeklärt bleibt die Frage, warum die Kaiserin darauf verzichtete, die Erbfolge familienintern über ihren Schwiegersohn Pompeianus zu regeln, der Avidius Cassius mehr als ebenbürtig gewesen wäre. Dieser hätte wohl auch seinem Schwager Commodus, dem von Marcus Aurelius reichsweit propagierten Nachfolger, die Unterstützung kaum versagen können. Ob die von den Quellen einhellig geschilderte Aversion Lucillas gegen ihren bedeutend älteren Ehemann109 für die von Faustina präferierte Variante ausschlaggebend gewesen sein mochte, muss dahingestellt bleiben. Nachdem die Nachricht vom Tod des kränkelnden Kaisers110 sich als – möglicherweise von Faustina in Umlauf gesetzte – Falschmeldung erwiesen hatte, begleitete die Kaiserin ihren Gatten auf einem Zug in den Osten,111 wo sie bald nach dem Scheitern des Aufstandes 175 in Kilikien verstarb. Ob sie durch Selbstmord aus dem Leben schied, um einer allfälligen Bestrafung zu entgehen, wie Cassius Dio112 nahelegt, oder ob ihr Tod in unmittelbarer zeitlicher Nähe der Revolte zu Spekulationen über ihre Beteiligung Anlass gibt, lässt sich ebenfalls nicht beantworten. Jedenfalls bricht die Bestellung des Commodus zum Nachfolger offen mit der Optimusideologie113 und befindet sich im lebhaften Widerspruch114 zu dieser. Die eingehende Betrachtung der Sukzessionsregelungen unter den Antoninen hat gezeigt, dass es sich hierbei um ein ‚Schwiegerkaisertum‘ handelt, das die dynastische Erbfolge auf den weiblichen Verwandten des Vorgängers aufbaut.115 Aus diesem Grunde

107 108 109 110 111 112 113 114 115

dicunt, Faustina volente, quae valetudini Marci iam diffidebat et timebat ne infantes filios tueri sola non posset atque aliquis existeret, qui capta statione regia infantes de medio tolleret. Vgl. die materialreiche Dokumentation der Usurpation bei Priwitzer, Faustina, S. 175–207. Vgl. auch Astarita, Maria Laura: Avidio Cassio. Roma 1983; Garzón Blanco, José Antonio: Avidio Cassio. In: Baetica 8 (1985), S. 245–260. Temporini, Kaiserinnen, S. 245. Vgl. Priwitzer, Faustina, S. 191 Anm. 108 mit Quellen und Literatur; siehe auch Kirchleitner, Frauen, S. 123–125. Vgl. dazu Priwitzer, Faustina, S. 199–201. Zur clementia Marci vgl. Priwitzer, Faustina, S. 203–205. Dio Cass. 72,29,1. Temporini, Frauen, S. 135. Ebd., S. 136. Vgl. dazu ausführlich Temporini, Frauen, S. 134ff.

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sollte die Feststellung von Christ, der eine signifikante Zunahme der den weiblichen Mitgliedern der kaiserlichen Familie entgegengebrachten Ehrenbezeugungen in der Zeit der ­Adoptivkaiser mit Befremden registriert und als paradox verwirft, weil diese Ära doch eigentlich ihrem Wesen nach geeignet war, die Bedeutung der Kaiserinnen als Mütter künftiger Herrscher zu reduzieren,116 neu überdacht werden. Deutlicher in der Realität verankert erweist sich etwa die Erkenntnis des Marcus Aurelius, die Herrscherwürde sei von Faustina in die Ehe eingebracht worden und müsse im Falle einer Scheidung auch an sie zurückgegeben werden. Diese den Frauen zugemessene Bedeutung für die Erhaltung der Dynastie korrespondiert mit der auf den Münzbildern dargestellten selbstbewussten Partnerschaftlichkeit der Eheleute.

116 Christ, Karl: Die römische Kaiserzeit. Von Augustus bis Diokletian. München 2001, S. 69f.

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Pompeia PLOTINA seit ~ 102: Plotina Augusta † ~ 123



Mindius

2)



Ulpia MARCIANA seit ~ 102 Marciana Augusta † 112

Salonia MATIDIA (d.Ä.) seit 112: Matida Augusta † 119



Marcia

C. Salonius Matidius Patruinus † 78



(Mindia) MATIDIA (d.J.) † nach 161

∞ 1)

M. Ulpius Traianus cos suff. 70 † vor 97

M. Ulpius Traianus seit 97: Imperator Caesar Nerva Traianus seit 98: Imperator Caesar Nerva TRAIANUS Augustus *53? † 117

M. Cocceius Nerva seit 96: Imperator NERVA Caesar Augustuts *30 † 98







Aelius



Cn. Pedanius Fuscus Salinator cos. III 118

Grafik: Simone Lindner

Pendanius Fuscus * 118 † 136



L. Iulius Ursus Servianus cos. III 134 * ~ 46 † 136

Die Adoptivkaiser: Traian und Hadrian

Iulia Paulina

Domitia Paulina † ~ 130

Domitia Paulina

T. Aurelius Fulvus Boionius Arrius Antoninus seit 138 (Ende): Imperator Caesar T. Aelius Hadrianus ANTONINUS Augustus PIUS * 86 † 161

P. Aelius Hadrianus seit 117: Imperator Caesar Traianus HADRIANUS Augustus * 76 † 138

P. Aelius Hadrianus Afer † 85/6

L. Ceionius Commodus seit 136: L. AELIUS CAESAR * ~ 101 † 138

Vibia SABINA spätestens seit 128: Sabina Augusta * ~ 85 † 136/7

L. Vibius Sabinus cos 97 † ~ 98

Ulpia

Aelius Marullinus

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∞ 2)



3 bis 5 weitere Kinder

Domitia Faustina * 147 † vor 161

C. Ummidius Quadratus

Annia Cormificia Faustina * nach 121 † 152



Annius Verus † ~ 124/5

Curtilia

M. Peducaeus Plautius Quintillus



∞ Cn. Claudius Severus

Fadilla * ~ 159 † nach 192

Annia Aurelia Galeria Faustina * 150/1 † nach 166/67





1)



T. Aurelius Fulvus Antoninus * 161 † 165

M. Petronius Sura Mamertinus

Cornificia * 160 † nach 211

Annia Galeria FAUSTINA (d.J.) seit 147: Faustina Augusta * nach 130 † 175

1)



Aurelius Fulvus

Boinia Procilla

Arria Fadilla

∞ T. Aurelius Fulvus cos. II 85

L. Aurelius Commodus seit 177: Imperator Caesar L. Aurelius Commodus Augustus seit 180: Imperator Caesar L. bzw. M. Aurelius COMMODUS Antoninus Augustus seit 191: Imperator Caesar L. Aelius Aurelius Commodus Augustus * 161 † 192





Vibia Aurelia Sabina * ~ 170 † nach 211

Ceionia Plautia

Bruttia Crispina † 192

M. Annius Verus * ~ 162 † 169

Plautius Aelius Lamia Silvanus

Aurelia Fadilla † ~ 135

T. Aurelius Fulvus Boionius Arrius Antoninus seit 138 (Anfang): Imperator T. Aelius Caesar (Hadrianus) Antoninus seit 138 (Ende): Imperator Caesar T. Aelius Hadrianus ANTONINUS Augustus PIUS *86 † 161

∞ 2)

M. Galerius Aurelius Antoninus † vor 138



P. Iulius Lupus

T. Arrius Antoninus cos. suff 69 cos. II 97 (?)

Annia Galeria Faustina (d. Ä.) seit 138: Faustina Augusta * ~ 105 † 140

M. Aurelius Fulvus Antoninus † vor 138

M. Annius Verus cos. III 126

M. Annius Verus

Die Adoptivkaiser: Antoninus Pius bis Commodus

M. Annius Libo cos. 128

Rupilia Faustina

Cn. Domitius Tulllus † ~ 108

seit 136: M. Annius Verus seit 138: M. Aelius Aurelius Verus seit 161: Imperator Caesar MARCUS AURELIUS Antoninus Augustus *121 † 180



Domitia Lucilla

Domitia Lucilla † vor 161

P. Calvisius Tullus Ruso cos. 109

Cn. Domitius Lucanus † ~ 93

Cn. Domitius Afer cos. suff. 39 † 59

Anna Aurelia Galeria LUCILLA seit 163: Lucilla Augusta * ~ 149 † 181

Ceionia Fabia

L. Ceionius Commodus seit 136: L.AELIUS CAESAR * ~ 101 † 138

P. Aelius HADRIANUS

M. Ulpius TRAIANUS

M. Cocceius NERVA

∞ ∞

1) 2)

Ti. Claudius Pompeianus

L. Ceionius Commodus seit 136: L. Aelius Aurelius Commodus seit 161: Imperator Caesar LUCIUS Aurelius VERUS Augustus *130 † 169

Vom Bart der Hatschepsut zu den vier Ehen der Kleopatra Eine schematische Skizze zur Bedeutung von Pharaoninnen

Heribert Aigner

I

n seinem bekannten Taschenbuchauszug aus der Cambridge Ancient History1 bezweifelt der Bearbeiter der ausgehenden Republik, der renommierte Althistoriker William Woodthorpe Tarn, energisch den oft kolportierten Ablauf der berühmten Begegnung zwischen dem späteren Kaiser Augustus und der Königin Kleopatra in deren Palast in Alexandria im Jahr 30 vor unserer Zeitrechnung. Nachdem sich M. Antonius selbst getötet hatte, besuchte Octavian laut Cassius Dio (LI 30ff) die Königin, die ihn in ihren Gemächern leicht geschürzt empfing und offensichtlich mit dem Gedanken spielte, den neuen Caesar ihrer „Sammlung“ von Ehemännern eventuell als fünften hinzuzufügen. Dieser aber soll den Reizen der knapp vierzigjährigen Kleopatra nicht erlegen sein, wie die in Rom forcierte „Standhaftigkeitsversion“ betont.2 Er konfrontierte die Noch-Herrscherin von Ägypten nur mit der Frage nach dem – ihm wohl schon bekannten –Verbleib des Königsschatzes der Ptolemäer; bei Nichtherausgabe habe Kleopatra mit der Aufführung in seinem Triumphzug in Rom zu rechnen. Das Ergebnis dieser Unterredung ist bekannt: die wohl berühmteste weibliche Herrscherpersönlichkeit Ägyptens soll sich Giftschlangen ansetzen haben lassen und an deren Bissen gestorben sein, obgleich Octavian angeblich versuchte, das Gift durch dafür ausgebildete sogenannte Psyllier aussaugen zu lassen. So endete eine Kette von „Herrscherinnen am Nil“, denn vor Kleopatra3 gab es bereits eine ganze Reihe von Regentinnen, die man mit Fug und Recht als Pharaoninnen wird be1 2

3

Vgl. Tarn, William Woodthorpe: Octavian, Antony and Cleopatra. London 1965, S. 165 mit Anm. 1 und 2. Die Szene erinnert ein wenig an die Schiller’sche Maria Stuart, wo im vierten Akt in der berühmten Auseinandersetzung zwischen den beiden Königinnen Elisabeth auf den Ausbruch der schottischen Rivalin kaltherzig festhält: Ja! Es ist aus Lady Mary. Ihr verführt mir keinen mehr! Die Welt hat andre Sorgen. Es lüstet keinen, euer vierter Mann zu werden! Die genaueste Zusammenstellung der Nachrichten aus der klassischen Antike über Kleopatra bietet noch immer Becher, Ilse: Das Bild der Kleopatra in den griechischen und lateinischen Quellen. Berlin 1966.

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zeichnen dürfen und von denen die „eigentlichen“ Ägypterinnen hier genauer betrachtet werden sollen.4

Nitokris (Anhang A) Die erste bislang bekannte Frau auf dem Pharaonenthron war Nitokris, die von dem ägyptischen Priester und Chronisten Manetho, der um 280 v. Chr. unter Zuhilfenahme ägpytischer Nachrichten eine Pharaonengeschichte in griechischer Sprache schrieb, als letzte Herrscherin der sechsten Dynastie genannt wird (um 2155 v. Chr.). Herodot und Erathostenes zufolge sei diese Königin die schönste Frau ihrer Zeit gewesen, mit hellen Haaren und rosigen Wangen. Die Informationen dieser Autoren lassen sich jedoch nicht ohne Weiteres für eine Annäherung an die historische Nitokris verwenden, da sich in den Überlieferungen bereits geschichtliches Wissen mit Sagenhaftem vermischt hat. Die greifbaren Fakten sind dürftig. Über die Hintergründe, die zur Thronbesteigung Nitokris geführt haben können, lassen sich zumindest einige Überlegungen anstellen. Offensichtlich war nach der sehr langen, mindestens 64-jährigen Regierungszeit Pepis II. kein Nachfolger mit genügender Legitimität zur Thronbesteigung vorhanden. So konnte Nitokris, die entweder die Gemahlin des kurz nach Regierungsantritt verstorbenen Königs Merenre II., des Sohnes Pepis II., war oder mit der Königinmutter Neith, der Hauptgemahlin Pepis II. gleichzusetzen ist, wahrscheinlich nur aufgrund ihrer Abstammung vom Herrscherhaus den Thron als Pharaonin besteigen. Dass kein weiterer legitimer Prätendent vorhanden war, scheinen die Wirren der auf die Regierung der Nitokris folgenden Zeit zu bestätigen, in der in sechs Jahren nicht weniger als elf Könige herrschten. Ihr wird der Bau der dritten Pyramide – heute bekannt als diejenige des Mykerinos – zugeschrieben, was unter Umständen so erklärbar ist, dass gegen Ende der sechsten Dynastie an diesem Pyramidenkomplex Erneuerungsarbeiten vorgenommen wurden und man in der Überlieferung dann der Nitokris selbst die Errichtung der Pyramide zuschrieb. Unsere Kenntnisse zu ihrer Person lassen sich darauf reduzieren, dass sie wahrscheinlich in Ermangelung eines 4

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Die Belegstellen – zum Teil in Textversion – und die wichtigste Literatur zu den folgenden vier Pharaoninnen sind im Anhang unter A (Nitokris), B (Nofrusobek), C (Hatschepsut) und D (Tauseret) zusammengestellt, welcher einen Auszug aus dem in Entstehung befindlichen Gesamtcorpus altägyptischer Frauenpersönlichkeiten abbildet und jeweils zur Information nachzuschlagen ist. Die Datenbank ist vollständig unter www.Frauendatenbank.de einzusehen. Für die Verwendung der Text- und Literaturpartien gebührt Dr. Heike El Hotabi-Sternberg von der Universität Göttingen, einem leitenden Mitglied des Projektteams, ebenso Dank wie für die Anregungen zu den Viten der Herrscherinnen selbst (aus einem unpublizierten Berliner Vortrag aus dem Jahr 2008).

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legitimen Thronfolgers die männliche Erbfolge durchbrechen und aufgrund ihrer direkten Abstammung vom Herrscherhaus für zwölf Jahre den Thron besteigen konnte, wie ihre Aufnahme in die Königslisten – offenbar ohne Zweifel an ihrer Legitimität – bezeugt.

Nofrusobek (Anhang B) Der nächste weibliche Pharao war Nofrusobek,  die am Ende der zwölften Dynastie (1799 v. Chr.) ihrem Gemahl Amenemhet IV. auf den Thron folgte. Die Voraussetzung für die Thronbesteigung Nofrusobeks war offensichtlich – wie bei Nitokris – die Tatsache, dass es weder einen männlichen Nachkommen Amenemhets IV. noch ein anderes männliches Mitglied der königlichen Familie mit hinreichender Legitimation zum Amt des Pharao gab. Nofrusobek hingegen konnte sich auf ihre Abstammung von Amenemhet III. und damit auf eine Familie von Pharaonen berufen, die seit 200 Jahren das Land regierten. Bei ihrer Thronbesteigung, die ohne erkennbare Probleme vonstattengegangen zu sein scheint, nahm sie wie ihre männlichen Vorgänger die vollständige Titulatur eines Pharao (Thronnamen, Horus-Namen, Goldhorus- und Zwei-Herrinnen-Namen sowie Geburtsnamen) an. Für Darstellung und Ikonografie eines männlichen Pharao gab es ein reiches Repertoire durch lange Traditionen übermittelter Formen. Für einen weiblichen Herrscher jedoch existierten keine verbindlichen Normen. Daher ist es aufschlussreich zu verfolgen, auf welche Weise Nofrusobek versucht hat, das im Prinzip männliche Amt Pharaos mit ihrem Dasein als Frau zu verbinden, und inwieweit ihre Lösungen von Nachfolgerinnen aufgegriffen oder verworfen werden sollten. Ihre Statuen dokumentieren das Bestreben, ihre Weiblichkeit mit der Vorstellung vom männlichen Königsamt in Beziehung zu bringen. Als Kopfbedeckung trägt sie das übliche – männliche – Königskopftuch und über das Frauenkleid hat sie zusätzlich einen männlichen Königsschurz gelegt. Herrschermäßig stellt sie sich ganz in die Tradition des im Prinzip männlich ausgerichteten Königsamtes, indem sie – nach der Thronbesteigung die volle Königstitulatur annahm, – ein Bauprogramm entwickeln ließ, welches wohl auch die Errichtung einer Pyramide einschloss, – sich durch ein konventionelles Statuenprogramm an ihren männlichen Vorgängern orientierte und – versuchte, ihre Herrschaft durch bewusste Anlehnung an ihren Vater Amenemhet III. zu stützen.

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Obwohl die rundplastischen Denkmäler ihr natürliches Geschlecht nicht negieren, passte man die männliche Herrschertitulatur ohne besondere grammatische Probleme der Königin an, indem durch Hinzufügung der Femininendung „t“ aus dem männlichen Königsgott Horus einfach ein weiblicher Horust wurde, und aus dem Titel „Sohn des Re“ einfach eine „Tochter des Re“.

Hatschepsut (Anhang C) Erst dreihundert Jahre später um 1490 v. Chr., in der 18. Dynastie, sollte wieder eine Frau den ägyptischen Thron besteigen: Hatschepsut. Folgten die Königinnen des frühen Neuen Reiches trotz ihres bedeutenden Einflusses stets der traditionellen Rolle, die ihnen im politischen Bereich hinter dem König die zweite Stelle zuwies, so überschritt Hatschepsut diese Grenze und ging dabei weit über ihre Vorgängerin Nofrusobek hinaus. Schon ihre Machtergreifung beruhte auf anderen Voraussetzungen. Hatschepsut war die Tochter Thutmosis’ I. und die Gemahlin ihres Halbbruders Thutmosis II., als seine Hauptfrau mit den üblichen Königinnentiteln.5 Nach dem frühen Tod ihres Mannes übernahm sie die Regentschaft für den noch sehr jungen Thutmosis III., den Sohn ihres Mannes mit einer Nebenfrau. Die Regentschaft für einen noch unmündigen Thronfolger durch eine Verwandte war an sich nichts Ungewöhnliches und die ägyptische Geschichte kennt einige Beispiele dafür. Nach Beginn ihrer Regentschaft benutzte Hatschepsut zunächst ihre alten Königinnen-Titel weiter, ließ sich aber bereits jetzt in Ritualdarstellungen bei der Ausübung königlicher Funktionen abbilden. So nimmt sie in einer Weinopferszene in einer Kapelle im Tempel von Karnak die für den König vorgesehene Stelle beim Ritualvollzug ein, während ihre Tochter Neferure, hinter ihr abgebildet, die Position innehat, die sonst von der königlichen Hauptgemahlin ausgefüllt wird. Nicht später als im siebten Regentschaftsjahr legte sie die Insignien einer Königin sowie ihre alten Titel, die sie auf ihre Tochter übertrug, ab und nahm die volle Titulatur eines Pharao an. Auf den Denkmälern trat sie von nun an in der männlichen Tracht Pharaos in Erscheinung. Während ihrer siebenjährigen Regentschaft muss es ihr gelungen sein, sich der Loyalität einflussreicher Beamter des Staatsapparates 5

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Bezüglich der Verwandtschaftsverhältnisse der drei Herrscher mit dem Namen Thutmosis zu Hatschepsut darf noch an andere Ansätze erinnert werden, z. B. von: Breasted, James Henry: A history of Egypt from the earliest times to the Persian conquest. New York 1905, S. 267ff. Als neueste Literatur sei verwiesen auf: Schnittger, Marianne: Hatschepsut. Eine Frau auf Pharaos Thron. In: Antike Welt. Zeitschrift für Archäologie und Kulturgeschichte, 3 (2008), S. 8ff.

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zu versichern, die bereits unter ihrem Vater Thutmosis I. tätig waren. So wurde sie z. B. vom Hohepriester des Amun, Hapuseneb, unterstützt, dem wichtigen Verwalter der Liegenschaften des Amun-Tempels. Wir wissen auch, dass sie mehrere ihrer Anhänger in einflussreiche Stellungen bei Hof bringen konnte, beispielsweise Senenmut, den Erzieher (und Vater?) ihres einzigen Kindes, der oben genannten Tochter Neferure. Wie Nofrusobek war auch Hatschepsut als Frau auf dem Königsthron von Beginn der Alleinregierung an mit dem Problem ihrer Selbstdarstellung konfrontiert. Anhand ihrer Statuen lässt sich ein innerhalb kurzer Zeit tief greifend gewandeltes Rollenverständnis verfolgen. Roland Tefnin konnte fünf frühe Sitzbilder aus dem Statuenprogramm ihres Totentempels isolieren und an ihnen zeigen, wie die anfangs noch vorhandenen weiblichen Züge immer mehr zugunsten von männlichen zurücktraten und schließlich ganz verschwanden. Diese Statuen gehören, wie die königlichen Elemente zeigen, in eine Zeit, in der Hatschepsut bereits selbst die Macht ergriffen hatte. Sie stellen noch eine Übergangsphase dar, in der man nach einer ihrem neuen Rang gemäßen Darstellungsform zu suchen scheint, und geben noch deutlich erkennbar weibliche Körperformen und Gesichtszüge wieder. Besonders charakteristisch für den Entwicklungsprozess ist die Statue, welche Hatschepsut noch mit dem feingliedrigen Körper einer jungen Frau, aber bereits mit Schurz und Kopftuch als Teile des königlichen Ornats wiedergibt. In dieser Statue ist die Idee ‚Frau als Pharao‘ durch den weiblichen Körper in der Tracht des männlichen Pharao vollkommen ausgedrückt. Aber Hatschepsut ist dabei nicht stehen geblieben, sondern hat sich in ihrer späteren Plastik nicht nur im traditionellen Ornat, sondern auch mit der Statur eines Mannes abbilden lassen und damit den Schritt zur rein ideellen Darstellung vollzogen. Hierin hat sie ihre Vorgängerin Nofrusobek weit hinter sich gelassen, die diesen Schritt nie vollzog. Dargestellt ist sie in beiden Plastiken als männlicher Pharao. Sie trägt die im Zeremoniell für eine Opferhandlung vorgeschriebene Kleidung: das Königskopftuch, den kurzen Schurz, den Königsbart und das Diadem mit der sich ringelnden Uräusschlange an der Stirn. Zuletzt unterscheidet sie sich in den Zügen ihrer Darstellung in nichts mehr von ihren männlichen Vorgängern oder Nachfolgern. Ebenso tritt in der Sprache ihrer Inschriften ihr natürliches Geschlecht nur gelegentlich auch grammatisch in Erscheinung. Zur Legitimierung ihrer Thronbesteigung versuchte Hatschepsut, ihre Herrschaft durch bewusste Anlehnung an Vorbilder des Mittleren Reiches in eine bedeutende Traditionskette einzubinden. Schon die Wahl des Standortes für ihren Totentempel, dicht neben demjenigen des Reichseinigers des Mittleren Reiches, Mentuhotep Nebhetepre, sowie dessen Gestaltung mit Terrassen- und Rampenarchitektur deuten in diese Richtung. Ihre Darstellung im Typus der Mähnensphinx orientiert sich nicht an den Statuen der unmittelbar vorausgegangenen Zeit, sondern an den Bildwerken Amenemhets III. Möglicherweise lehnt sich eine Statue Hatschepsuts mit dem Chat-Kopftuch an ein nicht mehr erhaltenes

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Vorbild der Königin Nofrusobek an. Dafür spricht, dass Hatschepsut hier das nur an ihren Statuen belegte zweischalige Muschelamulett um den Hals trägt, das so typisch für die Könige der zwölften Dynastie ist und sich nachweislich auch bei Nofrusobek findet. Die göttliche Auserwähltheit und Vorbestimmtheit für das Königsamt hob sie gleich auf dreifache Weise hervor: durch eine fiktive Designation seitens ihres Vaters Thutmosis I., durch ihre göttliche Erwählung in Form einer legendenhaften Gotteskindschaft sowie durch einen Orakelentscheid des Gottes Amun. Sie ließ in ihrem Totentempel den in Text und Bildern sich entfaltenden Mythos von der göttlichen Geburt Pharaos anbringen, in dem der Götterkönig Amun mit der menschlichen Mutter, der Königin, in einer Art hieros gamos die Thronfolgerin Hatschepsut zeugt. Der Krönungstext betont, dass ihr bereits vor der Geburt spezifische königliche Eigenschaften sowie eine Titulatur durch ihren göttlichen Vater Amun verliehen worden seien. In den Texten der wieder aufgebauten Roten Kapelle aus dem Karnaktempel wurde dagegen ihre Legitimität durch einen Orakelentscheid des Amun zum Ausdruck gebracht. Dabei wurde sogar das Datum einer fiktiven Koregentschaft mit ihrem Vater Thutmosis I. verzeichnet. Dass ihrer Thronbesteigung trotz allem ein Hauch von Illegitimität anhaftete, lässt sich vielleicht aus einer Textstelle ablesen, in der Hatschepsut zur eigenen Rechtfertigung spricht: Hütet euch zu sagen: „Das stimmt nicht“; denn mein Zeuge ist der Gott Re! Dies alles ist wahrheitsgemäß. Hatschepsut, die fast 20 Jahre regierte, gilt vielen Fachgelehrten noch immer als Friedenskönigin, als konservativ-isolationistische Staatslenkerin und Gegenpart zu Thutmosis III., dessen Name gemeinhin für eine nach außen gerichtete, imperialistische Politik steht. Dieser soll, so die communis opinio, infolge eines in der langen Zeit seines Regierungsausschlusses angesammelten Hasses nach dem Tode der Hatschepsut ihre Denkmäler zerstört und ihre Namen ausgelöscht haben. Beide Ansichten können heute nicht mehr aufrechterhalten werden. Das Bild der Hatschepsut als regelrechte Pazifistin unter ihren männlich kriegerischen Vorgängern und Nachfahren muss nach den Untersuchungen Donald Redfords revidiert werden, der nachweisen konnte, dass in ihrer Zeit mehrere militärische Kampagnen unternommen wurden, von denen sie eine sogar in eigener Person leitete. Somit sieht es so aus, dass ein weiblicher Pharao selbst als Heerführerin auf keine unüberbrückbaren Akzeptanzschwierigkeiten stieß. Hatschepsut hatte auch Thutmosis III. zu keiner Zeit von der Thronfolge ausgeschlossen, es bestand vielmehr eine offizielle Koregentschaft. So sind beide zusammen im Königsornat auf einer Stele abgebildet und eine Vielzahl von Beamten benutzen beide Namen in ihren Inschriften. Es sieht ganz danach aus, als ob ein großer Teil der Regierungsgeschäfte in den Händen Thutmosis’ III. gelegen hätte. Die ihm angelastete Zerstörung der Denkmäler der Königin kann nach neueren Forschungen nicht vor seinem 42. Regierungsjahr durchgeführt worden sein, das heißt

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erst 20 Jahre nach dem Tod der Hatschepsut. Die Tatsache zudem, dass ihre Darstellungen als königliche Gemahlin Thutmosis’ II. nicht angetastet wurden, legt die Vermutung nahe, dass Thutmosis’ III. nicht aus Hass und Rachegefühlen handelte, sondern die politische Entscheidung traf, seine Regierungsjahre direkt an die Thutmosis’ II. anschließen zu lassen und zu versuchen, die im ägyptischen Königsdogma nicht vorgesehene Situation zweier nebeneinander regierender, offiziell inthronisierter Pharaonen zu tilgen. So kann man über die Herrschaft Hatschepsuts Folgendes festhalten: Die Voraussetzungen für ihre Herrschaftsübernahme waren anders als die ihrer Vorgängerin Nofrusobek – und wahrscheinlich auch der Nitokris’ –, da es einen legitimen und designierten Thronfolger gab, der allerdings zu jung war, um die Regierungsgeschäfte auszuüben. Sie brach jedoch insofern mit der Tradition, als sie die Regentschaft nicht beendete, sondern selbst den Thron bestieg. Mit der Übernahme der Königsherrschaft machte sich Hatschepsut die Idee eines männlichen Königtums zu eigen, indem sie sich in ihren Statuen ganz als männlicher Pharao repräsentierte. Um ihre Legitimität zu betonen, bediente sie sich aller Mittel, auf die auch von männlichen Vorgängern, die die Erbfolge durchbrochen hatten, zurückgegriffen wurde. Darüber hinaus versicherte sie sich der Loyalität einer einflussreichen Gruppe von fähigen Männern aus verschiedenen Schichten.

Tauseret (Anhang D) Am Ende der 19. Dynastie, um 1200 v. Chr., etwa 300 Jahre nach Hatschepsut, hat nochmals eine Frau den Thron bestiegen. Hier war eine ähnliche Konstellation wie zur Zeit von Hatschepsut und Thutmosis III. gegeben. Nach dem Tode Sethos II. bestieg mit Siptah ein noch unmündiges Kind den Thron. Tauseret, die Große königliche Gemahlin und Königinwitwe Sethos’ II., übte zunächst mit Unterstützung des Schatzmeisters Bai für den noch minderjährigen Stiefsohn Siptah das Amt einer Regentin aus. Nach dessen frühem Tod im sechsten Regierungsjahr bestieg sie selbst den Thron und regierte noch mindestens sieben oder sogar acht Jahre allein. Die personelle Konstellation nach dem Tode Sethos’ II. zeigte jedoch eine neue Situation: ein durchaus nicht friktionsfreies Verhältnis zwischen dem Thronprätendenten Siptah, dem Schatzmeister Bai und der Königinwitwe Tauseret, die mit ihren machtpolitischen Ambitionen in einen Interessenkonflikt gerieten. Das schwächste Glied der Kette war eindeutig Siptah, ein – wie die Untersuchungen seiner Mumie ergeben haben – missgestaltetes etwa neun- bis 13-jähriges Kind, das offensichtlich in das Spannungsfeld zweier starker Persönlichkeiten geriet. Beide – Tauseret und Bai – nahmen sich noch während der Regierungszeit des Siptah das königliche Privileg heraus, ein Grab im Tal der Kö-

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nige sowie einen Totentempel anlegen zu lassen, eine mit allen Konventionen brechende Maßnahme. Nach dem frühen Tode Siptahs konnte Tauseret, die vielleicht eine Enkelin Ramses’ II. war, offiziell die alleinige Regierung für sich beanspruchen. Von besonderer Bedeutung ist ihr Grab, KV 14 im Tal der Könige, das aufgrund der mehrfachen Überarbeitung von Darstellungen und Königsnamen zahlreiche Fragen offen lässt. In den Zeitraum zwischen dem Baubeginn im zweiten Regierungsjahr des Siptah und den Jahren sechs und sieben fallen mehrere Veränderungen und Überarbeitungen, die die einzelnen Phasen der Königin auf dem Weg zur Macht widerspiegeln. Die Dekorationen bis zum Tod des Siptah zeigen Tauseret als Königin mit den Titeln einer Großen Königsgemahlin. In einer zweiten Phase lässt sie die Namen des Siptah in die ihres Gemahls Sethos’ II. umändern. Nachdem sie Pharao geworden ist, lässt sie diejenigen Darstellungen in ihrem Grab, die sie als Frau zeigen, in die eines männlichen Pharaos überarbeiten. So wurde beispielsweise die ursprüngliche Federkrone durch den Kriegshelm Pharaos ersetzt. Es gibt zwei Indizien dafür, dass Tauseret ihre Herrschaftsübernahme durch Anknüpfung an ihren mutmaßlichen Großvater Ramses II., der über 66 Jahre regierte, legitimieren wollte. Der erste Hinweis ist eine lebensgroße Sitzstatue der Tauseret, die die Königin im Habitus eines regierenden Pharao, jedoch eindeutig mit weiblich modelliertem Körper wiedergibt. Die Königin sitzt auf einem Thron und hält in der angewinkelten rechten Hand Geißel und Krummstab, während ihr linker Arm ausgestreckt auf dem Knie liegt. Haltung und Gewand gleichen verblüffend denen einer Statue Ramses’ II., die sich heute im Museum von Turin befindet. Sie lehnt sich aber nicht nur in ihrer Ikonografie, sondern auch in ihrer Titulatur an Ramses II. an, da ihrer beider Horus-Namen: mrj m3c.t identisch sind. Dass Tauseret nicht als verfemte Person gegolten haben kann, lässt sich daran ablesen, dass Manetho sie mit der exakten Regierungslänge von sieben Jahren als letzten Pharao der 19. Dynastie aufführt. Eine genauere Einschätzung ihrer Herrschaft muss man sich angesichts der dürftigen Quellenlage jedoch versagen.

Zusammenfassung Generell lässt sich feststellen, dass ein weiblicher Pharao zwar die Ausnahme darstellte, die Ägypter aber keine Schwierigkeiten hatten, diesen zu akzeptieren, und zwar unter der Voraussetzung, dass kein männlicher Nachfolger mit genügender Legitimation vorhanden war. Eine Frau mit Abstammung aus dem Königshaus konnte über ihren Status als Königinwitwe – wie Nitokris und Nofrusobek – durch vorher ausgeübte Regentschaft für einen

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noch unmündigen Thronprätendenten – wie Hatschepsut – oder beide Funktionen in sich vereinigend – wie Tauseret – auf den Thron gelangen. Die überlieferten Denkmäler weisen darauf hin, dass ein weiblicher Pharao das traditionell männlich besetzte Amt ausfüllte, indem sie die geforderten Riten ausübte und bei deren Durchführung, d. h., wenn sie im Rahmen des Amtes handelte, zum Mann wurde, was nicht bedeutet, dass sie ihre weibliche Persönlichkeit ablegte. Diese Diskrepanz zwischen Amt und Person des Amtsträgers wurde vom ägyptischen Königsdogma getragen. Die regierenden Herrscherinnen haben jedoch die problematische Anpassung an die männlich-königliche Ikonografie unterschiedlich gelöst. Während in den Königsplastiken von Nofrusobek und Tauseret die weiblichen Körperformen zum Ausdruck kommen, strebte Hatschepsut eine rein männliche Ausdrucksform an, die das an sich männliche Königtum in idealer Weise repräsentierte. Mehr als die anderen weiblichen Amtsträger konnte Hatschepsut ihre Herrschaft auf die Loyalität von Mitgliedern eines altgedienten, einflussreichen Beamtenapparats sowie der Priesterschaft stützen. In ihrer Herrschaftslegitimierung knüpfen die weiblichen Pharaonen an ihre Väter respektive Großväter und nicht an ihre legitim auf den Thron gekommenen Gatten an. Dies mag damit begründet sein, dass die Ehemänner allesamt nur sehr kurze Zeit regierten und die Pharaoninnen sich durch Anknüpfung an die überaus langen Regierungszeiten ihrer Väter von durchschnittlich über 50 Jahren erfolgreich in eine anerkannte Traditionskette einzugliedern versuchten. Weiterhin deutet nichts darauf hin, dass sie von ihrer Nachwelt als illegitim angesehen wurden. Frauen haben also die Königsrolle, die im Prinzip für einen männlichen Rolleninhaber bestimmt ist, nicht besser, aber auch nicht schlechter wahrgenommen als die viel größere Anzahl von Männern auf dem ägyptischen Thron; sie blieben daher im Bewusstsein der Nachwelt, was auch die Männer waren: Pharaonen.

Überleitung Mit der Übernahme der ptolemäischen Herrschaft in Ägypten nach dem Tod Alexanders des Großen kamen eine ganze Reihe von Herrscherinnen makedonischen Geblüts zu Berühmtheit und Ansehen. Ihre Bedeutung zeigt sich nicht nur in ihrer Funktion als Schwestergemahlin der Könige, dokumentiert in der Münzprägung durch eindrucksvolle Doppelbildnisse an der Seite der Herrscher, sondern auch durch das zum Teil selbstständige Führen von Staatsgeschäften und das auffällige Pflegen von weit gespannten diplomatischen und kulturellen Beziehungen im östlichen Mittelmeerraum. Große Frauenfiguren wie Berenike I. (ca. 340 bis ca. 279 v. Chr.), Arsinoe II. (ca. 316 bis 270 v. Chr.), Berenike

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Syra (ca. 285/280 bis 246/45 v. Chr. ), Berenike II. (nach 270 bis 221 v. Chr.), Kleopatra Thea (ca. 164 bis 121 v. Chr.) oder Arsinoe IV. (63 bis 41 v. Chr.) haben die Geschicke des Landes am Nil auffällig mitbestimmt, was sich in vielen Publikationen, aber auch in filmischen Dokumentationen (Königinnen am Nil) niedergeschlagen hat.6 So spannend es wäre, hier auch zumindest auf die eindrucksvollsten (Berenike II. und Arsinoe II. etwa) in der gleichen Dichte einzugehen wie auf ihre altägyptischen Vorläuferinnen) würde dies den hier vorgegebenen Rahmen bei Weitem sprengen. So sei der Schlusspunkt unserer Betrachtungen bei der letzten und wohl berühmtesten Ptolemäerin, bei Kleopatra VII., gesetzt.7 Wenn faszinierende Herrscherpersönlichkeiten wie C. Iulius Caesar (100–44 v. Chr.), 52-jährig und auf dem Höhepunkt seiner Erfolge als Staatsmann und Feldherr stehend, und die 21-jährige ehrgeizige und ebenso gebildete wie patriotische „Erbin von Ägypten“ Kleopatra VII. (69–30 v. Chr.) zusammentreffen, so ist die Fantasie von Biografen und Buntschriftstellern, antiken und rezenten, gleichermaßen gefordert. Demgemäß erstrahlt auch die erste Begegnung des ungleichen Paares im Königspalast von Alexandrien im Jahre 48 v. Chr. im Glanz des Anekdotischen: Da sie sonst keine Möglichkeit sah, unentdeckt [in den Palast] hineinzukommen, legte sie sich der Länge nach in einen „Wäschesack“, [ihr Begleiter] Apollodoros schnürte ihn mit einem Riemen zusammen und trug das Bündel durch das Tor zu Cäsar hinein. Schon dieser listige Einfall, der Kleopatras mutwilliges Wesen verriet, gewann Caesars Herz, und vollends erlag er ihrer Anmut und dem Reiz ihres Umgangs (Plutarch, Caesar 49,1). Ob beide bereits in jener ersten Nacht ihrer Begegnung ein Liebespaar wurden, wissen wir nicht, Tatsache aber ist, dass etwa neun Monate später Kaisarion, der Erstgeborene Kleopatras und einzige leibliche Sohn Caesars, zur Welt kommen sollte. Doch wie kam es überhaupt zu dieser schicksalhaften Begegnung zwischen Okzident und Orient, zwischen zwei Welten, von denen Letztere nur scheinbar nach der Schlacht von Actium (31 v. Chr.) unterging, in Wirklichkeit aber in der nur verschleierten Allmacht der römischen Kaiser von Augustus bis in die byzantinische Zeit weiterlebte, wie Ronald Syme in der Roman Revolution eindrucksvoll gezeigt hat.

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Zu den „makedonischen“ Herrscherinnen vgl. Pfrommer, Michael: Die Ptolemäerinnen – Ein Geschlecht stärker als Männer? In: Antike Welt, 3 (2008), S. 27ff. (mit Literatur). Ders. Königinnen vom Nil. Begleitbuch zu einer Fernsehdokumentation von ARTE und ZDF. Mainz 2002. Siehe weiters: Hölbl, Günther: Geschichte des Ptolemäerreiches, Darmstadt 1994. Der Abschnitt über Kleopatra ist eine gekürzte und angepasste Version eines vom Verfasser und von Heike El Hotabi-Sternberg in der Zeitschrift DAMALS 40/1 (2008), S. 28ff. unter dem Titel Kühne Visionen einer Gottkönigin edierten Beitrags. An neuerer Literatur seien ergänzend genannt: Clauss, Manfred: Kleopatra. München 2000; Schäfer, Christoph: Kleopatra. Darmstadt 2006; Schuller, Wolfgang: Kleopatra. Königin in drei Kulturen. Reinbek 2006.

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Kleopatra VII., die erst nach ihrem Tod den Beinamen „die Große“ erhalten sollte, war die letzte Königin auf dem Thron der Pharaonen und bereits zu Lebzeiten ein Mythos. Sie stammte aus der Dynastie der makedonischen Ptolemäer, Erben Alexanders des Großen, die über dreihundert Jahre Ägypten beherrscht und oft bedeutende Frauen als Mitregentinnen hatten. Ihre Amtsvorgänger hatten die Ressourcen des Landes durch zahlreiche Kriege und eine verschwenderische Hofhaltung aufgebraucht, die Königsfamilie war von endlosen Intrigen, Eltern- und Geschwistermorden zerrissen. Nachdem das ptolemäische Ägypten im 3. Jahrhundert v. Chr. noch eine Weltmacht dargestellt hatte, konnten sich die Herrscher im ersten vorchristlichen Jahrhundert nur noch mit römischer Hilfe auf dem Thron halten. Das Privileg, zu den Freunden und Verbündeten des römischen Volkes zu gehören, hatte sich Kleopatras Vater, Ptolemaios XII. (107–51 v. Chr.), mit exorbitanten Bestechungsgeldern an Caesar und Pompeius erkauft. In seinem in Rom hinterlegten Testament hatte er seine Tochter Kleopatra und deren jüngeren Bruder Ptolemaios XIII., die beide nach ägyptischer Sitte verheiratet waren, zu seinen Nachfolgern bestimmt. Das nach dem Tod des Vaters im Jahre 51. v. Chr. zu gemeinsamer Herrschaft angetretene Geschwisterpaar überwarf sich jedoch – ganz der Familientradition entsprechend – schon nach kurzer Zeit und stand sich 48 v. Chr. in einem bewaffneten Konflikt gegenüber, in dessen Verlauf Kleopatra aus Ägypten fliehen musste. Auch die Mittelmeerwelt stand im Jahre 49. v. Chr. vor dem Ausbruch eines imperiumweiten Krieges: Mit der Überschreitung des Rubikon hatte Caesar den Bürgerkrieg eröffnet. Der griechische Osten war überwiegend Pompeius verpflichtet und jeder Potentat brauchte Glück und Fingerspitzengefühl, um sich für die richtige Seite zu entscheiden. Als der in Pharsalos geschlagene Pompeius im Sommer 48 v. Chr. auf der Flucht vor Caesar nach Ägypten gelangte und dort den ehemaligen Bündnispartner um Aufnahme bat, wurde er von den Ratgebern Ptolemaios’ XIII. heimtückisch ermordet, die damit – erfolglos – die Gunst des Siegers zu gewinnen suchten. Bei der Verfolgung seines Gegners war auch Caesar wenige Tage später nach Alexandrien gelangt und wurde bei seiner Ankunft prompt in die Thronstreitigkeiten hineingezogen, die er – gleichsam als römischer Testamentvollstrecker – zu schlichten versuchte. Er forderte deshalb die beiden verfeindeten Geschwister auf, sich seinem Urteil zu unterwerfen. Ptolemaios XIII. zögerte noch, Kleopatra hingegen tat dies sofort. Da die Stadt aber noch von ihren Gegnern kontrolliert wurde, habe sie sich im besagten „Wäschesack“ heimlich nachts in den Palast schmuggeln lassen. Und von der ersten Minute ihrer Begegnung an zog die junge Königin Caesar vollends auf ihre Seite und übte eine unwiderstehliche Faszination auf den ‚alternden Lebemann‘ aus, dem nicht nur zahlreiche Affären mit hochgestellten Damen der römischen Gesellschaft nachgesagt wurden, sondern der auch von seinen Soldaten in Triumphzügen wegen seines angeblichen Verhältnisses zu Nikomedes als „Königin von Bithynien“ ver-

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spottet wurde. Ob die Leidenschaft für die attraktive Kleopatra ausreichte, um Caesar zum dauernden Anwalt ihrer Interessen zu machen, muss allerdings offen bleiben; der Biograf Sueton (ca. 70–130/140 n. Chr.) hingegen hegte daran keinen Zweifel: Er liebte auch Königinnen […] aber am meisten Kleopatra. Geschichte wird bekanntlich von den Siegern geschrieben, und so verwundert es kaum, dass Kleopatra lange Zeit im Zerrspiegel der römischen Siegerpropaganda gesehen wurde, denn Octavian, der Sieger von Actium und spätere Kaiser Augustus, hatte das negative Bild der Kleopatra vor und nach ihrem Tod im Zuge einer klaren politischen Propaganda festgelegt, ein Bild, das sich Historiker und Dichter zu eigen machten und an spätere Generationen weitergaben. Die zeitgenössischen ägyptischen Quellen stehen dazu aber oft im Widerspruch, und die Vorstellung einer männerbetörenden Orientalin, einer femme fatale, ist schon lange einer differenzierteren Sichtweise gewichen. Dennoch fragen wir uns noch immer, was denn nun die Anziehungskraft dieser Frau ausmachte, die es vermochte, zwei der mächtigsten Männer dieser Zeit – Caesar und Antonius – in ihren Bann zu ziehen. Wenn wir den antiken Zeitgenossen glauben schenken dürfen, so war es nicht so sehr ihr Aussehen, das sie so unwiderstehlich machte, sondern vor allem ihre Bildung (sie soll sieben Sprachen beherrscht haben), ihre Ausstrahlung, ihr Charme und ihre geistvolle Rhetorik, die die Menschen so sehr verzauberten: Ihre Schönheit, so erfahren wir, war nicht so unvergleichlich, daß sie den, der die Königin erblickte, sofort in ihren Bann zog. Aber die Anmut, die sie ausstrahlte, war unwiderstehlich. Ihre Persönlichkeit und ihre Worte übten eine besondere Anziehungskraft aus; dazu gesellte sich eine Charakterstärke, die in all ihren Worten und Taten fühlbar wurde und der sich niemand, der ihr begegnete, entziehen konnte. Es war ein Genuß, den Klang ihrer Stimme zu vernehmen (Plutarch, Antonius 27). Ein im Antikenmuseum in Berlin befindliches Marmorporträt Kleopatras mit ausdrucksvollen, ebenmäßigen Gesichtszügen, die gleichzeitig Durchsetzungskraft und Willensstärke ausstrahlen, kann uns in etwa eine Vorstellung vom Aussehen dieser großen Persönlichkeit geben. Als Bündnispartnerin war die Geliebte am Anfang jedoch eine Belastung für Caesar, denn die von ihm erzwungene Rückführung Kleopatras auf den Thron löste den sogenannten „Alexandrinischen Krieg“ aus, in dessen Verlauf ihr Bruder und Mitregent Ptolemaios XIII. (61–47 v. Chr.) umkommen sollte, bei dem aber auch der so ruhmreiche Feldherr Caesar fast ums Leben gekommen wäre. Denn es wird überliefert, dass er einmal mit wichtigen Papieren in der Hand um sein Leben hätte schwimmen müssen. Der Krieg, der nun folgte, so Plutarch (45–125 n. Chr.), wäre nach dem Urteil einiger Geschichtsschreiber überhaupt nicht nötig gewesen, sondern an diesem unrühmlichen und gefahrvollen Feldzug sei nur Caesars Liebe zu Kleopatra Schuld gewesen. Für Kleopatras Machtwillen soll

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Caesar also kurzfristig alles riskiert haben! Dank des Einsatzes von eiligst nach Ägypten beorderten Truppenverbänden gelang es ihm jedoch, die feindlichen Kräfte zu schlagen und Kleopatra zusammen mit einem weiteren jüngeren Brudergemahl, Ptolemaios XIV. (59–44 v. Chr.), als Herrscherin Ägyptens einzusetzen. Es sind nur Bruchstücke, aus denen sich uns das Bild der Beziehung zwischen Caesar und Kleopatra nach dem Alexandrinischen Krieg erschließt, aber diese vermitteln den Eindruck einer intensiven Caesar- und Rombindung der Königin. Das Land am Nil war aber auch für Caesars weitere Pläne ausgesprochen wichtig, denn trotz aller Misswirtschaft der Ptolemäer war es immer noch unermesslich reich, verfügte über große wirtschaftliche Ressourcen und war somit lohnendes Ziel römischer Begehrlichkeiten: Ägyptens Reichtum sah er [Caesar] mit begierigem Blick und hoffte auf einen Vorwand, ihn sich anzueignen (Lucan 39–69 n. Chr.). So hat Caesar offenbar seine persönliche Neigung mit dem wirtschaftlichen Interesse Roms an Ägypten verbunden. Nach Beendigung der Kampfhandlungen bestieg das Paar ein prunkvolles Schiff und fuhr ein halbes Jahr den Nil entlang. Die antiken Quellen berichten zögerlich über die Reise, und einige moderne Historiker bezweifeln sogar, ob diese überhaupt je stattgefunden hat, weil die lange Abwesenheit Caesars von Rom befremdlich anmutet. Im April 46 v. Chr. verließ Caesar Ägypten schließlich, im September gebar Kleopatra seinen Sohn, Ptolemaios (XV.) Kaisar (47–30 v. Chr.) mit dem Beiwort „der Mutter- und Vaterliebende“. Während Kaisarion, wie Caesars Sohn auch genannt wurde, in Rom erwartungsgemäß offiziell nicht anerkannt wurde, da er aus einer illegitimen Verbindung stammte, proklamierte Kleopatra ihn in Alexandrien zu Caesars Erben und zum neuen Pharao. Kurz nach der Rückkehr Caesars nach Rom im Jahre 46 v. Chr. traf auch Kleopatra auf Einladung hin mit Kaisarion und Gefolge in der Stadt ein und residierte in Caesars Besitzungen. Ob ihre Anwesenheit tatsächlich als beabsichtigte Provokation des Imperators gegenüber dem Senat gewertet werden darf, ist umstritten. Die Pracht ihrer Feste und Empfänge sowie der Luxus ihrer Bankette waren legendär und vermittelten der Gesellschaft Roms einen Eindruck, was ptolemäische Hofhaltung und königlicher Reichtum bedeuteten. Den eher patriarchalischen Römern waren allerdings dominante und politisch aktive Frauen suspekt: Ich hasse die Königin […] Ihre Überheblichkeit, als sie in den Gärten jenseits des Tibers war, kann ich nicht ohne große Erbitterung erwähnen wird Cicero später an seinen Freund Atticus schreiben, als von der Königin keine Gefahr mehr ausging. Bald nach ihrer Ankunft reiste Caesar nach Spanien ab und überließ sie fast ein Jahr sich selbst und den Römern. Als er 45 v. Chr. heimkehrte, überschüttete er Kleopatra mit Ehren und ließ – unter allgemeiner Entrüstung der Römer – in dem von ihm gestifteten Tempel der Venus Genetrix auf dem Forum Iulium (Caesarforum) eine goldene Statue mit ihren Gesichtszügen aufstellen. Römischer Gesetzgebung gehorchend, weigerte sich

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Caesar aber, Kaisarion zu seinem offiziellen Erben zu machen, obwohl er die Vaterschaft selbst nie bestritt und auch die antiken Quellen keine einschlägigen Zweifel äußern. Testamentarisch setzte der Feldherr seinen Großneffen und Adoptivsohn Octavian als Nachfolger und Erben ein – obwohl dieser Nachtrag am Ende des caesarischen Testaments, wie Walter Schmitthenner aufzeigte, nicht ohne Zweifel geblieben ist. Wie immer die weiteren Pläne Kleopatras in Rom ausgesehen haben mögen, sie wurden nach dem Attentat und der Ermordung Caesars an den Iden des März 44 v. Chr. zunichte gemacht. Die Königin und ihr Hofstaat verließen wenig später die Stadt und kehrten heim nach Ägypten. Nach ihrer Rückkehr ließ Kleopatra ihren Bruder Ptolemaios XIV. ermorden und machte den dreijährigen Kaisarion zu ihrem Mitregenten. Zu einseitig lag der Fokus der Betrachtungen dieses prominenten Paares auf dem überbetonten „Liebesverhältnis“ beider zueinander, denn es ging dabei um viel mehr. Die in den letzten Jahren zutage getretenen Denkmäler aus Ägypten werfen ein facettenreicheres Bild auf die Interessen der Königin, insbesondere auf die Rolle, die Kleopatras dynastisches Denken bei der Sicherung ihrer Herrschaft gespielt hat. Die Gott-Königin und letzter weiblicher Pharao Ägyptens versuchte, das Land am Nil noch einmal zum Mittelpunkt der östlichen Mittelmeerwelt zu machen. Unter dem schützenden Protektorat Caesars konnte sie dieses Ziel in Angriff nehmen und ihre Machtposition in Ägypten in Ruhe ausbauen. Von Anbeginn an betrieb Kleopatra eine aktive Bau- und Religionspolitik, und die Fürsorge für ihr Land kommt in einer Inschrift im Tempel der Göttin Hathor von Dendera am deutlichsten zum Ausdruck: Die das geliebte Land [Ägypten] beschützt. An der Rückwand des Heiligtums befindet sich auch die berühmte Darstellung Kleopatras mit Kaisarion, die beide in ägyptischer Tracht und Bildgestaltung wiedergibt. In einer zutiefst religiös geprägten Kultur wie der ägyptischen war die Hinwendung zu den Göttern besonders wichtig. So beteiligte sich Kleopatra sogar persönlich an den Bestattungszeremonien, als der heilige Buchis-Stier im südlich von Theben gelegenen Hermonthis gestorben war. Ein besonders prächtiges Bauwerk, das bis in das 19. Jahrhundert auch noch zu sehen war, stellte das Geburtshaus (Mammisi) der Kleopatra im besagten Hermonthis dar, in dem sie die Geburt des Kaisarion, der als Kindgott dem jungen Sonnengott angeglichen wurde, unmissverständlich in Bild und Text feiern ließ. Ptolemaios Kaisar trug den Dynastienamen der Ptolemäer, gleichzeitig wurde aber auch an seine römische Abstammung erinnert. Ihr Sohn sollte also dem Willen Kleopatras nach der Begründer einer neuen ägyptisch-römischen Dynastie werden, wie Heinz Heinen kürzlich nachzuweisen versucht hat, und damit sowohl Herrscher über das Reich Alexanders, als dessen Erbin sie sich verstand, als auch über das römische Imperium werden. Dies waren Dimensionen, die alle antiken Vorstellungen über Großreiche sprengten und Kleopatra als kühne Visionärin zeigen.

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Doch wie stark hat Kleopatra das politische Denken Caesars wirklich beeinflusst? Wollte dieser sich tatsächlich von Calpurnia scheiden lassen und ein Gesetz durchbringen, das es ihm ermöglichte, mehrere Frauen zu heiraten und damit vielleicht sogar Kaisarion als Nachfolger zu etablieren? Wollte er sich in Anlehnung an orientalische Vorstellungen zum autokratischen Gott-König erheben (man denke an den Stern Caesars und das Problem seiner Vergottung zu Lebzeiten, die Gerhard Dobesch ausführlich behandelt hat)? All diese Fragen werden kontrovers diskutiert, und wir bleiben als Historiker weitgehend hilflos gegenüber solchen Motivationsfragen. Auf sicherem Boden stehen wir hingegen bei den handfesten Ergebnissen der ägyptisch-römischen Kontaktnahme: Eindeutig aus Ägypten stammt die Kalenderreform der caesarischen Verwaltung. Dort hatte bereits Ptolemaios III. im Jahre 239 v. Chr. den Kalender reformiert und das uns vertraute Schaltjahr eingeführt. Unter Aufsicht des alexandrinischen Astronomen Sosigenes wurde der neue Kalender in Rom und im gesamten römischen Imperium – und damit auch in der modernen Welt – eingeführt. Caesars geplante Maßnahmen zur Trockenlegung der Sumpfgebiete um Rom durch Kanalbauten könnten desgleichen auf ägyptischer Erfahrung beruhen. Sicherlich kein Zufall war auch das Vorhaben, in Rom öffentliche Bibliotheken einzurichten, mit dem er 47 v. Chr. nach der Rückkehr aus Alexandrien den Architekten Varro beauftragte. So erwuchs aus der Sympathie zweier Personen von großer Strahlkraft über das handfeste wechselseitige Kennenlernen von Traditionen ein Erbe, das über die dichterische Verklärung – und Verunklärung – hinaus auch für heute noch Erinnerung und Wirkmächtigkeit bereithält.

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So eine Rückschau auf die Alptraumnacht, die zwangsläufig zu einer Vorschau auf viele Alptraumnächte hinausführte, bedrückte ihre Seele so schwer, dass sie sich mit ihren sechzehn Lenzen und ihrem erbarmungslos flachgetretenen und wundgescheuerten Körper einer Spielpuppe gleich fühlte, die ein mächtiger, roher Lüstling, wann er wollte, nehmen, wohin er wollte, führen, wie er wollte, spielen, und wenn ihm die Gelüste gestillt waren, zerreißen und wegwerfen durfte. Tatarin Yesügen Qadun nach ihrer Hochzeitsnacht mit Tschinggis Khan Dann, weil ich dich schon wiederholte Male mit einem Weib aus der Beuteherde mehr belästigt als beglückt habe. Nur, ich sage dir, es gehört einfach zum Ansehen des Mannes, eine gewisse Anzahl davon zu besitzen. Du musst nicht alle beschlafen oder schwängern, musst sie aber bewachen lassen, dass sie an keinen anderen Mann herankommen, auf dass sie jederzeit glutheiß gehalten werden und, wann du sie auch immer gebrauchst, dich hungrig und wild anspringen und sich bereit zeigen, dich samt deinem Samen zu verschlingen.1 Tschinggis Khan in einem Traum an seinen Sohn und Nachfolger Ögödei

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ugegeben, diese Zeilen entstammen keiner zeitgenössischen Quelle aus den Tagen Tschinggis Khans, sondern einem Roman; und doch wäre es weit gefehlt, sie als literarische Fiktion oder gar Ausfluss einer misogynen Fantasie abtun zu wollen. Denn ihr Verfasser, der mit zahlreichen Literaturpreisen gezierte Tuwiner Galsan Tschinag (* 1944), gilt als der profundeste in deutscher Sprache publizierende Kenner steppenomadischer Traditionen und Lebenswelten.2 Als Stammesoberhaupt, Schamane und unermüdlicher

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Tschinag, Galsan: Die neun Träume des Dschingis Khan. Frankfurt/Main 2007, S. 60 und 194f. Informationen zu Galsan Tschinag finden sich am einfachsten und schnellsten bei: http:// de.wikipedia.org/wiki/Galsan_Tschinag; http://www.suhrkamp.de/autoren/galsan_tschinag_5007. html; zum idealen Verständnis des Autors und seiner Werke empfiehlt sich die Lektüre seines

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Kämpfer für die Rechte seiner rund 4.000 turksprachigen Landsleute auf der einen und an der Karl-Marx-Universität in Leipzig ausgebildeter Germanist auf der anderen Seite bewegt sich der nicht nur literarische Grenzgänger in jedem seiner extrem unterschiedlichen kulturellen Bezugssysteme mit beeindruckender Souveränität. Tschinag nomadisiert periodisch zwischen Europa, seiner Residenz in der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator und den Weidegebieten seines Volkes in den westmongolischen Steppen. Aus der reichen oralen und der weitaus dünneren schriftlichen Überlieferung seiner Heimat schöpfend, versteht er es, als Hüter der Traditionen seiner Gemeinschaft Steppenbilder von atemberaubender Schönheit und Poesie, gerade für Europäer gelegentlich befremdlicher Authentizität und zugleich bestechender historischer Tiefe zu zeichnen. Unter diesen Prämissen sind auch die beiden Eingangszitate zu sehen, die es in der Folge (kultur-)historisch zu kontextualisieren und als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen zur Rolle der Frau sowie der Geschlechterbeziehungen in steppennomadischen Gesellschaften vergangener Epochen zu nutzen gilt.3 Das Schicksal der Tatarin Yesügen der ersten Textstelle basiert auf einer Episode aus der sogenannten „Geheimen Geschichte der Mongolen“, dem ältesten auf uns gekommenen literarischen Denkmal mongolischer Provenienz.4 Die vermutlich in Etappen zwischen

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autobiografischen Romans: Tschinag, Galsan: Die Rückkehr. Roman meines Lebens. Frankfurt/ Main 2008. Vgl. dazu grundsätzlich: Ratchnevsky, Paul: La condition de la femme Mongole au 12e/13e siècle. In: Heissig, Walther (Hrsg.): Tractata Altaica. Wiesbaden 1976, S. 509–530; Holmgren, Jenny: Observations on marriage and inheritances practices in early Mongol and Yüan society, with particular reference to the Levirate. In: Journal of Asian History 20 (1989), S. 127–192; Uray-Köhalmy, Käthe: Die Stellung der Frau in der mongolischen Gesellschaft. In: Arbeitsgruppe Ethnologie (Hrsg.): Von fremden Frauen. Stuttgart 1989, S. 307–324; Linck, Gudula: Nöchör (Gefährten) – Geschlechterverhältnisse bei den Mongolen im 13./14. Jahrhundert. In: Conermann, Stefan / Kusber, Jan (Hrsg.): Die Mongolen in Asien und Europa (= Kieler Werkstücke, Reihe F: Beiträge zur osteuropäischen Geschichte 4). Frankfurt/Main 1997, S. 179–205; Giessauf, Johannes: Der Feind in meinem Bett. Frauen und Steppennomaden in den Quellen des europäischen Mittelalters. In: Acta Orientalia Academiae Scientiarum Hungaricae 58, 1 (2005), S. 77–87; Mindler, Ursula: Tschinggis Khan und die Frauen. In: Mitteilungen der Grazer Morgenländischen Gesellschaft 13 (2005/06), S. 69–79; Veit, Veronika (Hrsg.): The role of women in the Altaic world. Permanent international Altaistic conference 44th Meeting, Walberberg, 26–31 August 2001 (= Asiatische Forschungen 152) Wiesbaden 2007; Sečenmönke: The role of women in traditional Mongolian society. In: ebd., S. 247–252; Ficsor, Michaela Ilona: Die europäische Wahrnehmung von Familien- und Geschlechterstrukturen in den mittelalterlichen Mongolenreichen. Diplomarbeit Universität Graz 2008, insb. S. 53–87; Steiner, Johannes: In Bed with Gengiz Khan. In: Johannes Giessauf / Johannes Steiner (Hrsg.): „Gebieter über die Völker in den Filzwandzelten“. Steppenimperien von Attila bis Tschinggis Khan (= Grazer Morgenländische Studien 7) Graz 2009, S. 65–80. Geheime Geschichte der Mongolen. Herkunft, Leben und Aufstieg Činggis Qans. Aus dem Mon-

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dem Tod Tschinggis Khans († 1227) und dem Jahr 1264 zu einer Mischung aus Chronik und Heldenepos verdichtete Erinnerung an den Aufstieg des mongolischen Reichsgründer weiß unter anderem von der gnadenlosen Unterwerfung des Stammes der Tatar durch Temüdschin, den nachmaligen Tschinggis Khan, zu berichten. Nur wenige der als Erbfeinde der Mongolen betrachteten Tatar kamen bei diesem Rachefeldzug Temüdschins 1202 mit einem Leben in Sklaverei oder – im günstigeren (?) Fall – als Beutefrauen im Bett der Sieger davon.5 Nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal erlebte Tschinggis Khan bei dieser Gelegenheit jenen angeblich ultimativen Glücksmoment eines Steppenkriegers, dessen Definierung ihm der in mongolischen Diensten stehende persische Chronist Rashid ad-Din (1247–1318) zwei Generationen später in den Mund legen wird: Das höchste Glück eines Mannes ist, den Feind zu verfolgen und zu besiegen, sich seines ganzen Besitztums zu bemächtigen, seine verheirateten Frauen schluchzen und weinen zu lassen, auf seinen Wallachen zu reiten, die Leiber seiner Frauen als Nachtgewand und Stütze zu benutzen, ihren rosafarbenen Busen zu betrachten und zu küssen, an ihren Lippen, süß wie die Beere an der Brust, zu saugen.6 Eine Antwort, die Arnold Conan der Barbar Schwarzenegger – in einfachere Worte gefasst – auf die Frage What’s best in life? noch 1981 auf der Kinoleinwand geben sollte.7 Dass Tschinggis Khans vorgebliches Diktum nicht restlos

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golischen übertragen und kommentiert von Manfred Taube. München 1989 (in der Folge GGM); zur „Geheimen Geschichte der Mongolen“ vgl. außerdem Barrett, T. H.: The secret history of the Mongols: Some fresh revelations. In: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 55 (1992), S. 115–119; Schöne, Uta: Bemerkungen zum Frauenbild in der „Geheimen Geschichte der Mongolen“. In: Kellner-Heinkele, Barbara (Hrsg.): Altaica Berolinensia. The concept of sovereignty in the Altaic world. PIAC, 34th Meeting, Berlin 21–26 July, 1991 (= Asiatische Forschungen 126), Wiesbaden 1993, S. 223–227; Weiers, Michael: Temüdschin der Schwurbrüchige. In: Zentralasiatische Studien 28 (1998), S. 31–44. GGM §§ 153–156, S. 81–83. Zit. nach Ratchnevsky, Paul: Činggis-Khan. Sein Leben und sein Wirken (= Münchner Ostasiatische Studien 32). Wiesbaden 1983, S. 136. Zu Rashid ad-Din vgl.: Boyle, John Andrew: Juvaynī and Rashīd al-Dīn as sources on the history of the Mongols. In: Historians of the Middle East. London 1962, S. 133–137; Boyle, John Andrew: The significance of the Jāmi’ al-Tawārīkh as a source on Mongol history. In: Iran-Shenasi 2 (1970), S. 1–8; Boyle, John Andrew: Rashīd al-Dīn: The first world historian. In: Iran 9 (1971), S. 19–26; Kappler, Claude: Das Bild der Mongolen nach den Geschichtswerken von Juveyni und Rasid ad-Din. In: Heissig, Walther / Müller, Claudius C. (Hrsg.), Die Mongolen. Innsbruck/Frankfurt/Main. 1989, S. 65–70; Amitai, Reuven: Under the aegis of world empire: Rashid al-Din al-Hamadani, the first historian of humankind. In: New! 4/2008, S. 16–23. Milius, John (Regisseur), Conan der Barbar. Fantasyfilm, USA 1981: Zu kämpfen mit dem Feind, ihn zu verfolgen und zu besiegen und sich zu erfreuen an dem Geschrei der Weiber. Zit. nach Steiner, In Bed, S. 77.

