Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert: Aspekte des Verhältnisses von Religion und Gewalt [1 ed.] 9783737006729, 9783847106722


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German Pages [257] Year 2017

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Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert: Aspekte des Verhältnisses von Religion und Gewalt [1 ed.]
 9783737006729, 9783847106722

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Kirche – Konfession – Religion

Band 68

Herausgegeben vom Konfessionskundlichen Institut des Evangelischen Bundes unter Mitarbeit der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen von Mareile Lasogga und Reinhard Hempelmann in Verbindung mit Andreas Feldtkeller, Miriam Rose und Gury Schneider-Ludorff

Jochen Flebbe / Görge K. Hasselhoff (Hg.)

Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert Aspekte des Verhältnisses von Religion und Gewalt

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-1507 ISBN 978-3-7370-0672-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de  2017, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Sword On Old Bible,  B-C-designs

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jochen Flebbe Einleitende Reflexionen zu Band und Beiträgen

. . . . . . . . . . . . . .

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Egbert Ballhorn Religion und Gewalt im Alten Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Klaus Wengst Gewalt an und in biblischen Texten. Zur Verantwortung der Auslegenden im (Weiter)Schreiben in der Schrift und über die Schrift (hinaus) . . . .

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Friedmann Eißler „… tötet nicht, außer aus einem rechtmäßigen Grund!“ (Koran). Gehört die Gewalt zum Islam? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hildegard Scherer Gewalt bewältigen. Neutestamentliche Stimmen . . . . . . . . . . . . . .

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Heilige Texte – Judentum, Christentum, Islam

Systematische Reflexionen Thomas Ruster Das Kreuz Jesu und die Transformation der Gewalt

. . . . . . . . . . . .

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Knut Martin Stünkel Religiöse Gewalt in philosophischer Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . 105

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Inhalt

Cornelia Richter Narrationen des Politischen. Essayistische Reminiszenz und Aufgabenskizze hermeneutischer Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . 137

Geschichte und Gegenwart Görge K. Hasselhoff Der Talmudprozess von 1240 und seine Folgen . . . . . . . . . . . . . . . 155 David von Mayenburg Zwischen Recht und Revolution – Konfliktlösung durch Schiedsrichter im Kontext des Bauernkrieges von 1525 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Werner Post Ökonomismus als Gewalt

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Tony Neelankavil Roots of Religious Violence in India . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Verzeichnis der Abkürzungen der antiken Quellen . . . . . . . . . . . . . 243 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Namenregister (Auswahl)

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

Vorwort

Die Mehrzahl der Beiträge dieses Sammelbandes geht auf zwei Veranstaltungen der Fakultät 14 „Humanwissenschaften und Theologie“ der Technischen Universität Dortmund im Sommersemester 2015 zurück, zum einen auf eine Ringvorlesung unter dem Titel „Religion und Gewalt“, zum anderen auf ein eintägiges Symposium unter dem Titel „Hilflos vor der Gewalt?“.1 Trotz der in den vergangenen Jahren erheblich angewachsenen Literatur zum Themenkomplex „Religion und Gewalt“ – erinnert sei nur an so unterschiedliche Herangehensweisen wie bei Georg Baudler, Pierre Bourdieu, Ren8 Girard u. a. – wurde den Referentinnen und Referenten keine Definition davon, was die jeweiligen Veranstalter unter „Gewalt“ verstehen, gegeben. Zunächst als fakultätsinterne Veranstaltung geplant, in der die in der Fakultät „Theologie und Humanwissenschaften“ vertretenen unterschiedlichen Fächer Theologie(n), Philosophie und Politikwissenschaften miteinander ins Gespräch kommen sollten, kam bald der Gedanke auf, auch auswärtige Stimmen in das Gespräch mit einzubringen. Da nicht alle Referentinnen und Referenten die Beiträge zum Abdruck bringen konnten oder wollten, haben wir weitere Texte eingeworben. Dass dennoch keine Vollständigkeit des Spektrums „Religion und Gewalt“ bzw. „religiöse Gewalt“ erreicht werden kann, liegt auf der Hand und war von vornherein auch nicht intendiert. Dafür, dass dieser Band entstehen konnte, danken wir dem seinerzeitigen Dekan der Fakultät 14, Michael Basse, für die Bereitstellung finanzieller Mittel für Symposium und Ringvorlesung sowie dem Dortmunder „Institut für Evangelische Theologie“ und dem Bonner Verein „Freunde der EvangelischTheologischen Fakultät – Rheinische Gesellschaft zur Förderung der Theologie e.V.“ für namhafte Druckkostenzuschüsse. Dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht – namentlich Susanne Köhler – und den Reihenherausgebern danken wir 1 Vgl. http://www.hsozkult.de/event/id/termine-27607 sowie für einen Bericht von dem Symposium http://katheo.fk14.tu-dortmund.de/cms/katheo/de/Forschung/forschung/Tagung-_ Hilflos-vor-der-Gewalt__/index.html (beide zuletzt 22. Januar 2016).

