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German Pages [260]
V&R
Prälat Dr. Gerhard Maier gewidmet
EBERHARD HAHN
„Ich glaube ... die Vergebung der Sünden" Studien zur Wahrnehmung der Vollmacht zur Sündenvergebung durch die Kirche Jesu Christi
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Reinhard Slenczka und Gunther Wenz Band 92
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hahn, Eberhard: „Ich glaube . . . die Vergebung der Sünden": Studien zur Wahrnehmung der Vollmacht zur Sündenvergebung durch die Kirche Jesu Christi / Eberhard Hahn. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1999 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie; Bd. 92) Zugl.: Erlangen, Nürnberg, Univ., Habil.-Schr. ISBN 3-525-56299-3
© 1999 Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen.
Vorwort „Dir sind deine Sünden vergeben!" Mit diesem befreienden Zuspruch hat Jesus Christus nicht nur selbst Menschen aus der todbringenden Verstrickung ihres Lebens gerufen; zugleich hat er seine Gemeinde mit der Vollmacht zum lösenden Wort beauftragt. Wenn die Gemeinschaft der Christen ihrerseits im Apostolikum bekennt: „Ich glaube ... die Vergebung der Sünden", so preist sie damit den dreieinigen Gott über der unaussprechlichen Gabe, die ihr hier zuteil wird. Die Größe dieser Gabe wird deutlicher erkennbar, wenn sowohl die Konsequenzen der Sünde in vielfaltigen Schuldzusammenhängen als auch die angestrengten aber letztlich hilflosen Bemühungen um menschliche Schuldbewältigung bedacht werden. Damit aber tritt auch die Größe der mit dieser Gabe verbundenen Verantwortung für die christliche Kirche zutage. Als kirchlicher Wissenschaft kommt der Theologie die Aufgabe zu, die Wahrnehmung der Vollmacht zur Sündenvergebung in den vielfaltigen Handlungsfeldern der christlichen Kirche dogmatisch zu begründen und zu beurteilen - insbesondere im Blick auf Gottesdienst, Taufe, Abendmahl, Beichte. Im Sinne der so verstandenen theologischen Aufgabe wollen diese Studien einen Beitrag leisten. Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1998 von der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Habilitationsleistung angenommen; fur den Druck wurde sie geringfügig bearbeitet und ergänzt. Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Dr. Reinhard Slenczka, der das gesamte Vorhaben mit seinem Rat vielfaltig unterstützt und gefördert, sowie das Erstgutachten erstellt hat. Darin sei auch diesmal der Dank für die gastliche Aufnahme im Hause Slenczka ausdrücklich eingeschlossen. Herrn Professor Dr. Alasdair I.C. Heron danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Für die Aufnahme in die Reihe „Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie" danke ich Herrn Professor Dr. Slenczka und Herrn Professor Dr. Wenz. Außerdem danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht für die Zusammenarbeit während der Drucklegung. Schließlich danke ich in besonderer Weise meiner Frau Irene und unseren Kindern Ingrid, Dietmar, Frieder und Ulrich, die vor allem in der Endphase des Projekts ein spezielles Maß an Verständnis und Nachsicht für ihren Ehemann bzw. Vater aufbrachten.
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Vorwort
Die Drucklegung ist durch namhafte Zuschüsse der „Evangelischen Landeskirche in Württemberg" sowie des „Vereins Albrecht-Bengel-Haus" unterstützt worden. Dafür möchte ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen. Gewidmet ist die Arbeit Herrn Prälat Dr. Gerhard Maier in Ulm - als dankbarer Ausdruck langjähriger freundschaftlicher Verbundenheit.
Eberhard Hahn
Inhalt
1. Einfuhrung
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1.1 Grund, Auftrag und Vollmacht der Sündenvergebung
13
1.2 Sündenvergebung im Kontext verwandter Fragestellungen
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1.3 Aufgabenstellung und Methodik
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1.4 Die Bedeutung des Katechismus im Schnittpunkt von Glaube, Theologie und kirchlichem Handeln
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2. Sündenvergebung als Werk des Dreieinigen Gottes 2.1 Einführung
29 29
2.2 Der Grund der Sündenvergebung in Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi 29 2.2.1 Der „Dominus noster" als Salvator und Redemptor im zweiten Glaubensartikel 29 2.2.2 Die Gewährung der Sündenvergebung in der Verkündigung Jesu Christi 35 Exkurs: Der Ursprung der Sündenvergebung in der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes 37 2.2.3 Der Kreuzestod Jesu Christi als Sühnetod für die Sünden ...42 2.2.4 Die Überwindung der Verderbensmächte in der Auferstehung Jesu Christi 44 2.2.5 Konsequenzen für die Wahrnehmung der Beauftragung zur Sündenvergebung durch die Gemeinde Jesu Christi 46 2.3 Die Verwirklichung der Sündenvergebung durch den Heiligen Geist 2.3.1 Die Heiligung des Sünders im dritten Glaubensartikel 2.3.2 Der „Artikel von der Sündenvergebung" als existentieller Zugang zum gesamten Credo 2.3.3 Auf der Suche nach der „Wiederkehr des Glanzes in der Welt" (C.Gestrich) 2.4 Die Sündenvergebung als Herzstück der Rechtfertigung 2.4.1 Sündenvergebung als „Häuptartikel" des christlichen Glaubens
48 48 52 55 60 60
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Inhalt
2.4.2 Sündenvergebung als umfassender Ausdruck des Rechtfertigungsgeschehens 62 2.4.3 Sündenvergebung als „Engführung" und „Verkürzung" des Heils 67 2.4.3.1 Die römisch-katholische Kritik 67 Exkurs: Sündenvergebung bei Thomas von Aquin .69 2.4.3.2 Die Neuinterpretation der Sündenvergebung am Beispiel von F.Schleiermacher 72 2.4.3.3 Die Kritik W.Pannenbergs an der reformatorischen Zentralstellung der Sündenvergebung 74 2.4.4 Zusammenfassung 76 2.5 Die Konsequenzen der Sündenvergebung für die Kirche Jesu Christi
77
2.6 Die Sündenvergebung - „in alle Kreaturen gesteckt" und auf die eschatologische Vollendung ausgerichtet
82
3. Sündenerkenntnis und Sündenvergebung als Wirkung von Gesetz und Evangelium 87 3.1 Einführung
87
3.2 Das Erste Gebot als Forderung und Verheißung
87
3.3 Der Dekalog zwischen lex naturae und Bergpredigt
89
3.4 Der usus theologicus legis 3.4.1 Sündenerkenntnis - Selbsterkenntnis Christuserkenntnis 3.4.2 W.Pannenberg zur Bedeutung und Zuordnung von Gesetz und Evangelium bei Paulus und Luther
92 92 97
3.5 Theologische oder empirische Sündenerkenntnis?
101
3.6 Sündenvergebung als Grund der Sündenerkenntnis
106
3.7 Der sachgemäße Umgang mit Sünde: Erkenntnis Bekenntnis - Vergebung
108
4. Die Vermittlung der Sündenvergebung durch Wort und Sakrament
111
4.1 Einfuhrung
111
4.2 Verkündigung und Gottesdienst 4.2.1 Die Zueignung der Sündenvergebung im Gottesdienst
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Inhalt 4.2.2 Sündenvergebung im Gottesdienst als Problem: J.Stalmanns „Vorwort" zu P.Brunners „Lehre vom Gottesdienst" 4.2.3 Die Aufgabe einer Lehre vom Gottesdienst 4.2.4 Die Bedeutung der Sündenvergebung im Gottesdienst 4.2.5 Die Gestalt von Schuldbekenntnis und Sündenvergebung in neueren Agenden und Gottesdienst-Entwürfen 4.2.6 C.Gestrichs Überlegungen zur Erneuerung der Predigt 4.2.7 Zusammenfassung und Fazit
9
114 117 118 124 130 132
4.3 Taufe 4.3.1 Die Zueignung der Sündenvergebung in der Taufe 4.3.2 Die Rolle der Sündenvergebung in neueren Gestaltungsformen der Taufe 4.3.3 Zusammenfassung und Fazit
133 133
4.4 Abendmahl 4.4.1 Die Zueignung der Sündenvergebung im Abendmahl 4.4.2 Markierungspunkte in der Gestaltung des Abendmahls seit 1945 4.4.3 Die Rolle der Sündenvergebung in neueren Gestaltungsformen des Abendmahls 4.4.3.1 Sündenvergebung als Engführung 4.4.3.2 (Wieder-)Entdeckung der „Tiefendimensionen" des Abendmahls 4.4.3.3 Bemühung um Aufnahme der Sündenvergebung in neueren Abendmahlsformen 4.4.3.3.1 Eingliederung des Sündenbekenntnisses in die Eingangslitanei 4.4.3.3.2 Eingliederung des Sündenbekenntnisses in die Fürbitten 4.4.3.3.3 Abendmahlsfeier als erster Teil des Gottesdienstes 4.4.3.3.4 Sündenvergebung im Gegenüber von „Lobpreis und Weltverantwortung" sowie „Kommunion und Kommunikation" 4.4.3.3.5 Sündenvergebung als Entlastung 4.4.3.3.6 remissio und actio: Abendmahl als Stärkung fur den „langen Marsch" 4.4.3.3.7 Sündenvergebung als „Reinigung" und .Aufrichtung" 4.4.4 Zusammenfassung und Fazit
139 139
155 157
4.5 Beichte 4.5.1 Die Beichte als evangelisches Grundanliegen
161 161
136 139
142 144 144 145 146 146 146 147
148 151 154
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Inhalt 4.5.2 Die Beichte im Spannungsfeld von Seelsorge und Psychotherapie 4.5.3 Die Erfahrungsdimension von Beichte und Absolution 4.5.4 Die Beichte im sozialpsychologischen Kontext der Gegenwart 4.5.5 Zusammenfassung und Fazit
5. Christliches Leben als Leben aus der Sündenvergebung
165 167 171 173
175
5.1 Einführung
175
5.2 Die Grundlagen des Lebens aus der Sündenvergebung 5.2.1 Befreiung aus der Gewalt von Gesetz, Sünde, Tod und Teufel als Eröffnung christlichen Lebens 5.2.2 Christliches Leben als Leben aus der Taufe 5.2.3 Christliches Leben als Empfangen und Gewähren von Vergebung
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5.3 Der Kontrast: Säkulare Formen der Schuldbewältigung 5.3.1 Die Ausgangslage: Der Mensch vor der absoluten gnadenlosen Anklage 5.3.2 Die Substituierung des Begriffs „Schuld" 5.3.3 Ent-Schuldigung durch Be-Schuldigung 5.3.4 Aufhebung von Normen 5.3.5 Verweigerung von Schulderkenntnis 5.3.6 Deutung von Schuld als Schuldgefühle 5.3.7 Ausbruch in die Unbelangbarkeit. 5.3.8 Die anhaftende Schuld und ihre Folgen
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5.4 Konsequenzen eines Lebens aus der Sündenvergebung 5.4.1 Vorbemerkung 5.4.2 παρρησία gegenüber Gott 5.4.2.1 Gebet 5.4.2.2 Vertrauen statt Sorge 5.4.2.3 Zuversicht statt Zukunftsangst 5.4.3 Offenheit gegenüber dem Nächsten
195 195 196 196 197 198 199
6. Sündenvergebung als mehrdimensionale Realität
181 184 186 188 190 191 192 194
203
6.1 Sündenvergebung als gegenwärtige Wirklichkeit des Heils
203
6.2 Sündenvergebung als umfassende Wirklichkeit des Heils
205
6.3 Der Zweifel an der Wirklichkeit der Sündenvergebung
207
Inhalt 6.4 Sündenvergebung als eschatologische Wirklichkeit
11 210
6.5 Sündenvergebung als Wirklichkeit des Glaubens und Lebens ....212 6.6 Sündenvergebung als entscheidende Wirklichkeit kirchlichen Handelns
213
6.7 Sündenvergebung als entscheidende Wirklichkeit theologischer Verantwortung 216
Epilog: Geistliche Besinnung
219
Literaturverzeichnis
223
Bibelstellenregister
251
Personenregister
255
1. Einführung
1.1 Grund, Auftrag und Vollmacht der Sündenvergebung Mit der Gründung der Kirche Jesu Christi ist ihr von ihrem Herrn der Auftrag zur Sündenvergebung anvertraut. Der Auferstandene verleiht seinen Jüngern den Heiligen Geist und bevollmächtigt sie zugleich dazu, Sünden zu vergeben und zu behalten (Joh 20,22f.). Damit wird das Herrenwort an Petrus (Mt 16,18f.) und an den gesamten Jüngerkreis (Mt 18,18) bestätigt. Der Bau der christlichen Gemeinde auf den Grund der Apostel und Propheten (vgl. Eph 2,20) ist damit im Auftrag ihres Herrn als dem alleinigen Grundstein (l.Kor 3,11) gegründet. Zu den zentralen Kennzeichen ihres Wesens gehört somit das „Schlüsselamt", der Zuspruch (bzw. die Verweigerung) der Sündenvergebung als Entscheidung in der Zeit mit seiner Wirkung im Gericht Gottes, d.h. in der Ewigkeit. Die Vollmacht, Sünden zu vergeben, die Jesus an seine Jünger übertragen hat, hat er zuvor für sich selbst in Anspruch genommen. Sie kennzeichnet seine Wirksamkeit in besonders nachdrücklicher Weise und gehört zugleich zu den umstrittensten Merkmalen seines Auftretens. Diese Vollmacht steht im Zentrum einer der ersten Heilungserzählungen des Markusevangeliums. Jesus wendet sich an den Gelähmten mit den Worten: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben." (Mk 2,5). Die Reaktion der Schriftgelehrten macht sofort deutlich, daß hier ein Eingriff in die Souveränität Gottes erfolgt, den sie als Gotteslästerung deuten. Das Heilungswunder beglaubigt jedoch Jesu Vollmacht zur Sündenvergebung. In der Matthäusparallele wird neben dem Entsetzen das Gotteslob dahingehend zum Ausdruck gebracht, daß Gott als der gepriesen wird, „der solche Macht den Menschen gegeben hat" (Mt 9,8). Im Wort des Auferstandenen wird der Zusammenhang zwischen der Sündenvergebung Jesu und der an seine Jünger übertragenen Vollmacht unübersehbar hergestellt: „So steht's geschrieben, daß Christus leiden wird und auferstehen von den Toten am dritten Tage; und daß gepredigt wird in seinem Namen Buße zur Vergebung der Sünden unter allen Völkern" (Lk 24,46f.). Daß die christliche Kirche in dem Sinne „Heilsanstalt" ist, daß in ihr Sünde im Namen, d.h. in der Vollmacht, Jesu Christi vergeben und so Gottes Vergebung dem Menschen wirkmächtig zugeeignet wird, kennzeichnet die Kirche von ihrem Anfang an durch alle Zeiten hindurch. Hierin ist ihr vermittelt durch Wort und Sakrament - das eigentliche Wunder, das
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Einfuhrung
„Schwerere" anvertraut, das vor allen anderen möglichen und nötigen Aktivitäten Gewicht hat; denn darin eröffnet (oder verschließt) sich der einzige Weg zur Gemeinschaft mit dem heiligen Gott, der sich im Endgericht zum Zuspruch (oder zur Verweigerung) der Sündenvergebung seiner Kirche bekennen wird. Handelt es sich demnach beim Thema der Sündenvergebung um die zentrale Aufgabe der christlichen Kirche, die ihr von ihrem auferstandenen Herrn aufgetragen wurde, so hat sie sich stets zu fragen, ob sie diesem Auftrag entspricht. Grund und Maßstab dafür ist Gebot und Verheißung Jesu Christi, wodurch er sie in seinem Auftrag bindet und ihr zugleich die Geltung dieses pneumatischen Geschehens zusichert. Insofern hat sich die Kirche an der von ihr zugesprochenen Sündenvergebung und deren theologischer Verantwortung als Kirche Jesu Christi zu erweisen.
1.2 Sündenvergebung im Kontext verwandter Fragestellungen Das Thema „Sündenvergebung" ist Teil des umfassenden Bereichs „Heil und Erlösung" und bildet damit das Zentrum des christlichen Glaubens. Aus dieser Stellung ergibt sich eine Fülle möglicher Querverbindungen, die im folgenden anhand von einigen Literaturhinweisen wenigstens angedeutet werden sollen. Die schlichte Tatsache, daß der Begriff „Sündenvergebung" ein Kompositum darstellt, erklärt, warum das Interesse dabei grundsätzlich in zwei verschiedene Richtungen gelenkt werden kann: in die Richtung der Sünde oder in die der Vergebung. Bei der Frage, was denn vergeben wird, kommt die Hamartiologie mit ihren vielfaltigen Aspekten in den Blick; in jüngerer Zeit wird ihr erneut besondere Aufmerksamkeit gewidmet1. Daran schließen sich Bemühungen um die Unterscheidung zwischen „Sünde" (als verfehltem Gottesverhältnis) und „Schuld" (als verfehltem zwischenmenschlichen Verhältnis) an2. Mit dem Exemplarisch ist hier die Habilitationsschrift von C.Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei August Tholuck, Julius Müller, Sören Kierkegaard und Friedrich Schleiermacher, BHTh 94, Tübingen 1996, oder auch der Sammelband „Sünde. Ein unverständlich gewordenes Thema" (hg. v. S.Brandt u.a.), Neukirchen-Vluyn 1997, zu nennen. Vgl. auch G.Wenz, „Vom Unwesen der Sünde. Subjektivitätstheoretische Grundprobleme neuzeitlicher Hamartiologie dargestellt unter besonderer Berücksichtigung der Sündenlehre von Julius Müller", KuD 30 (1984), 298-329. 2 So z.B. C.Gestrich, Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt. Die christliche Lehre von der Sünde und ihrer Vergebung in gegenwärtiger Verantwortung, Tübingen, 2., verb. Auflage 1996, 246; vgl. auch G.Condreau/F.Böckle, „Schuld und Sünde", CGG 12, Freiburg u.a. 1981, 9 1 - 1 3 5 , mit einer Übersicht über psychoanalytische, anthropologische und daseinsanalytische Deutungen von Schuld und Sünde; H.Schwarz, Im Fangnetz des Bösen. Sünde - Übel - Schuld, Göttingen 1993; M.Sievernich, Schuld und Sünde in der Theologie der Gegenwart, FTS 29, Frankfurt 2 1983; D.Mieth, „Wieweit kann man ,Schuld' und .Sünde' trennen?", ThQ 160 (1980), 184-191.