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Rashids Fantasie entsprungen ist, bezeugt schon die Geheime Geschichte, wo über die mongolische Vergeltung an den Merkit zu lesen ist: Die dreihundert Merkit, die den Burqan-Berg umzingelt hatten, rotteten sie aus bis auf Kind und Kindeskind, daß sie wie Asche zerstoben. Ihre übrigen Frauen, mit denen man schlafen konnte, mit denen schliefen sie.8 Aus moderner Perspektive war das zitierte Los der Yesügen und ihrer älteren Schwester Yesüi, die Temüdschin bei selber Gelegenheit nach Ermordung ihres Ehemanns in sein Herz und in der Reihe seiner Lieblingsfrauen Platz nehmen ließ 9, ein grausames – doch so zynisch es im ersten Augenblick auch klingen mag, eröffnete es den betroffenen Frauen für den Rest ihres Daseins auch die Möglichkeit, ihre Lebenssituation, die nach unseren Maßstäben selbst unter normalen Umständen oft wenig freudvoll erscheint, zumindest hinsichtlich ihres Status zu verbessern. Denn für jede aus der Schar der Frauen des Khans – die in den Quellen überlieferten Zahlen variieren in diesem Fall enorm10 – waren das materielle Auskommen und eine herausgehobene gesellschaftliche Position gesichert. Die im tiefsten Wortsinn eingetriebene Gegenleistung dafür war uneingeschränkte sexuelle Verfügbarkeit und aktive Teilhabe an der Weitergabe des herrscherlichen Erbgutes – zentrale Aspekte, welche die steppennomadische mit der in vormoderner Zeit auch in unseren Breiten üblicherweise liebesfreien ehelichen Gemeinschaft durchaus teilte. Wie es den Frauen unter diesen Prämissen im Bett oder zwischen den Kissen der Macht tatsächlich erging, können wir bestenfalls erahnen; authentische Zeugnisse im Sinne von Ego-Dokumenten aus der Feder der Betroffenen besitzen wir von Angehörigen sesshafter Kulturen dieser Zeit nur wenige, von Steppennomadinnen gar nicht. Die imaginierte Hochzeitsnacht der Yesügen bei Galsan Tschinag also könnte – so steht zu befürchten – der von ihrer historischen Vorlage erlebten vermutlich recht nahekommen. Während die „Geheime Geschichte“ über den weiteren Lebensweg der Yesügen schweigt, erfahren wir von ihrer älteren Schwester Yesüi nicht nur, dass sie zu Beginn von Tschinggis Khans Feldzug gegen den Choresm-Schah 1218 an der Seite des Mongolenherrschers war, sondern dass ihr sogar bei Entscheidungen in staatstragenden Angelegenheiten Gewicht zukam. Der ältesten mongolischen Überlieferung zufolge soll sie den Herrscher vor besagtem Kriegszug dazu veranlasst haben, für den Fall seines Todes die Nachfolge zu regeln. 8 GGM § 112, S. 48 f. 9 GGM § 155, S. 83. 10 Nach Rashid ad-Din soll Tschinggis Khans „Harem“ rund 500 Ehefrauen und Konkubinen umfasst haben, die chinesischen Reichsannalen der Mongolenzeit, das sogenannte Yüan-shih, verzeichnen die Namen von 23 Ehefrauen und 16 Konkubinen. Vgl. Ratchnevsky, Činggis-Khan, S. 145; Lech, Klaus (Hrsg.): Das mongolische Weltreich. Al ‘Umarī’s Darstellung der mongolischen Reiche in seinem Werk Masālik al-absār fī mamālik al-amsār (= Asiatische Forschungen 22) Wiesbaden 1968, S. 202f., Anm. 59 mit der Namensliste aus dem Yüan-shih.

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Auch wenn der Chronist bei der Wiedergabe von Tschinggis Khans Antwort literarische Freiheit walten ließ, so trägt diese doch zum zeitgenössischen Verständnis der Rolle einer Qatun, einer Herrschergattin, bei: Auch wenn sie eine Frau ist – die Worte der Yesüi sind die einzig richtigen. Keiner von euch hat solches zu bedenken gegeben – nicht die jüngeren Brüder und die Söhne [...].11 Schließlich ist der „Geheimen Geschichte“ auch noch zu entnehmen, dass Yesüi Tschinggis Khan 1226/27 auf dessen letztem Feldzug gegen das Königreich HsiHsia im heutigen Nordwestchina begleitete und nach dem Tod des Khans einen großen Teil der unterworfenen tangutischen Bevölkerung dieses Reiches als persönlichen Besitz erbte.12 Sie zählte also ungeachtet ihrer Herkunft vom tatarischen Erzfeind und aus dem Pool der „Fundsachen“ – so die euphemistische mongolische Bezeichnung für jegliches Beutegut – tatsächlich zu den bevorzugten Gefährtinnen des Reichsgründers. Auch spätere mongolische, persische und arabische Quellen verzeichnen die tatarischen Schwestern unter den (meist mit vier bezifferten) Hauptfrauen Tschinggis Khans13, zu denen sich noch Konkubinen, also Beischläferinnen ohne den offiziellen Rang einer Ehefrau, und im Prinzip völlig rechtlose Sklavinnen für den „sexuellen Gebrauch zwischendurch“ gesellten. Mit der nicht weiter überraschenden Abscheu eines monogam sozialisierten Ordensmannes beleuchtet der päpstliche Gesandte Johannes von Piano del Carpine 1246/47 im Rahmen seines Besuches beim Großkhan Güyük (1246–1248) den hohen „Frauenverschleiß“ des Enkels und zweiten Nachfolgers Tschinggis Khans: Sie [die Untertanen des Khans] gehorchen auch völlig widerspruchslos, was immer ihnen, unabhängig von Zeit und Ort, befohlen wird, egal, ob es sich um Krieg, Tod oder Leben handelt. Selbst wenn er ihre jungfräuliche Tochter oder Schwester begehrt, geben sie sie ihm ohne Widerrede. Jedes Jahr oder im Abstand von einigen Jahren lässt er aus dem gesamten Tartarenreich Jungfrauen zusammensuchen. Wenn er einige davon für sich behalten möchte, so behält er diese. Die übrigen überlässt er seinen Männern, wie es ihm gerade passt.14 Über die mongolischen Ehebräuche weiß der Franziskaner zu berichten, dass keine normierte Höchstgrenze an möglichen Ehefrauen existierte, sondern den Ausschlag gab, wie viele Frauen sich ein Mann leisten konnte.15 Dass derartige Vielehen allerdings mit erheblichem materiellem Aufwand verbunden waren, bezeugt der umbrische Franziskaner an anderer Stelle: Wenn ein Tartar viele Gemahlinnen hat, so hat jede eine Jurte und einen Haushalt für sich, und er 11 12 13 14

GGM § 254, S. 184. Ebd. §§ 265, 268, S. 196, 200. Vgl. Lech, Weltreich, S. 202f. Die Mongolengeschichte des Johannes von Piano Carpine. Einführung, Text, Übersetzung und Kommentar von Johannes Giessauf (= Schriftenreihe des Instituts für Geschichte 6). Graz 1995, V, 22, S. 172. 15 Ebd. II, 3, S. 130.

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ißt, trinkt und schläft den einen Tag mit der einen Frau, den nächsten Tag mit einer anderen. Eine von ihnen steht dennoch über den anderen, und er hält sich bei dieser häufiger auf als bei den übrigen. Obwohl es viele Frauen sind, kommt es unter ihnen nicht leicht zu Streit.16 Carpines Ordensbruder Wilhelm von Rubruk, der das mongolische Reich zwischen 1253 und 1255 bereiste, kam zu ganz ähnlichen Erkenntnissen: Batu [= ein Enkel Tschinggis Khans und Begründer der Goldenen Horde] hat sechsundzwanzig Frauen, deren jede ein großes Zelt bewohnt. […] Zu einer jeden dieser Jurten gehören zweihundert Wagen. Wenn sie ihr Zeltlager einrichten, erhält die erste Frau ihren Platz für ihr Zelt an der Westseite. Bis zum Zelt der letzten Frau im Osten folgen dann die weiteren Frauenzelte, jeweils mit einem Zwischenraum von einem Steinwurf.17 Auch er beobachtete die Zyklen der männlichen Besuche bei ihren Ehefrauen, die gleichsam Königinnen für einen Tag waren. Die für die Nacht Auserkorene hielt am Tage Hof, gab ein Trinkgelage für die anderen Frauen sowie Gäste und erhielt alle Gastgeschenke des Tages.18 Gerade am häufigen und exzessiven Trinken der Frauen stieß sich der Missionar besonders.19 Mit weit weniger Entrüstung beschreibt eine Generation später Marco Polo († 1324) einen Usus am Hofe des Tschinggis-Enkels Khublai Khan (1260–1294), der den von Carpine geschilderten Gepflogenheiten von Khublais Cousin und Vorvorgänger Güyük durchaus vergleichbar erscheint: Jedes Jahr werden die hundert schönsten Töchter [aus dem Stamm der Ungrac] ausgewählt und zum Großkhan gebracht. Er gibt sie den Hofdamen in Obhut. Die Mädchen haben mit den Hofdamen im selben Bett zu liegen, und diese prüfen, ob jene einen angenehmen Atem haben, ob sie noch unberührt und körperlich gesund sind. Die blühend schönen Jungfrauen kommen in den persönlichen Dienst des Khans. Drei Tage und drei Nächte bedienen sechs Jungfrauen den hohen Herrn; im Schlafgemach, im Wohnraum, für alles, was er nur wünschen mag, stehen sie ihm zur Verfügung. Der Khan behandelt sie, wie es ihm beliebt. Nach drei Tagen und drei Nächten kommen die nächsten sechs Mädchen.20 16 Ebd. IV, 9, S. 149. 17 Guillelmus de Rubruc, Itinerarium. In: Wyngaert, P. Anastasius van: Sinica Franciscana I. Itinera et relationes Fratrum Minorum saeculi XIII et XIV. Quaracchi 1929, S. 147–332, hier II, 4, S. 173f.; Übersetzung: Leicht, Hans D. (Hrsg.): Wilhelm von Rubruk. Beim Großkhan der Mongolen. 1253–1255. Stuttgart 2003, S. 43. Zu Rubruk und seinem Werk vgl. The mission of friar William of Rubruck. His journey to the court of the Great Khan Möngke 1253–1255. Translated by Peter Jackson. London 1990. 18 Ebd. II, 8 ed. Wyngaert S. 175. 19 Ebd. II, 9 ed. Wyngaert S. 176. 20 Polo, Marco: Il Milione. Prima edizione integrale a cura di Luigi Foscolo Benedetto. Florenz 1928, LXXXII, S. 72; Polo, Marco: Il Milione. Die Wunder der Welt. Übersetzung aus altfranzösischen und lateinischen Quellen und Nachwort von Elise Guignard. Zürich 61994, S. 128f.; zu Marco Polo und seinem Quellenwert vgl. zuletzt zusammenfassend Münkler, Marina: Marco Polo. Leben und

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Dass der venezianische Kaufmannssohn sich dabei eines Urteils enthält, hat mehrere Gründe. So war Marco Polo im Gegensatz zu vorangegangenen europäischen Berichterstattern kein moralisierender Kleriker, vor allem aber sah er die Mongolen nicht mehr als bestialische Barbaren und Angst erregende Wilde, die sie für Carpine und Rubruk trotz aller Bemühungen um möglichst objektive Deskription gewesen waren. Zu tief war diesen Berichterstattern noch der Schock des in den Jahren 1240–1242 über Osteuropa hinweggegangenen Mongolensturms im Hinterkopf gesessen. Für Marco Polo hingegen waren Khublai und sein Hof in Khanbaliq (Peking) die Verkörperung idealen Herrschertums. Er stößt sich daher weder an diesen zeitlich limitierten Konkubinen Khublais noch an dessen ihm bekannten vier Ehefrauen21 oder am Umstand, dass die Polygynie der Mongolen auch nach seinem Wissensstand praktisch keine zahlenmäßige, sondern lediglich eine ökonomische Begrenzung kannte: Jeder darf sich so viele Frauen nehmen, wie er will, bis zu hundert, falls er reich genug ist und meint, sie erhalten zu können.22 Mit ganz ähnlichen Worten hatte bereits um 1237 der chinesische Diplomat Sü T’ing die Vielweiberei der in seinen Augen barbarischen Steppennomaden beschrieben: Nach dem, was ich von ihren Sitten gesehen habe, hat ein Mann Dutzende von Frauen oder gar über hundert Frauen. Jede Frau ist sehr reich an Vieh.23 Obschon Khublai Khan, der sein Machtzentrum als Begründer der mongolischen Yüan-Dynastie (1271–1368) nach China verlagert hatte, auch in vielem noch an seinen steppennomadischen Wurzeln festhielt, begannen chinesische Sitten und Vorstellungen bereits unter seiner Herrschaft tendenziell Platz zu greifen. Dazu zählten auch hierarchische Differenzierungen innerhalb der zunächst gleichrangigen Ehefrauen zugunsten einer Hauptfrau, die weitestgehende Entrechtung von Konkubinen sowie die Ahndung des zuvor nicht inkriminierten vorehelichen Geschlechtsverkehrs nach chinesischer Rechtstradition.24 Marco Polo wurde wie der eine Generation später reisende Franziskaner Odorich von Pordenone († 1331) Zeuge einer allmählichen Sinisierung der China regierenden Mongolen, von der eben auch die Ehe- und Sexualgewohnheiten nicht unberührt blieben.25 Dynastische Ehen, die es natürlich auch schon in der Steppe gegeLegende. München 1998. 21 Marco Polo, Il Milione LXXXII ed. Benedetto, S. 72; Guignard S. 128. 22 Ebd. LXIX ed. Benedetto, S. 54; Guignard S. 99. 23 Meng-ta Pei-lu und Hei-ta shih-lüeh. Chinesische Gesandtenberichte über die frühen Mongolen 1221 und 1237. Nach Vorarbeiten von Erich Haenisch und Yao Ts’ung-wu übersetzt und kommentiert von Peter Olbricht und Elisabeth Pinks. Eingeleitet von Werner Banck. (= Asiatische Forschungen 56). Wiesbaden 1980, S. 194. 24 Vgl. Jagchid, Sechin / Hyer, Paul: Mongolia’s culture and society. Colorado 1979, S. 94; Linck, Nöchör, S. 195–197. 25 Edition der Relatio des Odoricus bei Wyngaert, Sinica I, S. 381–495, hier XXVI, S. 473; Reichert,

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ben hatte, wurden immer wichtiger, die Form der Raubehe hingegen verlor, nicht zuletzt auch aufgrund der stagnierenden Expansion des Reiches, an Relevanz. Man musste und konnte keinen besiegten Gegner mehr demütigen, indem man ihm seine Frau oder Tochter raubte und als Zeichen des Triumphs ins eigene Schlafgemach zerrte. Die Zeiten hatten sich geändert, seit Altan, Qučar und Sača Beki dem aufstrebenden Temüdschin geschworen hatten: Wenn du, Temüjin, Qan bist, wollen wir als Kundschafter gegen die vielen Feinde reiten, und wir wollen dir die Mädchen und Frauen bringen, schön von Aussehen, die Palastjurten, die schönwangigen Frauen und Mädchen der Reiche und Völker [...].26 Als mit Sicherheit zeitlos muss dagegen der Horror für die davon Betroffenen gelten, auf den das Carmen miserabile des Rogerius von Torre Maggiore Mitte der 1240er Jahre ein Schlaglicht wirft: [...] viele von ihnen [= Tartaren und Kumanen] freuten sich, wenn sie sahen, daß die Väter durch ihre Töchter, die Männer durch ihre Frauen, die Brüder durch ihre Schwestern ihr Leben retteten und ihnen die Frauen zu ihrer Lust übergaben. Es befriedigte sie, wenn sie die Tochter in Gegenwart des Vaters oder die Ehefrau in Anwesenheit des Mannes mißbrauchten.27 Betrachten wir die Ehe- und Brautwerbungsformen der Steppennomaden nun einmal im Einzelnen. Die von europäischen und chinesischen Beobachtern zum Teil mit strikter Ablehnung zur Kenntnis genommene Polygynie der Steppennomaden – oder besser gesagt jener wohlhabenden Führungsschicht, die sich mehrere gleichsam ebenbürtige Ehefrauen leisten konnte – ist schon zur Sprache gekommen. Sie blieb bei europäischen Reisenden und Gelehrten, die sich Nachkommen des einstigen mongolischen Großreiches zuwandten, selbstredend bis in die Neuzeit Thema. Dabei konnte der Blick auf dieses Phänomen von moralischer Ablehnung über unterschwelligen Neid bis hin zu sehr nüchternen Betrachtungen reichen, wenn etwa der Tübinger Gelehrte Johann Gottlieb Georgi im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts über die kasanischen Tataren bemerkt: Die Weiber sind kostbar im Einkauf und in der Unterhaltung, und mehrere stöhren gewöhnlich den

Folker (Hrsg.): Die Reise des seligen Odorich von Pordenone nach Indien und China. Übersetzt, eingeleitet und erläutert. Heidelberg 1987, S. 98. Vgl. zu Odorich außerdem: Odorico da Pordenone e la Cina. Atti del Convegno Internazionale a cura di Giorgio Melis. Pordenone 1983; Jandesek, Reinhold: Der Bericht des Odoric da Pordenone über seine Reise nach Asien. Bamberg 1987. 26 GGM § 123, S. 54f. 27 Juhász, Ladislaus (Hg.), Epistola magistri Rogerii in Miserabile Carmen super destructione regni Hungarie per Tartaros facta. In: Scriptores Rerum Hungaricarum II. Budapest 1938, S. 543–588, hier cap. XXXV, S. 581; Übersetzung: Göckenjan, Hansgerd / Sweeney, James R. (Hrsg.), Der Mongolensturm. Berichte von Augenzeugen und Zeitgenossen 1235–1250 (= Ungarns Geschichtsschreiber. Bd. 3). Graz/Wien/Köln 1985, S. 176f.

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Abb. 1: Filmplakat zu Manuel Condes Film Genghis Khan (1950) Quelle: http://www.movieposter.com/posters/archive/main/47/MPW-23724

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Hausfrieden, darum haben die mehresten Männer nur eine Frau.28 Dass Berichterstatter aus dem muslimischen Kulturkreis davon weniger Notiz und vor allem keinen Anstoß daran nahmen, liegt aus Gründen der eigenen kulturellen Prägung auf der Hand. Wie konnten sich nun Ehen dieser Steppennomaden anbahnen? Warben kuschelfreudige Khane tatsächlich stets mit der Waffe in der Hand und war die Peitsche das wesentliche Instrument, um sich ihre Eroberungen zu Willen zu machen? Das zumindest versprach das Filmplakat des 1950 entstandenen Films Genghis Khan von Michael Conde zu bezeugen: See the savage fury of the bestial Mongol warriors, see women made slaves, ruled an raveged by the whip? (Siehe Abb. 1). Der am Beispiel der tatarischen Schwestern Yesügen und Yesüi bereits illustrierte Brautraub war in der Tat alles andere als ein Einzelschicksal. Vielmehr war die Raubehe – als in der Regel einseitige Form der Liebe auf den ersten Blick gerne auch als „Ehe der zufälligen Begegnung“ bezeichnet – in den Führungsschichten der exogamen Steppenclans ein durchaus häufiges Phänomen.29 Mit Hö’elün, der Mutter Tschinggis Khans, be­ gegnet die vielleicht prominenteste Repräsentantin einer geraubten Braut in der „Geheimen Geschichte“. Von Tschinggis Khans Vater Yesügei einem Angehörigen des Stammes der Merkit geraubt, rettete die spätere Stammmutter der Tschinggisiden ihrem ursprünglichen Bräutigam das Leben, indem sie sich ihrer Besitzergreifung durch Yesügei fügte. In den epischen Zeilen der „Geheimen Geschichte“ ermöglichte sie ihrem Merkit-Bräutigam Čiledü die Flucht mit den Worten: Siehst du die drei Männer [= Yesügei und seine beiden Gefährten]? Sie sehen verdächtig aus! Sie sehen aus, als wollten sie dir ans Leben! Bleibst du nur am Leben, so gibt es für dich Mädchen in jedem Karrenvorderteil, Frauen in jedem schwarzen Karren. Bleibst du nur am Leben, wirst du ein Mädchen oder eine Frau finden. Sie, die einen anderen Namen trägt, kannst du ja auch Hö’elün nennen. Rette dein Leben! Bewahre meinen Duft und geh!30 Was Hö’elün bei dieser Gelegenheit und in der folgenden Ehe mit Yesügei wirklich empfand, entzieht sich wieder einmal unserer Kenntnis. Opferte sie sich für das Überleben ihres wahren Geliebten in einer Ehe mit Yesügei auf, war sie vielleicht sogar glücklich, Čiledü los zu sein und nun das Bett mit einem mächtigeren Clanführer der Mongolen zu teilen oder stellte sich dem Mädchen aus dem Stamme der Olqunu’ut ohnedies nur die Frage, welcher der beiden Werber das geringere Übel war? Schließlich hatte Čiledü seine Braut mit allergrößter Wahrscheinlichkeit deren Eltern abgekauft und damit den gängigs­ 28 Georgi, Johann Gottlieb: Beschreibung aller Nationen des Rußischen Reichs. 4 Bde. St. Petersburg 1776–1780, hier II, S. 102f. 29 Vgl. Holmgren, Observations, S. 143–145; Uray-Köhalmy, Stellung, S. 317. 30 GGM § 55, S. 16.

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ten Weg des Brauterwerbs in der Steppe beschritten, der die Auswahl des Bräutigams zur Agenda der Brauteltern bzw. -familie machte.31 Wer, wie Yesügei, zum Nulltarif heiraten wollte, raubte seine Braut, wobei auffälligerweise Ehefrauen der Gegner beliebter gewesen zu sein scheinen als deren unverheiratete Töchter32 – möglicherweise vermochte der Raub der Frau eines Besiegten dessen Erniedrigung und die Befriedigung des Siegers noch zu steigern, wie es ja auch das bereits oben zitierte angebliche Diktum Tschinggis Khans bei Rashid ad-Din insinuiert. Nicht nur, aber sicher in verstärktem Maße wird für Ehen, die auf diese Weis zustande gekommen waren, ein mongolisches Sprichwort des 17. Jahrhunderts seine Gültigkeit gehabt haben: Der Frau Freude ist es, wenn der Mann morgens geht.33 Für Temüdschin bzw. Tschinggis Khan sollte sich die Art und Weise des Zustandekommens der elterlichen Ehe Jahre später rächen. Nachdem er als Neunjähriger mit der zwei Jahre älteren Börte aus dem Stamm der Onggirat, einem bevorzugten „Brautpool“ der Mongolen,34 verlobt worden war und den dafür ausgehandelten Brautpreis eine Weile im Verband seiner zukünftigen Schwiegereltern abgedient hatte35, wurde dem jungen Steppenaristokraten seine Frau von den Merkit geraubt, angeblich eine Vergeltungsaktion für Yesügeis Erwerb der Hö’elün.36 Mit Mühe und hohem Blutzoll gelang es Temüdschin nach geraumer Zeit (vermutlich mehr als neun Monate später), seine hochschwangere Frau von den Merkit im wahrsten Sinne des Wortes zurückzuerobern. Auch wenn der Mongolen­ khan den bald darauf geborenen Dschödschi als seinen ältesten Sohn anerkannte, konnte sich dieser selbst innerhalb der eigenen Familie nie restlos vom Stigma des „Merkitenbas­ tards“ befreien.37 Die Verbindung mit Börte, die zur Bekräftigung der Allianz zwischen den Clans Yesügeis und der Onggirat gedient hatte und nach dem traditionellen Schema des Brautkaufs eingefädelt worden war, scheint zumindest nach außen hin nicht unter der 31 Vgl. Uray-Köhalmy, Stellung, S. 311f.; Linck, Nöchör, S. 193f. Ratchnevsky, Femme, S. 512. Den aus europäischer Sicht befremdlichen Brautkauf dokumentieren: Johannes von Piano del Carpine II, 3, S. 130; Wilhelm von Rubruk ed. Wyngaert VII, 5, S. 185; Ricold von Monte Croce, Itinerarium. In: Laurent, J. C. M. (Hrsg.), Peregrinatores Medii Aevi Quatuor. Burchardus de Monte Sion, Ricoldus de Monte Crucis, Odoricus de Foro Iulii, Wilbrandus de Oldenborg. Leipzig 1864, S. 105-141, hier X, S. 116. 32 Vgl. Holmgren, Observations, S. 144f. 33 Heissig, Walther: Worte aus Tausend Jahren. Weisheit der Steppe. Wiesbaden o. J., S. 67. 34 Zu den mehrfachen „Vorzugsehen“ zwischen bestimmten Clans zur Festigung der Beziehung zwischen diesen vgl. Holmgren, Observations, S. 135–141; Linck, Nöchör, S. 194. Bei gleichzeitigem Austausch mehrer Kinder zwischen denselben Clans konnte der Brautpreis entfallen, es also auch zu für alle Beteiligten „kostenneutralen“ Verbindungen kommen. 35 GGM §§ 61–66, S. 18–21. 36 Ebd. §§ 99–102, S. 36–38; § 111, S. 47f. 37 Ebd. §§ 254f., S. 183–190.

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mit den militärischen Erfolgen wachsenden Zahl von Ehefrauen an der Seite Tschinggis Khans gelitten zu haben. Bei aller Begeisterung des Khans für neue „Eroberungen“ und Privilegierungen einzelner Beutefrauen behielt Börte stets eine Art Ehrenvorrang. Sie scheint zeitlebens die wichtigste Ratgeberin Tschinggis Khans gewesen zu sein38 und ihre vier Söhne waren die Haupterben ihres Vaters. Dementsprechend wurde Börte in der mongolischen Überlieferung auch zur weisen und nachsichtigen Instanz hochstilisiert, die sich ihrer Position bewusst war und, wenn wir der Chronik des Sagang Sečen aus dem 17. Jahrhundert folgen, den Khan bei Gelegenheit sogar mit subtiler Ironie zu entwaffnen verstand. Als nämlich der hinsichtlich seiner jüngsten weiblichen „Fundsache“ besorgte Tschinggis Khan durch Boten die Befindlichkeit Börtes in Erfahrung bringen wollte, soll diese ihm mitgeteilt haben: Der Wille der Bürte Dschuschin Chatun sowohl als das Verlangen der Volksmenge sind der Macht unsres Herrschers unterworfen. […] Im schilfigen See gibt es der Schwäne und Gänse viel: ob der Herrscher bis zur Ermüdung seiner Finger seine Pfeile auf sie verschießen will, bleibt seinem Willen überlassen. Unter der Volksmenge gibt es der Jungfrauen und Weiber viel, der Herrscher mag es wissen, welche die Auserwählten und Glücklichen sind. […] Solche Sachen gehen uns Weiber nichts an.39 Abschließend sei zum Themenkomplex des Brautraubes und der Beutefrauen noch darauf hingewiesen, dass sowohl Ögödei als auch Tolui, die beiden jüngsten Söhne Tschinggis Khans und Börtes, ihre jeweilige Hauptfrau vom Vater aus den „Fundsachen“ unterworfener Gegner zugeteilt bekommen hatten. Ob ihnen diese Frauen auf eigenen Wunsch oder aus politischer Räson des Vaters zufielen, wie das zweite Eingangszitat Galsan Tschinags andeutet, muss dahingestellt bleiben. In jedem Fall gelang es sowohl Ögödeis Frau Döregene von den Merkit40 wie auch der Gemahlin Toluis, Sorqaqtani Beki aus dem Stamm der Kereyit41, zu führenden Positionen im Reich aufzusteigen, auf die noch einzugehen sein wird. Den Stellenwert des Brautraubs in der mongolischen Gesellschaft bezeugt schließlich auch eine Nachricht bei Wilhelm von Rubruk, der den inszenierten Brautraub im Rahmen von Hochzeitsfeierlichkeiten beschreibt, auch wenn diese durch den üblichen Brautkauf zustande gekommen waren.42 38 Ebd. §§ 118f., S. 51, wo sie Tschinggis Khan zum entscheidenden Bruch mit seinem alten Schwurbruder Jamuqa rät, oder § 245, S. 173f., als sie ihren Mann vor dem Schamanen Teb-teneggeri warnt. 39 Sagang Sečen, Geschichte der Mongolen und ihres Fürstenhauses. Aus dem Mongolischen übersetzt von I. J. Schmidt. Neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Walther Heissig. Zürich 1985, S. 104f. 40 GGM § 198, S. 128. 41 Ebd. § 186, S. 111. 42 Wilhelm von Rubruk VII, 5, ed. Wyngaert S. 185; vgl. dazu auch Linck, Nöchör, S. 194.

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Grundsätzlich können sie sich mit allen Verwandten verheiraten, außer mit der leiblichen Mutter sowie der Tochter und Schwester von derselben Mutter – mit den Schwestern von der Seite des Vaters hingegen schon; sogar die Frau des Vaters können sie nach dessen Tod ehelichen. Nach dem Tod des Bruders muß der jüngere Bruder oder ein anderer jüngerer Verwandter dessen Frau heiraten.43 Durchaus zutreffend analysiert Johannes von Piano del Carpine in seiner „Historia Mongalorum“ die als Versorgungsmodell der Witwen und zur Wahrung des Zusammenhalts des Familienvermögens konzipierte Form der Leviratsehe.44 Da das Haupterbe nach dem Tod des Ehemannes in der Regel der Witwe und erst nach deren Ableben dem jüngsten Sohn zufiel,45 galt der Sicherung dieses Besitzes besonderes Augenmerk. Die Heirat mit der Frau oder den Frauen des Vaters oder Bruders unterband die Gefahr der Entfremdung des Besitzes durch eine neuerliche Ehe der Witwe/n mit einem Fremden. Wilhelm von Rubruk erkannte schon Mitte des 13. Jahrhunderts den Kern dieses Phänomens: Dem jüngsten Sohn fällt nämlich immer der Zeltbesitz seiner Eltern zu. Er muß deshalb für alle Frauen seines Vaters sorgen, nachdem sie ihm mit dem väterlichen Besitz zufallen. Wenn er will macht er sie auch zu seinen Ehefrauen […]. Die eigene Mutter war auch ihm zufolge von dieser schändlichen Sitte ausgenommen.46 Der Leviratsehe kam prinzipiell auch beschützende Funktion für die Witwe/n durch den neuen und doch bereits vertrauten Ehemann sowie den Clan zu. Die persönliche Befindlichkeit der neuen Ehepartner in einer Leviratsehe, die für gewöhnlich auch körperlich vollzogen wurde, steht natürlich wieder auf einem anderen, für uns nicht lesbaren Blatt. In den Reihen der Steppenaristokratie kam dem Levirat zusätzlich eine politische Funktion zu. Da sich ganze Stämme im Besitz einer Khanswitwe befinden konnten, war es von besonderer Bedeutung, dass diese keine 43 Johannes von Piano del Carpine II, 3, S. 130. 44 Die profundesten Analysen dazu liefern Holmgren, Observations und Linck, Nöchör, S. 196f. vgl. außerdem Dörfer, Gerhard: Türkische und mongolische Elemente im Neupersischen, Bd. 4 (= Akademie der Wissenschaften und Literatur. Veröffentlichungen der Orientalischen Kommission 21).Wiesbaden 1975, S. 205f.; Birge, Bettine: Levirate marriage and the revival of widow chastity in Yüan China. In: Asia Major 3rd series 8 (1995), S. 107–146. 45 Zur Stellung der Witwen vgl. Roux, Jean Paul: La veuve dans les sociétés Turques et Mongoles de l’Asie Centrale. In: L’Homme 9 (1969), S. 51–78; Miyawaki-Okada, Junko: Women’s property in the history of nomadic societies. In: Altaic Affinities. Proceedings of the 40th meeting of the permanent international Altaistic conference, Provo, 1997. Indiana 2001, S. 82–89. 46 Wilhelm von Rubruk ed. Wyngaert VII, 4, S. 185; Übersetzung nach Leicht, Beim Großkhan, S. 56. Weitere Zeugnisse zur mongolischen Leviratsehe aus der Feder Außenstehender liefern Simon de Saint-Quentin, Histoire des Tartares. Publiée par Jean Richard (= Documents relatifs à l’histoire des croisades. Bd. 8). Paris 1965, XXX, 76, S. 37; Ricold von Monte Croce IX, ed. Laurent S. 116; Hethum von Gorhigos, Flos historiarum terre orientis. In: Recueil des Historiens des Croisades. Documents Arméniens. Tom. II: Documents Latins et Français relatifs à l’Arménie. Paris 1906, S. 255–363: III, 49, S. 337.

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weitere Ehe einging, und wenn, dann eben nur innerhalb der schon bestehenden Familie. Als vielleicht prominentestes Beispiel in dieser Hinsicht kann Doquz Qatun, die Hauptfrau des ersten Il-Khans Hülägü († 1265), gelten, die dieser von seinem Vater Tolui geerbt hatte. Dass die Mongolen diese Eheform gelegentlich auch zur Disziplinierung oder Bestrafung von Unterlegenen aus anderen Kulturen nutzten, belegt wiederum der schon mehrfach zitierte Johannes von Piano del Carpine. 1246 nämlich wurde er am Hof des Mongolenfürsten Batu Augenzeuge eines dramatischen Beispiels sexueller Nötigung. Nachdem der russische Fürst Andreas von Tschernigov von den Mongolen hingerichtet worden war, traten sein jüngerer Bruder und seine Witwe vor Batu, um ihr Erbe zu erbitten. Wohl um ein politisches Exempel zu statuieren – der getötete Fürst Andreas soll die Mongolen hintergangen haben –, verlangte Batu von den verschwägerten Hinterbliebenen den Vollzug einer Leviratsehe. Obgleich sich Mann wie Frau heftigst gegen diesen steppennomadischen Usus sowie den Verstoß gegen ihre Vorstellungen von christlicher Moral und Ehe zur Wehr setzten, mussten sie sich der mongolischen Macht beugen. Mit brachialer Gewalt wurden sie von den Eroberern zum Geschlechtsakt gezwungen.47 Der Vollständigkeit halber sei auch noch die schon im Kleinkindalter der eigentlichen Brautleute arrangierte Form der öndögön süi oder Eier-Brautschaft erwähnt, die in den zeitgenössischen Eheabsprachen des europäischen Adels eine durchaus vergleichbare Parallele finden.48 Erlebten die einander versprochenen Kinder das heiratsfähige Alter, stand in der Steppe wie in unseren Breiten durch den körperlichen Vollzug der Ehe die Umsetzung der elterlichen Vereinbarungen an – mit wohl in beiden Kultursphären vergleichbarem Enthusiasmus der Betroffenen. Die vielfach von animistischen Glaubensvorstellungen geprägte Steppengesellschaft kannte für den Fall des frühen Todes unverheirateter Jugendlicher schließlich noch eine kreative Möglichkeit der postumen Verheiratung, die Marco Polo als eine seltsame Sitte folgendermaßen beschreibt: […] jemandem stirbt ein Knabe von, sagen wir, vier Jahren. Zur gleichen Zeit stirbt in einer anderen Familie ein Mädchen im Kindsalter. Nun veranstalten die Eltern eine Hochzeit; sie vermählen das tote Mädchen mit dem toten Knaben; der Kontrakt wird urkundenmäßig aufgezeichnet. Sie verbrennen die Urkunde und behaupten, der Rauch gehe durch die Luft bis in die andere Welt zu ihren Kindern, und diese wüssten dann, dass sie nun Mann und Frau seien. Die Eltern laden zu einem großen Fest; einen Teil von den Speisen schütten sie da und dort aus, weil sie meinen, so könnten die Kinder im Jenseits davon kosten. […] Sie malen menschliche Abbilder auf Papier, sie zeichnen Pferde, Kleider, Münzen und allerhand Geräte, nachher zünden sie alles an. […] Nach dieser Zeremonie betrachten sich die zwei 47 Johannes von Piano del Carpine III, 6, S. 137. 48 Vgl. Uray-Köhalmy, Stellung, S. 311; Jagchid / Hyer, Mongolia’s culture, S. 81–83.

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Familien als Verwandte und beachten diese Verbundenheit so ernsthaft, als wenn die Vermählten am Leben wären.49 Im Vergleich zu ihren sesshaften Zeitgenossen war die Sexualmoral der Steppennomaden durchaus freizügiger. So war Jungfräulichkeit für eine Braut keine absolute conditio sine qua non, uneheliche Kinder galten nicht als (moralische) Katastrophe, sondern waren eine durchaus willkommene Bereicherung in einer Gesellschaft, die im rauen Überlebenskampf für jedes Familienmitglied, das anpacken konnte, Verwendung hatte.50 Erst mit der bereits angesprochenen allmählichen Sinisierung der Mongolen im chinesischen Raum unter Khublai Khan veränderten sich auch diese Rahmenbedingungen.51 Die Ehe allerdings hatte schon zuvor – zumindest die Frau – grundsätzlich zur körperlichen Treue verpflichtet, deren Bruch auch drakonisch sanktioniert wurde. Auf Ehebruch im Sinne der Störung einer bestehenden Ehe anderer stand zumindest theoretisch für beide Beteiligten die Todesstrafe.52 Dass mehrfach verheiratete Männer mit ihren jeweiligen Ehefrauen keinen Ehebruch gegenüber ihren anderen Gemahlinnen begingen, liegt dabei auf der Hand. Ebenso galt der sexuelle Verkehr mit Sklavinnen nicht als Ehebruch, wie es etwa Wilhelm von Rubruk bezeugt.53 Bei allen verständlichen Vorbehalten des modernen Menschen gegenüber den gezeigten Ehebräuchen und vor allem dem Umgang mit Frauen als Sexualobjekt in der Steppe des 12. und 13. Jahrhunderts gilt es vor allem, den Zeithorizont und die Situation der Frauen in sesshaften Kulturen dieser Jahrhunderte nicht aus dem Blick zu verlieren. Dabei muss besonders ins Auge stechen, dass die „mongolische Frau“ gegenüber ihren chinesischen, christlich-europäischen oder muslimisch-orientalischen Zeitgenossinnen weit mehr Öffentlichkeit und Einflussmöglichkeit besaß. Aus ihrer unentbehrlichen Mitwirkung an der Bewältigung des mühevollen steppennomadischen Alltags, der von der Kindererziehung über die Nahrungsmittel- und Textilproduktion bis hin zur Versorgung und Lenkung der Transportmittel reichte, resultierte letztlich eine innerhalb des Clans

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Marco Polo, Il Milione LXX, ed. Benedetto S. 57; Guignard S. 104f. Vgl. Uray-Köhalmy, Stellung, S. 310f. Vgl. Linck, Nöchör, S. 193, 197. Johannes von Piano del Carpine IV, 9, S. 148; Wilhelm von Rubruk VIII, 2, ed. Wyngaert S. 185f.; auch der armenische Chronist Kirakos bezeugt die strenge Bestrafung des Ehebruchs: Boyle, John Andrew: Kirakos of Ganjak on the Mongols. In: Central Asiatic Journal 8 (1963), S. 199–214, hier 202; außerdem Meng-ta pei-lu, S. 159 und Juvaini ed. Boyle S. 39. Vgl. dazu auch Vernadsky, George: The scope and contents of Chingis Khan’s Yasa. In: Harvard Journal of Asiatic Studies 3 (1938), S. 337–360, hier 355; Roux, La veuve S. 54f.; Jagchid / Hyer, Mongolia’s culture S. 95f. 53 Wilhelm von Rubruk VIII, 2, ed. Wyngaert S. 185f.

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angesehene Stellung.54 Nach zeitgenössischem chinesischem Zeugnis begleiteten Frauen ihre Männer nicht selten auch auf Kriegszügen, wobei sie für das Aufschlagen der Filzzelte, das Satteln der Pferde und das Verteilen der Lasten auf Karren und Kamele zu sorgen hatten.55 Wie schon erwähnt, erbte zunächst die Witwe den Besitz des verstorbenen Familienchefs und entschied über das weitere Schicksal der Sippe. Wiederum liefert dafür die „Geheime Geschichte“ mit dem von Tschinggis Khans Mutter Hö’elün organisierten Überlebenskampf der Familie nach dem Tod Yesügeis ein anschauliches Beispiel.56 Wiederholt finden sich in der mongolischen Überlieferung explizite Hinweise auf die wichtige Rolle der Ehefrauen als Ratgeberinnen ihrer Männer.57 Dass ihre Ratschläge, die sie sogar im quriltai, der mongolischen Reichsversammlung, artikulieren konnten, zu hören waren, belegt auch ein mongolisches Sprichwort nachdrücklich: Hat ein Weib eine Meinung, gleicht sie dem Manne.58 Gerade die mongolische Reichsgeschichte des 13. Jahrhunderts kann mit politisch bedeutsamen Frauen in einer Dichte aufwarten, die unter den Zeitgenossinnen Vergleichbares sucht. So führte Ögödeis Witwe Döregene, ursprünglich Beutegut aus Tschinggis Khans Feldzug gegen die Merkit, nach dessen Tod 1241 die Regierung, bis sie 1246 die Inthronisation ihres Sohnes Güyük zum Großkhan durchsetzen konnte. Ihre Schwiegertochter Oghul Qaimysh leitete als Witwe Güyüks († 1248) ihrerseits die Geschicke des Reiches bis zur Familienrevolte des Tolui-Clans gegen die Ögödeiden 1251.59 Dass Möngke (1251–1259) und nach ihm sein Bruder Khublai (1260–1294) die Großkhanwürde erlangten, verdankten sie zu einem wesentlichen Teil ihrer Mutter Sorqaqtani Beki, der aus dem Stamm der Kereyit stammenden Beutefrau ihres Vaters Tolui.60 Gemeinsam 54 Vgl. zusammenfassend Frey Näf, Barbara: Compared with the women the ... menfolk have little business of their own. Gender division of labour in the history of the Mongols. In: Veit, Veronika (Hrsg.): The role of women in the Altaic world. Permanent international Altaistic conference 44th Meeting, Walberberg, 26–31 August 2001 (= Asiatische Forschungen 152) Wiesbaden 2007, S. 69–76. 55 Meng-ta pei-lu, S. 79. 56 GGM §§ 70–75, S. 22–24. 57 Vgl. dazu Sinor, Denis: Some observations on women in early and medieval inner Asian history. In: Veit, Veronika (Hrsg.): The role of women in the Altaic world. Permanent international Altaistic conference 44th Meeting, Walberberg, 26–31 August 2001 (= Asiatische Forschungen 152) Wiesbaden 2007, S. 261–268, insb. 266; Sečenmönke, Role, S. 251; Steiner, In Bed, S. 71f. 58 Heissig, Worte, S. 64. 59 Zum ereignisgeschichtlichen Hintergrund vgl. Giessauf, Johannes: Der Traum von der Weltherrschaft. Eine Skizze der politischen Geschichte des mongolischen Großreichs vom Tode Cinggis Khans bis zum Zerfall in Einzelkhanate. In: Giessauf, Johannes (Hrsg.): Die Mongolei. Aspekte ihrer Geschichte und Kultur (= Grazer Morgenländische Studien 5). Graz 2001, S. 47–77, hier 60–63. 60 Zu ihr vgl. Rossabi, Morris: Khubilai Khan and the women in his family. In: Studia Sino-Mongolica. Festschrift für Herbert Franke herausgegeben von W. Bauer. Wiesbaden 1979, S. 153–80, hier 158–66; Giessauf, Mongolengeschichte S. 170, Anm. 475; Sinor, Some observations, S. 263f.

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mit Dschödschis Sohn Batu inszenierte Sorqaqtani jenen Umsturz, der den Clan Ögödeis durch die Nachkommen Toluis an der Spitze des Reiches ersetzte. Wie mächtig die nestorianische Christin Sorqaqtani, die sich sogar erfolgreich einer von Ögödei angestrengten Leviratsehe seiner Schwägerin mit seinem Sohn Güyük widersetzte, war, erkannte bereits 1246 der Franziskaner Johannes von Piano del Carpine: Diese Frau ist nach der Mutter des Kaisers die angesehenste unter den Tartaren, und mit Ausnahme von Bati auch die mächtigste Person von allen.61 Für den persischen Chronisten Rashid ad-Din war sie überhaupt die intelligenteste Frau der Welt.62 Der hebräische Arzt Bar Hebraeus verstieg sich in seiner syrischen Chronik sogar zur Ansicht, dass die Frauen, sollte es eine zweite wie Sorqaqtani geben, den Männern definitiv überlegen seien.63 Nicht selten lag also die politische Macht im Mongolenreich in Händen einer Frau – und der steppennomadischen Tradition der Rolle einer Frau als Trägerin von Verantwortung und potenzieller Herrschaft folgend, wurde dies auch nie aufgrund ihres Geschlechts infrage gestellt.64 Fragen wir am Schluss noch nach der Perzeption der werbenden Khane in den zeitgenössischen europäischen Quellen. Dabei dürfen die immer wieder zu Rate gezogenen Berichte europäischer Reisender nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir lediglich dieser Handvoll Berichterstatter, die auf Autopsie beruhende Informationen mit für ihre Zeit beachtlicher Objektivität zu transportieren versuchten, vertrauenswürdige Informationen verdanken. Das Gros der Autoren des 13. Jahrhunderts bezog seine Nachrichten über die Mongolen – oder Tartaren, wie sie die europäischen Quellen durchwegs bezeichneten – so gut wie ausschließlich aus zweiter Hand und liefert vielfach lediglich Stereotype und reißerische Horrorgeschichten über die Gottesgeißeln aus dem Osten. Dementsprechend blutige, von Vergewaltigungen und abartigen sexuellen Fantasien bis hin zum Kannibalismus geprägte Schauergeschichten dominieren, wenn es darum geht, die animalischen Triebe des steppennomadischen Feindes zu charakterisieren.65 Auf der anderen Seite konnte der barbarische Feind im Bett nach zeitgenössischer Interpretation aber auch positive Wirkung zeitigen, nach christlichem Verständnis sogar zu einer der vornehmsten Berufungen einer Frau beitragen. Denn ganz im Sinne des Apos­ 61 Johannes von Piano del Carpine V, 20, S. 169f. 62 The successors of Genghis Khan. Translated from the Persian from Rashid al-Din by John Andrew Boyle. New York/London 1971, S. 199. 63 Zit. nach Linck, Nöchör, S. 202. 64 Vgl. dazu auch Miyawaki-Okada, Junko: The role of women in the imperial succession of the nomadic empire. In: Veit, Veronika (Hrsg.): The role of women in the Altaic world. Permanent international Altaistic conference 44th Meeting, Walberberg, 26–31 August 2001 (= Asiatische Forschungen 152) Wiesbaden 2007, S. 143–150. 65 Mit ausführlichen Quellenbeispielen dazu Giessauf, Feind, passim.

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tels Paulus, dass der ungläubige Mann durch eine gläubige Frau geheiligt werde,66 barg die Triebhaftigkeit eines steppennomadischen Wilden sowohl für das Objekt seiner Begierde als auch für den wahren Glauben Chancen in sich. Den Heiden die Überlegenheit des Christentums vor Augen zu führen und damit ihrer Christianisierung den Weg zu bahnen, war das Joch einer Ehe mit einem ruchlosen Barbaren allemal wert. Das individuelle Schicksal der betroffenen Frau interessierte dabei freilich allenfalls am Rande. Im Vordergrund der Darstellung stand vielmehr das Exempel, das Wirken Gottes, das durch ein Bekehrungswunder aus dem gottlosen Eroberer einen Bekenner des wahren Glaubens zu machen vermochte. Der involvierten Frau kam in dieser Konversionsreaktion bestenfalls die Rolle des zweckdienlichen Katalysators zu. Ein in der mittelalterlichen Historiografie mehrfach strapaziertes Beispiel gibt die Geschichte einer bezeichnenderweise namenlosen armenischen Königstochter ab, die die Begehrlichkeit eines rex Tartarorum auf sich gezogen hatte. Ihren Ausgang nimmt die besonders in der österreichischen Chronistik geschätzte Episode in einer eher beiläufigen Notiz der Salzburger Annalen zum Jahr 1280. Es heißt darin, dass sich der König der Tartaren durch den Einfluss seiner Frau, einer Tochter des legendären Priesterkönigs Johannes, und kraft eines Wunders zur Taufe entschlossen habe. Das besagte Wunder bestand in der Geburt eines gemeinsamen Sohnes, dessen Körper zur Hälfte übermäßig behaart und zur Hälfte normal gestaltet war. Darüber hinaus weiß der Salzburger Annalist lediglich zu vermelden, dass der Tartarenherrscher den Sultan der Sarazenen und 55.000 von dessen Gefolgsleuten erschlagen habe.67 Diese knappe Vorlage baute der steirische Reimchronist Ottakar aus der Gaal zu Beginn des 14. Jahrhunderts zu einem veritablen Drama im Umfang von mehr als 250 Versen aus.68 In der bühnenreifen Version Ottokars begehrt der kunic der Tâtraere (Vers 19099) die unvergleichlich schöne Tochter des armenischen Königs. Vor die Wahl gestellt, Tod und Leid über sich und sein Land zu bringen oder 66 1 Korinther 7, 14. 67 Annales Sancti Rudberti Salisburgenses. In: Monumenta Germaniae Historica Scriptores (in der Folge MGH SS) IX. Hannover 1851 (Nachdruck 1963), S. 758–810, hier ad annum 1280, S. 806. Zu den Annales Sancti Rudberti vgl. Lhotsky, Alphons: Quellenkunde zur mittelalterlichen Geschichte Österreichs (= Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Ergänzungsband 19). Graz/Köln 1963, S. 197. 68 Ottokars Österreichische Reimchronik nach den Abschriften Franz Lichtensteins herausgegeben von Joseph Seemüller (= MGH Deutsche Chroniken V/1). Hannover 1890, vv. 19097–19350, S. 253–256. Zur Reimchronik Ottokars vgl. Lhotsky, Quellenkunde, S. 288–292; Libertz-Grün, Ursula: Das andere Mittelalter. Erzählte Geschichte und Geschichtserkenntnis um 1300 (= Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 5). München 1984, S. 101–168; Weinacht, H.: Ottokar von Steiermark (O. aus der Geul). In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon Bd. 7. Berlin/New York 1989, Sp. 238–245.

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seine geliebte Tochter dem ungeloubic man (Vers 19136) zu freien, folgt der Vater schweren Herzens dem Rat seiner Bischöfe und Priester und gibt dem Barbaren das bedauernswerte Mädchen zur Frau. Schon bald macht die armenische Prinzessin den Tartarenkönig zum Vater eines halbseitig fürchterlich entstellten Sohnes. Vom Ehebruch seiner Gemahlin als Grund für diesen Makel überzeugt, verurteilt der Tartarenherrscher daraufhin Mutter und Kind zum Tod. Dem letzten Wunsch seiner Frau, den Knaben vor dessen Hinrichtung zu taufen, zeigt sich der Tyrann allerdings gewogen. Als das getaufte Kind vor aller Augen als makelloser Knabe aus dem heiligen Wasser gehoben wird, fällt es der Königin nicht mehr schwer, den Tartarenherrscher zu überzeugen, dass des toufes heilikeit sêl und lîp machet rein (Vers 19305f.). Der König der Tartaren legt in der Folge nicht nur gemeinsam mit zwölf seiner engsten Vertrauten das Taufgelöbnis ab, sondern entpuppt sich auch als edler Vorkämpfer des Christentums. Er besiegt den Sultan von Bagdad, der auf der Flucht in Damaskus stirbt, und gewinnt sogar Jerusalem für die Christen zurück. Der Zisterzienserabt Johann von Viktring adaptierte Ottokars Darstellung wenige Jahre später für seinen Liber certarum historiarum und schildert die angeblich 1280 stattgehabten Ereignisse in eindrucksvollen Superlativen: [...] rex Tartarorum paganissimi ritus cum violencia filiam regis Armenie, regis christianissimi filiam christianissimam et pulcherrimam, minis et gladio optinuit coniugio sibi dari. Der tiefe Glaube der frommen Prinzessin und das Wunder der Taufe führen natürlich auch bei Johann von Viktring zum bekannten Happyend.69 Eine Generation nach Johann von Viktring fand der Verfasser der „Österreichischen Chronik von den 95 Herrschaften“ Gefallen an der Bekehrung des höhist chünig der Tatrer, die der Schönheit der armenischen Königstochter, daz ir dhaines frawn pild möchte geleichen, und dem Taufwunder des Kindes, das was halb schön an alle mail, daz ander tail waz rauch überal, zu verdanken sei. Dass dieser volkssprachlichen Prosaversion der Geschichte ebenfalls die „Steirische Reimchronik“ Ottokars aus der Gaal zugrundeliegt, ist evident.70 Auf der Basis dieses Textes der „Österreichischen Chronik von den 95 Herrschaften“ schließlich handelte der mehrmalige Rektor der Universität Wien, Thomas Ebendorfer, das Schicksal der armenischen Prinzessin, die ob ipsius indicibilem pulchritudinem vom 69 Iohannis abbatis Victoriensis liber certarum historiarum edidit Fedorus Schneider (= MGH SS rer. Ger. i. u. s. XXXVI). Hannover/Leipzig 1909, Liber II, S. 239f. Diese Episode findet sich bei Johann an anderer Stelle in ganz ähnlichen Worten wiederholt: ebd. S. 243f. und S. 284f. Zu Autor und Werk vgl. Lhotsky, Quellenkunde, S. 292–300. 70 Österreichische Chronik von den 95 Herrschaften herausgegeben von Joseph Seemüller (= MGH Deutsche Chroniken VI). Hannover/Leipzig 1909, III, 298, S. 138f. Zu Autor, Werk und dessen Quellen vgl. Lhotsky, Quellenkunde, S. 312–319; Uiblein, Paul: Die Quellen des Spätmittelalters. In: Die Quellen der Geschichte Österreichs (= Schriftenreihe des Institutes für Österreichkunde 40), Wien 1978, S. 50–113, hier 100–103.

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imperator Tartarorum begehrt wird, um die Mitte des 15. Jahrhunderts ein weiteres Mal in seiner „Cronica Austrie“ ab.71 Inhaltlich weitestgehend ident, wohnt allen zitierten Texten letztlich wenig Interesse an der armenischen Prinzessin inne. Mitleid begleitet zwar die unvergleichlich Schöne auf ihrem Weg in das Lager des heidnischen Barbaren, im Zentrum der Geschichte jedoch steht die wundersame Bekehrung des Tartaren. Die Frau figuriert im Endeffekt als Mittel zum Beweis der Gnade und Überlegenheit Gottes. Die Überzeugung, dass sie eigentlich dankbar sein müsste, im Bett des mächtigen Feindes als Werkzeug Gottes zu dienen, verbirgt sich zwar zwischen den Zeilen, zu übersehen ist sie aber nur schwer.

71 Thomas Ebendorfer: Cronica Austriae, herausgegeben von Alphons Lhotsky (= MGH SS rer. Ger. ns. XIII). Berlin/Zürich 1967, III ad annum 1280, S. 157. Zu Autor und Werk vgl. Lhotsky, Quellenkunde, S. 375–392, insb. 384–387; Uiblein, Paul: Thomas Ebendorfer. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon Bd. 2. Berlin/New York 1982, Sp. 253–266.

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ie Bilder und Assoziationen, die beim Wort „Harem“ in unserem kulturellen Gedächtnis jederzeit abrufbar sind, beziehen sich zumeist ganz konkret auf den Harem der Osmanensultane in Istanbul – er ist der Harem schlechthin, der westliche Vorstellungen dominiert, die gewiss durch die zahlreichen Darstellungen europäischer Maler und Mozarts Entführung aus dem Serail geprägt sind. Der osmanische Sultansharem und seine Bewohnerinnen sind auch das Thema dieses Beitrags,1 wobei innerhalb dieses weit gespannten Bereiches nach einer kurzen Einleitung, welche die wichtigsten historischen und strukturellen Fragen klären soll, nur jene Aspekte beleuchtet werden, die den relevanten Rahmen dieser Publikation bildeten: Konnten Frauen, die das Bett mit den Mächtigen teilten, in einem System der strikten Geschlechtersegregation innerhalb dieses Systems zur Macht gelangen? Welche Möglichkeiten der Machtausübung standen ihnen innerhalb dieses Systems zur Verfügung? Wurde in diesem Bereich, der in unserer Vorstellungswelt gemeinhin als völlig abgeschlossenes, isoliertes Gefängnis bekannt ist, sogar erwartet, dass Frauen an der Macht teilhaben, aktiv an politischen Aktivitäten beteiligt sind und Verantwortung übernehmen? Aus den fast 700 Herrschaftsjahren der Dynastie Osmān sind es vor allem zwei Zeit­ epochen, die hier behandelt werden sollen: Jene frühen Jahrhunderte, in denen Frauen an der Erziehung der Prinzen maßgeblich beteiligt waren, und die Zeit zwischen Mitte des 16. und Mitte des 17. Jahrhunderts, die heute als Kadınlar Saltanatı bekannt ist2 – ein Terminus, der in älteren deutschsprachigen Geschichtswerken nicht ganz wertfrei mit „Weiberherrschaft“ übersetzt wird.

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Die Basis von Vorlesung und Beitrag bildet das Standardwerk von Peirce, Leslie: The imperial Harem. New York/Oxford 1993. Den Begriff des kadınlar saltanatı prägte der populäre türkische Historiker Ahmet Refik Altınay, der dieser Epoche ein vierbändiges Werk unter diesem Titel widmete.

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Die Herkunft des Wortes harem (‫ )مرح‬ist arabischen Ursprungs und sämtliche Wörter, welche die drei Wurzelkonsonanten Î-r-m enthalten, haben eine semantische Gemeinsamkeit: zum einen die Bedeutung „verboten, illegal“,3 zum anderen „unberührbar, heilig“ bzw. für beide Aspekte: „tabu“. 4 So werden etwa die heiligsten Stätten des Islams, Mekka und Medina, al-Îaramān („die zwei Heiligtümer“) genannt, und der Felsendom in Jerusalem, ebenfalls ein Bauwerk, das für Muslime von eminenter Wichtigkeit ist, heißt auf Arabisch al-Îaram aş-şarīf („der erhabene heilige Bezirk“). Diese beiden Beispiele weisen auf „Harem“ als Wort für einen besonderen, nicht uneingeschränkt zugänglichen „heiligen“ Bezirk hin, was unmittelbar zum Begriff des Harems in seiner hier relevanten Bedeutung führt: ein Terminus für einen abgesonderten, in unserem Falle der Familie vorbehaltenen Ort, mit kontrolliertem und äußerst beschränktem Zugang, insbesondere für Männer. Auch hier impliziert das Wort Harem, analog zu den oben genannten Beispielen, einen Ort des Respekts, der Reinheit, der Ehre. Das Wort Harem in Bezug auf eine familiäre Institution meint a) den Privatbereich einer muslimischen Familie, und zwar jeder muslimischen Familie – Sultan oder Bauer, das ist egal, und b) ist das Wort auch ein Sammelwort, das für sämtliche Frauen einer Familie, nicht nur Ehefrau bzw. Ehefrauen, verwendet wird.

Die Quellenlage Beschreibungen aus osmanischen Quellen, die das Leben im Harem schildern, finden wir erst zu sehr später Zeit, Ende des 19. Jahrhunderts.5 Für die Zeit vorher gibt es Berichte unterschiedlicher Qualität europäischer Reisender und Diplomaten bzw. auch freigelassener Gefangener, die im Harem gedient hatten. Nur ein geringer Teil dieser Berichte kann brauchbare Informationen über diese Institution vermitteln – überwiegend waren sie von Männern verfasst, die den Harem natürlich selbst nie betreten durften und ihre Informationen daher 3 4

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So werden Nahrungsmittel wie z. B. Schweinefleisch, die für Muslime aufgrund der religiösen Vorschriften verboten sind, als Îarām bezeichnet. Neben harem gibt es im modernen türkischen Wortschatz noch mehrere Wörter auf Basis dieser drei Konsonanten, wie etwa mahrem („geheim, vertraulich“), mahremiyet („Intimsphäre, Privatbereich“), haram („durch religiöse Vorschrift Verbotenes“), hürmet („Ehrerbietung, Respekt, Heiligkeit“). Die bekannteste Quelle sind die Memoiren der Musikerin Leyla Saz; sie war die Tochter eines osmanischen Würdenträgers, verbrachte mehrere Jahre als Gesellschafterin im Harem und gab ihre Erinnerungen Anfang des 20. Jahrhunderts als Serie in einer Tageszeitung heraus. Die Memoiren liegen auch in deutscher Übersetzung vor.

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auf Zweit- oder Drittberichte anderer Personen aufbauten. Dass dadurch je nach Verlässlichkeit der Gewährsperson ein mehr oder weniger verzerrtes Bild vermittelt wurde, versteht sich von selbst. Beliebt und den Verkaufszahlen förderlich waren sensationalisierte Darstellungen, die den Harem als Ort ungezügelter Ausschweifungen zeigten.6 Eine Fülle bildlicher Illustrationen im Stil des Orientalismus, in denen sich spärlich bekleidete Odalisken räkelten und die Fantasien anregten, ergänzt diese Vorstellungen insbesondere ab dem 18. Jahrhundert. Eine der ersten Europäerinnen, die im frühen 18. Jahrhundert den Harem besuchte, war die Frau des englischen Gesandten in Konstantinopel, Lady Mary Wortley Montagu. Sie war eine für ihre Zeit sehr aufgeschlossene, vorurteilsfreie Person, hatte Türkisch gelernt und konnte mit ihren Beobachtungen gewisse Vorurteile jener Zeit relativieren.7 Hilfreicher als Berichte Außenstehender sind Archivalien: Zum besseren Verständnis interner Strukturen des Sultansharems dienen Haushaltsbücher, die über Ausgaben, Nahrungsmittelverbrauch, aber auch die Zahlungen der Sultansfrauen, -mütter, -favoritinnen und deren Bedienstete informieren. Sie ermöglichen zahlreiche Rückschlüsse auf das Leben im Harem und dessen hierarchisches Gefüge.

Wo war der Harem? Der wichtigste und am längsten bewohnte Sultanspalast war das Topkapı Sarayı an der vorderen Spitze (Saray Burnu) jener Halbinsel, die das sogenannte „alte Istanbul“ bildet. Nach der Eroberung Istanbuls durch den Osmanensultan Mehmet II. im Jahr 1453 wurde am dritten Stadthügel ein erster Palast errichtet.8 Etwa fünfzehn Jahre später, ab der Fertigstellung des Topkapı Sarayıs, übersiedelte der Hof dorthin – das alte Saray (sarāy-ı atīk)9 sollte jedoch noch weitere hundert Jahre lang den Harem beherbergen. Prinzen 6

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Dass Berichte, die sich moralisierend über sexuelle Exzesse und Sittenlosigkeit einer fernen, fremden Kultur empörten, auch eine Art Ventil zum Ausbruch aus europäischer Prüderie darstellten, liegt nahe. So ziert etwa das Titelbild des Reiseberichts Michele Baudiers aus dem 17. Jahrhundert ein nackter Sultan, dem von ebenfalls nackten Frauen die Füße gewaschen werden. Siehe dazu Peirce, Harem, S. 4. Ursprünglich eine Sammlung von Briefen, die sie 1716–1718 verfasste; diese Briefe stießen in England auf reges Interesse und wurden schließlich 1763 erstmals als Buch herausgebracht. Dieser Palast ist nicht mehr erhalten; er stand ungefähr dort, wo sich heute die Universität Istanbul befindet. In diesem Beitrag werden osmanische Wörter in einer dem Moderntürkischen nahen Transkription wiedergegeben: Vokallängen werden angezeigt, auf osmanische Diakritika wird jedoch ebenso wie auf die in moderner türkischer Orthografie angezeigte Auslautverhärtung verzichtet; z. B. Murād (mod. türk. Murat) und Mehmed (osm. MeÎmed, mod. türk. Mehmet).

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und Prinzessinnen, ihre Mütter und die Sultansmutter hielten sich nach wie vor dort auf. Die Sultane kamen zwar regelmäßig auf Besuch, um sich mit ihren Müttern zu beraten, ihre Frauen und Kinder zu sehen, hatten jedoch ihren ständigen Wohnsitz im Topkapı Sarayı. Dort waren in einem eigenen Trakt, dem sogenannten „Mädchenschloss“ sarāy-i duhterān, die aktuellen Konkubinen und ihre Dienerinnen untergebracht. Diese jungen Frauen waren vorher im alten Saray für ihre Aufgaben erzogen und vorbereitet worden und kamen dann bei Bedarf ins Topkapı Sarayı. Wenn eine von ihnen ein Kind gebar, wurde sie wieder ins alte Saray zurückgebracht – sexuell verkehren konnte sie trotzdem noch mit dem Sultan, vor allem, wenn sie nur ein Mädchen geboren hatte. Die Übersiedlung des gesamten Harems ins Topkapı Sarayı erfolgte im 16. Jahrhundert mit Sultan Süleymāns Lieblingsfrau Hürrem, und erst ab diesem Zeitpunkt lebte die Herrscherfamilie beständig unter einem Dach. Der innerste, private Hof des Topkapı Sarayıs wurde in seiner Gesamtheit als harem-i hümāyūn „großherrlicher Harem“ bezeichnet, und innerhalb dieses Hofes nannte man den Trakt, der den Frauen vorbehalten war, auch dārü s-se‘ādet „Haus der Glückseligkeit“.10 Auch nach der Übersiedlung ins Topkapı Sarayı blieb der Harem des alten Sarays noch bis 1826 bestehen. Es hielten sich dort vornehmlich die älteren Frauen sowie nicht mehr aktuelle Konkubinen auf. Auch wenn ein Sultan starb, wurden die ihm zugeordneten Frauen samt ihrer Dienerschaft dorthin übersiedelt, um dem Harem des neuen Sultans Platz zu machen.11 Der Harem des Topkapı Sarayı ist in seiner heutigen Form nicht mehr in seinem Urzustand, da er Mitte des 17. Jahrhunderts durch einen Brand zerstört und danach neu und baulich anders errichtet wurde. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Topkapı Sarayı als Regierungssitz teilweise stillgelegt, da Sultan Abdülmecīd 1856 das Dolmabahçe Sarayı an den Ufern des Bosporus bauen ließ, eine moderne Palastanlage im europäischen Stil. Allerdings war dieses Gebäude primär Repräsentations-, Zeremonial- und Regierungsgebäude und wurde nicht ständig bewohnt. Der Harem blieb bis zu seiner Auflösung 1909 weiterhin großteils im Topkapı Sarayı.

10 Als Standardwerk zu architektonischen Aspekten des Topkapı Sarayı siehe Necipoğlu, Gülru: The Topkapı scroll – geometry and ornament in Islamic architecture. Santa Monica, California 1995. 11 Um die Ausgaben für das alte Saray einzuschränken, bemühte man sich allerdings bei solchen Anlässen, sich zumindest eines Teils der Frauen zu entledigen. Dies konnte durch Verheiratung mit einem Würdenträger oder durch Freilassung von Sklavinnen – mit einer Mitgift ausgestattet – erfolgen.

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Strukturen und Hierarchien Der Harem eines wohlhabenden osmanischen Hauses bestand im Wesentlichen aus einer oder mehreren Ehefrauen des männlichen Haushaltsvorstandes,12 dazu vielleicht noch einer oder mehreren sklavischen Konkubinen, Söhnen und Töchtern ebenso wie unter Umständen der verwitweten Mutter des Mannes oder seinen ledigen, geschiedenen oder verwitweten Schwestern. Weiters war auch weibliches sklavisches Dienstpersonal ein Teil des Harems, das persönlicher Besitz der Frau oder des Mannes sein konnte.13 Die höchstrangige Persönlichkeit in der Haremshierarchie war die Frau des jeweiligen Haushaltsvorstandes, sofern nicht seine Mutter ebenfalls bei ihm lebte – in diesem Fall war sie es, die über die gesamte Familie einschließlich Ehefrau(en) herrschte. Auch der großherrliche Harem des osmanischen Sultans unterschied sich darin von seiner Grundstruktur her nicht, nur war er von der Anzahl seiner Bewohnerinnen her wesentlich größer und von den Hierarchien her feiner abgestuft. Im Sultansharem hatte wie in jedem anderen Harem die Mutter des Haushaltsvorstandes, in diesem Falle die Sultansmutter, den höchsten Status. Die Hierarchie innerhalb des Harems unterlag genauen Regeln und ist mutatis mutandis ein Spiegel der in der „Außenwelt“ gültigen Ordnung. Weibliche Hierarchien waren nicht minder ausgeprägt als männliche. Drei Ebenen sind es im Wesentlichen, eine Elite und zwei Ebenen von Hausangestellten. Zur Haremselite gehörten alle, die den Titel „Sultan“ führen durften: die Mutter (vālide), die Favoritin (hāssekī) sowie Prinzen und Prinzessinnen. Ab dem 17. Jahrhundert gehörte auch die Amme (dāye) des Sultans sowie die allgemeine Verwalterin (kethüdā/ kahya kadın) dazu. Konkubinen, die dem Sultan zwar ein Kind, nicht jedoch den Thronfolger geboren hatten und die nicht Favoritin – hāssekī – waren, gehörten nicht der Elite an.14 Bei den Hausangestellten hatten jene der höheren Ebene meist eigene Titel, die ihre Funktion erklärten, z. B. „Vorkosterin“ (çaşnigīr), „Trägerin des Wasserkännchens“ (ibrikdār), „Kleiderwäscherin“ (çāmeşūy), die niedrigere Ebene mit äußerst geringem Status waren die Sklavinnen (cāriye). Cāriye bezeichnet im Osmanischen jedwede weibliche 12 Laut Scheriatsrecht kann ein muslimischer Mann vier Ehefrauen und eine unbegrenzte Anzahl an Konkubinen haben. Nach allem, was wir über die osmanische Familie wissen, war Polygynie jedoch zumindest im 16. und 17. Jh. nicht sonderlich häufig, auch nicht in der Oberschicht. 13 Zu Sklaverei im Osmanischen Reich siehe Toledano, Ehud: Slavery and abolition in the Ottoman Middle East. Seattle/Wash. u. a. 1998. 14 Zum Vergleich: Um 1600 erhielt die Favoritin 2000 akçe Taggeld, eine gewöhnliche Prinzenmutter nur 40. Siehe Peirce, Harem, S. 127–130.