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Vorwort

für die unkomplizierte Übernahme des Bandes in das Verlagsprogramm. Ein Dank geht auch an Kerstin Schiffner für eine gute Idee, an die Bonner Mitarbeitenden Lea Wangen, Daniel Storb und Tobias Wieczorek für die Hilfe bei den redaktionellen Arbeiten und an Rashid Ben Dhiab für die Begleitung des Manuskripts zum Druck. Jochen Flebbe – Görge K. Hasselhoff Bonn – Dortmund, im Januar 2017

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Einleitende Reflexionen zu Band und Beiträgen

Hilflos vor der Gewalt? – Diese Frage war der Ansatzpunkt eines Symposium mit einer anschließenden Ringvorlesung an der Fakultät „Humanwissenschaften und Theologie“ der Universität Dortmund im Sommersemester 2015, ausgelöst auch durch das aktuelle Problem islamistischer Gewalt. Beiträge dieser Veranstaltungen bilden den Ausgangspunkt für diesen Sammelband. Die grundlegende Frage war dabei, inwieweit von verschiedenen wissenschaftlichen Ansätzen in einer aktuellen und brisanten Frage – nämlich der von Religion und Gewalt – Hilfe zu erwarten ist. Das Ergebnis präsentiert dieser Band. Es besteht weniger in der Darbietung einer ultimativen Lösung, als dass sich in den sehr verschiedenen Beiträgen zeigt, wie die unterschiedlichen Aspekte der Frage nach Religion und Gewalt dieses Thema zu einer komplexen Herausforderung werden lassen. Schon der vermeintlich plakative Titel des Bandes weist darauf hin, dass es immer um ein genaueres Hinsehen gehen muss, das vielfach erst die Mannigfaltigkeit der Aspekte eines Themas erkennen lässt. Und damit zeigt er die verschlungene Vielfältigkeit des Themas „Religion und Gewalt“ an. Denn das Zitat aus Matthäus 10,34 „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ ist keineswegs so eindeutig und monolithisch, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Es stammt eben nicht aus dem Koran – in den es mancher Exeget gerne abschieben würde –, sondern aus dem Neuen Testament. So wendet das Zitat in der Frage von Religion und Gewalt zunächst einmal den Blick weg vom Thema „Islam und Gewalt“, an das man in der aktuellen politischgesellschaftlichen Debatte bei der Frage nach Religion und Gewalt zuerst zu denken geneigt ist, und macht darauf aufmerksam, dass die Frage von Religion und Gewalt – mindestens über einen längeren Zeitraum betrachtet – auch eine Frage des Christentums ist. Damit muss tatsächlich auch in der aktuellen Debatte die Frage angemessen nicht nach „Islam und Gewalt“, sondern nach „Religion und Gewalt“ gestellt werden. Weiters zeigt das Zitat an, dass auch innerhalb des Christentums einfache Zuweisungen nicht möglich sind. Als jesuanisches, neutestamentliches Wort schiebt es gerade dem Versuch, die Ver-