Sündenvergebung im Kontext verwandter Fragestellungen
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Stichwort „Schuld" verbinden sich höchst vielfältige Überlegungen. Sie betreffen im sozialen Bereich z.B. Strafrecht und Strafvollzug 3 . Im politischen U m f e l d wird die Frage nach der Schuld gegenwärtig vor allem im Blick auf den Zerfall des SED-Staates gestellt 4 . D i e s geschieht vor dem Hintergrund der Bemühung, die aus der Zeit des Nationalsozialismus erwachsene „Schuld in der Geschichte" 5 zu erkennen und zu beschreiben. 6 Außerhalb Europas wird nach Schuld im Zusammenhang mit der Apartheidspolitik oder der Verletzung v o n Rechtsstaatlichkeit z.B. in Lateinamerika gefragt, wobei das Stichwort „strukturelle Sünde" eingebracht wird 7 ; nicht selten wird da-
3 Vgl. J.Peters, „Die Funktion der Vergebung in sozialen Beziehungen", Conc(D) 22 (1986), 83-88; M.Sievernich, „Die .soziale Sünde' und ihr Bekenntnis", Conc(D) 23 (1987), 124-131, oder auch: Religionspädagogische Projektentwicklung Norddeutschland (Hg.), Vergeltung und Vergebung (Feindesliebe im Strafvollzug?), rp-modelle 5, Frankfurt 2 1974. 4 Vgl. dazu: H.M.Harder, „Recht oder Vergebung?", in: Evang. Akademie Mühlheim/Ruhr, Recht und Vergebung. Umgang mit der Schuld unserer Geschichte angesichts der SED-Verbrechen (als Manuskript gedruckt), Mühlheim/Ruhr 1992, 85-93; E.Obendiek, „Recht oder Vergebung", in: Evang. Akademie Mühlheim/Ruhr, a.a.O. 94100; E.Neubert, Vergebung oder Weißwäscherei. Zur Aufarbeitung des Stasiproblems in den Kirchen, HerBü 1785, Freiburg 1993. 5 Mit ausdrücklichem Bezug auf den „Historikerstreit": E.Herms, „Schuld in der Geschichte. Zum ,Historikerstreit'", in: Ders., Gesellschaft gestalten. Beiträge zur evangelischen Sozialethik, Tübingen 1991, 1-24; vgl. auch J.Schwarz, „Nach Auschwitz leben Aspekte einer moralischen Geschichtsschreibung", ZEE 28 (1984), 187-204; J.Mehlhausen, „Die Wahrnehmung von Schuld in der Geschichte. Ein Beitrag über frühe Stimmen in der Schulddiskussion nach 1945", EvTh 54 (1994), 201-219. M.Beintker, „Das Erbe verleugneter Schuld. Eine theologische Überlegung", KZG 2 (1989), 283-289. 6 Vgl. zum Stichwort „Stuttgarter Schuldbekenntnis": G.Besier, G.Sauter, Wie Christen ihre Schuld bekennen. Die Stuttgarter Erklärung 1945, Göttingen 1985; M.Greschat (Hg.), Im Zeichen der Schuld. 40 Jahre Stuttgarter Schuldbekenntnis. Eine Dokumentation, Neukirchen-Vluyn 1985; H.Traub, „Das Stuttgarter Schuldbekenntnis und was daraus wurde", GILern 1 (1986), 131-140; G.Besier, .„Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden ...'. Schulderkenntnis und Schuldbekenntnis in der Geschichte unseres Jahrhunderts", GILern 1 (1986), 120-129; K.Haacker, „Schuld und Schuldverarbeitung in biblischer Sicht und im Kontext deutscher Zeitgeschichte", ThBeitr 19 (1988), 230-250; M.Beintker, „Schuld und Verstrickung in der Neuzeit", JBTh 9 (1994), 219-234; Ders., „Neuzeitliche Schuldwahrnehmung im Horizont der Rechtfertigungsbotschaft", in: M.Beintker (Hg.), Rechtfertigung und Erfahrung. FS G.Sauter zum 60. Geburtstag, Gütersloh 1995, 137-152. 7 Vgl. H.-K.Hofinann, Südafrika: Widerstand und Vergebung. Auf dem Weg zur Überwindung der Apartheid. Darstellung und Dokumente, BTb 414, Wuppertal 1987; Heft 2/1986 von Conc(D) trägt den Titel „Versöhnung in einer unversöhnten Welt" und enthält etwa: J.Sobrino, „Lateinamerika: Ort der Sünde, Ort der Vergebung", Conc(D) 22 (1986), 111-119; F.Gentiloni/J.R.Regidor, „Die politische Dimension der Vergebung. Eine Erfahrung, die neuerdings in Italien gemacht wurde", Conc(D) 22 (1986), 96-103; vgl. auch: D.Sölle, „Vergebung der Sünden. Eine Predigt", WPKG 60 (1971), 1-4.
16
Einfuhrung
mit die Frage nach der Möglichkeit der Vergebung verbunden.8 Daneben wird der Zusammenhang von „Schuld und Strafe" bzw. „Schuld und Versöhnung" bedacht', der z.B. in der Debatte um die Aussöhnung mit Israel und den osteuropäischen Völkern von wesentlicher Bedeutung ist. In welcher Weise das Kirchenrecht aus dem Blickwinkel der Vergebung zu sehen ist, macht z.B. eine Untersuchung über das kirchliche Straf- und Disziplinarrecht unter dem Titel „Zwischen Vergebung und Vergeltung"10 deutlich. Ein weiterer Bereich umfaßt die Thematisierung von Schuld und Vergebung in der Literatur". Zu erinnern ist schließlich an die vielschichtige Behandlung von Schuld (und Vergebung) in den Humanwissenschaften, besonders in Psychologie, Philosophie, Pädagogik12. Verfolgt man den Terminus „Sündenvergebung" nach der Seite der Vergebung hin, so tritt dabei das Miteinander und Ineinander verschiedener „Heilsbegriffe" zutage. M.Seils versucht, in den jeweiligen Epochen der Kirchengeschichte einzelne Schwerpunkte zu unterscheiden und eine Zuordnung von Begriff und ihm entsprechendem Zeitalter zu skizzieren: Der umfassende Vorgang „Heil" wurde unter dem Aspekt „Erlösung" im Sinne der „auslösenden Befreiung", unter „Versöhnung" als „verzeihender ZusammenVgl. W.Krusche, Schuld und Vergebung - Der Grund christlichen Friedenshandelns (Aktion Sühnezeichen u.a.), Berlin 1985. 9 Vgl. J.Gründel, „Strafen und Vergeben", CGG 13, Freiburg u.a. 1981, 121-160; Ders., „Schuld - Strafe - Versöhnung aus theologischer Sicht", in: A.Köpcke-Duttler (Hg.), Schuld - Strafe - Versöhnung, Mainz 1990, 93-116. von R.P.de Mortanges, Rechtsvergleichende Untersuchungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft 3/23, Baden-Baden 1992; vgl. auch A.Stein, „Schuld und Vergebung im kirchlichen Amtsrecht", EvTh 36 (1976), 85-94; die rechtlichen Bestimmungen der Bevollmächtigung zum Hören der Beichte im neuen CIC behandelt M.Gorka, Natura della „facultas ad confessiones excipiendas", Rom 1992. 11 Vgl. J.Imbach (Hg.), Nachdenken über Schuld. Texte von zeitgenössischen Schriftstellern, Zürich 1989, mit einem Kapitel unter der bezeichnenden Überschrift „Entschuldigungsgeschichten" (a.a.O. 45fF.); E.Jooß, „Schuld und Vergebung in der Kinderund Jugendliteratur", in: M.Göcking, H.-J.Eckhold (Hg.), Spurensuche. Religion in der Kinder- und Jugendliteratur 2: Schuld - Sühne - Vergebung, Annweiler u.a. 1991, 55-84. 12 Vgl. die Beiträge in: W.Bitter (Hg.), Angst und Schuld in theologischer und psychotherapeutischer Sicht, Stuttgart '1971; K.Rahner, „Schuld und Schuldvergebung als Grenzgebiet zwischen Theologie und Psychotherapie", in: Ders., Schriften zur Theologie II, Einsiedeln u.a. 3 1958, 279-297; W.Lauer, Schuld - das komplexe Phänomen. Ein Vergleich zwischen schicksals- und daseinsanalytischem Schuldverständnis im Lichte christlicher Ethik, ESt NF 6, Kevelaer o.J. [1971]; sowie den ersten Teil der Monographie „Le pardon transfigure" von J.Laffitte (Paris 1995) unter der Überschrift „Humanite du pardon" (a.a.O. 19-137); dieses Werk bietet außerdem reiches Material zum Thema „Sünde und Vergebung" im französischen Sprachraum; vgl. auch G.Krause, „Vergebung ohne Schuld? Vorüberlegungen zur christlichen Rede von Schuld und Vergebung", EvTh 36 (1976), 5 3 72; Η .Schmidt, , „Schuld und Vergebung' im Religionsunterricht", GILern 1 (1986), 153— 166.
Sündenvergebung im Kontext verwandter Fragestellungen
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fuhrung", unter „Genugtuung" als „aufopferndem Zurechtbringen", unter „Rechtfertigung" als „schenkendem Freigesprochenwerden" gedeutet. Dabei war „Erlösung" bestimmend für die Soteriologie des patristischen Altertums, „Genugtuung" fur die des scholastischen Mittelalters, „Rechtfertigung" für die der Reformation und „Versöhnung" für die des 19. und 20. Jahrhunderts.13 Gleichwohl findet sich die Diagnose, daß „abgesehen von der .Heilsaneignung' ... wohl auf keinem Gebiete der Dogmatik von Alters [sie] her die terminologische Verwirrung so groß [ist], wie auf dem unseres Themas"14, d.h. bei der Frage nach Versöhnung und Erlösung. Dies hängt u.a. damit zusammen, daß sehr unterschiedliche theologische Ansätze im Rahmen der überkommenen Begrifflichkeit zum Ausdruck gebracht werden.15 Umfangreiche theologiegeschichtliche Untersuchungen über Versöhnung bzw. Rechtfertigung bemühen sich um die erforderliche Klärung16. Ein weites Feld eröffnet sich, wenn man die breite exegetische Diskussion um Jesu Tod, Sühne und Versöhnung in den Blick nimmt und dabei ihre Auswirkungen für die kirchliche Verkündigung verfolgt17. Im Zuge der 13
Vgl. M.Seils, „Heil und Erlösung, IV. Dogmatisch", TRE 14, 622-637; hier: 623; vgl. auch P.Engelhardt, „Versöhnung und Erlösung", CGG 23, Freiburg u.a. 1982, 127161; G. Greshake, „Glück und Heil", CGG 9, Freiburg u.a. 1981, 101-146. 14 H.Stephan, Die Lehre Schleiermachers von der Erlösung, Tübingen/Leipzig 1901, 7; zit. bei G. Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit I, MMHST 9, München 1984, 29. 15 M.Kähler konstatiert in der Behandlung des Versöhnungsgeschehens seit der Aufklärung eine „vielseitige Bewegung ..., welche zur Auflösung der bisherigen Lehrweise nach Inhalt und Form führte; und zwar bediente sie sich zunächst zur Beseitigung des Inhaltes noch derselben Terminologie wie die angefochtene Dogmatik." {M.Kähler, „Das Wort,Versöhnung' im Sprachgebrauche der kirchlichen Lehre", in: Ders., Zur Lehre von der Versöhnung, Gütersloh 1937, 1-38, hier: 23); vgl. Wenz, Geschichte I, a.a.O. 26. 16 Neben den oben genannten Arbeiten von Wenz und Kähler vgl. z.B. J.Baur, Salus Christiana. Die Rechtfertigungslehre in der Geschichte des christlichen Heilsverständnisses I, Gütersloh 1968; H.-P.Göll, Versöhnung und Rechtfertigung. Die Rechtfertigungslehre Martin Kählers, Gießen 1991. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Arbeiten von F.C.Baur, Die christliche Lehre von der Versöhnung in ihrer geschichtlichen Entwicklung von der ältesten Zeit bis auf die neueste, Tübingen 1838, und A.Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung I III, Bonn 4 1895 (Nachdr. Hildesheim 1978). 17 Vgl. H.Gese, „Die Sühne", in: Ders., Zur biblischen Theologie. Alttestamentliche Vorträge, Tübingen 3 1989, 85-106; B.Janowski, Sühne als Heilsgeschehen. Studien zur Sühnetheologie der Priesterschrift und zur Wurzel KPR im Alten Orient und AT, WMANT 55, Neukirchen-Vluyn 1982; die Beiträge in JBTh 9, Neukirchen-Vluyn 1994, unter dem Titel „Sünde und Gericht"; H.Kessler, Die theologische Bedeutung des Todes Jesu. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung, Düsseldorf 2 1971; P.Stuhlmacher, „Zur Predigt am Karfreitag", in: Th.Sorg/P.Stuhlmacher, Das Wort vom Kreuz. Zur Predigt am Karfreitag, ctb 52, Stuttgart 1996, 11-49. Einen Eindruck von den aktuellen Konsequenzen der Fragen um Sühne und Versöhnung liefert u.a. der Aufsatz von J. Vollmer, „Zur Deutung des Todes
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Einfuhrung
ökumenischen Bemühungen um die Beseitigung der Lehrverurteilungen aus dem 16.Jahrhundert wird das Thema der Sündenvergebung innerhalb der Rechtfertigungs- und der Sakramentenlehre berührt18. Eine eigenständige Thematik stellt daneben die Diskussion um eine Reform des Beichtinstituts innerhalb der römisch-katholischen Kirche dar, die 1983 von einer Bischofssynode unter dem Thema „Versöhnung und Buße in der Sendung der Kirche" erörtert wurde19. Das Stichwort „Versöhnung innerhalb der Liturgie" eröffnet einen weiteren Themenbereich.20
Jesu" (DtPfrBl 97 [1997], 119-122) mit einer scharfen Kritik an Stuhlmacher, und die sich daran anschließende Debatte in DtPfrBl 97 (1997), 282-294. 18 Vgl. K.Lehmann, W.Pannenberg (Hg.), Lehrverurteilungen - kirchentrennend? I, DiKi 4, Freiburg/Göttingen 3 1986, sowie die Reaktionen von J.Baur, Einig in Sachen Rechtfertigung?, Tübingen 1989; D.Lange (Hg.), Überholte Verurteilungen?, Göttingen 1991, H.G.Pöhlmann, „Trennt die Rechtfertigungslehre wirklich noch die Konfessionen?", in: H.Schütte (Hg.), Einig in der Lehre von der Rechtfertigung, Paderborn 1990, 9-42; U.Kühn/O.H.Pesch, Rechtfertigung im Disput. Eine freundliche Antwort an J.Baur, Tübingen 1991; vgl. auch die Untersuchung von G.Martens, Die Rechtfertigung des Sünders - Rettungshandeln Gottes oder historisches Interpretament? Grundentscheidungen lutherischer Theologie und Kirche bei der Behandlung des Themas „Rechtfertigung" im ökumenischen Kontext, FSÖTh 64, Göttingen 1992. Der gegenwärtige Stand der Verhandlungen wird dokumentiert und kommentiert in: Lutherischer Weltbund, Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Ein Kommentar des Instituts für Ökumenische Forschung, Straßburg o.J. [1997]; vgl. dazu die Ausführungen von E.Jüngel, „Um Gottes willen - Klarheit! Kritische Bemerkungen zur Verharmlosung der kriteriologischen Funktion des Rechtfertigungsartikels - aus Anlaß einer ökumenischen .Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre'", ZThK 94 (1997), 394-406; vgl. jetzt außerdem Ders., Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen 1998. 19 Im Hintergrund steht u.a. ein Rückgang der Beichthäufigkeit nach 1945 (z.B. im Bereich des deutschsprachigen Raumes) und die sich verbreitende Alternative von Bußgottesdiensten mit gemeinsamer Beichte. Auf diese Weise entstand die Frage, welche Bedeutung der verpflichtenden Einzelbeichte nun zukam. Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Apostolisches Schreiben im Anschluß an die Bischofssynode RECONCILIATIO ET PAENITENTIA (2.12.1984, AAS 77, 1985, 185-275), VApS 60; vgl. dazu die exegetischen, dogmengeschichtlichen und dogmatischen Erwägungen bei P.Schäfer, Buße - Beichte - Vergebung, St.Ottilien 1987; C.Dooley, „Die Bischofssynode von 1983 und die,Krise der Beichte'", Conc(D) 23 (1987), 100-106, sowie insgesamt Heft 2 von Conc(D) 23 (1987), 91-173; F.Breid (Hg. im Auftrag des Linzer Priesterkreises), Buße - Umkehr. Formen der Vergebung, Steyr 1992; A.K.Ruf, „Vergebung oder Versöhnung? Theologische Perspektiven zur Neuordnung des Bußsakramentes", in: Ders. (Hg.), Sünde, Buße, Beichte. Werkbuch für die Verkündigung, Regensburg 1976, 127-134. Vgl. auch die pastorale Schrift von Erzbischof J.J.Degenhardt, Sündenvergebung im Bußsakrament, Worte zur Zeit 19, Paderborn 1989. Noch vor der Bischofssynode hat H.P.Arendt eine ausführliche Studie unter dem Titel „Bußsakrament und Einzelbeichte. Die tridentinischen Lehraussagen über das Sündenbekenntnis und ihre Verbindlichkeit für die Reform des Bußsakramentes" (FThSt 123, Freiburg 1981) vorgelegt. Vgl. auch J.Schumacher, „Theologiegeschichte des Bußsakramentes", in: F.Breid (Hg.), Buße, a.a.O.
Aufgabenstellung und Methodik
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Nach dieser Skizze des Umfeldes hat die Abgrenzung und Klärung der Aufgabenstellung für die vorliegende Untersuchung zu erfolgen.
1.3 Aufgabenstellung und Methodik Wer nach Sündenvergebung in Kirche, Theologie oder Gesellschaft fragt, bekommt eine zwiespältige Situation zu Gesicht: Einerseits ist die Vergebung der Sünden in den zentralen Vollzügen der christlichen Gemeinde gegenwärtig (Gottesdienst, Abendmahl, Beichte - letztere als Einzelbeichte überwiegend in der römisch-katholischen Kirche); sie wird theologisch bearbeitet21 und tritt vereinzelt - dafür aber besonders einprägsam - auch gesellschaftlich zutage22. Andererseits ist nicht zu verkennen, daß Vergebung sowohl innerkirchlich als auch vor allem im außerkirchlichen Bereich kaum eine bemerkenswerte Rolle einnimmt. Wer sich auf die Suche nach Sündenvergebung begibt, wird dem Urteil G.Ebelings zustimmen müssen: Wie seine nichtchristlichen Zeitgenossen lebt auch der Christ im allgemeinen in einer Umwelt, „die weder die Sprache besitzt, Sünde auszusprechen, noch Orte der Vollmacht, um von Sünde loszusprechen, und die darüber hinaus beides nicht zu vermissen scheint."23 Erschwerend kommt hinzu, daß auch innerhalb der christlichen Kirche die Sündenvergebung an den Rand gedrängt wird: Die Zentralstellung der Sündenvergebung vermittle etwa der Abendmahlsfeier eine „düstere Stimmung"; sie lähme das eigene Engage-
137-190; D.Borobio, „Das tridentinische Modell des Sündenbekenntnisses in seinem geschichtlichen Kontext", Conc(D) 23 (1987), 107-117. Vgl. außerdem die Studie von K.Adam, Die kirchliche Sündenvergebung nach dem hl. Augustin, FChLDG 14, Paderborn 1917. Das „28. Simposio de Teologia Trinitaria" legte seine Ergebnisse unter dem Titel „Dimensiön Trinitaria de la Penitencia", SEstTrin 28, Salamanca 1994, vor. 20 Das erste Heft von StLi 18 (1988) enthält Referate vom 1 l.Kongreß der Societas Liturgica unter dem Thema „A Worshipping Church, Penitent and Reconciling". Vgl. auch D.Borobio, „Dimensiön litürgica de la Penitencia. Relaciön de la ,lex orandi - lex credendi' en el sacramento de la reconciliacion penitencial", in: Dimensiön Trinitaria de la Penitencia, a.a.O. 225-270. QD 124 (1990) (hg. v. H.Heinz u.a.) trägt den Titel „Versöhnung in der jüdischen und christlichen Liturgie" und dokumentiert Vorträge des „BronsteinKolloquiums", das als Thema „Atonement in Liturgy - Die Versöhnung in der Liturgie" gewählt hatte (vgl. a.a.O. 7); vgl. dazu auch R.Gradwohl, „Sünde und Vergebung im Judentum", Conc(D) 10 (1974), 563-567, sowie J.Maier, „Sühne und Vergebung in der jüdischen Liturgie", JBTh 9 (1994), 145-171. 21 Vgl. dazu zunächst die in 1.2. genannten Arbeiten. 22 Laffitte nennt u.a. das Beispiel der Tochter des früheren italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro, die den zwei Attentätern ihres Vaters Vergebung gewährte: Laffitte, a.a.O. 10. 23 G.Ebeling, „Theologie zwischen reformatorischem Sündenverständnis und heutiger Einstellung zum Bösen", in: Ders., Wort und Glaube III, Tübingen 1975, 197.