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weiße Sklavin, im speziellen Sprachgebrauch des Sultansharems wurden jene Frauen so genannt, deren Aufgabe niedrige Arbeiten wie Kochen, Putzen oder Wäschewaschen waren. Cāriyes bedienten die höhergestellten Frauen, die ebenfalls Sklavinnen waren. Die architektonische Gestaltung des Harems im Topkapı Sarayı spiegelt die herrschenden Hierarchien innerhalb der Bewohnerinnen wider: Die Gemächer der Sultansmutter dominierten baulich, nur die Räumlichkeiten des Sultans waren von ähnlichem Komfort. Der Trakt, den die Sultansmutter bewohnte, war so angelegt, dass dadurch der Harem in zwei Flügel geteilt wurde, einen Dienstbotenflügel (schwarze Eunuchen und cāriyes) und einen Trakt für die eigentliche Familie. In den Dienstbotenzimmern herrschte alles andere als Luxus – oft hatten die Kammern nicht einmal Fenster und je nach Zeitepoche waren sie auch überbelegt.15 Das heißt, der Harem war ein klar strukturiertes, gut organisiertes Gefüge, in dem alltägliches Familienleben herrschte, fern von jenen Szenen, die orientalistische Maler so gerne darstellten. Sexuelles Leben und Ausschweifungen waren nicht das dominante Element. Tatsächlich hat es nur eine relativ geringe Anzahl von Frauen ins Bett des jeweiligen Sultans geschafft, und nur zwei der insgesamt 38 osmanischen Sultane haben in etwa 700 Jahren osmanischer Herrschaft ihren Harem wirklich intensiv ausgekostet, 16 die anderen lebten teilweise über Jahrzehnte monogam. Der Sexualität kam im Falle des Sultansharems vor allem die immens wichtige Rolle der Weiterführung der Dynastie zu, der Zeugung männlicher Nachkommen, und Sexualität und Sinnlichkeit unterlagen einer strengen Kontrolle. Neben dieser Idee, dass der Harem primär ein Ort der Sinnesfreuden sei, ist auch ein zweiter Mythos zu hinterfragen: der Harem als Gefängnis, das seinen Bewohnerinnen jedweden legalen Einfluss und Kontakt nach außen verwehrte und ihnen somit nur die Möglichkeit des „Ränkeschmiedens“ und der „Intrige“ ließ. Mit einer gedachten strikten Trennlinie zwischen „öffentlich“ und „privat“ wurden in Arbeiten über den Harem vielfach Interventionen von Frauen als irgendwie unrechtmäßige Einmischungen interpretiert.17 Inzwischen weiß man, vor allem durch die Forschungen von Leslie Peirce, dass wir nicht von einer Dichotomie öffentlich/männlich einerseits und privat/häuslich/weiblich andererseits ausgehen dürfen, sondern dass weibliche „Einmischung“ nicht nur nicht unerlaubt war, sondern in manchen Punkten erwartet wurde. Die gedachte Trennlinie zwischen öffentlich und privat verlief nicht exakt entlang der Haremsmauern.18 15 16 17 18

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Zur architektonischen Struktur des Palastes und des Harems siehe Necipoğlu, Topkapı Scroll. Und zwar Murād III. (1574–1594) und İbrāhīm (1640–1648). Siehe Peirce, Harem, S. vii–viii. Ebd., S. 6–8.

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Manifestationen weiblicher Macht Für die ersten beiden Jahrhunderte besitzen wir aufgrund der Quellenlage nur spärliche Informationen zu den Frauen der Sultane. Die berühmte Gründungslegende19 des Hauses Osmān – ein wichtiges Element dynastischer Legitimation – weist einer Frau eine wichtige Rolle zu: Stammvater Osmān träumte, dass ein Mond aus der Brust seines Freundes, des charismatischen Scheichs Edebali, entsteigt und in seine eigene Brust dringt. Darauf wächst aus seinem Nabel ein Baum, der sich verästelt und verzweigt, der Früchte trägt und die ganze Welt beschattet. Als Osmān Scheich Edebali um eine Interpretation des Traumes bat, erkannte dieser darin sofort die wichtige dynastische Aufgabe Osmāns und, durch das Symbol des Mondes, dass er Osmān seine Tochter für die Gründung der Dynastie zur Frau geben solle. Diese Legende zeigt uns, dass Osmān offenbar noch ganz normal eine muslimische Frau geheiratet und mit ihr auch Kinder gezeugt hat, ein Umstand, der später zunehmend seltener werden sollte. Nur etwa bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts hatten die Sultane sowohl legale Ehefrauen als auch Konkubinen, doch schon früh zeichnete sich ab, dass sich der Schwerpunkt immer mehr auf Konkubinen verlegte, wobei darauf geachtet wurde, dass keine mehr als einen Sohn zur Welt brachte.20 Legale Ehefrauen waren in erster Linie Prinzessinnen aus benachbarten muslimischen oder christlichen Fürstenhäusern. In der Frühzeit konnten Sultansfrauen offenbar auch öffentlich agieren und gewisse repräsentative Aufgaben wahrnehmen, wie ein Bericht des berühmten arabischen Reisenden Ibn Battūta zeigt, der bei einem Besuch in Iznik Sultan Orhān (1326–1360), Sohn des Osmān, seine Aufwartung machen wollte. Da dieser aber gerade nicht da war – er war auf Festungsinspektionsreise – befehligte Orhāns Frau die Soldaten, und auch ihn, den Reisenden, empfing sie dem Zeremoniell entsprechend mit Bewirtung und Geschenken.21 Ab etwa Mitte des 15. Jahrhunderts lässt sich eine deutliche Abwendung von der Ehe hin zum Konkubinat feststellen, deren genaue Gründe noch Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion sind. Ab dieser Zeit wird somit die überwiegende Mehrheit der Sultane von Konkubinen, nicht von legalen Ehefrauen geboren. Die Ehefrauen der Sultane – sofern sie es überhaupt gab – waren häufig kinderlos, und es ist sehr wahrscheinlich, dass mit ihnen absichtlich keine Kinder gezeugt wurden.22 Ob von Ehefrauen oder sklavischen 19 20 21 22

Vgl. dazu Finkel, Caroline: Osman’s dream. The story of the Ottoman Empire 1300–1923. London 2006. Peirce, Harem, S. 42–44. Ebd., S. 35. Heiraten wurden häufig politisch entschieden, um die Bindungen zu gewissen Dynastien zu festigen. D. h., die Ehefrauen kamen aus guten, mächtigen Häusern; die Kinder aus solchen Verbindungen waren demnach auch Teil des Herrschaftshauses, aus dem ihre Mutter stammte, und hatten somit höheren Status als das Kind einer Konkubine.

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Konkubinen: Wer das Blut des Sultans in sich hatte, Prinz und Prinzessin gleichermaßen, hatte durch Geburt Anteil an der Sultansmacht. Konkubinen und Sultansmütter hingegen schöpften ihre Autorität aus ihrer wichtigen Rolle im Familiengefüge, insbesondere durch die Geburt von Söhnen. Reproduktion ist somit der erste grundlegende Faktor weiblicher Macht. Diese Reproduktion unterlag jedoch gewissen Einschränkungen: Ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts kann man eindeutig von einer Eine-Mutter-ein-Sohn-Politik sprechen, von der man allerdings nicht weiß, wie diese kontrolliert wurde. Abstinenz und Abtreibung dürften eine Rolle gespielt haben. Über zweihundert Jahre lang, bis ins frühe 17. Jahrhundert, wurde bei den Osmanen Fratrizid praktiziert. Ein junger Sultan tötete, sobald er an die Macht kam, sämtliche seiner Brüder, damit es zu keinen Thronzwistigkeiten kommen konnte. Den Müttern von Söhnen kam hier die überlebenswichtige Rolle zu, ihrem einzigen Sohn durch ihre eigene aufgebaute Macht und ihre Netzwerke in die ersehnte Thronfolgerposition zu helfen.23 Die Sultane selber hörten ab dem 15. Jahrhundert übrigens auf, Kinder zu zeugen, wenn ihre Söhne erfolgreich damit begonnen hatten. Bis zur Regierungszeit Süleymāns des Prächtigen (1520–1566) blieb die Mutter eines Prinzen mit dem Kind bis zu dessen Beschneidung vorerst im Harem. Danach verließen Mutter und Sohn gemeinsam den Hof, um sich in anatolischen Provinzstädten wie Manisa, Amasya oder Konya, in denen es Sultanshöfe im Kleinen gab, auf die Thronfolge vorzubereiten und die Regierungsgeschäfte zu lernen. Vor allen Höflingen, Prinzenlehrern (lala) und Beratern waren es die Mütter, die ihre Söhne in diesen wichtigen Lehrjahren tatkräftig unterstützten. Die Prinzenmutter nahm eine eminente Position ein: Sie musste auf jeden Fall darauf achten, nicht nur ihren Sohn zu fördern, sondern auch sich selbst durch gute Vernetzung und Wohltätigkeit beliebt zu machen.24 Sie musste einerseits beim Sultan beliebt und einflussreich sein, um die Position ihres Sohnes in Hinblick auf Nachfolge zu stärken, andererseits aber auch um ihrer selbst willen. Die Prinzenmütter waren 23 Dieses System des Fratrizids ist übrigens ein weiterer Punkt, der für Konkubinen zur Reproduktion spricht, da man einer legitimen Ehefrau, die aus einer womöglich mächtigen Familie stammte, nicht so ohne Weiteres ihren Sohn töten konnte. 24 So sind gerade in jenen Provinzstädten, die Prinzenhöfe aufwiesen, zahlreiche öffentliche Gebäude von Prinzenmüttern gestiftet – in Manisa z. B. die Sultan-Moschee mit Armenküche und Krankenhaus von Hafsa Sultan (Mutter Süleymāns I.) und der Hatuniye-Komplex von Hüsnü Şāh (Frau Bāyezīds II.) sowie in Amasya und Tokat je eine Hatuniye-Moschee (von Bülbül Hātūn bzw. Gülbahār Hātūn, Erstere eine Frau, Zweitere die Mutter Bāyezīds II.). Allgemein zu Bauaktivitäten osmanischer Frauen siehe Thys-Senocak, Lucienne: Ottoman women builders. Aldershot u. a. 2006.

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sich bewusst, dass, wenn ihr Sohn nicht der Nachfolger seines Vaters wurde, sein Tod gewiss war – und sie mussten daher auch für diesen Fall vorbauen, um sich dadurch nach seiner Hinrichtung eine würdige weitere Existenz zu sichern. Guter Kontakt zwischen der Prinzenmutter und den Schlüsselfiguren in Istanbul war essenziell, um die richtigen Informationen zu erhalten und über hohe Würdenträger, wie z. B. Wesire, Einfluss und notfalls auch Fürsprache beim Sultan zu erlangen. Der direkte Kontakt zum Sultan wurde, wie Archivmaterialien belegen, auch durch Briefe der Mütter an den Sultan aufrechterhalten. Die Prinzenmütter waren verantwortlich für das Benehmen und die moralische Erziehung der jungen Prinzen, und es scheint alles andere als einfach gewesen zu sein, junge Männer in der Pubertät vor falschen Freunden zu schützen, die sich rechtzeitig die Gunst des prospektiven Sultans sichern wollten. Eine schriftliche Beschwerde der Gülrūh Hātūn, Mutter eines Sohnes Bāyezīds II. (1481–1512), macht dies deutlich: Mein glücksbegünstigter Padischah, höre meinen Ruf nach Hilfe […] befreie uns vom Berater, Lehrer und Arzt meines Sohnes. Sie sind Meister der Korruption […] Schick uns bitte gute Muslime, denn die Situation ist unerträglich seit diese hier sind. Sie haben mich meiner Rechte als Mutter beraubt. […] Wenn diese nicht gehen, geht der Haushalt meines Sohnes, Deines Dieners, in Brüche.25 Dass es sich bei der Aufgabe der Prinzenerziehung nicht um das individuelle Engagement ehrgeiziger Mütter, sondern um eine verantwortungsvolle Aufgabe handelte, die von ihnen erwartet wurde, lässt sich auch aus ihrem Gehalt ablesen. Hafsa, die Mutter Süleymāns des Prächtigen (1520–1566), erhielt in den Jahren, die sie mit ihrem Sohn in Amasya verbrachte, 6.000 Akçe jährliches Gehalt. Das war das höchste Gehalt des gesamten Prinzenhofes und das Dreifache des Prinzengehaltes. Auch Süleymāns Schwester, die ebenfalls mit ihrer Mutter in Amasya war, erhielt immerhin noch eine Zuwendung von 1.200 Akçe.26 Die Mütter verfügten nicht nur über eigenes Geld, sondern besaßen auch Grundstücke und hatten Einnahmen aus Steuerpfründen. Die Regierungszeit Süleymāns des Prächtigen (1520–1566) wird auch das „Zeitalter der Favoritin“ genannt. Zum ersten Mal kam es nun zu einer bemerkenswert hohen Machtposition und direktem politischem Einfluss einer Konkubine, nämlich der Hürrem Sultan, die wahrscheinlich polnischer oder ukrainischer Herkunft war und im Westen unter 25 Siehe: Peirce, Harem, S. 49, Übersetzung ins Deutsche von mir. Gülrūh Hātūn ist es übrigens nicht gelungen, ihre Interessen durchzusetzen. 26 Ende des 16. Jahrhunderts verdiente Nūrbānū, die Mutter Murāds III., deutlich mehr Taschengeld als der şeyhülislām, der oberste religiöse Würdenträger. Siehe Peirce, Harem, S. 52.

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dem Namen Roxelane bekannt wurde.27 In der Zeit Hürrem Sultans wurden traditionelle Strukturen gleich in mehreren Punkten durchbrochen: Erstens gebar Hürrem Süleymān fünf Kinder, vier Söhne und eine Tochter, das heißt, das Prinzip der Eine-Mutter-einSohn-Politik wurde zum ersten Mal umgestoßen. Zweitens wurde durch ihre Initiative der Harem vom alten Palast ins Topkapı Sarayı verlegt, sodass die Sultansfamilie nunmehr permanent zusammen war. Drittens begleitete Hürrem ihre Söhne nicht in die Provinz, auch dann nicht, als ihr jüngster Sohn eigentlich alt genug war, um alleine in Istanbul zu bleiben. Doch ist bekannt, dass sie zusammen mit ihrer Tochter Mihrimāh des Öfteren nach Manisa und Konya reiste, um bei ihren Söhnen nach dem Rechten zu sehen, aber grundsätzlich bei Süleymān in Istanbul blieb. Nachdem Süleymān Hürrem als seine Favoritin ausgesucht hatte, war sein Interesse für seinen Harem nur noch marginal, ein Umstand, der von Hürrem durchaus gefördert wurde. Botschaftsberichte erwähnen, dass Hürrem dazu beitrug, dass dem Sultan keine neuen Mädchen mehr vorgeführt wurden und dass ihre Vorgängerin Māhidevrān, die tscherkessische Mutter Prinz Mustafās, in Ungnade fiel.28 Ein Großteil der eigens für Sultan Süleymān erzogenen Mädchen wurde aus dem Harem an Würdenträger verheiratet, ohne dass sie je von ihm berührt worden waren. Hürrem hatte als Erste der Konkubinen den Titel hāssekī – die spezielle Favoritin, ein Titel, den ab ihr stets die Lieblingsfrau des Sultans trug. Sie nahm aktiv am politischen Leben teil, beriet mit dem Sultan aktuelle Probleme und informierte ihn während seiner Feldzüge brieflich über die Vorkommnisse in der Hauptstadt. Hürrems Briefe waren für den Sultan eine enorm wichtige, weil äußerst vertrauenswürdige Informationsquelle. Die Briefe, die Süleymān vom Feldlager an diverse Würdenträger nach Istanbul schickte, wurden ihnen nicht direkt übermittelt, sondern kamen zuerst zu Hürrem, deren Aufgabe es war, sie an die entsprechenden Personen weiterzuleiten. Hürrem war bei vielen Zeitgenossen unbeliebt – was wohl in erster Linie seinen Grund darin hatte, dass sie nicht die Rolle der mächtigen, jedoch im Hintergrund agierenden Prinzenmutter einnahm, sondern vielmehr als offen handelnde Partnerin des Sultans auftrat, enormen Status hatte und aktiv die Geschicke des Reiches mitgestaltete. Der Umstand, dass Frauen aktiv an der Macht beteiligt waren, sollte in den folgenden Generationen allerdings zunehmend die Normalität werden.

27 Zu Hürrem siehe Skilliter, Susan A.: Khurrem. In: Encyclopaedia of Islam. Bd. 5, 1986. 28 Der gewichtigste Vorwurf, der Hürrem angelastet wird, ist ihre Rolle in der Ermordung des talentierten und beliebten Prinzen Mustafā, was den Weg zum Thron für ihren – ungleich weniger begabten – Sohn Selīm freimachte.

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Das bis jetzt Gesagte zeigt, dass die traditionelle Darstellung des Harems als geschlossene Welt, aus der auf verschlungenen Wegen interveniert wurde, und die mit der „richtigen“ Politik in der Außenwelt in Konkurrenz um die Macht stand, in dieser Form nicht haltbar ist. Netzwerke, Koalitionen und Allianzen überschritten die Haremsgrenzen – und auch die Geschlechtergrenzen – sehr wohl. Ab dem späten 16. Jahrhundert kam als zusätzlicher Faktor der Vernetzung und Verschränkung der damat („Bräutigam“) ins Spiel, Ehemann einer Sultanstochter oder Sultansschwester, der gleichzeitig eine Stelle als Wesir, womöglich sogar Großwesir, innehatte.29 Nach dem Tod Süleymāns – Hürrem war mehrere Jahre vor ihm gestorben – folgte etwa hundert Jahre lang eine Serie mächtiger Frauen, hāssekīs und Sultansmütter gleichermaßen, die um die Macht über Sohn bzw. Mann konkurrierten. Die mächtigste Frau in der Haremshierarchie war wie bereits erwähnt die vālide sultān, doch auch die Favoritin hatte ihre eigenen Netzwerke und Fraktionen in der Politik. Die Erste der mächtigen vālide sultāns war die aus Italien stammende Nūrbānū, Favoritin von Hürrems Sohn Selīm II. (1566–1574) und Mutter Murāds III. (1574–1595). Sie gebar Selīm zuerst drei Töchter und dann einen Sohn, ein Indiz dafür, dass Selīm ganz bewusst von dieser Frau einen männlichen Nachkommen haben wollte. Erst viel später, als dieser Sohn bereits 20 Jahre alt war, zeugte Selīm – offenbar aus Angst, dass im Falle dessen Todes die Dynastie aussterben könnte – noch vier oder fünf Söhne mit je einer Konkubine. Nūrbānū blieb dessen ungeachtet hāssekī, und es ist wahrscheinlich, dass er sie letztendlich auch geheiratet hat, wie schon sein Vater Süleymān Hürrem. Als Selīm starb, wurde Nūrbānūs Sohn Nachfolger, und die von Selīm später noch gezeugten Söhne wurden getötet und mit ihm begraben. Auch Sultan Murād, Nūrbānūs Sohn, hatte eine hāssekī namens Sāfiye, welche die Mutter seines Sohnes und Nachfolgers war. Nachdem Murād vorerst längere Zeit monogam mit Sāfiye gelebt hatte, entdeckte er später ausgiebig die Freuden seines Harems. Dies geschah offenbar auf Initiative seiner Mutter Nūrbānū, die seine starke Fixierung auf Sāfiye nicht gesund fand. In fortgeschrittenem Alter kehrte Murād III. jedoch wieder zu Sāfiye als einziger Frau zurück. Sāfiyes mächtiger Einfluss währte auch nach Murāds III. Tod und erstreckte sich auf ihren Sohn, Mehmed III. Während seines Persienfeldzuges war sie es, die die Vollmacht in allen Regierungsgeschäften innehatte. In praxi regierten Mehmed III. und seine Mutter Sāfiye seine gesamte Herrschaftszeit gemeinsam. Hier und später bestand enge Kooperation zwischen Großwesir und Sultansmutter, auch wenn diese Koopera­tion nicht immer konfliktfrei ablief. Wenn hochrangige Beamte den Sultan in 29 Eine bekannte Konstellation ist die Ehe von Hürrems Tochter Mihrimāh und dem Großwesir Rüs­ tem Paşa.

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bestimmten Fragen nicht zu überzeugen vermochten, wandten sie sich häufig an die Sultansmutter. Das heißt, nach Süleymān folgten drei Sultane, die jeweils eine starke Favoritin bzw. Mutter hatten: Selīm II. mit Nūrbānū als hāssekī, Murād III. mit Nūrbānū als Mutter und Sāfiye als hāssekī, und Mehmed III. mit Sāfiye als mitregierender Mutter. Innerhalb von nur drei Herrschergenerationen wurde das, was bei Hürrem noch als Machtbesessenheit missbilligt wurde, völlig normal: eine Frau an der Seite des Sultans, der er vertraute und die aktiv Politik mitgestaltete. Die hāssekī als Mutter des ersten, schon frühzeitig zum Thronfolger ausgewählten Sohnes war eine ehrenvolle und anerkannte Position geworden. Der Beginn des 17. Jahrhunderts ist auch die Zeit, in der das Prinzip des Erstgeborenen als Nachfolger installiert wurde. Dies setzte erstens dem Aussenden der Prinzen in die Provinzen ein Ende, und zweitens, von wenigen Ausnahmen abgesehen,30 auch der Praxis des Fratrizids. Diese Praxis war ohnehin zunehmend unpopulär geworden, und spätestens als Mehmed III. (1595–1603) neunzehn Brüder hinrichten ließ und das Volk den Transport von teils winzigen Särgen sah, gab es offen ausgesprochenes Missfallen.31 Der Thronfolger blieb nunmehr bis zu seinem Regierungsantritt im Harem, seine jüngeren Brüder wurden dort lebenslang im sogenannten kafes („Käfig“) eingesperrt. Diese Haremsprinzen, von denen man wusste, dass sie keine Sultansanwärter waren, hatten keinen sehr hohen Status im Harem, wofür ihr ausgesprochen geringes Taschengeld als Indikator gelten kann. Sie durften, wenn geschlechtsreif, zwar Konkubinen haben, aber keine Kinder mit ihnen zeugen. Insgesamt brachte diese neue Situation einen starken Zuwachs an Personen im Harem. Während Mitte des 16. Jahrhunderts der Harem etwa 150 Frauen beherbergte, waren es hundert Jahre später bereits 400 Frauen, weitere 100 Jahre später, ca. Mitte des 18. Jahrhunderts, belegt ein Dokument 440 Frauen.32 Der Zuwachs lässt sich in erster Linie auf Angestellte, Verwalterinnen, Haushälterinnen, Ausbildnerinnen für ausgewählte junge Frauen zurückführen. Durch die große Anzahl an Bewohnerinnen musste diese Institution zunehmend hierarchisiert und strukturiert werden, um weiterhin eine gute Organisation zu gewährleisten. Das 17. Jahrhundert brachte eine langsame Schwächung der Position der hāssekī mit sich, manche Sultane hatten gar keine mehr. Parallel mit der Marginalisierung der Prinzen war auch jene ihrer Mütter vor sich gegangen. Da diese Frauen auch finanziell 30 Nur zwei Sultane töteten im 17. Jahrhundert noch ihre Brüder; beide mussten sich aufgrund von Feldzügen länger von der Hauptstadt entfernen und wollten offenbar kein Risiko eingehen. 31 Als Sultan Mehmed IV. (1648–1687) bei der Thronbesteigung seine Brüder töten lassen wollte, verbot ihm dies seine Mutter Turhān Sultan. Sie nahm die Söhne, obwohl sie nicht von ihr, sondern von Konkubinen waren, in Schutz. 32 Siehe dazu die Tabelle bei Peirce, Harem, S. 122.

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nicht mehr sehr großzügig unterstützt wurden, sind viele von ihnen heute nicht mehr bekannt, da sie, im Gegensatz zu früher, nicht mehr durch die Errichtung öffentlicher Bauten in Erinnerung blieben. Von zahlreichen Sultanskindern und deren Müttern weiß man nicht einmal mehr die Namen. Den Rückgang in der Bedeutung der hāssekī kann man auch daran erkennen, dass nun alle Konkubinen, die mit dem Sultan verkehrt hatten, diesen Titel erhielten, und dass alle die gleiche Apanage erhielten. Im 18. Jahrhundert machte der Titel hāssekī dann dem Wort kadın („Frau“) Platz, hierarchisiert nach baş kadın („oberste Frau“), ikinci kadın („zweite Frau“) etc. Auch der Titel „Sultan“, den vorher alle Konkubinen geführt hatten, war nun der vālide sultān und den Prinzessinnen vorbehalten. Während die Konkubinen mehr Gleichheit, jedoch weniger Prestige hatten, wurde der Rang der Sultansmutter zunehmend wichtiger. Dies ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass nunmehr, da die Prinzen keine Lehrjahre mehr in der Provinz verbrachten, alle Familienmitglieder ständig unter einem Dach lebten und die Sultansmutter ständig präsent war. Die beiden berühmtesten Frauen in dieser Position sind Kösem Sultan und Turhān Hatīce Sultan. Kösem war zuerst Konkubine Ahmeds I. (1603–1617) und dann über 28 Jahre lang vālide sultān unter zwei Sultanen, die ihre Söhne waren, und einem weiteren, der ihr Enkel war. Turhān Sultan, die Konkubine Sultan İbrāhīms und Mutter Mehmets IV., die sich mit ihrer Schwiegermutter Kösem Sultan drei Jahre lang erbitterte Machtkämpfe lieferte, ist mit 34 Jahren die am längsten herrschende vālide sultān. Es war eine spezielle Konstellation, die Turhān Sultan in eine solche Position ungeheurer Macht brachte, war doch ihr Sohn erst sieben Jahre alt, als sein Vater starb. Über viele Jahre traf sie, unterstützt von hochgestellten Würdenträgern, Entscheidungen anstelle ihres kleinen Sohnes. Turhān Sultan regierte zeitweise fast schon alleine. Sie hatte einen Kreis von Beratern, auch von außerhalb des Sarays, um sich, verkehrte mit dem Hofarchitekten, der ihr persönlicher Berater wurde, und den Mitgliedern der Ulema ganz wie eine selbstständige Politikerin. Es war für Turhān, die gezwungenermaßen die Interessen ihres noch viel zu jungen Sohnes – noch dazu in einer für die Osmanen wirtschaftlich sehr schweren Zeit – vertreten musste, eine belastende Situation. Das Klischee zeichnet eine tyrannische, machtgierige Frau, die ihren Sohn unterdrückt; tatsächlich war Turhān Sultan eine hochgeschätzte Politikerin, die in diese Situation hineingeraten war und sie auch durchstehen musste, sie jedoch nicht aus Machtgier angestrebt hatte. 1656 setzte Turhān mit Köprülü Mehmed Paşa einen neuen, starken Großwesir ein und übergab ihm die Macht, die Geschäfte für ihren Sohn zu führen. Für viele Jahre sollten nun Wesire aus der Familie Köprülü die zentralen Stellen im osmanischen Staat besetzen. Turhān Sultan blieb zwar weiterhin aktiv, beschränkte allerdings ihre Aktivitäten weitgehend auf zeremonielle und wohltätige Funktionen. Sie ließ zahlreiche öffentliche Bauwerke errichten und war bis zu

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ihrem Tod 1683 eine hoch angesehene Persönlichkeit, und als sie starb, wurde ihr Tod in den Chroniken als Verlust des Stützbalkens des Staates bezeichnet.33 Mit Turhān Sultan hatte die Zeit des „Sultanats der Frauen“ gleichzeitig Höhepunkt und Ende gefunden, und keine Sultansfrau oder -mutter nach ihr sollte je wieder zu ähnlicher Macht gelangen.

Anhang: Sultane und Frauen im relevanten Zeitraum Süleymān Kānūnī „der Prächtige“ 1520–1566 hāssekī Hürrem Sultan (Roxelane) Selīm II. 1566–1574, Sohn Hürrems hāssekī Nūrbānū Sultan (Cecilia) Murād III. 1574–1595, Sohn Nūrbānūs hāssekī Sāfiye Mehmed III. 1595–1603, Sohn Sāfiyes Sāfiye als „mitregierende“ vālide sultān Ahmed I. 1603–1617 hāssekī Kösem Sultan, dann vālide sultān bis Murād IV. 1623–1640 İbrāhīm 1640–1648 hāssekī Turhān Sultan Mehmed IV. 1648–1687, Sohn Turhāns vālide sultān Turhān

33 Unter anderem ließ sie die von Sāfiye Sultan begonnene Yeni-Valide-Moschee am Goldenen Horn zu Ende bauen.

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Der kurze Weg vom Appartamento Borgia bis zum Konzil von Trient oder: Das (un-?)gewöhnliche Leben des Papstes Paul III.

Stefan Schima

Vorspann: Das Papsttum, die Betten und die Macht

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ie Trias Papsttum – Bett – Macht hat in der Papstgeschichte eine nicht zu unterschätzende Bedeutung erlangt. Von großem Interesse ist dabei die differenzierte Rolle, die den Päpsten bzw. Männern, die die Nachfolgestelle Petri erhalten werden, im Zuge ihrer Verbindung mit Bett und Macht in den einschlägigen Quellen zugeschrieben wird.1 Es können hierbei insbesondere drei Konstellationen unterschieden werden: – Päpste verleihen Macht im Bett; – sie erhalten Macht im Bett oder versuchen diese zumindest zu erhalten; – oder Päpste und jene, die es noch werden, profitieren von Mittelspersonen, die sich mit der Macht persönlich ins Bett begeben – zur größeren Ehre des Nachfolgers Petri und seiner Kirche. Die letztgenannte Konstellation steht am Beginn der uns bekannten konkreten Kontakte zwischen antik-römischem Kaisertum und römischen Bischöfen. So wird berichtet, dass der römische Bischof Viktor I. (189–199) über die kaiserliche Konkubine Marcia Kontakt zu Kaiser Commodus (180–193) gesucht habe, um die Freiheit christlicher Zwangsarbeiter, die ihr Leben in den Minen Siziliens zu fristen hatten, zu erwirken.2 Diesem sollte ein durchaus verständliches Anliegen vorgetragen werden: Zahlreiche Christen waren als Zwangsarbeiter in den Minen Siziliens tätig und Viktor I. wollte nun ein gutes Wort für diese einlegen. Die Verbindung zwischen dem römischen Bischof und Marcia dürfte durch den am kaiserlichen Hof lebenden Presbyter und Eunuchen Hyacinth hergestellt worden sein. Als erste uns bekannte und dabei auch quellenmäßig glaubwürdig belegte 1 2

Die vorliegenden Ausführungen wurden zum Teil bereits im November 2008 als Handout zur Ringvorlesung publiziert: http://www.uni-graz.at/newswww_schima_handout.pdf (22. Juli 2009). Siehe dazu Lampe, Peter: Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten. Tübingen 21989, S. 70f., S. 283f.

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Kontaktnahme zwischen römischen Bischöfen und Kaiserhaus steht gerade diese Episode für eine Komponente römisch-kirchlicher Zentralfunktion, die nicht unterschätzt werden darf. Denn die Stellung Roms als Reichshauptstadt trug zweifelsohne dazu bei, das Ansehen der römischen Kirche innerhalb des Ortskirchenverbandes zu stärken. Was die zweitgenannte Konstellation – (zukünftige) Päpste erhalten Macht im Bett oder versuchen diese zumindest zu erhalten – betrifft, so ist an das sogenannte saeculum obscurum der Papstgeschichte zu denken: Damals – im 10. Jahrhundert – sollen Frauen, die dem Haus der Theophylakten angehörten, Päpste erhoben bzw. am Gängelband gehalten haben. Die jüngere Forschung ist allerdings der Ansicht, dass der zeitgenössische Bischof Liutprand von Cremona mit seinen im Liber antapodoseos festgehaltenen Schilderungen in ziemlich polemischer Weise übertrieben hat und daher als seriöser Zeuge nicht maßgeblich ist. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen wird die erstgenannte Konstellation stehen: Es werden die Folgen päpstlicher Machtverleihung auf dem Wege des Bettes behandelt. Zu nennen ist zunächst Papst Alexander VI. (1492–1503). Er war vor und während seines Pontifikats mit der blutjungen Giulia Farnese liiert, und deren Bruder Alessandro verdankte dieser Verbindung so gut wie alle Erträgnisse, die seiner irdischen Karriere zuteil wurden. Dass Alessandro Farnese schließlich im Jahr 1534 zum Papst gewählt wurde und als Paul III. bedeutende Maßnahmen zur Kirchenreform durchführte und letztlich dazu beitragen sollte, dass Pontifikate wie das eines Alexanders VI. nicht mehr möglich sein sollten – dies zählt zu den größten Treppenwitzen der Papstgeschichte. Und dass das Bett Alessandro Farneses ebenfalls als Hort zumindest potenzieller Machtpotenziale anzusehen ist, auch davon soll unsere Geschichte handeln. Die folgenden Ausführungen werden vor allem von der Frage der Nachfolgebeeinflussung akzentuiert, bei der insbesondere die Möglichkeit der Nachfolgerbestimmung durch päpstliche Amtsträger, aber auch die Thematik der Vererblichkeit des Papsttums im Mittelpunkt stehen werden. Dass es sich dabei um keine exotische Randthemen handelt, beweist nicht nur der Umstand, dass ihnen bei den Zeitgenossen Pauls III. eine nicht unerhebliche Bedeutung zukam, sondern auch die Tatsache, dass die Frage der Erblichkeit des Papsttums und Möglichkeit der Nachfolgedesignation schon in früheren Jahrhunderten eine Rolle gespielt hatten.3 Spätestens jetzt lässt sich erkennen, dass Paul III. mit sei3

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Isoliert von der Frage der Vererblichkeit darf die einzige bekannte Designation im strengen Sinn gesehen werden, die sich im Jahr 530 zutrug. Im Jahr 530 ist es Papst Felix IV. geglückt, seinen Nachfolger zu designieren, und derartige Versuche wurden noch öfter unternommen. Was die dynastischen Aspekte der Papstnachfolge betrifft, so darf darauf hingewiesen werden, dass solche nicht selten angedacht wurden bzw. sogar eine tatsächliche Rolle spielten. Dies sollte nicht erstaunen. Viel eher bedarf es einer Begründung für die Tatsache, dass dynastische Erwägungen die mei-

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nem hyper-ausgeprägten Hang zur Förderung der eigenen Familie keineswegs allein in der Reihe der Päpste steht, und Paolo Prodi hat den Nagel auf den Kopf getroffen, wenn er für die Zeit der Renaissance meint, das Papsttum sei damals in die beständige Versuchung geraten, sich selbst in eine Dynastie zu verwandeln.4 Doch wie steht es mit dieser Versuchung? Gewiss wären die Päpste ihr erlegen, wenn es sich in der Tat nicht bloß um eine Versuchung, sondern auch um Versuche gehandelt hätte. Und solche können bekanntlich fehlschlagen …



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ste Zeit hindurch keine Rolle spielten. So hat – bezogen auf Spätantike und Frühmittelalter – Eckhard Wirbelauer Folgendes gemeint: […] die stadtrömische Aristokratie agierte immer noch über den städtischen Rahmen hinaus; somit blieb, umgekehrt, Rom stets im Blick des Kaisers, selbst wenn er nicht mehr direkt die Geschicke beeinflussen konnte. So wurde offenbar verhindert, daß einzelne Familien den Bischofsthron in der Stadt monopolisierten, wie es in Gallien der Fall war und wie es in Rom später sein sollte: Leo der Große und die Entstehung des Papsttums. Der Stellvertreter Petri in Rom. In: Meier, Mischa (Hrsg.): Sie schufen Europa. Historische Portraits von Konstantin bis Karl dem Großen. München 2007, S. 78–92, hier S. 91. Als Zeitraum, in dem dynastische Aspekte in Rom eine Rolle spielten, kann etwa die Periode von 1012 bis 1048 genannt werden, als nacheinander drei Angehörige des Tuskulanerhauses auf dem Stuhl Petri saßen bzw. diesen beanspruchten. Wiederholt bin ich auf den Papstwechsel von 757 eingegangen, als Paul I. (757–767) auf seinen Bruder Stephan II. (752–757) folgte: Siehe Schima, Stefan: „Favoriten haben noch größere Chancen …“ Beobachtungen zur Entwicklung des Papstwahlrechts des 20. Jh.s unter dem Blickwinkel der „Nachfolgesouveränität“. In: Österreichisches Archiv für Recht und Religion 52 (2005) S. 424–492, hier S. 438–440; Schima, Stefan: „De aliquibus mutationibus …“ Eine gravierende Änderung des Papstwahlrechts aus dem Jahr 2007. In: Österreichisches Archiv für Recht und Religion 54 (2007) S. 291–305, hier S. 292, Anm. 6. Dem ist noch hinzuzufügen, dass bisher in das Jahr 751 und damit in die Amtszeit des Papstes Zacharias (741–752) datierte Ereignisse, die mit dem Bündnis zwischen Papsttum und Karolingern in Zusammenhang stehen, vermutlich 754 und damit erst in der Amtszeit Stephans II. stattgefunden haben: Siehe dazu Fried, Johannes: Das Mittelalter. Geschichte und Kultur. München 32009, S. 55 und S. 560, Anm. 8. Was die dynastischen Aspekte der Papstnachfolge betrifft, so kann etwa auch auf Nikolaus III. (1277–1280) aus dem Haus der Orsini verwiesen werden: Der Grundsatz, wonach den Päpsten das ausschließliche Recht der Kardinalsernennung und damit auch die Zusammenstellung des Nachfolgewahlkollegiums zu bestimmen zukommt, erfuhr zwar in der Vergangenheit gewisse Durchbrechungen, doch wusste Nikolaus III. sein Recht in einer Weise zu nutzen, dass ein kurialer Zeitgenosse mutmaßte, Nikolaus III. wolle damit seiner Familie dauerhaft das Papsttum in die Hände spielen. Siehe dazu Schima, Favoriten, S. 440f., Anm. 64. Prodi, Paolo: „Plures in papa considerantur personae distinctae“. Zur Entwicklung des Papsttums in der Neuzeit. In: Wassilowsky, Günther / Wolf, Hubert (Hrsg.): Werte und Symbole im frühneuzeitlichen Rom (= Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496, 11), Münster 2005, S. 21–35, hier S. 24.

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Allgemeine Bemerkungen zu Papstwahlen und Nachfolgebeeinflussung Beim Papsttum handelt es sich um eine Wahlmonarchie. Seit dem 12. Jahrhundert liegt die aktive Wahlberechtigung ausschließlich bei den Kardinälen, wobei erst im 20. Jahrhundert die 80-Jahre-Altersgrenze eingeführt wurde. Seit dem Jahr 1179 ist die Zweidrittelmehrheit als Erfordernis für eine gültige Wahl festgeschrieben. Hinsichtlich der passiven Wahlberechtigung muss hier nichts weiter festgestellt werden. Seit dem 14. Jahrhundert sind jedenfalls nur mehr Kardinäle zum Papst gewählt worden. Zur Ernennung von Kardinälen ist ausschließlich der Papst befugt. Schon diese Grundkonstellation weist darauf hin, dass ein Papst befähigt ist, auf seine Nachfolge mehr oder weniger unmittelbaren Einfluss auszuüben. Dabei sind allerdings einige Hindernisse zu betrachten, die teils rechtlicher, teils faktischer Natur sind: – Das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit steht einer zielführenden Prognose des Wahlausgangs grundsätzlich im Weg. Zweidrittelerfordernisse führen häufig dazu, dass sich die Wähler auf Kompromiss- bzw. Überraschungskandidaten einigen müssen. – Der jeweilige Papst übernimmt das Kardinalskollegium des Vorgängers. Zur Absetzung von Kardinälen ist es in der Kirchengeschichte nur selten gekommen. Auch die Vergiftung von Kardinälen bzw. deren Hinrichtung entsprach zwar einer gangbaren, allerdings nicht häufig gepflegten Praxis. Mit anderen Worten: Der jeweilige Papst ist lediglich dazu aufgerufen, das aktuelle Kollegium zu ergänzen. – Die Ernennung neuer Kardinäle war grundsätzlich mit den „Alteingesessenen“ zu beraten. Päpstliche Ernennungspläne konnten auf diese Weise – mehr oder weniger häufig – blockiert werden. – Im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit versuchten Kardinäle im Rahmen von Papstwahlkapitulationen u. a. die Kreationsbefugnis der Päpste zu beschränken bzw. dezidiert an ihre Zustimmung zu binden. Sehr oft wurden diese Wahlkapitulationen durch die Gewählten allerdings nicht beachtet. – Zuweilen waren Päpste dem Druck weltlicher Herrscher bei der Kreation neuer Kardinäle ausgeliefert. Vor allem ab dem 16. Jahrhundert spielten die sogenannten „Kronkardinäle“, die eben auf Verlangen weltlicher Mächte ernannt wurden, eine große Rolle. – Oftmals schalteten sich ,katholische‘ Staaten insofern ins Papstwahlgeschehen ein, als sie mehr oder weniger direkten Einfluss auf das Ergebnis zu nehmen versuchten. Seit dem Tod Pauls III. im Jahr 1549 ist die Ausbildung des ius exclusivae feststellbar:5 Da5

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Siehe dazu Schima, Stefan: Ius exclusivae. In: Olechowski, Thomas / Gamauf, Richard (Hrsg): Studienwörterbuch Rechtsgeschichte & Römisches Recht, Wien 2006, S. 224.

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bei handelte es sich um eine vonseiten des Papsttums formell nie anerkannte Befugnis ‚katholischer‘ Mächte, zumindest eine Person von der Wählbarkeit zum Papst auszuschließen. Vom Tod Pauls III. an bis zum frühen 20. Jahrhundert hatte man ständig mit der Ausübung des ius exclusivae zu rechnen. Erst im Jahr 1904 wurde päpstlicherseits die Ausübung des ius exclusivae ausdrücklich untersagt.

Das Leben des Alessandro Farnese bis zu seiner Wahl zum Papst (1534) Alessandro Farnese, die Betten und die Macht Die Karriere Alessandro Farneses findet ihren fruchtbaren Nährboden in der Beziehung seiner Schwester Giulia zu Papst Alexander VI. aus der Familie der Borgia. Doch darüber hinaus war Alessandro Farnese, der schon lange vor seiner Wahl im Jahr 1534 vernünftigerweise auf diese hoffen durfte, seinerseits ein mit universellem Weltbild ausgestatteter Kirchenfürst, der sich aktiv nicht nur an der Mehrung der Christenheit, sondern an der Mehrung der Menschheit überhaupt beteiligte. Und in diesem Sinne ist auch daran zu denken, was Alessandro Farnese mit den zu Fleisch gewordenen Ergebnissen seiner langjährigen Beziehung zu einer gewissen Silvia Ruffini zu tun gedachte, aber auch an das, was er nicht mit ihnen zu tun gedachte. Kurz gesagt: Es wird die Frage angesprochen, inwieweit ein Papst der Renaissance dazu imstande war, sein Amt kurz- oder längerfristig seiner Familie zuzuspielen. Die Wochenbetten der Mutter, das Totenbett des Vaters und die frühen Stationen eines Mächtigen Alessandro Farnese der Ältere wurde am 29. Februar 1468 vermutlich in Canino, in der Nähe Viterbos, geboren.6 Die Farnese waren eine Familie von Landbesitzern und Soldaten, die vor allem in Umbrien und im nördlichen Teil Latiums ihr Leben in Wohlstand fris­teten.7 Die Heirat von Alessandros Vater Pier Luigi Farnese mit Giovanella, aus dem 6 7

Eine reichhaltige Bibliografie zu Alessandro Farnese dem Älteren, dem späteren Papst Paul III., findet sich bei Benzoni, Gino: Paolo III. In: Enciclopedia dei papi, Bd. III. Rom 2000, S. 91–111, hier S. 109–111. Siehe Völkel, Markus: Farnese. In: Reinhardt, Volker (Hrsg.): Die großen Familien Italiens. Stuttgart 1992, S. 259–278, hier: S. 259; Nasalli Rocca, Emilio: I Farnese. Una delle più celebri famiglie nobiliari italiane. Mailand 1997, S. 13–25; Majanlahti, Anthony: The families who made Rom. A history and a guide. London 2006, S. 127.

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Haus der Caetani, deren prominentester Angehöriger Papst Bonifaz VIII. (1294–1303) gewesen war, trug zu einem Ansehenszuwachs der Farnese bei – zum ersten Mal wurde nun ein Familienbündnis zwischen ihnen und einer Familie des römischen Hochadels geknüpft.8 Die aus vergleichsweise niedrigen Verhältnissen stammenden Farnese durften nun im wahrsten Sinn des Wortes auf höhere Weihen hoffen.9 Alessandro war nicht der älteste Sohn Pierluigi Farneses – dies war Angelo (1465– 1494), der es seinerseits zu einem bedeutenden Heerführer in Diensten von Florenz und Neapel brachte.10 Die Tatsache, dass Alessandro nicht der Erstgeborene war, prädestinierte ihn in gewisser Weise für die erwähnten höheren Weihen, doch wie sein Lebenslauf zeigen wird, bedurfte es einer pikanten Konstellation, um mit relativer Leichtigkeit auf die oberen Sprossen einer kirchlichen Karrierelaufbahn zu gelangen. Im Jahr 1474 und somit wohl sechseinhalb Jahre nach Alessandro kam dessen Schwes­ ter Giulia zur Welt.11 Die ehrgeizige Mutter schickte das Kind zur Erziehung in ein römisches Kloster.12 Mit 14 Jahren wurde Alessandro päpstlicher Skriptor. In Rom war er unter anderem ein Schüler des namhaften Pomponius Laetus, der seinerseits wegen prorepublikanischer Umtriebe durch Papst Paul II. (1464–1471) Verfolgungen erlitten hatte. Es ist nicht ganz auszuschließen, dass Alessandro Farnese und Pomponius Laetus jene beiden Männer sind, die auf dem Fresko Sandro Botticellis Die Bestrafung der Rotte Korach (1481–1482) in der Sixtinischen Kapelle links hinter dem eigentlichen Hauptgeschehen dargestellt werden.13 Möglicherweise ist die Erziehung durch Pomponius Laetus mit dafür verantwortlich, dass aus dem zukünftigen Papst Paul III. nie ein wirklich gläubiger Mensch geworden ist. Doch bleiben wir in der Sixtinischen Kapelle und ihrem eigentlichen Bauherrn, dem Papst Sixtus IV. (1471–1484), unter dessen Herrschaft die Kirchenkarriere Alessandro Farneses ihren Ausgang nahm. Das genannte Fresko nimmt auf eine alttestamentliche Bege-

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Majanlahti, Families, S. 127. Zu den Bezugnahmen auf das Verwandtschaftsverhältnis zu den Caetani durch Paul III. siehe Zapperi, Roberto: Die vier Frauen des Papstes. Das Leben Pauls III. zwischen Legende und Zensur, München 1997, S. 44f. Sie dienten offensichtlich der Legitimation des durch den Farnesepapst ebenfalls emsig gepflegten Nepotismus. Vgl. Zapperi, Frauen, S. 45. Zu ihm siehe Majanlahti, Families, S. 127. Geburtsjahr bei La Bella, Angelo / Mecarolo, Rosa: La venere papale (= Le donne dei papi 2). Valentano 1995, S. 23. Ebd. Vgl. Redig de Campos, Dioclezio (Hrsg.): Die Kunstschätze des Vatikans. Architekten. Malerei. Plastik. Freiburg i. Br. 1974, S. 377.

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benheit Bezug, die Bestrafung des Hohepriesters Korach, der zusammen mit mehreren Hundert Israeliten gegen die Alleinherrschaft des Moses aufstand.14 Es liegt auf der Hand, dass sich dieses Fresko gegen sogenannte konziliaristische Bestrebungen richtete. Papst Sixtus IV. gehörte zu jenen Päpsten des 15. Jahrhunderts, die befürchten mussten, dass gegen ihren Willen eine allgemeine Kirchenversammlung einberufen und mit der Kirchenreform ganz oben – am Haupt nämlich – begonnen werden würde.15 Der Machterhalt konnte aus Sicht Sixtus’ IV. am besten durch die Pflege eines ausgedehnten Nepotismus gewahrt werden.16 Auf dem heute in der Vatikanischen Pinakothek befindlichen von Melozzo da Forli angefertigten Bild aus dem Jahr 1477, das die Berufung Bartolomeo Platinas an die Spitze der Vatikanischen Bibliothek zeigt, ist der Papst zusammen mit diesem und vier Nepoten dargestellt.17 Gleich neben Sixtus IV. ist der bereits 1474 verstorbene Pietro Riario zu sehen, der möglicherweise dessen natürlicher Sohn war – die äußere Ähnlichkeit mit dem päpstlichen „Onkel“ ist übrigens unverkennbar. Bereits für dieses Werk drängt sich der Eindruck auf, als sollten hier nahe Verwandte des Papstes als mögliche Nachfolgekandidaten präsentiert werden. Schon im frühen 16. Jahrhundert wurde die Geschichte kolportiert, wonach Pietro Riario geplant hatte, durch seinen Onkel zum Nachfolger designiert zu werden.18 Darüber hinaus fällt an diesem Bild die prominente Position des Papstneffen Giuliano della Rovere auf. Er tritt dem Papst gegenüber und ist niemand anderer als dessen vierter Nachfolger, nämlich Julius II. (1503–1513).

14 Buch Numeri 16.1–18,32. 15 Zum Fresko siehe Reinhardt, Volker: Rom. Kunst und Geschichte 1480–1650. Würzburg 1992, S. 29–36. Zu Sixtus IV. und seiner Konfrontation mit konziliaristischen Ansichten siehe auch ­Jedin, Hubert: Geschichte des Konzils von Trient. Bd. I: Der Kampf um das Konzil. Freiburg i. Br. 3 1977, S. 80–84; Schneider, Hans: Der Konziliarismus als Problem der neueren katholischen Theologie. Die Geschichte der Auslegung der Konstanzer Dekrete von Febronius bis zur Gegenwart (= Arbeiten zur Kirchengeschichte 47) Berlin 1976, S. 45. 16 Sechs Nepoten wurden durch Sixtus IV. mit dem Roten Hut bedacht. Dabei ist bemerkenswert, dass im Zusammenhang mit dem Konklave von 1471, aus dem Sixtus IV. hervorging, eine Wahlkapitulation aufgestellt worden war, die die verschärfende Klausel enthielt, dass die im Widerspruch mit ihr erhobenen Kardinäle nach dem Tode des Papstes nicht als Kardinäle gelten und weder das aktive noch das passive Wahlrecht haben sollten (Jedin, Geschichte I, S. 69). Derartige Gegebenheiten wären grundsätzlich geeignet gewesen, den Zugriff eines Papstes auf die Bestellung seines Nachfolgers einzuschränken. 17 Siehe dazu Zapperi, Roberto: Tizian. Paul III. und seine Enkel. Nepotismus und Staatsportrait. Frankfurt/Main 1990 (Turin 1990), S. 19–23. 18 Corio, Bernardino: Storia di Milano, Bd. III. Mailand 1857, S. 276. Zur Entstehungszeit des Werkes siehe Petrucci, Franca: Corio Bernardino. In: Dizionario biografico degli Italiani, Bd. XXIX. Rom 1983, S. 75–78, hier S. 77.

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Unter Sixtus IV. durfte Alessandro Farnese offenbar im Windschatten eines ihn protegierenden Caetani-Onkels segeln, doch immerhin dürften seine geistigen Talente außergewöhnlich gewesen sein. Gerade Farneses Beispiel zeigt, dass im damaligen Rom auch die geistige Frühreife zählte, und als 16-Jährigen sehen wir ihn sogar mit dem berühmten Humanisten Angelo Poliziano auf Latein korrespondieren.19 Auch Pisa und Florenz sind Studienorte des jungen Alessandro. In der zweiten Hälfte der 1480er-Jahre stirbt der Vater der Farnese-Geschwister und die Witwe macht nun ihren Söhnen Angelo und Alessandro das Leben schwer. Die noch zu Alessandros Lebzeiten verbreiteten Gerüchte, denen zufolge er seine Mutter vergiftet habe, von Papst Innozenz VIII. (1484–1492) in die Engelsburg eingekerkert wurde und sich durch abenteuerliche Flucht einer wohlverdienten Strafe entzogen habe, können deswegen nicht zur Gänze zutreffen, weil für die streitbare Farnese-Mutter noch im Jahr 1520 ein Romaufenthalt belegt ist.20 Indes darf aber mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass Alessandro unter Innozenz VIII. Mitte der Achtzigerjahre in der Engelsburg festgehalten wurde und aus dieser auf recht abenteuerliche Weise entkommen ist.21 Dem lag offensichtlich ein Konflikt zwischen Alessandros Bruder Angelo und dem Papst zugrunde. Angelo hatte die mit Innozenz sympathisierende Mutter festgehalten und der Papst dafür den in Rom befindlichen Alessandro als Geisel nehmen lassen, um die Mutter aus ihrem Hausarrest freizubekommen. Es verwundert nicht, dass das abenteuerreiche Leben des jungen Alessandro dem 300 Jahre später lebenden Schriftsteller Stendhal als Inspirationsquelle für dessen Romanhelden Fabrizio del Dongo in der Kartause von Parma diente.22 Innozenz VIII., der unmittelbare Nachfolger Sixtus’ IV., war jener Papst, der im Jahr 1484 die berühmte „Hexenbulle“ erließ, die maßgeblich zur Ausbreitung des Hexenwahns beitrug. Dass Innozenz natürliche Nachkommenschaft hatte, war für einen Papst keineswegs ungewöhnlich. Dass er allerdings die Hochzeit seines Sohnes im Vatikan praktisch offiziell organisieren ließ, sucht in der bisherigen Papstgeschichte ihresgleichen.

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Zapperi, Frauen, S. 45. Ebd., S. 46. Ebd., S. 48f. Ebd., S. 55–58.

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Das einladende Bett des Papstes Alexander VI. Der Tag, der für die Liebschaft der Giulia Farnese mit dem späteren Papst Alexander VI. große Bedeutung erlangen sollte, war ausgerechnet der Tag ihrer Hochzeit im Jahr 1490. Damals wurde sie mit Orso Orsini verheiratet, der auch der Einäugige genannt wurde und dessen Name auf Deutsch eigentlich „Bär Bärlein“ heißen müsste. Der kaum 16-jährige Bräutigam gehörte einem Zweig der damals mächtigsten Familie Mittelitaliens an.23 Es handelte sich freilich um eine arrangierte Hochzeit, und sein Auge hatte Orso zweifelsohne nicht erst an Giulia verloren. Des grobschlächtigen Orsos Mutter war Adriana de Mila, ihrerseits eine Cousine des Kardinals Rodrigo Borgia.24 Zwischen den beiden Verwandten bestand ein inniges Verhältnis – wenn auch vermutlich in einer für diesen Kardinal untypisch platonischen Art und Weise –, und so verwundert es nicht, wenn Rodrigo Borgia nicht nur Vormund des einäugigen Orso war, sondern darüber hinaus seinen Palast für die Hochzeit des jungen Paares zur Verfügung stellte.25 Sollte nun dem jungen Bären die sprichwörtliche Haube aufgesetzt werden, unter die das junge Paar zu bringen gewesen wäre, so waren es eigentlich Hörner, die ihm seitens des generösen Gastgebers verpasst wurden. Rodrigo Borgia – damals 57 Jahre und Vizekanzler der römischen Kirche – lebte seit etwa 25 Jahren mit Vanozza de’ Cattanei im Konkubinat, und dieser Beziehung entstammten unter anderem Cesare und Lucrezia Borgia. Doch dies hinderte Rodrigo nicht daran, mit Giulia Farnese ein inniges Liebesverhältnis einzugehen, dem Altersunterschied von 43 Jahren zum Trotz. Das Glück des 1431 in Játiva bei Valencia geborenen Rodrigo zeigte sich im Zusammenhang mit der Wahl von dessen Onkel Alonso de Borja zum Papst. Als Calixtus III. (1455–1458) saß dieser lediglich für drei Jahre auf dem Stuhl Petri, doch fand er genug Zeit, um genügend Verwandte zu fördern. Im Februar 1456 wurde Borgia zum Kardinal kreiert, im Jahr 1457 schließlich zum Vizekanzler ernannt. Aus dem spanischen „Borja“ wurde das latinisierte „Borgia“ und im Verlauf einiger Jahrzehnte fand Rodrigo nicht nur Zeit, in Rom heimisch, sondern auch mit den Schalthebeln der Macht vertraut zu werden. Was das Äußere des lang gedienten Vizekanzlers betrifft, so schreibt Ludwig von Pastor mit Berufung auf zeitgenössische Porträts, dass diese einen allerdings sehr kräftigen, aber für den 23 Siehe dazu La Bella / Mecarolo, Venere, S. 24. Alter Orsinis ebd., S. 26. Zur Liaison zwischen Giulia Farnese und Rodrigo Borgia siehe auch Zapperi, Frauen, S. 78–85. 24 Siehe La Bella / Mecarolo, Venere, S. 24. 25 Es handelte sich um den zwischen der Engelsburg und dem Campo de’ Fiori gelegenen Palazzo Cesarini Sforza, der damals „Cancelleria Vecchia“ genannt wurde (La Bella / Mecarolo, Venere, S. 27).

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gegenwärtigen Geschmack keineswegs schönen Mann wiedergeben.26 Etwas kurz, aber doch sehr eindeutig auf den Punkt gebracht haben die Angelegenheit zwei italienische Gelehrte: Alessandro VI era decisamente brutto.27 Ob der heißblütige vicecancellarius Giulia erst an ihrem Hochzeitstag kennenlernte oder ob er gar schon vor diesem Termin sein Interesse auf die 14-Jährige gelenkt hatte, wissen wir nicht.28 Jedenfalls können wir davon ausgehen, dass in den ersten Monaten des Jahres 1491 die Liaison zwischen Giulia Farnese und Rodrigo Borgia begann.29 Vermutlich spielte dabei Adriana de Mila eine zentrale Rolle. Sie war nicht nur Giulias Schwiegermutter und gleichzeitig mit den intimen Geschichten ihres Vetters Rodrigo wohl vertraut.30 Adrianas Sohn – zwar einäugig, aber keineswegs blind – nahm das Liebesverhältnis bereits im April 1491 wahr und der Skandal war perfekt. Rom war für die Kenntnisnahme einer spektakulären Liebschaft gerüstet. Doch noch war die Geliebte ein halbes Kind und der Liebhaber ein Kardinal. Noch konnte der Volksmund nicht von Giulia als der „Braut Christi“ und der „päpstlichen Venus“ sprechen.31 Im Jahr 1492 wurde Giulia Farneses Tochter Laura geboren. Möglichweise entstammte diese Tochter der Liebschaft mit Rodrigo Borgia. Der Madonnentondo in der Sala dei Santi des von Papst Alexander VI. bewohnten Appartamento Borgia zeigt das Bildnis einer Dame, das Giulia Farnese darstellen soll.32 So schreibt François Rabelais zur Zeit Pauls III.: Der Papst hatte eine wunderschöne Schwester. Noch heute zeigt man im Palast, in dem Teil des Gebäudes, den Papst Alexander hat bauen lassen, ein Bild unserer Lieben Frau, das, sagt man, nach ihrem Ebenbild und Aussehen geschaffen wurde.33 Es erübrigt sich der Hinweis, dass es sich bei dem kleinen Kind um Laura handeln soll.

26 Pastor, Ludwig von: Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance, Bd. III, 1. Hlbbd. Freiburg i. Br. 91926, S. 350. 27 La Bella / Mecarolo, Venere, S. 29. 28 Ebd., S. 28. 29 Zapperi, Frauen, S. 79. 30 Vgl. ebd., S. 79. 31 Die Bezeichnungen sind wiedergegeben bei La Bella / Mecarolo, Venere, S. 29. 32 Siehe dazu Poeschel, Sabine: Alexander Maximus. Das Bildprogramm des Appartamento Borgia im Vatikan. Weimar 1999, S. 163f.; Abb.: ebd., S. 376. 33 Übers. bei Poeschel, Alexander, S. 163.

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Die Kardinalsernennung Alessandro Farneses als Frucht eines Borgiabettes Dem ehrgeizigen Alessandro Farnese war es offensichtlich vergönnt, das Anbrechen der für ihn wichtigen Stunden zu spüren, und man kann gut nachvollziehen, was er bei der Wahl Rodrigo Borgias zum Papst fühlte. Am 10. August 1492 war es so weit, aus Kardinal Rodrigo Borgia wurde unter Anwendung simonistischer Praktiken Papst Alexander VI. Am 20. September 1493 wurde der 25-jährige Alessandro Farnese von seinem päpstlichen Pseudoschwager zum Kardinaldiakon kreiert – offenbar nach eingehendem Drängen Giulias.34 Damit wurde er übrigens am selben Tag zum Kardinal erhoben wie der berüchtigte Papstsohn Cesare Borgia, der allerdings seine Kardinalswürde später niederlegen sollte. Tatsächlich dachte man in Anbetracht der Kardinalswürde Cesares über die Möglichkeit der Vererbbarkeit des Papstthrones nach,35 ein Thema, das für die folgenden Jahrzehnte von unterschwelliger Bedeutung gewesen sein dürfte, während des Pontifikats Pauls III. allerdings in Ausdrücklichkeit und Ausführlichkeit reflektiert wurde. Zum Zeitpunkt seiner Kreation war Alessandro lediglich Inhaber niederer Weihegrade gewesen.36 Diese Kardinalsernennung stellte bereits in der Sicht der Zeitgenossen einen unerhörten Vorgang dar. Durch den Volksmund wurde er als cardinal della Gonella (Kardinal vom Unterrock bzw. von des Unterrocks Gnaden), aber auch als cardinal Fregnese bezeichnet,37 womit auf primäre weibliche Geschlechtsmerkmale angespielt wurde. Jedenfalls war es Alessandro Farnese gelungen, das zerwühlte Bett des Borgia-Papstes als gemachtes Bett zu deuten, in das er sich nun selbst legen konnte – dies freilich nur im übertragenen Sinn des Wortes. Einmal Kardinal geworden, konnte es für Alessandro nicht allzu irritierend sein, dass die päpstliche Liebschaft einer harten Belastungsprobe ausgesetzt war: Im Frühling des Jahres 1494 wurde Giulia als Begleiterin der Papsttochter Lucrezia Borgia nach Pesaro geschickt. Bereits am 10. Juni brachte Giulia brieflich ihr Missbehagen über die weite Di34 Zapperi, Frauen, S. 80. 35 Siehe dazu Burckhardt, Jacob: Die Kultur der Renaissance in Italien. Stuttgart o. J. (Neuauflage der Ausgabe Berlin 1928), S. 114f. Und wenn ein Papst seinen Thron schon nicht bei der Familie halten konnte, war es doch angebracht, einen Nachfolger ins Auge zu fassen, der der Familie wohl gesonnen war. Zu einem durch den päpstlichen Zeremonienmeister Johannes Burckard überlieferten Plan Alexanders VI., dem Kardinal Giovanni Battista Orsini den Weg in die Nachfolge zu ebnen, um die Machtstellung Cesare Borgias aufrechtzuerhalten, siehe Reinhardt, Volker: Der unheimliche Papst. Alexander VI. Borgia (1431–1503). München 2005, S. 231. 36 Zapperi, Frauen, S. 23. 37 La Bella / Mecarolo, Venere, S. 11 und S. 165f.

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stanz zum päpstlichen Geliebten zum Ausdruck: In Abwandlung eines Verses des LukasEvangeliums (Lk 12, 34) beteuerte sie, wo ihr Schatz sei, dort würde sich dann auch ihr Herz befinden.38 Wohl nicht zu Unrecht ist vermutet worden, dass der Text des Schreibens schon lange vor der Abreise aus Rom konzipiert worden war, und zwar von niemand Geringerem als dem sorgenvollen Bruder der Geliebten, Alessandro Farnese.39 Auch und nicht weniger zu Unrecht wird davon ausgegangen, dass der auf den multiplen Erwerb kirchlicher Ämter bedachte Pseudo-Papstschwager Urheber eines erpresserischen Versuchs war: Weigerte sich der Borgia-Stier, die Melkkuh des mit sakralem Stallgeruch behafteten Alessandro Farnese zu spielen, so war Giulia ganz im Sinne der heiligen Kirche zu veranlassen, zu ihrem Gatten, dem monoculus, zurückzukehren. Dieses Vorhaben Alessandro Farneses wurde durch eine heftige Reaktion des Papstes quittiert: Alexander VI. untersagte seiner Geliebten unter Androhung der Exkommunikation die Rückkehr zu ihrem Gemahl, die Treulose sollte zu ihm, dem päpstlichen Liebhaber zurückkommen.40 Doch bedeutet „Quittung“ nicht, dass Alessandro für sein freches Ansinnen hätte bezahlen müssen. Im Gegenteil: Im November 1494 wurde er Legat im Patrimonium Petri (und somit dem „Kernbereich“ des Kirchenstaates),41 die Zukunft schien gesichert, weitere kirchliche Karriereschritte nicht gänzlich unwahrscheinlich. Dem Borgia-Papst war freilich das Drängen der sauberen Farnese-Geschwister als zu offensiv erschienen, vorläufig wurde Giulia von ihm fallen gelassen, um freilich sieben Jahre später abermals seine Geliebte zu werden.42

Kardinal Farnese verleiht dem eigenen Bett einen Sinn Im Jahr 1494 starb Alessandros Bruder Angelo kinderlos und entfernte Verwandte hatten entweder selbst schon das Zeitliche gesegnet oder waren hinsichtlich der farnesinischen Liegenschaften nicht erbberechtigt. Eine Ausnahme stellte der entfernt verwandte zwölfjährige Federico Farnese dar. Da die farnesinischen Liegenschaften päpstliche Lehen waren, mussten sie spätestens mit dem Tod des kränkelnden Federico an den Papst zurückfallen, und der im Grunde doch mit Familiensinn ausgestattete Kardinal Alessandro Farnese wusste nun zu handeln. Der drohenden Katastrophe – Rückfall des Familiengutes 38 39 40 41 42

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Zapperi, Frauen, S. 82. Ebd. Ebd., S. 83. Ebd. Reinhardt, Papst, S. 98.

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an den Nachfolger Petri – begegnete er mit der Macht des Bettes: Er gründete mit nachhaltigem Erfolg eine Familie, auch wenn die ersten bekannten Früchte erst spät zu keimen begannen. Das notorische Konkubinat mit der Römerin Silvia Ruffini, einer zu Beginn der Liaison noch nicht verwitweten Dame, war für einen Kardinal keineswegs ungewöhnlich.43 Was die Identität von Alessandros Geliebter betrifft, so darf diese nun als gesichert angenommen werden, obgleich der Name in den Legitimierungsdokumenten ihrer Kinder nirgends angegeben ist.44 Im Palazzo Crispo in Bolsena befindet sich ein Bildnis, das Silvia Ruffini darstellen könnte.45 Ein im Jahr 1495 erworbener unweit des Campo de’ Fiori befindlicher Palazzo war Schauplatz der Familienidylle. Erst im Jahr 1501 sollte Silvias Gatte sterben,46 doch vermutlich noch während der aufrechten Ehe wurde Costanza geboren – zweifelsfrei ein Kind Alessandro Farneses. War Costanza noch zu Lebzeiten von Silvias Ehemann gezeugt worden, so handelte es sich um nichts anderes als um eine Frucht des Ehebruchs, und es nimmt nicht wunder, wenn Alessandro Farnese offensichtlich nichts tat, um zu ihrer Legitimierung beizutragen.47 1503 stellte sich der erste Sohn Pierluigi ein, der als wohlbestallter Herzog von Parma und Piacenza Karriere machte. Zwei weitere Söhne, Paolo und Ranuccio, erlebten dagegen nicht einmal die Wahl ihres Vaters zum Papst. Dass Alessandro ein gewissenhafter Familienvater war, lässt sich nicht bestreiten. Dass er außer der Beziehung zu Silvia Ruffini noch weitere einschlägige Kontakte pflegte, ist nicht ausgeschlossen, doch sind Farneses Beziehungen zu Silvia Ruffini und ihren Verwandten fast unterbrechungslos dokumentiert.48 Im Jahr 1504 ließ sich Alessandro vom schwächlichen Verwandten Federico Farnese zum Universalerben einsetzen,49 und am 8. Juli 1505 erreichte er von Papst Julius II. die Legitimierung seiner beiden ersten Söhne.50 Der päpstliche Schritt inkludierte für Farnese die Erlaubnis, diesen beiden Söhnen die Güter vererben zu dürfen.51 Es ist nicht ausgeschlossen, dass auf jenem von der Hand Raffaels stammenden Bildnis, das den jungen Kardinal Farnese zeigt, dieser mit der besagten Legitimierungsbulle dargestellt 43 44 45 46 47 48 49 50 51

Völkel, Farnese, S. 260. Siehe Zapperi, Frauen, S. 28–32. Siehe ebd., S. 37, Abb. 6 (Erläuterungen ebd., S. 36f.). Ebd., S. 30. Siehe ebd., S. 70. Ebd., S. 32. Ebd., S. 23. Pastor, Geschichte, Bd. V. Freiburg i. Br. 121928, S. 16. Siehe auch Zapperi, Frauen, S. 24. Zapperi, Frauen, S. 23.