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bindung von Religion und Gewalt dem Alten Testament und einem „alttestamentarischen“ Gott zuzuschreiben und dem gegenüber das Christentum auf der Basis des Neuen Testaments zu einem originär gewaltfreien Raum zu stilisieren, einen Riegel vor. Die Dinge sind offensichtlich komplizierter, und die Frage nach der Gewalt lässt sich weder aus dem Christentum noch überhaupt aus der Frage der Religion ausklammern. Noch deutlicher wird dies, wenn man das Schwertwort als Jesuswort betrachtet. Es lässt dann alle Versuche der Zeichnung eines vollkommen gewaltfreien Jesus als Projektion menschlicher Sehnsucht erkennen, das Problem der Gewalt durch Exklusion zu lösen. Ihr steht das Zeugnis der biblischen Botschaft gegenüber, der Gewalt als unausklammerbarem Faktor von Mensch und Welt ins Auge zu sehen und auf dieser Grundlage das Problem zu diskutieren. Analysiert man das Schwertwort nun eingehender, so zeigt sich, dass es an dieser Stelle gar nicht um das Thema von politischer und militärischer Gewalt geht. Vielmehr haben wir es mit einer metaphorischen Redeweise zu tun, die auf die Spaltung aufmerksam macht, zu der es in den Familien aufgrund der Frage, wie man sich zu Jesus und seiner Verkündigung verhält, kommt. In der noch auf Vollendung der Erlösung wartenden Welt ist also Religion untrennbar auch mit Abgrenzung verbunden. Damit zeigt sich schon an Matthäus 10,34b exemplarisch, dass ein differenziertes und reflektiertes Verstehen im Umgang mit Worten aus heiligen Schriften essentiell – und in der Frage der Gewalt im wahrsten Sinn des Wortes existentiell ist. Damit ist die Frage nach Religion und Aufklärung, nach Vernunft und Offenbarung auf dem Tapet. Löst sich für das Schwertwort und somit für diesen matthäischen Text eine scheinbar massive Gewaltpropaganda in die Frage von Abgrenzung, Bekenntnis und Ausgrenzung auf, ist damit die Frage nach der Verbindung von Gott und Gewalt im Neuen Testament noch lange nicht vom Tisch. Allein ein Blick auf das Gleichnis vom Hochzeitsmahl (Matthäus 22,1–13), das von der gewaltsamen Strafaktion des Königs gegen die, die der Einladung zur Hochzeit nicht Folge leisten und die königlichen Boten misshandeln, erzählt, genügt, um sie offen zu halten. Diese hier angedeuteten Linien zieht denn auch der erste Beitrag des Bandes aus. Egbert Ballhorn macht mit seinem Blick auf „Religion und Gewalt im Alten Testament“ zunächst darauf aufmerksam, dass Religion und Heilige Schrift ihrem Selbstanspruch nach das Thema „Gewalt“ nicht ausklammern können, weil Gewalt in ihren verschiedensten Formen zu den alltäglichen und grundlegenden Erfahrungen des Menschen gehört. Jede Religion, die sich nicht als eskapistische Weltflucht, sondern als ein Angebot einer umfassenden und grundlegenden Welt- und Selbstdeutung des Menschen versteht, muss das Thema thematisieren, eben weil es Gewalt in der Welt gibt. Entsprechend ist es auch, wie schon angedeutet, nicht möglich, das Thema „Gewalt“ allein dem Alten Testament zuzuschieben, um für das Neue Testament eine einfache Glei-