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ment; sie stelle eine Engführung des im Evangelium angebotenen Heils dar.24 D e m Widerspruch aus den kirchlichen Reihen korrespondieren Ablehnung oder Ironie innerhalb der säkularen Gesellschaft. Ob dies mit der inzwischen klassisch zu nennenden Formulierung „Pardonner c'est son metier"25 oder in der vulgären Weise eines Kinotitels w i e „Gott vergibt Django nie!" geschieht - im Hintergrund steht die (spöttische) Ablehnung des Versöhnungsgeschehens. J.G.Herder sieht darin das Werk der Religionsphilosophie, die aus den überkommenen alten Bildern ein begriffliches System zu konstruieren sucht - mit fatalen Folgen: „Da dichtet sie z.B. Eigenschaften Gottes zu Personificationen und verwickelt diese als Sultaninnen des himmlischen Sultans im Zwist. D a wird der alte Gott-Vater bald ein Blutdürstiger Leu, bald ein sauersehender Judex, endlich aber doch ein milder Pfalzgraf, der für gewonnenes Geld unwürdige Bastarde um Eines Echtgebohrnen willen alle summarisch an Kindes Statt aufnahm." 26 Gravierender als der Widerspruch von außen ist jedoch ein anderes Phänomen: W o die Kirche ihren Auftrag versäumt, Sündenvergebung vollmächtig zuzusprechen, rücken die verschiedensten Arten von Surrogaten in dieses Vakuum ein. D i e s läßt sich bei der Umgestaltung des Abendmahls 24
Vgl. unten 139.149, sowie Abschnitt 2.4.3 Ohne Quellenangabe sowohl Voltaire (z.B. von O. Weber, Grundlagen der Dogmatik II, Neukirchen-Vluyn 71987, 323.335), als auch H.Heine (H.Thielicke, Theologische Ethik I: Prinzipienlehre, Tübingen 51981, 184.190; sowie: Ders., Der Evangelische Glaube III: Theologie des Geistes, Tübingen 1978, 595) zugeschrieben. Vgl. auch D.Bonhoeffer, Nachfolge, Werke 4 (hg. v. M.Kuske, I.Tödt), München 21994, 179, Anm. 7. 26 J.G.Herder, Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen, 1798 (Ausgabe Suphan 20, Berlin 1880), 218. „Das größeste Unheil hätte er [sc. Jesus] seinem Geschlecht gebracht, wenn an seinem Kreuz jener göttliche Gerichtshof oder vielmehr jene Wechselbude errichtet worden wäre, die einzig nur von der frechsten Lehrmeinung hat errichtet werden mögen. Sie meynet, ,daß, als die personificirte Gerechtigkeit vor den alten GottVater getreten und Blut eines Unschuldigen gefordert, er zwar wider Willen seinen Sohn habe aufopfern müssen, sogleich aber Wechselschreiber bestellt, die auf ewig und immer allen Sündern und Sünderinnen, (vorzüglich aber den Reichen und Vornehmen,) Justificationsscheine, Erlaßbriefe, Gerechtigkeit, Trost und Heil durch Zurechnung ausfertigen. Zugleich habe er eine fortdauernde Zunft bestellt, diese Wechsel fernerhin anzuweisen. Dadurch dann sei der sauren Gerechtigkeit vom alten Vater ein Streich gespielt, indem sie Eines Theils Contractmäßig habe zufrieden seyn müssen, Andern Theils sich als die grausamste Ungerechtigkeit selbst beschimpft habe. Dem Menschengeschlecht sei hiemit zwar auch kein Vortheil geschehen: denn es bekomme kein wirkliches sondern lauter zugerechnetes Heil·, desto freudiger aber habe der Vater seinen Sohn wieder erhalten. In der Stille habe er ihn aufgeweckt, (wogegen die saure Gerechtigkeit und die spröde Heiligkeit nichts einwenden mögen) und lasse ihn jetzt in alle Ewigkeit hin die falschen Assignationen der Sünder und Sünderinnen, vorzüglich der Reichen und Vornehmen, acceptiren.'" (a.a.O. 172f.); vgl. dazu: A.Peters, „Rechtfertigung in Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung", in: O.H.Pesch, A.Peters, Einfuhrung in die Lehre von Gnade und Rechtfertigung, Darmstadt 3 1994, 222-264, hier: 259. 25
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zum „happening" oder bei der Verkehrung der Beichte in das „outing" im Rahmen einer Talkshow besonders krass beobachten, kann aber auch in Predigt, Gottesdienstgestaltung oder Seelsorge aufgewiesen werden. Damit zeichnen sich die Umrisse der uns gestellten Aufgabe ab: Den Ausgangspunkt bildet die „Vollmacht, die Gott den Menschen gegeben hat". Dabei handelt es sich um die pneumatische Wirklichkeit der Sündenvergebung, die sich im Handeln Jesu erweist und mit der er seine Jünger und damit seine Kirche beauftragt. Daher fragen wir nach dieser Wirklichkeit als dem grundlegenden Geschehen der christlichen Kirche, suchen den Ort dieses Geschehens in den unterschiedlichen Bezügen von Glaube, Theologie und kirchlichem Handeln auf, bemühen uns um die Einbeziehung des gegenwärtigen „Kontextes" und zeigen die Bedeutung der Sündenvergebung als mehrdimensionaler Realität und umfassender Wirklichkeit für die christliche Kirche zu allen Zeiten auf. Daraus ergibt sich folgende Grundthese, die zu exemplifizieren und zu verifizieren ist: An der Art und Weise theologischer Entfaltung und kirchlicher Verwaltung der Sündenvergebung entscheidet sich, ob Theologie (und das von ihr verantwortete Handeln) evangelisch, d.h. apostolisch und katholisch ist. Die Sündenvergebung stellt somit gewissermaßen den „Probierstein"21 für die Identität von Kirche und Theologie dar. Als Referenzrahmen für dieses Vorhaben werden Luthers Katechismen gewählt. Dies geschieht aus mehreren Gründen: Sie sind - zusammen mit den „Schmalkaldischen Artikeln" - Teil der Bekenntnisschriften und stellen somit neben und nach der Heiligen Schrift die Grundlage der evangelischen Landeskirchen dar. Die Katechismen beabsichtigen außer der dogmatischen Klärung insbesondere die Grundlegung des evangelischen Glaubens in die Breite der Kirche hinein.28 Somit wird 27 Vgl. Epit, Von dem summarischen Begriff 7, BSLK, Göttingen "1992, 769,24, wo die Qualität der Heiligen Schrift als ,,einige[r] Probierstein" zur Beurteilung aller Lehren bekräftigt wird. 28 In der Einleitung zur Konkordienformel wird daran erinnert, daß die „Schmalkaldischen Artikel" neben CA und Apologie Teil des „einhelligen Consens und Erklärung unsere christlichen Glaubens und Bekenntnus" darstellen, „von den fümehmsten Theologen domals unterschrieben." Daneben bilden die Katechismen „der Laien Bibel, dorin alles begriffen, was in Heiliger Schrift weitläufig gehandelt und einem Christenmenschen zu seiner Seligkeit zu wissen vonnöten ist." (Epit, Von dem summarischen Begriff 4f, BSLK, a.a.O. 768,25; 769,7). Außerdem mahnt Luther in einer Predigt wenige Tage vor seinem Tod, die vor allem den Umgang mit Sünde und Vergebung zum Thema hat: „Schicket euch, jr Christen, also, das jr nicht dencket, wir haben den Catechismum, Christum, die Sacrament, Tauff, Absolution gar aus gelernt und aus gegleubt, Jr habt erst angefangen und seid noch seer junge Schüler, Darumb dencket, das jr zunemet und wachset und fur und fur lernet, was da sey Christus, umb ewren willen gestorben, Also das solchs nicht auff der
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dadurch zugleich die pädagogische Verantwortung der Kirche für die biblisch-theologische Grunderziehung ihrer Glieder offenbar. Da der Katechismus die Basis für den kirchlichen Unterricht abgibt, läßt sich vor diesem Hintergrund die aktuelle Situation besonders gut profilieren. Als Zusammenfassung der Heiligen Schrift im Sinne der „Laien-Bibel" und damit für den „ABC-Schützen" gleichermaßen geeignet wie für den „Weisesten" - will der Katechismus den Zugang zur Heiligen Schrift eröffnen. In und mit ihm stellt sich damit auch immer die Frage nach dem sachgemäßen Umgang mit der Heiligen Schrift in der Kirche. Da in ihm die zentralen loci von Dogmatik und Ethik zum Ausdruck gebracht werden, ist von hierher notwendig das theologische Fachgespräch einzubeziehen. Vom Katechismus ausgehend weitet sich der Blick sowohl auf exegetische wie systematische und praktisch-theologische Fragen und nötigt im Einzelfall zum Bedenken von gewichtigen theologiegeschichtlichen Wandlungen. Angesichts der überaus vielfaltigen Querverbindungen, die sich aus dem Charakter der Themenstellung ergeben (vgl. die oben genannten Bezüge zu Themenbereichen wie „Sünde", „Strafe", „Gericht", „Rechtfertigung", „Versöhnung", „Sühne", „Heil", „Rettung") und auf allen Ebenen der Bearbeitung wirksam werden (Exegese; Theologiegeschichte; gegenwärtige Praxis von Gottesdienst, Abendmahl, Beichte; dogmatische Verantwortung dieser Praxis), muß es strikt darum gehen, die jeweils zentralen Linien zu verfolgen. Dies macht generell exemplarisches Arbeiten erforderlich. Detailfragen werden dort diskutiert, wo sie zur Illustration des Grundsätzlichen beitragen können. Dies bringt für die Einbeziehung der Schriftgrundlage notwendige Konsequenzen mit sich: Es kann weder Vollständigkeit der Belegstellen noch eine Erhebung des aktuellen Forschungsstandes angestrebt werden. BedeuZungen bleibe als der Schawm oder speichel, sondern ins hertz hinein dringe und gehe, das es euch getrost und frölich mache." (Predigt über Mt 13,24-30, 17.2.1546, WA 51,179,21); und: „Also haben wir gehört, wie wir uns drein schicken sollen, das die Sünden vergeben sind, also, auff das sie uns nicht verdammen sollen noch zugerechent werden, so ferne du dich dawider legest und auffs vleissigst lernest das Vater unser beten, den Glauben, die Zehen gebot, die Sacrament und die Tauffe verstehen, und je lenger je stercker werdest." (WA 51,182,13). Vgl. auch A.Peters, „Die Theologie der Katechismen Luthers anhand der Zuordnung ihrer Hauptstücke", LuJ 43 (1976), 7-35, der mit dem Urteil schließt: „Deshalb sind diese einfaltigen Worte, in denen das Gotteswort selber für Generationen zur nährenden Speise und zur schützenden Bleibe wurde, für die jungen Schüler nicht zu schwer und enthalten doch abgründige Geheimnisse, in denen ein gereifter Christ versinkt. Der Katechismus erschließt sich den ABC-Schützen und übersteigt die Einsicht der Weisesten um ein Unendliches, hierin hat er Anteil an Gottes Offenbarung." Vgl. auch die Begründung der Quellenwahl zur Darstellung des reformatorischen Bekenntnisses bei W.Härle, Dogmatik, GLB, Berlin 1995,160, Anm. 22.
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tungsvoller ist jedoch eine implizite hermeneutische Vorentscheidung: Der dreieinige Gott ist nicht nur Objekt der Heiligen Schrift, sondern in erster Linie redendes Subjekt. Im Zuspruch der Sündenvergebung hat es die Kirche mit dem Wort ihres Herrn zu tun. Es ist ihr gegeben als das wirkmächtige apostolische Wort, auf dem diese Kirche gründet. Alle exegetische Bemühung gewinnt ihre Bedeutung dadurch, daß sie auf das kraft des Heiligen Geistes wirksame Wort bezogen ist. Demgegenüber wäre es irreführend zu erwarten, allein durch exegetische Methodik aus einem fernen und dunklen Schriftenkonvolut Funken zur Erhellung unserer Gegenwart zu schlagen. Dann hätte menschliche „Bereitung" (CA V) zu erwirken versucht, was allein dem Heiligen Geist vorbehalten bleibt: durch das apostolische Wort das menschliche Herz zu erleuchten, der Sünde zu überführen und die Vergebung um Christi willen zuzueignen. Nur dann, wenn in aller Klarheit erkannt und festgehalten wird, daß der christlichen Gemeinde die Vollmacht zur Sündenvergebung durch das Wort Gottes aufgetragen und zugesagt ist, werden auch die Kriterien offenkundig, an denen aller Dienst der Gemeinde gemessen wird. Damit aber wird nicht allein die Begründung dieser der Gemeinde anvertrauten geistlichen Vollmacht erkennbar, sondern gleichermaßen auch ihre Begrenzung. Die sich daraus ergebende Bestimmung ihres Auftrags wird sie nur dort sachgerecht wahrnehmen, wo sie bleibend auf das Wort ihres Herrn hört und ihm gehorcht. Umfaßt für die Reformatoren der Zuspruch der Sündenvergebung nicht weniger als „Leben und Seligkeit", so ist sie für weite Bereiche der Christenheit heute zum Problem geworden. Dies wird gerade dort deutlich, wo die Kirche Sündenvergebung austeilt: In Gottesdienst, Abendmahl, Beichte. Ein Überblick über den Wandel der jeweiligen Gestaltungen wie auch ein Einblick in die Bemühungen um Neugestaltung sucht die Gründe für das Entschwinden der Sündenvergebung aus dem Zentrum an die Peripherie der kirchlichen Aufmerksamkeit zu erheben. Abschließend wird in einem eigenen Lösungsansatz aus den einzelnen Teilen insofern die Summe gezogen, als gegenwärtige kirchliche Praxis und theologische Verantwortung der Sündenvergebung im Licht von Schrift und Bekenntnis bedacht werden. Dabei hat sich der hier gewählte Ansatz zu bewähren: Unter Einbeziehung von Fragestellungen der Gegenwart ist Sündenvergebung als geistliche Wirklichkeit wahrzunehmen. Dies impliziert jedoch die Erkenntnis, daß nicht die gegenwärtigen Bedingungen über die Möglichkeit von Sündenvergebung (und der damit verbundenen „Erfahrung") entscheiden, sondern daß diese geistliche Wirklichkeit unsere empirische Wirklichkeit erhellt, korrigiert und neu schafft. Wo dies geschieht, ereignet sich Reformation der Kirche. Was P.Brunner im Blick auf die Reformation des Gottesdienstes ausfuhrt, gilt ebenso für die Wiedergewinnung der Sündenvergebung als dem zentralen Inhalt kirchlicher Verkündigung,
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christlichen Lebens und theologischer Verantwortung: „Das innere geistliche Wesen des Gottesdienstes ist durch das apostolische Urzeugnis, das uns im Neuen Testament (in dem ihm eigentümlichen Zusammenhang mit dem Alten Testament) gegeben ist, ein für allemal festgelegt, so gewiß, wie der sachliche Inhalt dessen, was der christliche Glaube glaubt und als Heilsbotschaft verkündigt, ein für allemal durch das gleiche apostolische Zeugnis normiert ist." „Alle wahrhaft geistliche renovatio ist eine restauratio von ursprünglich Gegebenem in einer neuen Situation. Mit restaurare ist sachlich gleichbedeutend instaurare. Omnia instaurare in Christo ist ein apostolisches Grundwort! Eine solche Wiederherstellung' ist gemessen an dem empirischen Dasein der Kirche gerade als restauratio ein Wurf in die Zukunft!"29
1.4 Die Bedeutung des Katechismus im Schnittpunkt von Glaube, Theologie und kirchlichem Handeln In der Vorrede zum Großen Katechismus (GK) stellt Luther nachhaltig die fundamentale Bedeutung einer beständigen Beschäftigung mit dem Katechismus heraus. Dabei verweist er auf sein eigenes Beispiel: Ich „lese und spreche auch von Wort zu Wort des Morgens, und wenn ich Zeit habe, das Vaterunser, zehen Gepot, Glaube, Psalmen etc. und muß noch täglich dazu lesen und studieren ... und muß ein Kind und Schüler des Katechismus bleiben und bleib's auch gerne."30 Gegenüber allen Hochmütigen, die sich über den Katechismus erhaben dünken, erinnert er daran, daß Gott selbst durch die Zeiten hindurch am Katechismus festhält und sich „nicht schämet, solchs täglich zu lehren, als der nichts Bessere wisse zu lehren, und immer solch einerlei lehret und nichts Neues noch anders fumimmpt, und alle Heiligen nichts Bessers noch anders wissen zu lernen und nicht können auslernen." Können also wir „das auf ein Stunde auslernen, das Gott selbs nicht kann auslehren ...?"31 Der Grund für den unerschöpflichen Reichtum des Katechismus liegt darin, daß er nichts anderes als eine Zusammenfassung der Heiligen Schrift selbst ist.32 Deshalb gehen Katechismus und Wort Gottes ineinander über.Wie bei der meditatio, d.h. beim Umgang mit dem Wort Gottes der Heiligen
P.Brwmer, „Theologische Grundlagen von .Gottesdiensten in neuer Gestalt'", in: W.Blankenburg u.a. (Hg.) Kerygma und Melos. FS C.Mahrenholz, Kassel u.a. 1970, 114.105. 30 BSLK, a.a.O. 547,35. 31 BSLK, a.a.O. 551,34; 552,3. 32 „welcher der ganzen heiligen Schrift kurzer Auszug und Abschrift ist": BSLK, a.a.O. 552,31.
Die Bedeutung des Katechismus
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Schrift33, so wirkt auch in der Beschäftigung mit dem Katechismus der Heilige Geist. Die Frucht des täglichen Übens liegt darin, „daß der Heilige Geist bei solchem Lesen, Reden und Gedenken gegenwärtig ist und immer neue und mehr Licht und Andacht dazu gibt, daß es immerdar besser und besser schmeckt und eingehet."34 Diese Praxis ist das wirksamste Kampfmittel gegen die Angriffe von Teufel, Welt und Sünde35 und bildet zugleich umfassend für die Aufgaben des geistlichen und weltlichen Amtes als Seelsorger, Verwalter, Richter36. Die Zuordnung der Hauptstücke des Katechismus illustriert den gesamten Umkreis christlicher Lehre und Lebens. Dabei lassen sich verschiedene Momente beobachten. 1520 hatte Luther auf die Bedeutung der Abfolge „Dekalog - Credo Vaterunser" verwiesen: Der Dekalog offenbart Gottes Willen und damit die Sünde des Menschen; das Credo verkündigt dem Bußfertigen das Heil; das Vaterunser leitet zur Bitte und zum Empfang der Gnade an.37 Dabei übt der Dekalog nicht nur die Funktion des usus elenchticus aus, sondern übergreift „als eine bleibende Gottesweisung... unseren gesamten Gehorsamsweg"38. Im GK streicht Luther demgegenüber einen anderen Akzent heraus: Dekalog und Credo werden in die Dialektik von Gesetz und Evangelium eingezeichnet. Was Gott von uns will, enthüllt er in den Geboten; was er uns aus freier Gnade schenkt, offenbart er im Glauben. Zentrum des Credo aber ist der zweite Artikel, der damit zum Herzstück des Katechismus insgesamt wird.39 In seiner Analyse der Zuordnung der Hauptstücke in Luthers Katechismen40 hebt A.Peters mehrere Merkmale voneinander ab: Grundlegend ist die Orientierung an den abendländischen „Kerntexten" Dekalog, Credo, Vaterunser, wodurch der Katechismus den „trinitarisch33 Vgl. dazu O.Bayer, Theologie, HST 1, Gütersloh 1994, 55ff.83ff; zum Ganzen: M.Nicol, Meditation bei Luther, FKDG 34, Göttingen 1984. 34 BSLK, a.a.O. 549,8. 35 Vgl. BSLK, a.a.O. 549,21. 36 „Wer die zehen Gepot wohl und gar kann, daß der muß die ganze Schrift können, daß er könne in allen Sachen und Fällen raten, helfen, trösten, urteilen, richten beide geistlich und weltlich Wesen und müge sein ein Richter über alle Lehre, Stände, Geister, Recht und was in der Welt sein mag." (BSLK, a.a.O. 552,16) 37 Vgl. M.Luther, Eine kurze Form der Zehn Gebote, eine kurze Form des Glaubens, eine kurze Form des Vaterunsers (1520), WA 7,204,14; vgl. dazu: A.Peters, Theologie, a.a.O. 15. 38 Peters, Theologie, a.a.O. 16. 39 Vgl. dazu Peters, Theologie, a.a.O. 17. 40 O.Bayer spricht von „Katechismussystematik" und definiert sie als „das Gesamtgeflecht der im Katechismus wirksamen Zuordnungen und Beziehungen": Schöpfung als Anrede. Zu einer Hermeneutik der Schöpfung, Tübingen 2 1990, 84; vgl. auch: Ders., Theologie, a.a.O. 106-114.