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ist.52 Julius II. wird die Legitimierung ohne Widerstreben ausgesprochen haben: Als liebevoller Vater dreier Töchter kannte er die Vorsorgebedürfnisse des Nachwuchses der Geistlichen.53 Der Tod des entfernten Verwandten Federico im Jahr 150754 machte Kardinal Alessandro Farnese zum Großgrundbesitzer und mit gewisser Genugtuung wird er in sinngemäßer Vorwegnahme des Schiller-Zitats Der kluge Mann baut vor an die eigene planerische Gestaltungsfähigkeit gedacht haben. Was Farneses Verhältnis zu Silvia Ruffini, der Mutter seiner Kinder betrifft, so ließ er in der erwähnten Legitimationsurkunde auch die wohl unzutreffende Erklärung anbringen, wonach Silvia von ihm mit einer Mitgift bedacht und mit einem römischen Adeligen verheiratet worden sei.55 Die Verbindung mit ihr war damit offiziell abgebrochen.

Die Geschmeidigkeit eines Schmiegsamen – Alessandro Farnese und die Nachfolger Alexanders VI. Nur unschwer lässt sich erahnen, dass Alessandros Stern nicht mit dem Tod des BorgiaPapstes im Jahr 1503 gesunken ist. Die Spuren Giulias, die 1524 starb, verlieren sich dagegen.56 Bekannt ist einzig ihr Testament – fast ihre gesamte Habe vermachte sie ihrer Tochter Laura. Ihr Bruder Alessandro, der freilich keineswegs am Hungertuch nagte, ging beinahe leer aus. Ihm vererbte Giulia ihr Bett, und damit jenen Gegenstand, der am besten den Grund seines Aufstiegs versinnbildlicht. Alexander VI. erhielt in Pius III. (1503) für vier Wochen einen unmittelbaren Nachfolger, und noch im selben Jahr wurde der bereits erwähnte Julius II. (1503–1513) Papst. Als Giuliano della Rovere war er ein heftiger Gegenspieler des Borgia gewesen, doch ungeachtet dessen hatte Farnese unter dem neuen Regime nicht zu leiden. Zu Recht wurde die friktionsfreie Beziehung zwischen Farnese und dem neuen Papst als Beweis von der außerordentlichen Geschmeidigkeit des Kardinals betrachtet.57 Noch heute ist Julius II. vor allem im kunstgeschichtlichen Kontext bekannt. Doch an dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass während seiner Regierungszeit unter der 52 53 54 55 56 57

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Ebd., S. 24. Vgl. ebd., S. 23. Ebd., S. 23. Ebd., S. 27. Siehe dazu und zum Folgenden ebd., S. 87–89. Pastor, Geschichte V, S. 16. Vgl. auch Friedensburg, Walter: Kaiser Karl V. und Papst Paul III. (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 153), Leipzig 1932, S. 2.

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Ägide opponierender Kardinäle in Pisa ein Konzil einberufen werden sollte.58 Damit hätte sich realisiert, was schon Julius’ Onkel Sixtus IV. befürchtet hatte. Doch Julius II. war ein Mann der Tat: Der Gefahr des überbordenden Konziliarismus begegnete er seinerseits durch Einberufung einer Kirchenversammlung. Es handelte sich um das Fünfte Laterankonzil (1512–1517), eine grundsätzlich reformwillige, aber unter päpstlicher Kuratel stehende Unternehmung.59 Hier fungierte Alessandro Farnese als Vertreter Julius’ II. Im Jahr 1509 erhielt Farnese, der sich erst zehn Jahre später zum Priester weihen ließ, das Bistum Parma. Damit war er formell Bischof einer Stadt, die für das Geschick der Farnese noch große Bedeutung erlangen sollte, denn der dynastische Ruhm der Nachkommen Alessandros strebte gerade hier seinem Höhepunkt zu. Julius II. starb 1513. Sein Nachfolger war Leo X. (gest. 1521), der erste aus dem Haus der Medici stammende Papst. Mit 37 war Leo X. zwar noch jung an Jahren, doch eine lebensbedrohliche Analfistel dürfte zu seiner Wahl, die den ehrgeizigen Kardinälen ein baldiges weiteres Konklave versprach, erheblich beigetragen haben. Mit Alessandro Farnese hatte ihn eine Jugendfreundschaft verbunden.60 Aus dieser resultierte ein reichhaltiger Pfründensegen und -regen. Alessandro Farnese avancierte nun zum Kardinalbischof, und mithilfe des neu erworbenen Reichtums konnte er die Errichtung eines Palazzo in Auftrag geben. Und gerade dieser – übrigens erst 1589 fertiggestellte – Palazzo Farnese, zwischen Via Giulia und Campo dei Fiori gelegen, ist ein Monument der Nachhaltigkeit des Wirkens des umtriebigen Kardinals und späteren Papstes, der nicht nur aus diesem Grund unsterblich geworden ist. Unter Leo X. avancierte Farnese also zum Kardinalbischof, und für das Jahr 1519 – dem Jahr seiner Priesterweihe – gibt es deutliche Belege im Sinne eines ernsthaften Willens Farneses, die Reformbeschlüsse des im Jahr 1517 beendeten Fünften Laterankonzils umzusetzen. Die vorwiegend von Italienern gebildete und unter päpstlicher Kontrolle stattfindende Kirchenversammlung sollte freilich insgesamt zur Kirchenreform nicht viel beitragen. Allerdings wurden Akzente etwa im Bereich der Reform des Ordenslebens gesetzt. 1519 war das Jahr von Farneses Priesterweihe. Jedenfalls ab dieser Zeit darf er zu den tendenziell reformwilligen Kardinälen gezählt werden.61 Das Motiv dieser Wende dürfte freilich zu wesentlichen Teilen auf den eigenen Hoffnungen beruht haben, endlich nach der Tiara greifen zu können. Andererseits bemühte sich Farnese um Absicherung 58 59 60 61

Siehe Jedin, Geschichte I, S. 84–90; Schneider, Konziliarismus, S. 46f. Siehe dazu Jedin, Geschichte I, S. 102–110. Pastor, Geschichte V, S. 17. Vgl. ebd., wo allerdings ein unzulässiges Schwarz-Weiß-Schema angewandt wird.

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der Exis­tenz seiner Familie: Von Leo X. erwirkte er neue Legitimierungsakte für seine Söhne,62 aus denen allerdings auch hervorgehen sollte, dass sich die Mutter dieser Kinder inzwischen mit einem römischen Adeligen verheiratet habe. Damit sollte ein halbamtlicher Schlussstrich zwischen Alessandro und Silvia gezogen werden, was – um es auf den Punkt zu bringen – wohl lediglich zum Schein geschehen ist. Doch zurück zu Leo X., der die ersten reformatorischen Zeichen der Zeit im wahrs­ ten Sinn des Wortes „verschlafen“ haben dürfte: Wenig bekannt ist die Tatsache, dass sein Pontifikat einen Wendepunkt in der Beziehung zwischen Papst und Kardinalskollegium bedeutete. 1517, und damit im selben Jahr, als Martin Luther mit seinen reformatorischen Anliegen an eine breitere Öffentlichkeit trat, wurde in Rom eine Kardinalsverschwörung aufgedeckt.63 Diese hatte alles andere als die Durchsetzung einer Kirchenreform zum Ziel. Genaugenommen war sie aus einem lokalen politischen Konflikt um die Stadt Siena resultiert. Aufgrund seiner Ziele, Leo X. zu beseitigen und schließlich einem Verwandten Julius’ II. zur Tiara zu verhelfen, kann das Vorhaben als durchaus ambitioniert bezeichnet werden. Die Verschwörung wurde allerdings aufgedeckt und dem in der Engelsburg aktiven Henker beträchtliche Arbeit zugeschanzt. Von großem Interesse ist nun eine Maßnahme Leos X., die im Wesentlichen als Reaktion auf die Kardinalsverschwörung aufzufassen ist. Am 1. Juli 1517 ernannte er 31 neue Kardinäle, wodurch die Größe des Kollegiums beinahe verdoppelt wurde.64 Das Kollegium wurde mit einem Schlag auf 64 Personen vergrößert.65 Man kann sich recht gut ausrechnen, welches Potenzial der Nachfolgebeeinflussung Leo X. mit der Kreation vom 1. Juli 1517 zum Einsatz brachte. Und in der Tat dürfte diese für diese Zeiten einzigartige „Massenkreation“ maßgeblich dazu beigetragen haben, dass Leos Vetter Giulio de’ Medici im Jahr 1523 als Klemens VII. zu Leos zweitem Nachfolger gewählt werden konnte.66 Wenn auch nicht Giulio de’ Medici, sondern ein anderer Cousin des Papstes, Luigi de’ Rossi, der sich unter den im Sommer 1517 ernannten Kardinälen ­befand, eher der Wunschnachfolger Leos gewesen sein dürfte, worauf das von Raffael an62 Siehe Zapperi, Frauen, S. 26f. 63 Siehe dazu Nardi, Paolo: Petrucci. In: Reinhardt, Familien, S. 417–421, hier S. 420; Firpo, Massimo: Der Kardinal. In: Garin, Eugenio (Hrsg.): Der Mensch der Renaissance. Frankfurt/Main 1990 (Rom 1988), S. 79–142, hier S. 117f. 64 Zu dieser Kreation siehe Pastor, Geschichte, Bd. IV/1. Freiburg i. Br. 121928, S. 137–142; Firpo, Kardinal, S. 118–120; http://www.fiu.edu/~mirandas/consistories-xvi.htm (22. Juli 2009). 65 Vgl. Firpo, Kardinal, S. 119. 66 Zur quantitativen Bedeutung der Kreation siehe auch Broderick, John F.: The sacred college of cardinals: Size and geographical composition (1099–1986). In: Archivum Historiae Pontificiae 25 (1987), S. 7–71, hier S. 15.

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gefertigte Porträt des Papstes mit seinen beiden Cousins offenbar hinweist, so löste sich das interne Familienproblem beinahe auf natürliche Weise: Bereits im Jahr 1519 erlag de’ Rossi den Folgen eines ausschweifenden Lebens. Die primäre Intention dieser Massenernennung dürfte allerdings nicht im Gedanken der Nachfolgebeeinflussung gewurzelt haben. Nach Aufdeckung der erwähnten Verschwörung war der Papst bestrebt, seine Machtstellung zu konsolidieren. Im Übrigen befand sich der Pontifex in akuten Geldnöten, die vor allem aus einem im Medici-Interesse geführten Krieg resultierten. Auf Leo X. folgte der in Abwesenheit gewählte, aus Utrecht stammende Adrian Florensz Dedel als Hadrian VI. (1522–1523). Es war eine Überraschungswahl, die auf einen gar nicht anwesenden Kardinal gefallen war und bei der Giulio de’ Medici und Alessandro Farnese als bedeutendste Favoriten hatten gelten können. Dieser kurzlebige Reformpapst ernannte überhaupt nur einen Kardinal,67 und das gegen den Widerstand des Kollegiums. Mit der Kirchenreform war es Hadrian VI. durchaus ernst, und hätte er auch die faktische Macht gehabt, das Kardinalskollegium durch weitere Ernennungen zu ergänzen, hätte er über seinen Tod hinaus nachhaltige Kirchenreformen bewirken können. Doch offensichtlich waren ihm deutliche Grenzen auferlegt. Auch unter diesem Außenseiterpapst stand Farnese in hohem Ansehen und im Jahr 1523 durfte er sich die besten Aussichten auf die Papstwürde ausrechnen. Die Lebensqualität Farneses wurde freilich durch zwei Ereignisse getrübt: Nicht nur nach dem Tod Leos X., sondern auch nach dem Hinscheiden Hadrians VI. durfte er sich in vernünftiger Weise Chancen auf die eigene Wahl zum Papst ausrechnen. Betrachtet man das Durchschnitts­ alter seiner Vorgänger, so wäre gerade für einen ehrgeizigen Mann wie ihn das Avancement zum Papsttum zwingend und folgerichtig gewesen und der bereits damals bekannte Grundsatz, wer das Konklave als Papst betritt, verlasse es nachher als Kardinal, war schon zu dieser Zeit durch zahlreiche Ausnahmen durchbrochen worden, und Ausnahmen beschädigen bekanntlich die Regel. Obgleich sich auch das Verhältnis Alessandros zu seinem unmittelbaren päpstlichen Vorgänger Klemens VII. (1523–1534) recht erfreulich gestaltete, soll er diesem posthum doch vorgeworfen haben, ihn um ein Jahrzehnt des eigenen Pontifikats gebracht zu haben.68 Allzu gerne wäre Alessandro Farnese bereits in den Zwanzigerjahren des 16. Jahrhunderts Papst geworden.

67 Siehe http://www.fiu.edu/~mirandas/bios1523.htm#Enckenvoirt (22. Juli 2009). 68 Siehe Friedensburg, Karl V., S. 2.

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Als zweiter Papst aus dem Hause der Medici förderte Klemens VII. die Interessen seiner Familie in drastischer Weise. Er zeigte sich den reformatorischen Strömungen gegenüber passiv und setzte keine ernst zu nehmende Initiative im Sinne der Einberufung eines allgemeinen Konzils. Dabei mag der Gedanke eine Rolle gespielt haben, dass seine illegitime Herkunft in irgendeiner Weise durch die Konzilsteilnehmer reflektiert und als Anlass zur Beschädigung seines Ansehens genommen werden könnte.69 Sein unglückliches Lavieren zwischen Habsburg und Frankreich führte schließlich im Jahr 1527 zur erwähnten Plünderung Roms durch kaiserliche Landsknechte. Dem Papst, dem es gelang, für einige Zeit in der Engelsburg Zuflucht zu finden, wurde hier deutlich vor Augen geführt, in welcher Weise den Petrusnachfolgern durch die eigenen Glaubensbrüder Schranken auferlegt werden konnten. Alessandro Farnese gelang ebenfalls die Flucht in die Engelsburg, und wie so viele andere Kirchenfürsten blieb ihm dieser Wendepunkt der römischen Renaissance stets als warnendes Zeichen vor Augen. Unter Klemens VII., während dessen Pontifikat er zum Kardinaldekan avancierte, nahm Farnese eine zentrale Stellung als Berater und Legat ein. Nicht nur dass Farnese bei praktisch allen Nachfolgern Alexanders VI. ein gutes „standing“ hatte: auch beim römischen Volk war dieser Kardinal ungemein beliebt. Es verwundert daher auch nicht, dass Klemens VII. Alessandro Farnese als seinen Nachfolger empfohlen haben soll.70 Dabei dürfte als Motiv eine materielle Absicherung des Nepoten Ippolito de’ Medici über den Tod Klemens’ VII. hinaus im Vordergrund gestanden sein.71 Klemens VII. hatte die letzten sieben Jahre seines Pontifikats in leidvollem Gedächtnis an die Plünderung zugebracht. Am 25. September 1534 starb er schließlich. Die Wahl Alessandro Farneses erfolgte dann sehr schnell. Am 11. Oktober 1534 wurde das Konklave bezogen, am 13. Oktober das Wahlergebnis bekannt gegeben. Alessandro Farnese hatte die Stimmen aller anwesenden Kardinäle (33 von 46) erhalten.72 Die Wähler Pauls III., die ihren Papst so einmütig erhoben hatten, sollten sich allerdings in ihrer Hoffnung auf dessen baldiges Ableben täuschen. Der Pontifikat des neuen Papstes ist mit seinen fünfzehneinhalb Jahren der längste des 16. Jahrhunderts gewesen … 69 Vgl. Pandimiglio, Leonida: Medici. In: Reinhardt, Familien, S. 338–359, hier S. 348. 70 Siehe dazu Holder, Karl: Die Designation der Nachfolger durch die Päpste. Freiburg (Schweiz) 1892, S. 78–82. 71 Siehe dazu Petruccelli della Gattina, Ferdinando: Histoire diplomatique des conclaves, Bd. II. Paris 1864, S. 2f. 72 Zu den Teilnehmern des Konklaves 1534 siehe http://www.fiu.edu/~mirandas/conclave-xvi.htm (22. Juli 2009).

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Papst Paul III. (1534–1549) Förderung des geistlichen Nachwuchses und weitere päpstliche Regierungsmaßnahmen Die jüngste Papstgeschichte zeigt, dass ehemalige Dekane des Heiligen Kollegiums bei Antritt ihres neuen Jobs durchaus nicht als unerfahren gelten müssen, und so verhielt es sich auch mit Paul III., der – wie überliefert – mit frischer Gesichtsfarbe und lebhaften Augen73 seine Arbeit aufnahm. Doch wesentliche päpstliche Aufgaben waren völlig anders gelagert als heute. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit bezeigte Paul III. seiner Nachkommenschaft bedeutende Gunst­ erweise. Bereits am 18. September 1534 ernannte er zwei Enkel zu Kardinälen: Alessandro Farnese den Jüngeren, den Sohn Pierluigis, und Guido Ascanio Sforza, den Sohn seiner Tochter Costanza.74 Es sollte fünf Monate dauern, bis der Papst weitere Kardinäle ernannte – die beiden Enkel zieren gewissermaßen die Spitze einer langen Reihe von Personen, die in den nachfolgenden 15 Jahren den roten Hut erhielten. Unter diesen weiteren Kardinälen sollte sich mit Ranuccio Farnese dann übrigens ein dritter Papstenkel befinden.75 Die in seinem langen Leben angehäuften Pfründen verteilte der Papst sorgfältig auf seine purpurgeschmückten Enkel.76 Alessandro wurde von seinem Großvater mit so zahlreichen Aufgaben betraut, dass von einer Institutionalisierung des Amtes eines Kardinalnepoten gesprochen werden kann. Dem 18-Jährigen wurde im Jahr 1538 die Führung der diplomatischen Korrespondenz anvertraut, und bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts sollte die Institution des Kardinalnepoten in der Weise bedeutsam sein, dass dieser als „eine Art Vize-Papst für den weltlichen Bereich“ aufgefasst werden kann.77 Alessandro Farnese der Jüngere hatte den Kardinals-Purpur vor allem in der Hoffnung empfangen, dem Großvater einmal selbst nachfolgen zu können.78 Er ist gemeinsam mit Paul III. und seinem Bruder Ottavio auf einem Bild zu sehen, das Tizian vermutlich im 73 Friedensburg, Karl V., S. 2. 74 Siehe http://www.fiu.edu/~mirandas/consistories-xvi.htm (22. Juli 2009). 75 Zu Ranuccio Farnese siehe http://www.fiu.edu/~mirandas/bios1545.htm#Farnese (22. Juli 2009). Er war erst 1530 geboren worden und wurde mit 15 Jahren zum Kardinal ernannt. 76 Zapperi, Tizian, S. 57. 77 Reinhard, Wolfgang: Nepotismus. Der Funktionswandel einer papstgeschichtlichen Konstanten. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 86 (1975) S. 145–185, hier S. 171f. Vgl. auch Menniti Ippolito, Antonio: Il governo dei papi nell’età moderna. Carriere, gerarchie, organizzazione curiale (= La storia. Temi 2) Rom 2007, S. 117–124. 78 Völkel, Farnese, S. 263.

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Jahr 1545 begonnen hat und unvollendet geblieben ist. Es ist das berühmteste Porträt Pauls III. Kardinal Alessandro Farnese der Jüngere war auf diesem Bild ursprünglich weiter links positioniert,79 und indem er in der aktuellen Fassung des Bildes dem Papst wesentlich nähergerückt ist, wird etwas zum Ausdruck gebracht, das an die Geltendmachung eines Erbanspruchs erinnert. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als Paul III. damals den Eindruck vermittelte, als wollte er seinen Enkel auf die Nachfolge vorbereiten. Dabei ist allerdings davon auszugehen, dass der Papst eine unmittelbare Nachfolge Alessandros nicht für möglich hielt und den auf seinen mit weltlicher Machtfülle ausgestatteten Bruder Ottavio eifersüchtigen Alessandro mit der Hoffnung auf die höchste Würde der Christenheit bloß ruhigstellen wollte.80 Alessandro Farnese der Jüngere nimmt auf dem Bild Tizians somit eine ähnliche Position ein wie Kardinal Luigi de’ Rossi auf dem Porträt Leos X.81 Doch während die Zügellosigkeit den allfälligen Plänen dieses Kardinals und dem Leben desselben ein Ende gesetzt hatte, überlebte Alessandro Farnese der Jüngere seinen Großvater um vier Jahrzehnte. Begünstigt wurden auch viele Verwandte von Silvia Ruffini. Wie es freilich Silvia selbst ergangen sein mag, ist schon deswegen schwer zu sagen, weil sie sich offensichtlich vom Papsthof völlig fernhalten musste.82 Möglicherweise hat das Verhältnis zu Silvia Ruffini in all diesen Jahren angedauert, sehr wahrscheinlich ist dies allerdings nicht. Der Papst dürfte sein Bett tatsächlich nur zur Befriedigung seines Schlafbedürfnisses benutzt haben. Mehr oder weniger direkte Andeutungen über homosexuelle Beziehungen dürften aus der Luft gegriffen sein, auch wenn Paul III. vermutlich nicht der einzige Papst des 16. Jahrhunderts gewesen wäre, der solche Neigungen ausgelebt hätte. Wenn Martin Luther für Paul III. die Bezeichnungen Heilige Jungfraw S. Paula Bepstin, der Sodomiten Bapst oder der Hermaphroditen Bischoff und Puseronen Papst gebrauchte,83 so scheint es sich um Polemiken zu handeln, die ihre authentische Spur möglicherweise in der notorischen Homosexualität des Papstsohnes Pierluigi Farnese finden.84 Die in diesen Äußerungen beinhaltete Behauptung, Paul III. sei homosexuell gewesen, könnte ihre Grundlage auch darin finden, dass Luther sich zur Zeit Julius’ II. in Rom aufgehalten hatte, und dieser war seinen 79 80 81 82 83

Dazu und zum Folgenden Zapperi, Tizian, S. 15. Siehe ebd., S. 48 und 65. Siehe dazu ebd., S. 79. Dazu und zum Folgenden siehe Zapperi, Frauen, S. 34f. Luther, Martin: Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet. In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 54, Weimar 1928, S. 195–299, hier S. 223 und S. 227. 84 Zitate bei Zapperi, Frauen, S. 40. Siehe dazu auch Weber, Christoph: Senatus Divinus. Verborgene Strukturen im Kardinalskollegium der frühen Neuzeit (1500–1800) (= Beiträge zur Kirchen- und Kulturgeschichte 2). Frankfurt/Main 1996, S. 45.

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homosexuellen Neigungen nachweislich noch während seines Pontifikats nachgegangen.85 Was die ersten Regierungsjahre Pauls III. betrifft, ist noch festzuhalten, dass er im Jahr 1537 eine Allianz mit Venedig gegen die Türken zustande brachte, aber besonders folgenreich war dieses Bündnis trotz weiteren Beitritts bedeutender weltlicher Mächte nicht. Das Verhältnis zu Kaiser Karl V. gestaltete sich wechselvoll: Nicht, dass der Papst dem Kaiser von Natur aus abgeneigt gewesen wäre. Doch immerhin hatte er ihm jene Plünderung Roms zu „verdanken“, im Zuge derer er sich noch als Kardinal in der Engelsburg hatte aufhalten müssen. Doch bei allen Höhen und Tiefen der Papst-Kaiser-Beziehung ist doch eines bemerkenswert: Paul III. hat es vermocht, seinen eigenen Enkel Ottavio Farnese – er ist auf dem Bild Tizians rechts zu sehen – mit Margarethe, einer natürlichen Tochter Kaiser Karls V., vermählen zu lassen (1538), und ein derartiger Fall sucht seinesgleichen in der Papstgeschichte.86 Durch die Heirat einer Kaisertochter mit einem Papstenkel wurden geistliches und weltliches „Haupt der Christenheit“ in ein derart enges schwägerschaftliches Verhältnis gehievt, wie dies nie zuvor und danach der Fall gewesen war. Doch in gewissem Sinn ist zu relativieren: Ottonische und salische Reichspolitik hatten es im 10. und 11. Jahrhundert zuwege gebracht, gleichzeitig mit einem römischen Kaiser dessen Cousin auf dem Papstthron regieren zu lassen. Nun: Im Mittelalter wie auch in der Renaissancezeit haben diese Verwandtschafts- und Schwägerschaftsverhältnisse tatsächlich keinen Supermoloch entstehen lassen, an dem kein anderer weltlicher Herrscher oder Kirchenfürst vorbeikommen hätte können. Im Gegenteil: Die latenten Differenzen zwischen Paul III. und Karl V. haben nicht abgenommen, Ehen werden auch dann nicht im Himmel geschlossen, wenn der ehestiftende Großvater ein Nachfolger Petri ist.

85 Zapperi, Frauen, S. 41. 86 Bei Beschreibung papsthistorischer Vorgänge sind Worte wie „nie“, „immer“ oder „erstmals“ nach Tunlichkeit zu vermeiden. Und wenn nun behauptet wird, ein derartiger Fall dynastischer Synthese zwischen den beiden Häuptern der Christenheit habe sich nur damals ereignet, so muss doch der warnende Zeigefinger erhoben werden: Bereits für das hohe Mittelalter ist ein – allerdings nie umgesetzter – Heiratsplan belegt, demzufolge ein Neffe Innozenz’ III. (1198–1216) eine Tochter Philipps von Schwaben hätte heiraten sollen, der als deutscher Thronanwärter Ambitionen auf die Kaiserwürde hegte. Die Existenz dieses vom Chronisten Burchard von Ursperg (gest. 1226) überlieferten Plans (Chronicon, ed. Holder-Egger, Oswald / Simson, Bernhard von: Scriptores rerum Germanicarum, Bd. XVI. Hannover 1916, S. 88f.) ist zwar in der Forschung auf Zweifel gestoßen, doch wird man aus heutiger Sicht zumindest vom authentischen Kern eines solchen ausgehen können. Darüber hinaus darf noch erwähnt werden, dass es Fälle enger Verwandtschaft zwischen Kaisern und Päpsten gab. Im vorliegenden Beitrag wird auch nicht auf weitere bedeutende dynas­ tische Vernetzungen zwischen den Farnese und anderen hochgestellten Familien eingegangen.

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Die ersten Farnese-Herzöge Zum Zeitpunkt der Thronbesteigung Pauls III. lebten von seinen Kindern nur noch Pierluigi und Costanza. Ersterer wurde zunächst vom Vater mit Castro beliehen, dann auch zum Markgrafen von Novara ernannt, und schließlich dank väterlicher Hilfe Herzog von Parma und Piacenza. Im Gegenzug für diesen Karriereschritt, der übrigens ohne Zustimmung Karls V. erfolgt war,87 hatte Castro an seinen Sohn Ottavio zu fallen. Im Jahr 1547 wurde Pierluigi schließlich von einem Adeligen aus Piacenza erdolcht. Durch Pierluigi war es dem Papst möglich geworden, Nachkommenschaft im Mannesstamm reichlich zu sichern. Von den vier Söhnen Pierluigis wurden bereits Kardinal Alessandro Farnese der Jüngere, Ottavio und Ranuccio erwähnt. Die Produktion von Nachkommenschaft war gerade im Fall Pierluigis keineswegs eine sichere Angelegenheit, waren seine homosexuellen Neigungen und vor allem deren nicht selten gewaltbehaftete Ausübung doch weithin bekannt. Der päpstliche Vater äußerte seine Sorge, doch hinderte dies Martin Luther nicht daran, Paul III. und seinen Sohn als Komplizen in Sachen „Sodomie“ hinzustellen: Da redet abermal der verzweivelte Spitzbube und bösewicht Paulus mit seinen Herma­ phroditen sein rotwelsch, gerade, als wüste kein Mensch, was jr hellisch, teuflisch wesen zu Rom sey, und wie er selbs, der unsettige, grundlose geitzwanst Paulus, sampt seinem Son, mit der Kirche güter umbgehet.88 Nachfolger des im Jahr 1547 erdolchten Pierluigi Farnese wurde dessen Sohn Ottavio, doch der Weg zum Herzogtum Parma war mit Hindernissen gepflastert: Dabei zeigt sich, dass weder das Verwandtschaftsverhältnis zum päpstlichen Großvater noch die schwägerschaftliche Beziehung zu Karl V. einen Freibrief für die Nachfolge in Parma und Piacenza bedeutete. Piacenza wurde nämlich durch Truppen Karls V. besetzt, und in Parma setzte Paul III. einen päpstlichen Legaten ein. Ottavio sollte mit Camerino zufriedengestellt werden. Gegen diesen Plan leistete er offen Widerstand und das öffentliche Auftreten gegen den päpstlichen Großvater dürfte dessen Tod im Jahr 1549 beschleunigt haben. Unter Pauls unmittelbarem Nachfolger wurde schließlich 1551 Parma an Ottavio übergeben.

87 Völkel, Farnese, S. 262. 88 Luther, Papsttum, S. 222.

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Die Tochter Costanza Costanza stand den Jesuiten sehr nahe, die sich erst im Sommer 1534 mit dem Willen der Gründung einer dauerhaften Gemeinschaft zusammengefunden hatten. Sie war es, die ihrem Vater die im Jahre 1540 erfolgte päpstliche Bestätigung der Ordensregel nahegelegt hatte.89 Den päpstlichen Palast soll sie täglich aufgesucht haben, und dabei kümmerte sie sich um die notwendige Pflege des greisen Vaters.90 Costanzas Einfluss auf ihren Vater darf nicht überschätzt werden,91 nachweislich wurde sie freilich von Diplomaten als Brückenkopf bzw. Verbindungsperson für die Artikulierung von deren Anliegen einbezogen.92

Ein wohl oder übel ungläubiger Papst als Vater der Gegenreformation Vor allem vier Maßnahmen sind es, die Papst Paul III. als Vater der Gegenreformation erscheinen lassen: Die Anerkennung des Jesuitenordens, die Gründung der römischen Inquisition, die Ernennung zahlreicher reformwilliger Kardinäle und schließlich die Einberufung und Eröffnung des Konzils von Trient. Die Anerkennung des Jesuitenordens, der sich im Jahr 1534 unter Anleitung des Ignatius von Loyola gebildet hatte, erfolgte im Jahr 1540 und dies – wie bereits ausgeführt – auf besondere Bitten der Papsttochter Costanza Farnese. Aus Sicht der Nachwelt mag es übrigens der deutlichste Beleg für die Ambivalenz des paulinischen Pontifikats sein, dass ausgerechnet eine Papsttochter eine so wichtige Rolle bei der Anbahnung der Gegenreformation spielte. Was die Einrichtung der römischen Inquisition im Jahr 1542 betrifft,93 so stellte diese insofern kein Novum dar, als bereits zehn Jahre zuvor Klemens VII. einen Generalinquisitor für ganz Italien ernannt hatte. Doch war diese Maßnahme ohne Auswirkung geblieben. Nun kam es zur Einsetzung einer Untersuchungskommission aus sechs Kardinälen, die als für die gesamte Christenheit zuständiges oberstes päpstliches Inquisitionstribunal gegen 89 Siehe Seppelt, Franz Xaver: Geschichte der Päpste, Bd. V: Das Papsttum im Kampf mit Staatsabsolutismus und Aufklärung. Von Paul III. bis zur Französischen Revolution. München 21959, S. 19. 90 Zapperi, Frauen, S. 64. 91 Vgl. ebd., S. 67f. 92 Siehe ebd., S. 68f. 93 Siehe etwa Schwerhoff, Gerd: Die Inquisition. Ketzerverfolgung in Mittelalter und Neuzeit. München 2004, S. 96–99.

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Häresien zu ermitteln und zentral über die Reinheit des Glaubens zu wachen hatten. Die spanische Inquisition diente dabei als Vorbild. Paul III. hat in seiner 15-jährigen Regierungszeit 71 Kardinäle ernannt. Unter den Ernannten befanden sich nicht nur zahlreiche reformwillige Personen, sondern auch Männer, die einschlägige Vorhaben auch tatsächlich umsetzten. Auf den ersten Blick ergibt sich der Eindruck, dass sich der in Wahrheit reformunfreudige Papst potenzielle Feinde „gezüchtet“ hat. Doch letztlich handelte es sich zum guten Teil um Personen, die im Zweifel die Jurisdiktion des Papstes über die Macht eines Konzils stellten.94 Das schon seit Jahrzehnten geforderte Konzil konnte schließlich im Dezember 1545 in Trient zusammentreten.95 Dem war ein jahrelanges Hickhack vorangegangen. Drei Monate davor war es zu einem Friedensschluss zwischen Kaiser Karl V. und dem französischen König Franz I. gekommen. Die Anhänger der Reformation hatten ein Konzil gewünscht, das so allgemein sein sollte, um ihnen selbst offenzustehen. Dazu ist es nicht gekommen. Was die Wahl des Ortes betraf, so war Trient formell Stadt des Reiches und damit nicht im unmittelbaren Einflussgebiet des Papstes gelegen, der sich durch drei Kardinäle vertreten ließ. Karl V. hatte eine Beschränkung der Themen auf Angelegenheiten der Disziplin und Kirchenreform verlangt. Doch hier setzte sich der Papst durch, der in all diesen Belangen um seine eigene Stellung hätte fürchten müssen.96 Das in dieser Phase äußerst spärlich besuchte Konzil widmete sich dogmatischen Fragen, fällte Beschlüsse bezüglich des Stellenwerts der Heiligen Schrift und der Überlieferung und nahm zu Themen wie „Erbsünde“, „Rechtfertigung durch den Glauben“ und „Sakramente“ Stellung. Damit wurde freilich ein Trennungsstrich zwischen Anhängern der Reformation und römischer Kirche gezogen. Differenzen mit Kaiser Karl V. führten schließlich dazu, dass das Konzil nach Bologna verlegt wurde. Die von vornherein mindere Bedeutung, die dem reformerischen Wirken 94 Vgl. Zapperi, Frauen, S. 67: Zu Kardinälen erhob er nur solche Männer, die er kontrollieren oder doch wenigstens im gegebenen Augenblick zur Neutralität veranlassen konnte. Vgl. ferner Menniti Ippolito, Governo, S. 86. Zu den Kreationen Pauls III. siehe ausführlich Vercruysse, Jos E.: Die Kardinäle von Paul III. In: Archivum Historiae Pontificiae 38 (2000) S. 41–96; http://www.fiu. edu/~mirandas/consistories-xvi.htm (22. Juli 2009). 95 Der lange Weg zum Konzil von Trient, der unter dem Blickwinkel eines sich ändernden Papsttums eben doch ein relativ kurzer sein sollte, ist ausführlich umrissen bei Venard, Marc: Die katholische Kirche. In: Mayeur, Jean-Marie / Pietri, Charles / Vauchez, André (Hrsg.): Geschichte des Christentums, Bd. VIII: Die Zeit der Konfessionen (1530–1620/30). Freiburg i. Br. 1992 (Paris 1992), S. 239–308, hier S. 251–256. Vgl. auch Jedin, Geschichte I, S. 232–434. 96 Zur eher zögerlichen Haltung des Papstes bei der Behandlung der Zölibatsthematik siehe Denzler, Georg: Das Papsttum und der Amtszölibat. Bd. II: Von der Reformation bis in die Gegenwart (= Päpste und Papsttum 5/2), Stuttgart 1976, S. 194–200.

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des Konzils in der ersten Phase zukommt, wurde nun für Pauls Lebzeiten endgültig marginalisiert. Erst in späteren Phasen und lange nach dem Tod Pauls III. ist es seitens des Konzils, das unter Paul vorerst einmal aufgehoben worden war, zu Reformbeschlüssen gekommen. Die nähere Betrachtung der Persönlichkeit Pauls III. macht plausibel, warum der Weg vom Appartamento Borgia zum Konzil von Trient ein so kurzer sein konnte: Er hat zwar formell das Konzil von Trient in die Wege geleitet, aber diesen Schritt hat er wohl nur unwillig gesetzt, und die eigentliche Kirchenreform am Haupt durfte während seines Pontifikats nicht angegangen werden. Im römischen Volk erkannte man bald, dass der Weg zwischen Lasterhaftigkeit und Kirchenreform ein sehr kurzer sein konnte. Pasquino, die berühmteste statua parlante, trug ein Gedicht, das diesen Sachverhalt mit gewisser Übertreibung, aber in gebotener Kürze benennt: Partorì Gesuiti e Sant’Uffizio Concilio Tridentino e poi si rese Col figlio, rinomato per il vizio Sicché ognun lo chiamò „Papa Fregnese“97

Ein alter Fuchs auf dem Sterbebett Paul III. war viel zu sehr Realist, um eine unmittelbare Nachfolge des Enkelsohns für möglich zu halten. Doch wenn es schon nicht möglich war, das Amt bei der Familie zu halten, so konnte doch einiges unternommen werden, um wenigstens deren Silber zu sichern. So musste zumindest die Wahl eines Nachfolgers, der in Anbetracht der FarneseReichtümer in Wallung geraten konnte, von vornherein unmöglich gemacht werden. Als im April 1549 dem Papst die Denkschrift eines Kardinals vorgelegt wurde, in der dem Kardinal Giovanni Salviati die größten Chancen für die Nachfolge zuerkannt wurden, geriet der 81-jährige Pontifex in höchste Erregung.98 Dass man sich vorsorgliche Gedanken 97 Abgedruckt bei La Bella / Mecarolo, Venere, S. 166. Dies kann – etwas frei – übersetzt werden: Er gebar die Jesuiten, das Heilige Offizium und das Konzil von Trient. Dann widmete er sich seinem verlotterten Sohn, sodass man ihn nun als „Papst Möse“ kennt. 98 Dazu und zum Folgenden Pastor, Geschichte, Bd. VI. Freiburg i. Br. 121928, S. 5; vgl. auch Müller, Gerhard: Die Kandidatur Giovanni Salviatis im Konklave 1549/50. Zwei Briefe Pietro Bertanos vom Hof Karls V. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 42/43 (1963) S. 435–452; Vercruysse, Kardinäle, S. 90; Menniti Ippolito, Governo, S. 114.

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über die Stellennachbesetzung machte, konnte noch hingehen. Dass freilich Salviati als ein entschiedener Gegner der Farnese-Herrschaft in Parma und Piacenza galt, dies musste den Missmut des sorgenvollen Greises schüren. Und er drohte damit, fünfzig Kardinäle zu ernennen, um Salviatis Wahl von vornherein unmöglich zu machen. Eine derartige Aktion wäre selbst für einen so regierungsgewandten Papst wie Paul III. aus vielerlei Gründen nicht durchführbar gewesen. Womöglich wäre die Gefahr eines Schismas am Horizont sichtbar geworden. Doch tatsächlich ist festzuhalten, dass beim letzten Kreationstermin Pauls III., am 8. April 1549, vier Kardinäle ernannt wurden, die ihm in einer Weise ergeben waren, dass man von einem (vom Ergebnis her geglückten) Versuch ausgehen darf, eine Kandidatur Salviatis beim nächsten Konklave zu vereiteln. Auf dem Totenbett mahnte Paul III. die seiner Familie nahestehenden Kardinäle zur Einigkeit: Die Wahl eines missgünstigen Kardinals sollte jedenfalls verhindert werden. Seinem ehrgeizigen Enkel gab er recht deutlich zu erkennen, dass er – zumindest für die nächsten Jahre – nicht mit einer Amtsnachfolge zu rechnen brauche: Jedenfalls sei nämlich zu beachten, dass das Papsttum nicht gesucht werden will, und daß, wer es sucht, es nicht findet.99 Am 10. November 1549 verstarb der Papst. Silvia Ruffini folgte ihm im Jahr 1561. Von ihrem Liebhaber war sie vermutlich mit so viel Geld bedacht worden, dass sie sich eine respektable Behausung leisten konnte.100 Wiederholt versuchte Kardinal Alessandro Farnese der Jüngere die Tiara zu erlangen. Bei mehreren Papstwahlen stand er als Favorit im Vordergrund und das Fundament seiner Macht beruhte hauptsächlich auf Geld. Von einem Kardinalskollegen im Jahr 1565 als praepotens divitiis et clientelis (übermächtig durch Reichtümer und Klientel) bezeichnet,101 verfügte der 1589 verstorbene jüngere Farnese-Kardinal über regelmäßige Einkünfte, deren Höhe sich mit dem Vermögensbestand ebenfalls nicht unbetuchter Kardinalskollegen messen konnte.102 Dabei ist zu berücksichtigen, dass Farnese seinerseits andere Kardinäle mit regelmäßigen Zuwendungen ausstattete und diese bei den einzelnen Papstwahlen gewissermaßen in der Schuld ihres Mentors standen. Der jüngere Farnese-Kardinal war wiederholt der quasi-ex-moneta-papabile, und gerade dieses permanente Favoritendasein dürfte seinen Karriereplänen nicht zuträglich gewesen sein. Das 2-Drittel-Zustimmungssystem bei Papstwahlen verlockte seine Gegner immer wieder, eine Drittelsperrminorität zu bilden, und damit blieben sie stets erfolgreich. 99 Zitiert bei Zapperi, Tizian, S. 66. 100 Zapperi, Frauen, S. 35. 101 Firpo, Kardinal, S. 98. 102 Ebd.

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Leben eines Papstes über den Tod hinaus? In vielerlei Hinsicht hat sich Paul III. ein immerwährendes Andenken bewahrt. Da ist zum einen sein Grabmal zu nennen, für dessen Errichtung der Papst noch selbst gesorgt hatte.103 Es wurde von Guglielmo della Porta errichtet und in den späten 1550er-Jahren vollendet. Die Bronzestatue Pauls III. war ursprünglich von vier Marmorskulpturen umgeben, die jeweils in Gestalt einer Frau eine der vier Haupttugenden darstellten, und es fehlte nicht an Stimmen, die von einer Ähnlichkeit mit den vier wichtigsten Frauen im Leben des Papstes (Mutter, Schwester, Geliebte und Tochter) ausgingen. Pauls III. Pontifikat eignet sich sehr gut für die Untersuchung der Möglichkeiten, die einem Papst zur Verfügung standen, um seine Nachfolge zu beeinflussen. Halten wir uns vor Augen, dass zuletzt im Jahr 1362 ein Nichtkardinal aus einer unstrittigen Wahl als Papst hervorgegangen war, und beachten wir, dass den Päpsten grundsätzlich das ausschließliche Recht der Kardinalsernennung zukam, so kann es nicht erstaunen, dass die vier unmittelbaren Nachfolger Pauls III. zuvor von diesem zum Kardinal ernannt worden waren.104 Mit anderen Worten: Paul III. hatte diesen vier Herren im Wege der Kardinalskreation einen entscheidenden Schritt zur Erlangung der Papstwürde ermöglicht. Das heißt freilich nicht, dass diese vier Herren bedingungslos in den Spuren des FarnesePapstes gewandelt wären. Dazu unterschieden sie sich viel zu sehr voneinander. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass selbst unter den Nepoten Pauls III. im Kardinalskollegium Uneinigkeit wahrzunehmen war. Zumindest einer tendierte im Konklave von 1549/50 ­gerade zu jenem Kardinal Salviati, dessen Wahl Paul III. hatte vereiteln wollen. Bei den kommenden Papstwahlen zeigte sich dann – wie auch recht oft bei den späteren Papstwahlen –, dass die Nepoten ein und desselben Papstes völlig unterschiedliche Parteien anführen konnten. Es ist durchaus möglich, dass die unter Paul III. reflektierte Möglichkeit der Vererblichkeit des Papsttums dazu beigetragen hat, dass gerade nach dem Tod dieses Papstes das ius exclusivae eine nie da gewesene Rolle spielte. Weltliche Mächte konnten nun in mehr oder weniger direkter Weise ins Wahlgeschehen eingreifen, der drohende Übergang zur Erblichkeit der Papstwürde dürfte hier den Ausschlag gegeben haben. 103 Siehe dazu Zapperi, Frauen, insb. S. 11–19; Gormann, Andreas / Zitzlsperger, Philipp: Des Papstes neue Kleider. Das Grabmal Papst Pauls III. Farnese (1534–1549). In: Bredekamp, Horst / Reinhardt, Volker (Hrsg.): Totenkult und Wille zur Macht. Die unruhigen Ruhestätten der Päpste in St. Peter. Darmstadt 2004, S. 85–97. 104 Dabei ist zu beachten, dass mehr als drei Viertel der rund 50 Wähler des Konklaves von 1549/50 von Paul III. kreiert worden waren: Vgl. Pastor, Geschichte VI, S. 7; http://www.fiu. edu/~mirandas/conclave-xvi.htm (22. Juli 2009).

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Produktion und Förderung der Nachkommenschaft durch Alessandro Farnese den Älteren hat dazu geführt, dass Nachkommen eines Papstes zu Hauptakteuren der europäischen Politik wurden.105 In diesem Zusammenhang ist an die Verleihung von Parma und Piacenza an Pierluigi Farnese zu denken, aber auch die Positionierung von Nachkommen im Kardinalskollegium. Die Verheiratung des Papstenkels Ottavio mit einer unehelichen Tochter Karls V. sicherte den Farnese schließlich den gesamteuropäischen Rang weit über den Tod Pauls III. hinaus. Und so ist das Weiterleben Pauls III. auf eine Art und Weise gesichert, die für einen Papst doch sehr ungewöhnlich ist: Es geht um seine nachweisbare Existenz in den Stammbäumen heute lebender Akteure. Dies ist ungeachtet des unrühmlichen Aussterbens der Farnese-Dynastie im 18. Jahrhundert der Fall.106 Nicht nur die wenigen katholischen Mo­ narchen, die heute noch in Europa lebensberechtigt sind, zählen Paul III. zu ihren Vorfahren.107 Darüber hinaus darf jede Person, deren Familie seit Jahrhunderten dem Adel angehört, mit einem respektablen Maß an Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, Paul III. zu ihren Vorfahren zählen zu können.

105 Völkel, Farnese, S. 261. 106 Siehe dazu ebd., S. 274f. 107 Siehe Williams, George L.: Papal genealogy. The families and descendants of the popes. Jefferson (North Carolina) 1998, S. 79; http://fabpedigree.com/s060/f335961.htm (22. Juli 2009).

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Von „idealen Erzherzoginnen“ und den „Hengsten Europas“ Initiation, Heirat und Ehe an Europas Fürstenhöfen

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ie Bühne des genealogischen Welttheaters ist voll von Akteuren, wenngleich die höfische Geschichtsschreibung den einen oder anderen lieber im Dunkel der Geschichte belassen würde. Es wird jedoch im Folgenden nicht ausschließlich um die Outsider der höfischen Welt des alten Europa gehen, auch insgesamt nicht allein um die Akteure auf der höfischen Bühne, wenngleich sich Geschichte auch – und mitunter sogar besonders gut – an Personen festmachen lässt, sondern auch um den Rahmen oder – wenn man so will – den ideologischen Überbau, in dem bzw. vor dem sich an Europas Höfen sexuelle Initiation, Heirat und Eheleben vollzogen, stets mit dem Steh-, Kern- und Grundsatz vor Augen, dass – wie es die Schwägerin Ludwigs XIV.1, die berühmte Liselotte von der Pfalz2, mit Blick auf die eigene Biografie einmal formuliert hatte – der Prinzesinnen Heirat […] selten aus Liebe geschehen, sondern nur durch Räson, und dazu tut Schönheit nichts; Tugend und Verstand seind gut genug dazu. Daß währt länger als die Schönheit, welche vergänglich ist und bald verschleißt […].3 Anders oder idealtypisch formuliert war es die Aufgabe einer Prinzessin, ihrem Mann untertan und gehorsam zu sein, der Dynastie, in die sie einheiratete, […] männliche Leibeserben zu schenken und ihrem Volk das Bild einer Gattin und Fürstin vorzuleben. Frömmigkeit, Gehorsam, Distanz, Geduld und Lebensart,4 auf diese fünf Prinzipien lässt sich

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Ludwig XIV. König von Frankreich (1638–1715) folgte 1643 seinem Vater König Ludwig XIII. Elisabeth Charlotte (Liselotte) Prinzessin von der Pfalz, Herzogin von Orleans (1650–1722), Tochter des Kurfürsten Karl Ludwig I. von der Pfalz, seit 1671 die zweite Gemahlin von Philipp I. Herzog von Orleans (1640–1701). Liselotte von der Pfalz war eine Ururenkelin der Schottenkönigin Maria Stuart. Ihr Enkel Herzog Franz Stephan von Lothringen wurde 1736 der Gemahl der habsburgischen Erbin Maria Theresia. Das war mein Leben. Die Briefe der Liselotte von der Pfalz Herzogin von Orleans am Hofe des Sonnenkönigs. Ebenhausen 1951, S. 164. Kovács, Elisabeth: Die ideale Erzherzogin. Maria Theresias Forderungen an ihre Töchter. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung [MIÖG] 94 (1986) S. 49–80, hier S. 53.

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das Programm fürstlicher Mädchenerziehung reduzieren. Dies waren letztlich auch jene Tugenden, die bis weit über die Barockzeit hinaus von „idealen“ Prinzessinnen bzw. – in unserem Fall – von „idealen Erzherzoginnen“ gefordert wurden.5

Genealogisches Kapital Die Prinzen und Prinzessinnen regierender Häuser waren das Kapital, das – wenn man so will – am Markt möglichst gewinnbringend platziert werden musste. Außenpolitik war bis weit ins 19. Jahrhundert hinein dynastische Politik. Familiäre Verbindungen bekräftigten politische Allianzen. Mit ihnen ließ sich politisches Terrain abstecken. Dies galt zu allen Zeiten und für alle Dynastien, wenngleich man vorrangig den Habsburgern eine besonders geschickte Heiratspolitik zumaß, wie am Satz bella gerant alii, tu felix Austria nube! 5

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Zur habsburgischen Prinzenerziehung weiters u.a. Sturmberger, Hans: Der habsburgische „Princeps in compendio“ und sein Fürstenbild. In: Historica. Studien zum geschichtlichen Denken und Forschen. Festschrift Friedrich Engel-Janosi. Wien 1965, S. 91–116. Redlich, Oswald: Princeps in compendio. Ein Fürstenspiegel vom Wiener Hof aus dem 17. Jahrhundert. Monatsblatt des Vereines für Landeskunde von Niederösterreich 3 (1906/1907) S. 105–124. Vgl. auch: Wachter, Friederike: Die Erziehung der Kinder Maria Theresias. Dissertation Universität Wien 1968. Vocelka, Karl/Heller, Lynne: Die private Welt der Habsburger. Graz/Wien/Köln 1998, S. 49–72. Anmerkungen zur habsburgischen Erziehung in der Generation der Enkel Maria Theresias bei Wolfgruber, Cölestin: Franz I., Kaiser von Österreich. Wien 1899, Band I, S. 5ff. Langsam, Walter Consuelo: Franz der Gute. Die Jugend eines Kaisers. Wien/München 1954. Als Beispiel möge die im HHStA, Familienakten K. 55, befindliche Instruktion für Erzherzogin Therese, die nachmalige Königin von Sachsen, (1767–1827) gelten. Die in französischer Sprache abgefasste Schrift trägt den handschriftlichen Vermerk Kaiser Franz I.: 1787. Instruktion für meine Schwester Therese, die in Sachsen verheirathet worden. Von ihr eigenhändig geschrieben, vermuthlich von meinem Vater verfasst. Vgl. Wandruszka, Adam: Leopold II. Erzherzog von Österreich, Großherzog von Toskana, König von Ungarn und Böhmen, römischer Kaiser, 2. Bd. 1780–1792. Wien/München 1965, S. 20 sowie S. 390 Anm. 15 u. 391 Anm. 21, sowie die Instruktion Kaiserin Maria Theresias für ihre Tochter Maria Amalia von Parma, publiziert bei Arneth, Alfred Ritter v.: Briefe der Kaiserin Maria Theresia an ihre Kinder und Freunde. Wien 1881, 3. Band, S. 11–13, oder jene für ihre jüngste Tochter Marie Antoinette, publiziert bei Christoph, Paul: Maria Theresia und Marie Antoinette. Ihr geheimer Briefwechsel. Wien 1952, S. 1. Zur Erziehung habsburgischer Erzherzoginnen des Ancien Regime vgl. Wiesflecker, Peter: Vier Damen aus gutem Haus. Biographische Notizen zu den Schwestern Erzherzog Johanns. Schriftliche und erweiterte Fassung eines Vortrages anlässlich der Internationalen Tagung der Historischen Landeskommission für Steiermark und der Universität Graz „Johann und seine Brüder“. Acht Brüder und vier Schwestern – Habsburger zwischen Aufklärung, Romantik, Konservativismus und Liberalismus am 4. und 5. Juni 2009 in Graz (zur Drucklegung vorbereitet).

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abzulesen ist. Doch auch die habsburgische Heirats- und Familienpolitik war von biologischen Zufällen begleitet, und das weltumspannende Reich Karls V.6 etwa wäre nicht entstanden, hätte es nicht eine Reihe von Todesfällen im Haus der Katholischen Könige Isabella7 und Ferdinand8 gegeben, sodass ihr Erbe schließlich an die mit dem Habsburger Philipp dem Schönen9 verheiratete Infantin Johanna („die Wahnsinnige“)10 fiel. Zudem lag eine Annäherung der Habsburger an die Katholischen Könige Spaniens, denen sich zeitgleich die Neue Welt und mit dieser schier unerschöpfliche Ressourcen erschlossen, nahe. Auch diese verband mit Frankreich alles andere als eine gute Nachbarschaft, zumal spanische Interessen in Italien mit jenen Frankreichs kollidierten. Doch keine andere habsburgische Heirat umgibt bis heute jener Mythos von gleichermaßen zielstrebiger wie geglückter dynastischer Politik, die einem Herrscherhaus ein Weltreich sicherte, wie jene zwischen den Kindern der Katholischen Könige Ferdinand und Isabella, Juan 11 und Juana (Johanna), und den Kindern Maximilians, Philipp und Margarethe12, im Jahr 1496. Dynastische Heiraten dienten jedoch nicht nur dem Erwerb neuer Territorien, sondern auch der Absicherung von Grenzen bzw. der Verfestigung von Einfluss, wie die habsburgisch-toskanischen Heiraten des 16. und 17. Jahrhunderts zeigen. Trotz zweier Päpste galten die in Florenz regierenden Medici in den Augen der alten Dynastie als homines novi, denen der Hautgout von Bankgeschäften und neureichem Geldadel anhaftete,13 trotzdem war eine 6 7 8 9 10 11 12

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Karl V., röm.-deutscher Kaiser (1500–1558), Sohn Philipps des Schönen von Österreich-Burgund, 1516 König von Spanien, 1519 zum dt. König gewählt, 1530 Kaiserkrönung. Karl dankte 1556 ab. Isabella I. (die Katholische), Königin von Kastilien (1451–1504), Tochter König Johanns II. von Kastilien, folgte 1474 ihrem Bruder Heinrich IV. Seit 1469 war Isabella mit dem späteren König Ferdinand II. von Aragon verheiratet. Ferdinand II. (der Katholische), König von Aragon (1452–1516), folgte 1479 seinem Vater König Johann II., seit 1469 der Gemahl der späteren Königin Isabella I. von Kastilien. Philipp I. (der Schöne), König von Spanien, Herzog von Burgund und Erzherzog von Österreich (1478–1506), Sohn Kaiser Maximilians I. und der burgundischen Erbin Maria, seit 1496 mit der spanischen Infantin Johanna, der Tochter der Katholischen Könige, vermählt. Johanna I. (die Wahnsinnige), Königin von Spanien, Erzherzogin von Österreich (1479–1555), Tochter der Katholischen Könige Ferdinand und Isabella, seit 1496 die Gemahlin des Habsburgers Philipp des Schönen, seit 1504 Königin von Kastilien, seit 1516 Königin von Spanien (Kastilien und Aragon). Juan Infant von Spanien (1478–1497), Sohn und Erbe der Katholischen Könige Ferdinand und Isabella, seit 1496 Gemahl von Erzherzogin Margarethe von Österreich. Margarethe, Erzherzogin von Österreich (1480–1530), Tochter Kaiser Maximilians I., 1483–1490 Braut König Karls VIII. von Frankreich, seit 1496 Gemahlin des spanischen Infanten Juan († 1497), 1501 mit Herzog Philibert II. von Savoyen (1480–1504) verheiratet, 1507–1515 und 1517–1530 Statthalterin der Niederlande. Einen guten Überblick über die Geschichte dieses Hauses bietet Cleugh, James: Die Medici. Macht

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österreichische Erzherzogin am Florentiner Hof gut platziert, denn Mesalliance hin oder her, den durchaus geldmächtigen Großherzog von Toskana in seinen Reihen zu wissen, war für die Italienpolitik stets von Bedeutung, und obendrein war man am Arno so reich und dank seines Reichtums auch so nobel, die versprochene habsburgische Mitgift nie einzufordern, was der notorisch leeren habsburgischen Hauskasse stets gelegen kam. In Florenz erwartete eine Erzherzogin eine prächtige und kultivierte Hofhaltung und zudem ein – wie im Fall von Erzherzogin Johanna14, der Tochter Kaiser Ferdinands I.15 – ob einer Schwiegertochter aus so großem Haus sichtlich geschmeichelter Schwiegervater16. Seinen Sohn, den Bräutigam und späteren Großherzog Francesco I.17, beeindruckten der alte Adel und die imperiale Gemessenheit seiner Gemahlin weniger, ihm waren die allumfassende Raffinesse und ausdrucksstarke Körperlichkeit seiner Langzeitgeliebten Bianca Capello18 lieber. Doch es gab Bewerber und Destinationen, etwa Siebenbürgen, angesichts derer sich selbst eine von Kindheit an im habsburgischen Komment erzogene Erzherzogin, dass dem Interesse des Hauses alles unterzuordnen sei, nur mit Mühe überreden ließ, die Werbung anzunehmen. In einem solchen Fall mussten schwere Geschütze aufgefahren werden. Der Weigerung der innerösterreichischen Erzherzogin Maria Christierna,19 die Werbung des siebenbürgischen Fürsten Sigmund Bathory20 anzunehmen, konnte man nur damit begegnen, dass der Papst der Prinzessin mitteilen ließ, eine Heirat läge im Interesse der katholischen Sache. Auf den Punkt gebracht lautete die Weisung aus Rom, dass nicht jede Prinzessin einen König heiraten könne, der Fürst von Siebenbürgen jedoch ein starkes Heer mit 40.000 Pferden besäße, das für die Verteidigung der Christenheit gebraucht werde.21 14 15 16 17 18 19 20 21

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und Glanz einer europäischen Familie. München 61992. Johanna Erzherzogin von Österreich, Großherzogin von Toskana (1547–1578), Tochter Kaiser Ferdinands I., seit 1565 Gemahlin des späteren Großherzogs Francesco I. von Toskana. Ferdinand I., röm.-deutscher Kaiser, (1503–1564), Sohn Philipps des Schönen von Österreich-Burgund, seit 1522 österreichischer Landesfürst, seit 1526/27 König von Ungarn und Böhmen, 1531 dt. König, 1556 Kaiser. Cosimo I., seit 1537 Großherzog von Toskana (1519–1574). Francesco I. Großherzog von Toskana (1541–1587), folgte 1574 seinem Vater Großherzog Cosimo I. Bianca Capello Großherzogin von Toskana (1548–1587), seit 1579 die zweite Gemahlin von Großherzog Francesco I. Erzherzogin Maria Christierna von Österreich, Fürstin von Siebenbürgen (1574–1621), Tochter Erzherzog Karls II. von Innerösterreich, 1595–1599 Gemahlin von Sigmund Bathory, Fürst von Siebenbürgen. Sigmund III. Bathory Fürst von Siebenbürgen (1572–1613), 1581 bis 1602 Fürst von Siebenbürgen. Zu diesem habsburgischen Heiratsprojekt: Rainer, Johann: Du glückliches Österreich heirate. Die Hochzeit der innerösterreichischen Prinzessin Margarethe mit König Philipp III. von Spanien 1598/99. Graz 1998, S. 6.

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Gemessen an den kultivierten Medicis, die immerhin auf zwei Päpste im Stammbaum verweisen konnten, war Bathory ein Parvenü, der gerade eben den transsilvanischen Wäldern entsprungen zu sein und das Halbwilde noch nicht ganz abgelegt zu haben schien. Die Hand einer Habsburgerin bedeutete natürlich einen enormen Prestigegewinn. Als Bollwerk gegen die anstürmenden Osmanen kam Siebenbürgen besondere Bedeutung zu. Um die militärische Grenze zu halten, war man am Grazer Hof auch bereit, einen solchen, zudem kriegserprobten Eidam von militärischem Talent zu akzeptieren. Bathorys Talent lag auf den Feldern der Ehre; von Kriegsführung und Pferden verstand der Fürst viel, von der Ehe wenig, denn gewisse elementare Aspekte von ehelicher Gemeinschaft waren ihm derart fremd, dass Maria Christierna nach zwei Jahren des vergeblichen Wartens ebenso jungfräulich nach Graz zurückkehrte, wie sie es seinerzeit verlassen hatte. Die Ehe, die keine war, wurde annulliert und die Erzherzogin trat in das Haller Damenstift ein.22 Kehren wir nach diesem Exkurs in das große genealogische Welttheater zurück. Wie im echten Theater gab es auch hier die Stars. Akteure von geradezu monumentaler Wirkmächtigkeit, daneben die soliden Schauspieler mittlerer Qualität und die dichten Reihen der Komparserie. Und auch die Plätze in diesem theatrum genealogicum waren jenen ähnlich, die wir auch heute noch finden. Manche saßen im Parkett und Parterre, andere am zweiten oder dritten Rang, und manch einer erhielt bestenfalls den Stehplatz zugewiesen. Brechts Satz von jenen im Dunkel, die man nicht sieht, galt nicht nur für die Welt von Herr und Untertan, sondern auch für die vielschichtige Welt der regierenden Häuser bis hinunter zum Landadel. Doch gelegentlich konnte ein Prinz oder eine Prinzessin, der/die auf den „billigen Plätzen“ dieses Theaters saß, reüssieren. Mitunter auch aus rein pragmatischen Gründen, wenn etwa eine Prinzessin gesucht wurde, mit der das Eheleben sogleich und allumfassend aufgenommen werden konnte. Verbesserte man sich sozusagen vom dritten Rang ins Parkett oder wurde man gar auf die Bühne gebeten, so konnte man nicht anders reagieren als der polnische Exkönig Stanislaus Leszczynksi,23 der in beengten Verhältnissen

22 Wiesflecker, Peter: Auf päpstlichen Spuren durch die Steiermark. Streiflichter zur steirischen Kirchengeschichte anlässlich des Besuches von Papst Benedikt XVI. in der Steiermark. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark 99 (2008) S. 389–420, hier S. 399. Zur Biografie der Erzherzogin vgl. auch Reissenberger, Karl: Prinzessin Maria Christierna von Innerösterreich (1574–1621). In: Mitteilungen des Historischen Vereins für Steiermark 30 (1882), S. 27–72. 23 Stanislaus Graf Leszczynksi als Stanislaus I. König von Polen (1677–1766), 1704–1709 und 1733– 1736 König von Polen, seit 1737 Herzog von Lothringen.

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in Nancy lebte und eines Morgens das Zimmer von Frau24 und Tochter25 mit den Worten stürmte: Auf die Knie und danket Gott! Auf die erstaunte Frage seiner Tochter, ob er wieder König von Polen sei, enthüllte er ihr, dass sie die künftige Königin von Frankreich sei. Die Wahl des Pariser Hofes war auf die 21-jährige Exilpolin gefallen, da der 15-jährige König – Ludwig XV.26 – der einzige Repräsentant der königlichen Linie war und alsbald Nachkommen zeugen sollte. Seine bisherige spanische Verlobte27 – damals noch im Kindesalter – schickte man nach Spanien zurück.28 Mitunter kam eine junge Prinzessin aus eher bescheidenem Haus auch zu königlichen Ehren, weil auf einem alt gewordenen Dynasten die Verantwortung für die Fortsetzung eines schon trostlos leeren königlichen Stammes lag, wie im Fall der knapp 20-jährigen Prinzessin Emma von Waldeck29, die 1879 die zweite Frau des damals 60-jährigen niederländischen Königs Wilhelm III. werden sollte. Das Ende des Hauses Oranien stand drohend im Raum.30 Der Kronprinz31 hatte sich in der Pariser Halbwelt bereits dermaßen verausgabt, dass er zu einer dynastischen Ehe weder willens noch fähig war.32 Sein diesbezüglich zurückhaltender Bruder33 war ein kränklicher junger Mann, der Rest der königlichen Prinzen nicht minder angejahrt wie der König selbst. Die jugendliche Frische der Braut trug ihren Teil dazu bei und binnen Jahresfrist lag eine Tochter, die spätere Königin

24 Katharina Gräfin Opalińska, verehelichte Gräfin Leszcynska, Königin von Polen (1680–1747), Tochter des Grafen Jan Karol Opaliński, seit 1698 Gemahlin von Stanislaus Graf Leszczynksi, dem nachmaligen König von Polen. 25 Maria (Gräfin) Lesczynska, Königin von Frankreich (1703–1768), seit 1725 die Gemahlin König Ludwigs XV. von Frankreich. 26 Ludwig XV. König von Frankreich (1710–1774) folgte 1715 seinem Urgroßvater König Ludwig XIV., seit 1725 mit der polnischen Prinzessin Maria Lesczynska verheiratet. 27 Maria Anna Infantin von Spanien, Königin von Portugal (1718–1781), Tochter König Philipps V. von Spanien, 1722 bis 1725 die Braut Ludwigs XV., seit 1729 die Gemahlin des späteren Königs ­Joseph I. von Portugal (1714–1777). 28 Jurewitz-Freischmidt, Sylvia: Galantes Versailles. Die Mätressen am Hof der Bourbonen. München 2006, S. 323–351, hier v. a. S. 323–334. 29 Emma Prinzessin von Waldeck-Pyrmont, Königin der Niederlande (1858–1934), Tochter des Fürs­ ten Georg Viktor, seit 1879 die zweite Gemahlin König Wilhelms III. der Niederlande, 1890–1898 Regentin für ihre Tochter Königin Wilhelmina. 30 Richard, Michel: Das Haus Oranien-Nassau. Lausanne 1969, S. 379–383. 31 Wilhelm Kronprinz der Niederlande (1840–1879), ältester Sohn König Wilhelms III. und der Prinzessin Sophie von Württemberg. 32 Vgl. dazu auch d’Almeras, Henri: La Vie parisienne au second Empire. Paris 1933, S. 210. 33 Alexander Prinz (seit 1879 Kronprinz) der Niederlande (1851–1884), jüngster Sohn König Wilhelms III., wurde nach dem Tod seines Bruders 1879 Kronprinz.