Einleitende Reflexionen zu Band und Beiträgen

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chung „Gott = Liebe“ aufzumachen. Für das Alte Testament zeigt Ballhorn nun, dass das Phänomen eines (heiligen) Textes insofern vielschichtig ist, als dass zu der Frage nach der Intention der Texte selbst immer auch die Rezeptionsgeschichte und der jeweilige aktuelle Standpunkt des Lesers als eigene Größen bei der Wahrnehmung der Texte hinzukommen. Ballhorn kontrastiert dann eine selbstverständliche kulturelle Akzeptanz des Militärischen mit der „Kriegsunfähigkeitsmachung“ in Deuteronomium 20,1–8 als einer grundlegenden alttestamentlichen Position. Neben diese grundsätzliche Einschätzung werden weitere Texte gestellt, die zeigen, dass das Alte Testament der Frage nach der Gewalt auf ganz unterschiedliche Weise begegnet. So können „humane und ökologische“ Grundrechte im Krieg formuliert werden. Zu einer veränderten Einschätzung des Krieges kommt es, insofern Gott die Gewalt bis hin zu einem Gewaltmonopol an sich zieht und sein gewaltiges Eingreifen gerade nicht als militärisch gekennzeichnet wird, usw. Als besonders bemerkenswert wird herausgestellt, dass sich Gottes Gewalt gar nicht automatisch und selbstverständlich (nur) mit seinem eigenen Volk, sprich mit der Gruppe seiner Anhänger, verbindet. Obwohl Israel selbst eher durch das Erleiden von Gewalt denn durch eigene Gewaltausübung geprägt ist, kann sich Gottes Gewalt auch gegen Israel wenden. Gewalt wird so Teil einer sprachlichen Repräsentation eines Gegentextes, der gegen Gewalt und Unrecht steht. Die Frage von heiligem Text und Gewalt führt Klaus Wengst weiter. Wengst benennt zunächst, dass sich Gewalt auch gegen Texte richten kann, an Texten geübt werden kann – interpretatorisch, aber auch physisch, um ideologisch unliebsame oder vermeintlich fremdartige Texte zu vernichten. (Abseits von Wengsts Beitrag sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass mit einem Index Librorum Prohibitorum ebenso wie mit Leseverboten auf protestantischer Seite auch die Frage nach einem religiös motivierten Vorgehen gegen Texte angezeigt ist.) Ausgehend von dem Bruch, der durch die Wiederbelebung von Texten nach dem Versuch ihrer Vernichtung entsteht, gewinnt Wengst das hermeneutische Prinzip, dass Texte in einer neuen Situation immer auch neu gelesen werden müssen – oder umgekehrt formuliert, dass dasselbe in einer anderen Situation gesagt, nicht mehr dasselbe bleibt. Für Wengst geht es mit diesen Überlegungen um das zentrale Problem des Umgangs mit vom heiligen Text geforderter Gewalt, wie etwa dem Tötungsgebot für den widerspenstigen Sohn (Deuteronomium 21,18–21), also der Sanktionierung der Todesstrafe. In Bezug auf das Judentum weist Wengst dann auf, wie in der rabbinischen Auslegung der Tora sowohl durch Aufstellung einer humanen und friedfertigen interpretatorischen Leitlinie zur Auslegung der Schrift, aber gerade auch durch „spielerisch“ wortorientierte, auch sogenannte „kasuistische“ Fortführung des heiligen Textes den „Gewalttexten“ gerade ihre gewalttätige Spitze genommen wird, um Offenbarung und Religion nicht zum Ausgangspunkt von Gewalt, sondern von einer am Huma-