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heilsgeschichtlichen Duktus"41 als prägende Struktur erhält. Hier gibt sich der ,,ökumenische[] Luther"42 zu erkennen. Nicht offen, sondern allenfalls „heimlich" darin hineinverwoben ist das eher „anthropozentrisch-psychologisch" orientierte Viererschema von Glaube aus Gesetz und Evangelium, sowie Liebe im Dienst am Nächsten und in der Kreuzesnachfolge43 aufzufinden. Die einzelnen Stücke werden jeweils aus der Perspektive der Rechtfertigung in den Blick genommen44. Dabei bildet der zweite Glaubensartikel das unaufgebbare Zentrum des Ganzen, „das stets gegenwärtige Herz der Katechismen"45. Gleichwohl werden davor und danach in einer gewissen Unabhängigkeit zwei weitere Schwerpunkte erkennbar: Erster Artikel und Dekalog heben Gottes gnädiges Schöpfungs- und Erhaltungswirken, sowie den darauf bezogenen Gehorsam der Kinder Gottes hervor. Dritter Artikel und Vaterunser sind gekennzeichnet vom ,,unverdrossene[n] Heiligungswirken des Gottesgeistes an uns im Streit mit den Chaosgewalten"46. In alledem stellt der Katechismus jedoch kein starres, in sich abgeschlossenes System dar.47 Die dynamischen Bezüge zwischen den einzelnen Stükken sucht Peters mit dem Begriff „Rückanknüpfung"48 zu umschreiben: Durch das heiligende Werk des Geistes gewinnen wir Anteil an der Erlösung Jesu Christi, und dadurch erschließt sich uns der Schöpfer als der himmlische Vater, der uns mit seinen Gaben beschenkt. Analog dazu stellt sich der Dekalog im Licht von Credo und Vaterunser nicht als überführendes Richterwort, sondern als gnädiger Vaterwille dar.49 Der Gehorsam gegenüber den Weisungen des Vaters impliziert auf der Gegenseite den Kampf gegen die Mächte von Teufel, Welt und Sünde. In der Vaterunserauslegung wird der Dekalog wieder aufgenommen und zugleich auf die Bitte um das Kommen 1
Peters, Theologie a.a.O. 28. Peters, Theologie a.a.O. 31. 43 Von Luther als Strukturprinzip für einen Katechismus erwogen in der Vorrede zur „Deutschen Messe" von 1526, WA 19,76,2; 77,13. Vgl. dazu A.Peters, Rechtfertigung, HST 12, Gütersloh 2 1990,36f. 44 Peters faßt die Linien folgendermaßen zusammen: Dabei „durchwaltet das erste Gebot alle übrigen Gebote und richtet sich unser leiblicher Mensch in seiner Weltzuwendung nach dem Herzen in dessen Stellung zu Gott; das Heiligungswirken des Geistes erfolgt aus der ständigen Vergebung heraus. Das Kernschema prägt vor allem die Vaterunserdeutung und strukturiert speziell die Vergebungsbitte. In der Zuordnung von Verheißung und Glaube finden die Sakramente ihren rechten Ort." (Peters, Theologie, a.a.O. 30fA Peters, Theologie, a.a.O. 27. 46 Ebd. 47 Vgl. dazu Bayer, Theologie, a.a.O. 113. 48 Peters, Theologie, a.a.O. 24.27. 49 „Erst durch den Glauben und das Gebet wandelt sich uns der Dekalog aus dem verurteilenden Gesetz des heiligen Richters in die gnädige Weisung des barmherzigen Vaters." (.Peters, Theologie, a.a.O. 24). 42
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der Gottesherrschaft ausgerichtet. In diesem Ringen „erweist sich unsere fortschreitende Heiligung als stets neu ergriffene Rechtfertigung."50 An dieser Stelle kommen neben den drei Hauptstücken nun auch Taufe, Abendmahl und Beichte in den Blick. Dabei steht wie in der fünften Vaterunserbitte die Gewährung der Sündenvergebung im Mittelpunkt: „Aus der ständig erneuerten Christusvergebung heraus dringen wir im täglichen Ersterben des alten Adam und im täglichen Erstehen des neuen Menschen hindurch zur ewigen Vollendung."51 Die Erweiterung der traditionellen Kerntexte52 bildet aber nichts weniger als den Umkreis der ,,spezifische[n] Gestalt der lutherischen Kirche"53. Aus ihnen sind die notae ecclesiae gewonnen, die den Kennzeichen der falschen Kirche des Satans entgegengesetzt werden.54 Mit dieser Bestimmung des christlichen Glaubens und Lebens sind jedoch nicht die Spezifika einer konfessionellen Partikularkirche bezeichnet. Vielmehr kann es dabei allein um die Katholizität der Kirche durch den Aufweis der Apostolizität ihrer Verkündigung gehen. Peters bezeichnet daher den Aufbau des Katechismus mit den drei Kernstücken, den vier fundamentalen Institutionen des geistlichen Regimentes Christi (Evangeliumsverkündigung, Taufe, Abendmahl und Schlüsselamt) und den heiligen Ordnungen des weltlichen Regimentes Gottes (Familia, Oeconomia, Politia, wie sie im 4. und 6.Gebot, in der 4.Vaterunserbitte, in Beichtanleitung und Haustafel thematisiert werden) „als die spezifisch lutherische Ausprägung der ,Una sancta, catholica et apostolica Ecclesia'" 55 . Indem wir für die Ortsbestimmung der Sündenvergebung beim Katechismus ansetzen, wählen wir daher den Punkt, an dem sich Orthodoxie und Orthopraxie, theologische Verantwortung und kirchliches Handeln, weltweite Kirche Jesu Christi und akzentuiert reformatorische Prägung schneiden. Von hier aus gilt es zu erkennen, was der christlichen Kirche in der Vollmacht zur Sündenvergebung anvertraut ist, worin sie diese Gabe und Aufgabe ggf. versäumt und wie sie die Wahrnehmung ihres Auftrags zurückzugewinnen vermag.
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Peters, Theologie, a.a.O. 25. Ebd. 52 unter zusätzlicher Einbeziehung von Gebetshilfen, Haustafel, Trau- und Taufbüchlein. 53 Peters, Theologie, a.a.O. 31. 54 Vgl. M.Luther, Von den Konziliis und Kirchen (1539), WA 50,509ff; Wider Hans Worst (1541), WA 51,469ff; vgl. Peters, Theologie, a.a.O. 32; zur Bedeutung der notae s. auch E.Hahn, Wo ist Kirche Jesu Christi?, Wuppertal 1988, 235ff.267ff. 55 Peters, Theologie, a.a.O. 32. 51
2. Sündenvergebung als Werk des Dreieinigen Gottes
2.1 Einführung In der hier vorzunehmenden Analyse und Interpretation der Sündenvergebung im Katechismus orientieren wir uns nicht an der in der „Endgestalt" vorfmdlichen Abfolge der einzelnen Stücke, sondern haben auf die sachliche Zuordnung und Gewichtung der einzelnen Teile Rücksicht zu nehmen. Dies erklärt den Einsatz beim Credo, aus dem die Grundlegung der Sündenvergebung erhoben wird. Aus der Darstellung des Dekalogs erwächst vor allem die Thematik der Sündenerkenntnis. Sodann folgen Gottesdienst, Taufe, Abendmahl und Beichte als Weisen der Austeilung der Sündenvergebung, bevor im Zusammenhang des Vaterunsers das christliche Leben als Leben aus der Sündenvergebung thematisiert wird. Auch die Untergliederung dieses Kapitels erwächst aus sachlichen Erwägungen: Am Beginn steht mit dem zweiten Artikel das „Zentrum des Zentrums", von dem die Brücke zur existentiellen Zuspitzung im Rahmen des dritten Artikels geschlagen wird. Sodann wird die „heimliche Einzeichnung" des Rechtfertigungsartikels in den Katechismus verfolgt, bevor daraus die Folgerungen für die Deutung der Kirche abgeleitet werden. Über den Katechismus hinausgehend wird schließlich zu zeigen sein, daß die Sündenvergebung auch den Artikel von der Schöpfung wie die gewisse Erwartung der Neuschöpfung durch das Gericht hindurch umschließt.
2.2 Der Grund der Sündenvergebung in Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi 2.2.1 Der „Dominus noster" als Salvator und Redemptor im zweiten Glaubensartikel Im Credo werden Person und Werk Jesu Christi aus der Perspektive des „für uns" entfaltet. Im Zentrum steht dabei das Bekenntnis zu seiner Herrschaft („Ich gläube, daß Jesus Christus ... sei mein HERR"1). In der Anerkenntnis
BSLK, a.a.O. 511,23.
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Sündenvergebung als Werk des Dreieinigen Gottes
Jesu Christi als des Herrn kann geradezu die Mitte der Auslegung des zweiten Artikels gesehen werden.2 Vor und außerhalb der Herrschaft Christi regieren die Verderbensmächte des Bösen: „Denn zuvor habe ich keinen Herrn noch König gehabt, sondern unter des Teufels Gewalt gefangen, zu dem Tod verdammpt, in der Sunde und Blindheit verstrickt gewesen."3 Der Grund für diese Gefangenschaft liegt in der Tatsache, daß der Mensch - ursprünglich von seinem Schöpfer mit allen Gütern beschenkt - vom Teufel zur Sünde verfuhrt und ins Verderben gestürzt wurde.4 Durch die Sünde ist der Mensch vor Gott schuldig geworden; dies macht die Konfrontation mit dem ersten Gebot offenbar5. Daher hat er den göttlichen Zorn auf sich gezogen und geht dem Gericht mit der Srafe der ewigen Verdammnis entgegen6. In seinem Innern spiegelt sich die Verlorenheit im bösen Gewissen. Neben dem endgültigen Urteil am Jüngsten Tag leidet er zu seinen Lebzeiten unter den Straffolgen der Sünde, unter Leid, Krankheit oder Tod. Darin aber vollzieht Gott selbst bereits in der Gegenwart das Gericht, indem er den Sünder an die Sünde und ihre Konsequenzen dahingibt (vgl. Rö 1). Was sich vordergründig als Erlangen oder Verfehlen menschlichen Wohlergehens darstellen mag, besitzt somit in Wirklichkeit eine Dimension ungeahnter Tiefe. In der Predigt des Gesetzes enthüllen sich dem Sünder diese Zusammenhänge:7 Er erkennt, daß durch die Sünde des Menschen die Welt unter dem verdammenden ewigen Zorn Gottes steht und daß daher die Verderbensmächte einen Rechtsanspruch gegenüber der Menschheit haben. Er erkennt ferner, daß das Schuldbewußtsein aus der bestehenden Schuld gegenüber Gott erwächst, die im Gewissen angezeigt wird, und daß er daher der Gewalt von Teufel und Tod ausgeliefert ist. Befreiung aus dieser hoffnungslosen Lage muß deshalb in erster Linie Bezahlung der Schuld, Befriedigung des Gesetzes und Stillung des Zornes Gottes umfassen. Dies aber tut Christus. Er wirkt Versöhnung der Schuld, die die Menschheit durch ihre Sünde auf sich geladen hat, und stillt damit den Zorn Gottes.8 Er wirkt Erlösung, indem er von dem aus der Sünde er-
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Vgl. T.Harnack, Luthers Theologie II (Neue Ausgabe), München 1927,198. BSLK, a.a.O. 651,36. 4 Vgl. BSLK, a.a.O. 651,41: „Denn da wir geschaffen waren und allerlei Guts von Gott, dem Vater, empfangen hatten, kam der Teufel und bracht' uns in Ungehorsam, Sunde, Tod und alle Unglück." 5 Vgl. unten Kapitel 3. 6 Vgl. dazu T.Harnack, Luthers Theologie I (Neue Ausgabe) München 1927, 193ff; P.Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 71994, 15Iff. 7 Vgl. dazu ebenfalls Kapitel 3. 8 Vgl. zu Gal 3,20: „Ibi vero simpliciter peccator desperatus aut homo moribundus et offensus ac iratus Deus concurrunt. Ideo oportet alius Mediator quam Moses veniat qui legi 3
Der Grund der Sündenvergebung
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wachsenen Elend, dem Fluch des Gesetzes, der Bedrohung durch die Verderbensmächte Hölle, Tod und Teufel befreit.9 Er wirkt Rechtfertigung, indem dem Sünder durch den Glauben die Sünde vergeben und die Gerechtigkeit Christi angerechnet wird. Erst im Spiegel des Heilswerkes Christi wird das Ausmaß der überwundenen Versklavung erkennbar. Deshalb offenbart das Bekenntnis zu Christus zugleich die Hintergründe von Gericht und Tod. So erkennt sich der Glaubende als „verlornen und verdammpten Menschen" und rühmt demgegenüber den Reichtum der Heilstat Christi, der mich „erlöset hat, erworben, gewonnen und von allen Sunden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels ..., auf daß ich sein eigen sei."10 Im GK wird die Sündenvergebung ausdrücklich auf das Herr-Werden Christi bezogen: „Was ist nu das, ,ein Herr werden?' Das ist's, daß er mich erlöset hat von Sunde, vom Teufel, vom Tode und allem Unglück."11 Deutlich werden hier beide Aspekte angesprochen: Jesus Christus hat uns von der Schuld der Sünde, dem Fluch des Gesetzes und dem Zorngericht Gottes („verdammt"), wie auch von den Mächten des Verderbens („verloren") befreit.12 So umfaßt die Herrschaft Jesu Christi die Erlösung aus der Versklavung wie auch das Beschenktwerden mit allem Guten, das Gott seinen Kindern zuwenden will: „Also sind nu jene Tyrannen und Stockmeister alle vertrieben, und ist an ihre Statt getreten Jesus Christus, ein Herr des Lebens, Gerechtigkeit, alles Guts und Seligkeit, und hat uns arme, verlorne Menschen aus der Helle Rachen gerissen, gewonnen, frei gemacht und wiederbracht in satisfaciat, iram eius tollat et me peccatorem perditum et reum aeternae mortis irato Deo reconciliet." (WA 40 1,503,26). 9 Harnack betont, „daß Luther keine Erlösung kennt, die nicht Versöhnung ist und auf Versöhnung beruht." (Theologie II, a.a.O. 236). Dabei bezieht sich die Versöhnung auf den Rechtsvorgang, daß Christus mit der Schuld auch den Zorn und dessen Reflex im bösen Gewissen aufhebt; damit ist Versöhnung das umfassende Geschehen. Erlösung bezieht sich demgegenüber auf den Kampf mit den Verderbensmächten und erwächst aus der vollzogenen Versöhnung. Vgl. Predigt über l.Kor 15,56f.: Um den Tod zu erwürgen, dazu gehört, „das er das zuvor würge, das den tod wircket, Weichs ist die sunde"; dabei meint Paulus diejenige Sünde, „die recht Sünde heisst, nicht allein das werck, das gethan odder verbracht ist, sondern die da lebendig ist, schrecket jm hertzen und gewissen.... Da fert zu peccatum und erwürgt ihn. Da fert er erfur: nesciebas, peccatum, lex, mors, quod tuus dominus, quare tu, serve, occidisti, dominum tuum et fecisti peccatorem?" (WA 36, 688,25.38; 692,8); vgl. Harnack, Theologie II, a.a.O. 236; U.Asendorf, Die Theologie Martin Luthers nach seinen Predigten, Göttingen 1988,118f. 10 BSLK, a.a.O. 511,27. 11 BSLK, a.a.O. 651,33. 12 Vgl. zu Gal 2,17 (WA 40 1,261,21): „Si peccatum sublatum est, Ergo etiam ira sublata est, si ira, ergo et mors et damnatio. Et in locum peccati iustitia, irae reconciliatio et gratia, mortis vita, damnationis salus aeterna successit." Vgl. auch Harnacks paraphrasierende Wiedergabe der Erklärung zum zweiten Artikel in: Theologie II, a.a.O. 197ff.