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Wilhelmina34, in der Wiege. Da das Haus Oranien die weibliche Thronfolge kannte, hatte der König seine dynastische Pflicht erfüllt.35 Gelegentlich verdankte jedoch ein „Prinz der billigen Plätze“ sein Avancement der hohen Politik, vor allem dann, wenn das wohl austarierte Gleichgewicht zwischen den Mächten nicht durch eine „große“ Heirat ins Ungleichgewicht verschoben werden sollte. Dann schlug sozusagen die Stunde der nachgeborenen Prinzen aus kleinem Haus. Ein solcher Prinz von bescheidenem familiärem Hintergrund war Leopold von Coburg36, das achte Kind eines unbedeutenden deutschen Fürsten37.38 Wie die Prinzen, die im Märchen oder im Kitschroman ihr Glück machen, war er ein kluger Prinz, zudem nach den Worten Napoleons der schönste Prinz, den dieser je in den Tuilerien gesehen hatte.39 Auf jeden Fall war Leopold von Coburg zielstrebig und ein guter Taktiker. Er setzte nicht auf den Korsen, sondern wechselte in das Lager von dessen Gegnern. Nach dem Ende Napoleons kam er nach England, wo der damalige Prinzregent und spätere Georg IV.40 sich eben anschickte, seine einzige Tochter Charlotte41 mit dem Erbprinzen der Niederlande zu verheiraten. Da das englische Thronfolgerecht direkte weibliche Nachkommen vor männlichen Seitenverwandten bevorzugt, war Charlotte die künftige Erbin der Krone. Den eher vierschrötigen Niederländer42 lehnte sie ab, als sie den Coburger entdeckte. Auch den europäischen Mächten, auf die Einhaltung des nach dem Ende Napoleons fein austarierten 34 Wilhelmina Königin der Niederlande (1880–1962) folgte 1890 – vorerst bis 1898 unter Vormundschaft – ihrem Vater König Wilhelm III., seit 1901 mit Heinrich Herzog von Mecklenburg-Schwerin (1876–1934) verheiratet. Sie dankte 1948 zugunsten ihrer Tochter Juliana (1909–2004) ab. 35 Richard, Oranien-Nassau, S. 381. 36 Leopold I. König der Belgier (1790–1865), Sohn des Herzogs Franz von Sachsen-Coburg-Saalfeld, 1831 König der Belgier. 37 Franz Herzog von Sachsen-Coburg-Saalfeld (1750–1806) folgte 1800 seinem Vater Herzog Ernst Friedrich. 38 Zum Haus Sachsen-Coburg u.a.: Giardina, Roberto: Königliche Verschwörung. Wie die Coburger Europa eroberten. München 2006; Aronson, Theo: The Coburgs of Belgium. London 1969; Corti, Egon Cäsar Conte: Leopold I. von Belgien. Wien 1922; Holden, Angus: Uncle Leopold. The life of the first king of the Belgians. London 1936; Wangenheim, Rita von: Baron Stockmar. Eine coburgisch-englische Geschichte. Coburg 1996. Bestenreiner, Erika: Die Frauen aus dem Haus Coburg. München 2008; Aronson, Theo: Victoria and the Coburgs. London 1981. 39 Corti, Egon Cäsar Conte: Wenn … Sendung und Schicksal einer Kaiserin. Graz/Wien/Köln 1954, S. 1. 40 Georg IV. König von Großbritannien (1762–1830), Sohn König Georgs III., folgte diesem 1820. 41 Charlotte Prinzessin von Großbritannien (1796–1817), Tochter des späteren englischen Königs Georg IV., seit 1816 Gemahlin des Prinzen Leopold von Coburg. 42 Wilhelm II. König der Niederlande (1792–1849), Sohn König Wilhelms I., folgte diesem 1840. Wilhelm heiratete 1816 Großfürstin Anna von Russland, eine Tochter des Zaren Paul I. (1795–1865).

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Gleichgewichts bedacht, war eine Verbindung der englischen Erbin mit dem nachgeborenen deutschen Prinzen genehmer als eine Verbindung mit Holland, zumal Großbritannien mit dem zum Deutschen Bund gehörigen Königreich Hannover bereits eine starke Position auf dem Kontinent besaß. Mit den Niederlanden hätte sich der britische Einfluss im Nordwesten Europas weiter vergrößert. Der Prinzregent gestattete seiner Tochter schließlich die Ehe mit dem Coburger. Am 2. Mai 1816 heiratete das Paar. Dem Prinzen von Coburg stand somit eine glänzende Zukunft bevor. 18 Monate später war alles vorbei. Charlotte starb im Kindbett nach der Geburt eines tot geborenen Knaben; der Witwer wurde zum geduldeten Ausländer. Eine seiner Schwestern43, die junge Witwe eines früh verstorbenen deutschen Fürsten44, schien ihm die passende Gemahlin für den Herzog von Kent45, einen unverheirateten Onkel seiner verstorbenen Frau. 1819 wurde, zwar zur Enttäuschung des Herzogs, eine Tochter, die spätere Queen Victoria,46 geboren, die kleine Prinzessin trennen jedoch nur ein geisteskranker König47 und vier in die Jahre gekommene britische Lebemänner, der Prinzregent und drei seiner Brüder48, vom Thron. Bereits im Jahr darauf war Victoria nach dem Tod von Vater, Großvater und einem Onkel die Dritte in der Thronfolge und 1830 Thronfolgerin. 1837 wurde sie Königin. Als solche sollte sie eine Epoche prägen und einem Zeitalter ihren Namen geben.49 Zu diesem Zeitpunkt hatte Leopold das „coburgische Familienunternehmen“ bereits weiter ausgebaut. Nachkommen seiner Schwester Sophie,50 43 Viktoria Prinzessin von Sachsen-Coburg-Saalfeld, Fürstin zu Leiningen, Herzogin von Kent (1786–1861), Tochter des Herzogs Franz, in erster Ehe 1803 mit Emich Carl Fürst zu Leiningen, in zweiter Ehe 1818 mit Eduard Herzog von Kent verheiratet. 44 Emich Carl Fürst zu Leiningen (1763–1814). 45 Eduard Herzog von Kent (1767–1820), Sohn König Georgs III. 46 Victoria Königin von Großbritannien (1819–1901), Tochter Herzog Eduards von Kent, folgte 1837 ihrem Onkel Wilhelm IV., seit 1839 Gemahlin des Prinzen Albert von Sachsen-Coburg und Gotha. 47 Georg III. König von Großbritannien (1738–1820), Sohn des Kronprinzen Friedrich Ludwig, folgte 1760 seinem Großvater König Georg II. 48 Friedrich August Herzog von York (1763–1827), Wilhelm Herzog von Clarence (1765–1837), nachmals von 1830–1837 König Wilhelm IV., und Eduard Herzog von Kent (s. o.) 49 Einen ersten Überblick bietet Panzer, Marita A: Englands Königinnen. Von den Tudors zu den Windsors. München 2003, S. 229–246. Vgl. weiters: Duff, David: Albert und Victoria. München 1990. Ein biografischer Abriss bei Feuchtwanger, Edgar: Viktoria 1837–1901. In: Wende, Peter (Hrsg.): Englische Könige und Königinnen. Von Heinrich VII. bis Elisabeth II. München 1998, S. 268–286, mit Angaben zur wichtigsten biografischen Literatur (S. 382–384). Als Standardwerk gilt nach wie vor Pakenham Countess of Longford, Elizabeth: Victoria R.I. London 1964. Weintraub, Stanley: Victoria. New York 1996. 50 Sophie Prinzessin von Sachsen-Coburg-Saalfeld, Gräfin Mensdorff-Pouilly (1778–1835), Tochter des Herzogs Franz, seit 1804 die Gemahlin von Emmanuel (Graf) Mensdorff-Pouilly.

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die gemessen an den Vorstellungen ihrer Zeit als bereits ältliches Mädchen den nicht ganz standesgemäßen lothringischen Emigranten Emanuel (Graf) Mensdorff-Pouilly51 geheiratet hatte, reüssieren durch auch in finanzieller Hinsicht glänzende Heiraten innerhalb der österreichischen Hocharistokratie.52 Ein Bruder Leopolds53 heiratete die Erbin54 eines ungarischen Magnaten und begründete einen katholischen Zweig der Familie.55 Leopold selbst war seit 1831 König des von den Niederlanden unabhängig gewordenen Belgien. Seine Ehe mit der Tochter des französischen Bürgerkönigs Louis Philippe56, Louise57, neutralisierte die Bedenken Frankreichs gegen den neuen Staat. Nun galt es, den Einfluss in England zu sichern, am besten durch eine Heirat mit einem Coburger. Vorerst hat die junge Dame auf dem britischen Thron ihren eigenen Kopf und die Ermahnungen aus Brüssel – Bevor Du etwas Wichtiges entscheidest, wäre ich glücklich, wenn Du mich befragen würdest (23. Juni 1837) – wurden ungern gehört.58 Doch der zähen Diplomatie des Coburgers war die junge britische Nichte auf Dauer nicht gewachsen. Sein Neffe Albert59, ein jüngerer Sohn seines in Coburg regierenden Bruders, war schon vor Victorias Regierungsantritt als Ehemann für die künftige britische Königin ins Auge gefasst worden. Nach den Worten des belgischen Königs besaß dieser Neffe äußerlich alles,

51 Emanuel Graf Mensdorff-Pouilly (1777–1852), General und Vizepräsident des Hofkriegsrates. 52 Zum genealogischen Umfeld der Familie vgl. Adelslexikon Bd. VIII. Limburg an der Lahn 1997, S. 432–433. 53 Ferdinand Prinz von Sachsen-Coburg und Gotha (1785–1851), Sohn des Herzogs Franz von Sachsen-Coburg-Saalfeld, seit 1816 mit Marie Antoinette Prinzessin Koháry verheiratet. 54 Marie Antoinette Prinzessin Koháry (1797–1862), Tochter und Erbin von Franz Fürst Koháry, seit 1816 Gemahlin des Prinzen Ferdinand von Coburg. 55 Während Bestenreiner, Frauen des Hauses Coburg, Antoinette von Koháry zwar anführt, jedoch nichts Neues zur Biografie bringt, bietet Braun, Ralph: Die sehr bewegte Geschichte Portugals in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das Kaiserreich Brasilien und das Haus Sachsen Coburg. In: Zwanzig Jahre Internationale Coburger Johann Strauß Begegnungen. Hrsg. v. d. Deutsche[n] Johann Strauß Gesellschaft. Coburg 2007, S. 17–24, einen Überblick über die Geschichte dieser Linie des Hauses Coburg. Hinweise finden sich auch bei Braun, Ralph: Prinz Leopold von SachsenCoburg und Gotha (Wien) – Constanze Freifrau von Ruttenstein, geb. Geiger, und Johann Strauß. In: ebd., S. 27–42. 56 Louis Philippe König der Franzosen (1773–1850), Sohn von Philipp Herzog von Orleans (Philippe Égalité), folgte seinem Vater als Herzog von Orleans und Chef dieser Nebenlinie des französischen Königshauses, 1830–1848 König der Franzosen. 57 Louise Prinzessin von Orleans, Königin der Belgier (1812–1850), Tochter des französischen Königs Louis Philippe, seit 1832 die zweite Gemahlin des belgischen Königs Leopold I. 58 Corti, Wenn, S. 8. 59 Albert Prinz von Sachsen-Coburg und Gotha, Prince Consort (1819–1861), Sohn von Herzog Ernst I., seit 1839 Gemahl der englischen Königin Victoria.

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was den Frauen gefällt.60 Man schickte ihn – noch zu Lebzeiten König Wilhelms IV. – in Begleitung seines älteren, weniger anziehenden Bruders Ernst61 nach London und der alte Fuchs in Brüssel wurde bestätigt. Aus England erreichte ihn ein Brief, in dem die Prinzessin befand: Albert ist außerordentlich hübsch, was Ernst bestimmt nicht ist. […] Erlaube mir, liebster Onkel, Dir zu sagen, wie entzückt ich von ihm bin und wie sehr er mir in jeder Hinsicht gefällt.62 1839 war man schließlich am Ziel. Alberts Schönheit ist auffallend, er ist äußerst liebenswürdig und ungeziert, mit einem Wort er ist wahrhaft bezaubernd, schrieb Victoria am 10. Oktober 1839.63 Fünf Tage später: Albert hat mein Herz vollständig gewonnen.64 Und der Prinz? Albert, der schon wenige Jahre später im Habitus eher einem Gymnasialprofessor gleichen sollte als einem strahlenden Helden, sah die Dinge abgeklärter. Ich bin nur der Mann, aber nicht der Herr im Haus!65 Doch in den Augen des Coburgerclans zählte letztlich, dass man einen weiteren ­Prinzen so günstig platziert hatte. Das von Brüssel aus gesteuerte Netzwerk arbeitete ­unentwegt. Mit ähnlicher Bravour hatte man 1836 einen Coburger66 der ungarischen Linie am portugiesischen Hof und im Leben der Königin Maria II. da Gloria67 untergebracht. Ein Vierteljahrhundert später tat sich in Brasilien eine weitere Chance auf, denn Kaiser Peter II.68 war ohne männlichen Nachkommen. Ein Coburger,69 wiederum einer der ka60 Corti, Wenn, S. 6–7. 61 Ernst II. Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha (1818–1893) folgte 1844 seinem Vater Herzog Ernst I. 62 Briefe Victorias an Leopold I. von Belgien vom 23. Mai und 7. Juni 1836. Vgl. Jagow, Kurt: Queen Victoria. Ein Frauenleben unter der Krone. Berlin 1936, S. 17–18. 63 Corti, Wenn, S. 10. Er zitiert dabei einen Brief Victorias an Leopold I. aus Martin, Theodore: The life of His Royal Highness The Prince Consort. London 1875–1880, Bd. I, S. 38. 64 Corti, Wenn, S. 10. 65 Corti, Wenn, S. 10, ohne eine Belegstelle für diesen Ausspruch des Prinzgemahls anzugeben. Zu Albert von Coburg u. a.: Benneth, Daphne: King without a crown. Albert Prince Consort of England. Philadelphia 1977. Bolitho, Hector: Albert the Good. New York 1982. Nach wie vor ist Fulford, Roger: The Prince Consort. London 1949 als Standardwerk anzusehen. 66 Ferdinand Prinz von Sachsen-Coburg und Gotha als Ferdinand II. Titular-König von Portugal (1816–1885), Sohn des Prinzen Ferdinand von Sachsen-Coburg und Gotha, seit 1836 zweiter Gemahl der portugiesischen Königin Maria II. 67 Maria II. da Gloria Königin von Portugal (1819–1853), Tochter Kaiser Peters I. von Brasilien, der zu ihren Gunsten auf den portugiesischen Thron verzichtet hatte, in erster Ehe mit August Beauharnais Herzog von Leuchtenberg (1810–1835), in zweiter Ehe 1836 mit Ferdinand Prinz von SachsenCoburg und Gotha (Linie Koháry) verheiratet, der nach seiner Eheschließung als Ferdinand II. Namen und Titel eines Königs von Portugal führte. 68 Peter II. Kaiser von Brasilien (1825–1891) folgte 1831 seinem Vater Peter I. nach dessen Abdankung und regierte bis zur Ausrufung der Republik 1889. 69 Ludwig August Prinz von Sachsen-Coburg und Gotha (1845–1907), Sohn des Prinzen August und Enkel des französischen Königs Louis Philippe.

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tholischen-ungarischen Linie, wurde dorthin zur Brautwerbung entsandt. In dieser Zeit war dank Bismarck bereits das Diktum von den „Hengsten Europas“ entstanden, die stets Manns und kraftvoll genug waren, einem erlöschenden Geschlecht auf die Sprünge zu helfen. Die brasilianische Brautwerbung zeitigte jedoch nicht den erhofften Effekt, denn die Kronprinzessin70 verliebte sich in den Begleiter des Kandidaten, einen französischen Prinzen71, und für den Coburger blieb nur die jüngere Schwester72. Den alten Brüssler Patriarchen Leopold I. löste als große Matriarchin die englische Königin ab, die den ständig wachsenden Clan zusammenhielt und dirigierte. 73 Stand eine Partie an, so war man eifrig bemüht, einen passenden Kandidaten oder eine Kandidatin zu präsentieren. Da das Haus – inzwischen regierte es in England, Portugal, Belgien und dem Stammland Coburg – zu seinen Mitgliedern Angehörige beider Konfessionen zählte, konnte man sogar die strikte konfessionelle Teilung europäischer Dynastien überwinden. Portugal, Belgien und der ungarische Zweig waren das Reservoir für die katholischen Dynastien, Coburg und England für den Rest der christlichen Welt. Allein von 1830 bis 1918 zählte man drei belgische74, vier portugiesische75 und zwei britische Könige76, eine deut-

70 Isabella Kronprinzessin von Brasilien (1846–1921), Tochter Kaiser Peters II., seit 1864 mit Gaston von Orleans, Graf von Eu, verheiratet. 71 Gaston von Orleans, Graf von Eu (1842–1922), Sohn von Louis Herzog von Nemours und Enkel des französischen Königs Louis Philippe. 72 Leopoldine Prinzessin von Brasilien, Prinzessin von Sachsen-Coburg und Gotha (1847–1871), Tochter Kaiser Peters II., seit 1864 die Gemahlin von Prinz Ludwig August von Coburg. 73 Einen Überblick über den regen Briefwechsel, den Victoria mit ihren Verwandten führte, bietet Corti, Wenn ... Vgl. exemplarisch auch: Fulford, Roger (Hrsg.): Dearest Child. Private correspondence of Queen Victoria and the German Crown Princess. London 1976; Röhl, John C. G.: Wilhelm II. Die Jugend des Kaisers, 1859–1888. München 1993. 74 Leopold I. (1790–1865) regierte 1831–1865, dessen Sohn Leopold II. (1835–1909) regierte 1865–1909 und Enkel Albert I. (1875–1934) regierte 1909–1934. 75 Peter V. (1837–1861) regierte 1853–1961, dessen Bruder und Nachfolger Ludwig I. (1838–1889) regierte 1861–1889. Ihm folgte sein Sohn Karl I. (1863–1908), regierte 1889–1908, dem wiederum sein Sohn Manuel II. (1889–1932), regierte 1908–1910, folgte. 76 Edward VII. (1841–1910) regierte 1901–1910 und dessen Sohn Georg V. (1865–1936) regierte 1910– 1936.

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sche Kaiserin77, eine Kaiserin von Mexiko78, je eine Königin von Rumänien79 und Norwegen80, eine Großherzogin von Hessen81, eine österreichische82, eine sächsische83 und eine schwedische84 Kronprinzessin sowie vier regierende Herzöge von Coburg85. Im Fall von Frankreich stellte das Haus ab 1910 die Gemahlin86 des napoleonischen Thronprätendenten87, seit 1887 zudem den Fürsten von Bulgarien88. 77 Viktoria Prinzessin von Großbritannien, Princess Royal, Deutsche Kaiserin und Königin von Preußen (1840–1901), Tochter des Prinzen Albert und der englischen Königin Victoria, seit 1858 die Gemahlin des Prinzen, späteren Kronprinzen (1861) und Deutschen Kaisers und Königs von Preußen Friedrich III. 78 Charlotte Prinzessin der Belgier, Erzherzogin von Österreich, Kaiserin von Mexiko (1840–1927), Tochter des belgischen Königs Leopold I., seit 1857 Gemahlin des österreichischen Erzherzogs Maximilian, der 1864 als Maximilian I. Kaiser von Mexiko wurde. 79 Marie Königin von Rumänien, Prinzessin von Großbritannien (1875–1938), Tochter Herzog Alfreds von Sachsen-Coburg und Gotha, Enkelin der englischen Königin Victoria und des russischen Zaren Alexander II., seit 1893 die Gemahlin des späteren rumänischen Königs Ferdinand I. (1865–1927). 80 Maud Prinzessin von Großbritannien, Prinzessin von Dänemark, Königin von Norwegen (1869– 1938), Tochter des englischen Königs Edward VII., seit 1896 Gemahlin des dänischen Prinzen Karl, der 1905 als Haakon VII. König von Norwegen wurde. 81 Alice Prinzessin von Großbritannien, Großherzogin von Hessen-Darmstadt (1843–1878), Tochter des Prinzen Albert und der englischen Königin Victoria, seit 1862 Gemahlin des späteren Großherzogs Ludwig IV. von Hessen-Darmstadt. 82 Stephanie Prinzessin der Belgier, Kronprinzessin von Österreich, (seit 1900) Gräfin (und seit 1917 Fürstin) Lonyay (1864–1945), Tochter König Leopolds II., seit 1881 Gemahlin des österreichischen Kronprinzen Rudolph, heiratete 1900 in zweiter Ehe den ungarischen Adeligen Elemér Graf (1917 Fürst) Lonyay (1863–1946). 83 Maria Anna Prinzessin von Portugal, Kronprinzessin von Sachsen (1843–1884), Tochter des Prinzen Ferdinand von Coburg und der Königin Maria II. da Gloria von Portugal, seit 1859 Gemahlin des Prinzen, späteren Kronprinzen (1873) und Königs (1902) Georg I. von Sachsen. 84 Margaret Prinzessin von Großbritannien, Kronprinzessin von Schweden (1882–1920), Tochter des englischen Prinzen Arthur, Herzog von Connaught, seit 1905 Gemahlin des späteren schwedischen Königs Gustav Adolf VI. 85 Ernst I. (1784–1844), seit 1826 Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha, Ernst II. (1818–1893), reg. 1844–1893, Alfred (1844–1900), Sohn von Prinz Albert und der englischen Königin Victoria, reg. 1893–1900, und Carl Eduard (1884–1954), reg. – vorerst unter Vormundschaft – 1900–1918. 86 Clementine Prinzessin der Belgier, Prinzessin Bonaparte bzw. Princesse Napoléon (1872–1955), Tochter des belgischen Königs Leopold II., seit 1910 Gemahlin von Prinz Victor Bonaparte (Prince Napoléon). 87 Victor Prinz Bonaparte (Prince Napoléon) (1862–1926), Sohn des Prinzen Jérôme Bonaparte (Prince Napoléon), bonapartistischer Thronprätendent. 88 Ferdinand I. Zar von Bulgarien (1861–1948), Sohn des Prinzen August von Coburg, seit 1887 Fürst, seit 1908 Zar von Bulgarien, dankte 1918 zugunsten seines Sohnes Boris III. ab.

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Innerfamiliäre Netzwerke, Taktik, Geschick, junge Damen und Herren, die wussten, was von ihnen erwartet wurde, dazu der biologische Zufall, als Dynastie zu überdauern; man darf sich jedoch die dynastische Politik nicht ausschließlich als Spiel der Diplomatie vorstellen, in dem taktiert und platziert wurde, sondern die Dinge wurden auch beim Namen genannt. Als Mitte der 1590er-Jahre die Verheiratung einer innerösterreichischen Erzherzogin nach Spanien anstand und die ursprünglich in Aussicht genommene Erzherzogin89 starb, verwies der Nuntius in einem Brief an den Papst90 darauf, dass es zwei weitere Kandidatinnen in Graz gebe.91 Papst Klemens VIII. schaltete sich in die Heiratsverhandlungen ein und besprach diese mit dem Bruder der beiden Erzherzoginnen, dem jungen Ferdinand von Innerösterreich92, der ihm im März 1598 in Ferrara einen Besuch abstattete. Im Gespräch mit dem Papst fiel schließlich die Entscheidung zugunsten der 14-jährigen Margarethe93, da die zweite94, wie Ferdinand dem Papst gegenüber bemerkte, „weder gesund noch sehr intelligent sei“.95 Ein Vierteljahrhundert später verhielt es sich am Wiener Hof unter Maria Theresia96 nicht anders. Als ihre Tochter Josepha97 1767 kurz vor der Heirat mit dem neapolitanischen König98 an den Pocken verstarb, brachte es der österreichische Gesandte am neapolitanischen Hof, Graf Kaunitz99, gleich auf den Punkt: Da nun schon alles für die Ver89 Gregoria Maximiliana Erzherzogin von Österreich (1581–1597), Tochter Erzherzog Karls II. 90 Papst Klemens VIII. (1536–1605), mit bürgerlichem Namen Ippoliti Aldobrandini, 1592 zum Papst gewählt. 91 Rainer, Innerösterreich, S. 7. Er zitiert hier aus einem Bericht von Nuntius Cesare Speciano. Vgl. Mosconi, Natale: La nunziatura di Praga di Cesare Speciano (1592–1598). Brescia 1966, Bd. II, S. 203–204. 92 Ferdinand II. röm.-deutscher Kaiser (1578–1637), Sohn Erzherzog Karls II. von Innerösterreich, folgte diesem – vorerst unter Vormundschaft – 1590, 1619 zum Kaiser gewählt. 93 Erzherzogin Margarethe von Österreich, Königin von Spanien (1584–1611), Tochter Erzherzog Karls II., seit 1599 Gemahlin König Philipps III. von Spanien. 94 Eleonora Erzherzogin von Innerösterreich (1582–1620), Tochter Erzherzog Karls II., blieb unverheiratet und trat ins Haller Damenstift ein. 95 Rainer, Innerösterreich, S. 7. 96 Maria Theresia Erzherzogin von Österreich, Königin von Ungarn und Böhmen, Kaiserin (1717– 1780), Tochter Kaiser Karls VI., dem sie 1740 als Regentin der habsburgischen Länder folgte, seit 1736 Gemahlin von Franz Stephan von Lothringen, nachmals Großherzog von Toskana und seit 1745 röm.-deutscher Kaiser. 97 Maria Josepha Erzherzogin von Österreich (1751–1767), Tochter Kaiser Franz’ I. und Maria Theresias. 98 Ferdinand I. (IV.) König von Neapel-Sizilien (1751–1825) folgte 1759 seinem Vater Karl IV., als dieser als Karl III. den spanischen Thron bestieg. 99 Ernst Graf (1794 Fürst) Kaunitz (1737–1797), öst. Diplomat, Sohn des Staatskanzlers Wenzel Fürst Kaunitz.

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mählung in Ordnung gebracht war, kommt es […] fast auf nichts als auf die Veränderung des Namens in den Heiratspunkten und Vollmachten an.100 Auch die Kaiserin wusste, dass ein König eine Partie war, die man sich sichern musste. Dieser kam in den Verhandlungen nicht zu Wort. Ihn schien das Ganze auch weiter nicht zu berühren. Wessen Geistes Kind dieser war, machte allein schon der Umstand deutlich, dass er nur mit Mühe davon abgehalten hatte werden können, am Tag des Erhalts der Nachricht vom Tod seiner Braut auf die Jagd zu gehen. Er unterhielt sich jedoch dahingehend, indem er – ein immerhin 16-Jähriger – „Begräbnis der Erzherzogin“ spielte, wobei ein Höfling mit Schokoladetröpfchen im Gesicht die Leiche der an Blattern verstorbenen Braut darzustellen hatte.101 Der erste Entwurf eines Briefes, den die Kaiserin an den Vater102 des Bräutigams schrieb, lautete: Ich billige Ihnen jetzt sofort jene meiner Töchter zu, die Ihnen am meisten passend erschiene.103 Der endgültige Passus lautete dann, etwas abgeschwächt: Ich habe derzeit zwei, die passen könnten, die eine ist die Erzherzogin Maria Amalia, von der man findet, dass sie ein hübsches Gesicht hat und die ihrer Gesundheit nach zahlreiche Nachkommenschaft versprechen dürfte, und die andere, Erzherzogin Charlotte, die auch kerngesund … ist.104 Das Ganze erinnert an ein Geschäft, für das die württembergische Königin Olga105 einmal die treffenden Worte gefunden hatte: Prinzessinnen im heiratsfähigen Alter sind eigentlich bedauernswerte Geschöpfe. Der Gothaische Almanach verrät das Alter, man kommt dich anschauen wie ein Pferd, das zum Verkauf steht.106 100 Schreiben des österreichischen Gesandten am neapolitanischen Hof Ernst Graf Kaunitz an Staatskanzler Wenzel Fürst Kaunitz vom 28. Oktober 1768 (Original im HHStA), zit. nach Corti, Ich, eine Tochter Maria Theresias. Ein Lebensbild der Königin Marie Karoline von Neapel. München 1950, S. 28. 101 Corti, Ich, eine Tochter Maria Theresias, S. 28. 102 Karl III. König von Spanien (1716–1788), Sohn König Philipps V., 1735–1759 König von Neapel, folgte 1759 seinem Bruder, dem spanischen König Ferdinand VI. 103 Entwurf eines Schreibens Maria Theresias an König Karl III. von Spanien vom 17. November 1767 (Original im HHStA), zit. nach Corti, Ich eine Tochter Maria Theresias, S. 30. 104 Schreiben Maria Theresias an König Karl III. von Spanien vom 18. November 1768 (Original im HHStA), zit. nach Corti, Ich eine Tochter Maria Theresias, S. 30. 105 Olga Großfürstin von Russland (1822–1892), Tochter Zar Nikolaus I., seit 1846 Gemahlin des Kronprinzen und späteren Königs Karl I. von Württemberg. 106 Podewils, Sophie Dorothee Gräfin (Hrsg.): Traum der Jugend goldner Stern. Aus den Aufzeichnungen der Königin Olga von Württemberg. Aus dem Französischen [Manuskript] übersetzt und hrsg. v. Sophie Dorothee Gräfin Podewils. Pfullingen 1955, S. 198.

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Etwas abgeklärter sah eine ihrer Vorgängerinnen die Lage. Als diese, eine englische Prinzessin107 im Alter von 30 Jahren und damit in den Augen ihrer Zeit bereits auf dem besten Weg zur alten Jungfrau zu werden, den künftigen König von Württemberg heiratete, hatte sie seiner Werbung rasch und – wie ihre Umgebung fand – sogar freudig zugestimmt. Sie selbst brachte es auf den Punkt, indem sie sagte, ihr zukünftiger Mann sei sicher nicht der schönste, er habe sie jedoch von der Bedrohung lebenslanger Jungfernschaft befreit!108

Initiation So unbedingt klar, was im Ehebett zu tun war, war jedoch nicht jedem Dynasten. Vom späteren spanischen König Ferdinand VII.109 wissen wir, dass er in der Hochzeitsnacht seiner ersten Ehe von so elementarer Unkenntnis war, dass er seiner jungen Ehefrau110 allen Ernstes vorschlug, Hilfe herbeizuholen. In einem Brief seiner Schwiegermutter heißt es: In der ersten Nacht wusste er nicht wie zu einem Erfolg zu gelangen und wollte dabei gar die Baronin Mandel und ein Kammermädchen, die im Nebenzimmer schliefen, zu Hilfe rufen.111 Ganz anders hatte sein Urgroßvater König Ludwig XV. von Frankreich seine Hochzeitsnacht erlebt. Für ihn, den damals 15-Jährigen, wurde die erste Nacht an der Seite der polnischen Exilprinzessin Maria Lesczyńska zur großen sexuellen Initiation. Bis dahin hatte sein Erzieher, der spätere Kardinal Fleury,112 den jungen König zu völliger Enthaltsamkeit angehalten. Nunmehr, mit kirchlichem Segen und mit der genuinen Virilität der französischen Bourbonen ausgestattet, erschloss sich dem jungen König die Welt der Erotik in dieser Nacht offenbar so allumfassend, dass er sie bis in die letzten Tage seines Lebens nicht mehr verlassen sollte.113 107 Charlotte Auguste Prinzessin von Großbritannien, Herzogin und Königin von Württemberg (1766–1828), Tochter König Georgs III., seit 1796 zweite Gemahlin des Herzogs und späteren ­Königs Friedrich I. von Württemberg. 108 Thomsen, Sabine: Die württembergischen Königinnen. Charlotte Mathilde, Katharina, Pauline, Olga, Charlotte – ihr Leben und Wirken. Tübingen ²2007, S. 19. 109 Ferdinand VII. König von Spanien (1784–1833), Sohn König Karls IV., 1814–1833 spanischer König. 110 Marie Antoinette Prinzessin von Neapel, Kronprinzessin von Spanien (1784–1806), Tochter des neapolitanischen Königs Ferdinand I., seit 1802 Gemahlin des späteren Königs Ferdinand VII. von Spanien. 111 Schreiben Königin Marie Carolines von Neapel an ihre Tochter Kaiserin Marie Therese vom 9. November 1802 (Original im HHStA), zit. nach Corti, Ich, eine Tochter Maria Theresias, S. 404. 112 André-Hercule de Fleury (1653–1743), 1726 Kardinal. 113 Jurewitz-Freischmidt, Galantes Versailles, S. 334.

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Kehren wir zur Initiation zurück, die nur in Randglossen europäischer Sittengeschichte greifbar wird. Recht gut informiert über die Einführung in die Welt der Erotik sind wir im Bezug auf Kaiser Franz Joseph114. Ein erstes Ahnen, dass es abseits von Schulstunden und militärischem Drill, Disziplin und hoheitsvoller Gemessenheit noch etwas gibt, erfuhr der junge Erzherzog im Alter von 14 Jahren. Seine ebenso strenge wie scharfsichtige Mutter115, deren ehrgeiziges Ziel es war, den perfekten oder „idealen“ Kaiser zu erziehen, vertraute 1844 ihrem Tagebuch an, dass sich ihr damals 14-jähriger Sohn offenbar erstmals verliebt hatte: Objekt seiner Leidenschaft war eine preußische Baroness. Dazu Erzherzogin Sophie: Franzi ist in zarter Art und Weise mit Fräulein von Marwitz beschäftigt. Es ist das erste Mal, dass ein solches Gefühl in ihm erwacht. Ich kann den Eindruck nicht genügend beschreiben, den mir das gemacht hat. Dieser Bub, den ich noch für ein Kind hielt, geht plötzlich, ohne dass ich es merkte, zu den Neigungen und Gefühlen eines jungen Mannes über. Das ließ mir eine vage Unruhe wie eine peinliche Sensation empfinden und es scheint mir, als gehöre er mir nicht mehr so wie früher.116 Im strengen Reglement des Wiener Hofes, das alle Bereiche des Lebens bis ins Detail regelte, blieb auch die Initiation nicht dem Zufall überlassen. Man pflegte das Heranwachsen eines jungen Mannes und sein Hineinreifen in die Welt der Sexualität als zwar heikle Sache zu betrachten, zugleich jedoch als eine Angelegenheit, die unumgänglich war, und demnach vorerst als ein rein hygienisches Problem betrachtet wurde. Im Haushalt eines jungen Erzherzogs gab es eine sogenannte „Initiatrice“. Ihr oblag es, den jungen Mann in die Welt der Erotik einzuführen. Als Grunderfordernis für die Initiatrice galt am Wiener Hof, dass die betreffende Dame eine „gesunde, animalische Konstitution“ haben müsse. Rang und Stand waren zweitrangig.117 Die erste sexuelle Einführung erfuhr der spätere Kaiser im Alter von 16 oder 17 Jahren durch eine – wie seine Biografen vermerken – „reife, üppige, vollerblühte Frau aus Krems“ 114 Franz Joseph I. Kaiser von Österreich (1830–1916), Sohn von Erzherzog Franz Karl, folgte 1848 seinem Onkel Kaiser Ferdinand I. 115 Sophie Prinzessin von Bayern, Erzherzogin von Österreich (1805–1872), Tochter des bayerischen Königs Maximilian I., seit 1824 Gemahlin Erzherzog Franz Karls (1802–1878), des jüngeren Sohnes von Kaiser Franz I. Der Erzherzog verzichtete 1848 auf die Nachfolge nach seinem Bruder Kaiser Ferdinand I. zugunsten seines ältesten Sohnes Franz Joseph. 116 Holler, Gert: Sophie. Die heimliche Kaiserin. Mutter Franz Josephs I. Wien/München 1993, S. 112. Holler zitiert dabei aus dem Tagebuch der Erzherzogin vom 14. August 1844. 117 Holler, Sophie, S. 239.

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und somit jenem Typus, der uns später in der Person der reifen Katharina Schratt entgegentritt.118 Nachdem die ersten Schritte getan waren, folgte als zweite Phase der Initiation eine – man ist versucht zu sagen – Verfeinerung. Für diese Phase stand zumeist eine Dame von Rang, Stand und höfischer Lebensart zur Verfügung, gleichsam statt einer – namenlosen – „hygienischen Frau“ eine „hygienische Comtesse“. Eine solche Dame musste natürlich ein gewisses Maß an Erfahrung mitbringen, daher kamen für diese Rolle im Regelfall nur verheiratete oder jung verwitwete Damen infrage, deren Wesen ein gewisser sinnlicher Grundton eigen war. Im Fall Kaiser Franz Josephs war dies Gräfin Elisabeth Ugarte,119 die Tochter eines preußischen Offiziers, die mit dem österreichischen Gesandten am Stuttgarter Hof verheiratet war. Die Gräfin war acht Jahre älter als der junge Kaiser, die dieser im Fasching 1848 kennenlernte. Wie intensiv die Beziehung zwischen den beiden war, da die Gräfin zum Zeitpunkt der ersten Bekanntschaft mit dem Kaiser schwanger war, sei dahingestellt. In den folgenden Jahren war sie jedoch gleichermaßen der erotische Fixstern im Leben des jungen Mo­ narchen, der – von seinem Generaladjutanten Graf Grünne120 ermuntert – kein Kind von Traurigkeit war. Im Fasching 1851 war die Schwärmerei des Kaisers für die Gräfin besonders deutlich. Als sich das Paar nach einem Tanz jedoch gemeinsam in einen anderen Raum zurückzog, war in den Augen seiner Mutter Erzherzogin Sophie Feuer am Dach, denn Verliebtheit oder gar Liebe waren im Lehrplan nicht vorgesehen. Bevor der Kaiser auf Gedanken kam, die über den „hygienischen Aspekt“ der Angelegenheit hinausgingen, bestellte die Kaisermutter die Gräfin zu sich und ließ sie wissen, dass sie sich nun wiederum ihrer Familie in der Provinz widmen sollte. Die Initiation war beendet!121

118 Bagger, Eugene: Franz Joseph – eine Persönlichkeitsstudie. Zürich/Leipzig/Wien 1927, S. 235. 119 Elisabeth von Rochow-Briest, verehelichte Gräfin Ugarte (1822–1896), seit 1845 die zweite Gemahlin des k. k. Kämmerers und Gesandten Joseph Graf Ugarte (1804–1862). 120 Karl Ludwig Graf Grünne (1808–1884), 1848 Obersthofmeister Kaiser Franz Joseph I., 1850–1859 Vorstand der kaiserlichen Militärkanzlei. 121 Holler, Sophie, S. 240, wobei Holler schreibt, die Erzherzogin hätte der Gräfin nahegelegt, zu ihrem Vater zurückzukehren. Tatsächlich war Ugarte damals bereits verheiratet. Die Schilderung bei Holler erinnert an die Darstellung in der an und für sich gut recherchierten romanhaften Biografie von Ottokar Janetschek: Kaiser Franz Joseph. Wien 1949, in der es eine solche Szene zwischen Sophie und der Gräfin gibt.

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Prima nox Ziel der dynastischen Ehe war die Zeugung von Nachkommenschaft. Nichts war wichtiger als ein baldiger glücklicher Vollzug der Ehe. Und nichts festigte die Stellung einer jungen Dame in der Familie, bei Hof und darüber hinaus so wie die Geburt von Kindern, insbesondere eines männlichen Erben. Prinzen gingen im Regelfall nicht unwissend in die Hochzeitsnacht. Bei Prinzessinnen war die Sache anders. Im besten Fall wurden sie von der Mutter, einer älteren Schwester oder Schwägerin, mitunter auch von der Erzieherin oder Obersthofmeisterin zur Seite genommen und kurz in das, was sie im Ehebett erwartete, eingeführt. Im Regelfall taten sich dadurch mehr Fragen auf als beantwortet wurden. Das 18. Jahrhundert war diesbezüglich offener als das 19. Jahrhundert, in dem die Prüderie derart überhandnahm, dass manche junge Dame über die Geschehnisse dieser ersten Nacht nie hinwegkam. Louise von Coburg122, die älteste Tochter König Leopolds II.123 von Belgien, die 1875 noch nicht 17-jährig mit einem Cousin124 ihres Vaters verheiratet wurde, türmte in der Hochzeitsnacht aus dem Schlafzimmer, da sie in völliger Unkenntnis und daher fassungslos darüber war, was nun mit ihr geschehen sollte.125 Sie versteckte sich in der königlichen Orangerie. Eine Palastwache alarmierte diskret die Königin126, die ihre Tochter in Empfang nahm und vor Ort über diesen Aspekt von Ehe aufklärte. Hierauf wurde sie in das Schlafzimmer zurückgebracht. Der fast doppelt so alte Bräutigam, ein an den Maßstäben und Erfahrungen der Wiener Halbwelt geschulter Lebemann, war auch beim zweiten Versuch alles andere als einfühlsam. Die – nach seinen Worten – „belgische Gans“, die er geheiratet hatte, sollte zu einer mondänen Dame von Welt nach seinem Geschmack erzogen werden. Seiner Vorstellung nach begann die Erziehung am Tag der Heirat, erotische Literatur, seine eindeutige Asiaticasammlung, schwere Weine und die schwülstige Atmosphäre seines Wiener Palais waren weitere Unterrichtseinheiten. In der Tat, die „bel122 Louise Prinzessin der Belgier, Prinzessin von Sachsen-Coburg und Gotha (1858–1924), Tochter des belgischen Königs Leopold II., seit 1875 Gemahlin von Prinz Philipp von Coburg. Die Ehe wurde 1906 geschieden. 123 Leopold II. König der Belgier (1835–1909) folgte 1865 seinem Vater König Leopold I. 124 Philipp Prinz von Sachsen-Coburg und Gotha (1844–1921), Sohn des Prinzen August von Coburg, Enkel des französischen Königs Louis Philippe, Bruder des späteren bulgarischen Zaren Ferdinand I. 125 Holler, Gerd: Louise von Coburg. Ihr Kampf um Liebe und Glück. Wien 1991, S. 32. Zur Biografie der Prinzessin weiters: Bestenreiner, Frauen aus dem Haus Coburg, S. 107–167. Zur Hochzeitsnacht der Prinzessin vgl. auch ihre Memoiren: Coburg, Louise Prinzessin von: Throne, die ich stürzen sah. Zürich 1924, S. 83. 126 Marie Henriette Erzherzogin von Österreich (1836–1902), Tochter des ungarischen Palatins Erzherzog Joseph, seit 1853 Gemahlin des späteren belgischen Königs Leopold II.

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gische Gans“ wurde zu einer mondänen Frau, die das Geld mit beiden Händen zum Fenster ­hi­nauswarf und schlussendlich ihren Mann vor ganz Europa blamierte, indem sie ihm mit einem kroatischen Rittmeister127 durchging.128 Auch ihre Schwester Stephanie, die 1881 mit dem österreichischen Kronprinzen Rudolph129 verheiratet wurde, machte in ihrer Hochzeitsnacht eine ähnliche Erfahrung.130 Auch sie wurde zu einer Dame von Welt und – ein Jahrzehnt nach Mayerling – an der Seite eines ungarischen Aristokraten sogar eine glückliche Ehefrau. In ihren Memoiren, die sie unter Missbilligung ihrer Familie herausgab, lesen wir über den Beginn ihrer Ehe: Diese Nacht! Welche Schmach! Auch sie war auf einen durchaus erfahrenen Lebemann gestoßen, der seinen Geschmack sowie seine Erwartungen und Vorlieben ebenfalls an Schauspielerinnen und Damen der Wiener Halbwelt geschult hatte. Der 16-jährige belgische Backfisch, dem ihn eine dynastische Konventionsehe beschert hatte, musste überfordert sein. Recht detailliert sind wir auch über den Beginn der Ehe von Kaiser Franz Joseph und seiner bayerischen Gemahlin Elisabeth131 informiert. Am Morgen nach der ersten gemeinsamen Nacht des jungen Paares saßen bereits die beiden Schwiegermütter am Frühstückstisch und musterten mit erwartungsvollem Blick das junge Paar. Bald darauf nahm Erzherzogin Sophie ihren Sohn zur Seite, der seiner Mutter eingestand, mit dem Vollzug der Ehe aus Rücksicht auf die überforderte Braut noch gewartet zu haben. Bald darauf wusste es der ganze Hof. Als es in der dritten Nacht schließlich so weit war, wusste dies der Hof bereits am nächsten Morgen und die Erzherzogin lud das junge Paar zum Frühstück. Der jungen Kaiserin war die Einladung entsetzlich peinlich. Als sie die Appartements der Schwiegereltern betrat, wartete die gesamte Familie auf sie. Noch Jahrzehnte später kam die Kaiserin auf diesen demütigenden Morgen zu sprechen: Mir war das grässlich. Ihm zu

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Geza (von) Mattachich-Keglevich (1867–1923), Oberleutnant in einem Ulanenregiment. Vgl. dazu ausführlich die Biografie von Holler, Louise von Coburg. Rudolph Kronprinz von Österreich (1858–1889), Sohn Kaiser Franz Josephs I. Ausführlich dazu Schiel, Irmgard: Stephanie. Kronprinzessin im Schatten von Mayerling. Wien 1978. Über den schwierigen Beginn ihrer Ehe äußerte sich die ehemalige Kronprinzessin in ihren Memoiren: Belgien, Stephanie Prinzessin von: Ich sollte Kaiserin werden. Leipzig 1935. Die He­ rausgabe dieser Memoiren war höchst umstritten. Stephanies Tochter Elisabeth Windisch-Graetz versuchte das Erscheinen durch Gerichtsbeschluss zu unterbinden. Auch seitens der ehemaligen kaiserlichen Familie war man gegen die Veröffentlichung der Memoiren. Über die Entstehung der Memoiren ausführlich: Stockhausen, Juliana von: Im Schatten der Hofburg. Gestalten, Puppen und Gespenster. Wien 1952. 131 Elisabeth Herzogin in Bayern, Kaiserin von Österreich (1837–1898), Tochter Herzog Maximilians, seit 1854 Gemahlin Kaiser Franz Josephs I. von Österreich.

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lieb ging ich hin!132 Selbst in einem solchen Moment kam der Kaiser dem Wunsch seiner Mutter nach, obwohl er mit Blick auf seine junge, durch die Hochzeit und das Wiener Zeremoniell völlig überforderte Frau auf eine zeremonielle „Bettlegeszene“ verzichtet hatte, die durchaus den Usancen an Europas Höfen entsprach. Sein Onkel, König Johann von Sachsen133, berichtete über diese Zeremonie vor seiner eigenen Hochzeitsnacht: Sämtliche verheiratete Prinzessinnen mit ihren Obersthofmeisterinnen begleiteten die Braut nach Hause, wohnten ihrer Toilette bei und hielten ein Gebet, worauf sie zu Bett gebracht wurde. Jetzt musste die Obersthofmeisterin der Braut mich benachrichtigen, dass ich kommen könne. In Begleitung sämtlicher verheirateter Prinzen kam ich nun in das Schlafzimmer und musste mich nun in Anwesenheit dieser sämtlichen Prinzen, Prinzessinnen und Damen ins Bett legen. Als die Familien und Umgebungen verschwunden waren, stand ich noch einmal auf, um die eigentliche Nachttoilette zu machen.134 Franz Joseph hatte für seine Frau einen intimeren Rahmen gewählt. Nur die beiden Mütter hatten das Brautpaar zu Bett geleitet. Dazu Erzherzogin Sophie: Louise und ich führten die junge Braut in ihre Räume. Ich ließ sie mit ihrer Mutter und blieb im kleinen Zimmer neben dem Schlafzimmer, bis sie im Bett war. Ich holte dann meinen Sohn und führte ihn zu seiner jungen Frau, die ich noch sah, um ihr eine gute Nacht zu wünschen. Sie versteckte ihr hübsches, von einer Fülle schönen Haares umflossenes Gesicht in ihrem Kopfpolster, wie ein erschreckter Vogel sich in seinem Nest versteckt.135 Von der Hochzeitsnacht der neapolitanischen Königin Marie Caroline136, deren Brautwerbung wir oben kurz gestreift haben, wissen wir, dass ihre „Aufklärung“ unmittelbar vor der Hochzeitsnacht durch ihre Schwägerin erfolgte. Ihr Bruder, der spätere Leopold 132 Hamann, Brigitte: Elisabeth. Kaiserin wider Willen. München 1998, S. 72–73 sowie S. 612 Anm. 19. Hamann bezieht sich hier auf eine Mitteilung der Kaiserin an ihre Hofdame Marie Gräfin Festetics, die diese in ihrem Tagebuch vom 15. Oktober 1872 festgehalten hatte. 133 Johann I. König von Sachsen (1801–1873), Sohn des Prinzen Maximilian von Sachsen, folgte 1854 seinem Bruder König Friedrich August II. 134 Kretzschmer, Hellmuth (Hrsg.): Lebenserinnerungen des Königs Johann von Sachsen. Göttingen 1958, S. 71. 135 Hamann, Elisabeth, S. 71, die hier aus Sophies Tagebuch vom 24. April 1854 zitiert. 136 Erzherzogin Marie Caroline von Österreich, Königin von Neapel-Sizilien (1752–1814), Tochter Kaiser Franz’ I. und Maria Theresias, seit 1768 Gemahlin des neapolitanischen Königs Ferdinand I.

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II.137, der seine Schwester nach Neapel begleitet hatte, schrieb seiner Mutter an diesem Abend nach Wien: Ich fürchte für den kommenden Tag, er wird schwierig und hart für die Königin sein.138 Bis in den Morgen bleiben Bruder und Schwägerin139 wach. Als der König aufsteht, ist er etwas verlegen, doch dann begibt er sich auf die Jagd. Auf die Frage nach seiner jungen Frau, gibt er die Antwort: Ja, sie schläft wie eine Tote und schwitzt wie ein Wildschwein.140 Während der König auf der Jagd ist, spricht die Großherzogin mit ihrer jungen Schwägerin. Bezeichnenderweise wartet die junge Ehefrau die entscheidende Frage gar nicht ab, sondern begrüßt ihre Schwägerin mit den Worten: Der König habe sich très rudement et de très mauvaise grace benommen.141 Wie überhaupt die junge Prinzessin von erfrischender seelischer Robustheit ist, schreibt sie doch wenig später über ihren Gemahl: Der König ist sehr hässlich von Angesicht, aber man gewöhnt sich daran!142 Das Zeremoniell bestimmte jedoch nicht nur die Hochzeitsnacht, sondern auch den Alltag der Ehe, und dies hin bis in den privaten, ja sogar intimsten Bereich. Der Besuch des Königs bei der Königin war am französischen Hof von einem ausgefeilten Zeremoniell begleitet. Der König passierte die große Galerie, der Hof und die ausländischen Diplomaten bildeten die Komparserie jenes Schauspiels, an dessen Ende die eheliche Intimität stand. Man war daher allgemein über das Eheleben eines Monarchen orientiert, vor allem war die Häufigkeit eines Besuches zugleich ein Gradmesser, d. h., auch jede Entfremdung zwischen den Partnern wurde sofort registriert. Ein Monarch von der Lendengewalt eines Ludwig XIV. mag derartige Besuche in den Gemächern der Königin mit dem ihm eigenen Selbstverständnis eines Herrschers und Mannes von besonderer Virilität absolviert haben, für einen Monarchen, dessen sexuelle Bedürfnisse gering waren oder in eine gänzlich andere Richtung gingen, mochte ein solches, gleichsam vor den Augen des Hofes zu vollziehendes Eheleben zur Qual werden. Dies führt uns zu einem weiteren Abschnitt unserer Betrachtungen.

137 Leopold II., röm.-deutscher Kaiser (1745–1792), Sohn Kaiser Franz’ I., 1765 als Peter Leopold Großherzog von Toskana, folgte 1790 seinem Bruder Kaiser Joseph II. 138 Zit. nach Corti, Ich, eine Tochter Maria Theresias, S. 55. 139 Maria Ludovica Infantin von Spanien (1745–1792), Tochter König Karls III. von Spanien, seit 1765 Gemahlin des späteren Kaisers Leopold II. 140 Corti, Ich, eine Tochter Maria Theresias, S. 56. 141 Schreiben Großherzog Peter Leopolds von Toskana an seine Mutter Maria Theresia vom 14. Mai 1768 (Original im HHStA), zit. nach Corti, Ich, eine Tochter Maria Theresias, S. 56. 142 Schreiben von Königin Marie Caroline von Neapel an ihre einstige Erzieherin Walpurga Gräfin Lerchenfeld vom 22. Mai 1768 (Abschrift im HHStA), zit. nach Corti, Ich, eine Tochter Maria Theresias, S. 62.

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Was dann, wenn Mann nicht will oder kann? Wir haben eben Ludwig XIV. die große Galerie von Versailles durchschreiten lassen, um der Königin einen Besuch abzustatten. Für seinen Zeitgenossen, den letzten spanischen Habsburger Karl II.143, musste jeder Gang in die Gemächer der Königin, den er mit großem Zeremoniell vollzog, zum Spießrutenlauf werden. Denn im übertragenen Sinn beobachtete ganz Europa die Versuche des Königs, doch noch einen Erben zu zeugen. Der König, der sich in düsterem Schwarz durch den Escorial schleppte, war von Geburt an ein schwächliches Kind gewesen, hatte spät laufen und reden gelernt, mehrere Ammen verschlissen, ehe er feste Nahrung zu sich nehmen konnte: Im Prinzip war er die Karikatur eines Königs, Spiegelbild seines morsch gewordenen Reiches, in dem dereinst die Sonne nicht untergegangen war, das nun jedoch die Diplomatie der europäischen Höfe beschäftigte, die das Erbe bereits aufteilten. Der König war schwach, bigott und obendrein von bedauernswerter Hässlichkeit.144 Sein Vater, Philipp IV.,145 den uns die Bilder von Velasquez als müden Lebemann zeigen, war ein Rey galante gewesen. Vor den Augen dieses Königs hatten Frauen aller Stände und Klassen Gnade gefunden, der Bogen spannt sich in seinem knapp sechzigjährigen Leben von den Töchtern der spanischen Aristokratie, über Witwen, Jungfrauen und Nonnen bis hin zu Kammerzofen, Schauspielerinnen und Prostituierten. Das Liebesleben des Königs war schon zu seinen Lebzeiten durch Legenden angereichert. Prostituierten pflegte er demnach in der Regel 20 Escudos auszahlen zu lassen. Eine der Damen fühlte sich durch den Preis derart beleidigt, dass sie dem König als Mann verkleidet tags darauf einen Sack mit 2000 Escudos in den Palast brachte und diesen mit dem Satz: So zahle ich meine Geliebten! übergab. Die Erzählungen über Philipps Eskapaden ließen sich abendfüllend ausbreiten; man könnte Ehemänner in den Kreis einführen, die den König verprügelten, 143 Karl II. König von Spanien (1661–1700) folgte 1665 – vorerst unter Vormundschaft seiner Mutter Maria Anna – seinem Vater König Philipp IV. In seinem Testament setzte er den französischen Prinzen Philipp von Anjou, einen Enkel seiner Schwester Maria Theresia und König Ludwigs XIV. von Frankreich, zum Erben der spanischen Krone ein. 144 Zur Biografie Karls II. bietet Kalnein, Albrecht Graf von: Karl II. (1665–1700). In: Bernecker, Walther L. / Collado Seidel, Carlos / Hoser, Paul: Die spanischen Könige. 18 historische Porträts vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München 1997, S. 115–132, einen Überblick nebst Angaben zur wichtigsten biografischen Literatur (S. 313–315). Vgl. dazu auch: Pfandl, Ludwig: Das Ende der spanischen Machtstellung in Europa, München 1940; Nada, John: Karl der Behexte. Der letzte Habsburger auf Spaniens Thron. Wien 1963; Bayern, Adalbert Prinz von: Das Ende der Habsburger in Spanien. 2 Bände. München 1929, von dem auch eine Biografie über Karls zweite Gemahlin verfasst wurde: Baviera, Adalberto de: Mariana de Neoburgo, Reina de España. Madrid 1938. 145 Philipp IV. König von Spanien (1605–1665) folgte 1621 seinem Vater König Philipp III.

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als sie ihn in flagranti ertappten, durchbrochene Wände, um in ein Kloster einzudringen, Nonnen, die rasch aufgebahrt wurden, um den König abzuhalten usw. 32 außereheliche Kinder werden diesem König zugemessen und des Weiteren eine Reihe von Gerüchten und Spekulationen, die von einer Syphiliserkrankung wissen wollen bis hin zum Umstand, dass der König auch dem eigenen Geschlecht durchaus zugetan gewesen sei.146 Von seinen Söhnen erreichte nur der letztgeborene Karl das Erwachsenenalter. Im Alter von fünf Jahren folgte er seinem Vater auf den Thron. Mit ihm sollten die spanischen Habsburger erlöschen. Karl II. war offenbar zum Geschlechtsverkehr überhaupt unfähig. Die medizinischhistorische Forschung hat über dieses Thema viel spekuliert. Wo auch immer die Gründe gelegen haben mögen, der spanische Hof wurde zunehmend zum Pandämonium einer sterbenden Monarchie, in dem Bigotterie und Aberglaube einander überboten. Um den schwächlichen Monarchen, dessen Gesundheitszustand ohnehin nie ein guter war, die Zeugung eines Erben zu ermöglichen, soll man sogar auf die Idee verfallen sein, sich angesichts der lahmen königlichen Lenden der Kraft eines Heiligen zu versichern und daher dem Königspaar einen mumifizierten Heiligen ins Bett gelegt haben, neben dem der Verkehr stattfinden sollte. Seinen Höhepunkt erreichte der Wahn, der König sei nur verhext und deshalb zum Verkehr unfähig, als man ihm riet, im Pantheon, der Königsgruft des Escorial, den Verkehr mit seiner Gemahlin zu versuchen, gleichsam in Anwesenheit und mit Unterstützung seiner Ahnen.147 Ein Fiasko im Ehebett löste man unterschiedlich. Heinrich VIII.148 musste 1540, als ihm mit Anna von Cleve149 eine vierte Ehefrau ins Haus stand, feststellen, dass er nicht mehr der junge kraftvolle Prinz von einst war, sondern ein müder, gichtkranker, übergewichtiger, alter Mann. Doch die Schuld für sein Versagen in der Hochzeitsnacht und in den folgenden Tagen war bald gefunden: die Braut selbst, deren geschöntes Bild dem König diese politische Hochzeit schmackhaft gemacht hatte. Hatte der französische Botschafter in England beim Eintreffen der Braut noch nobel-zurückhaltend formuliert, die Festigkeit des Willens in ihrem Gesicht wirke dem Mangel an Schönheit entgegen – verkürzt formuliert charakterfest, aber hässlich, so war der König in seinem Urteil eindeutiger und direkter: 146 Vocelka / Heller, Private Welt der Habsburger, S. 140–145. Zur Biografie Philipps IV. zusammenfassend: Collado Seidel, Carlos: Philipp IV. (1621–1665). In: Bernecker / Collado Seidel / Hoser (Hrsg.), Die spanischen Könige, S. 97–114, mit weiterführender biografischer Literatur (S. 312–313). 147 Vocelka / Heller, Private Welt der Habsburger, S. 145. 148 Heinrich VIII. König von England (1491–1547) folgte 1509 seinem Vater König Heinrich VII. 149 Anna Prinzessin von Cleve, Königin von England (1515–1557), Tochter Herzog Johanns III., wurde 1540 die Gemahlin König Heinrichs VIII., der die Ehe bald danach wieder auflösen ließ. Die Prinzessin blieb in England.

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Man mag sagen, was man will, schön ist sie nicht! Am Tag nach der Hochzeitsnacht wurde er noch deutlicher: Der Körper der gänzlich unerfahrenen Braut sei in so liederlichem und untauglichem Zustand, dass er keinerlei Lust in ihm erregen und hervorbringen konnte. Die Ehe wurde geschieden. Da Anna nicht nach Cleve zurückwollte, blieb sie im Rang einer „Schwester des Königs“ in England.150 Ein Machtmensch vom Format Heinrichs VIII., der bekanntermaßen mit seinen Ehefrauen nicht gerade sanft umging, tat sich leichter, wenn er sein eigenes Unvermögen auf die Unerfahrenheit seiner Gemahlin abschob und obendrein noch wenig galant ihre Hängebrüste und die Schlaffheit ihres Fleisches ins Treffen führte.151 Ein Erbprinz eines mittleren italienischen Herzogtums tat sich schon schwerer, wenn man seine Männlichkeit anzweifelte und ihm obendrein hinter vorgehaltener Hand der Sodomie, also der Homosexualität, bezichtigte. Der Erbprinz Vincenzo Gonzaga152 hatte der Heirat mit Margerita von Parma153 aus dynastischen und finanziellen Gründen zugestimmt, da ihm die Braut eine Mitgift von 300.000 Kronen zubrachte. Zuvor hatte er sich um die Tochter154 des Großherzogs von Toskana beworben, doch da dem Großherzog die Partie nur 100.000 Kronen wert war, hatte die Dame aus Parma den Zuschlag erhalten. Die Ehe zwischen dem 19-Jährigen und der 14-jährigen Farnese-Tochter endete alsbald in einem Fiasko. Die Ehe wurde vorerst nicht vollzogen, da die Braut zu jung war. Im Laufe der Zeit schlich sich ob der ausbleibenden Konsumation vor allem beim herzoglichen Schwiegervater ein Unbehagen ein, denn die Sicherung der Thronfolge hatte oberste Priorität. Da die junge Frau nicht schwanger wurde, wurde sie untersucht und die Mantuaner Ärzte stellten fest, dass eine lebensgefährliche Operation notwendig wäre, um die junge Herzogin fruchtbar zu machen. Der Herzog von Mantua155 schickte seine Schwiegertochter mit dem Satz Ihre eigenen Leibärzte sollen sie kurieren! nach Parma zurück. Doch auch dort hatte man nicht mehr Glück.

150 Zur Biografie Annas von Cleve vgl. zusammenfassend Panzer, Englands Königinnen, S. 45–54, der diese Zitate entnommen sind. Zu den Ehen Heinrichs VIII. siehe Fraser, Antonia: Die sechs Frauen Heinrichs VIII. Düsseldorf ²1995. Weir, Alison: The six wives of Henry VIII. London 1997. 151 Zit. nach Panzer, Königinnen, S. 51. 152 Vincenco I. Gonzaga Herzog von Mantua (1562–1612) folgte 1587 seinem Vater Herzog Wilhelm I. 153 Margerita Farnese Prinzessin von Parma, Prinzessin von Mantua (1567–1643), Tochter Herzog Alexander Farneses von Parma, seit 1581 Gemahlin Vincenco Gonzagas. Die Ehe wurde 1582 annulliert. 154 Eleonore Medici Prinzessin von Toskana, Herzogin von Mantua (1566–1611), Tochter Großherzog Francescos I., seit 1585 zweite Gemahlin von Vincenco Gonzaga. 155 Wilhelm Gonzaga Herzog von Mantua (1538–1587), seit 1550 Herzog von Mantua.

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Die Gonzagas beantragten eine Annullierung der Ehe, die Farnese in Parma liefen dagegen Sturm und gaben Vincenzo die Schuld. Dieser sei ein Sodomit und zu normalem Beischlaf nicht fähig. Die Angelegenheit wurde an Papst Gregor XIII.156 herangetragen, der ein salomonisches Urteil zuungunsten Margeritas fällte. Diese habe ins Kloster zu gehen, wodurch die Ehe aufgelöst sei, an der Männlichkeit des Erbprinzen gebe es keinen Zweifel. Roma locuta, causa finita. Mantua, nunmehr wiederum mit einem unverheirateten Erbprinzen bedacht, wandte sich nach Florenz. Da regierende Fürsten stets rar sind und er seine einstmals mit 100.000 Kronen zu gering dotierte Tochter noch immer nicht an den Mann gebracht hatte, erhöhte der Großherzog von Toskana die Mitgift auf 300.000 Kronen, verlangte jedoch eine Probe von Vincenzos Männlichkeit: Vincenzo müsse diese an einer Jungfrau beweisen, jedoch vor Zeugen. Die Sache ging nach Rom und nach langem Hin und Her entschied man im Interesse der Sache dort: Nihil obstat. Auch die Gonzagas waren einverstanden. Giulia, 20 Jahre alt und das schönste Mädchen im Florentiner „Waisenhaus der Frömmigkeit“ wurde für die Probe ausersehen. Venedig war der Austragungsort, eine gemischte Kommission trat zusammen. Der erste Versuch misslang, die junge Dame litt an Verdauungsstörungen. Der zweite Versuch einige Tage später gelang. Überragend sogar, wie ein Mitglied der Kommission vorschnell befand, der im Auftrag der Kommission das Geschlecht Vincenzos befühlt hatte. Doch die junge Dame erhob Einspruch: Sie sei immer noch Jungfrau. Da die Aussagen der beiden Beteiligten in einem nicht überbrückbaren Gegensatz standen, bei dem es keinen gemeinsamen Nenner geben konnte, wurde ein dritter Durchgang angeordnet. Dieser glückte und am Erfolg des Herzogs gab es keinen Zweifel. Das war auch der Moment, an dem Giulia zugab, dass sie beim zweiten Mal gelogen hatte, weil sie gerne eine weitere diesbezügliche Demonstration erleben wollte.157 156 Papst Gregor XIII. (1502–1585) hieß mit bürgerlichem Namen Ugo Buoncampagni, 1572 zum Papst gewählt. 157 Cleugh, Medici, S. 375–377. Eine Abwandlung der Geschichte findet sich – mit anderen Personen und ins ausgehende 19. Jahrhundert verlegt – als Erzählung „Die Liebesprobe. Eine Bukowiner Geschichte“ beim österreichischen Schriftsteller Rudolf von Eichthal. Vgl. Eichthal, Rudolf: Die Liebesprobe. In: Habt acht! Altösterreichische Soldatengeschichten. Wien [1965], S. 125–205. Eichthal berichtet darin von einem verschuldeten altösterreichischen Offizier aus großem Haus – bezeichnenderweise nennt er ihn Albin Prinz von Gonzaga –, der, um sich zu sanieren, um die Tochter eines reich gewordenen jüdischen Industriellen anhält. Die Braut, seit einem Unfall verunstaltet, verlangt eine Probe seiner Männlichkeit, die er mit einem Mädchen einfacher Herkunft abzulegen hat. Die Geschichte nimmt bei Eichthal eine unerwartete Wendung. Die ausgewählte Kandidatin, die bereits seit Längerem für den Offizier schwärmt, und der junge Offizier verlieben

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Jede dynastische Ehe war auf die Zeugung von Nachkommenschaft ausgerichtet. Stand einem regierenden Dynasten so gar nicht der Sinn nach einer Ehefrau und auch nach keiner anderen Frau, so hatte er zwei Möglichkeiten: Er heiratete und beließ es bei der Eheschließung, oder das Paar arrangierte sich. Isabella II.158 von Spanien, zur Ehe mit ihrem frommen Cousin gedrängt, dem der Sinn mehr nach Beten als nach Frauen stand, befand nach der missglückten Hochzeitsnacht, dies sei zum einen kein Wunder, habe doch der Bräutigam159 mehr Spitzen an seinem Nachthemd getragen als sie selbst, und zum anderen kein Zustand auf Dauer: Die Königin war zwar keine schöne Frau, jedoch von besonderer Sinnlichkeit. Sie expedierte ihren Mann aus ihrem Bett und an den Rand ihres Lebens, indem sie ihn zum Titularkönig erklärte, fortan jedoch mit schöner Regelmäßigkeit von unterschiedlichen Männern schwanger wurde und ihre Dynastie auf ihre Art sicherte.160 Die eher kühle, aristokratische Olga von Russland, die 1846 die Gemahlin des nachmaligen Königs Karl I.161 wurde, zog sich diskret zurück, nachdem die ersten Versuche, die eheliche Gemeinschaft aufzunehmen, mehr oder weniger gescheitert waren, zumal der König seit einer venerischen Erkrankung zudem zeugungsunfähig war. Der König „pflegte“ – wie eine Biografin seiner Frau schreibt – „schon früh Männerfreundschaften“,162 in denen es von Anfang an homoerotische Komponenten gab. Deutlich wurde die Orientierung des Königs allerdings, als 1883 ein Amerikaner als Vorleser in seine Dienste trat. Der gut aussehende, gebildete und sich vorerst taktvoll gebende junge Mann aus Chicago, der sich zuvor auch als Prediger und Therapeut versucht hatte,

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sich ineinander bzw. für beide wird die Begegnung zur großen Initiation, sodass der Prinz auf die reiche Heirat verzichtet und das Mädchen heiratet. Isabella II. Königin von Spanien (1830–1904), Tochter König Ferdinands VII., folgte diesem 1833 – vorerst unter Vormundschaft ihrer Mutter Maria Christina –, dankte 1868 ab und ging nach Frankreich ins Exil. Franz Infant und (seit 1846) Titular-König von Spanien (1822–1902), Sohn des Infanten Franz de Paula, seit 1846 Gemahl der Königin Isabella II. Jacquet, Jean-Louis: Die spanischen Bourbonen. Lausanne 1969, S. 350–351, S. 365–370, S. 375–377. Zu Isabella II. vgl. Baumeister, Martin: Isabella II. (1833–1868). In: Bernecker / Collado Seidel / Hoser, Die spanischen Könige, S. 224–243, mit weiterführender Literatur (S. 321–322.) Zwei ihrer Töchter, die Infantinnen Maria da Paz und Eulalia, haben Erinnerungen verfasst, die von Isabellas Enkel, dem Historiker Prinz Adalbert von Bayern, herausgegeben wurden. Bayern, Adalbert Prinz v.: Vier Revolutionen und einiges dazwischen. Siebzig Jahre aus dem Leben der Prinzessin Ludwig Ferdinand von Bayern, Infantin von Spanien. München 1932; ders., An Europas Fürstenhöfen. Lebenserinnerung der Infantin Eulalia von Spanien 1864–1931. Stuttgart 1936. Vgl. auch die eigenen Lebenserinnerungen des Prinzen Adalbert: Erinnerungen 1900–1956. München 1991. Karl I. König von Württemberg (1823–1891) folgte 1864 seinem Vater König Wilhelm I. Thomsen, Die württembergischen Königinnen, S. 224.