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num und am Leben orientierten (Nächsten-)Liebe werden zu lassen. Damit macht er auf die unerlässliche Notwendigkeit aufmerksam, mit Gewalt fordernden heiligen Texten hermeneutisch umzugehen. Dabei stellt Wengst einem in die Gewalt führenden fundamentalistischem Umgang mit kanonischen Texten die rabbinische Auslegung als ein Paradigma gegenüber, das mit einer humanen hermeneutischen Leitlinie, mit der Ermächtigung des Auslegers zu Freiheit und Verantwortung und mit einem spielerisch-ernsthaftem Umgang mit den Texten in der Spannung zwischen Verbindlichkeit und Beliebigkeit die in den Texten enthaltenen Gewaltelemente in ein Potential eines gelingenden sozialen und humanen Miteinanders überführt. In einen interessanten Kontrast zu den Überlegungen Ballhorns zum Alten Testament und zu den in einem gewissen Sinne idealen, weil auf der literarischen Welt der rabbinischen Texte fußenden Ausführungen von Wengst zu einem hermeneutischen Umgang mit biblischen Gewalttexten tritt nun Friedmann Eißlers – stärker auch an der außertextlichen, geschichtlichen Wirklichkeit orientierter – Beitrag zu der Frage von Islam und Gewalt. Eißler transformiert die aktuelle Frage sogenannter „islamistischer Gewalt“ letztlich zu einer Frage der Hermeneutik des Korans. Unbestritten enthält der Koran eine sehr große Bandbreite von Äußerungen zur Gewalt, so finden sich gewichtige Worte der Barmherzigkeit und der friedlichen Koexistenz neben Worten, im Namen Allahs für die Religion mit Gewalt zu kämpfen. Als entscheidendes Problem führt Eißler an, dass in der Frage nach einem hermeneutischen Ariadnefaden durch das Labyrinth dieser Bandbreite das Prinzip der Verbindlichkeit der späteren Offenbarung gelte. Damit überlagern die späteren Offenbarungen in Medina aus der Phase eines politischen und kriegerischen Islams die früheren mekkanischen Texte der „eindringlichen Poesie“ ethischer Werte. Auch in den innerislamischen Auseinandersetzungen um die Frage der Legitimität von Terror und Gewalt, wie sie vom sogenannten Islamischen Staat (IS) ausgeübt werden, werde gegen den IS mit einer missbräuchlichen Anwendung der vom Koran gebotenen Gewalt argumentiert, die weitergehende Frage nach der Rechtmäßigkeit eines Gebotes zur Gewaltanwendung gegen andere überhaupt werde dabei aber nicht gestellt. So stellen weniger die Gewalttexte des Korans an sich als die Frage nach einer solchen Auslegung des Korans, die die Absage an (jede religiös motivierte) Gewalt zu einem Teil ihrer hermeneutischen Leitlinie werden lässt, den entscheidenden Aspekt dar. Umgekehrt formuliert lässt sich so lange eine Brücke, die vom Islam zum Islamismus führt, erkennen, wie diese hermeneutische Grundfrage nicht gestellt und Koran und Sunna mit ihrem Teil der religiös gebotenen Gewalt „als absolut und für alle Zeiten wahr ausgegeben werden“. Als Ausgangspunkt eines solchen Weges einer hermeneutisch reflektierten Auslegung des Korans im historischen Kontext erkennt Eißler Mouhanad Khorchides Ansatz einer Lektüre des Korans von Allah, dem Allerbarmer, dem Barmherzi-