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des Vaters Huld und Gnade und als sein Eigentumb unter seinen Schirm und Schutz genommen, daß er uns regiere durch seine Gerechtigkeit, Weisheit, Gewalt, Leben und Seligkeit."13 Im Begriff „Herr" ist der Inhalt des zweiten Artikels zusammengefaßt. Luther erläutert ihn durch den des Erlösers: „... daß das Wortlin ,HERR' aufs einfaltigste soviel heiße als ein Erloser, das ist, der uns vom Teufel zu Gotte, vom Tod zum Leben, von Sund zur Gerechtigkeit bracht hat und dabei erhält. Die Stücke aber, so nacheinander in diesem Artikel folgen, tuen nichts anders, denn daß sie solche Erlösung verklären und ausdrücken."14 Der Erlöser ist damit auch „der Sunden Herr"; er hat „den Tod verschlungen und gefressen", sitzt zur Rechten Gottes, so „daß ihm Teufel und alle Gewalt muß Untertan sein und zu Füßen liegen, solang bis er uns endlich am jüngsten Tage gar scheide und sondere von der bösen Welt, Teufel, Tod, Sunde etc.'"5 Damit wird die eschatologische Dimension betont, die den Sieg Christi an Ostern in seiner umfassenden Geltung offenbarmachen wird. Die existentielle Zuspitzung („daß Jesus Christus ... sei mein Herr") läßt somit keine existentialistische Verkürzung zu, sondern reiht den Glaubenden in die eschatologische Herrschaft des Pantokrators ein: „Gleubstu nun an Christum, so hastu es alles hinweg, so ist die helle schon ausgelescht undt ist die Sunde hinweg, der todt uberwunden undt hast die ewige gerechtigckeit, Seligckeit undt leben, undt wer wil den schätz ausmessen?"16 Diese Akzentuierung wird in den „Schmalkaldischen Artikeln" eindrücklich verdeutlicht und von der Heiligen Schrift her begründet. Dabei unterscheidet sich Luther von all den Reformern, die gewisse Mißstände in der
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BSLK, a.a.O. 652,2. BSLK, a.a.O. 652,26. 15 BSLK, a.a.O. 652,40.48.51. Einen Eindruck von der Mehrdimensionalität, die bei der Sündenvergebung zu beachten ist, vermittelt Luthers Predigt zu Joh 16,5-15 über das Wort Jesu „Ich gehe zum Vater". Hierin ist das gesamte Erlösungswerk eingeschlossen, d.h. „sein Leiden, Tod und Aufferstehung und gantzes Reich in der Kirchen, Denn dieser Gang zum Vater heisst nichts anders, denn das er sich dahin gibt zu einem Opffer durch sein blutvergiessen und sterben, damit fur die Sünde zu bezalen, Und darnach wider durch seine Aufferstehung uberwindet und unter sein gewalt bringet Sünde, Tod und Helle und sich lebendig setzet zur rechten hand des Vaters, da er unsichtbar regieret über alles in Himel und Erden und seine Christenheit durch die Predigt des Euangelij samlet und ausbreitet, Und die, so da gleuben, bey dem Vater als ein ewiger Mittler und hoher Priester vertrit und vorbittet, weil sie noch uberige Schwachheit und sünde haben, Dazu des heiligen Geists krafft und stercke gibt, die Sünde, Teuffel und Tod zu uberwinden." (WA 21,363,12); hier sind Sühnetod, Sieg über die Mächte, Austeilung des Heils durch Wort und Sakrament, Fürbitte des Erhöhten fiir die Angefochtenen und Sendung des Heiligen Geistes zum Sieg über die Sünde aufs engste miteinander verbunden. Vgl. dazu Harnack, a.a.O. 196ff. 16 Predigt über Joh 6 , 4 5 ^ 7 (11.2.1531), WA 33,162,13 (vgl. A.Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen, Bd 2: Der Glaube [hg. v. G.Seebaß], Göttingen 1991, 124). 14
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Kirche anprangern und beheben wollen. Ihm liegt an Seligkeit oder Verlorenheit/Verdammnis, an Leben oder Tod in eschatologischer Perspektive. Daher folgt auf die Darlegung des ersten Teils mit den Artikeln über Trinität und Christologie17 der zweite Teil mit den Ausführungen, „so das Ampt und Werk Jesu Christi oder unser Erlösung betreffen."18 In diesem „Häuptartikel" ist alles auf das Sündersein des Menschen und die Erlösung aus der Sündenversklavung durch Christus zugespitzt: „Daß Jesus Christus, unser Gott und Herr, sei ,umb unser Sunde willen gestorben und umb unser Gerechtigkeit willen auferstanden', Ro. 4., und er allein ,das Lamb Gottes ist, das der Welt Sunde trägt', Joh. 1., und ,Gott unser aller Sunde auf ihn gelegt hat', Jsaiae 53., item: ,Sie sind alle zumal Sunder und werden ohn Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung Jesu Christi in seinem Blut' etc., Ro. 3.'"9 Damit greift Luther grundlegende Aussagen von Paulus (Rö 4,25, eine Formulierung, die der Apostel aus der urgemeindlichen Tradition übernimmt) und Johannes (Joh 1,29) auf und verbindet sie mit der in Jesus Christus erfüllten Weissagung vom messianischen Versöhner in Jes 53,6. Daran schließt er die Zentralpassage von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden durch den Glauben aus Rom 3,23ff. an. Somit werden drei fundamentale Sachverhalte aufs engste miteinander verknüpft: Alle Menschen sind unentrinnbar in Sünden verstrickt; allein Jesus Christus befreit durch seinen stellvertretenden Sühnetod aus der Macht der Sünde; diese rechtfertigende Befreiung wird allein im Glauben erlangt.20 „Diese Artikel sind in keinem Zank noch Streit, weil wir zu beiden Teilen dieselbigen [gläuben und] bekennen. Darumb nicht vonnoten, itzt davon weiter zu handeln" (BSLK, a.a.O. 415,1). 18 BSLK, a.a.O. 415,4. 19 BSLK, a.a.O. 415,7. 20 Hingewiesen werden soll in diesem Zusammenhang auf die enge Verbindung zum „Bekenntnis der Artikel des Glaubens" von 1528 (dem dritten und abschließenden Teil der Schrift „Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis" [1528], WA 26,499-509), wo Luther sein Testament des Glaubens formuliert, indem er das Apostolikum kommentiert: „darauff ich gedencke zu bleiben bis ynn den tod, drynnen (des mir Gott helffe) von dieser weit zu scheiden und fur unsers herrn Jhesu Christi richtstuel komen": WA 26,499,21; vgl. auch den Schluß: 509,23. Zum zweiten Artikel bekennt er: „Auch gleub ich, das solcher Gotts und Maria son, unser herr Jhesus Christus, hat für uns arme sunder gelidden, sey gecreutzigt, gestorben und begraben, Damit er uns von der sunden, tod und ewigen zorn Gotts durch sein unschuldig blut erlöset"; Jesus Christus sitzt als Pantokrator zur Rechten des Vaters „über tod und leben, über sunde und gerechtickeit." Durch Adam sind alle Menschen „alzumal ynn sunden geborn, leben und sterben und des ewigen todes schüldig sein müssen, wo nicht Jhesus Christus uns zu hülff komen were und solche schuld und sund als ein unschüldigs lemlin auff sich genomen hette, fur uns durch sein leiden bezalet und noch teglich fur uns stehet und trit als ein trewer, barmhertziger mitteler, heiland und einiger priester und Bischoff unser seelen." (WA 26,502,18)
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Die Konzentration auf das „pro nobis" der Herrschaft Christi ist verbunden mit Luthers Erkenntnis, daß die List des Teufels u.a. darauf abzielt, den lebendigen Jesus Christus und sein Heilswerk auf eine historische Gestalt zu reduzieren. Solche Vorstellungen werden von Menschen vorgetragen, „die werden nicht gleuben, das Christus sey von den todten aufferstanden, noch sitze zur rechten Gottes, und was mehr von Christo im glauben folget. Die werden dem fass den boden ausstossen und des spiels ein ende machen. Denn damit wird der gantze Christus untergehen, Und wird die weit nichts halten vom kunfftigen leben. So ist denn Christus nicht mehr. Denn wer das künfftige leben nicht hoffet, der darff Christus eben so wenig, als die küe und andere thier des Paradises."21 Im folgenden sollen drei Bezüge der Grundlegung der Sündenvergebung im Werk Jesu eigens untersucht werden: Der Zuspruch der Sündenvergebung während seiner irdischen Wirksamkeit, sein Tod am Kreuz als SühneVerworfen wird folgerichtig eine Erlösungslehre, die dem Menschen ein Mitwirken einräumt; dies geschieht mit der Begründung: „Denn weil ausser Christo der tod und die sunde unser herren und der teuffei unser Gott und fürst ist, kan da kein krafft noch macht, kein witze noch verstand sein, damit wir zur gerechtickeit und leben uns kündten schicken odder trachten, sondern müssen verblent und gefangen, des teuffels und der sunden eigen sein, zu thun und zu dencken was yhn gefeilet und Gott mit seinen geboten widder ist." (WA 26,503,19). Entgegen einer Verharmlosung der (Erb-)Sünde als „Gebrechen" stimmt Luther in das Bekenntnis von Paulus (Rö 6,23; l.Kor 15,56) und David (Ps 51,7) ein: Dieser „spricht nicht: Meine mutter hat mit sunden mich empfangen, sondern: Ich, Ich, Ich bin ynn sunden empfangen ..."(WA 26,503,31). Mit der falschen Lehre werden auch die daraus erwachsenen praktischen Konsequenzen abgelehnt - Orden, Regel, Klöster, Stifte - , insofern als sie „der meynung gelebt und gehalten werden, das man durch solche wege und werck wolle und müge selig werden, der sunden und dem tod entlauffen, so ists eine öffentliche, grewliche lesterung und verleugnis der einigen hülffe und gnade unsers einigen heilands und mittelers Jhesu Christi... Und ist ummüglich, das mehr heilande, wege odder weise seyen, selig zu werden ..." (WA 26,504,14). 21 Die drei Symbola oder Bekenntnis des Glaubens Christi (1538), WA 50,269,22; vgl. Peters, Glaube, a.a.O. 116f.; vgl. auch Ders., Rechtfertigung, a.a.O. 234. Daß solche Befürchtungen bis in die theologische Debatte der Gegenwart ihre Berechtigung haben, läßt sich vielfältig illustrieren. Auf weiten Strecken sind die tragenden Pfeiler der biblischreformatorischen Lehre in Kirche und Theologie entweder höchst umstritten oder ganz entfernt. Zu erinnern ist an folgende: Die Sünde des Menschen ruft Gottes Zorn hervor, der den Sünder straft. Die Versöhnung geschieht ausschließlich durch das Sühnopfer des Gottessohnes am Kreuz; damit erwirbt er umfassend Heil und Erlösung. Alle Menschen gehen auf das Offenbarwerden des Verborgenen vor dem Richterstuhl Christi zu. Dort wird er seine Herrschaft endgültig erweisen, indem die seit Ostern entmachteten Verderbensmächte vernichtet und sein Reich sichtbar aufgerichtet wird. Vgl. dazu H.G.Pöhlmann, Rechtfertigung. Die gegenwärtige kontroverstheologische Problematik der Rechtfertigungslehre zwischen der evangelisch-lutherischen und der römisch-katholischen Kirche, Gütersloh 1971, 219, oder - exemplarisch - die oben Seite 17 genannte Debatte um den Beitrag von J.Vollmer zur Deutung des Todes Jesu.
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tod für die Sünden und seine Auferstehung als Überwindung der Verderbensmächte. 2.2.2 Die Gewährung der Sündenvergebung in der Verkündigung Jesu Christi Der urchristliche Hymnus in l.Tim 1,15 bringt das neutestamentliche Zeugnis auf den Punkt: „Das ist gewißlich wahr und ein Wort, des Glaubens wert {πάσης άποδοχής άξιος), daß Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen" (αμαρτωλούς σώσαι).22 Dadurch verwirklicht sich, was bereits über dem Beginn des Lebens Jesu als Deutung seines Namens steht: „Er wird sein Volk retten von ihren Sünden" (Mt 1,21). Aus diesem Grund ist die Botschaft von ihm „Evangelium", δύναμις εις σωτηρίαν (Mk 1,1; Rom 1,16). Die Verkündigung des Vorläufers Johannes ist von diesem befreienden Umkehrruf geprägt: Er „predigte die Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden. Und es ging zu ihm hinaus das ganze jüdische Land und alle Leute von Jerusalem und ließen sich von ihm taufen im Jordan und bekannten ihre Sünden" (Mk l,4f.). Während der Täufer die Bußtaufe als letzte Umkehrmöglichkeit vor dem unmittelbar herandrängenden Gericht verkündigt, zugleich aber die erneuernde Geisttaufe dem „Kommenden" vorbehalten bleibt, vollzieht Jesus in seinem Wirken die Erneuerung, indem er die Vergebung der Sünden in göttlicher Autorität zuspricht. Als der „Stärkere" verleiht er den Heiligen Geist, der von der Sünde reinigt23. Das Stichwort „Vergebung der Sünden", das die „völlig neue Existenz" kennzeichnet, „umschreibt die höchste Hoffnung der Propheten"24. In dieser Hinsicht kommt der Perikope Mk 2,1-12 fundamentale Bedeutung zu. Zunächst ist hervorzuheben, daß Zuspruch der Sündenvergebung und Heilungswunder ursprünglich zusammengehören25. Sodann macht der 22 Einen Überblick über den Forschungsstand vermittelt die Dissertation von C.H.Sung, Vergebung der Sünden. Jesu Praxis der Sündenvergebung nach den Synoptikern und ihre Voraussetzungen im Alten Testament und frühen Judentum, WUNT 11/57, Tübingen 1993, 14ff.l89ff, wo er u.a. die Ergebnisse der Arbeiten von H.Thyen (Studien zur Sündenvergebung im Neuen Testament und seinen alttestamentlichen und jüdischen Voraussetzungen [FRLANT 96], Göttingen 1979), H.Leroy (Vergebung und Gemeinde nach dem Zeugnis der Evangelien [Habil.-Schrift], Tübingen o.J. [1972] bzw.: Zur Vergebung der Sünden. Die Botschaft der Evangelien, SBS 73, Stuttgart 1974) und P.Fiedler (Jesus und die Sünder [BET 3], Frankfurt u.a. 1976) zusammenstellt. 23 Vgl. Jes 4,4; Hes 36,25ff; Ps 51,9ff. 24 J.Schniewind, Das Evangelium nach Markus, NTD 2, Göttingen l2 1977, 24, mit Verweis auf Jes 33,24; Jer 31,34; Jes 53,5f; Hes 18,31; 36,25-27; Sach 13,1; Mi 7,18. 25 Gegen die Hypothese, daß eine Wundererzählung später um den Vergebungszuspruch erweitert worden sei (so u.a. W.Wrede, Zur Heilung des Gelähmten [Mc 2,Iff.], ZNW 5 [1904], 354-358; R.Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition
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Blasphemie-Vorwurf deutlich, daß Jesus durch seine Handlung eine Vollmacht in Anspruch nimmt, die Gott allein zukommt. Er ist daher nicht nur der Prophet, der göttliche Vergebung zuspricht, noch ist er gewissermaßen das irdische Pendant zu dem im Himmel handelnden Gott. Vielmehr ereignet sich in Jesu Handeln nicht weniger als Gottes aktuelles Vergeben auf Erden26. Besonders hervorzuheben ist die Beobachtung, daß die Anschuldigung der Gotteslästerung nochmals beim Verhör in Mk 14,63f. begegnet. Sie wendet sich gegen die Selbstaussage Jesu, nach der er als der kommende Menschensohn die Autorität des endzeitlichen Richters (und damit Gottes selbst) für sich reklamiert. Hofius faßt den Bezug zwischen Sündenvergebung und Tod Jesu in den Aussagen zusammen: „Die Sündenvergebung, die Jesus gewährt, ist die in seinem Tod am Kreuz begründete Vergebung. Als solche ist sie zugleich die Gabe des kommenden Weltrichters, vor dem im Endgericht nur der bestehen kann und wird, der seine Vergebung empfangen hat und sich in der Nachfolge zu ihm als dem Gekreuzigten bekennt ([Mk] 8,34-38; 13,26f)."27 Aus diesem Grund entspricht die Haltung Jesu gegenüber den Verlorenen („es jammerte ihn": Mt 9,36; Mk 6,34) der von Gott selbst (Jer 31,20; Hos 11,8; Jes 65,2f.). In einzigartiger Weise bricht somit am Zuspruch der Sündenvergebung der Konflikt über die Identität Jesu auf: Einerseits preist das Volk Gott, „der solche Macht den Menschen [!] gegeben hat" (Mt 9,8); andererseits ist „Sündenvergebung Gottes eigenes Vorrecht, nur Gottes Voll[FRLANT 29], Göttingen l01995, 12f.; D.Lührmann, Das Markusevangelium [HNT 3], Tübingen 1987, 56f.) wendet sich entschieden O.Hofius, „Jesu Zuspruch der Sündenvergebung", JBTh 9 (1994), 125-143, hier: 131. J.Schniewind argumentiert in dieselbe Richtung: Wenn die neutestamentliche Gemeinde die Sündenvergebung von Kreuz und Auferstehung her empfängt, „wie wäre sie dazu gekommen, die Vollmacht der Sündenvergebung nachträglich in das irdische Leben Jesu einzufügen?" (Schniewind, Markus, a.a.O. 44). 26 Vgl. Hofius, Zuspruch, a.a.O. 129. Gegen die These von Fiedler (a.a.O. 275f.; vgl. auch: P.Fiedler, „Sünde und Vergebung im Christentum", ConcfD] 10 [1974], 568-571; hier: 570), Jesus habe überhaupt keine Sünden vergeben vgl. Sung, a.a.O., 280ff. W.Pannenberg läßt die Frage offen, ob der irdische Jesus Sünden vergeben habe und verweist auf die mit der Ankunft der Gottesherrschaft gegebene Sündenvergebung (Systematische Theologie II, Göttingen 1991, 372; ebs.: Ders., Systematische Theologie III, Göttingen 1993,98). Vgl. auch I.Broer, „Jesus und das Gesetz. Anmerkungen zur Geschichte des Problems und zur Frage der Sündenvergebung durch den historischen Jesus", in: Ders., Jesus und das jüdische Gesetz, Stuttgart u.a. 1992, 61-104; J.Michl, „Sündenvergebung in Christus nach dem Glauben der frühen Kirche", MThZ 24 (1973), 25-35. Sung kommt demgegenüber zu dem Ergebnis: ,,Jesus hat während seines öffentlichen Wirkens nicht nur einmal (Mk 2,5) Sünden vergeben. Vielmehr bildete die Sündenvergebung den Kern seines gesamten Wirkens, sowohl in seinem Leben in der Vollmacht Gottes als auch in seinem sühnenden Stellvertretertod. " (a.a.O. 283). 27 A.a.O. 141.