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faszinierte den kränklichen 60-jährigen König. Nach und nach „unterstützte“ der König seinen jungen Galan mit mehr als einer Million Mark. 1888 ernannte er ihn zum Kammerherrn und erhob ihn in den Freiherrenstand. Bei Hof und im Adel protestierte man, vorerst verhalten, dann jedoch offen: Ein solcher Zustand ist eine Beleidigung für den gesamten schwäbischen Adel, formulierte es ein württembergischer Freiherr aus altem Haus. Die ausländischen Zeitungen berichteten darüber in großer Aufmachung.163 Der König war uneinsichtig. Er erwog sogar seinen Rücktritt. Erst Bismarck und der württembergische Kronprinz konnten ihn davon überzeugen, den Amerikaner fallen zu lassen. Seine letzte Liaison lebte der König diskreter. 1890 lernte er einen Bühnenelektriker kennen. In seinem Testament hinterließ er ihm ein beträchtliches Vermögen, eine Villa am Bodensee und eine doch eigentümliche Beschreibung ihres Verhältnisses: Er gewährte mir Trost in schwer durchlebter Zeit und er leistete mir wesentliche Dienste in Beziehung der elektrischen Beleuchtung der Kreuzgänge in Bebenhausen.164 Sein Standes- und Zeitgenosse Zar Ferdinand I. von Bulgarien hätte sich zu einem solchen Satz nie hergegeben. Auch sein Interesse galt der Technik – er chauffierte mit Leidenschaft Lokomotiven – und seine Leidenschaft waren, wie Gordon Brook-Shepherd festgehalten hat, „blonde, blauäugige Chauffeure“.165 Doch der „Fuchs des Balkan“ wie man diesen Fürsten, eine massige Gestalt, dessen Gesicht – ein mütterliches Erbteil – die imposante Nase der französischen Bourbonen zierte, nannte, war ein genialer Taktiker. In ihm, der es vom nachgeborenen Prinzen und kleinen österreichischen Husarenleutnant zum bulgarischen Zaren gebracht hatte, finden wir noch einmal die Eigenschaften, die man den Coburgern zumaß, Zähigkeit und ein Netzwerker der Sonderklasse. In den Augen seiner europäischen Standesgenossen galt er als „Parvenümajestät“. Man schnitt ihn über lange Zeit, wo immer man ihn schneiden konnte, verwies ihn bei jeder Gelegenheit auf die „billigen Plätze“, wie 1896 anlässlich der Krönung von Zar Nikolaus II.166, als man ihm im Protokoll einen beleidigend schlechten Platz zuwies. Ferdinand löste das Problem auf seine Art. Er erschien erst, als alle bereits Platz genommen hatten und auf den russischen Zaren warteten, schritt wie selbstverständlich in die erste Reihe, rückte mit erstaun163 Thomsen, Die württembergischen Königinnen, S. 225. Vgl. auch den biografischen Abriss zu König Karl: Hiller von Gaertringen, Friedrich Freiherr: Karl. In: Loren, Sönke / Mertens, Dieter / Press, Volker (Hrsg.): Das Haus Württemberg. Ein biographisches Lexikon. Stuttgart/Berlin/Köln 1997, S. 319–323, v.a. S. 323. 164 Thomsen, Die württembergischen Königinnen, S. 225. 165 Brook-Shepherd, Gordon: Monarchien im Abendrot. Europas Herrscherhäuser bis 1914. Wien/ Darmstadt 1988, S. 95. 166 Nikolaus II. Zar von Russland (1868–1918) folgte 1894 seinem Vater Zar Alexander III., dankte 1917 ab.

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ter Liebenswürdigkeit den Erstplatzierten zur Seite und nahm Platz. Er löste alles auf seine Weise. Sein mangelndes Interesse an blassen Prinzessinnen hinderte ihn nicht, mit einer167 vier Kinder168 zu zeugen. Als er seine dynastische Pflicht erledigte hatte und seine Frau starb, sah er sich nach einer neuen Gemahlin um. Eine ältliche deutsche Prinzessin169, die an einem kleinen Hof das unerfreuliche Leben einer geduldeten Tante gefristet hatte, war geneigt, die Werbung anzunehmen, Ferdinand heiratete sie, legte ihr die Obsorge für ihre Stiefkinder ans Herz und wandte sich wieder seinen Leidenschaften zu, der Politik, der Intrige und der Technik, Techniker eingeschlossen.170

Wenn die Frau nicht mehr will Ein Mann konnte sich arrangieren, so oder so. Ein Mann sollte Erfahrungen sammeln. Bei Frauen sah die Sache anders aus. Hier gab es keine Initiation, hier war Jungfräulichkeit das oberste Gebot. Vergaß sich eine hohe Frau, so waren die Folgen andere. Geschah dies vor der Ehe, so war die Chance, eine gute Partie zu machen, im Regelfall dahin, vor allem dann, wenn der Vorfall nicht hatte vertuscht werden können. Unabdingbar notwendig war, in einem solchen Fall rasch und diskret zu handeln. Man reiste – zumindest im 19. Jahrhundert – zur Erholung ins Ausland. Entstammte einer solchen Beziehung ein Kind, so wurde es fernab von Familie und Hof untergebracht. Kontakte zwischen Mutter und Kind gab es im Regelfall keine.171 167 Marie Luise Prinzessin von Bourbon-Parma, Fürstin von Bulgarien (1870–1899), Tochter König Roberts I. von Parma, seit 1893 die Gemahlin des Fürsten und späteren Zaren Ferdinand I. von Bulgarien. 168 Es waren dies der spätere Zar Boris III. (1894–1943, regierte 1918–1945), Prinz Kyrill (1895–1945), Prinzessin Eudoxia (1898–1985) und Prinzessin Nadejda (1899–1954), nachmalige Herzogin Albrecht Eugens von Württemberg. 169 Eleonore Prinzessin Reuss zu Köstritz, Zarin von Bulgarien (1860–1917), Tochter des Fürsten Heinrich IV., seit 1908 die zweite Gemahlin Zar Ferdinands I. von Bulgarien 170 Zur Biografie Ferdinands neben der gelungenen Darstellung bei Brook-Shepherd, Monarchien im Abendrot, S. 77–102 v.a. Constant, Stephen: Foxy Ferdinand, Tsar of Bulgaria. London 1979; Madol, Hans: Ferdinand von Bulgarien. Berlin 1931. 171 Einen solchen Fall einer unehelichen Mutterschaft schildert mit subtiler Ironie Péter Esterházy in seiner Harmonia Caelestis. Maria Anna Gräfin Esterházy (1742–1823) war 1767 Mutter eines unehelichen Sohnes geworden, der den Familiennamen Walsin erhielt, von ihr jedoch später adoptiert wurde, sodass die Nachkommen dieses Jean Marie Auguste Walsin-Esterházy (1767–1840) von Rechts wegen den Namen Esterházy führten, wenngleich sie nicht zur Familie zählten. Zuweilen führten die Mitglieder widerrechtlich auch den Grafentitel. Jean Walsins Enkel war der französi-

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Als man 1871 am dänischen Hof die Entdeckung machte, dass sich die 18-jährige Prinzessin Thyra172, jüngste Tochter des Königs173, in den bürgerlichen Kavallerieleutnant Wilhelm Friedemann Marcher174 verliebt hatte und diese Liebe nicht ohne Folgen geblieben war, schickte man die Prinzessin sofort nach Griechenland, wo ihr Bruder175 regierte. Offiziell ließ man verlauten, die Prinzessin sei an Gelbsucht erkrankt und werde daher längere Zeit in Griechenland verbringen. Dort brachte sie im November 1871 eine Tochter176 zur Welt, die zur Adoption freigegeben wurde. Ihre Eltern entsprachen immerhin ihrem Wunsch, dänische und nicht griechische Adoptiveltern für das Kind auszuwählen. Der Kindsvater musste sich vor dem König persönlich verantworten und beging bald darauf Selbstmord. Thyra heiratete 1878 den Sohn177 des letzten Königs von Hannover178. Eine Werbung König Wilhelms III. von Holland – wir sind ihm bereits begegnet – hatte sie abgelehnt.179

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sche Generalstabsoffizier Marie Charles Ferdinand Walsin-Esterházy (1847–1923), der eigentliche Autor des Dreyfus zugeschriebenen sog. Bordereau. Auf ihn nimmt Peter Esterházys Geschichte Bezug. Vgl. Esterházy, Peter: Harmonia Caelestis. Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Berlin 4 2002, S. 463–466. Eine leicht geänderte Fassung ist unter dem Titel Mon Oncle erschienen. Dazu: Esterházy, Peter: Mon Oncle. In: Klammer, Angelika (Hrsg.): Was für ein Péter. Über Péter Esterházy. Salzburg/Wien 1999, S. 94–96. Zum familiären Hintergrund Wiesflecker, Peter: Die Esterházy der Haydnzeit im Spiegel von Genealogie und Familiengeschichte. In: Kropf, Rudolf / Gürtler, Wolfgang (Hrsg.): Die Familie Esterházy im 17. und 18. Jahrhundert. Eisenstadt 2009, S. 47–70, hier S. 69–70. (= Tagungsband der 28. Schlaininger Gespräche) (= Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland 128) Thyra Prinzessin von Dänemark, Kronprinzessin von Hannover, Herzogin von Cumberland (1853–1933), Tochter König Christians IX., seit 1878 die Gemahlin des vormaligen Kronprinzen von Hannover, Ernst August Herzog von Cumberland. Christian IX. König von Dänemark (1818–1906) folgte 1863 König Friedrich VII. Christian war seit 1842 mit Prinzessin Luise von Hessen-Cassel (1817–1898) verheiratet. Wilhelm Friedemann (Vilhelm Friemann) Marcher (1841 [nach anderen 1845]–1872), Kavallerieoffizier. Georg I. König von Griechenland (1845–1913), vormals Prinz Wilhelm von Dänemark, Sohn König Christians IX., regierte seit 1863 in Griechenland. Maria Katharina (Kate) Jørgensen (1871–1964) wurde vom Ehepaar Rasmus und Anne Marie Jørgensen adoptiert, heiratete 1902 Hjalmar Pløyen-Holstein (1872–1942). Ernst August Herzog von Cumberland (1845–1923), 1851–1866 Kronprinz von Hannover, nach dem Tod seines Vaters, des vormaligen Königs V. Prätendent für den Thron Hannovers und seit 1884 Prätendent für den Thron des Herzogtums Braunschweig. Georg V. König von Hannover (1819–1878) folgte 1851 seinem Vater König Ernst August, 1866 von Preußen abgesetzt, ging 1866 ins österreichische Exil. Vgl. dazu Steckhan, Peter: Welfenbericht. 150 Jahre Familiengeschichte der Herzöge zu Braun­ schweig und Lüneburg dokumentiert in Photographie und Film. Göttingen 2008, S. 52 sowie S. 218 Anm. 87, sowie Bramsen, Bo: Huset Glücksborg i 150 å, 1825 – 6. Juli – 1975. 2 Bände. Kopenhagen 1978, S. 164–166.

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Konnte man einen solchen „Fall“ diskret abhandeln, so reagierte die Gesellschaft mit nobler Zurückhaltung. Man verlor kein Wort darüber. Eine rasche Heirat mit einem Herrn, dessen Entgegenkommen seiner künftigen Karriere förderlich war, war eine Option. Je höher der Adel war, den die vorzeitig zu Mutterehren Gekommene besaß, umso schwieriger wurde eine arrangierte Heirat, um eine unzeitgemäße Schwangerschaft zu kaschieren. Hier war es im Regelfall wohl so, dass man – wie im Fall der dänischen Prinzessin – eine Entbindung fernab des Hofes abwartete und das Kind zu Pflegeeltern gab. 180 180 Als Beispiele für uneheliche bzw. außereheliche Mutterschaft europäischer Prinzessinnen im 19. Jahrhundert vgl. die Biografie der späteren Königin Friederike von Hannover (1778–1841), einer geborenen Prinzessin von Mecklenburg-Strelitz, die als Witwe eines preußischen Prinzen 1798 schwanger wurde. Der Vater war möglicherweise der britische Prinz Adolf Friedrich Herzog von Cambridge, ein Sohn König Georgs III. Friederike heiratete einen Prinzen von Solms-Braunfels, 1815 den britischen Prinzen Ernst August (1771–1851), der 1837 König von Hannover wurde. Vgl. dazu: Kwan, Elisabeth E. / Röhrig, Anna E.: Frauen vom Hof der Welfen. 20 Biographien. München 2008, S. 215–227. Ein anderes Beispiel ist die Biografie von Friederikes Schwester Therese Fürstin von Thurn und Taxis (1773–1839), die Mutter von fünf außerehelichen Kindern war. Vgl. dazu Panzer, Marita A.: Fürstinnen von Thurn und Taxis. Regensburg 2008, S. 57–82. Ihr ältester unehelicher Sohn, Georg (1806–1860), wurde 1815 (Diplom 1816) mit Wirkung von 1812 unter dem Namen eines Grafen von Stockau in den österreichischen Grafenstand erhoben. Vater dieser Kinder war der kgl. bayerische Kämmerer, Geheime Rat und Gesandte Maximilian Graf von und zu Lerchenfeld. Zur Familie Stockau vgl. Adelslexikon Bd. XIV. Limburg an der Lahn 2003, S. 138. Schwennike, Detlef (Hrsg.): Europäische Stammtafeln. Neue Folge. Band III/2. Marburg 1983, Tafel Nr. 272. Zum familiären Umfeld der Grafen Stockau und ihre Integration in den österreichischen Adel neben den genealogischen Handbüchern (Gotha, Grafen 1835–1941 und Genealogisches Handbuch des Adels, Grafen, Band B I [1953]) auch Fuhst, Herbert: Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft. Wien 1931. Die anderen, nicht unter dem Namen und Titel Graf von Stockau nobilitierten Kinder Thereses bei Panzer, S. 58 (Stammtafel). Die Töchter führten die Namen von Straka bzw. von Sternfeld. Die uneheliche Mutterschaft von Marie Caroline Herzogin von Berry, geb. Prinzessin von NeapelSizilien (1798–1870) beschäftigte Anfang der 1830er-Jahre die europäischen Kabinette. Die Schwiegertochter des exilierten französischen Königs Karl X. (reg. 1824–1830) war in Südfrankreich festgenommen worden und hatte während der Gefangenschaft eine Tochter zur Welt gebracht, deren Vater der sizilianische Aristokrat Ettore Lucchesi-Palli (1806–1864) war. Nicht nur das Ansehen der Prinzessin, sondern auch jenes des französischen Königshauses und damit die Bemühungen um eine Restauration waren durch die Angelegenheit nachhaltig beschädigt. Daran vermochte auch der Umstand nichts zu ändern, dass die Prinzessin den Nachweis erbrachte (bzw. zu erbringen versuchte), seit 1831 mit Lucchesi-Palli in geheimer Ehe verheiratet zu sein. Marie Carolines politische Rolle war damit beendet. Zur Herzogin u. a.: Kremers, Hildegard: Marie Caroline Duchesse de Berry. Ein Lebensbild. Graz/Wien/Köln 1998. Weiters Posch, Fritz: Die Herzogin von Berry im Exil in der Steiermark. Chronik ihrer Rückkehr nach Graz und des Ankaufs der Herrschaft Brunnsee. In: Blätter für Heimatkunde 65 (1991) H. 4, S. 133–147. Zu den Nachkommen der Herzogin, insbesondere den Mitgliedern der Familie Bourbon-Parma und Chambord, siehe

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Affären gab es zu allen Zeiten. Auch hier war es eine Frage, wie das betreffende Paar damit umging. Stets kam es darauf an, dass die Frau das äußere Dekor wahrte. Unter keinen Umständen durfte eine Dame ins Gerede kommen. Und unter keinen Umständen durfte eine Frau eine Affäre mit dem Hinweis entschuldigen, sie reagiere damit auf die Affären ihres Mannes. Auch die gebürtige Coburgerin und nachmalige rumänische Königin Marie machte diese Erfahrung. Die Kronprinzessin Marie war eine der schönsten Frauen, denen ich je begegnet bin. Eine leuchtende, blonde Schönheit und sie wusste, dass sie schön war und nahm die Deferenz, die man dieser Schönheit darbrachte, mit naiver Freundlichkeit entgegen. […] Umso mehr musste es sie verletzen, wenn der eigene Gatte ihr die Huldigung versagte. Mit seinen übermäßig großen, abstehenden Ohren und seinem lüsternen Gehaben an einen Faun erinnernd, […] war er in der Liebe kein Feinschmecker. Rumänische Offiziere erzählten mir, dass er bei Manövern sich nicht scheute, seine vorübergehende Huld auch Zigeunerinnen zuzuwenden. […] Es ist meine Überzeugung, dass die Kronprinzessin erst dann vom rechten Wege abgekommen ist, als sie von ihrem Mann betrogen wurde. Ihre ehelichen Verirrungen wurden in der rumänischen





neben der Arbeit von Daniek, Edmund: Die Bourbonen als Emigranten in Österreich. Wien 1965, auch Feigl, Erich (Hrsg.): Kaiserin Zita. Legende und Wahrheit. Wien/München 1978, S. 38–42 und S. 58–61. Griesser-Pečar, Tamara: Zita. Die Wahrheit über Europas letzte Kaiserin. BergischGladbach 1992, S. 20–28. Als Beispiel einer unehelichen Mutterschaft in einem regierenden Haus des ausgehenden 19. Jahrhunderts mag die Tochter des karlistischen Thronprätendenten von Spanien, Herzog Karl von Madrid, Infantin Elvira von Bourbon (1871–1929) angeführt werden. Aus ihrer Verbindung mit Filippo Folchi (1861–?) stammten drei Söhne, Georges de Bourbon († 1940), Fulco de Bourbon (1904–1962) und Filiberto de Bourbon (1904–1968). Ihre jüngere Schwester Alice (1876–1975) wurde 1897 die Gemahlin des Prinzen Viktor von Schönburg-Waldenburg (1872–1910). Die Ehe wurde 1903 geschieden und 1906 annulliert. Die Prinzessin brachte 1904 und 1905 zwei uneheliche Kinder zur Welt – Margeritha (1904–?), nachmals verehelichte Signorini, und Giorgio (1905–1928). Die beiden Kinder wurden 1906 durch die Eheschließung mit dem Kindervater Lino del Prete (1877–1956) legitimiert. Schließlich sei der Fall der Prinzessin Marie von Mecklenburg-Strelitz (1878–1948), der Tochter des späteren Großherzogs Adolf Friedrich V. (reg. 1904–1914) angeführt. Diese brachte 1898 in London eine Tochter zur Welt, deren Vater der Palastdiener Friedrich Hecht war. Marie heiratete 1899 George Comte Jametel (1859–1944), dessen Vater 1886 einen päpstlichen Adelstitel erhalten hatte. Die Ehe, aus der zwei Kinder stammten, wurde 1908 geschieden. Marie heiratete 1914 den Prinzen Ernst Julius zu Lippe-Biesterfeld (1873–1952). Zum familiären Umfeld Maries und dem Ende dieses regierenden Hauses vgl. Borth, Helmut: Tödliche Geheimnisse. Das Fürstenhaus Mecklenburg-Strelitz. Ende ohne Glanz und Gloria. Friedland 2007.

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Öffentlichkeit mit X multipliziert und man liebte es, sie zu einer Katharina II. zu stempeln. […] Man war daher auch rasch bereit, immer wieder neue Liebesgeschichten derselben zu kolportieren, die meistens erfunden waren. 181 Man maß diesbezüglich mit zweierlei Maß. Und die Gesellschaft reagierte unbarmherzig, wenn eine Frau aus der Ehe nicht nur ausbrach, sondern in diese nicht mehr zurückkehren wollte. Im besten Fall attestierte man ihr eine vorübergehende geistige Verwirrung, wie der bayerischen Prinzessin Sophie182, einer Schwester der österreichischen Kaiserin Elisabeth, die als 40-Jährige Mann und Kinder verließ, nachdem sie sich in den aus Graz stammenden Arzt Dr. Glaser verliebt hatte. Sophie, die ihrer berühmten Schwester an Schönheit in nichts nachstand, war eine tragische Prinzessin. Ihre Jugendliebe war der Münchner Fotograf Edgar Hanfstaengl183 gewesen. Diese aussichtslose Beziehung war in die turbulente und unglückliche Verlobungszeit Sophies mit dem bayerischen König Ludwig II.184 gefallen. Der König hatte seine Braut über längere Zeit hingehalten und zu seiner „Elsa“ hochstilisiert, ohne sich jedoch eindeutig zu erklären. Sowohl der adelsstolzen Brautmutter wie dem bodenständigen Brautvater185 ging die Schwärmerei des Familienchefs auf die Nerven und sie forderten – König und Familienchef hin oder her –, er möge sich erklären oder Sophie in Ruhe lassen. Nach kurzer Zeit wurde die Verlobung wieder gelöst.186 Sophie heiratete 1868 Ferdinand von Alençon,187 einen Enkel des französischen Königs Louis Philippe. Der Prinz besaß zwar – wie eine Münchner Hofdame entzückt feststellte – einen famos geschnittenen Rassekopf und eine gewinnend verbindliche Art, allerdings setzte die Dame vielsagend hinzu,

181 Matsch, Erwin: November 1918 auf dem Ballhausplatz. Erinnerungen Ludwigs Freiherrn von Flotow, des letzten Chefs des österreichisch-ungarischen Auswärtigen Dienstes 1895–1920. Wien– Köln/Graz 1982, S. 103–104. Zum rumänischen Königshaus u.a.: Brook-Shepherd, Monarchien im Abendrot, S. 103–116; Rumania, Marie of: The story of my life. London 1934; Bestenreiner, Frauen aus dem Haus Coburg, S. 224–290; Pakula, Hannah: The last romantic. Biography of Queen Marie of Roumania. London 1985. 182 Sophie Herzogin in Bayern, Herzogin von Alençon (1847–1897), Tochter Herzog Maximilians in Bayern, seit 1868 die Gemahlin von Ferdinand Herzog von Alençon. 183 Edgar Hanfstaengl (1842–1910), Fotograf und Inhaber eines Kunstverlages. 184 Ludwig II. König von Bayern (1845–1886) folgte 1864 seinem Vater König Maximilian II. 185 Maximilian Herzog in Bayern (1808–1888) folgte seinem Vater Pius als Chef der herzoglichen Linie des Hauses Wittelsbach. 186 Bestenreiner, Erika: Sisi und ihre Geschwister. München ²2004, S. 104–113. 187 Ferdinand Herzog von Alençon (1844–1910), Sohn von Louis Herzog von Nemours und Enkel des französischen Königs Louis Philippe, seit 1868 mit Herzogin Sophie in Bayern verheiratet.

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der Prinz besitze eher die Eigenschaften eines Heiligen als eines Ehemannes.188 Mit einem Wort, diese dynastische Verbindung stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Ihre Beziehung zum steirischen Arzt blieb nicht geheim. Dessen Frau drohte den Skandal öffentlich zu machen und weder das österreichische Kaiserhaus noch das bayerische oder französische Königshaus hatten ein Interesse, eine nahe Verwandte als doppelte Ehebrecherin bloßgestellt zu bekommen. Das Paar flüchtete nach Meran, wurde jedoch bald entdeckt und getrennt. Sophie kam nach Graz in das Sanatorium des renommierten Nervenarztes Krafft-Ebing189, wo man sich auf die Behandlung von „sexuellen Abartigkeiten“ spezialisiert hatte. Wäre es nach ihrem Mann gegangen, so hätte man Sophie auf Dauer internieren müssen. Nach einiger Zeit war – so die offizielle Erklärung für den Aufenthalt – die Nervenschwäche als Spätfolge einer Scharlachinfektion kuriert, die Herzogin kehrte zu ihrer Familie zurück.190 Eine ihrer Nichten191 notierte dazu in ihrem Tagebuch: Tante Sophie wieder ganz die Alte. Glasergeschichte ist nur ein böser Traum, nur die Melancholie, die ihr stets eigen war, ist geblieben.192 Die Internierung in einer Nervenheilanstalt war ein probates Mittel. Auch Louise von Coburg – die „belgische Gans“ von 1875 – sollte auf diese Weise aus dem Verkehr gezogen werden, nachdem sie ihrem Mann mit einem schneidigen Offizier durchgegangen war. Der Prinz von Coburg gedachte das Problem wie sein französischer Cousin zu lösen, nämlich durch Einweisung in eine Nervenheilanstalt. Der uns bereits bekannte Psychiater Richard von Krafft-Ebing, immerhin Inhaber des Lehrstuhls für Geisteskrankheiten an der Universität Wien, konstatierte in einem Gefälligkeitsattest eine krankhafte Nervenschwäche.193 Die Prinzessin wurde in eine Heilanstalt eingewiesen, der Prinz betrieb die Scheidung. Um den äußeren Schein zu wahren, hatte der Prinz seinen Nebenbuhler zudem auf Wunsch des Kaisers zum Duell zu fordern. Philipp von Coburg, ein Mittfünfziger, kurzsichtig und ein schlechter Schütze, war alles andere als erbaut darüber. Doch er hatte Glück. Sein Kontrahent tat, obwohl er ein glänzender Schütze war, beim Schuss-

188 Marie Freiin von Redwitz: Hofchronik 1888–1921. München 1924, zit. nach Bestenreiner, Sisi und ihre Geschwister, S. 161. 189 Richard Freiherr von Krafft-Ebing (1840–1902), Universitätsprofessor, Psychiater und Rechtsmediziner in Wien und Graz. 190 Bestenreiner, Sisi und ihre Geschwister, S. 167–169. 191 Amelie Herzogin in Bayern, Herzogin von Urach (1865–1912), Tochter Herzog Carl Theodors in Bayern, seit 1892 die erste Gemahlin von Wilhelm Herzog von Urach (1864–1928), der im Juli 1918 zum König von Litauen gewählt wurde. Diese Wahl wurde im November 1918 widerrufen. 192 Tagebucheintragung der Herzogin Amelie in Bayern, zit. nach Hamann, Elisabeth, S. 405. 193 Vgl. dazu den Artikel von Karl Kraus: Irrenhaus Österreich. In: Die Fackel, 6. Jg., Nr. 166, 6. Oktober 1904.

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Peter Wiesflecker

wechsel alles, um den Prinzen nicht zu treffen, der Prinz hingegen alles, um den Liebhaber seiner Frau zu treffen. Da der Kugelwechsel erfolglos blieb, wurde der Kampf mit Säbeln fortgesetzt, bei dem dem Prinzen eine Sehne des Daumens durchtrennt wurde, worauf sich dieser als kampfunfähig erklärte. Seine Frau saß zwischenzeitlich in der Heilanstalt, aus der sie ihr Liebhaber schließlich befreien konnte. Louise starb 1924 völlig verarmt in Wiesbaden.194 Dass es zumeist keinen Weg zurück gab, diese Erfahrung machte auch die österreichische Erzherzogin Luise von Toscana195, die letzte Kronprinzessin von Sachsen, die zwei Tage vor Weihnachten 1902 in Dresden in den Zug stieg, nach Salzburg fuhr und von dort mit ihrem Geliebten, dem Sprachlehrer ihrer Kinder, durchging. Sie war zu diesem Zeitpunkt 32 Jahre alt, fünffache Mutter, erneut schwanger – unklar ob von ihrem Ehemann196 oder ihrem Liebhaber.197 Ihr Fluchthelfer war ihr Bruder198, in dessen Schlepptau sich eine Wiener Prostituierte199 befand, die der Erzherzog dann heiratete.200 Die Ehe der Kronprinzessin wurde geschieden. Kaiser Franz Joseph schloss sie aus dem 194 Vgl. dazu die ausführlichen Darstellungen bei Holler, Louise von Coburg. An zeitgenössischer Literatur vgl. u.a.: Austerlitz, Friedrich: Ein Militärurtheil in Österreich. Die Wechsel der Prinzessin Louise von Coburg. Wien 1902. Dahl, Richard: Die Leidensgeschichte einer Königstochter. Die Wahrheit in der Affaire der Prinzessin Luise von Sachsen-Coburg und Gotha und des ehemaligen österr. Ulanen-Oberleutnant Grafen Géza Mattachich-Keglevich. Offener Brief an alle Freunde der Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Zürich 1904. Mattachich, Geza: Aus den letzten Jahren. Leipzig 1904. 195 Luise Erzherzogin von Österreich (Linie Toscana), Kronprinzessin von Sachsen (1870–1947), Tochter Großherzog Ferdinands IV. von Toskana, 1891–1902 mit dem späteren sächsischen König Friedrich August III. verheiratet, 1907–1912 mit dem italienischen Komponisten und Pianisten Enrico Toselli. Der sächsische Hof verlieh der ehemaligen Kronprinzessin nach der Scheidung den Titel einer Gräfin Montignoso, sie selbst führte den Namen Comtesse d’Ysette. 196 Friedrich August III. König von Sachsen (1865–1932), 1902 Kronprinz, folgte 1904 seinem Vater König Georg I. 197 Wiesflecker, Peter: Studien zur habsburgischen Heirats- und Familienpolitik im Zeitalter Kaiser Franz Josephs I. Austritte aus dem Kaiserhaus und Ehen mit Bürgerlichen. Geisteswissenschaftliche Diplomarbeit. Wien 1989, S. 106–113. 198 Leopold Ferdinand Erzherzog von Österreich (Linie Toscana) (1868–1935), Sohn Großherzog Ferdinands IV. von Toskana, trat 1902 aus dem Kaiserhaus aus und nahm den Namen Leopold Wölfling an. 199 Wilhelmine Adamovich (1877–1910), 1903–1907 die Ehefrau von Leopold Wölfling. 200 Zu dessen Austritt aus dem Kaiserhaus Wiesflecker, Austritte, S. 78–93. Zu seiner Biografie Wiesflecker, Austritte, S. 69–77 sowie S. 94–100. Weissensteiner, Friedrich: Reformer, Republikaner, Rebellen. Das andere Haus Habsburg-Lothringen. Wien 1987. Vgl. auch die Memoiren des Erzherzogs: Wölfling, Leopold: Habsburger unter sich. Berlin 1921. Ders.: From Archduke to grocer. London 1930. Ders.: Als ich Erzherzog war. Hrsg. v. Lorenz Mikoletzky. Wien 1988.

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Von „idealen Erzherzoginnen“ und den „Hengsten Europas“

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Kaiserhaus aus und erteilte ihr Landesverbot. Gleiches tat das sächsische Königshaus.201 1907 heiratete Luise den italienischen Komponisten Enrico Toselli.202 Auch diese Ehe scheiterte. Ihr erster Mann, seit 1904 König von Sachsen, hatte in den ersten Tagen nach ihrer Flucht versucht, sie zur Rückkehr zu bewegen. Luise wollte nicht. Die Tochter203, die die Kronprinzessin nach ihrer Flucht zur Welt brachte, wurde vom Kronprinzen anerkannt und schließlich nach Dresden geholt. Luise starb 1947 verarmt und weitestgehend isoliert in Brüssel.204 *** Wir haben in rascher Folge dynastische Ehen betrachtet. Dass Outsider stets interessanter sind, dies galt auch hier, daher wurde wenig über jene gesagt, die – um bei Thomas Manns „Königlicher Hoheit“ Anleihe zu nehmen – im Rahmen, den Erziehung, Konvention und Selbstverständnis vorgaben, ein „strenges Glück“ praktizierten. Auch von den geglückten Verbindungen wurde nicht oder nur wenig gesprochen. Der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand205, der zwar unstandesgemäß, jedoch aus Liebe im Jahr 1900 die böhmische Aristokratin Sophie Gräfin Chotek206 geheiratet hatte, stellte in einem Brief einmal fest, sein Entschluss, gegen den Widerstand von Kaiserhaus und Wiener Hof seine Frau zu heiraten, sei das Klügste gewesen, was er in seinem Leben getan habe.

201 Wiesflecker, Austritte, S. 114–123. 202 Enrico Toselli (1883–1926), italienischer Komponist und Pianist, 1907–1912 mit Luise von Toskana verheiratet. 203 Anna (Monika Pia) Prinzessin von Sachsen, Erzherzogin von Österreich (1903–1976), Tochter König Friedrich Augusts III. von Sachsen, seit 1924 in erster Ehe mit Erzherzog Joseph Franz von Österreich (ungarische Linie [1895–1957]), in zweiter Ehe 1972 mit Reginald Kazanjian (1905– 1990) verheiratet. 204 Zu ihrer Biografie: Bestenreiner, Erika: Luise von Toskana. Skandal am Königshof. München 2000. Vgl. auch die Memoiren: Tuscnay, Louisa of: My own story. London 1911. Österreich-Toskana, Luise von: Mein Lebensweg. Dresden 2001. Toselli, Enrico: Meine Ehe mit Louise von Toscana. Basel 1914. 205 Franz Ferdinand Erzherzog von Österreich-Este (1863–1914), Sohn Erzherzog Carl Ludwigs und Neffe Kaiser Franz Josephs I., seit 1896 Thronfolger, 1914 gemeinsam mit seiner Gemahlin in Sarajevo ermordet. 206 Sophie Gräfin Chotek, Fürstin und Herzogin von Hohenberg (1868–1914), Tochter des österreichischen Diplomaten Bohuslaw Graf Chotek (aus böhmischem Adel), seit 1900 die morganatische Gemahlin des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand: Sophie wurde 1900 der Titel einer Fürstin und 1909 der einer Herzogin von Hohenberg verliehen.

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Von einer sexuellen Großmacht zum Hanswurst seiner Hormone Don Juan im Prozess der Zivilisation1

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dor di femmina, der Duft der Frauen, berauschte den Don Giovanni Mozarts und Da Pontes ähnlich wie danach Künstler, Dichter und Publikum das dort angestellte Zahlenspiel. Demnach hat sich der cavaliere in Italien an 640 Frauen gütlich getan, in Deutschland an 231, in Frankreich an 100, der Türkei an 91 – jedoch in Spanien, vermeldet prahlerisch Don Juans Sexualbuchhalter Leporello, sind es schon tausenddrei (Registerarie, 1. Akt). Mit einer ähnlich imposanten Ziffer schließt die bislang umfangreichste DonJuan-Bibliographie von Armand E. Singer: mit dem Eintrag Nummer 3.082, Fay Zwickys Gedicht Don Juan at the record Bar.2 Was verstehen wir heutzutage unter einem ‚Don Juan‘ (oder ‚Don Giovanni‘, seinem italienischen Namensvetter)? Einen Frauenhelden und Verführer, einen Mann, der ständig auf neue Liebesabenteuer aus ist, stets neue sexuelle Beziehungen sucht. Und wo ist ein Mann dieses Namens in unseren Breiten zu finden? Außer in den Opernhäusern der Welt, dieser von ihm seit Mozart und Da Ponte bevorzugten Heimstatt, ist er mitunter an Orten anzutreffen, die weder zu seinem Nimbus noch zu seinem angestammten Betätigungsfeld passen wollen: im Supermarkt, in der Trafik oder in der Blumenhandlung. Dort hat er sich in die Regale zurückgezogen und ist käuflich zu erwerben: Don Giovanni’s heftet sich eine Serie von italienischen Halbfertiggerichten ans Preisetikett. Findet man daran keinen Geschmack, so konnte man sich den einstigen Wüstling über die Luftwege einverleiben: Eine österreichische Zigarrensorte trug den Namen Mozart No. 2 Don Giovanni. Auch durch die Blume spricht er zu uns. Die 1955 eingeführte Kletterrose Don Juan wird als zartes Gewächs mit großen, samtig karminroten Blüten beschrieben, das einen geschützten Stand1 2

Aktualisierte Fassung von: Mythos Don Juan. In: Müller-Kampel, Beatrix (Hrsg.): Mythos Don Juan. Zur Entwicklung eines männlichen Konzepts (= Reclam-Bibliothek 1675) Leipzig 1999, S. 11– 22. Singer, Armand E.: The Don Juan theme. An annotated bibliography of versions, analogues, uses, and adaptations. Morgantown 1993; darauf aufbauend ders.: A final supplement to The Don Juan theme […]. (Conflated with entries from „Supplement No. One“, 1998). Morgantown 2003, S. 57.

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ort benötige. Deutet dies alles auf das Ende Don Juans, verstanden als Typus, Mythos und männliches Konzept, in der kapitalisierten Konsumkultur hin? Obwohl schon seit den 1920er-Jahren die literarische Sympathie mit dem iberischen Exoten spürbar nachgelassen hat (vermutlich aus Gründen mentalitätsgeschichtlicher Überlebtheit),3 scheint dem Wüstling das endgültig letzte wirkungsgeschichtliche Stündchen noch nicht geschlagen zu haben. Vielmehr zeugen einige Adaptionen der letzten Jahre – von Robert Menasse und Peter Handke, von Julian Schutting und Peter Paul Zahl, von Siegfried Obermeier und Hanns-Josef Ortheil, von Erich Wolfgang Skwara, Fritz Kalmar und Stephan Wilms4 – und nicht zuletzt auch der Erfolgsfilm Don Juan DeMarco5 von einer zwar eingeschränkten, aber offenbar nach wie vor gegebenen Attraktivität des Typs. Ganz allgemein lassen sich sämtliche mit einem erotisch zumeist überaktiven Mann namens Don Juan bzw. Don Giovanni befassten literarischen und musikalischen Dokumente auf Tirso de Molinas comedia El Burlador de Sevilla y convidado de piedra (Der Spötter von Sevilla und der Steinerne Gast, Uraufführung vermutlich 1613 in Madrid) zurückführen. Dort schleicht sich ein notorischer Betrüger namens Don Juan Tenorio mit falschen Kleidern und leeren Versprechungen in das Vertrauen oder sogar das Bett der von ihm begehrten Frauen. Übermütig lädt er schließlich das steinerne Standbild eines Komturs, den er im Duell getötet hat, zum Gastmahl ein, und tatsächlich erscheint es. Der Gegeneinladung auf den Friedhof kommt Don Juan zwar nach, doch ereilt ihn dabei die ‚gerechte‘ Strafe: Als er dem Standbild die Hand reicht, verbrennt ihn höllisches Feuer. In seinem Stück verbindet der Autor, dessen tatsächliche Verfasserschaft bis heute nicht restlos geklärt werden konnte, zwei ursprünglich wohl nicht zusammengehörige Stoffkomplexe: den des jugendlichen Wüstlings mit der Bestrafung eines Übeltäters durch 3 4

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Vgl. bereits 1962 Grunwald, Henry Anatole: Der entschwundene Don Juan. In: Wittmann, Brigitte (Hrsg.): Don Juan. Darstellung und Deutung (= Wege der Forschung 182) Darmstadt 1976, S. 188–213, hier S. 188. Menasse, Robert: Don Juan de la Mancha. Roman. Frankfurt/Main 2007; Handke, Peter: Don Juan (erzählt von ihm selbst). Frankfurt am Main 2004; Schutting, Julian: Gralslicht. Ein TheaterLibretto. Salzburg/Wien 1994; Zahl, Peter-Paul: Don Juan oder Der Retter der Frauen. Eine Komödie nach Motiven von Tirso de Molina. Grafenau-Döffingen 1998; Obermeier, Siegfried: Don Juan. Der Mann, den die Frauen liebten. Roman. Bern/München/Wien 2000; Ortheil, Hanns-Josef: Die Nacht des Don Juan. Roman. München 2000; Skwara, Erich Wolfgang: Pest in Siena. Roman. In: E.W. S.: Tagebuch zur Probe. Pest in Siena. Wien 2001, S. 62–193; Kalmar, Fritz: Don Juans Rückkehr. Erzählungen. Wien 2003; Wilms, Stephan: Don Juan hat kein leichtes Leben. Bericht über ein tragisches Schicksal. München 2004. Don Juan DeMarco, USA 1995. Regie und Buch: Jeremy Leven; Produktion: Francis Ford Coppola, Fred Fuchs, Patrick Palmer; Darsteller: Johnny Depp, Marlon Brando, Faye Dunaway, Geraldine Pailhas, Bob Dishy.

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Abb. 3: Thomas Hampson als Don Giovanni in Mozarts und Da Pontes Oper. Quelle: Salzburger Festspiele 2002.

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die Statue eines Toten.6 Es ist ungewiss, ob das Don-Juan-Thema als ureigenste Erfindung des spanischen Dichtermönchs anzusprechen sei und auch ob das Stück sich konkrete historische Figuren oder Ereignisse zum Vorbild genommen hatte. Molières 1665 uraufgeführte Komödie Dom Juan ou Le festin de pierre (Don Juan oder Das steinerne Gastmahl) führt einen gänzlich anderen Don Juan vor. Während Tirsos Burlador ein Mann der geistlosen (Un-)Tat, ein zügelloser Triebtäter war, begegnet uns bei Molière ein rationalis­ tischer, atheistischer, rhetorisch überaus begabter Verführer, der bei der Durchführung ausschließlich intellektuell-verbaler Missetaten vorgeführt wird. Das deutschsprachige Publikum lernte Don Juan über das internationale Repertoire ausländischer Wanderschauspieler kennen – und offenbar auch schätzen, denn nach und nach entwickelte sich das Thema zu einem der beliebtesten Stoffe der Wander- und Puppenbühne7 und vermochte sich dort – in seiner poetologischen Widerständigkeit ein mentalitätsgeschichtlich wie theaterhistorisch erstaunliches Phänomen – bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zu behaupten. Zur meistgepriesenen Don-Juan-Fassung im deutschsprachigen Raum wurde merkwürdigerweise ein Opus italienischer Sprache: Wolfgang Amadeus Mozarts und Lorenzo Da Pontes dramma giocoso Il dissoluto punito o sia Il Don Giovanni (Der bestrafte Verführer oder Don Giovanni, Uraufführung Prag 1787). Lob und Preis beschränkten sich freilich meist auf die musikalische Komposition – was nicht weiter verwundert, denn Handlungsverlauf, Figurenkonstellation, örtliche Szenerie und dargestellte Zeit, Motivationsstruktur und Dialogführung wollen so gar nicht zu dem passen, was gemeinhin als göttliche Hervorbringung verehrt wurde und wird. Gescheiterte Verführung und Mord, Verfolgung durch eine verlassene Geliebte, Späße eines vorwitzigen Dieners, versuchter Brautraub, Verhöhnung eines Standbildes, Besuch aus dem Jenseits und Höllenfahrt: All dies ist aus der spanischen, französischen, italienischen und nicht zuletzt aus der deutschsprachigen Puppenspieltradition bekannt. Zudem wünschten Da Ponte und Mozart den Erfolg. Es lag ihnen fern, den Stoff zu veredeln, ihn mit literarischem, ja ästhetischem Anspruch aufzufüllen.8 Auf eine Psychologisierung der Figuren im bürgerlichen Sinne wie auch auf die rationale Motivierung der einzelnen Ereignisse wird weitestgehend verzichtet. Zwar keine 6 7

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Vgl. Frenzel, Elisabeth: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte (= Kröners Taschenausgabe 300) Stuttgart 81992, S. 164. Vgl. Müller-Kampel, Beatrix: Dämon – Schwärmer – Biedermann. Don Juan in der deutschen Literatur bis 1918 (= Philologische Quellen und Studien 126), Berlin 1993, S. 11–27. Eine Edition von vier Donjuaniaden mit Hanswurst beziehungsweise Kasperl bietet Kaiser, Christine: Don JuanSpiele der Wanderbühne – Edition, Kommentar und Studie. Diplomarbeit Graz 2005, unter http:// lithes.uni-graz.at/zw_kaiser_donjuanspiele.html. Vgl. Kunze, Stefan: Mozarts Opern. Stuttgart 1984, S. 332.

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grellen Schießbudenfiguren, lassen die Akteure sich auf leicht fassliche Typen zurückführen: die entehrte Frau (Donna Anna), den dümmlich-ängstlichen Diener (Leporello), den beleidigten Vater (Commendatore), den rächenden Bräutigam (Don Ottavio), die verlassene Geliebte (Donna Elvira), die kecke Unschuld vom Lande (Zerlina), den Bauerntölpel (Masetto) und schließlich den bestraften Wüstling (Don Juan). Die bereits damals übel beleumdete volkstümliche Don-Juan-Tradition war einer positiven Aufnahme der Oper vorerst durchaus abträglich. Bald jedoch begann die Musikkritik, Wort und Ton getrennt zu begutachten, den Text zu verwerfen, die Musik hingegen zu glorifizieren,9 und seit den 1810er-Jahren stilisierte man das dramma giocoso zur Oper aller Opern (E.T.A. Hoffmann).10 Als ‚volkstümlich‘ in einem weit umfassenderen Sinn ist eine Don-Juan-Version anzusprechen, welche in unseren Breiten kaum jemandem bekannt sein dürfte: das 1844 uraufgeführte religiös-phantastische Drama Don Juan Tenorio des spanischen Autors José Zorrilla y Moral. Nach dem Vorbild von Alexandre Dumas’ (père) Mysterienspiel Don Juan de Marana ou la Chute d’un ange (Don Juan de Marana oder der Fall eines Engels) und Prosper Mérimées Erzählung Les Âmes du Purgatoire (Die Seelen im Fegefeuer) kreierte Zorrilla 1844 einen neuen Don-Juan-Typus: den insgeheim liebenswerten und nach Liebe suchenden Schwerenöter, der am Ende nicht gerichtet, sondern durch die göttliche Fürbitte einer Frau sowie durch Sündenbekenntnis und Reueschwur gerettet wird. Fortan speisen die Figurengeschichte zwei Traditionen: die ursprüngliche Tenorio-Tradition sowie die sogenannte Mañara-Tradition, benannt nach ihrem historischen Vorbild Don Miguel de Mañara Vicentelo de Leca (1626–1679). Der gebürtige Sevillaner, Hidalgo aus altem spanischen Adelsgeschlecht, hatte seine Jugend mit lasterhaften Ausschweifungen aller Art verbracht, war jedoch durch die Vision seines eigenen Begräbnisses sowie durch die Liebe einer engelsgleichen Frau zu einer gottgefälligen Lebensführung bekehrt worden. Zorrillas Don Juan Tenorio entwickelte sich zur populärsten und weitest verbreiteten Don-Juan-Version im spanischsprachigen Raum. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die jüngste Vergangenheit wurde das Stück an den Bühnen Spaniens und Hispanoamerikas regelmäßig zu Allerseelen aufgeführt – gleichsam zur mahnenden Erinnerung an die Toten und ihre Seelen. Zorrillas Idealisierung der Frauenfiguren, die Sentimentalisierung des Burlador sowie Don Juans Rettung durch die Fürsprache einer Frau speisen sich aus katholischer Weltsicht, romantischem Literaturverständnis und Erfolg verheißender Wirkungsstrategie. 9 Vgl. Kunze, Mozarts Opern, S. 12f. 10 Hoffmann, E.T.A.: Don Juan. Eine fabelhafte Begebenheit, die sich mit einem reisenden Enthusiasten zugetragen. In: Müller-Kampel (Hrsg.), Mythos Don Juan, S. 73–87, hier S. 80.

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Überhaupt scheint dem 19. Jahrhundert ein selbstzufriedener Frauenschänder und Seelentöter fremd geworden zu sein, beinah ridikül auch eine redende Statue, die den Wüstling mit Feuer- und Teufelsbrimborium zur Hölle schickt. Als bußfertigen Sünder sah ihn als einer der ersten Prosper Mérimée, als sinnlich-genialischen Dämon E.T.A. Hoffmann und Søren Kierkegaard. In Hoffmanns Erzählung Don Juan. Eine fabelhafte Begebenheit, die sich mit einem reisenden Enthusiasten zugetragen – einer teils fiktiven, teils expositorisch-musikphilosophischen Uminterpretation von Mozarts und Da Pontes Oper – berichtet ein Ich-Erzähler von einer Aufführung des Don Giovanni, in deren Verlauf er die Sängerin der Donna Anna kennen, bewundern und lieben lernt. Die mystische Begegnung inspiriert ihn in weiterer Folge zu einer Neueinschätzung der Oper als eines musikalisch unnachahmlich gestalteten Konflikts zwischen Liebesverlangen und Liebesverwehrung. Hoffmann veredelte den Wüst- und Lüstling Don Giovanni zum innerlich gespaltenen bürgerlichen Helden wie auch die rachedürstende Entehrte, Donna Anna, zum göttlichen und göttlich liebenden Weib. Die Auffassung des reisenden Enthusiasten drang nach und nach in die Theaterwirklichkeit des 19. Jahrhunderts ein und machte sich als Norminterpretation breit.11 Ob dieses Deutungsparadigma allerdings ausschließlich auf Hoffmann zurückgeht, wie mitunter angenommen, scheint mehr als zweifelhaft, legt Don Juan doch auch in der französischen und russischen Literatur alsbald das Kleid des sehnsuchtsglühenden Wahrheitsträumers an. Großer Beliebtheit erfreute sich im 19. Jahrhundert die Vermengung von Faust- und Don-Juan-Stoff, wobei Don Juan meist als ‚südliche‘ Ergänzung, als Gegen- oder Seitenstück des angeblich typisch ‚nordischen‘ Faust verstanden wurde. Schon im 18. Jahrhundert zählten der deutsche Doktor Faust wie der spanische Wüstling Don Juan zum fixen Figureninventar der Vorstadt-, Wander- und Puppenspielbühne. Die Überschneidungen in Handlungsverlauf und Konzept sind auffällig zahlreich: In beiden verstoßen die Pro­ tagonisten gegen die sich angeblich im Sozialen abbildende göttliche Ordnung; greift das Jenseits handelnd in das Diesseits ein; in beiden lassen sich unschuldige Mädchen durch schöne Worte und guten Glauben in das Bett eines Treulosen locken; bezahlen irdische Rächer ihre Versuche, sich eigenmächtig Recht zu verschaffen, mit dem Tod im Duell. Charakterlich verbinden Faust und Don Juan der Geist der Auflehnung gegen soziale und 11 Vgl. Csampai, Attila: Mythos und historischer Augenblick in Mozarts Don Giovanni. In: Csampai, Attila / Holland, Dietmar (Hrsg.): Wolfgang Amadeus Mozart: Don Giovanni. Texte, Materialien, Kommentare (= rororo opernbuch 7329), Reinbek bei Hamburg 1984, S. 9–36, hier S. 243 (Anmerkungen). In entscheidendem Maße wirkten dabei einige einflussreiche Primadonnen mit, allen voran Wilhelmine Schröder-Devrient (1804–1860), die erstmals als dramatischer Sopran die Partie der Donna Anna (statt jener der Donna Elvira) sang und damit die dramaturgische Aufwertung der Figur einleitete.

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religiöse Normen, Durchsetzungsvermögen, erotische Attraktivität und rhetorische Potenz. Beiden steht ein getreuer Helfershelfer ihrer Ambitionen zur Verfügung: Leporello (bzw. Hanswurst oder Kasperl) und Mephisto, gefräßig, feige und verschlagen der eine, dämonisch, sophistisch und geistsprühend der andre.12 Im 19. und frühen 20. Jahrhundert suchte eine Reihe von Bearbeitern die beiden Typen in wechselseitiger Erhellung zu erklären,13 unter ihnen Christian Dietrich Grabbe, dessen Konzept von der doppelgesichtigen Untrennbarkeit der beiden Mythen der Gestalt des Ritters/Teufels in den Mund gelegt wird: Ich weiß, ihr strebet nach/Demselben Ziel und karrt doch auf zwei Wagen! (Don Juan und Faust, 4. Akt, letzte Szene). Faust wie Don Juan erfahren bei Grabbe die Welt als unerträgliche Last, als Schädelstätte und Trümmerfeld, als ein von Beginn an über den Menschen verhängtes Urteil zur inständigen und doch notwendig vergeblichen Suche nach Liebe und Geborgenheit, Welterkenntnis und Lebenssinn. Was Autoren und Kritikern bearbeitens- und diskutierenswert erschien, stellte sich Friedrich Hebbel als Banalität dar: Grabbe glaubte wahrscheinlich Wunder was zu thun, als er einen Don Juan und Faust schrieb, bemerkt er 1862 in seinem Tagebuch. Das sind aber gar keine zwei Personen, denn jeder Don Juan endet als Faust und jeder Faust als Don Juan.14 Auf alles war ich gefasst, lamentiert Don Juan in Max Frischs Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie, aber nicht auf Langeweile. Ihre verzückten Münder, ihre Augen dazu, ihre wässerigen Augen, von Wollust schmal, ich kann sie nicht mehr sehen! (4. Akt) Derlei Sensationen hatten bereits ein Jahrhundert zuvor den Don Juan von Lenau beschlichen. Ödnis und Trauer treiben ihn im Tränental getäuschter Lust voran, und die frohen Zeiten, da er die Frauen sieghaft übermannte mit List, Betrug und Schreck, scheinen längst vorbei. Müde und voller Ekel, ein Fremdgeborener und ein Qualbestimmter15 irrt Don Juan seit Mitte des 19. Jahrhunderts seinem ersehnten Ende entgegen. Häßlich, katholisch und sentimental (Ramón del Valle-Inclán)16 vermorscht er zum abgeschmackten Lüstling und go­ ckelt schließlich als parfümierter Geck durch den Hühnerhof fantasierter Lüste herum. Die sich spätestens seit 1871 vollziehende literarische Demontage donjuanesker Männlichkeit führt von Klinifizierung über Ridikülisierung und Infantilisierung zur Feminisie12 Vgl. Gendarme de Bévotte, Georges: La légende de Don Juan [I]. Son évolution dans la littérature des origines au romantisme. Paris 1906, S. 412. 13 Vgl. Müller-Kampel, Dämon – Schwärmer – Biedermann, S. 119–141. 14 Hebbel, Friedrich: Sämmtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Richard Maria Werner. Abt. 2, Bd. 4. Berlin 1913, S. 227. 15 Trakl, Georg: Don Juans Tod. In: Trakl, Georg: Gedichte, Dramenfragmente, Briefe. Hrsg. von Franz Fühmann. Wiesbaden 1982, S. 155–165, hier S. 155. 16 Valle-Inclán, Ramón del: Wintersonate. (Sonata de invierno, deutsch.) In: Müller-Kampel (Hrsg.), Mythos Don Juan, S. 126–130 (Auszug), hier S. 126.

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rung.17 Wenn auch träge geworden, von Skrupeln geplagt und gezeichnet vom Kainsmal des Intellekts, haftet ihm nach wie vor ein Duft aus Mythos und Männlichkeit an – der die Frauen betört und den einstigen Jäger zur Beute werden lässt, der Philosophen zu Phänomenologisierungen hinreißt und die Psychoanalyse zum Befund, dass man es bei Don Juan mit einem verkappten Homosexuellen oder einem Sadisten oder vielleicht doch mit einem polymorph-perversen Typus zu tun habe.18 Auf den gegenwärtigen Spielplänen des deutschsprachigen Theaters wird man Don Juan nur selten begegnen – allenfalls seinen schwerblütigen Namensvettern aus Ödön von Horváths Aktualisierung Don Juan kommt aus dem Krieg oder Max Frischs Komödie Don Juan oder die Liebe zur Geometrie. Auf den Opernbühnen freilich ist er stets präsent, doch durchläuft Mozarts und Da Pontes Typus im Regietheater eine bemerkenswerte Intellektualisierung und Psychiatrisierung zugleich (vgl. Abb. 3). Doch sind diese DonJuan-Figuren – der bei Horváth ein herzkranker Kriegsheimkehrer auf der Flucht vor den Frauen, der bei Frisch ein ambitiöser Intellektueller – überhaupt noch als solche anzusprechen? Die Geschichte des Don-Juan-Mythos mit seinen rund 3.100 Ausprägungen erweckt zuallererst den Eindruck einer höchst unzusammenhängenden Anhäufung von Texten, eines reichlich verwirrenden Kunterbunts aus Konzepten, Gestaltungsverfahren und literarischen Kommunikationsschemata. Dennoch wird man manche übergreifenden Entwicklungslinien nicht übersehen dürfen. Sie betreffen in erster Linie das charakterliche Profil der Hauptfigur. Am Beginn der Themengeschichte steht ein Räuber, Gotteslästerer, Frauenschänder, Totschläger, Vater- und Brudermörder, ein Erzbösewicht, der seine Missetaten skrupellos, ohne an Zukunft, Himmel und Hölle zu denken, ausführt, unbändige Freude daran findet und so grässlich zu Tode kommt, wie er lustvoll gelebt hat. Vom ers­ten bis zum letzten Auftritt beherrschen ihn momentane und elementare Emotionen; gleich einer Urgewalt bricht er in die von Konvention, Moral und Religion geordnete Welt behüteter Frauen, respektabler Bräutigame und Väter ein. Am Ende tritt uns ein kultivierter Frauenliebling entgegen, dessen Hang zum schönen Geschlecht sich schon längst nicht mehr in körperlicher Gewalt Bahn bricht, sondern der alle seine erotischen und aggressiven Regungen beobachtet, analysiert, sie zu zähmen, verbergen, abzudrängen sucht. Don Juan ist friedlicher geworden, Verhalten und Charakter haben sich verfeinert, er beginnt, auf die Wünsche der begehrten Frauen und der Nebenbuhler Rücksicht zu nehmen und 17 Vgl. Jürgens, Hans-Joachim: Don Juan. Konstruktion und Destruktion eines Männlichkeitsideals in Literatur und Gesellschaft des deutschen Kaiserreiches von 1871. Hannover 2003, bes. Kap. 3, S. 165–281. 18 Vgl. Nunberg, Herman / Federn, Ernst (Hrsg.): Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, Bd. 1: 1906–1908. Frankfurt/M. 1976, S. 51 und S. 145.

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Von einer sexuellen Großmacht zum Hanswurst seiner Hormone

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befindet sich ständig in irgendwelchen Gewissensnöten. In die Begrifflichkeit der Kulturtheorie von Norbert Elias übersetzt hieße dies, dass an Don Juan offenbar zivilisatorische Prozesse wirksam geworden sein müssen, Prozesse, die auf die Zähmung und Dämpfung von Trieben, auf Rationalisierung und Psychologisierung von Affekten abzielen. Fremdzwang und Außenkontrolle sind zu Selbstzwang und Selbstkontrolle geworden.19 Diesem Vorgang entsprechen die veränderten Funktionen oder überhaupt das Verschwinden des Steinernen Gastes, dieser ins Himmlisch-Ewige verlängerten Instanz patriarchaler Macht. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hat Don Juan vollends jede Freude an der selbstgenügsamen Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse verloren. Don Juan kämpft immer seltener mit äußeren Feinden wie gehörnten Ehemännern oder beleidigten Vätern und immer stärker gegen die eigene donjuaneske ‚Natur‘ an. Er liegt in Fehde mit sich selber. Don Juan, die feudale sexuelle Großmacht von einst,20 liegt in den Ketten bürgerlicher Moralvorstellungen, ohne doch seine Faszination eingebüßt zu haben (für die Autoren ebenso wie für die vorgeführten Frauen). Er ist geworden, was einer früheren Zeit undenkbar gewesen wäre: Steinerner Gast seiner selbst. Feuilletonistisch von Peter Altenberg auf den Punkt gebracht: Don Juan fährt stets zur Hölle! Zur eigenen nämlich!21 Dem nunmehr mit Seele, Gewissen, Intellekt und allerlei spirituellen Sehnsüchten begabten Don Juan des 19. und 20. Jahrhunderts gesellen sich Gefährtinnen und Gespielinnen bei, welche nur mehr entfernt an die Frauenfiguren bei Tirso, Da Ponte, den anonymen Donjuaniaden der vazierenden Theatertruppen erinnern. Sittsamkeit, Selbstaufopferung, normgemäße Gefühlswelt: diese Eigenschaften zeichneten einstmals die hintergangenen und verführten Geschöpfe aus. Mag Don Giovanni bei Mozart und Da Ponte auch beteuert haben, er brauche die Frauen nötiger als das Brot zum Essen, ja nötiger als die Luft zum Atmen (2. Akt, 1. Szene), so blieben ihre Profile in den literarischen Texten und Libretti der Frühzeit seltsam unbestimmt. Doch auch hier verschieben sich nach und nach die Schattierungen. Spätestens mit der Spiritualisierung, Dämonisierung und Psychologisierung des Wüstlings im 19. Jahrhundert setzen die Autoren die Frauen, einst bloß physiologische Versuchsstationen donjuanesker Gier, subjektivierend und individualisierend in neue Rechte ein: das Recht, dem Folterknecht ihrer Seele Paroli zu bieten; das Recht, ihn zu begehren, zu bemitleiden, zu verlachen oder gar zu bemuttern; schließlich 19 Vgl. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bern 21969. 20 Formulierung nach Brecht, Bertolt: Zu Don Juan von Molière. In: Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 17: Schriften zum Theater 3. Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann (= werkausgabe edition suhrkamp) Frankfurt/M. 1968, S. 1257– 1262, hier S. 1258. 21 Altenberg, Peter: Don Juan. (1916.) In: Müller-Kampel (Hrsg.), Mythos Don Juan, S. 190.

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das Recht, den Spieß vollends umzukehren und die Rollen zu vertauschen. Auf das Muster von Herr- und Dienerschaft, Täter- und Opfertum, Verfehlung und Folge mag die Themengeschichte zwar bis heute nicht verzichten – sehr wohl hingegen auf deren Verteilung auf Mann und Frau. Ich will selbst ein großer Herr sein/und nicht länger dienen, singt Leporello in seiner Introduktionsarie bei Mozart und Da Ponte. Möchte selber Doña Juana, Donna Giovanna sein, tönt es nunmehr aus vorgeblich frauenbewegtem Mund. Was den Beiträgern zur Figurengeschichte bis dahin unvorstellbar war, wird seit den 1980er-Jahren, beispielsweise mit Nicole Avrils Jeanne (1985) oder Barbara Bronnens Donna Giovanna (1994), literarisch Gestalt: Don Juan hat das Geschlecht gewechselt – bedient jedoch bemerkenswerterweise das Publikum mit genau jenen Ingredienzen, aus denen schon Tirso sein Opus gespeist hatte: mit Geschlechtlichkeit, Gewalt und Gewissensnöten (wenn auch feminoid säkularisiert: als Angst der Frau vor Einsamkeit und Alter). Ein ganz anderes, über die bloße Rollenverkehrung weit hinausgreifendes Recht hatten sich die lärmenden Lazzi-Spektakel der nunmehr vergessenen Wander- und Puppenbühne herausgenommen, nämlich den eingefleischten Weibsfleischfresser22 als das zu entlarven, wogegen der Mythos, ob nun männlich oder weiblich, sich immer verwahrte: als einen ebenso lächerlichen wie heimtückischen Hanswurst seiner Hormone.

22 Schutting, Gralslicht, S. 8.

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Signior Dildo. Dichter, Höfling, Wüstling John Wilmot Earl of Rochester (1647–1680)

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ohn Wilmot, der von sich selbst behauptete, fünf aufeinanderfolgende Jahre permanent betrunken gewesen und the wildest and most fantastical odd man alive zu sein, wurde am 1. April 1647 – am All Fools Day – in Ditchley, Oxfordshire, als Sohn von Henry Wilmot (1613–1658) und Anne St. John (1614–1696) geboren. James William Johnson schreibt in seiner Biografie über John Wilmot, dass das launische, wechselhafte Wetter seines Geburtsmonats symbolisch für Wilmots Leben zwischen Heiterkeit, Ausschweifung und Verzweiflung gesehen werden kann.1 Launenhaft war nicht nur Rochesters Leben an und für sich, sondern auch die Zeit, in die er hineingeboren wurde. Mitte des 17. Jahrhunderts tobte in England der Bürgerkrieg, die Auseinandersetzung zwischen Monarchie und Parlament, die in der Enthauptung König Karls I. 1649, der Errichtung der Republik und der Einsetzung von Oliver Cromwell als Lordprotektor gipfelte. Durch das Land und die Gesellschaft verliefen tiefe Risse, diese zeigten sich bildhaft in John Wilmots eigener Familie, die Mutter, eine strenge Puritanerin, der Vater ein königstreuer Royalist.2 Die puritanische Revolution hatte sich Mitte des 17. Jahrhunderts in England – zumindest vorerst – durchgesetzt. Henry Wilmot, Johns Vater, dem man nachsagte, dass er ein Draufgänger war, wie ein Bürstenbinder soff und gerne den Alleinunterhalter spielte,3 diente als General unter Karl I. und half dessen Sohn, dem späteren Karl II., bei der Flucht ins kontinentale Exil. Für seine Verdienste und seine loyale Haltung wurde Henry Wilmot in den Grafenstand erhoben. Henry verstarb im Exil, und am Totenbett versprach Karl II., sich um dessen Sohn John Wilmot, der seinen Vater vermutlich nie zu Gesicht bekommen hat, zu küm1 2 3

Johnson, James William: A profane wit. The life of John Wilmot, Earl of Rochester. New York 2004, S. 6. Gassenmeier, Michael: Die sexuelle Imagination eines Nihilisten der Restaurationszeit: Zu den Gedichten des Earl of Rochester. In: Stemmler, Theo / Horlacher, Stefan (Hrsg.): Sexualität im Gedicht. Vorträge eines interdisziplinären Kolloquiums. Tübingen 2000, S. 163. Wunnicke, Christine (Hrsg.): John Wilmot, Earl of Rochester. Der beschädigte Wüstling. Satiren, Lieder und Briefe. München 2008, S. 9f.

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mern. John Wilmot wird nach dem Tode seines Vaters mit zehn Jahren der zweite Earl of Roches­ter. Die ersten Kinderjahre verbringt John Wilmot in seinem Geburtsort Ditchley unter der gestrengen Aufsicht seiner puritanischen Mutter, seines Erziehers Francis Giffard und zumindest eines Hauskaplans.4 Als erwachsener Mann schreibt John Wilmot später an seinen siebenjährigen Sohn über die Rolle, die einem Erzieher im Leben eines jungen Mannes zukam: I hope Charles when you receive this, and know that I have sent this gentleman to bee yr tutour, you will bee very glad to see I take such care of you, and bee very gratefull, wch is best showne in being obedient & diligent, you are now growne bigg enough to bee a man if you can bee wise enough; & the way to bee truly wise is to serve god, learne yr book & observe the instructions of yr Parents first and next yr Tutour, to whom I have intirely resign’d you for this seven yeare, and according as you imploy that time you are to bee happy or unhappy for ever […]5 In den Kindertagen von John Wilmot waren Seelenheil oder Verdammung, eine streng religiöse Erziehung, Angst vor dem Papismus eine protestantische Allgegenwärtigkeit. Die Katholiken wurden für den Bürgerkrieg verantwortlich gemacht und der Katholizismus war in der protestantischen öffentlichen Meinung eine blasphemische, wenn nicht gar perverse Praxis. James William Johnson fasst kurz und prägnant zusammen: The burning eternity of a Protestant Hell, the sinfulness of thoughts, the temptations of the week flesh – these and other tenets were dutifully drilled into little John’s head.6 Seine erste schulische Ausbildung erhielt John Wilmot an der Burford Grammar School; dort lebte er mit seinem Erzieher für sechs Jahre auf engstem Raum zusammen. Was in unseren Ohren heute etwas absonderlich klingen mag, entsprach durchaus der aristokratischen Praxis im England des 17. Jahrhunderts. In der Literatur wird manchmal die Vermutung ausgesprochen, dass solch beengte Wohnverhältnisse zu ersten homoerotischen Kontakten geführt haben könnten. Beweise gibt es dafür keine. Sehr wohl liegt nahe, dass gewisse Ängste, wie z. B. Angst vor der Dunkelheit und die Angst vor dem Tod, die Rochester sein ganzes Leben begleiten sollten, in der Kindheit grundgelegt wurden. In seinem späteren Leben wird John Wilmot diesen Ängsten durch Alkohol und sexuelle Promiskuität zu entfliehen versuchen.7 Im Alter von zwölf Jahren verließ der junge Aristokrat die Grundschule und im4 5 6 7

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Johnson, A profane wit, S. 18. Zitiert nach: Johnson, A profane wit, S. 16. Ebd., S. 18. Ebd., S. 19.