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gen her, dem auch die Überlegungen einiger anderer Islamgelehrter zur Seite zu stellen wären. Aus einer anderen, komplementären Perspektive wirft Hildegard Scherer nun den Blick auf das Neue Testament. Unter der Überschrift „Gewalt bewältigen“ profiliert sie die erbauliche Funktion heiliger Texte, erlittener Gewalt mit Deutung und Bewältigung zu begegnen. Dabei zeichnet sie ausgehend von Paulus und seinen Briefen zunächst ein Bild der staatlichen, sozial institutionalisierten und gesellschaftlichen Gewalt, der die frühen Christen in der antiken Welt ausgesetzt sein konnten. Scherer weist damit auf den Aspekt hin, dass die Zugehörigkeit zu einer (bestimmten) Religion ihre Anhänger als „deviant“ und als „freelance religious experts“ erscheinen lassen und somit zu Grund und Anlass einer Verfolgung und Bestrafung im Sinne des Erhalts der gesellschaftlichen Ordnung werden kann. Im Hinblick auf die Bewältigungsstrategien sieht Scherer für Paulus die Behauptung der im Glauben begründeten eigenen moralischen Autonomie, mit der er sich bewusst den mit Gewalt eingeforderten Werten der Umwelt verweigert und die so zur moralischen Entmachtung der Gewaltquelle führt, als wesentlich an. Nicht zu vergessen ist in dieser Frage immer auch Christus als Prototyp dessen, der ungerecht Gewalt erlitten hat. Dabei betont Scherer im Hinblick auf ihre Beispieltexte, die paulinischen Briefe und den Hebräerbrief als zweitem exemplarischen Textbereich, die kulturelle Prägung des Umgangs mit Gewalt und der Bewältigungsstrategien. Damit weist sie auf den entscheidenden Aspekt der kulturellen Gebundenheit heiliger Texte, auch in der Frage nach „Religion und Gewalt“, hin. Damit weist der erste Durchgang durch das Thema auf, dass entsprechend ihrer grundlegenden Funktion der Aspekt von heiligen Texten nach wie vor eine zentrale Rolle innerhalb der Fragestellung einnimmt. Hier wiederum wird ersichtlich, dass über die unverzichtbare Frage nach der Intention der Texte in ihrem historischen Kontext hinaus auch die Faktoren Auslegungsgeschichte und aktueller kultureller, geographischer, geschichtlicher Standpunkt des Rezipienten und seiner Umwelt für den Umgang mit den Texten entscheidend hinzutreten. Das alles führt zu der Frage des reflektierten hermeneutischen Zugriffs. In der Spannung von Offenbarung und Beliebigkeit geht es letztlich auch um die Frage einer Aktualisierung im Zusammenhang mit einer – aus den Texten selbst zu gewinnenden? – un-gewaltigen hermeneutischen Leitlinie und damit im Grunde um die Frage einer verantworteten Fortführung der Texte in die Gegenwart hinein. Der damit angedeutete Lösungsertrag wird dann unmittelbar interessanter wie er sich zugleich verkompliziert, wenn man die verschiedenen heiligen Texte und die verschiedenen kulturellen Standpunkte der verschiedenen Rezipienten und die verschiedenen bewussten oder unbewussten hermeneutischen Grundentscheidungen aufeinander prallen oder in der Diskussion nebeneinander zu stehen kommen lässt.