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macht (Jes 43,25 u.ö.)." 28 Daraus erwächst als entscheidende Frage: „Welcher Mensch darf es wagen, w i e Gott selbst Sünde zu vergeben? Bei Sünde und Sündenvergebung geht es um die eine Frage, ob Menschen vor dem Weltenrichter im Endgericht bestehen können ...; und hier wird gesagt, daß der Weltenrichter nicht mit den Wolken des Himmels zum Urteil kommt, sondern auf Erden ist, ein Mensch, und Sünden vergibt!" 29 Dabei umfaßt nach Mk 2 , 1 - 1 2 der Akt der Neuschöpfung zwei Dimensionen: die des geistlichen und des körperlichen Heilwerdens. Zuspruch der Sündenvergebung und Heilung bilden zusammen eine „unlösliche Einheit" 30 . Damit erweist sich im Tun Jesu das Handeln Gottes, von dem Ps 103,2f. bekennt: „Lobe den Herrn meine Seele [vgl. Mk 2,12!] ..., der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen." 31 D i e Heilung bestätigt sichtbar die gewährte Vergebung 32 . In beiden Aussagen manifestiert sich die Schöpfermacht des Gottessohnes. 33 Exkurs: Der Ursprung der Sündenvergebung in der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes.34 Mit Ps 103(8ff.) wird die Brücke zum Alten Testament geschlagen, wo Gottes Wesen in einer Formulierung von großer Dichte offenbart wird, die an markanten Stellen des AT in unterschiedlicher Akzentuierung begegnet: 35 Im Zusammenhang 28
J.Schniewind, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 13 1984,118. Ebd. 30 Hofius, Zuspruch, a.a.O. 130. 31 O.Betz verweist hier zudem auf Aussagen in Qumran: „Da beide, Sünde und Krankheit, auf das Konto Satans und seiner Dämonen gehen (Gemeinderegel 3,20-24), wäre die Heilung des Leibes ohne die Heilung der Seele ein halber Sieg; ja die letztere ist, am Maßstab der Endzeit gemessen, wichtiger und Gottes eigenstes Werk (Gemeinderegel 4,20-22)". (O.Betz, Was wissen wir von Jesus?, Wuppertal/Zürich21991, 61). 32 Vgl. dazu J.J.Stamm, Erlösen und Vergeben im Alten Testament. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung, Bern o.J. [1940], 33 Vgl. dazu O.Hofius, „Vergebungszuspruch und Vollmachtsfrage. Mk 2,1-12 und das Problem priesterlicher Absolution im antiken Judentum", in: H.-G.Geyer u.a. (Hg.), „Wenn nicht jetzt, wann dann?" Aufsätze für H.-J.Kraus zum 65.Geburtstag, NeukirchenVluyn 1983, 115-127: „Beide Sätze - das Vergebungswort V.5b und das Heilungswort V.l 1 - sind als schöpferische Machtworte verstanden, durch die Jesus selbst wirkt, was er in göttlicher εξουσία sagt." (a.a.O. 127). 4 Das Thema „Sünde und Vergebung im Alten Testament" wird ausführlich behandelt von W.Eichrodt, Theologie des Alten Testaments, Teil III: Gott und Mensch (Stuttgart/Göttingen 41961), 264—345. Zum Forschungsstand vgl. bei Sung die Abschnitte „Sündenvergebung in den .Theologien des Alten Testaments'" und „Wissenschaftliche Einzeluntersuchungen zum Themenkreis Sündenvergebung im AT', a.a.O. 2ff.8ff, sowie insgesamt zum AT: Sung, Teil A: „Sündenvergebung im Alten Testament", a.a.O. 2-81, sowie Leroy, Erster Teil: „Vergebungszusage im Alten Testament", Vergebung a.a.O. 1-95. 3 Vgl. H.Spieckermann, „Barmherzig und gnädig ist der Herr", ZAW 102 (1990), 1 18; J.Schreiner, Theologie des Alten Testaments, NEB.AT Ergänzungsband zum AT 1, Würzburg 1995, 272ff. 29
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mit der Kundgabe des Dekalogs ist als Begründung des Bilderverbots zu vernehmen: „Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten" (Ex 20,5f.). Während Gottes Strafhandeln auf den konkreten Zeitpunkt gerichtet und damit auch begrenzt ist (wohl bezogen auf die Großfamilie, in der maximal vier Generationen zusammenleben), erstreckt sich seine Barmherzigkeit auf die vielen Tausend, d.h. sie ist unbegrenzt. In Ex 34,6f. ruft Jahwe gegenüber Mose seinen Namen aus, indem er zunächst durch das doppelte „Herr, Herr" die Wirklichkeit seines Wesens hervorhebt: „Gott, barmherzig ( m r n und gnädig (pan) und geduldig (ctbk ^"iK) und von großer Gnade und Treue (ΠΟΚ1 ~10Π~2Ί), der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft läßt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied." Hier ist die Abfolge „Sünde - Gnade" umgekehrt. ΟΠΊ ist ursprünglich der „Mutterschoß" 36 ; gemeint ist somit die Gnade, die das Eigene, das abgefallen war, wieder mütterlich aufnimmt. ]13Π bedeutet insofern eine Steigerung, als es sich hierbei um die gnädige Zuwendung auch zum Fremden handelt. Für Gottes Geduld wird ein temporaler Ausdruck gebraucht (D,Si< ηηκ: „langmütig"), seine Gnade wird mit einem räumlichen Begriff bezeichnet (~Ι0Π~3Ί). Diese Gnade wird daran erkennbar, daß er „Missetat, Übertretung und Sünde vergibt" (K®3: „trägt, wegnimmt": so auch Num 14,18). In Joel 2,13 und Jona 4,2 findet sich an der Stelle der Strafandrohung die unerhörte Aussage, daß Gott sich des Bösen (das er zu tun gedachte: vgl. das Gericht überNinive) gereuen läßt (ΠΠ3): Angesichts der Umkehr aufgrund der Gerichtsbotschaft fuhrt Gott sein Strafhandeln nicht durch, sondern wendet sich erneut den betreffenden Menschen zu.37 Daß Gott Sünde vergibt, ist somit allein in seinem Wesen begründet 38 . Daher wird er in vielfaltiger Weise um seine Vergebung angerufen. Entsprechend reichhaltig sind die Kennzeichnungen seines Gnadenhandelns 39 : Er vergibt Sünde (Ps 103,3; Jer 50,20), sieht sie nicht an (Dtn 9,27), nimmt sie weg (2Sam 12,13; Sach 3,4.9), gedenkt ihrer nicht (Ps 25,7; Jes 43,25; 64,8; Jer 31,34; Hes 33,16), bedeckt sie (Ps 32,1; 85,3), tilgt sie (Ps 51,3) bzw. vertilgt sie wie den Nebel (Jes 44,22), reinigt den Sünder von ihr (Ps 51,4; Jer 33,8; Hes 36,33; 37,23), verbirgt sein Angesicht vor ihr (Ps 51,11), erlöst von ihr (Ps 130,8), wirft sie hinter sich (Jes 38,17) bzw. in die Tiefen des Meeres (Mi 7,18f.).
36
Vgl. T.Kronholm, o m , ThWAT VII, Stuttgart u.a. 1993,477f. Die viergliedrige Bezeichnung Gottes als „barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Güte (und Treue)" findet sich außerdem in Ps 86,15; 103,8; 145,8 und Neh 9,17, wobei sie in Ps 103,10-13 besonders betont und ausgeführt wird. 38 Gottes Vergebung wird erfahren „als freies Handeln des göttlichen Herrn, in dem sich jedesmal neu das Geheimnis der personhaften Zuwendung seines Gemeinschaftswillens kund tat." (Eichrodt, a.a.O. 316; vgl. auch 335f.). 39 Vgl. auch Schreiner, a.a.O. 272f.; H.D.Preuß, Theologie des Alten Testaments 2: Israels Weg mit JHWH, Stuttgart u.a. 1992,190-198. 37
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Wenn der Mensch von seiner Sünde niedergedrückt wird, weil er sie zu verbergen sucht, so wird ihm dadurch seine gesamte Existenz eingeschnürt. Besonders die Bußpsalmen geben davon ein beredtes Zeugnis: Gebeine und Seele sind erschrocken (Ps 6,3f.); sie verschmachten, der Saft vertrocknet (Ps 32,3f.); der Leib ist völlig krank, mit Wunden bedeckt, der Gang ist gekrümmt, der Mensch matt und zerschlagen (Ps 38,4-9); die Gebeine sind zerschlagen (Ps 51,10); die Tage sind vergangen wie ein Rauch; der Leib ist zerfallen (Ps 102,4ff.); der Geist ist in Ängsten, das Herz erstarrt (Ps 143,4). Dementsprechend umschließt die Vergebung der Sünden die Erneuerung des Menschen im umfassenden Sinn: „Wohl dem, dem die Übertretungen vergeben sind, dem die Sünde bedeckt ist!" (Ps 32,l) 40 bzw.: „Der dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen" (Ps 103,3). Mit dem Ausblick auf den neuen Bund, den Gott mit seinem Volk schließen will (Jer 31,3 Iff., mit der Begründung: „denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken": V. 34), und auf das neue Herz und den neuen Geist, die er verheißt (Hes 36,26, mit der Begründung: „Ich tue es nicht um euretwillen,... sondern um meines heiligen Namens willen": V. 22, und der Implikation: „ich will reines Wasser über euch sprengen, daß ihr rein werdet; von all eurer Unreinheit und von allen euren Götzen will ich euch reinigen": V. 25), weitet sich der Blick auf die Zukunft. Dabei ist an die Stellvertretung des Gottesknechts in Jes 53 zu erinnern, von dem es heißt: „Er trug (KBtt) unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen" (V. 4); „er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt" (V. 5); „der Herr warf unser aller Sünde auf ihn" (V. 6); „er trägt ihre Sünden" (V. II) 4 1 . Eigens hervorzuheben ist an dieser Stelle der Zusammenhang von Sündenerkenntnis, Sündenbekenntnis und Bitte um Sündenvergebung, wie er in Ps 51 enthüllt wird. 42
40 Zu beachten ist der doppelte Makarismus in V. 1 und 2 im Blick auf die umfassende Vergebung Jahwes; dies wird unterstrichen durch den Gebrauch der drei grundlegenden Bezeichnungen für Sünde, vas, ΠΚΒΠ und auf die sich die Vergebung bezieht; vgl. dazu R.Knierim, Die Hauptbegriffe flir Sünde im Alten Testament, Gütersloh 1965; R.Koch, Die Sünde im Alten Testament, Frankfurt u.a. 1992, 25ff. Vgl. zu Ps 32 insgesamt: B. Willmes, Freude über die Vergebung der Sünden. Synchrone und diachrone Analyse von Psalm 32, FHSS 28, Frankfurt 1996. 41 Vgl. dazu: B.Janowski, „Er trug unsere Sünden. Jes 53 und die Dramatik der Stellvertretung", in: Ders., Gottes Gegenwart in Israel. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 1993, 303-326; K.Koch, „Sühne und Sündenvergebung um die Wende von der exilischen zur nachexilischen Zeit", in: Ders., Spuren des hebräischen Denkens. Beiträge zur alttestamentlichen Theologie. Ges. Aufsätze I (hg. v. B.Janowski, M.Krause), Neukirchen-Vluyn 1991, 184-205; dazu kritisch: Hofius, Vergebungszuspruch, a.a.O. 117f. 42 Vgl. zum Ganzen: H.-J.Kraus, Psalmen, BK XV/1,2, Neukirchen-Vluyn 61989, 538-549. Vgl. dazu C.Giraudo, „Das Sündenbekenntnis im AT", Conc(D) 23 (1987), 143150.
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Sünde wird in umfassender Weise als Schuld gegenüber Gott erkannt (V. 6), auch wenn sie zunächst aus dem zwischenmenschlichen Bereich erwächst (vgl. 2.Sam 12,13; Gen 39,9). Die Übertretung der göttlichen Gebote ist nichts weniger als Versündigung an Gott. Dabei sind die einzelnen Gebote jeweils auf das erste Gebot bezogen: „Es geht um Jahwe selbst.... Sünde ist Übertretung des ersten Gebots."43 Die Erkenntnis der Sünde erwächst aus der Konfrontation mit dem heiligen Gott. Indem der Mensch in sein Licht gerückt wird, tritt das gesamte Ausmaß der Verfallenheit an die Sünde zutage: „Siehe, ich bin als Sünder geboren, und meine Mutter hat mich in Sünden empfangen." (V. 7). „Die vor Jahwes Angesicht sich ereignende Ausleuchtung der letzten Tiefen und Urgründe der menschlichen Existenz" enthüllt: „der Urgrund, der Wurzelgrund meiner Existenz ist durchwirkt von Verderbnis."44 Ausdrücklich wird betont, daß diese umfassende Erkenntnis nicht menschlicher Reflexion, sondern göttlicher Offenbarung entspringt: „im Geheimen tust du mir Weisheit kund." (V. 8)45. In der Anerkenntnis seiner Schuld gibt der Sünder dem heiligen Gott Recht, rechtfertigt er Gott. Sein Bekenntnis zielt auf das Eingeständnis: „... auf daß du recht behaltest in deinen Worten und rein dastehst, wenn du richtest."46 Gott wird somit geehrt, wenn der Sünder umfassend und bedingungslos seine Verfallenheit vor Gott erkennt und eingesteht, ohne sich selbst rechtfertigen und somit „entschulden" zu wollen. Solange die Schuld - „dunkel und drohend"47 - zwischen Gott und dem Sünder steht, sind die „Gebeine zerschlagen" (V. 10), bleibt Gottes Angesicht verborgen (V. 11), anstatt über den Beter erhoben zu sein und ihm zu leuchten (vgl. Num 6,25). Eine Veränderung dieser Situation steht nicht in der Möglichkeit des sündigen Menschens. Denn erforderlich ist keine Milderung der hoffnungslosen Lage, sondern eine grundlegende Umwandlung48, eine Neuschöpfung. Eben diese erbittet der Sünder in V. 12: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist." Die Tätigkeit, die mit dem Begriff K~Q bezeichnet wird, kann allein von Gott selbst ausgeübt werden. Sein Schaffen (Gen 1,1) steht allem menschlichen Wirken gegenüber. Dasselbe gilt für das Geschenk der Vergebung,
43
Kraus, a.a.O. 544. Ebd. 45 „Die Einsicht in die verborgenen Tiefen der Schuldverfallenheit [ist] nicht Ergebnis menschlichen Nachdenkens, sondern eine Gabe göttlicher Mitteilung und Eröffnung." (Kraus, a.a.O. 545). 46 „Der Beter unterwirft sich in einer Gott selbst betreffenden Schulderklärung dem gerechten Gericht Jahwes." (Kraus, a.a.O. 544, mit Verweis auf Luthers De um iustificare und dessen Darstellung bei H.J.Iwand, „Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre", in: Ders., Glaubensgerechtigkeit. Lutherstudien [Hg. v. G.Sauter], TB 64, München 2 1991, 21fA 47 Kraus, a.a.O. 546. 48 „Die Schuld ist das Unerträgliche, das nicht nur gemildert und abgeschwächt, sondern ganz und gar beseitigt werden muß: getilgt, abgewaschen, aus dem Angesicht Gottes verschwunden." (Kraus, a.a.O. 543). 44
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für die Erschaffung des reinen Herzens und des neuen Geistes: „Das ,reine Herz' kann der Mensch sich nicht selbst bereiten, kein Ritus kann es ins Leben setzen. Nur Gottes freie, schöpferische Tat kann das Innere des Menschen erneuern."49 Aus der empfangenen Zuwendung der Vergebung erwächst eine neue Beauftragung: der begnadete Sünder wird zum Zeugen für Gottes Barmherzigkeit: „Herr, tu meine Lippen auf, daß mein Mund deinen Ruhm verkündige." (V. 17). Aber selbst der Dank steht nicht in der Verfügungsgewalt des Beters. Jahwe wird um die erforderliche Bevollmächtigung zum angemessenen Lobpreis ersucht. Auch der Dienst im neuen Gehorsam ist gnädige Gabe Gottes. „Alles ist Tat Gottes. Das sola gratia leuchtet aus jedem Vers hervor."50 Als der „Heilige Gottes" (Mk 1,24) ist Jesus zugleich der Arzt, der nicht wie ein Mensch - der Vergebung bedarf, sondern sich in der Taufe mit dem Ziel unter die Sünder einreiht (Mt 3,14), sie zu heilen. Davon handelt die auf Mk 2,1-12 folgende Perikope vom „Mahl mit den Zöllnern und Sündern". Indem die Sünder an Jesu Tisch geladen werden, wird die Neubegründung der Gottesgemeinschaft aufgrund der Sündenvergebung überaus anschaulich. Somit ist also festzuhalten: „Jesus hat die Vergebung nicht nur im Wort, sondern auch durch die Tat zugesprochen." 51 . Sowohl der Vorwurf der Gotteslästerung angesichts der zugesprochenen Vergebung (Mk 2,7), als auch die Kritik an Jesu Gemeinschaft mit den Sündern (MK 2,16; vgl. die abwertende Charakterisierung „ein Freund der Zöllner und Sünder" in Mt 11,19) machen indirekt deutlich, daß an dieser Stelle das Proprium der Sendung Jesu erkennbar wird. Positiv wird dies deutlich in den Gleichnissen (Lk 15,2ff.) und in vielen seiner Handlungen (vgl. Lk 5,8.10; 7,48; 23,43). „Der Inhalt des Neuen Bundes (Jer 31,3Iff.) läßt sich in dem einen Wort Sündenvergebung' zusammenfassen. Alles, was Jesus von der Gegenwart der Herrschaft Gottes sagt und wie er sie bringt, kann mit diesem einen Wort bezeichnet werden." 52
49
Kraus, a.a.O. 546. Kraus, a.a.O. 549. Er urteilt abschließend: „In seiner Radikalität der Erkenntnis und Weisheit (8), die aus dem prophetischen Wort des Alten Testaments gewonnen worden ist, ragt Ps 51 aus dem Psalter hervor. Einzigartig sind seine Spitzenaussagen. Unfaßlich ist die Fülle der Einsicht." (ebd.). 51 J.Jeremias, Neutestamentliche Theologie I: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 4 1988, 116. „Der in der Tischgemeinschaft vollzogene Einschluß der Sünder in die Heilsgemeinde ist der sinnenfälligste Ausdruck der Botschaft von der rettenden Liebe Gottes." (a.a.O. 117). 52 J.Schniewind, Matthäus, a.a.O. 86. In gleicher Weise identifiziert Jeremias Evangelium und Sündenvergebung: „Die Frohbotschaft wird verkündigt und die Vergebung der Sünden zugesprochen, die eine große Gabe der messianischen Zeit" (J.Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 101984, 122). Er weist daraufhin, daß dabei nicht die Wortstatistik von άφίημι ausschlaggebend sein kann, da bei Jesus in Bildern und Gleichnissen die „Sache .Vergebung' ständig vorhanden" ist. So schließt dies etwa ein, daß dem Vater in Lk 50
42
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Jesus selbst ist der Gottessohn, in dessen Person „das Reich Gottes Gegenwart ... und ... die Vergebung Gottes Wirklichkeit geworden"53 ist. Darum ist das Wort von der Vergebung „Einbrechen des Heils", in dem sich „die Heilseröffnung der wahren Gottesgemeinschaft"54 ereignet.55 2.2.3 Der Kreuzestod Jesu Christi als Sühnetod für die Sünden Die Deutung des Kreuzestodes ist geprägt vom Sieg über die Sünde. Sie wird laut in der zentralen Kennzeichnung dieses Todes als Opfertod des messianischen Versöhners in Mk 10,45: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und sein Leben gebe als Lösegeld (λύτρον) für viele" (vgl. Mt 20,28). Dies schlägt sich nieder im Kelchwort: „Trinket alle daraus; das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden (εις άφεσιν αμαρτιών)" (Mt
15,24.32 eine Totenauferweckung und eine Heimholung des Verlorenen widerfährt (Jeremias, Theologie, a.a.O. 116). 53 J.Schniewind, „Das Selbstzeugnis Jesu nach den ersten Evangelien" [1964], in: Ders.: Der Herr der Welt, ThDi 32, Gießen 1983,16. 54 H.Gese, „Der Messias", in: Ders., Zur biblischen Theologie. Alttestamentliche Vorträge, Tübingen 3 1989, 128-151, hier: 145. Es ist somit „schöpferischefr] Freispruch": vgl. Hofius, Zuspruch, a.a.O. 143. 55 Bereits an dieser Stelle ist auf einen Sachverhalt hinzuweisen, der am Ende von Kap. 2.4 breiter diskutiert werden soll: W.Pannenberg (Systematische Theologie III, a.a.O. 238ff.) greift in seiner Theologie eine Argumentationslinie auf, die den Zuspruch der Sündenvergebung lediglich als „Vor-Wort" zur Neuschöpfung versteht, da dieser sich auf die Beseitigung der Trennung in Gestalt der Sünde richte. Daraus ergibt sich folgerichtig, daß die (lutherische) Identifikation von Evangelium und Sündenvergebung eine „Einengung" bzw. „Verkürzung" darstelle, die behoben werden müsse. Pannenberg verweist dabei auf Schleiermacher (a.a.O. 239). Dieser bestimmt in seiner Glaubenslehre das Verhältnis von Rechtfertigung und Sündenvergebung folgendermaßen: Für ihn „ist einleuchtend, daß Sündenvergebung an und für sich nur die Aufhebung einer negativen Größe ist und also keine Bezeichnung für die ganze Glückseligkeit sein kann." „Strenggenommen" ist dadurch „nur ein Verhältnis zu Gott aufgehoben ..., aber kein neues gesetzt." Sündenvergebung ist daher nur ein Element der Rechtfertigung. Dadurch kommt er zu dem Lehrsatz: „Daß Gott den sich Bekehrenden rechtfertigt, schließt in sich, daß er ihm die Sünden vergibt und ihn als ein Kind Gottes anerkennt." (Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt II [hg. v. M.Redeker], Berlin 'i960, § 109,1/11, 172.171). Pannenberg führt außerdem K.Barth (KD IV/1, 668) an, der einräumt: „Man kann mit .Vergebung der Sünden' Alles sagen, was hier zu sagen ist", aber gleichwohl fortfahrt: „Es wird aber doch besser sein, nicht Alles nur damit sagen zu wollen." Denn des Menschen „Rechtfertigung vollendet sich in diesem positiven Werk Gottes, krall dessen er einer wird, der den Kopf heben und hoch tragen darf, weil er vor ihm bestehen kann, weil er ihm gefällt, weil er sein, Gottes, Gerechter ist." Pannenberg stimmt daher der von A.Ritschl (Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung III, a.a.O. 11) angebrachten Korrektur zu, der an dieser Stelle Jesu Botschaft vom Reich Gottes einfügt (wenn er auch dessen inhaltliche Füllung nicht teilt): a.a.O. 99. Vorrang hat die Basileia-Botschaft Jesu, in der die Sündenvergebung bereits enthalten ist.