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Abb. 4: John Earl of Rochester (1752). Quelle: University of Nottingham Manuscript and Special Collections, PR 3669. R2.

matrikulierte im Jahr 1659 am Wadham College in Oxford, um dort das Studium der Artes Liberales aufzunehmen. Nach dem Tod von Oliver Cromwell 1658 übernahm dessen Sohn Richard die Funktionen seines Vaters. Relativ rasch stellte sich aber heraus, dass er diesen nicht gewachsen war, und so gelang, woran viele nicht mehr glaubten: die Restauration der Monarchie. Mit der Rückkehr Karls II. aus dem Exil im Jahr 1660 brach vielerorts in England, besonders aber im royalistisch gesinnten Oxford ein Freudentaumel los. Books were tossed aside and glasses raised,8 orgiastische Feierlichkeiten lösten die Bigotterie der vorangegan8

Ebd., S. 30.

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genen Jahre ab. Der Mediziner Robert Whitehall, ein Mann, der aus ganz anderem Holz geschnitzt war als Johns erster Erzieher Giffard, wurde zu einem seiner Mentoren. Whitehall lieh Rochester seinen Talar für nächtliche Erkundungsgänge durch die Wirtshäuser und Bordelle in Oxford, er unterstützte und förderte den Earl of Rochester aber auch beim ­Literaturstudium und bei seinen ersten Versuchen Gedichte zu verfassen. Gerüchte über homosexuelle Aktivitäten zwischen Studenten und Dozenten waren in jenen Tagen immer wieder zu vernehmen. In einem Bericht heißt es: Among chief men in some of the colleges sodomy is very usual. It is dangerous sending a young man who is beautiful to Oxford.9 Es ist nicht bewiesen, aber doch wahrscheinlich, dass John Wilmot in dieser Zeit erste homosexuelle Erfahrungen machte. Im Jahr 1660 verfasste Rochester, vermutlich gemeinsam mit Robert Whitehall, ein Gedicht zu Ehren König Karls II.: And though my youth, not patient yet to bear The weight of Armes, denies me to appear In Steel before You, yet, Great Sir, approve My manly wishes, and more vigorous love; In whom a cold respect were treason to A Fathers ashes, greater than to you; Whose one ambition ‘tis for to be known By daring Loyalty Your WILMOT’s Son. Ein Jahr später zahlte König Karl II. Rochester eine jährliche Summe von 1.500 Pfund – auch rückwirkend für das Jahr 1660 – aus. Der König hat sein Versprechen, das er Johns Vater gegeben hatte, nicht vergessen, oder sich zumindest daran erinnern lassen. Im Jahr 1661 schloss der Earl of Rochester vierzehnjährig seine Studien in Oxford mit einem Ehrenmagistergrad, der ihm vom damaligen Kanzler der Universität, Edward Hyde Lord Clarendon, im Namen des Königs verliehen wurde, ab.10 Rochester schenkte seinem College zum Abschied vier silberne Bierkrüge, die noch heute im Wadham College aufbewahrt werden, und verließ die englische Kaderschmiede mit offenen Rechnungen.11 Im Frühjahr 1662 schickte Karl II. den jungen Mann in der Obhut des schottischen Arztes Dr. Andrew Balfour (1630–1694) auf eine Grand Tour. Die Reise führte sie nach Paris, Avignon, Montpellier, Narbonne, Toulouse, Bordeaux, Cannes, Nizza, Monaco, Pisa, Florenz, Rom, Venedig, Ferrara, Padua, Mailand, Lyon und zurück in die französische 9 Johnson, A profane wit, S. 34. 10 Gassenmeier, Die sexuelle Imagination eines Nihilisten, S. 164. 11 Johnson, A profane wit, S. 39.

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Hauptstadt. Rochester erhielt durch Balfour nicht nur eine fundierte Erziehung, sondern auch, ob dessen Verbindungen zum Vatikan, im Zuge ihres viermonatigen Rom-Aufenthaltes Einblicke in das dortige Leben.12 Rochester bekam vor Augen geführt, dass er sich im Katholizismus von sündigen Ausschweifungen loskaufen konnte: Most of all the terrible prospect of eternal damnation in a flaming hell that Rochester had been taught in Protestant England could be lessened by the Catholic rites of Confession and granting of Indulgences.13 Balfour gelang es, Rochester für klassische und moderne Literatur, für Geschichte und auch für die Naturwissenschaften zu begeistern. Er peinigte seinen Schützling nicht mit Gebeten wie seine Mutter und ließ ihm auch entsprechende Freiräume.14 In der Ewigen Stadt lernte er die Oper und das Theater näher kennen, er beschäftigte sich mit Aretinos Sonetti Lussuriosi, einem Klassiker der pornografischen Literatur. Die Grand Tour sollte zur damaligen Zeit auch ganz generell dazu dienen, sexuelle Erfahrungen zu sammeln. Rom bot dazu viele Gelegenheiten und Rochester wird nicht alle ausgelassen haben. Nach dreijähriger Reise trennten sich die Wege von Rochester und Balfour. Der junge Adelige bereitete sich auf seine Einführung bei Hofe vor. Balfour entließ seinen Zögling mit den besten Gefühlen: Anständig, belesen, klug, redegewandt, nüchtern wie eine Nonne, mit hervorragenden Manieren, einem einnehmenden Äußeren, ein wenig schüchtern. Dies sollte sich am Hof von Karl II. allerdings ehebaldigst ändern.15 In Whitehall lebte man ein zügelloses Leben in jenen Tagen. Warum schimpft ihr so auf die Gepflogenheiten unserer Zeit?, fragte der Dramatiker Thomas Shadwell. Es ist doch eine so aufrecht versoffene und verhurte Zeit, wie man sie sich nur wünschen kann! 16 Rochesters Mutter, Lady Rochester, hatte enge Beziehungen zum englischen Hof. Als Lord Chancellor hatte Lord Clarendon das Ohr des Königs und Barbara Palmer, eine Cousine von Roches­ ter und Mätresse des Königs, hatte zweifellos mehr als nur dessen Ohr. 17 Karl II. heiratete 1662 die katholische Prinzessin Katharina von Braganza (1638–1705), eine Tochter des portugiesischen Königs. Als er seine Frau zum ersten Mal sah, soll der König, verwirrt 12 Ebd., S. 47. Die Aufmerksamkeit der Kurie gegenüber den beiden im Auftrag König Karls II. Reisenden war wohl kalkuliert, wusste man dort um die Neigungen zum Katholizismus, dem der Duke of York, der spätere Jakob II., anzuhängen schien. 13 Johnson, A profane wit, S. 48. 14 Wunnicke, John Wilmot, Earl of Rochester, S. 14. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 15. 17 Johnson, A profane wit, S. 58.

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von der portugiesischen Haarmode, gesagt haben: My god, they sent me a bet instead of a woman. Antonia Fraser, Verfasserin einer umfangreichen Biografie über Karl II., hält diese Aussage für eine erfundene Geschichte.18 Nichtsdestotrotz blieb die Ehe kinderlos. Karl umgab sich mit Hunden, tickenden Uhren, unzähligen Mätressen und wurde später The Merry Monarch genannt.19 Zu Weihnachten 1664 erschien Rochester am englischen Hof. Seine Rückkehr nach London fiel mit einer Kometensichtung zusammen. Die Ankunft des jungen Earls sprach sich schnell herum und die Bemühungen von Dr. Balfour waren bald zunichtegemacht.20 Um den König scharte sich eine Clique geistreicher und einflussvoller Männer mit ziemlich losen Sitten, sie wurden Merry Gang oder Court Wits genannt. Basically it is a collection of English wits, who joined in lewd debauchery: a lot of heavy drinking, a battle of wits often expressed through poetry but also in highly philosophical discourse and of course passionate sex.21 Zu diesem illustren Zirkel gehörten Personen wie Henry Jermyn (1604–1684), Charles Sackville (1638–1706), ein Schöngeist, Dichter und Höfling, der Staatsmann und Dichter John Sheffield/Earl of Mulgrave (1648–1721), Henry Killigrew (1613–1700), der jüngere Bruder des Dramatikers Thomas Killigrew (1612–1683), der Dichter und Komödienautor Sir Charles Sedley (1639–1701), die Dramatiker William Wycherley (1640–1715) und George Etherege (1635–1692), der Duke of Buckingham und einer der Mitbegründer der Royal Society George Villiers (1627–1687), die Schauspielerin und Geliebte des Königs Nell Gwyn (1650/51–1687)22 und einige andere mehr.23 König Karl II. war Gastgeber, Patron und ließ sich von den Mitgliedern der Merry Gang unterhalten, auch wenn er dabei manchmal selbst zum Ziel der satirischen Angriffe wurde. Im Jahr 1663 – so berichtet Samuel Pepys (1633–1703), der Staatssekretär im englischen Marineamt in seinem Tagebuch – […] gefielen sich Sir Charles Sedley und Lord Buckhurst darin, in Covent Garden am helllichten Tag auf den Balkon von Oxford Kate’s Tavern zu kommen und sich dort na­ 18 19 20 21 22

Fraser, Antonia: King Charles II. London 1979, S. 270. Keay, Anna: The magnificent monarch. Charles II. and the ceremonies of power. London 2008. Wunnicke, John Wilmot, Earl of Rochester, S. 16. Siehe: http://wiki.ageofintrigue.com/index.php/Merry_Gang (25.01.2010). Zur Biografie von Nell Gwyn siehe: Beauclerk, Charles: Nell Gwyn. Schauspielerin und Geliebte des Königs. Berlin 2008. 23 Fraser, King Charles II., S. 363f.

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ckend auszuziehen, sämtliche Posen der Wollust und Sodomie einzunehmen, die man sich überhaupt nur vorstellen kann, und dann die heilige Schrift zu lästern, in dem sie von dieser Kanzel hinunter eine Quacksalberpredigt hielten, dass sie eine Medizin zu verkaufen hätten, die bewirke, dass einem alle Fotzen der Stadt hinterherlaufen. Worauf Sedley ein Glas Wein nahm, seinen Schwanz darin wusch und es dann leerte, und dann das nächste Glas auf die Gesundheit des Königs trank. Passanten bewarfen die nackten Herren mit Steinen, vor Gericht wurden sie auch gestellt, doch da man nicht recht wuss­te, wie ihr Verbrechen juristisch zu klassifizieren sei, verhängte man eine Bewährungsstrafe, worüber die halbe Stadt lachte.24 Der junge lebenshungrige Earl of Rochester wurde von den Mitgliedern der Merry Gang und von den Damen am Hofe mit offenen Armen empfangen. Neben der ständigen Geldknappheit und der Syphilis, die aus den über hundert Bordellen von London längst in die Schlafzimmer des Adels vorgedrungen war, sah sich Whitehall vor allem durch eines bedroht: die Langeweile. Lord Rochester war das perfekte Gegengift und wurde bei Hof so beliebt, dass er bald als die Nummer eins der Merry Gang durchgehen konnte. Er hatte Witz und Stil, die schlimmsten Unverschämtheiten flossen ihm charmant und gleichsam im Nebensatz von den Lippen, er war begabt darin, immer neue extravagante Lustigkeiten zu ersinnen […] und auch sein Talent, mühelos anstößige Verse zu extemporieren, und seine recht offen zur Schau gestellte Bisexualität – beides bei Hofe sehr en vogue – trugen zu seiner Popularität bei.25 Michael Gassenmeier nennt Rochester eine Kultfigur als auch Scheusal der Epoche, Zuschreibungen, die in den Werken seiner Freunde und Zeitgenossen wie George Etherege und George Sackville ihren Ausdruck finden.26 König Karl II. empfahl Rochester, sich eine reiche Erbin zur Frau zu nehmen, und schon bald trat Elizabeth Mallet (1651–1681) in Rochesters Leben. Er schmachtete sie an und schrieb ihr Gedichte, im Mai 1665 mietete er sich bewaffnete Reiter und überfiel ihre Kutsche, um sie zu entführen.27 Samuel Pepys, der fleißige Tagebuchschreiber der Restaurationszeit, berichtete auch über dieses Vorkommnis:

24 Wunnicke, John Wilmot, Earl of Rochester, S. 15. Die beiden genannten Herren wurden später die Taufpaten von John Wilmots Sohn. Siehe auch: Johnson, A profane wit, S. 76f. 25 Wunnicke, John Wilmot, Earl of Rochester, S. 17f. 26 Gassenmeier, Die sexuelle Imagination eines Nihilisten, S. 166. 27 Wunnicke, John Wilmot, Earl of Rochester, S. 18f.

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Story of my Lord Rochester’s running away on Friday last night with Mrs Mallet, the great beauty and fortune of the North, who had supped at White Hall and was going home to her lodgings with her grandfather by coach, and was at Charing Cross seized on by both horse and foot men and forcibly taken from him, and put in a coach with six horses and two women provided to receive her, and carried away. Upon immediate pursuit, my Lord of Rochester (for whom the King had spoken to the lady often, but with not success) was taken at Uxbridge; but the lady is not yet heard of, and the King mighty angry and the Lord sent to the Tower.28 Sein Aufenthalt im berühmt-berüchtigten Londoner Gefängnis dauerte nicht lange, ein Gnadengesuch an Karl II. reichte und er war nach drei Wochen wieder auf freiem Fuß. Nachlässigkeit, Unkenntnis des Gesetzes und Leidenschaft, so schrieb er, seien die Ursachen für sein Vergehen gewesen.29 Der König vergab ihm, schickte ihn aber aus London fort, direkt in den 2. Englisch-Holländischen Krieg, der im März 1665 begann und bis 1667 dauern sollte. The moment was ripe for John Wilmot to prove himself Henry Wilmot’s son by fighting for the King.30 Am 17. Juli stieß er zur englischen Flotte und begab sich unter das Kommando von Edward Montagu 1. Earl of Sandwich (1625–1672). Nur ein paar Tage später stand das Schiff, auf dem sich Rochester nun befand, in der Schlacht von Bergen unter vollem feindlichem Beschuss. Noch am Vorabend hatten sich Rochester und zwei Kameraden Mut angetrunken, seine Mitstreiter wurden vor Rochesters Augen am Tag der Schlacht von einer Kanonenkugel in Stücke zerfetzt. John Wilmot überlebte den Angriff ohne einen Kratzer. Seiner Mutter berichtete er in einem Brief: Mr. Montague und der Bruder von Thomas Wyndham wurden beide mit einem Schuß unmittelbar neben mir getötet, aber es gefiel dem allmächtigen Gott, mich vor jeder Verletzung zu bewahren.31 Sir Thomas Clifford, der offizielle Repräsentant des Königs vor Ort, und der Earl of Sandwich lobten Rochesters Mut und Einsatz im Kampf.32 Als Rochester im September zurück nach London kam, wütete dort die Pest; der Hof und auch Rochester zogen sich nach Oxford zurück. Für seine militärischen Verdienste bekam der Graf eine Belohnung des Königs. Die Aufregung um die Entführung von Elizabeth Mallet war vergessen. James William Johnson schrieb, dass die Eindrücke des Krieges Spuren beim Earl of Rochester hinterlassen hatten: Subliminal images of war and combat were scored on his mind; and for a long while after, they became metaphors for his poetic visions of friend28 Siehe dazu: http://www.pepysdiary.com/, Eintrag vom Sonntag, 28. Mai 1665. (24. 1. 2010.) – Kriegel, Volker / Willemsen, Roger (Hrsg.), Pepys, Samuel: Die geheimen Tagebücher. Berlin 2004. 29 Greene, Graham: Lord Rochesters Affe. Wien/Hamburg 1976, S. 45. 30 Johnson, A profane wit, S. 72. 31 Greene, Lord Rochesters Affe, S. 52. 32 Johnson, A profane wit, S. 74.

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ship, politics and love.33 Im Februar 1666 wurde Rochester vom König zum Kammerherrn (Gentleman of the Bedchamber) ernannt – dieses Hofamt wurde mit einem jährlichen Salär von 1.000 Pfund belohnt. Aufgrund der permanenten Geldnot des Königs gelangte das Geld nicht regelmäßig zur Auszahlung, so erhielt Rochester z. B. sechs Jahre lang gar keine Zahlungen vom König. Mit elf anderen Adeligen half er nun dem König beim An- und Auskleiden, er begleitete ihn auf Ausfahrten, auf Jagden und auf Reisen. Üblich war es auch, den Fürsten an der Tafel zu bedienen, an Gesellschaftsspielen teilzunehmen und manchmal zu Füßen des Königs zu schlafen.34 Inevitably, given the King’s sexual proclivities, the young Gentleman of the Bedchamber became intimately aware of bed partners brought to his master.35 Es heißt, dass sich die Kammerherren häufig ins Koma tranken, um ein wenig Ruhe zu finden. Im Mai 1666 begab sich Rochester erneut in den Krieg. Er meldete sich freiwillig, als der Kommandant des Schiffes, Sir Edward Spragge (1629–1673), einen Mann suchte, der bereit war, in einem offenen Boot das lebensgefährliche Schlachtgetümmel zu durchqueren, um einem anderen Kommandanten die Nachricht zu überbringen, dass Spragge mit dem taktischen Verhalten seines Kollegen in der Schlacht nicht zufrieden war. Rochester ruderte und er ruderte wieder zurück, unbehelligt, als kreuze er einen Ententeich.36 So bewies er erneut seinen Mut, seine Unerschrockenheit, die letztendlich als Loyalität dem König gegenüber empfunden wurde. Ein Jahr später gab Elizabeth Mallet ihren Widerstand auf und wurde Rochesters Ehefrau. Die Hochzeit hielt den Grafen selbstverständlich nicht davon ab, auch in Hinkunft zahlreichen außerehelichen Abenteuern nachzugehen. Elizabeth lebte abwechselnd bei ihrer Familie in Somerset und in Adderbury, dem Gut, das Rochester von seinem Vater geerbt hatte. John Wilmot lebte die meiste Zeit in London und zog sich nur dann auf das Land zurück, wenn er vom Hof verbannt wurde, krank war oder einen seiner Versuche unternahm, vom Alkohol loszukommen. Die Stadt sollte für ihn die benebelte Fröhlichkeit des Trunks, die Intrigen des Theaters, die halbherzigen Freundschaften mit professionellen Dichtern, leidenschaftlichen Liebesaffären, Streitigkeiten bei Hof, die Freundschaft des Königs […] bedeuten. Das Land hingegen verhieß Frieden, sogar eine Art von Reinheit, und zuletzt war es der Ort, wo man sich zum Sterben niederlegte.37 33 34 35 36 37

Ebd., S. 75. Greene, Lord Rochesters Affe, S. 55. Johnson, A profane wit, S. 81. Wunnicke, John Wilmot, Earl of Rochester, S. 20f. Greene, Lord Rochesters Affe, S. 24.

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Im Oktober 1667 nahm Rochester, obgleich noch nicht volljährig, seinen Platz im House of Lords ein. In den ersten Jahren war er dort nur sehr sporadisch anwesend. Er kam diesen Verpflichtungen vornehmlich dann nach, wenn er knapp bei Kasse war, denn auch für die Anwesenheit im Parlament wurde er von König Karl II. bezahlt. Für den König war es immens wichtig, Leute seines Vertrauens im Parlament zu haben, denn er war auf dessen Unterstützung und vor allem auf die Bewilligung finanzieller Mittel durch das Parlament angewiesen. Zwischen 1668, Rochesters Frau Elizabeth wurde im Juli 1668 schwanger, und 1672 folgte die eingangs erwähnte Phase durchgehender Trunkenheit. Rochester erwähnte dies kurz vor seinem Tode gegenüber Gilbert Burnet.38 Während dieser Zeit kam sein literarisches Schaffen fast zum Erliegen, seine Anwesenheit im Parlament war – euphemistisch gesprochen – sporadisch zu nennen, die Skandalgeschichten über exzessiven Alkoholkonsum, Hurerei und Schlägereien häuften sich.39 In diese Zeit fiel auch die Gründung einer „sexual society“, die sich The Ballers nannte: Dedicated to such pastimes as drinking, sexual exhibitions, and dancing naked with the young women. The Earl of Rochester was the mastermind among the Ballers.40 Ihre Aktivitäten fanden später Eingang in das skandalträchtige Stück SODOM: A Dance. Six naked men and six naked women appear and dance. In their dancing the men do obeisance to the women’s cunts, kissing and tonguing them often. The women in like manner do ceremony to the man’s pricks, kissing the glans, quidling and dandling their cods, and so fall to copulation, after which the women sigh, the men look simply and so sneak off.41 Rochesters Ruf für sein Talent in harvesting maidenheads eilte ihm in diesen Jahren vo­ raus. Da auch der König Wert auf sexuell erfahrene Gespielinnen legte, kam den Mitglie38 Gilbert Burnet (1643–1715), schottischer Theologe und Historiker, Bischof von Salisbury, verbrachte die letzten Wochen am Sterbebett von Rochester. Nach Rochesters Tod verfasste Burnet ein Buch mit dem Titel Some passages in the life and death of John Earl of Rochester. Schon im Untertitel auf dessen eigenes Begehren, zur Warnung, Lehre und Nachfolge anderer, wird die Intention dieser Schrift klar. Sie soll die Läuterung eines Gefallenen durch Rückkehr zum Glauben verdeutlichen. Insofern ist sein Bericht auch zu lesen. 39 Johnson, A profane wit, S. 103. 40 Ebd., S. 106. 41 Ebd. Ob Rochester selbst Verfasser des Stückes Sodom ist, konnte bislang nicht eindeutig geklärt werden. Siehe dazu die folgende Kontroverse: Johnson, James William: Did Lord Rochester write Sodom? PBSA 81 (1987), S. 119–53, und Love, Harold: Bud did Rochester Really write Sodom? PBSA 87 (1993), S. 319–36.

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dern der Merry Gang mitunter die Aufgabe zu, junge Mädchen entsprechend einzuschulen und auf den Umgang mit dem König vorzubereiten.42 Für die Jahre nach 1670 häuften sich die Hinweise, dass Rochester vermehrt auch homosexuellen Neigungen nachging. Im April 1669 schickte Karl II. mit Ralph Montagu (1638–1709) einen neuen Diplomaten an den Hof Ludwigs XIV. Montagu wurde von einigen Adeligen, darunter auch vom Earl of Rochester, begleitet. Dessen Frau war mittlerweile hochschwanger und brachte kurz nach Rochesters Ankunft in Paris eine Tochter zur Welt. Am Hof des Sonnenkönigs machte Rochester von sich reden. Es wird berichtet, dass er unter eine lateinische Inschrift, die Ludwig XIV. zu Ehren seiner militärischen Erfolge in Versailles hatte anbringen lassen und die frei übersetzt etwa so wiedergeben werden kann: Lothringen an einem Tag, Burgund in einer Woche, Flandern in einem Monat – was wäre in einem Jahr möglich gewesen?, seine Version der Geschichte hinterließ: Lorrain he Stole, by Fraud he got Burgundy, Flanders he bought‚ ods you Shall pay for’t one day.43 Auch sonst war sein Parisaufenthalt von abenteuerlichen Erlebnissen begleitet. Man überfiel seine Kutsche und stahl ihm Geld, Pistolen und Perücken, und in der Pariser Oper geriet er in eine Schlägerei. Er erweiterte seinen sexuellen Horizont und überschritt alle Grenzen der Konvention, kam mit Transvestismus, Pädophilie und homosexuellen Gesellschaften in Kontakt, bevor er zu seiner Frau nach England zurückkehrte. Im Jahr 1670 tauchten erste Anzeichen auf, dass Rochester sich mit Syphilis angesteckt haben könnte. This could take the form of premature ejaculation, inability to climax more than once, or impotence. His anxieties (and imagination) stimulated, he explored those conditions and their psychological impact in several poems for which evidence exists of composition as early as 1670–71.44 Das zeitweise Schwinden seiner sexuellen Kraft fand Eingang in seine Gedichte, so beispielsweise in The Imperfect Enjoyment. Das Motiv der Verfluchung des penis defunctus ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Gedichts. Seine Wut gründet vor allem darin, dass sein „worst part“ ihm, wie ein Schuft, der seinem König in Zeiten der Not die Gefolgschaft aufkündigt, ausgerechnet bei der Begegnung mit seiner großen Liebe den Dienst verweigert hat, während er sich in ungezählten Fällen, in denen ihn bloße Geilheit trieb, wie ein wahrer Wüterich gebärdete.45 42 43 44 45

Johnson, A profane wit, S. 107. Ebd., S. 115. Ebd. S. 126. Gassenmeier, Die sexuelle Imagination eines Nihilisten, S. 181.

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James William Johnson spricht von einer Wende in Rochesters Leben, die sich auch in seinen Werken niederschlägt: […] shows Rochester’s transition from a youthful, erotic perspective to the ironic and satiric purview of his maturity […]46. In dieser Zeit kam Rochester seiner Rolle als Familienoberhaupt und Vater wieder verstärkt nach. Er regelte finanzielle Angelegenheiten und versuchte die atmosphärischen Spannungen, die zwischen seiner Frau und seiner Mutter zeitlebens bestanden, zu mildern. Anfang des Jahres 1670 wurde Elizabeth erneut schwanger. Als ihm schließlich klar wurde, dass er an Syphilis litt und seine Frau mit der Krankheit angesteckt hatte, verließ er den gemeinsamen Landsitz ohne weitere Erklärungen für mehrere Monate.47 Im Mai 1670 wurde der Geheimvertrag von Dover unterzeichnet, ein Abkommen zwischen Karl II. und dem französischen König Ludwig XIV., der eine Allianz beider Länder gegen die Vereinigten Niederlande und die Konversion Karls II. zum Katholizismus vorsah. Frankreich versprach dafür bares Geld und Truppenunterstützung. Offiziell konvertierte Karl II. nie, der Vertrag aber bedeutete eine Schwächung des Protestantismus in England. Mit der Vertragsunterzeichnung gingen Festivitäten einher und der König berief seinen Schützling Rochester an den Hof. Im Sommer 1670 bezog er ein Haus in der Portugal Row, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Duke’s Theatre, das unter der Patronage des späteren Königs Jakob II. stand. Am Theater wurden Stücke von John Dryden (1631–1700), Thomas Otway (1652–1685), George Etherege, Thomas Shadwell aufgeführt. Rochester, mit vielen dieser Schriftsteller bestens bekannt, interessierte sich sehr für das Theater. Bei einem seiner Besuche wurde er dort auf die zwölfjährige Schauspielerin Elizabeth Barry (1658–1713) aufmerksam. In ihr erkannte er einen Rohdiamanten und beschloss sie zur erfolgreichsten Schauspielerin in ganz London zu machen. Einige Personen von Geist und Qualität erklärten mit Nachdruck, diese Person werde nie in ihrem Leben auch nur irgendeinen Teil der Schauspielkunst erlernen können, berichtete ein Augenzeuge über einen der ersten Auftritte von Elizabeth Barry.48 Rochester vermittelte Elizabeth, wie man einen Charakter darstellt, bis er wie eine zweite Haut zu passen scheint, wie man Leidenschaften so glaubwürdig spielt, als kämen sie aus tiefstem Herzen. Mit fünfzehn war sie seine Mätresse.49 Je erfolgreicher Elizabeth Barry wurde, desto mehr forderte sie von Rochester. Hauptrollen, Geld und Treue, wenngleich sie selbst Affären mit anderen Männern hatte. Rochester, selbst alles andere als ein treuer Geliebter, soll zu dieser Zeit eine Affäre mit James Paisable (1656– 1721), einem 18-jährigen französischen Komponisten am Hof Karls II. gehabt haben und 46 47 48 49

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Johnson, A profane wit, S. 126. Ebd. Wunnicke, John Wilmot, Earl of Rochester, S. 31. Johnson, A profane wit, S. 132.

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war erzürnt über ihre Eskapaden. Im Dezember 1670 brachte seine Ehefrau Elizabeth einen Sohn zur Welt. Die Beziehung mit der Schauspielerin Elizabeth Barry dauerte mit Unterbrechungen drei Jahre – bis 1678 – für Rochester wahrlich eine halbe Ewigkeit. Aus dieser Beziehung ging eine Tochter hervor, die er der Mutter später entzog und seiner Ehefrau zur Erziehung übergab. Die Tochter wurde auf den Namen Elizabeth getauft, der Name seiner Ehefrau und seiner Geliebten. Im Jahr 1673 dichtete Rochester eine erotische Persiflage und feierte mit Signior Dildo die Ankunft von Marie Beatrice d’Este, Prinzessin von Modena, die die zweite Frau des Herzogs von York wurde. Das Spottgedicht (lampoon) beginnt mit den folgenden Versen: You Ladyes all of Merry England/Who have been to kisse the Dutchesse’s hand/Pray did you lately observe in the Show/A Noble Italien call’d Signior Dildo?/The Signior was one of her Highness’s Train/And help to Conduct her over the Main/But now she Crys out to the Duke I will go/I have no more need for Signior Dildo. Der Dildo an und für sich war in England nicht unbekannt, aber nach Erscheinen des Gedichtes nannte man ihn oft nur noch signior.50 Thematisiert wird die sexuelle Unabhängigkeit der Frauen von den Männern anhand von Personen, die für ihren ausschweifenden Lebensstil bekannt sind; die im Gedicht angesprochenen Menschen stammen aus dem Umfeld des Herzogs von York. Häufig amüsierte sich auch der König über Roches­ ters verbale Schlagfertigkeit. Er extemporierte Verse wie And now God bless our gracious King/Whose word no man relies on/He never spoke a silly thing/Nor ever did a wise one aus dem Stegreif. Der amüsierte König soll darauf geantwortet haben, dass er für seine Worte selbst, für seine Taten aber seine Minister verantwortlich seien. Amusement at Signior Dildo grew in December 1673 until a report of it reached the King’s ears. Charles wanted to see the satire on the Court ladies and on one of the winesoaked evenings preceding Christmas, he asked Rochester for a copy. In a drunken fit of carelessness – or possibly urged subconsciously into reckless bravado – John Wilmot reached in his pocket and handed a piece of paper over to his Father-King.51 Der König las eine von Rochester verfasste Satire über ihn selbst [A Satire on Charles II]. Sie beginnt mit einer Lobrede auf den König und sein Königreich, wenngleich mit einem unschicklichen Grund für seine Berühmtheit: 50 Wilson, John Harold: Court satires of the restoration. Columbus 1976, S. 14. 51 Johnson, A profane wit, S. 181.

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In the isle of Britain, long since famous grown/For breeding the best cunts in Christendom/There reigns, and oh!/Long may he reign and thrive/The easiest King and bestbred man alive […] And Love, he loves, for he loves fucking much […] His Sceppter and his Prick are of a Lenght […] Restlesse he rolls about from Whore to Whore […] Though saftey, law, religion, life lay on’t/Twould break through all to make its way to cunt […] I hate all Monarchs, and the thrones they sit on/From the hector of France to the culley of Britain.52 Rochester wirft dem König in diesem Gedicht seine frankophile Politik und seine kryptokatholischen Neigungen vor. Karl II. wird explizit angeklagt, seine höchsten Staatspflichten auf Kosten seiner persönlichen Lust zu vernachlässigen. Rochester schreibt ihm physische Impotenz zu, die gleichzusetzen ist mit dem Unvermögen, das Land zu regieren. Damit brachte Rochester das Fass einmal mehr zum Überlaufen. Der König war verständlicherweise alles andere als begeistert und verbannte John Wilmot im Jänner 1674 vom Hof. Trotzdem dauerte Rochesters Verbannung vom Hof nur sieben Wochen. Unter jedem anderen Herrscher hätte Rochesters Laufbahn frühzeitig ein Ende gefunden, aber in Charles’ Tagen konnte Witz sogar Hochverrat vergessen machen. Betrachtungen, die den König und seine Mätressen betrafen […] brachten Rochester zu wiederholten Malen nicht mehr als ein paar Wochen Verbannung vom Hof ein. […] Man kann ihn mit einem mittelalterlichen Hofnarren vergleichen, der die bittere Wahrheit sprach und dafür manchmal Gold und manchmal Schläge erntete.53 Nach Ablauf der Verbannung nahm Rochester seinen Sitz im House of Lords wieder ein und Karl II. ernannte ihn zum Verwalter von Woodstock Park in Oxfordshire, dem Jagdrevier der englischen Könige. In seinen letzten Lebensjahren fiel Rochester beim König immer öfter in Ungnade, manchmal bin ich meiner selbst sehr müde, schrieb Rochester über sich selbst. Am 25. Juni 1675 wankte Rochester nach einem Trinkgelage in den Appartements des Königs mit dem Earl of Middlesex und einigen anderen Höflingen durch den Garten von Whitehall. Dort kam die Gruppe vor Karls Sonnenuhr, einer seiner Lieblingsuhren, zu stehen. Die Uhr enthielt gläserne Porträts von König Karl, Königin Katharina, dem Duke of York und der Königinmutter. What, does thou stand here to fuck the time rief Rochester aus und zertrümmerte die Lieblingsuhr des Königs und gleichzeitig die Bilder

52 Ebd. 53 Greene, Lord Rochesters Affe, S. 86.

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der Herrscherfamilie.54 Diesmal verließ der König, völlig in Rage, Hals über Kopf London, fuhr nach Plymouth und bestieg dort die königliche Jacht, um für die nächsten zehn Tage vom Erdboden zu verschwinden. Rochester flüchtete auf sein Landgut, um dort auf die Bestrafung des Königs zu warten. Sein Freund Savile informierte ihn per Brief, dass es um sein Ansehen bei Hof schlechter stehe als befürchtet. Im September kehrte Rochester nach London zurück und traf den König bei einer Theaterpremiere. Gezeigt wurde ein Stück von Thomas Otway, das mit einer unmissverständlichen Andeutung auf die Sonnenuhrgeschichte beginnt: […] And there his Image seated on a Throne, they violently took and tumbled down […]. Im Oktober 1675 begann das Parlament mit seinen Tagungen und Rochester nahm seinen Platz wieder ein. Schon ein Jahr später fiel Rochester wegen einer nächtlichen Auseinandersetzung mit den königlichen Wachen, bei der im Handgemenge einer von Roches­ ters Begleitern getötet wurde, erneut in Ungnade und verschwand aus der Öffentlichkeit, zumindest in seiner gewohnten Rolle. Anfang des Jahres 1676 nämlich eröffnete Roches­ ter am Tower Hill eine Arztpraxis anderer Art. Er nagelte ein Zertifikat der Universität Montpellier an die Wand und mimte einen langbärtigen italienischen Mediziner namens Dr. Alexander Bendo. In seiner Praxis empfing er, unterstützt von seinem Assistenten, den er ebenfalls selbst spielte, seine Patienten. Rochester war Internist, Zahnarzt, Gynäkologe, Psychiater, Chirurg, Kosmetiker und Traumdeuter. Rochester hatte ungewöhnliche Geheimnisse zur Erlangung, Bewahrung und Vermehrung der Schönheit und Wohlgestalt parat.55 Es dauerte nicht lange und die Kunde von dem seltsamen Wunderheiler erreichte Whitehall und zahlreiche Damen konsultierten Dr. Alexander Bendo. Wenngleich einige Erlebnisse aus Rochesters Leben ebenso gut auch in den Bereich der Legende fallen können, ist diese Episode quellenmäßig relativ gut belegt.56 Die Geschichte wird auch von Gilbert Burnet erwähnt, weshalb man in der Literatur der Meinung ist, dass Rochester diese Posse tatsächlich lebte. Es ist wahrscheinlich, dass er damals aus seinem Heim in London verschwand um […] derart verkleidet wiederaufzutauchen, so daß nicht einmal seine nächs­ ten Freunde ihn erkannt hätten.57

54 Johnson, A profane wit, S. 220. Siehe dazu auch: Greene, Lord Rochesters Affe, S. 105. Dort wird der Ausspruch etwas abgewandelt wiedergegeben: Könige und Königreiche fallen, und so sollst auch du fallen. 55 Beauclerk, Nell Gwyn, S. 305. 56 Die meisten Biografien über den Earl of Rochester wiederholen bekannte Geschichten, die nicht alle quellenmäßig belegt sind. Sein buntes Leben scheint geradezu geschaffen, die Fantasie der Biografen anzuregen. 57 Greene, Lord Rochesters Affe, S. 108.

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In diese Zeit fällt auch der zunehmende körperliche Verfall des Grafen, er erblindete, litt an Gonorrhö und befand sich im Endstadium der Syphilis. Er nahm noch an Parlamentssitzungen teil und ließ sich dort sogar regelmäßig sehen. A considerable time before his last Sickness, his Wit began to take a more serious Bent, and to frame and fashion it self to publick Business; he begun to inform himself of the Wisdom of our Laws and the excellent Constitution of the English Government, and to speak in the House of Peers with general approbation […] and set himself to read the Journals of Parliament Proceedings.58 Unter dem strengen Einfluss seiner Mutter beschäftigte sich Rochester in den letzten Wochen seines Lebens mit Religion und Spiritualität. In einem Brief an seinen Freund Savile schrieb Rochester, dass das Land der einzige Ort ist, wo man nachdenken kann; denn ihr bei Hof denkt überhaupt nicht, oder zumindest so, als wärt ihr in einer Trommel eingeschlossen, ihr könnt an nichts denken als an den Lärm, den man um euch macht.59 Die Mutter beorderte den Bischof von Salisbury, Gilbert Burnet, an sein Sterbebett. Dieser nahm ihm die Beichte ab und wollte ihn zu einem gläubigen Christen bekehren, wie er das später in seinem Werk Some Account of the life and death of John Wilmot beschrieb. Ein paar Zeilen aus Jesaja 53 sollen es schließlich gewesen sein, die Rochester letztendlich zu Gott geführt haben sollen: Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn. Rochesters Mutter betete rund um die Uhr und verbrannte nebenbei Rochesters Gedichte. In seinen Papieren soll sich auch eine Schrift mit dem Titel History of the Intrigues of the Court of Charles II. befunden haben, die der Flammenhölle allerdings nicht entkam. Im Alter von 33 Jahren starb Rochester am 26. Juli 1680 an der Syphilis und an den Folgen seines jahrelangen Alkoholmissbrauchs. Er wurde am 9. August in der Gruft der Spelsbury Church begraben. Das Menschsein ist die Krankheit unseres Lebens – so heißt es am Ende eines Gedichtes von John Wilmot.

Werk und Rezeption My Lord Rochester hat diese Lieder nicht geschrieben, damit man sie in der King’s Chapel als Choräle singt und auch nicht für die Zimmer der Damen, für die Klausen von Geistlichen oder für irgendeine andere Öffentlichkeit, sondern für das private Ver58 Robert Wolseley zitiert nach: Wunnicke, John Wilmot, Earl of Rochester, S. 38. 59 Greene, Lord Rochesters Affe, S. 201.

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gnügen jener wenigen Glücklichen, denen er die Freude seiner Gesellschaft und die Ehre seiner Freundschaft gewährte.60 John Wilmot Earl of Rochester gilt heute im angelsächsischen Sprachraum als einer der wichtigsten Dichter der Restaurationszeit.61 Die Rezeption seiner Werke im deutschen Sprachraum ist bislang kaum erfolgt, erste deutsche Übersetzungen seiner Werke datieren erst aus den letzten Jahren. Nicht alle John Wilmot zugeschriebenen Werke können ganz zweifelsfrei seiner Autorenschaft zugeordnet werden. Viele Satiren der Restaurationszeit zirkulierten in Abschriften, zum Teil ohne Autorenangabe, und wurden erst viel später gedruckt. Wiederholte Abschriften bedingen Veränderungen an den Texten. Nicht vergessen werden darf, dass Schreiben in jener Zeit als aristokratischer Zeitvertreib und nicht zum Broterwerb betrieben wurde und dass viele Werke nur für einen bestimmten, sehr elitären Kreis gedacht waren. Zensurbestimmungen haben satirische und pornografische Werke verboten. Es ist davon auszugehen, dass viele Werke Rochesters verschollen sind bzw. nicht eindeutig ihm zugeordnet werden können. Beispiel dafür ist das schon erwähnte Stück Sodom. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts bemüht sich die Literaturwissenschaft um die Rekonstruktion eines verbindlichen Rochester Kanons (ca. 200 Gedichte).62 Rochester verfasste freche Lieder, bissige Satiren, Essays, lüsterne Liebeslyrik, Parodien, er übersetzte oder imitierte klassische Autoren wie Ovid, Horaz oder Seneca. Er ließ sich weder formal noch inhaltlich festlegen, einzig erzählerische Formen sind nicht bekannt. Christine Wunnicke schreibt: Im Leben wie im Schreiben war Rochester ein Chamäleon. Ständig wechselte er den Tonfall, die Versform und vor allem den Ich-Erzähler. Aus der Perspektive eines verliebten Mädchens schreibt er mit ähnlicher Selbstverständlichkeit wie aus der eines frus­trierten alten Wüstlings.63 Ausschweifungen und sinnlicher Genuss, ekstatisch bis in die Gossensprache getrieben, stehen im Mittelpunkt. Zimperlich darf, wer das liest nicht sein64, so heißt es in einer Literaturkritik. Eine weitere Kritikerstimme vermerkt: Die Gedichte sind so frivol, dass man

60 Zitat von Robert Wolseley. Zitiert nach: Wunnicke, John Wilmot, Earl of Rochester, S. 38. 61 Fisher, Nicholas (Hrsg.): That second bottle. Essays on John Wilmot, Earl of Rochester. Manchester 2000, S. 1. 62 Wunnicke, John Wilmot, Earl of Rochester, S. 39. 63 Ebd. 64 Lausitzer Rundschau, 11.02.2008.

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das Gefühl nicht loswird, unsere Gegenwart sei in Wirklichkeit prüde.65 Rochesters Gedichte scheren sich nicht um Schicklichkeit noch um sexualpolitische Korrektheit. Rochester wurde von Kritikern oft und sehr lange vorgeworfen, rein pornografische Dichtung, ohne politischen oder sozialkritischen Hintergrund geschrieben zu haben. Erst die neuere Literaturwissenschaft vertritt die Meinung, dass die Geschichte seiner Zeit in seinen Gedichten durchaus Widerhall findet. Seine Werke zeigen, dass er die Torheiten der Menschen erkannt, dass er die Lächerlichkeiten und Widersprüchlichkeiten des Lebens erfasst, dass er sie als Mode und Schwäche seiner Zeit verstanden hat. Er verstand die Manipulationsmechanismen des höfischen Lebens und malte ein Sittengemälde seiner Zeit. Rochesters Schriften […] debunk particular truth-producing mechanisms of Charles II’s court; they unmask certain affectations of the luminaries of Whitehall; to employ a currant usage that Rochester himself might have appreciated, they call bullshit a range of patrician social and literary practices. Obviously, these are political undertakings. […] Rochester’s literary clash with courtly authority marks, in this instance, the localized battle-ground where the mechanics of power unfold.66 Die zum Teil sehr deftige Sprache ist keine Eigentümlichkeit von Rochester, sie ist ein Charakteristikum der Restauration Comedy,67 deren Beliebtheit erst um 1700 abnahm.68 Rochesters Witz reflektierte den Schmerz eines epochalen Glaubensverlustes, den Glauben an Gott und den Glauben an das Gottesgnadentum. Seine Gedichte und Briefe spiegeln die Widersprüchlichkeiten seines Lebens: Er spottet über Treue und Treulosigkeit, er feiert und verachtet die körperlichen Genüsse, er besingt die Schönheit der Frauen und zerrt sie gleichzeitig in den Schmutz. Critics are either strongly for or equally strongly against Rochester as both man and writer. Die Bühnenautorin Aphra Behn (1640–1689) beklagte den Tod von Rochester, während andere ihn als Lord Lampoon oder Holiday Writer verspotteten.

65 Rehberg, Peter: In: Siegessäule 11/2005. 66 Combe, Kirk: A martyr for sin. Rochester’s critique of polity, sexuality, and society. London 1998, S. 15ff. 67 Thormählen, Marianne: Rochester. The poems in context. Cambridge 1993, S. 286. 68 Restauration. Dieser Begriff wird im Allgemeinen mit der Regierungszeit Karls II. gleichgesetzt, manchmal wird die Restaurationszeit bis Ende des 17. Jahrhunderts datiert.

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Im Bett mit der Macht Nach der klassischen Begriffsdefinition von Max Weber69 bedeutet Macht die Chance, das Handeln anderer den eigenen Vorstellungen entsprechend zu beeinflussen. Macht ist integraler Bestandteil jeder menschlichen Beziehung, historisch wie gegenwärtig. Neuere Arbeiten sehen Macht als Relationsbegriff, als soziales Verhältnis: Niemand hat Macht für sich allein. Macht entsteht, wenn Menschen aufeinander treffen und zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen.70 Der königliche Hof Karls II., an dem sich Rochesters Leben teilweise abspielte, ist das Zentrum der Macht. Der Hof wird personifiziert durch eine zentrale Mittelpunktsfigur, gruppiert sich um diese und ist bezogen auf den Herrscher. Der königliche Hof ist ein um den Herrn zentriertes Gebilde, den Höflingen wird eine Beteiligung an der Macht zugestanden.71 Das höfische Beziehungsgeflecht besteht aus einem Netz von Vertrauenspersonen, von Familienmitgliedern über Mätressen bis hin zu den Höflingen. Das Leben bei Hof ist unter anderem ein Raum, in dem Macht, Intrigen, Patronage und Klientelsystem gedeihen können. Es ist ein nie endender Machtkampf um die Gunst des Königs, ein Wettbewerb um Aufmerksamkeiten und Zuwendungen des Königs. Der Zugang zum König ist streng geregelt, wer wann und wo Zutritt hat, hängt vom Vertrauen und von der Gunst des Königs ab. Rochester lernte dieses Netzwerk aus formaler und informeller Macht als Zwanzigjähriger kennen und kritisierte es später heftig. König Karl II. liebte die Fröhlichkeit und man sagt ihm nach, dass er ein angenehmer Gesellschafter gewesen sei. Im Gegensatz zu seinem Vater Charles II. presided over a Court of notorious debauchery.72 His sexual promiscuity became notorious, and made it harder to see the person of the monarch as sacred, a dilemma which Dryden explores in Absalom and Achitophel.73 Das frivole Verhalten seiner Höflinge untergrub auch das Ansehen des Königs. Rochester schrieb in seinen Gedichten, dass der Hof kein Ort für richtige Freundschaften und menschliches Miteinander sei, weil dort der Eigennutz regiere. Aus Rochesters Gedichten kann man keine wahre Zuneigung zu König Karl II. 69 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 1. Halbband Tübingen 1956/1980, S. 28. 70 Sofsky, Wolfgang / Paris, Rainer: Figurationen sozialer Macht. Autorität– Stellvertretung – Koalition. Opladen 1991, S. 9. 71 Hirschbiegel, Jan: Hof als soziales System. Der Beitrag der Systemtheorie nach Niklas Luhmann für eine Theorie des Hofes. In: Butz, Reinhard / Hirschbiegel, Jan / Willoweit, Dieter (Hrsg.): Hof und Theorie. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 43–54. 72 Smith, David Lawrence: A history of the modern British Isles 1603–1707: The double crown. Oxford 1998, S. 241. 73 Hammond, Paul (Hrsg.): Restoration literature. An anthology. Oxford 2002, S. XIX.

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herauslesen. Anfangs mag Rochester durchaus respektvoll zu seinem „Ersatzvater“ aufgeblickt haben, doch später sprechen seine Gedichte eine durchaus klare Sprache. Roches­ ter mag sehr unter der Enttäuschung gelitten haben, der wenige von uns in ihrem frühen Erwachsensein entkommen. Nämlich den Sturz einer achtbaren Person von ihrem Podest.74 Rochesters Kritik an Karl II. ist dezidiert antifeudal, gegen den Hof und gegen den Herrscher gerichtet. Dass seine Kritik vielleicht mehr persönlich motiviert war und weniger eine gesamtgesellschaftliche Perspektive eingenommen hat, schmälert die Relevanz seiner Äußerungen nicht. Rochester had no choice to attack the specific power structure in which he lived. If Rochester really wanted to get under the skin of Charles and his crew, what better way than to scour their very hides?75 Rochester kostete die königliche Gunst, erhielt Gunstund Gnadenbezeugungen wie Ämter und materielle Zuwendungen und zog sich durch sein Verhalten, durch seine Kritik regelmäßig auch königliche Ungnade zu. Die Verbannung vom Hof war die Domestizierungsstrategie des Königs. Macht und Leidenschaften begegnen einander, Rochester zog durch manche seiner Worte den Inhaber der Macht zurück auf den Boden der Wirklichkeit. John Wilmot war satirischer Kommentator und Begleiter seiner Zeit, ausgestattet mit viel Gespür für die Machtverhältnisse und mit dem Wohlwollen des Königs.

74 Thormählen, Rochester, S. 303. 75 Combe, A martyr for sin, S. 24.

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Prostitution und die feinen Leute Der Sklave am antiken Sklavenmarkt und andere Klienten

Roland Girtler

Prolog

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ei meinen Forschungen unter Dirnen wurde mir klar, dass diese Damen stets auch mit „feinen Leuten“ zu tun haben, nämlich mit Herren, die eine gewisse Noblesse zeigen oder als nobel behandelt werden wollen. Zuhälter, Dirnen und ihre Gäste, die feinen Herren, sind auf eigentümliche Weise miteinander verbunden, sie bauen auf einer alten Geschichte auf, wie ich zeigen werde. Meine historischen Forschungen zur Prostitution bei den alten Griechen und im europäischen Mittelalter bestätigen dies, so vor allem, was die Tricks der Frauen am Strich und ihre Kontakte zu ihren Gästen anbelangt. Ich werde zunächst auf mehr oder weniger feine Dirnen und Zuhälter eingehen, die mir bei meinen Studien über Dirnen halfen und durch die ich viel gelernt habe. So habe ich gelernt, dass die Menschen am Strich bisweilen anständiger, herzlicher und großzügiger sind als die sogenannten braven Damen und Herren der viel zitierten guten Gesellschaft. Mit einer kleinen Geschichte möchte ich diese einführenden Gedanken abschließen, sie bezieht sich auf brave Universitätsleute, die offensichtlich nicht glauben konnten, dass ein Universitätslehrer über Dirnen und Zuhälter forscht. Vor ein paar Jahren hatte ich eine Gastprofessur an der Katholischen Universität in Eichstätt in Bayern. Neugierig suchte ich im Computer der dortigen Universitätsbibliothek nach meinem Buch Der Strich.1 Mich interessierte, ob dieses Buch hier überhaupt angekauft worden war. Es war angekauft, jedoch der Sachbereich, unter dem es eingeordnet worden war, war höchst merkwürdig. Mein Buch Der Strich befand sich an dieser Katholischen Lehranstalt zu meinem ungläubigen Erstaunen nicht unter dem Begriff „Prostitution“, „Sexualität“ oder „abweichendes Verhalten“, sondern unter dem Begriff „Satzzeichen“ gespeichert.

1

Girtler, Roland: Der Strich. Erkundungen in Wien. Wien 1985. Die zweite und dritte überarbeitete Auflage (1987/1988 bzw. 1990) trägt den Untertitel Sexualität als Geschäft. Gegenwärtig liegt die fünfte Auflage vor.

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Unter feinen Dirnen und Zuhältern Auf die Idee, über diese Welt der Dirnen und ihre mehr oder weniger noblen Gäste zu forschen, bin ich gekommen, weil ich mich als Student nach einem Motorradunfall mehrere Monate in einem Wiener Krankenhaus aufhalten musste. Mein Bettnachbar war durch vier Monate hindurch ein freundlicher Zuhälter, der nach einem Herzstich in das Krankenhaus eingeliefert worden war. Er wurde zu meinem Freund, nicht nur weil er mir seinen Schutz gegenüber böswilligen Krankenschwestern angedeihen ließ, sondern auch sonst. Jedenfalls hat dieser Herr mein Leben gewaltig verändert. Ich lernte von ihm Wörter aus der Gaunersprache, dem Rotwelsch, und ich sah, dass mit der Prostitution eine eigene Randkultur verbunden ist, die mir höchst interessant erschien. Bis dahin hatte ich lediglich gehört, dass Zuhälter und Dirnen üble Leute seien, die man am besten meiden solle. Nun wurde ich darauf aufmerksam, dass Dirnen und Zuhälter ihre eigene Kultur haben, die es auch wert ist, dass man sie erforscht. Dieser Krankenhausaufenthalt war daher auch der Grund, warum ich mein Jusstudium aufgab, mir fehlte nur mehr eine Prüfung zum Abschluss. Trotz des Protestes meiner Verwandten und Bekannten begann ich mit dem Studium der Völkerkunde, Urgeschichte und daneben auch der Soziologie, die es damals in den 1960er-Jahren noch nicht in der Form wie heute gab. Ich war damals schon verheiratet und Vater. Meine gütige Frau Birgit stand meiner Idee freundlich gegenüber und ließ mich gewähren. Dafür sei ihr gedankt. Mein Vater, ein braver Landarzt, weigerte sich allerdings, mir nun weiterhin das Studium zu bezahlen. Ich verdiente als Student meinen Lebensunterhalt unter anderem als Ausführer von Gemüse und als Komparse bei Filmen. Einmal übrigens filmte ich mit Omar Sharif und James Mason. Als ich 1971 mein Studium beendete, führte ich bei Bauern in Indien eine Feldforschung durch. Später widmete ich mich dann den Randkulturen in Wien und so auch der Randkultur der Dirnen und Zuhälter. Dabei war mir unter anderem auch mein Freund von damals behilflich. Dafür sei ihm hier gedankt. Jeder von uns beiden machte seine Karriere. Ich wurde Universitätsprofessor und er ein würdiger Besitzer einer Reihe von Nachtlokalen. Vor einigen Jahren ist ihm sogar ein mehr oder weniger wohlwollender Artikel in der angesehenen Zeitschrift Öffentliche Sicherheit, herausgegeben vom österreichischen Innenministerium, gewidmet worden. In diesem wird er als der große Mann am Strich geschildert, dessen Geschäfte von einem „Statthalter“ geführt werden und der über Ländereien verfügt. Er lebt nicht in Wien, sondern mit seiner Gefährtin auf einem prachtvoll umgebauten Bauernhof in Oberösterreich, denn er wollte als Kind immer Bauer werden. Auf seinen Wiesen weiden Hochlandrinder und Pferde. Sogar Hühner hat er. Es ist bemerkenswert, dass er die umliegenden Bauernhöfe mit Eiern versorgt, denn die Bauern dort sind zu reinen Speziali-

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sten geworden, Hühner stören dabei nur. Mein Freund behauptet sogar, er wäre ein echter Biobauer.

Der Professor im Bordell und „der Strich“ im Fernsehen Vom feinen Zuhälter war mein früherer Bettnachbar im Krankenhaus also zum noblen vielfachen Bordellbesitzer und Biobauern aufgestiegen, dem es schließlich gelang, den Wiener Strich zu kontrollieren. Da ich nie über ihn geschimpft und auch seinen vollständigen Namen nie verwendet habe, genoss ich auch nach Erscheinen meines Buches Der Strich weiterhin seine Freundschaft, die sich schließlich darin äußerte, dass er und sein Kollege Richard auf meine Bitte hin regelmäßig Freunde und auch Studenten und Studentinnen in eines seiner Bordelle einluden. Als feine Gäste werden uns Sekt oder andere köstliche Getränke nach unserer Wahl kredenzt. Meinen Studenten und Studentinnen wird auch gestattet, Fragen zu stellen, um so ein Bild von der Welt der Prostitution, die freilich auch ihre Härten hat, zu erhalten. Die Studierenden sind dankbar dafür. Einmal bat mich ein besonders feiner Herr, ein angesehener Professor der Betriebswirtschaftslehre an der Wiener Universität, aus rein wissenschaftlicher Lust, er möchte ergründen, wie so ein Zuhälter und Bordellbesitzer seine „Betriebe“ leite und dabei zu gutem Geld komme. Ich erzählte meinem Freund von dem bemerkenswerten Wunsch des Herrn Professors. Ihm gefiel dessen Interesse, und er lud uns beide ein, an einem späten Abend in einem seiner Animierlokale zu erscheinen. Er würde uns dort erwarten. Der Herr Professor kam in Begleitung zweier Sekretärinnen und eines Assistenten, und ich erschien gemeinsam mit meiner gütigen Frau. Mein Freund aus der Szene der Bordelle empfing uns mit großer Höflichkeit. Wir wurden gebeten, Platz zu nehmen, dann ließ er uns gute Getränke servieren. Schließlich führte uns der Herr des Strichs noch in weitere Nachtlokale, eines dieser trägt den stolzen Namen „Senat“. Diese Bezeichnung hatte mein nobler Freund ausgewählt, weil er für das Leben der alten Römer schwärmt. In diesem „Senat“ berät er sich ganz im Stile würdiger römischer Patrizier mit seinen Geschäftsführern. Bis fünf Uhr früh waren wir mit meinem Freund, dem Spezialisten im Errichten von Bordellen, unterwegs. Der Professor war angetan von ihm und begeistert von diesem Abend, er meinte, unser Gönner wäre ein Kavalier. Er ließ ihm und seiner Gefährtin ein paar Tage später einen großen Blumenstrauß schicken. Ich habe also weiter Kontakte in diese Szene, immerhin schimpft man nicht über mein Buch Der Strich. Ein gebildeter und geistig reger Zuhälter meinte sogar, es würde so ziemlich alles stimmen, was ich geschrieben habe, vielleicht bis auf ein paar „Kleinigkeiten“.

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Ein größeres Lob gibt es wohl kaum für einen soziologischen und kulturwissenschaftlichen Feldforscher. Bei meinen Forschungen im Milieu der Dirnen war mir auch ein leider inzwischen bei einem Unfall ums Leben gekommener Wiener Ganove behilflich. Er hieß Pepi Taschner, auch er war ein feiner Ganove. Sein Leben habe ich in meinem Buch Der Adler und die drei Punkte2 festgehalten. Durch Pepi Taschner habe ich auch eine Wiener Dirne kennengelernt, deren Lebenslauf mich für meine Studien interessierte. Diese Frau arbeitet inzwischen nicht mehr am Strich, sie lebt von einer kleinen Notstandsunterstützung. Ich verhalf ihr zu einer kleinen Wohnung bei der Caritas. Die Dame, das ist das traurige Los nicht weniger Prostituierter, ist also verarmt. Alle paar Monate ruft sie mich an und erzählt mir von ihren finanziellen Problemen. Grundsätzlich helfe ich ihr mit etwas Geld aus. Auch dies ist erwähnenswert: Einige Monate nach Erscheinen der ersten Auflage meines Buches Der Strich im Jahr 1985 veranstaltete das österreichische Fernsehen aufgrund meiner Studie einen Club 2, also eine Diskussionsveranstaltung, die angeblich die bisher höchste Einschaltquote erreicht hat, die je ein solcher Club 2 hatte. Anwesend waren bedeutsame Leute: die damals sehr berühmte Hamburger Nobelhure Domenica, die mich während der Diskussion sogar einmal streichelte, ein intelligenter Zuhälter, eine Wiener Bardame, ein angeblicher Kunde, der jedoch bald von mir als Freund oder Zuhälter dieser Dame entlarvt worden war, ein entsetzter Theologiestudent und ich als Autor des Buches Der Strich. Es ging ziemlich wild zu bei diesem Club 2. Jedenfalls, eine bayerische Zeitung war angetan von dieser Sendung und brachte in weiterer Folge einen heiter besinnlichen Bericht, der mit diesen Worten begann: Wie wird man(n) Zuhälter? Ex-„Strizzi“ Peter Stolz betrieb im TV-Club 2 zum Reizthema Leben am Strich Berufsberatung auf wienerisch: Scho meine Mama is am Strich gangen. Sie war halt a aufgeschlossene Frau. Eines Tages habe sie ihn gefragt: Gehst arbeitn, gehst stehln oder schickst aane am Strich? Peter: Was is mir da scho übriggeblieben? Und weiter hieß es in dem Zeitungsbericht: Nachdem Ritter Roland (damit bin ich gemeint, d. Verf.) auch noch eine Lanze für das älteste Gewerbe der Welt brach, drückte ihm Couch-Nachbarin Domenica, die ihm vorher die kalte Schulter gezeigt hatte, dankbar die erfahrene Hand [...] 2

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Girtler, Roland: Der Adler und die drei Punkte. Die gescheiterte kriminelle Karriere des ehemaligen Ganoven Pepi Taschner. Wien 22007.

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Und noch etwas möchte ich hier festhalten, das mit meinem Buch über den Strich zusammenhängt: Im Jänner 1994 trat eine freundliche Mitarbeiterin eines deutschen Fernsehsenders mit der Bitte an mich heran, sie wolle mit mir einen Film über den Wiener Strich drehen. Ich solle die Hauptperson spielen. Wichtig wäre ihr ein Zugang zur Prominenz des Striches, der ihr, wie auch sämtlichen österreichischen Journalisten, unmöglich war. Ich rief darauf meinen Freund an, und dieser erteilte seinen Mitarbeitern am Wiener Strich den Auftrag, uns zuvorkommend aufzunehmen und uns die diversen Bars zu zeigen. Und tatsächlich wurden wir, die Fernsehleute und ich, in der Bar „Senat“ mit ausgesuchter Höflichkeit von gut aussehenden und teuer gekleideten Herren empfangen. Es war ein schöner Abend, bei dem wir viel sahen und über den schließlich ein netter Fernsehfilm mit dem Titel Der Hurenforscher von Wien von einem deutschen Fernsehsender ausgestrahlt wurde.

Noble Dirnen und noble Kunden – eine alte Geschichte Die klassische Dirne versteht sich als Anbieterin wichtiger Dienste. Prostitution bietet die Chance, zu schnellem Geld zu kommen. Und zwar im Rahmen einer alten Kultur, zu der eine spezielle Dirnensprache und gewisse Strategien im Umgang mit den Gästen gehört. Die Geschichte der Dirnen geht weit in die Antike zurück (sie sind jedoch keineswegs als Mitglieder des „ältesten Gewerbes“ zu begreifen, denn gewerbsmäßige Prostitution ist auf die Stadt bezogen und Städte gibt es frühestens seit der Jungsteinzeit). Ein Denkmal wurde diesen wackeren Frauen schon in der Bibel gesetzt, als Christus den Pharisäern zurief: Die Zöllner und die Dirnen kommen vor euch in das Himmelreich Gottes. Es war auch eine Dirne, der Jesus nach seiner Auferstehung erschienen war. Eine Dirne besaß also immerhin die Achtung von Christus. Vor Christus war es Solon, der sich im alten Athen freundlich der Dirnen annahm und so zum Erfinder des Bordells wurde. Die Dirnen hatten zwar bei den alten Griechen kein sehr hohes Ansehen, aber immerhin waren sie eingegliedert in die Gemeinschaft der griechischen Polis. Einigen Dirnen soll es in Athen sogar gelungen sein, den ehrbaren Frauen gleichgestellt zu werden und bei großen öffentlichen Gelagen neben den „anständigen“ Matronen zu sitzen. Ähnliches ist auch heute möglich. Ein besonderes Ansehen genossen die sogenannten Hetären, die einen eleganten Handel mit ihren Liebesdiensten betrieben. Sie verkauften ihre Gunst nicht jedem, wie die weniger noblen Dicteriaden, die plebejischen Dirnen. Die Hetären waren gebildete Frauen mit gutem Geschmack, was die hervorragenden Männer Griechenlands bewog, sich ihnen huldvoll zu nähern. Ich meine, dass es Hetären dieser Art auch heute noch unter den Dirnen gibt. Man beliebt, sie als Nobeldirnen zu bezeich-

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nen. Die Dirne hatte bei den alten Griechen ihre gesellschaftliche Bedeutung, darauf verweist die Göttin der alten griechischen Dirnen, die Aphrodite Pandemos. Die erfahrene Hure kennt wohl die Männer mit ihren Problemen besser als andere Spezialisten, in gewisser Weise ist sie jedem Psychiater überlegen. Und eben weil die Dirne bereit ist, Männern beizustehen, auch wenn es sie Überwindung kostet, erscheint sie achtenswert. Stattdessen verachtet sie der angeblich brave Bürger, obwohl er sie aufsucht. Von der Dirne erwartet sich der Mann Freude, wenn auch nur für den Moment. In diesem Sinn schrieben die alten Römer am Eingang zu ihren Bordellen: Hic habitat felicitas.3 Allerdings hatten es Dirnen nicht immer leicht, einigermaßen akzeptiert zu werden. Ihre Gegner waren bisweilen mächtig wie die hochgepriesene und kleinlich katholische Kaiserin Maria Theresia, die Wiener Dirnen mit dem sogenannten „Temesvarer Wasserschub“ in den Banat verbannte. Der Zugang der Mädchen zum Strich ist seit Jahrhunderten derselbe. So schildert unter anderem der Vagant und Magister der Pariser Universität, François Villon, in einem seiner Gedichte seine Funktion als Zuhälter, die im Wesentlichen der der heutigen Wiener Zuhälter gleicht. Um als Zuhälter von einer Dirne leben zu können, bedarf es eines psychisch-sexuellen Abhängigkeitsverhältnisses der Dirne. Gewalt ist in dieser Szene mitunter bedeutsam, allerdings kann die Beziehung zwischen Dirne und Zuhälter eine mitunter durchaus kooperative sein, wie ich bei meinen Forschungen sah. Jedenfalls erscheint mir der Zuhälter, von dem man in Zeitungen lesen kann, der sein Mädchen bei Wind und Wetter auf die Straße jagt und sie prügelt, eher untypisch und mitunter eine Märchenfigur zu sein.

Ehrenvolles Handeln der Dirne Auch die Dirne hat ihre Ehre. Dies zeigt sich zunächst darin, dass der Kunde für die Dirne als Sexualpartner uninteressant ist, zu ihm versucht sie eine seelische und soziale Distanz aufzubauen. Sie will nicht als jemand erscheinen, der sich wie ein Stück Fleisch verkauft. Die ehrenhafte Dirne definiert sich demnach als eine echte Geschäftsfrau. Sie bietet dem Kunden Sexualität an, aber nicht nur diese, sondern auch Rat und Zuspruch im Sinne einer Seelentrösterin oder eines Psychiaters. Tatsächlich suchen, wie mir erzählt wurde, nicht wenige Kunden (vor allem Stammkunden) das Gespräch mit jenen Dirnen, die zuhören und trösten können, sich aber dafür 3

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Hier wohnt die Glückseligkeit.