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Den zweiten Teil des Bandes mit grundlegenden systematisch-theologischen und philosophischen Reflexionen eröffnet Thomas Ruster mit Überlegungen zum Kreuz Jesu Christi und zur Transformation der Gewalt. Sein Beitrag steht für den Anspruch und das Selbstverständnis christlicher Religion, der Gewalt in besonderer Weise zu begegnen und sie in Gewaltlosigkeit zu überwinden. Ruster geht dabei von der aktuellen Allgegenwart von Gewalt in unserer Welt und Gesellschaft aus und stellt im Anschluss an Charles Taylor zwei grundsätzliche Möglichkeiten des Umgangs mit der Gewalt vor: die aufklärerische Exklusion von Gewalt als „unvernünftig“, die aber dem Phänomen der Gewalt nicht gerecht werde, und die an Nietzsche anknüpfende Position der „erlösenden Gewalt“, bei der die entschlossene Begegnung der Gewalt mit der moralisch überlegenen und legitimierten Gewalt (eines Helden) zur Auslöschung der Gewalt und damit zur Erlösung von ihr führt. Ruster kennzeichnet diese Auffassung als zutiefst religiöse, als die zentrale heidnisch-religiöse Auffassung unserer Zeit – und zwar „heidnisch“ deshalb, weil sie die Gewalt letztlich gar nicht überwinden kann und selbst wesentlich systemisch von der Gewalt geprägt ist. Dem stellt Ruster in verschiedenen Schritten ein christliches Modell eines an den Opfern orientierten christlichen Weges der Transformation von Gewalt entgegen. Dazu führt er die Heiligen Sebastian, Dionysius und Apollonia als Beispiele an, bei denen das Erleiden von Gewalt das Potential der Wendung zum Guten enthält. Dabei bekehren die Opfer die Gewalttätigen, indem sie sich als Opfer kenntlich machen und so den modernen Moralismus mit seiner Zwei-Seiten-Moral überwinden. Daneben stellt Ruster die Eucharistie, bei der „durch das Gedächtnis an den, der selbst Opfer gewesen ist,“ das Opfer der Gemeinde in die Gabe Gottes verwandelt und so im Aufbrechen der Logik von Geben und Nehmen Privateigentum zu Gemeineigentum transformiert wird. Jesu Umgang mit der Gewalt mahnt in besonderer Weise, nicht in der üblichen Begegnung der Gewalt mit Gewalt zu dem zu werden, was man bekämpft. Vielmehr geht es darum, sich mit gewaltfreier und prophetischer Schärfe der Gewalt auszusetzen und sie als letztlich ohnmächtig und lächerlich zu demaskieren – und so Gewalt zu Leben zu transformieren. Erlösung meint dann das Durchschauen und die eigene Befreiung von dem Gewalt enthaltenden, satanischen Zwang der Systeme – um so zu einem neuen Handeln jenseits des systemischen Zwangs zu gelangen. Letzteres wird als posse non peccare aufgefasst und vor allem auf die Gewalt aufgrund wirtschaftlicher Ungleichheit weitergedacht. Rusters christlicher Ausbruch- und Gegenweltversuch wird noch einmal umso deutlicher profiliert, wenn man ihn gleichsam rückwirkend mit der Perspektive von Knut Martin Stünkels Beitrag liest – bzw. umgekehrt, letzteren auf dem Hintergrund von ersterem rezipiert. Das liegt vor allem auch daran, dass Stünkel in der Doppeldeutigkeit seines Titels einmal aus der Metaperspektive religiöse Gewalt philosophisch reflektiert und andererseits materialbezogen