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26,27f.).56 Im Johannesevangelium steht das gesamte Wirken Jesu unter dem programmatischen Vorzeichen: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!" (Joh 1,29; vgl. Jes 53,4.11)". Vor dem Hintergrund dieses Werkes, das mit dem Tod am Kreuz „vollbracht" (Joh 19,30) ist, werden die Jünger mit der charakteristischen Aufgabe betraut: „Nehmt hin den heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlaßt, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten" (Joh 20,22f.)58. In Apg 2,38 wird auf Johannes den Täufer Bezug genommen und seine Erwartung zugleich als erfüllte begriffen, wenn es heißt: „Tut Buße und jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden, so werdet ihr empfangen die Gabe des heiligen Geistes." Damit ist Jesus als der „Kommende" verstanden, der die Verheißung der Geistbegabung mit sich gebracht hat. Vergebung der Sünden ist dabei in erster Linie Rettung (Rom 1,16) in dem Sinne, daß Jesus „uns aus dem kommenden Zorngericht herauslöst" In Auseinandersetzung mit einer Auslegungstradition, die die Deutung des Kreuzestodes Jesu als Sühnetod weitgehend bestreitet (vgl. dazu etwa: H.Conzelmann/A.Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, UTB.W 52, Stuttgart u 1995, 478ff.486ff.) hat u.a. P.Stuhlmacher einsichtig gemacht, „daß Jesus die Passion und Kreuzigung als Konsequenz seiner messianischen Sendimg auf sich genommen hat, und zwar in der Absicht, kraft seines zur Sühne für ,die Vielen' preisgegebenen Lebens selbst noch seinen Feinden den künftigen Zugang zu und ,Frieden mit Gott' zu ermöglichen, der nach Rom 5,1-2.11 Quintessenz der καταλλαγή ist, d.h. der von Gott durch Jesu Opfergang gestifteten Versöhnung (Versühnung)." (P.Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments I: Grundlegung. Von Jesus zu Paulus, Göttingen 1992, 154). Dies geschieht auf dem Hintergrund des im AT von Gott eröffneten Sühnerituals: „er stiftet das Opfer und gibt außerdem das Sühnemittel, mit dessen Hilfe das sonst dem Gerichtstod verfallene Volk vor Gott entsühnt und in seiner Existenz neu begründet werden kann. Sühne, Sündenvergebung und Neuschöpfung gehören im Sühneritual aufs engste zusammen (vgl. Hebr 9,22)." (a.a.O. 139); vgl. auch: Ders., „Existenzstellvertretung für die Vielen: Mk 10,45 (Mt 20,28)", in: Ders., Versöhnung, Gesetz und Gerechtigkeit. Aufsätze zur biblischen Theologie, Göttingen 1981, 27-42. 57 Vgl. dazu oben 33. 58 Vgl. zu Joh die Habilitationsschrift von M.Hasitschka, Befreiung von Sünde nach dem Johannesevangelium. Eine bibeltheologische Untersuchung, IThS 27, Innsbruck u.a. 1989; dort wird Joh 1,29 als „Schlüsseltext für das johanneische Verständnis der Befreiung von Sünde" (a.a.O. 15-173), sowie 20,23 als „Wort des Auferstandenen über die Sündenvergebung" (a.a.O. 378-422) ausführlich erörtert. Hasitschka beobachtet bei beiden Stellen den Zusammenhang zwischen Geistmitteilung und Sündenvergebung: „Das Wort vom Lamm Gottes in Verbindung mit der Aussage über das Taufen im heiligen Geist steht am Anfang des irdischen Wirkens Jesu. Die Gabe des Geistes und das Vollmachtswort am Ostertag stehen am Anfang seines nachösterlichen Wirkens als erhöhter Herr durch die Jünger. Gabe des Geistes und Befreiung von Sünde kann somit als Thema gesehen werden, das wie ein Rahmen am Anfang und Schluß des Evangeliums steht. Über dem gesamten irdischen Wirken Jesu steht die Aussage von 1,29, über dem gesamten Wirken der Jünger jene von 20,23. So wie zur Sendung Jesu wesentlich das Hinwegnehmen der Sünde gehört, so gehört zur Sendung der Jünger die Sündenvergebung (a.a.O. 421).
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(l.Thess 1,10). In dieser Zusammenfassung der urchristlichen Missionspredigt59 tritt die eschatologische Dimension der Sündenvergebung sehr deutlich zutage: Jeder Mensch hat vor dem Richterstuhl Christi zu erscheinen (vgl. 2.Kor 5,10). Dort wird die durch Christus erworbene und bereits heute dem Glaubenden zugesprochene Versöhnung offenbar. Die Verkündigung der Sündenvergebung, die im konkreten Akt von Taufe und Abendmahl dem Bußfertigen zugeeignet wird, läßt dabei ihre eschatologische Gültigkeit erkennen (vgl. Apg 10,42f.). Das hier und heute lösende (wie umgekehrt ebenso das bindende) Wort ist von eschatologischer Qualität (Joh 20,22f.; vgl. Mt 10,32f.). 2.2.4 Die Überwindung der Verderbensmächte in der Auferstehung Jesu Christi Die eigentliche Dimension der Sünde wird in Gen 2f. manifest (ohne daß hier der Begriff „Sünde" überhaupt genannt wird)60: Der Ungehorsam gegen Gottes Gebot bringt den Menschen unter den Bann des Todes: „Denn an dem Tag, da du von ihm [sc. dem Baum der Erkenntnis] issest, mußt du des Todes sterben" (Gen 2,17). Daher wird vielfach von der „Versklavung unter die Sünde"61 gesprochen, die in der Feststellung gipfelt: „Der Sünde Sold ist der Tod" (Rom 6,23). Obwohl Gott dem Sünder sein Leben Stunde um Stunde erhält62, ist er in Wahrheit „tot in Sünden" (Eph 2,1.5). Er ist eingeschlossen in die „Macht der Finsternis" (Kol 1,13), ja ist „Finsternis" (Eph 5,8)63. Aus dieser grundlegenden Bestimmung erwachsen konkrete „Werke
Vgl. dazu auch „das alte Kerygma aus Apg 10,34-43" (Stuhlmacher, Theologie, a.a.O. 163), in dem davon die Rede ist, daß Jesus „von Gott bestimmt ist zum Richter der Lebenden und der Toten", und damit der Verweis auf die durch Jesus Christus eröffnete und im Glauben an ihn zu empfangende Sündenvergebung verbunden wird (V.42f.). 60 Vgl. dazu auch: A.Gunneweg, „Schuld ohne Vergebung?", in: Ders., Sola Scriptura. Beiträge zu Exegese und Hermeneutik des Alten Testaments (hg. v. P.Höffken), Göttingen 1983, 116-128. Gunneweg umschreibt den Skopus der in Gen 2-11 dargestellten Sünde als „fundamental falsches Selbstverständnis der Menschen, das in der Entmachtung Gottes und der Machtergreifung des Menschen gegen Gott und gegen den Mitmenschen Kain und Abel - konkret wird." (a.a.O. 126). Dieser Radikalität der Schuldverfallenheit setzt Gott die Radikalität der Erneuerung im Sinne von Jer 31,3Iff. und Jes 40,Iff. entgegen. Nicht einzelne Verfehlungen werden erlassen, sondern umfassend Neues wird geschaffen: „Vergebung ist fundamentale Erneuerung durch Gott, ist Gottes Gabe, und in seiner Gabe ist der Geber selbst präsent: ,Ich will ihr Gott sein.'" (ebd.) Entsprechendes gilt von Rö 3,21ff, wo der ausweglosen Verfallenheit des Menschen (Rö lf.) die den Sünder neuschaffende Gerechtigkeit Gottes entgegengesetzt wird. 61 Vgl. Rom 6,16.20; Joh 8,34. 62 Vgl. Mt 5,45: „Er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte". 63 Vgl. Joh 1,5; 3,19; 12,46; Apg 26,18; IThess 5,4f.; IPetr 2,9; vgl. auch die Verbindung von „Finsternis" und „Tod" in Mt 4,16.
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der Finsternis"64; der Verstand ist „verfinstert" (Eph 4,18; 2Kor 4,4). Sämtliche Lebensäußerungen tragen den Stempel der Finsternis und des Todes. Vor diesem Hintergrund muß die Sendung Jesu Christi den Machtkampf mit dem Reich der Finsternis implizieren (vgl. l.Joh 3,8: „Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, daß er die Werke des Teufels zerstöre".). Noch vor Beginn der öffentlichen Wirksamkeit Jesu findet die Auseinandersetzung mit dem Teufel über die Macht statt (Mt 4,3.6; vor allem V. 8f.). Bei vielen Heilungen tritt die widergöttliche Macht zutage, die den Betroffenen gefangen gehalten hatte.65 Über die verkrümmte Frau befindet Jesus: „Sollte dann nicht diese, die der Satan schon achtzehn Jahre gebunden hatte, am Sabbat von dieser Fessel gelöst werden?" (Lk 13,16)66. Insbesondere der Prozeß und die Kreuzigung Jesu erwecken vordergründig den Anschein, als müßte sich Jesus der Macht des Bösen geschlagen geben: Vom Verräter Judas wird gesagt: „Der Satan fuhr in ihn" (Lk 22,3; Joh 13,27). Im Unterschied zu anderen Anlässen67 ist dies jedoch - in den Worten Jesu - „eure Stunde und die Macht der Finsternis" (Lk 22,53). Das Ostergeschehen offenbart, daß das vermeintliche Scheitern eines Messiasprätendenten68 in Wahrheit der stellvertretende Sühnetod für alle Menschen war (Mk 10,45; Joh 3,16; Rom 3,25; 4,25 u.ö.), der durch die Auferweckung als endzeitliche Machttat Gottes bestätigt wird. Daher hat „Jesus Christus dem Tod die Macht genommen" (2Tim 1,10), kann Paulus mit den Propheten fragen: „Der Tod ist verschlungen vom Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?" (IKor 15,54f.)69. Aus dem Skizzierten wird erkennbar, daß im biblischen Zeugnis Sünde, Tod und Teufel aufs engste miteinander verbunden sind: Die Sünde als Rebellion gegen Gott, den Schöpfer und Herrn, bringt die Versklavung unter die Macht des Bösen und die Auslieferung an die Gewalt des Todes mit sich.
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Vgl. Röm 13,12; Eph 5,11; vgl. Gal 5,19: „Werke des Fleisches". Der unreine Geist wehrt sich mit den Worten: „Was willst du von uns, Jesus von Nazareth? Du bist gekommen, uns zu vernichten. Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes!" (Mk 1,24; vgl. 1,34; 3,11; 5,Iff.; 9,17ff.) 66 Vgl. die „Fessel der Zunge" beim Taubstummen in Mk 7,35; vgl. insgesamt Apg 10,38. 67 Vgl. Lk 4,29f.; Joh 7,30; 8,20. 68 Vgl. die abschließende Auseinandersetzung mit dem Hohen Rat in Mk 14,61 f. parr. und die diesbezügliche Verspottung des Gekreuzigten Mk 14,29ff. parr. 69 ,Ji'rst die Erhöhung des Gekreuzigten zur Rechten Gottes ließ Jesus als den von Gott ins Recht gesetzten messianischen Gottessohn erscheinen, der seinen Weg der neuen Gerechtigkeit wirklich in [sie] Namen Gottes gegangen war (Apg 2,36; Röm 1,3/; ITim 3,16). Erst von Ostern her erscheint Jesus, der Gekreuzigte und von Gott Au/erweckte, als die heilschaffende Gerechtigkeit Gottes in Person (IKor 1,30)." (P.Stuhlmacher, „Die neue Gerechtigkeit in der Jesusverkündigung", in: Ders., Versöhnung, Gesetz und Gerechtigkeit. Aufsätze zur biblischen Theologie, Göttingen 1981, 43-65; hier: 65). 65
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Kreuz und Auferweckung Jesu Christi markieren die Entmachtung der Verderbensmächte: Der Tod ist besiegt, der Teufel überwunden, die Versklavung unter die Sünde zerbrochen. Das Gesetz ist in Christus zu seinem τέλος gekommen (Rom 10,4; Gal 3,24f.). 2.2.5 Konsequenzen für die Wahrnehmung der Beauftragung zur Sündenvergebung durch die Gemeinde Jesu Christi Aus dem Dargelegten wird erkennbar, daß das Handeln der Kirche Jesu Christi in einem Raum erfolgt, der durch das Wort der Heiligen Schrift klar bezeichnet und begrenzt ist und daher auch den Grund und die Grenze der ihr anvertrauten Vollmacht zur Sündenvergebung enthüllt. Die darin zutage tretenden Merkmale sind folgende: a) Der Dienst der Gemeinde gründet im Auftrag ihres auferstandenen Herrn. Die Jünger werden durch die missio Christi eingegliedert in die missio Dei: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch." (Joh 20,21; vgl. 17,18). Daher ist die christliche Gemeinde bleibend darauf angewiesen, auf das Wort ihres Herrn zu hören und ihm zu gehorchen (vgl. Joh 10,27). Sie ist somit nicht frei, aus der Fülle vielfaltiger Einsatzmöglichkeiten des Dienstes in und an der Welt auszuwählen, sondern hat sich stets als hörende und gehorchende zu bewähren. b) Der Dienst der Gemeinde ist gekennzeichnet vom Zuspruch des Friedens und von der Gabe des Heiligen Geistes; denn Jesus spricht zu seinen Jüngern: „Friede sei mit euch! ... Nehmt hin den heiligen Geist!" (Joh 20,21 f.). Der in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi aufgerichtete Friede mit Gott (vgl. Rö 5,1; Eph 2,15 u.ö.) erfüllt seine Jünger und macht sie zugleich zu Boten des Friedens in Erfüllung der prophetischen Verheißung (vgl. Jes 52,7; Rö 10,15). Der Gott des Friedens (Rö 15,33; 16,20) läßt sein Heil kundmachen im Evangelium des Friedens (Eph 2,17), in der Botschaft von der Versöhnung (2.Kor 5,19f.). Den Zeugen stehen keine eigenen Mittel zu Gebote, um ihrer Botschaft Wirkung zu verleihen. Daher erfolgt sie im Modus der Einladung, der Bitte (2.Kor 5,20). Kraft der Verleihung des Heiligen Geistes ist jedoch der erhöhte Herr selbst im Zeugnis seiner Gemeinde am Werk. Damit wird erneut die unaufhebbare Abhängigkeit wie auch die umfassende Vollmacht der christlichen Gemeinde in ihrer Mission erkennbar. c) Die untrennbare Verbindung und Bezogenheit von Christus und Gemeinde kommt im Auftrag zum Lösen und Binden - wie auch in Jesu Wort über Bekennen und Verleugnen - eindrücklich zum Ausdruck. Der Zuspruch bzw. die Verweigerung der Sündenvergebung geschehen durch Menschen in der Zeit und bleiben als solche gültig in der Ewigkeit, d.h. angesichts des göttlichen Gerichts. Die Ausrichtung des Evangeliums erfolgt unter der Verheißung: „Wer euch hört, der hört mich; und wer euch verachtet, der verachtet mich; wer aber mich verachtet, der verachtet den, der mich gesandt
Der Grund der Sündenvergebung
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hat." (Lk 10,16). In der „Identität des Wortes Christi mit dem Wort des Boten Christi... liegt der höchste Anspruch, für Gott zu reden, und zugleich die absolute Begrenzung, nichts Eigenes zu reden oder gar sich selbst zu predigen (2.Kor 4,5)."70 In gleicher Weise findet das Bekenntnis des Jüngers zu Jesus Christus vor Menschen seine Entsprechung im Bekenntnis Jesu Christi zu seinen Zeugen vor dem himmlischen Vater (vgl. Mt 10,32f. u.a.)71. d) Das Gewicht der Vollmacht zur Sündenvergebung wird daran erkennbar, daß „die Sünden", die erlassen werden sollen, nicht näher qualifiziert werden. Dies wird bestätigt durch Jesu Aussage: „Alle Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben. ... Und wer etwas gegen den Menschensohn redet, dem wird es vergeben." (Mt 12,31 f.). Dem entspricht, daß auch die gewährte Vergebung unter Menschen jede menschlich erwogene Grenze sprengt: Siebenmal siebzigmal ist dem sündigenden Bruder zu vergeben (Mt 18,22).
Die Größe dieser Vollmacht impliziert gleichwohl auch eine Grenze der Sündenvergebung72. Diese ist dadurch markiert, daß der heilige Geist gelästert wird (Mt 12,31 f.). Damit aber ist „der Grund der Vergebung"73 negiert und abgelehnt. Da die Gemeinde die Vollmacht zur Sündenvergebung durch die Kraft des Heiligen Geistes empfangt (vgl. Joh 20,22f.), hat sie selbst keine Möglichkeit, jenseits der ihr dadurch gesetzten Grenze von Sünde zu lösen. Damit aber bleibt Sünde unvergeben. Dies ist ein Urteil in der Zeit, das seine Gültigkeit in der Ewigkeit behält. Angesichts dieser der Gemeinde gesetzten äußersten Grenze ist insbesondere hervorzuheben, daß sie nicht von Menschen gezogen werden kann. 70
R.Slenczka, Kirchliche Entscheidung in theologischer Verantwortung, Göttingen 1991, 193. 71 „Nicht weil von Christen vor Menschen bekannt wird, wird durch Christus vor Gott bekannt, sondern weil Christus das zugesagt hat, können wir in der Gewißheit, daß er uns vor Gott vertritt, auch ihn in Zuversicht und Gehorsam vor Menschen bekennen, ohne deren Gericht zu fürchten oder vor ihrem Urteil uns zu schämen." (Slenczka, Entscheidung, a.a.O. 31). 72 Zur Thematik „Grenze der Vergebung" vgl. Slenczka, Entscheidung, a.a.O. 207211, mit einer Darlegung der einschlägigen biblischen Belegstellen. 73 Slenczka, Entscheidung, a.a.O. 209. In solch einem Fall wäre „alles aufgehoben, was das Evangelium von Jesus Christus sagt und gibt; es gäbe keine Möglichkeit mehr, von Heil zu reden und Vergebung zuzusprechen." (a.a.O. 210). Vgl. auch G.Ebeling, „Der Mensch als Sünder. Die Erbsünde in Luthers Menschenbild", in: Ders., Lutherstudien III. Begriffsuntersuchungen - Textinterpretationen - Wirkungsgeschichtliches, Tübingen 1985, 74-107: „Todsünde bleibt allein die Sünde wider den heiligen Geist, die unverzeihbar ist, weil sie zur Vergebung Nein sagt." (a.a.O. 98, mit Verweis auf WA.TR 2,34,16 [Nr. 1302] bzw. WA 40 1,300,7, wo Luther zu Gal 2,21 festhält: „Iustificare ex operibus legis est abiicere gratiam dei. Est horrendissimum peccatum non velle iustificari per Christum. ... Non satis peccavimus, quod transgressores legis, num peccatum peccatorum addamus, ut etiam gratiam abiiciamus? Ergo non est peccatum supra peccatum negationis Christi.").