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auch bezahlen lassen. Mir fiel auf, dass Dirnen mir gegenüber oft diese „seelische Arbeit“ herausstrichen, wohl um zu zeigen, dass sie keine bloßen Sexualobjekte sind. So schilderte mir eine Dirne: Ich habe einen gehabt, der ist mit mir zwei Stunden im Auto spazieren gefahren und hat mir 2.000 Schilling gezahlt und mir seine Probleme erzählt. Der ist jede zweite Woche gekommen. Ich habe ihm aufmerksam zugehört. Der ist froh, wenn er sich ausreden kann. Und eine andere Dirne führte aus: Für mich ist es wesentlich, dass die Männer bei mir eine Freude haben und sich entspannen [...]. Wenn bei den Männern zu Hause etwas nicht hinhaut, zum Beispiel im Sexuellen, dann sind sie unausgeglichen, dann gehen sie zu einer guten Hur. Ich kann mir vorstellen, dass die Frau sich ärgert, wenn er bereits beim Gummihinaufgeben spritzt. Diese Dirne kennt ihren Wert als Frau, von der der Kunde, und überhaupt der sogenannte feine „Stammkunde“, sich eine freudvolle Behandlung erhofft. Der Kunde ist also kein Gegenstand des Lustgewinns für die Dirne. Dazu meinte eine Dirne dies: Wenn man eine richtige Hure ist, so muss das Geld stimmen. Der Kunde ist das Objekt, von dem ich etwas will, nämlich Geld. Was der Kunde sexuell macht, nimmt man nicht ernst. Hauptsache, man hat das Geld. Es ist das Geld, das für die Dirne die Beziehung zum Kunden bestimmt. Sie verkauft demnach etwas, aber nicht sich selbst. Das ist ihre Ehre. Eine Dirne, der nachgesagt wird, sie würde am Strich auf der Suche nach einem ihr genehmen Partner sein, wird eher abwertend als „Gustokatz“ bezeichnet. Bei meinen Gesprächen in der Welt der Dirnen wurde mir klar, dass es geradezu als Prestigeverlust für die Dirne angesehen wird, wenn sie verdächtigt wird, durch Kunden sexuell befriedigt zu werden. Ich wurde einmal Zeuge einer hitzigen Auseinandersetzung zwischen zwei Dirnen in einem Nachtlokal. Die beiden beschimpften sich und in der offensichtlichen Absicht, die Rivalin zu demütigen, rief die eine Dirne: Dir kommt es ja (hat einen Orgasmus) bei deinen Gogln (Gogl: Ausdruck für Kunde). Gegen diesen „Vorwurf “, von den Kunden sexuell befriedigt zu werden, wehrte sich die Frau lautstark. Ihre Reaktion zeigte mir, dass es wohl als Beleidigung gilt, eine Dirne als eine Frau zu bezeichnen,

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die sich bei den Kunden ihr sexuelles Glück holt. Für eine „richtige Hur“ ist der Kunde kein Objekt der Sexualität. Von ihm erhält sie Geld, damit wird der Sexualakt zu einem Geschäft. Durch das Geld wird symbolisch die Distanz zum Kunden hergestellt. „Privat und Geschäft“ muss man voneinander trennen. Darin liegt die Ehre der Dirne. Dies ist wohl auch im Sinne des Zuhälters. Die Dirne macht klar, dass sie nicht jemand ist, über den man beliebig verfügen kann. Dies wäre unehrenhaft. Dass die echte Dirne eine innere Distanz zum Kunden aufbaut, zeigt sich darin, dass der Kunde bei Wiener Dirnen und Zuhältern eher abwertend als „Gogl“ bezeichnet wird. Die Dirne zeigt also Souveränität gegenüber dem Kunden an. Dies ist auch der Grund, warum sie darauf achtet, dass der „Gogl“, also der Kunde, sie nicht auf den Mund küsst. Denn dies würde auf eine tiefere Bindung hindeuten. Für das Selbstverständnis der Dirne ist schließlich das Bewusstsein wichtig, eine für die Allgemeinheit nicht unwichtige Aufgabe zu erfüllen, wenn sie ihre Dienste anbietet. Sie steht damit in der Tradition der alten Griechen, die ihre Bordelle der Aphrodite Pandemos, der Aphrodite für das ganze Volk, geweiht haben. Zur Ehre der feinen Dirne gehört auch eine spezielle Beziehung zu ihrem Zuhälter oder Freund. In dieser Welt der Prostitution wird der Zuhälter nicht selten zum Repräsentanten der Dirne. Es kehrt sich hier nämlich die für das Leben der guten Bürger typische Rollenbeziehung zwischen Mann und Frau um. Beim guten Bürger demonstriert die Frau durch Tragen teuren Schmuckes und teurer Kleidung die finanzielle Potenz ihres Herrn und Meisters. Hier ist es der Zuhälter, der im Sinne der Dirne zeigt, dass diese gut verdient, und zwar am Strich. Dies dokumentiert er dadurch, dass er sich mit goldenen dicken Ringen schmückt und durch teure und elegante Kleidung aufzufallen sucht. Eine Dirne erzählte mir dazu dies: Wenn mein Alter wie ein Speckknödel daherkommt, so glaubt man am Gürtel gleich, ich verdiene nichts.

Perversitäten als Zeichen nobler Kunden In meinen Gesprächen mit Dirnen und Zuhältern wurde betont, dass vor allem die noblen Kunden Freude an perversem sexuellem Handeln hätten. Sie wären es auch, die die sogenannten strengen Kammern besuchen, in denen Aufhängevorrichtungen, Särge, Käfige, Peitschen und ähnliche Geräte zu finden sind, von denen man sich sexuelle Befriedigung zu erhoffen scheint. Eine Dirne, die eine solche strenge Kammer besitzt, in der sich sogar schon einmal ein österreichischer Minister peinigen ließ, meinte zu mir:

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Auf normal kommt alles her, bunt gemischt. Aber auf streng sind es in erster Linie Bankdirektoren, Geschäftsleute, also eher Höhergestellte. Alles Leute, die viele unter sich haben, die sie regieren können. Bei mir wollen sie selbst unterdrückt werden. Und ein Zuhälter fügte hinzu: Die Kunden für die strenge Kammer kommen alle aus höheren sozialen Schichten […]. Zu uns in die strenge Kammer ist noch kein Hilfsarbeiter gekommen. Die, die sich Knöpfe auf den Schwanz nähen lassen oder die, die sich peitschen lassen, sind meist Staatsbeamte. Es gibt ziemlich viele Perversler unter ihnen.4 Es scheint tatsächlich so zu sein, dass gerade in oberen sozialen Schichten diverse Perversitäten getätigt werden. Schließlich war es ein Aristokrat, nämlich Marquis de Sade, der perverse sexuelle Praktiken mit Mädchen gepriesen hat. Das Schänden von Kindern dürfte tatsächlich für Männer aus noblen Kreisen interessant sein. In diesem Sinne versteht sich auch das Enthaaren von jungen Prostituierten, um auf diese Weise Kindlichkeit auszudrücken. Der Kunde soll das Gefühl haben, mit einem Kind zu schlafen. Ich hatte dazu ein bemerkenswertes Erlebnis. Vor nicht allzu langer Zeit saß ich mit einem alten Freund von mir, er ist heute 75 Jahre alt, im Gasthaus beim Wilderermuseum, dessen wissenschaftlicher Leiter ich bin. Zu uns gesellte sich mein Freund, der Herr über einige Bordelle, denn er hatte in einem nahe gelegenen Bordell zu tun. Er lud uns beide schließlich auf einen Sekt in dieses ein. Wir nahmen die Einladung an und erschienen bald darauf in dem Bordell. Uns wurde Sekt kredenzt und drei nackte junge Damen tanzten vor uns. Bei allen drei Nackttänzerinnen waren die Schamstellen enthaart. Nach der Vorführung fragte der Bordellbesitzer meinen Freund, den alten Wilderer und Holzknecht, ob ihm die nackten Damen gefallen hätten. Er verneinte und sagte: Ich möchte eine Frau sehen mit einem ordentlichen Brunzpuschen. Damit wollte er sagen, ihm würde eine nackte Frau nur dann gefallen, wenn sie auch eine entsprechende Schambehaarung hat, denn mit Kindern wolle er nichts zu tun haben. Dem Bordellbesitzer gefiel die Antwort des alten Wilderers und er meinte, ihm würde es auch nicht behagen, dass heute ein derartiges Interesse an Kinderprostitution bestehe. Daher sei mein Freund ein Ehrenmann, der echte Frauen will und keine Kinder. Der alte Bordellbesitzer zeigte also Hochachtung vor dem alten Wildschützen, der es als „einfacher“ Mensch – im Gegensatz zu den „feinen“ Kunden – ablehne, mit Kindern sexuell zu verkehren.

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Siehe dazu Girtler, Der Strich, 2004, S. 178ff.

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Eine Dissertantin und ihre feinen Kunden in einem „Massagestudio“ – ein Briefwechsel Vor einigen Jahren kam ich mit einer Dame in Kontakt, ich nenne sie Annemarie, die an einer österreichischen Universität angestellt ist (oder: war) und die allmählich zu einer Erotikspezialistin in einem sogenannten Massagestudio wurde – mit der Absicht, darüber eine Dissertation zu verfassen. Sie schrieb mir dazu einige interessante Briefe, die ich hier auszugsweise wiedergeben will. Ich denke, die gute Dame wird nichts gegen eine Veröffentlichung ihrer Erlebnisse haben, wenn ich diese entsprechend anonym hier dartue. Jedenfalls sei dieser Dame herzlich gedankt. Annemarie charakterisiert sich selbst und ihre Forschungsabsicht in einem ihrer Briefe folgendermaßen: Ich selbst bin 35+, Diplomarbeit mit Auszeichnung, während des Studiums aus Inte­ resse in den verschiedensten Berufssparten tätig, leidenschaftliche Klassiksängerin mit Bühnenerfahrung, verwandtschaftsbedingt seit dem achten Lebensjahr an der Uni wie zu Hause und unheimlich enttäuscht von der universitären Wirklichkeit in den Geisteswissenschaften, seit ich hier als Hilfssekretärin angestellt bin und in den letzten zehn Jahren so manchen desillusionierenden Einblick bekommen habe. Da ich spüre, dass es für mich Zeit wird, einmal etwas Ordentliches und somit anderes zu machen und da ich zugleich leider nur über ein äußerst knapp bemessenes Gehalt verfüge, habe ich mich nach sehr langem Überlegen und Suchen für den Bereich der Erotikmassage entschieden. Sozusagen bezahlte Forschung. Dadurch, dass ich mich privat nicht sonderlich für Männer und puren Sex interessiere, zudem erst noch am Verkraften einer großen unglücklichen Liebe bin und als ärztekammergeprüfte Ordinationsassistentin während der Studienzeit u.a. im medizinischen Bereich gearbeitet habe, denke ich, dass ich gute Voraussetzungen habe, meine Arbeit mit dem notwendigen Abstand zu betrachten. In ihrem ersten Brief fragte sie mich um meine Meinung zu ihrer Forschungsidee. Ich schrieb ihr einen ausführlichen Brief, in dem ich auch meine Bedenken bezüglich der Forschungen auf dem Gebiet der Prostitution und nahe gelegenen Bereiche vorbrachte. Sie beantwortete meinen Brief mit Hinweisen auf ihre Forschung und die meist begüterten (also feinen) „Klienten“, mit denen sie zu tun hatte: Haben Sie besten Dank für Ihre umfassenden Auskünfte. Mittlerweile habe ich bereits einige Massageabende absolviert und mit Ausnahme eines gewissen Ekelgefüh-

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les manchen Klienten gegenüber, konnte ich im Umfeld meiner neuen Nebentätigkeit zu ausnehmend interessanten und „lebendigen“ Menschen (im Gegensatz zu so manchem Uni-Zombie) Kontakte herstellen. Ich habe mich von Anbeginn nie als jemand ausgegeben, der ich nicht bin. Aufzeichnungen mache ich seit dem ersten Tag. Zumal ich beabsichtige, im Falle einer evtl. Dissertation eine Professorin aus einem anderen Bundesland als Betreuerin zu wählen (sogar gleich zwei Damen würden sich anbieten). Es ist mir vorerst gar nicht so sehr daran gelegen, im Kollegenkreis an meinem Institut von meinem Vorhaben zu sprechen. Hier arbeitet auf Forschungsebene leider nahezu jeder gegen jeden und ich als ziemlich kritische Frau werde ohnehin unterdrückt und auf meinem Sekretariatsstuhl niedergehalten, wo auch immer es den Herren Kollegen möglich scheint. Meine wohl auf berechtigter Besorgnis beruhenden Vorsichtsmaßnahmen beziehen sich also eigentlich auf den Tag, an dem gegen meinen Willen entdeckt wird, womit ich mich außerhalb der Dienstzeit beschäftige. […] Außerdem stehe ich TATSÄCHLICH und ehrlich zu meiner Ansicht, dass Untersuchungen sozusagen am lebenden Objekt gerade in der heutigen Zeit um ein Vielfaches mehr bewirken könnten und somit wohl als wertvoller anzusehen sind, als z.B. mit mittelalterlichen Lautverschiebungen herumzujonglieren. Dass es sich dabei auch um ein hoch interessantes Abenteuer handelt, kommt als angenehmer Nebeneffekt noch bei meiner Forschung hinzu. Gegen Ende ihres letzten Briefes schreibt sie etwas, das für das Verständnis ihrer Darstellung nicht uninteressant ist: Ich habe aber möglichst viel Verschiedenes in meinen Erfahrungsbericht hineingebracht, da ich ja nicht so genau weiß, welche Aspekte Sie als Soziologen interessieren und womit Sie etwas anfangen können, worin Sie vielleicht für Ihr Fach Interessantes entdecken [...] Ich selbst bin „gelernte“ Sprachwissenschaftlerin, werde das Erlebte ohnehin unter einem völlig anderen Blickwinkel analysieren, zurzeit checke ich erst die Möglichkeiten ab, ich hatte aber bereits vor Antritt der Tätigkeit eine Idee, die ich sicherlich weiter verfolgen werde, zumal sie auf einer gewissen psycholinguistischen Neugierde und Theorie beruht, die ich für mich aufgestellt habe. Mal sehen! Ich hoffe, der guten Dame ist es gelungen, eine entsprechende akademische Arbeit aufgrund ihrer Forschungen zu machen.

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Die HAK-Absolventin in einem Erotikmassagestudio Zunächst beschreibt Annemarie die Geschichte eines Massagestudios, in der eine gebildete Dame erotische Dienste angeboten hat, mit der sie schließlich in Kontakt kommt: Ein bereits existierendes Massagestudio in X, in dem jedoch in Wirklichkeit zunehmend Prostitution betrieben wurde, wurde Ende vergangenen Jahres aufgelassen. Im Jänner wurde der Betrieb neu übernommen. Und zwar von einer Handelsakademie-Absolventin aus der Obersteiermark, die sich derzeit Corinna nennt und 39 Jahre alt ist. Sie war ursprünglich eher „prüde“, hat sich dann aber in einem Anflug von Protest gegen ihren „überanständigen“ Vater und die mangelnden Berufsmöglichkeiten nach der Schule zu Sekretariatstätigkeiten nebenbei im Erotikbereich etwas dazuverdient, vorwiegend durch leicht bekleidetes bis nacktes Posieren vor einer Webcam, die in einer Wohnung eines Mannes angebracht war, der heute eine Begleitagentur leitet. Nach achtjähriger unglücklicher Liebe zu einem Mann, der sie ständig betrogen hat, versuchte Corinna ihr Leben grundlegend zu ändern und hat nach einem Beruf gesucht, den sie möglichst immer und überall ausüben kann, auch nebenher und „schwarz“, ohne dabei von einem Vorgesetzten abhängig zu sein. Eine aus diesem Wunsch resultierende Ausbildung zur Heilmasseurin in einem anderen Bundesland – nach den neuen Bestimmungen und daher sehr kostspielig – hat Corinna sich finanziert, indem sie nebenher in ihrer Freizeit erotische Massagen an Männern durchgeführt hat. Damals war sie 34 Jahre alt. Durch die Massageausbildung empfindet Corinna keinen Ekel gegenüber ihren Kunden. Ihre Arbeit sieht sie als eine Art psychosoziale Wellnessdienstleistung (wobei dieser Begriff von mir stammt und von ihr abgesegnet wurde) am Mitmenschen. Nach Absolvierung der Massageausbildung ist Corinna auf ein Inserat hin nach X gezogen, wo sie hauptberuflich in einem Erotikmassagestudio irgendwo in der Nähe des Bahnhofs tätig war. Ihr Chef war männlich. Auch in diesem Massagestudio hat sich zunehmend Prostitution eingeschlichen und die wenigen Mädchen, die nur massiert haben, waren bei den Kunden bald nicht mehr gefragt. Nachdem auch der Studiobetreiber die Masseurinnen sanft dazu aufgefordert hat, den Herren mehr zu bieten, hat Corinna den Betrieb verlassen und beschlossen, sich selbstständig zu machen, zumal sie sich erstens von keinem Mann etwas anordnen lassen will und zweitens sehr auf Niveau (sprich Geist, Stil, Ehrlichkeit und Fairness) bedacht ist, was in diesem Studio zunehmend gefehlt hat. Corinna hat also zunächst die Räumlichkeiten eines aufgelassenen Erotikbetriebes gemietet (der Vermieter ist ein kultivierter Siebziger, der einst ein Jusstudium abgebrochen hat und dann Diplomingenieur wurde, irgend etwas mit Bauwesen, eigene Kanzlei, geht demnächst in Pension, er ist Mitglied des Lions Club). Dieser Vermieter besucht regelmäßig „seine“ Mädels und wird dabei verbal zudringlich, für Massagen zahlt er immerhin den vollen Preis. Seine

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Frau weiß, dass die Wohnung an ein Massagestudio vermietet ist, jedoch angeblich nicht, dass ihr Mann dort auch als Kunde verkehrt. Das Studio ist sehr „weiblich“ eingerichtet, mit vielen Kerzen, exotischen Lampen, eine gelungene Komposition aus IKEA und SewaShop, überall verschnörkelte Spiegel, durchsichtige Stoffe und rote Seidenrosen, Vorhänge und Teppiche in Rot und orange gehalten, der Rest weiß. Es gibt zwei Massageräume (mit je einer Massage-Liege), eine Dusche/WC für die Kunden, eine Wohnküche sowie eine eigene Dusche/WC/Waschmaschine für die Mitarbeiterinnen, einen weiteren Raum (= der größte) bewohnt die Chefin, bis sie eine kleine Eigentumswohnung gefunden haben wird. Zum rechtlichen Status: Das Studio ist noch nicht angemeldet. Corinna hat einen Bekannten in G., der als Eventmanager tätig ist (und ab und zu auch in der SchickimickiEcke der wöchentlichen Gratiszeitung aufscheint). Bei diesem Bekannten ist Corinna offiziell als geringfügig Beschäftigte angemeldet, praktisch jedoch bezahlt sie sich selbst bzw. ihrem Bekannten einen gewissen Betrag dafür, dass er sich als ihr Arbeitgeber zur Verfügung stellt. So sind auch alle Mitarbeiterinnen des Studios nicht gemeldet. Corinna arbeitet unheimlich fleißig, da sie im Sommer ihren Betrieb offiziell eröffnen möchte, und beabsichtigt, dann auch zumindest eines der Mädchen ordentlich anzustellen. Im Studio werden dann energetische Aromamassagen angeboten. Für die weitere Zukunft sieht Corinna das Ziel, am Stadtrand in unmittelbarer Nähe eines der Einkaufszentren ein wirklich niveauvolles, seriöses Wellnesszentrum mit Schwerpunkt Esoterik zu errichten. Spannend ist die Suche nach Mitarbeiterinnen: Ihre Mitarbeiterinnen sucht Corinna über Zeitungsinserate, die sie selbst aufgibt. (Suche niveauvolle Erotikmasseurinnen, kein Sex.) Wer versucht, in ihrem Studio Geschlechtsverkehr anzubieten und/oder die Kolleginnen bestiehlt (ist alles schon vorgekommen) wird höflich verabschiedet, wobei Corinna Angst vor der etwaigen Rache dieser Mädchen hat. Die Chefin selbst hat sozusagen einen Fulltimejob ohne Feiertag, sie wird derzeit unterstützt durch eine Ungarin mit Gymnasialausbildung (29 Jahre), deren Freund (ebenfalls Ungar) in Österreich im Gastgewerbe arbeitet und nichts vom Job seiner Freundin wissen darf. Die zweite Kollegin ist ebenfalls Ungarin mit ausgezeichneten Deutschkenntnissen, beide sehr herzlich und auf ihre Weise gebildet, eine weitere ist Kosmetikerin und arbeitet hauptberuflich in einer Therme. Neu hinzugekommen ist eine ehemalige Prostituierte, 51 Jahre alt, die sich als 42-Jährige beworben hat, was man ihr auch abgenommen hat. Geführt wird sie den Kunden gegenüber als 38-Jährige.

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Der Historiker als Sklave auf dem Sklavenmarkt Nun erzählt die Briefschreiberin auch über sich, wobei sie ihre Enttäuschung gegenüber den universitären Wissenschaften deutlich macht: Je nach Klient ekelt es mich manchmal vor seinen Körperausdünstungen und ab und zu sehr vor seinen Geschlechtsorganen, im Großen und Ganzen komme ich aber ziemlich gut mit der Arbeit zurecht – besser, als ich anfangs befürchtet habe. Ihre Tätigkeit wird von meiner Briefpartnerin so geschildert: Eine Telefonistin, die derzeit in Salzburg sitzt, nimmt die Anrufe der Interessenten entgegen, erklärt ihnen den Weg und ist stets darüber informiert, welche Mädchen (Haarfarbe, Größe) wann Dienst haben. Sobald sie mit dem Klienten einen Termin vereinbart hat, ruft sie im Studio an und kündigt den Klienten an. Es gibt eine Anzahl an Stammkunden, die jeweils schon am Telefon ein bestimmtes Mädchen verlangen. Wir zeigen dem Mann die Dusche, reichen ihm ein frisches Handtuch, fordern ihn charmant auf, sich wirklich ORDENTLICH zu duschen (schlechter Geruch ist für uns alle das Schlimmste), er begibt sich daraufhin nackt oder halb angezogen in den Massageraum, wo er seine Kleider auf eine Couch legt und sich selbst auf die Liege legt. Die Masseurinnen haben schöne Unterwäsche an und entweder leichte Straßenkleidung darüber oder einen weißen Mantel. Nach einer kurzen Besprechung der Massagevorlieben des Klienten und einer deutlichen Abgrenzung („Grapschen ist nicht erlaubt, wir arbeiten nur mit den Händen“) wird ungefähr eine halbe Stunde lang zu Entspannungsmusik langsam der gesamte Körper massiert, vorwiegend der Rückenbereich. Danach darf sich der Klient umdrehen, die Masseurin zieht sich so weit aus, dass sie nur noch Unterwäsche trägt. Im Zuge der Massage der Vorderseite werden nach einiger Zeit zunehmend die Geschlechtsorgane miteinbezogen, bis es nach insgesamt ca. 50 Minuten beim Klienten zu einem Samenerguss kommt. Mit Ausnahme unserer Ex-Prostitutions-Kollegin versuchen wir danach alle, ruhig und nett zu bleiben und bieten dem Klienten wieder eine Dusche an, dann aber sausen wir so schnell es geht ins Badezimmer, um unsere Hände zu reinigen, wobei auch viel Desinfektionsmittel verwendet wird. Der Klient zahlt entweder vor dem Fortgehen 78 Euro, oder aber manchmal schon, bevor er sich zur Massage auf die Liege legt. (Nachträgliches Zahlen empfinde ich als angenehmer, da man mit Trinkgeld rechnen kann, wenn man sich sehr bemüht hat.) Je nachdem, wie viel ich bekomme, muss ich nach jeder Massage 40 EUR an meine Chefin weitergeben. Als Mindestpreis für eine „Behandlung“ im Studio sind dem Klienten aber 78 EUR vorgeschrie-

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ben, auf Handeln dürfen wir uns nicht einlassen. Ich selbst bin draufgekommen, dass es mir ziemlich liegt, mit Fantasien zu arbeiten – mit Bildern von Landschaften, die ich dem Klienten während der Massage schildere, mit Erzählungen von Klosterschwestern (ja, tatsächlich!) – ja, und ein Historiker hat sich mit meiner verbalen Hilfe tatsächlich vorgestellt, er sei Sklave auf einem antiken Sklavenmarkt und würde von mir und meiner Chefin begutachtet, weil wir einen Liebessklaven für meine Oma und für ihre Tante suchen. Corinna und ich haben uns dabei ständig zugezwinkert und hatten furchtbar zu tun, nicht vor Lachen loszuplatzen, während sich unser Klient einfach selig gefühlt und uns am Ende mit einem warmen Händedruck und fürstlichem Trinkgeld bedacht hat. (Obwohl wir beide in dieser Situation direkt schon Spaß hatten, hatten wir komischerweise nicht den Respekt vor diesem Menschen verloren und ihn fast irgendwie dafür gemocht, dass er sich uns seelisch so ausgeliefert hat.) Corinna hat sich daraufhin in einem Versandkatalog eine Peitsche bestellt. Kürzlich hat sie mich gebeten, ihr bei der Suche nach einem guten Psychotherapeuten behilflich zu sein, weil sie gerne mehr über sich selbst erfahren und an sich arbeiten und reifen möchte. In den Zwischenzeiten, in denen keine Klienten kommen, sitzen die gerade Dienst habenden Mädchen in der Küche zusammen, trinken, essen und plaudern über Gott und die Welt. Annemarie, die akademisch gebildete Dame und Erotikarbeiterin, von der diese Schilderung stammt, fügt noch Hoffnungsfrohes bezüglich der Beendigung ihrer Tätigkeit in dem Massagestudio hinzu: Was die Möglichkeit eines Ausstieges betrifft, werde ich ganz gewiss nicht so weit in den Bereich eindringen, dass es für mich Gefahren geben könnte. Da der Betrieb schon aufgrund des Wesens der Chefin bestrebt ist, nichts mit Kriminalität, Psychoterror oder gar Männern als Chefs zu tun zu haben, ist er wohl nicht mit den sonst üblichen Massagestudios gleichzusetzen. Schließlich meint sie, indem sie sich an mich als Soziologen wendet: Falls Sie weitere Frage haben, können Sie mich gerne jederzeit kontaktieren! – Mir kann schließlich kaum etwas Besseres passieren, als wenn jemand mit dem von mir Erlebten etwas Ernsthaftes anfangen kann! Gerne, Herr Professor, beantworte ich vertrauensvoll Ihre Fragen – schon im Sinne der Forschung. Mich freut und ehrt es, wenn diese feine Dame Sympathien mit meiner Art des Forschens hat.

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Anhang Die Dame mit dem Namen Courasche – das Lob der Marketenderin Zu den klassischen Dirnen gehörten speziell während des Dreißigjährigen Krieges Marketenderinnen, die mit dem Tross der Truppen zogen. Hauptaufgabe der Marketenderinnen war es, die Soldaten vor allem mit Lebensmitteln und Ähnlichem zu versorgen. Im Wort Marketender steckt das italienische Wort mercatante, das so viel wie Kaufmann oder Händler heißt. Von Marketenderinnen weiß man, dass sie die Truppen nicht nur mit Dingen des Alltags belieferten, sondern auch sehr offenherzig in Sachen Sexualität waren. Von daher rührt ihr mitunter zweifelhafter Ruf. Die Marketenderinnen der alten Heere leben in den Marketenderinnen weiter, die heute Musikkapellen begleiten und die Musiker mit guten Getränken versorgen. Deren Ruf ist gewiss ein guter. Nicht so war es bei den klassischen Marketenderinnen, die ihr Geschäft des Handelns meist auch mit dem der Prostitution verbanden. Manche Marketenderinnen werden wohl nur mehr als Dirnen ihre Geschäfte gemacht haben. Jedenfalls waren sie Frauen, denen man eine freizügige sexuelle Moral vorzuwerfen pflegte. Dies zeigt sich in der Literatur. Auf eine dieser Marketenderinnen bezieht sich der Roman Die Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin (Landstreicherin) Courasche von Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen (1622–1676). Die Dame mit dem bemerkenswerten Namen Courasche ist eine Marketenderin, die weit herumkommt. Interessant ist die Herkunft ihres Namens. Es zahlt sich aus, ihn kurz zu erklären, denn er passt in die Welt der alten Armeen und Marketenderinnen. Im dritten Kapitel erzählt die Marketenderin, dass sie zunächst als junger Mann verkleidet an einem Kriegszug – um 1619 – teilgenommen hat. Dabei habe sie mit einem Burschen gerauft. Sie zerkratzte ihm das Gesicht, denn sie befürchtete, dass er dahinterkäme, dass sie eine junge Frau sei. Als sie von einem Rittmeister darauf gefragt wurde, warum sie dies getan hätte, antwortete sie: Darum, dass er mir nach der Courasche gegriffen hat, wohin sonst noch keines Mannsmenschen Händen kommen sein. Eine andere Bezeichnung des geheimnisvollen Körperteiles der Frau erschien ihr offensichtlich zu gewöhnlich. Dem Rittmeister gefiel die Bezeichnung „Courasche“ und er nannte sie, die eigentlich Libuschka geheißen hat, ab nun so. Als Marketenderin tritt Courasche unter diesem neuen Namen fortan auf. Grimmelshausens Beschreibung des Lebens der Courasche gibt einen guten Einblick in das Wirken der klassischen Marketenderinnen, die zum Tross der Kriegsheere gehörten – immer in der Nähe des Schlachtengetümmels und der Geschützfeuer. Die Marketenderinnen wussten um die leiblichen und seelischen Bedürfnisse ihrer kriegerischen Gefährten. In der Männerwelt der Krieger boten sie Abwechslung, versorgten die Männer, die müde vom Kämpfen waren, mit Speis, Trank und Liebe. Marketenderinnen

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waren streitbare Damen. Damit es im Tross nicht allzu wild zuging, wurde in manchem Landsknechteheer ein eigener Polizist, den man den „Hurenwebel“ nannte, eingesetzt. Dennoch ging es im Tross der Heere sehr locker zu. Und alle, die mit dem Tross zu tun hatten, wie auch die Feldscher – die Ärzte – waren beim braven Bürger wenig angesehen. Das „offene Herz“ der Marketenderinnen preist Heinrich Heine in seinem Lied der Marketenderin: Und die Husaren lieb ich sehr, Ich liebe sehr dieselben; Ich liebe sie ohne Unterschied, Die blauen und die gelben. Und die Musketiere lieb ich sehr, Ich liebe die Musketiere, Sowohl Rekrut als Veteran, Gemeine und Offiziere. Die Kavallerie und die Infanterie, Ich liebe sie alle, die Braven; Auch hab ich bei der Artillerie Gar manche Nacht geschlummert. Ich liebe den Deutschen, ich lieb den Franzos, Die Welschen und Niederländ’schen, Ich liebe den Schwed, den Böhm und Spanjol, Ich liebe in ihnen den Menschen. Das Vaterland und die Religion, Das sind nur Kleidungsstücke – Fort mit der Hülle! Daß ich ans Herz Den nackten Menschen drücke. Ich bin ein Mensch, und der Menschlichkeit Geb ich mich hin mit Freude; Und wer nicht gleich bezahlen kann, Für den hab ich die Kreide.

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Der grüne Kranz vor meinem Zelt, Der lacht im Licht der Sonne; Und heute schenk ich Malvasier Aus einer frischen Tonne. Das Herz der Marketenderin, die feine Leute erfreut, überspringt also Kulturen und Länder.

Epilog Die obigen Darlegungen und Gedanken sollten zeigen, dass Dirnen sehr genau wissen, wie sie mit ihren Gästen, „Gogeln“ oder „Klienten“ umzugehen haben, damit in diesen auch das Gefühl entsteht, sich selbst als feine Leute zu sehen. Jedenfalls ist es eine bunte Welt, die mit der Kultur der Prostitution verbunden ist, zu der noble Männer gehören. Mir war es bei meinen Ausführungen auch wichtig, deutlich zu machen, dass Dirnen oft Damen mit einem weiten Herzen sind, die Respekt verdienen. Der große Schriftsteller Torberg drückte seinen Respekt gegenüber Dirnen, die er in seinem Wiener Stammkaffee im 1. Bezirk antraf, wo früher der Nobelstrich lag, so aus: Wer da geringschätzig oder gar verächtlich von Huren spricht, lasse sich gesagt sein, daß ich in diesem Hurencafé zwischen Mitternacht und 4 Uhr früh auf mehr Beweise von Herzenstakt und menschlicher Sauberkeit gestoßen bin als in sämtlichen je von mir frequentierten Kaffeehäusern, und das will etwas heißen.5

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Torberg, Friedrich: Tante Jolesch. Wien 1975, S. 148.

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Das Haus Habsburg-Lothringen und seine „Häuser“ Ein Rundgang mit Einblicken vom 18. in das 20. Jahrhundert1

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n einer von mir leider nicht mehr rekonstruierbaren Aufführung im Burg- oder Akademietheater wurde eine Tür heftig geöffnet und traf die sich davor befindende Person, was den heraustretenden Schauspieler zur Frage veranlasste: Haben Sie gelauscht? Die betroffene Dame erwiderte: Nein, es wurde nur zu leise gesprochen. Diese Hör- und Sehneugierde ist in jedem Menschen vorhanden und wird, je nach Charakter oder Erziehung, mehr oder weniger gepflegt. Das Ohr an der Tür oder das Auge am Schlüsselloch muss sich in der Wirklichkeit nicht immer dort befinden, die Neugierde wird auch anderwärts befriedigt, denken sie an die Unzahl von Medien, die uns heute persönliche Einsätze ersparen und uns die Einblicke gleichsam ins Haus liefern, wo sie ohne notwendige physische Anstrengungen „genossen“ werden können. Diese breit gestreuten Möglichkeiten gab es in früheren Zeiten natürlich nicht, da war man auf Erzählungen oder Gerüchte angewiesen, wobei es nicht immer ganz ungefährlich war, Besonderes zu wissen und zu verbreiten, vor allem Geschehnisse höheren Orts waren in der Regel stets besonderer Zensur unterworfen, sodass Gerüchten ein sehr breiter Nährboden bereitet wurde. Ein Beispiel ist der Selbstmord des Kronprinzen Rudolf 1889, an dem selbst ernst zu nehmende Personen noch heute zweifeln. Der Blick hinter die Kulissen der Mächtigen war den „normalen“ Zeitgenossen verwehrt und die „Insider“ nahmen sehr oft ihr Wissen buchstäblich mit ins Grab. Und doch tauch(t)en immer wieder Nachrichten auf, die wenigstens kleine Informationen enthielten/enthalten, die, wenn es mehrere sind, wie ein Puzzle ein informatives Gesamtbild ergeben. Gerade im Fall des Hauses Habsburg bzw. Habsburg-Lothringen lohnt sich der Blick hinter die Fassaden verschiedenster Gebäude, um so manchen Bericht verifizieren zu können. Der Blick aus heutiger Sicht wird alle Methoden der Geschichtswissenschaft als Hilfsmittel heranziehen und mit den vielfältigen Ergebnissen ein einheitliches, informatives 1

Bei vorliegendem Text handelt es sich um die schriftliche Ausfertigung des am 26. Jänner 2009 anhand von Stichwortnotizen gehaltenen Vortrages, wobei auch in dieser Fassung versucht wurde, dem Redecharakter gerecht zu werden.

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Ganzes formen können. Die „Besichtigungstour“ wird sich hauptsächlich auf Wien beschränken, bildete diese Stadt doch im zu behandelnden Zeitraum den Lebensmittelpunkt des Herrscherhauses, auch wenn der Blick, des Verständnisses wegen, ab und zu über die Stadtgrenzen schweifen wird. Die grundsätzliche Frage war, wo einsetzen? Das Bett war bei den Habsburgern seit jeher ein Mittel, irgendwie Macht auszuüben. Meistens war dies nicht unter ihresgleichen der Fall, sondern bei den „beglückten“ Personen handelte es sich meistens um Vertreter aus niedrigerem Adel oder dem Bürgertum. Zwei markante Beispiele dürfen genannt werden: Da wäre einmal Rudolf II. (1552– 1612), den man mindestens aus Franz Grillparzers Ein Bruderzwist in Habsburg kennt. Er hinterließ zahllose uneheliche Nachkommen, auch aus Verbindungen mit Bürgerinnen, für deren Erziehung jedoch seitens der Verwaltung gesorgt wurde. Der Dichter fand als Direktor des Hofkammerarchivs (1832–1856) die Aufzeichnungen über diese Bezahlungen in den Akten und formte schlussendlich aus den vielen Kindern die Person „Don Cäsar, des Kaisers natürlicher Sohn“. Als eine weitere Person ist der Sieger der Seeschlacht bei Lepanto (1571), Don Juan d’Austria (1547–1578) zu nennen, der einer Liaison Karls V. mit der Regensburger Bürgerstochter Barbara Blomberg entsprang. Eigentlich sollte er auf Wunsch seines Vaters und seines Halbbruders Philipp II. von Spanien Kardinal werden, aber seine Wünsche gingen in eine andere Richtung. Das Verhältnis seiner Eltern diente Carl Zuckmayer als Dramenstoff. Wenden wir uns nach diesen Aus- und Rückblicken dem Häuserrundgang ab dem 18. Jahrhundert zu und beginnen mit der maria-theresianischen Epoche: Maria Theresia (1717–1780)2, Erbtochter eines der bedeutendsten Imperien des 18. Jahrhunderts, fand in der Liebesheirat mit Franz Stephan von Lothringen (1708–1765)3 die Erfüllung ihres Lebens. Der Weg vom „geliebten Mäusl“ zur unendlichen Trauer nach des Kaisers plötzlichem Tod in Innsbruck war nicht nur vom Glück der 16 Kinder gekennzeichnet, sondern auch von diversesten Seitensprüngen des Herrn Gemahls. Dieser hatte das heute sogenannte „Kaiserhaus“ in der Wallnerstraße 3, einen Katzensprung von der Hofburg entfernt, als seinen „Bürobereich“ eingerichtet und dort empfing Franz Stephan diskret seine jeweilige Favoritin. Maria Theresia, durch die vielen Geburten (ein Leben lang nicht aus der Hoffnung gekommen) und auch die zahllosen Aufgaben, die sie als Regentin und Kämpferin um ihr Erbe (gegen Friedrich II. von Preußen) zu erledigen hatte, 2 3

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Vgl. Mikoletzky, Hanns Leo: Österreich – Das große 18. Jahrhundert. Von Leopold I. bis Leo­pold II. Wien/München 1967; Hamann, Brigitte (Hrsg.): Die Habsburger. Ein biographisches Lexikon. Wien 1988. Jeweils mit weiterführender Literatur. Wie Anm. 2.

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sicherlich nicht immer in der Lage, den ehelichen Wünschen Franz Stephans nachzukommen, wusste um die „Nebentätigkeiten“ ihres geliebten Gatten Bescheid. Sie tolerierte diese, zumal sie auf dem Laufenden war, und sie verzieh ihm diese auch, wie sich anhand einer Notiz von 1765 ersehen lässt: mein hertz meine Sünen haben nichts geliebter gekant und verehret als diesen grossen liebwärtesten gemahl von 5 jahren an wurden unsere hertzen zusam gewohnt und erzohen und wird vor mich keine vergnügtere stund mehr sein als jene die mich wiederumb mit selben auff ewig verbinden wird.4 Das „Fremdgehen“ dürften Joseph II. (1741–1790)5 und Leopold II. (1747–1792)6 von ihrem Vater geerbt haben. Beide waren verheiratet, Joseph einmal sehr glücklich, das zweite Mal nicht, und dennoch war das weibliche Geschlecht nicht immer vor ihnen sicher. Vor Josephs Tür (im Kontrollorgang im Halbgeschoss des Leopoldinischen Traktes der Hofburg) fanden sich die schmutzigsten Dirnen und Kuppler ein, wie berichtet wird, da es ihn sehr zu dieser Art von niedrigen und schmutzigsten Frauen hindrängt, die er sehr gut zahlt. Er ging überall herum, um Frauen, Weiber oder Dienerinnen zu suchen, zu denen es ihn sehr hinzieht. Der außerordentliche Gesandte Preußens am Wiener Hof, Friedrich Anton Baron Riedesch, schreibt in diesem Zusammenhang sogar am 13. Juli 1785 an seinen Herrn: In der Gesellschaft flüstert man einander ins Ohr, dass das Blut S. M. von einer übel verheilten Geschlechtskrankheit verdorben sei.7 Eine nicht nachweisbare uneheliche Tochter wird ihm auch nachgesagt.8 Sein Verkehr im Kreise seiner fünf Fürstinnen, von denen er die verheiratete Eleonore Liechtenstein sehr verehrte, ist wohl mehr als bekannt, ebenso die Geschichte über seinen angeblichen Hinauswurf aus einem Haus am Spittelberg. Leopold, Großherzog der Toskana und 1790 Nachfolger seines Bruders auf dem Kaiserthron, verheiratet seit den Innsbrucker Schicksalstagen von 1765 mit der spanischen Infantin Maria Ludovica und mit ihr sechzehn Kinder in die Welt setzend, war nicht nur sehr seitensprungfreudig, sondern brachte seine Mätresse, die Tänzerin Livia Raimondi, nach der Übersiedlung der Familie nach Wien auch in die Haupt- und Residenzstadt mit. 4 5 6 7 8

Mikoletzky, 18. Jahrhundert, S. 217. Wie Anm. 2. Wie Anm. 2. Mikoletzky, 18. Jahrhundert, S. 298. Mikoletzky, Hanns Leo: Eine Tochter Kaiser Josefs II.? In: Wiener Geschichtsblätter 7 (1952) S. 36ff.; Kratochwill, Max: Eine illegitime Tochter Josefs II.? In: Wiener Geschichtsblätter 7 (1952) S. 59ff.; ders., Nochmals: Eine illegitime Tochter Josefs II.? In: Wiener Geschichtsblätter 8 (1953) S. 104ff.

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Nachfolger nach dem plötzlichen Ableben Leopolds wurde sein Ältester Franz (1768– 1835)9, der gelegentlich als wenig geistreich und langweilig abgetan wird, was ihn jedoch nicht hindern sollte, in jeweils kürzesten Intervallen nach dem Ableben seiner jeweiligen Ehefrau – gleichsam nach Ablauf der Hoftrauer – sofort wieder zu heiraten, auch wenn gleichsam der „Bedarf “ an Nachwuchs durch die zweite Verehelichung „gedeckt“ gewesen wäre: zwölf Kinder. Elisabeth Wilhelmine von Württemberg starb nach zweijähriger Ehe 1790 im Wochenbett, ein halbes Jahr später heiratete Franz II. seine Cousine Maria Theresia Prinzessin beider Sizilien, die ihm in siebzehn Jahren die erwähnte Kinderzahl schenkte und im letzten Kindbett 1807 starb. War die erste Gattin ein Jahr älter als der Bräutigam, so war die nächste vier Jahre jünger, die dritte Ehefrau, Maria Ludovica, 19 Jahre jünger und die letzte, Karoline Auguste, 24 Jahre jünger als der bei seiner letzten Vermählung 48-jährige Herrscher. Bei Maria Ludovica stimmten die Neigungen und Interessen der beiden Ehepartner nicht immer überein: Er kühl, trocken und eher berechnend, sie enthusiastisch-sentimental, vorausschauend genial, sich für vieles interessierend, was sich nicht nur im Kontakt mit Johann Wolfgang von Goethe zeigte. Maria Ludovica kümmerte sich sehr um ihre Stiefkinder, vor allem um den kranken Thronfolger Ferdinand. Die Verheiratung ihrer Stieftochter Marie Louise (1791–1847)10 mit Napoleon konnte sie nie verwinden, zumal sie Napoleon seit jungen Tagen ablehnend gegenüberstand. Nach der Hochzeit 1810 änderte sich ihre Einstellung keineswegs, während Marie Louise, zwar in der Abneigung gegen alles, was Frankreich betraf, erzogen, ihren Gatten nicht ganz so übel fand, wie sie es bis dahin „gelernt“ hatte. Andererseits war Napoleon selbst über die Aktivität der 19-Jährigen überrascht und soll gelegentlich die Meinung geäußert haben, einen wandelnden Unterleib geehelicht zu haben. Die junge Kaiserin der Franzosen ist, was die Auswahl ihrer Männer während und nach der Ehe mit Napoleon betrifft, nicht gerade zimperlich gewesen, wenn man so sagen darf. Wir blicken hier in in- und ausländische, aber immer habsburgische Gefilde, wenn wir die Kaiserin begleiten wollen, die zwar Napoleon 1811 einen Sohn gebar, jedoch ihren Gatten seit der Verabschiedung am 25. Jänner 1814 nicht mehr wiedersehen sollte. Ihre erste Station nach dem Verlassen von Paris war Wien, wo ihr Adam Adalbert Graf Neipperg (1775–1829) als Begleiter zur Seite gegeben wurde, ein etwas blasierter Haudegen. Er begleitete die neue Herzogin von Parma, Piacenza und Guastalla in ihre Fürstentümer, die 9

Vgl. Mikoletzky, Hanns Leo: Österreich – Das entscheidende 19. Jahrhundert. Geschichte, Kultur und Wissenschaft. Wien 1972. Mit weiterführender Literatur. Vgl. Hamann, Habsburger. 10 Vgl. Mikoletzky, 19. Jahrhundert; Hamann, Habsburger; Schiel, Irmgard: Eine Habsburgerin für Napoleon. Stuttgart 1983.

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ihr auf dem Wiener Kongress übertragen worden waren. Er blieb bis zu seinem Tod mehr als ihr Freund, obwohl Napoleon bekanntlich noch lebte († 1821). Sie gebar Neipperg im Geheimen ab 1817 zwei Mädchen und einen Knaben. Auch dass sie nach Napoleons Tod Neipperg heiratete, geschah so geheim, dass ihr Sohn Wilhelm Albrecht erst nach dem Ableben seines Vaters davon erfuhr. Zahllose Liebschaften überbrückten die Witwenschaft bis zur dritten Ehe mit dem Grafen Charles-René de Bombelles (1784–1856), wobei einer ihrer Liebhaber mit ihrer Tochter Albertine verheiratet wurde. Mair Louises Stiefmutter ­Ludovica starb kinderlos 29-jährig an Tuberkulose und der feinfühlige Witwer schritt sieben Monate nach ihrem Ableben mit der ursprünglich mit dem Kronprinzen von Württemberg verheiratet gewesenen, sehr gebildeten Schwester der späteren Mutter Franz Josephs, Sophie, Karoline Auguste, zum Traualtar. Deren erste Ehe war 1815 in beiderseitigem Einvernehmen durch den Papst für ungültig erklärt worden. Diese, seine letzte, Hochzeit versah Franz mit dem Ausspruch Wenigstens hab ich dann nicht in ein paar Jahren wieder eine Leich’! Von 1835–1848 stand Ferdinand I. (1793–1875)11, Ältester des verstorbenen Kaisers, an der Spitze des Staatswesens, keineswegs in diverse Fußstapfen seiner Verwandtschaft tretend, was nicht nur seine Krankheit verhinderte. Bei seinem Nachfolger, dem lange regierenden Franz Joseph I. (1830–1916)12 war dies nicht nur bei ihm selbst anders, sondern auch in seinem Umfeld tat sich hier einiges, was nicht immer dem Herrscherhaus nützte und so manche „Häuser“ ins Gerede brachte. Es war auch eine neue Zeit in die Lande gezogen, die zwar noch immer Ehrfurcht vor den Obrigkeiten hatte, die jedoch auch vieles näher wissen wollte. Franz Joseph wurden schon in jungen Jahren Damen der Halbwelt zugeführt, um ihn in die Problematik des Liebeslebens einzuführen – womit so manche Schwierigkeiten in seiner Beziehung zu der von ihm 1854 geehelichten Elisabeth von Bayern (1837–1898)13 erklärt werden könnten: Hier der erfahrene 24-Jährige, dort das 17-jährige Mädchen vom Land. Vonseiten des Ehemanns war es eine Liebesheirat, der vier Kinder entstammen sollten, aber sehr bald hatten sich die Ehepartner auseinandergelebt und gingen ihre eigenen Wege. Dabei gab es bei Elisabeth gelegentliches „Spiel mit dem Feuer“, aber nichts Ernstes, während bei Franz Joseph mindestens eine länger dauernde Verbindung nachweisbar ist, die zu einem Nachwuchs führte, ehe dann die platonische Verbindung des Kaisers mit 11 Vgl. Mikoletzky, 19. Jahrhundert; Hamann, Habsburger; Holler, Gerd: Gerechtigkeit für Ferdinand. Wien/München 1986. 12 Vgl. Mikoletzky, 19. Jahrhundert; Hamann, Habsburger; Bled, Jean Paul: Franz Joseph. Der letzte Monarch der alten Schule. Wien/Köln/Graz 1988. 13 Vgl. Mikoletzky, 19. Jahrhundert; Hamann, Brigitte: Elisabeth, Kaiserin wider Willen. Wien 1981; Hamann, Habsburger.

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Katharina Schratt bis an sein Lebensende dauern sollte und ihm wohl das gab, was er bei Elisabeth nicht fand: die „Deftigkeit“ der Beziehung zu der ihn im Bett empfangenden, einen Gugelhupf servierenden Burgschauspielerin. Das Verhältnis zu Anna Nachowski, aus dem Nahbereich des Schönbrunner Schlosses, führte 1885 zur Geburt einer Tochter Helene, die 1911 den Komponisten Alban Berg ehelichen sollte. Während hier die Mutter unterstützt wurde, war die Verbindung mit Katharina Schratt (1853–1940), verehelichte Baronin Kiss de Ittebe, durch Elisabeth selbst Mitte der 1880er-Jahre eingeleitet worden. Über dieses Verhältnis geben die vielen erhaltenen Briefe des Kaisers detaillierte Auskunft, wogegen die Gegenbriefe entweder verloren sind oder in irgendeinem Archiv der Öffentlichkeit auch heute noch „vorenthalten“ werden. Auch tauchte in gewissen Abständen das Gerücht über eine geheime Hochzeit der beiden auf, was jedoch nicht bewiesen werden kann. Außerdem hätte der Kaiser gegen das von seinem Vorgänger erlassene Familienstatut verstoßen, das besagte, dass nur Mitglieder regierender (auch einstmals regierender) oder standesherrlicher fürstlicher Häuser geheiratet werden durften. Franz Joseph legte diesen vorgegebenen Maßstab bei vielen Angehörigen des Kaiserhauses an, wie noch zu zeigen sein wird, da hätte er bei sich keine Ausnahme machen dürfen. Seine jüngste Tochter Marie Valerie etwa missbilligte das Verhältnis zu der Schauspielerin und wollte diese nicht zum toten Vater vorlassen, sodass sich der neue Kaiser veranlasst sah, der alten Dame den Arm zu reichen, damit sie mit einem Blumenstrauß Abschied nehmen konnte. In den 68 Jahren seiner Regierungszeit erfüllte Franz Joseph nicht nur sein Amt gleich dem ersten Beamten des Reiches, als der er sich auch fühlte, sondern er hatte Momente in seinem Leben aufzuarbeiten, die viele andere nicht so „verkraftet“ hätten, wie er dies zumindest nach außen hin tat. Da wären die allbekannten (nicht natürlichen Todesfälle) im engeren Familienbereich: Bruder Maximilian (von Mexiko), Sohn Rudolf, Gattin Elisabeth und Neffe Franz Ferdinand. Wobei der Selbstmord des Kronprinzen im Jagdschloss Mayerling vor den Toren Wiens ebenso oft analysiert wurde wie die drei anderen Momente aus dem Leben Franz Josephs. Spielten doch da sicherlich auch Erbteile seiner Mutter hinein, wie kurz zu streifen wäre. Elisabeth war die Nichte ihrer Schwiegermutter und eigentlich in deren Planung gar nicht für den österreichischen Kaiser als Gattin vorgesehen. Ihre ältere Schwester sollte diesen heiraten, war danach, als sie in die zweite Reihe zurücktreten musste, sehr depressiv, ehelichte den Erbprinzen Maximilian Anton von Thurn und Taxis, der ebenso früh starb wie ihre zwei ältesten Kinder. Die jüngere Schwester Sophie Charlotte war mit König Ludwig II. von Bayern verlobt, der aber nur an ihrer schönen Stimme interessiert war und sich sonst mit Herren umgab. In der Folge verliebte sie sich in den Fotografen Edgar Hanfstaengl, heiratete jedoch aus Familienräson den Herzog von Alençon, einen Verwandten

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der französischen Königsfamilie. Auch hier wurde sie nicht glücklich, verliebte sich in ihren Arzt, der ihre Depressionen behandelte. Nachdem der Skandal publik wurde, kam sie in eine Anstalt in Graz. Dort übergoss man sie mit Eiswasser, schmierte ihren kahl geschorenen Kopf mit Zugsalbe ein und versetzte sie in Schockzustände, indem man ganz in ihrer Nähe Pistolenschüsse abfeuerte. Danach kehrte sie „geheilt“ zu ihrem Mann zurück. Sophie Charlotte verunglückte tödlich bei einer Brandkatastrophe in Paris, als sie versuchte, andere zu retten. Und noch ein enges Familienmitglied Elisabeths fiel aus dem vorgegebenen Rollenschema: Der älteste Bruder Ludwig verzichtete auf sein Erstgeburtsrecht und heiratete im Laufe seines Lebens zweimal Schauspielerinnen: Henriette Mendel und Antonie Barth. Seine Tochter Marie Gräfin Larisch spielte eine bis heute nicht zur Gänze geklärte Rolle im „Drama“ von Mayerling.14 Dabei dürfte es sich um den wohl bekanntesten Blick in ein Zimmer mit Bett und Macht handeln. Es soll jetzt nicht die tausendundsoundsovielte Version wiedergegeben werden. Fest steht, dass am 30. Jänner 1889 zwei Tote im Jagdschloss bei Heiligenkreuz gefunden wurden, wobei die weibliche Leiche offiziell bis zum Ende der Monarchie nicht vorhanden war. Mary Vetsera war eine der vielen Damen, denen der Kronprinz seine Gunst schenkte, obwohl der 1858 Geborene mit Stephanie von Belgien (1864–1945)15 verheiratet war. Einer der bekanntesten Namen in der Reihe seiner Liebhaberinnen ist einer der in Graz geborenen Mizzi Caspar. Wie gesagt, die Theorien über die Ereignisse vor 120 Jahren reichen von Selbstmord wegen der Schwängerung einer Adeligen (Amerikanisches Roulette, wobei Rudolf die schwarze Kugel zog, was ihn zum Selbstmord nach sechs Monaten verpflichtete), Mord durch Mary Vetsera, gedungene Mörder durch ehemalige Geliebte, betrogenen Förster, Bauern, mit dessen Tochter Rudolf sich vergnügte, bis zum Auftragsmord durch Clemenceau. Zu diesen diversen Gerüchten trug auch die letzte Kaiserin Österreich-Ungarns durch nicht ernst zu nehmende „Erinnerungen“ in ihrem letzten Lebensjahr bei. Aber auch die Aktion eines Herrn Flatzelsteiner, der Vetseras Gebeine einige Zeit in seiner Garage aufbewahrte und untersuchen ließ, wie auch das im Zusammenhang mit einer Ausstellung zu Rudolf im Bundesmobiliendepot entdeckte Bett, das 2008 einer DNA-Analyse durch die Gerichtsmedizin unterzogen wurde, trugen nicht dazu bei, das „Geheimnis von Mayerling“ endgültig zu lösen. 14 Vgl. Mitis, Oskar Freiherr von: Das Leben des Kronprinzen Rudolf. Wien 1928, neu hrsg. von Wandruszka, Adam: Wien 1971; Mikoletzky, 19. Jahrhundert; Hamann, Brigitte: Rudolf Kronprinz und Rebell. Wien 1978; Hamann, Habsburger; Barta, Ilsebil (Hrsg.): Kronprinz Rudolf Lebensspuren (= MMD. eine publikationsreihe der museen des mobiliendepots Bd. 26) Wien 2008. 15 Vgl. Mikoletzky, 19. Jahrhundert; Schiel, Irmgard: Stephanie, Kronprinzessin im Schatten von ­Mayerling. Wien 1978; Hamann, Habsburger.

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Der Verfasser dieser Zeilen ging immer schon von Mord und Selbstmord aus, will aber der österreichischen Seele, die so gerne Traditionen nachhängt, nicht dieses Thema der Nostalgie wegnehmen. Die Gattin des Thronfolgers, Stephanie (1864–1945), von ihrer Schwiegermutter hässliches Trampeltier genannt, ehelichte 1900 nicht standesgemäß den ungarischen Grafen Elemér Lonyay (1863–1946) und sollte sich später ihre Gedanken von der Seele schreiben: Ich sollte Kaiserin werden (1935). Ihre Tochter aus der ersten Ehe, Elisabeth (1883–1963), Lieblingsenkelin Franz Josephs, zunächst mit Otto Fürst Windisch-Graetz verheiratet, ging ebenso fremd wie ihr Gatte und lebte, nach der Scheidung im republikanischen Österreich (1924), mit dem Sozialdemokraten Leopold Petznek (1881–1956) zusammen, den sie 1948 heiratete. Im engsten Umfeld des Kaisers darf ein Blick hinter die Mauern des Hofes und auf den jüngsten Bruder seiner Majestät nicht fehlen: Erzherzog Ludwig Viktor (1842–1919)16, auch „Bubi“ oder „Luziwuzi“ genannt, war homosexuell, aber mit einer Zunge scharf wie die einer Giftschlange versehen. Seine kaiserliche Schwägerin beschuldigte ihn oftmals, Zwietracht in der Familie zu säen. Als ein Annäherungsversuch seinerseits in einer Badeanstalt an einen anderen Mann mit einer von diesem erteilten Ohrfeige endete, wurde er von Franz Joseph in das Schloss Klesheim/Salzburg verbannt und stand seit 1915 wegen seiner Geisteskrankheit unter Kuratel. Er ist ein sehr markantes Beispiel der jahrhundertelangen Inzucht in der Familie Habsburg(-Lothringen). Sein Bruder Maximilian, das wohl begabteste Mitglied der Kaiserfamilie, plante gelegentlich Ludwig Viktor zum Erben in Mexiko einzusetzen. Aber nicht nur in seinem unmittelbaren Familienbereich hatte Franz Joseph mit Problemen zu kämpfen und – ehe wir in dieser Richtung noch einmal zu Voyeurinnen/Voyeuren werden – so seien Angehörige der Sekundogenitur aus der Toskana zur näheren Beobachtung vorgestellt: Da wäre die mit dem Kronprinzen Friedrich August von Sachsen verehelichte Luise von Toskana (1870–1947)17 zu nennen, die 1902 mit dem Sprachlehrer der Kinder, André Giron, in die Schweiz durchbrannte. Franz Joseph suspendierte sie von allen Rechten einer Erzherzogin. Fünf Jahre (1907–1912) war sie mit dem Komponisten Enrico Toselli verheiratet. Von ihrem Exschwiegervater hatte sie zwar eine Apanage erhalten, starb jedoch völlig verarmt in Belgien, nachdem sie ein Buch: Louise von Toskana. Mein Lebensweg veröffentlicht hatte.

16 Vgl. Mikoletzky, 19. Jahrhundert; Hamann, Habsburger. 17 Hamann, Habsburger; Mikoletzky, Lorenz (Hrsg.): Luise von Toscana. Mein Leben. Wien 1988.

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Sie sollte nicht das einzige Mitglied der toskanischen Familie bleiben, das Wien „Schwierigkeiten“ machte. Ihr Bruder Leopold Ferdinand (1868–1935)18, Sohn des exilierten Ferdinand IV. von Toskana, war ein sehr begabter Marineoffizier und wollte eine Tochter des spanischen Thronprätendenten ehelichen, was Franz Joseph untersagte. Diese Sache brachte ihn aus dem Gleichgewicht und als er eine Geliebte als Matrose auf dem Kreuzer „Elisabeth“ unterbachte, der unter dem Kommando von Erzherzog Franz Ferdinand stand, war es mit seiner Stellung bei Hofe zu Ende. Leopold wurde strafweise zur Infanterie versetzt, wollte die Prostituierte Wilhelmine Adamovic heiraten, was Franz Joseph nicht nur in Rage brachte, sondern natürlich auch untersagte. Nachdem der Erzherzog auch noch die Flucht seiner Schwester Luise unterstützt hatte, trat er 1902 aus dem Haus Habsburg aus und nahm den Namen Wölfling an. Von 1903 bis 1907 war er mit seiner Wilhelmine verheiratet, der wenige Tage nach der Scheidung Maria Magdalena Ritter, ebenfalls eine Prostituierte, nachfolgte. Leopold versuchte sich als Lebensmittelhändler und war in Berlin, wo er nochmals verheiratet in größter Armut starb, Kommentator für Stummfilme über die Habsburger. Er verfasste ebenso wie seine erste Frau „Enthüllungsbücher“ wie Habsburger unter sich (1921) oder Als ich Erzherzog war (1936). Erwähnt muss aus dieser Toskana-Linie auch Erzherzog Johann Salvator (1852– 1890[?])19, der spätere Johann Orth, werden, der mit Kronprinz Rudolf befreundet, in verschiedenste politische Aktionen verwickelt war und als liberal und antiklerikal galt. Als er 1889 aus dem Familienverband austrat – er durfte die Monarchie nicht mehr betreten, wobei die Gerüchte über sein Wissen um die Ereignisse von Mayerling eine Rolle spielen könnten – meinte er: Bin zu stolz um einen fürstlichen Müßiggänger abzugeben. Ich will nicht das Geld des Volkes verfressen, wie andere. Johann heiratete seine langjährige Geliebte Milli Stubel, fuhr zur See und ist seit Juli 1890 verschollen. Noch kehrt keine Ruhe in die Hofburg ein, sorgen doch drei Söhne von des Kaisers Bruder Karl Ludwig für Irritationen: Franz Ferdinand (1863–1914)20 heiratete gegen größten Widerstand des Kaisers, aber auch vieler Hofschranzen, die sich bei Franz Joseph einschmeicheln wollten, im Jahr 1900 aus Liebe die nicht ebenbürtige Sophie Gräfin Chotek. Die Geschichte, wie die Sache durch die Neugierde einer Erzherzogin, die hoffte, dass der Erzherzog-Thronfolger eine ihrer acht Töchter ehelichen würde, dieser sich aber für ihre 18 Vgl. Mikoletzky, 19. Jahrhundert; Hamann, Habsburger; Mikoletzky, Lorenz (Hrsg.): Leopold Wölfling. Als ich Erzherzog war. Wien 1988. 19 Vgl. Mikoletzky, 19. Jahrhundert; Hamann, Habsburger; Weissensteiner, Friedrich: Ein Aussteiger aus dem Kaiserhaus: Johann Orth. Wien 1985. 20 Vgl. Mikoletzky, 19. Jahrhundert; Hamann, Habsburger; Weissensteiner, Friedrich: Franz Ferdinand. Der verhinderte Herrscher. Wien 1983.

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Hofdame interessierte, aufflog, ist oftmals wiedergegeben worden, sodass es sich erübrigt, nochmals darauf Bezug zu nehmen. Aber nicht nur der präsumtive Nachfolger Franz Josephs stand im Blickpunkt, auch seine Brüder Otto (1865–1906)21 und Ferdinand Karl (1868–1915)22 taten dies. Otto, verheiratet mit der bigotten Maria Josefa von Sachsen, die ihr Gatte als Nonne verspottete, hoffte zunächst, dass der an Tuberkulose erkrankte ältere Bruder nicht zum Thronfolger aufsteigen würde. Dieser genas jedoch und außerdem war der Lebenswandel des Jüngeren von Skandalen geprägt, die ihm nicht nur die Syphilis eintragen sollten, sondern auch seinen Ruf als „schöner Erzherzog“ mehr als ruinierten: So tanzte er nicht nur nackt mit Säbel und dem Goldenen Vlies angetan im Hotel Sacher, sondern wollte mit Zechkumpanen in das Zimmer seiner Frau (Schloss Augarten) eindringen, um sie „vorzuführen“. Nach dem Verlust seiner Stimme starb er in einer Cottagevilla in den Armen seiner letzten Geliebten. Er hat einen Sohn und eine Tochter aus anderen Verbindungen anerkannt, während sein ehelicher Sohn Karl zum Thronfolger avancierte, da Franz Ferdinands Ehe eine morganatische war und seine Kinder nicht nachfolgeberechtigt waren. Ferdinand Karl, der jüngste Bruder der beiden erwähnten Erzherzoge, verliebte sich in Berta Czuber, Tochter eines Professors der Wiener Technischen Hochschule. Weder der Kaiser noch Franz Ferdinand wollten helfen, wobei Letzterer auf den Unterschied Bürgerliche/Gräfin verwies, wie es bei ihm der Fall war. Ferdinand Karl heiratete 1909 heimlich in der Schweiz, sodass der Kaiser erst zwei Jahre später davon erfuhr. Franz Joseph veranlasste ihn zum Austritt aus dem Erzhaus unter dem Namen Ferdinand Burg, bewilligte ihm aber, im Gegensatz etwa zu Leopold Wölfling, eine Apanage. Der ehemalige Erzherzog hat jedoch das ganze Prozedere nicht durchgehalten und starb als gebrochener Mann. Die letzten beiden Jahre der Donaumonarchie gingen ohne größere Personenskandale über die Bühne, was beim letzten Kaiserpaar nicht anders zu erwarten war. Abschließend sei aber noch eine erzherzogliche Randerscheinung in das Blickfeld gerückt: Ehrlich gesagt, wer kennt schon den Sohn des Vizekönigs von Lombardo-Venezien, Erzherzog Rainer, und der Prinzessin Elisabeth von Savoyen, Ernst (1824–1899)?23 Er, der schon zu Lebzeiten durch seine enormen Schulden „Furore“ machte, blieb auch nach seinem Tod durch sein Privatleben lange präsent. Es traten nämlich drei angeblich eheliche Kinder aus einer nicht vom Kaiser genehmigten Ehe mit einer „Baronin Wallburg“ genannten Tochter eines ungarischen Gutsbesitzers an die Öffentlichkeit und forderten am (nicht vorhandenen) Erbe beteiligt zu werden. Diese Ansprüche wurden abgelehnt, aber 21 Vgl. Mikoletzky, 19. Jahrhundert; Hamann, Habsburger. 22 Hamann, Habsburger. 23 Ebd.

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die Brüder von Ernst zahlten Erziehungskosten und Studienbeiträge. Inwieweit alles auf Fälschungen beruhte, konnte nie geklärt werden. Es wurden/konnten nur einige markante Beispiele aus der heute über 700-jährigen Geschichte des Habsburgergeschlechtes seit Rudolf I. herausgegriffen und näher (durch das Schlüsselloch) betrachtet werden. Eine Vollständigkeit sollte nicht erreicht werden, Anregungen zu eigenen Forschungen wurden hoffentlich gegeben und das Spannungsverhältnis und die Wechselbeziehungen von Erotik und Macht sollten anhand der behandelten Beispiele etwas ins rechte Licht gerückt werden.

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AutorInnen

Heribert AIGNER, Univ.-Prof. Dr., Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Alte Geschichte und Altertumskunde Roland GIRTLER, Univ.-Prof. Dr., Universität Wien, Institut für Soziologie Johannes GIESSAUF, Ass.-Prof. Dr., MAS, Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Geschichte/Mediävistik Lorenz MIKOLETZKY, GenDir., Hon.-Prof. Dr., MAS, Österreichisches Staatsarchiv Beatrix MÜLLER-KAMPEL, ao. Univ.-Prof. Dr., Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Germanistik Andrea PENZ, Dr., Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Geschichte Gisela PROCHÁZKA-EISL, ao. Univ.-Prof. Dr., Universität Wien, Institut für Orientalistik Stefan SCHIMA, ao. Univ.-Prof. Dr., MAS, Universität Wien, Institut für Rechtsphilosophie, Religions- und Kulturrecht Sabine TAUSEND, ao. Univ.-Prof. Dr., Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Alte Geschichte und Altertumskunde Peter WIESFLECKER, Dr., MAS, LL.M, Steiermärkisches Landesarchiv Graz

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Eva K athrin DaDE

MaDaME DE PoMPaDour DiE MätrEssE unD DiE DiPloMatiE (ExtErna . gEschichtE DEr aussEn­ bEziEhungEn in nEuEn PErsPEK tivEn, banD 2)

An Madame de Pompadour (1721–1764) führe kein Weg vorbei, so argwöhnte man nicht nur am Versailler Hof: Die ruhmsüchtige Bürgerliche schirme Ludwig XV. wirkungsvoll ab, sie habe mehr Macht als seine Minister und suche sich vor allem auf dem Gebiet der Diplomatie zu profilieren, hieß es unter ihren Zeitgenossen. Welchen Einfluss nahm die königliche Mätresse aber tatsächlich auf die französische Außenpolitik ihrer Jahre? Die Autorin kann nachweisen, dass Madame de Pompadour als weiblicher Günstlingsminister an richtungweisenden Entwicklungen in den Außenbeziehungen nahezu zwanzig Jahre lang beteiligt war (1745–1764). Als enge Vertraute des Königs war sie ein wichtiger Bestandteil des höfischen Systems und als solcher unverzichtbar. Madame de Pompadour profitierte von der besonderen politischen Kultur in der Spätphase des Ancien Régime, in welcher auch informelle Wege möglich waren, auf denen sie ihre herausragenden individuellen Fähigkeiten und Kenntnisse einsetzen konnte. 2010. X, 338 S. Gb. 155 X 230 mm. ISbN 978-3-412-20480-8

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Ronald G. asch

EuRopäischER adEl in dER FRühEn nEuzEit EinE EinFühRunG (utB FüR WissEnschaFt 3086 s)

Ronald Asch vermittelt auf höchstem Niveau nicht nur solides Faktenwissen, sondern liefert auch eine Einführung in die aktuellen Forschungsdiskussionen [...]. In der wahrscheinlich noch ansteigenden Flut adelsgeschichtlicher Fachpublikationen wird diesem Band zweifellos eine Leuchtturmfunktion zukommen […]. Die realgeschichtlichen Entwicklungslinien werden anhand systematischer Leitlinien zuverlässig nachgezeichnet sowie Fragestellungen und Themenfelder der aktuellen Forschung zielsicher auf den Punkt gebracht. H-Soz-u-Kult Auf dem aktuellen Stand der Forschung informiert Asch thematisch (nicht chronologisch) gegliedert und vergleichend, vor allem über Deutschland, Frankreich und England, immer wieder auch über die Entwicklungen in Nord-, Süd- und Mittelosteuropa […]. Literaturkritik.de

2008. X, 323 S. Br. 120 X 185 mm. ISBN 978-3-8252-3086-9

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