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Nicht Menschen grenzen ihre Mitmenschen aus oder versehen sie mit dem Bannstrahl. Vielmehr wird hierbei ein Sachverhalt festgestellt, der bereits besteht und angesichts dessen der Gemeinde die Vollmacht entzogen ist, die Vergebung zuzusprechen. Jenseits des durch Christus erschlossenen Raums des Heils verbleibt der Mensch unter Gottes Zorn und seinem Gericht (vgl. Joh 3,36). Ungeachtet der menschlich verständlichen Mühe, mit Lösen und Binden innerhalb der Gemeinde in rechter Weise umzugehen, ist daran zu erinnern, daß Grund und Grenze der Sündenvergebung von Menschen so wenig geändert werden können, so wenig sie von ihnen gesetzt wurden. Wird diese durch das Wort Gottes definierte Grenze zwischen Heil und Unheil, Vergebung und Gericht mißachtet, so fuhrt dies unabdingbar zu willkürlichen Grenzziehungen und Ausgrenzungen innerhalb der christlichen Kirche, die vorletzte Unterscheidungen zu heilsentscheidenden erheben.74
2.3 Die Verwirklichung der Sündenvergebung durch den Heiligen Geist 2.3.1 Die Heiligung des Sünders im dritten Glaubensartikel75 Das Heilswerk Jesu Christi ist nicht allein ein vergangenes Ereignis. Wäre es nur dies, so hätte es keine Bedeutung für die Kirche und die Glaubenden in ihrer jeweiligen Gegenwart. Daher betont Luther den grundlegenden Unterschied zwischen dem Erwerb des Heils in Kreuz und Auferstehung und der aktuellen Austeilung dieses Schatzes.76 Erst durch dieses zweite Geschehen wird der Mensch persönlich mit Gottes Willen und Verheißung konfrontiert. Dabei kommt der Sündenvergebung eine hervorgehobene Bedeutung zu.
„Daher wäre es ein folgenreicher Fehler zu meinen, wir könnten uns aus eigenem Ermessen über die Grenze hinwegsetzen, davon absehen und dann auch nicht davon reden und darauf hinweisen. Wir würden damit nicht nur aus dem Blick verlieren, was heilsentscheidend ist, sondern mit Sicherheit auf viele andere Grenzen treffen und sie aufbauen, die eben nicht heilsentscheidend sind." (Slenczka, Entscheidung, a.a.O. 211). 75 Vgl. dazu K.Schwarzwäller, „Delectari Assertionibus. Zur Struktur von Luthers Pneumatologie", LuJ 38 (1971), 26-58, der von der Deutung des dritten Artikels im Katechismus ausgeht; außerdem E.Herms, Luthers Auslegung des Dritten Artikels, Tübingen 1987: „3.3. Vergebung der Sünden" (a.a.O. 93ff.). 76 „Obgleich das Werk am Kreuz geschehen und die Vergebung der Sund erworben ist, so kann sie doch nicht anders denn durchs Wort zu uns kommen." (GK zum Abendmahl, BSLK, a.a.O. 713,35). Dies ist „Kraft und Nutz" (BSLK, a.a.O. 711,31) des Sakraments, worin der Glaubende beides hat: „daß es Christus' Leib und Blut ist und daß es Dein ist als ein Schatz und Geschenke." (BSLK, a.a.O. 713,16).
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Die Austeilung des Heils erfolgt durch die von Gott dazu eingesetzten Mittel, Wort und Sakrament.77 In diesen Mitteln wirkt der Heilige Geist, indem er tut, was sein Name besagt: Er ist der Sanctificator. Daher ist der 3.Teil des Glaubensbekenntnisses nach Luther der „Artikel von der Heiligung". In der Auslegung der Credoformulierung „remissio(nem) peccatorum" deutet der Reformator das Bekenntnis zur Sündenvergebung somit als Wirkung des Heiligen Geistes, die dem Glaubenden als Glied der „ganzen Christenheit" zuteil wird: „...in welcher Christenheit er mir und allen Gläubigen täglich alle Sunde reichlich vergibt ,.."78 Wie das Werk des Heiligen Geistes insgesamt die Austeilung und Anwendung des durch Christus erworbenen Schatzes der Erlösung umfaßt79, so gilt dies auch und besonders von der Vergebung der Sünden. In ihr tritt der Konvergenzpunkt zutage, auf den die verschiedenen Linien des christlichen Auftrags zulaufen: „Darümb gehöret hieher, was von den Sakramenten zu predigen ist, und Summa das ganze Evangelion und alle Ämpter der Christenheit."80 Da die Sünde auch den Glaubenden Tag um Tag umgibt81, bedarf er zeit seines Lebens der Vergebung: „Weichs auch not ist, daß ohn Unterlaß gehe. ... Darümb ist alles in der Christenheit dazu geordnet, daß man da täglich eitel Vergebung der Sunden durch Wort und Zeichen hole, unser Gewissen zu trösten und aufrichten, solang wir hie leben. Also machet der heilig Geist, daß, ob wir gleich Sunde haben, doch sie uns nicht schaden kann, weil wir in der Christenheit sind, da eitel Vergebung der Sund ist, beide das uns Gott vergibt und wir unternander vergeben, tragen und aufhelfen. Außer der Christenheit aber, da das Evangelion nicht ist, ist auch keine Vergebung nicht, wie auch keine Heiligkeit da sein kann."82
S. dazu unten Kapitel 4. BSLK, a.a.O. 512,9. 79 „Darümb ist das Heiligen nicht anders, denn zu dem HERRN Christo bringen, solch Gut zu empfahen, dazu wir von uns selbs nicht kommen künnten" (BSLK, a.a.O. 654,38). 80 BSLK, a.a.O. 658,14. Dies gilt in gleicher Weise für das Credo: „Das Apostolikum verdient die Bezeichnung als Evangelium, weil es in den Worten .Vergebung der Sünden' gipfelt, die als ,caput doctrinae Christianae' [M.Luther, Predigt am 19.So.n.Trin., 18.10.1528, WA 27,378,10] den Schlüssel fur das richtige Verständnis des Symbols bilden. ... Recht versteht das Symbol nur, wer überall die Sündenvergebung als Ziel hinzudenkt. Der große Jubelhymnus des Credo auf den dreieinigen Gott und seine großen Werke ... klingt also aus in das Finale von der Sündenvergebung, die ihrerseits ihren Abschluß hat in der Auferstehung und dem ewigen Leben." (J.Meyer, Historischer Kommentar zu Luthers Kleinem Katechismus, Gütersloh 1929,260f.). 81 „So sind wir doch nimmer ohne Sund unsers Fleischs halben, so wir noch am Hals tragen" (BSLK, a.a.O. 658,23). 2 BSLK, a.a.O. 658,18. Dieselben Schwerpunkte begegnen im Bekenntnis von 1528: Durch den Heiligen Geist werden die Gläubigen mit Gottes Gaben beschenkt, „vom tod 78
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An der Sündenvergebung, die der Heilige Geist durch Wort und Sakrament austeilt, wird seine beständige Arbeit an den Glaubenden erkennbar, die erst mit dem Tod an ihr Ziel kommt: „... bis in jenes Leben, da nicht mehr Vergebung wird sein, sondern ganz und gar rein und heilige Menschen."83 Was im Leben des Einzelnen die beständige Zuwendung der Sündenvergebung ist, das ist im Blick auf die Gesamtheit der Glaubenden der Bau der Gemeinde Jesu Christi: Mit diesen beiden Aufgaben sind die zentralen Aspekte der Wirksamkeit des Heiligen Geistes beschrieben: „Denn er seine Christenheit noch nicht alle zusammenbracht noch die Vergebung ausgeteilet hat. Darümb gläuben wir an den, der uns täglich erzuholet durch das Wort und den Glauben gibt, mehret und stärkt durch dasselbige Wort und Vergebung der Sunde."84 Das Bekenntnis zur Sündenvergebung als dem täglichen Werk des Heiligen Geistes schließt allerdings jeden leichtfertigen Umgang mit der Gabe der Vergebung aus: „Christus hat uns nicht allein gratiam, die gnade, sondern auch donum, die gäbe des Heiligen geists, verdienet, das wir nicht allein Vergebung der sunden, sondern auch auffhören von den sunden hetten."85 Neben das Vergeben tritt somit das Ausfegen. Die Sünde soll zurückgedrängt werden; sie soll aufhören. Dies geschieht dort, wo der Heilige Geist wirkt: im Reich Gottes. Dieses Reich ist einerseits „nit änderst dann ein vertilgunge und Vergebung der Sünden"86. Andererseits ist es ein Krankenhaus, in dem „regniret unnser lieber herre Christus, gleychsam ein Spittelmeyster in einem Spital unter den krancken, armen, siechen menschen, Dann all hieher zu disem Reych gehören nit dann eytel sunder und elende menschen, den yhre sundt vergeben werden." Als Arzt verheißt er den Kranken zunächst Gesundheit und fängt dann an, „zu purgiren, evacuiren, confertiren unnd der gleichen zutreyben. so zur gesundtheyt helffen." So legt Gott nach der Sündenvergebung „allerley creutz auff', um den Glaubenden Tag um Tag zu
auff erweckt, von sunden gefreyet und frölich und getrost, frey und sicher ym gewissen gemacht, Denn das ist unser trotz, so wir solchs geists Zeugnis ynn unserm hertzen fulen, das Gott wil unser Vater sein, sunde vergeben und ewiges leben geschenckt haben." (WA 26,505,33). 83 BSLK, a.a.O. 659,10. 84 BSLK, a.a.O. 660,3. Vgl. dazu unten Kap. 2.5. 85 Von den Konziliis und Kirchen (1539), WA 50,599,32. Vgl. auch die Beschreibung der Kirche als „Christlich heilig Volck, in welchem Christus lebet, wirckt und regirt per redemptionem, durch gnade und Vergebung der sunden, Und der Heilige geist per vivificationem & sanctificationem, durch teglich ausfegen der sunden und erneuerung des lebens" (WA 50,625,23); vgl. Peters, Glaube 181.206. 86 Predigt über Mt 18,23-35 (28.10.1524), WA 15,725,18.
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reinigen und zu erneuern87, denn es gilt stets zu beachten: „es sein zweyerley dingk sunde vergeben und sunde wegnemen oder auß fegen."88 Wo sich demnach ein Christ gegenüber der Sünde gleichgültig verhält, dort treibt der Heilige Geist sein Werk nicht. Daher ist auch dort Anlaß zur Sorge gegeben, wo ein Christ die gottgegebenen Mittel zum Kampf gegen die Sünde - Abendmahl und Beichte - für überflüssig hält. Dies zeugt von mangelnder Gottes- und Selbsterkenntnis, wie auch von einem fehlenden Verständnis der durch die Angriffe des Teufels markierten Gesamtsituation, der - wenn auch besiegt - nicht „feiert", um den Glaubenden jetzt schon Ruhe zu gönnen. „Kompt das [sc. das „Ausfegen" der Sünde] nicht dazu, so ist remissio peccatorum und Tauff falsch, quia Christus non tantum remissionem peccatorum attulit, sed etiam Spiritum sanctum, du wirst sie nicht von einander trennen können."89 Damit ist festzuhalten: Das Leben des einzelnen Christen wie auch der christlichen Kirche als ganzer ist geprägt von der pneumatischen Realität des umfassend wirksamen Heiligen Geistes. Er schafft Erleuchtung im Sinne der Sünden- und Gnadenerkenntnis.90 Er heiligt die Glaubenden, indem er täglich bis zum Tod die Frucht des Heilswerkes Christi, die Vergebung der Sünden, austeilt und zugleich die Sünde abtötet, ausfegt.91 Gleichzeitig wird hier die Brücke zu den aus dem Glauben erwachsenen guten Werken geschlagen: Das donum des Heiligen Geistes wirkt sich in konkreten Früchten des neuen Lebens aus.92 In diesem Sinne hat der syllogismus practicus9i seine 87
WA 15,726,28; 729,24; vgl. dazu Asendorf, a.a.O. 204ff, der diese Predigt „eine Art Kompendium der Theologie Luthers" nennt (a.a.O. 206); vgl. auch Harnack, Theologie II, a.a.O. 227. 88 WA 15,727,20. 89 Predigt an Quasimodogeniti (13.4.1539), WA 47,729,15; zit. bei Asendorf, a.a.O. 289. Damit aber gewinnt das Gesetz eine neue Funktion: Es soll dein „guter freunde" werden. So kommt es zu einem höchst bedeutsamen Wechsel: „Prius Teufel, stockmeister. Iam: bonum mane. Prius eras stockmeister, iam gesel." (Predigt über Gal 3,23 am 3.1.1538, WA 46,122,20; vgl. Asendorf a.a.O. 336). 90 Vgl. dazu unten Kapitel 3. 91 Zum Verhältnis von iustum efflci und iustum pronuntiari seu reputari vgl. unten Kap. 2.4. 2 Vgl. dazu unten Kapitel 5. 93 Zwar begegnet der Begriff auch bei Luther (Römerbriefvorlesung, Scholien zu Rö 1,20, WA 56,177,14), doch ist er insbesondere im Kontext der reformierten Theologie gebräuchlich. Er bezeichnet den Rückschluß von den empirisch feststellbaren Früchten des Glaubens auf den diese hervorbringenden Glauben. Im Unterschied zu Calvins Bemühung, die Werke stets als Gabe Gottes und ihre Beurteilung als Früchte als Glaubensurteil festzuhalten, findet sich auf die Frage „Warum sollen wir gute Werke tun?" in Antwort 86 des Heidelberger Katechismus die „unvorsichtige Formulierung" (so Weber, Grundlagen II, a.a.O. 404): „Danach auch, daß wir bei uns selbst unsers Glaubens aus seinen Früchten gewiß sind" (O.Weber [Hg.], Der Heidelberger Katechismus, GTBS 1293, Gütersloh "1990, 47). Zu Calvin vgl. auch W.Niesel, Die Theologie Calvins, EETh 6, München
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Berechtigung: Wo der Zuspruch der Sündenvergebung lediglich als Deckmantel für die Fortsetzung des Sündigens mißbraucht wird, dort wird die Wirksamkeit des Heiligen Geistes verleugnet und damit auch Taufe und Sündenvergebung „falsch". 2.3.2 Der „Artikel von der Sündenvergebung" als existentieller Zugang zum gesamten Credo Was im Evangelium angeboten wird, soll der bußfertige Sünder im Glauben annehmen. Dabei ist der Glaube selbst Werk des Heiligen Geistes, der wiederum durch Wort und Sakrament, d.h. vor allem: durch Vergebung der Sünden, gestärkt und vertieft wird94. Im Glauben erfahrt er den Trost des versöhnten Gewissens und erhält die Gewißheit seiner Annahme als Kind Gottes um Christi willen. Wie das Evangelium auf die Vermittlung der Sündenvergebung an den Menschen zielt, so wird diese aufgenommen durch den Glauben als dem modus, der dieser Botschaft entspricht.95 Dabei ist hervorzuheben, daß die Sündenvergebung gewissermaßen zum Testfall des Glaubens überhaupt wird. Während die anderen Inhalte des Credo noch in der Distanz des vergangenen Geschehens verbleiben mögen96, wird an dieser Stelle jede Zuschauerrolle durchbrochen. Somit erschließt sich hier das gesamte Glaubensbekenntnis der Dimension der Erfahrung. Luther hebt dies eindrücklich in einer Predigt über Joh 18,15ff. hervor: Der ewige Gott erweist sich im Leben, Sterben und Auferstehen seines Sohnes als der Treue, der den Sünder in seine Gemeinschaft aufnimmt: „alle andere Artickel gehen auff den einigen Artickel Vergebung der Sünden und komen in diesem Artickel zusamen gleich als in einem Circkel. ... Was hilfft michs, das Christus gecreutziget und gestorben, Das der heilige Geist komen ist etc. So ich nicht gleube Vergebung der Sünden? Was Gott gethan hat, und sonderlich das der Son empfangen, geborn, gelidden, gecreutziget, gestorben, begraben, Zur Hellen gefaren, Von Todten aufferstanden, gen Himel gefaren ist, Und was der heilige Geist gewircket hat und noch wircket in der Christenheit, Das gehet alles dahin, das wir haben Vergebung der Sünden. ... Die 2
1957, 172-182; zur reformierten Orthodoxie vgl. G.Hornig, „Lehre und Bekenntnis im Protestantismus", HDThG 3, 93f. Zurecht weist Weber auf die beiden grundlegenden Gefährdungen hin, die dort unvermeidlich auftreten, wo der syllogismus practicus als empirisches Beweismittel mißverstanden wird; in diesem Fall kommt es entweder zur falschen securitas (weil von der moralischen Besserung auf wahren Glauben zurückgeschlossen wird) oder zur falschen qfflictio (weil empirisch keine guten Werke wahrzunehmen sind und daraus die Nichtexistenz des Glaubens gefolgert wird): vgl. Weber, Grundlagen II, a.a.O. 405. 94 Vgl. oben 49. 95 Vgl. unten 134.140. 96 „Was hab ich auch davon, das Gott himel und erden geschaffen hat, so ich nicht gleube Vergebung der Sünde?" Predigt über Joh 18,15ff. am 19.12.1528 (Wochenpredigten über Joh 16-20, WA 28,272,13).
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andern artikel treffen einen andern, komen mit uns nicht in die erfarung. Sollen sie aber mit uns in die erfarung komen und uns treffen, so müssen sie in diesem artikel mit uns in die erfarung komen und uns treffen, das wir alle, Ich fur mich, du fur dich und ein iglicher für sich gleuben Vergebung der Sünde. Aber der artikel ,Ich gleube Vergebung der Sünde' trifft uns und kompt mit uns in die erfarung und macht, das die andern artikel auch uns treffen und mit uns in die erfarung komen. Darumb ist er der schwerest Artikel zu gleuben."97 In der von Luther hier vorgetragenen Fassung von „Erfahrung" kommen die bei ihm auch sonst zu beobachtenden Akzente deutlich zum Vorschein: Erfahrung meint nicht die Verifikation des Glaubens an der Empirie, sondern ist im eigentlichen Sinne „Glaubens-Erfahrung". Gerade die Tatsache, daß der Zuspruch der Sündenvergebung uns in der „Erfahrung" treffen muß, d.h. unsere Existenz als Glaubende umfassend bestimmen soll98, macht ihn zum „schwersten Artikel zu glauben". Deshalb kann Luther den aus Gottes Wort erwachsenden Glauben in schärfstem Gegensatz zum menschlichen Denken, Empfinden und Erfahren bestimmen und dies gar im Anklang an die Gefangennahme Jesu tun: „Da mercke du, wilch eyn scharff gesichte das hertze müsse haben, das mit eytel zorn und straffe von Gott umbgeben ist und doch keyne straffe noch zorn, sondern gnade und güte sihet und fulet. Das ist, es wil sie nicht sehen noch fulen, ob sie es gleich auffs höhest sihet und fulet, Und wil die gnade und güte sehen und fulen, ob sie gleich auffs tieffest verborgen sind. Sihe eyn solch gros ding ists zu Gott zu komen, das man durch seynen zorn, durch straffe und Ungnade zu yhm breche als durch eytel dornen, ja durch eytel spiesse und schwerdter."99
97 Predigt über Joh 18,15ff., WA 28,272,9. Vgl. Peters, Theologie, a.a.O. 23; vgl. Ders., Glaube, a.a.O. 186: „Indem Luther den Artikel von der .remissio peccatorum' als unseren existentiellen Zugang zum gesamten Credo interpretiert, sieht er in der Vergebung die konkrete Zuwendung der gesamten Trinität zum Menschen; .Christus vergibt die Sünde und der Vater; der Vater will es, der Sohn hat es verdient, der Heilige Geist, der richtets aus' [mit Verweis auf WA 11,54,2, Predigt über das Symbolum am 6.3.1523: >Christus remittit peccatum et pater, pater vult, filius meruit, spiritus sanctus der richtets auß.