Einleitende Reflexionen zu Band und Beiträgen

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nach der religiösen Gewalt, die dem philosophischen Diskurs – aus dem Ruster christlich auszubrechen versucht – innewohnt, fragt. Zunächst aber beschreibt Stünkel religiöse Gewalt als ein Zuschreibungsphänomen insbesondere der Selbstbeschreibung, das vor allem durch seine Medialität gekennzeichnet ist. Denn in einem Akt öffentlichen Bekenntnisses übt der Täter die Gewalt nur als Medium des Göttlichen aus und überträgt so den Anspruch des ganz Anderen in das Hier und Jetzt. Stünkel benennt dann mit Holbach Stationen der philosophischen Kritik der religiösen Gewalt, die die Gewalt als der Religion inhärent ansieht und die den biblischen Gott als willkürlich mal gewalttätig, mal friedfertig bestimmt und ihn damit in Bezug auf die Gewalt als unberechenbar kennzeichnet. Als entscheidendes Phänomen wird, wie schon in der Definition angedeutet und dann auch in den Analysen Jan Assmanns aufgenommen, gesehen, dass bei der religiösen Gewalt Grund und Maßstab vom Handelnden auf Gott verlagert – und so die Handlung aus der menschlichen Sphäre herausgenommen wird. Jetzt wird die Gerechtigkeit mit Gott verbunden, und entsprechend wird Ungerechtigkeit zum Signum des zu bekämpfenden Heidentums. Von der Gewalt ausgehend führt Stünkel anschließend Walter Benjamin für die Position an, dass Recht und Gewalt untrennbar zusammengehören und ersteres ohne letzteres nicht denkbar ist. Benjamin nennt auch eine nicht in diese Relation eingebundene mythische, rechtssetzende und eine göttlichen Gewalt, die rechtsvernichtend bloßes Leben und Gerechtigkeit gegen das Recht setzt. Ein solches von außen kommendes, umwälzendes Setzen von Gerechtigkeit mit Gewalt erkennt Hannah Arendt auch bei den Theoretikern der Neuen Linken, deren Gewalt somit letztlich als religiöse Gewalt gekennzeichnet werden kann. Religiöse Gewalt ent-setzt also die Kontinuität, das als determiniert angesehene Weltbild – und ist so entsetzlich. – In einem zweiten Teil weist Stünkel dann auf, dass auch der Philosophische Diskurs und das Philosophieren Gewalt, eine andere, eigene Form der Gewaltausübung sein kann, deren Ziel auch für ethisch und moralisch hoch angesehene Denker in der Besiegung und Ausmerzung – moralisch und ethisch – unterlegener Gegner, wie etwa des Tyrannen, und der tyrannischen Ideologie bestehen kann. Sie kann auch darin bestehen, hermeneutische Gewalt als notwendig für den Erkenntnisfortschritt zu halten – und diese Gewalt wird – bei Stünkel vor allem in der Kritik Hamanns an Kant – vor allem deutlich als religiöse Gewalt gekennzeichnet, wenn es etwa bei der „reinen Vernunft“ a) um parareligiöse Reinigungs- und damit gewaltbereite Ausscheidungsprozesse und b) um die – wie gezeigt wurde – gewalttätige Argumentation von einer dem Menschen, der Natur und der Erfahrung übergeordneten Hypostase her geht. „Gewalt wird so zum Indikator der grundsätzlich formalreligiösen Form der Philosophie“ – und die Sehnsucht nach einem Ausbruchsversuch bzw. einem christlichen Gegenentwurf / la Ruster wird verständlicher. Cornelia Richters nur scheinbar eine rein aktuelle Momentaufnahme bie-

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tender Beitrag argumentiert zwar in anderer Art und auf einer ganz anderen Ebene, nimmt aber in gewisser Weise Thomas Rusters und Knut Martin Stünkels Überlegungen essayistisch auf und führt sie zusammen. Richter geht es weniger um die Analyse von Religion und Gewalt als um die Analyse der Analyse oder besser des gesellschaftlichen Diskurses über Gewalt und gesellschaftliche Probleme und Bedrohung. Es geht also um die Reaktion auf Gewalt, Bedrohung, Herausforderung, In-Frage-Stellung. Richter zeigt dabei auf, wie in der aktuellen Debatte Metapher und Narration das wesentliche Element des Diskurses werden und sich an die Stelle der Argumentation setzen und wie leicht sich auch eine kritische, methodische Analyse mit Metaphern vermengt und vermischt. Gefühl und bloße Meinung treten an die Stelle des reflektierten Urteilens. Diese „Metaphorisierung“ sieht Richter als eminente Gefahr für die offene, zivilisierte, demokratische Gesellschaft, weil sie genaue, differenzierte, kritische, methodische, argumentative Begegnungen mit den Phänomenen und eine ebensolche Antwort auf sie verhindert. In kurzen Einblicken zu Ernst Cassirer und Hannah Arendt zeigt Richter auf, wie beide einerseits gerade dem „Mythus“ und der „bloßen Meinung“ entgegentreten, dann aber selbst wieder in mythologische, metaphorische, emotional-pathetische Darstellung verfallen. Ist in Stünkels Analyse der Analyse die Gewalt in der philosophischen Auseinandersetzung mit der Gewalt die kritisch aufgezeigte Potenz, ist in Richters prüfendem Blick auf den Diskurs die Meinung als Metapher, Narration und Pathos der prekäre Faktor. Dem stellt Richter – strukturell genau wie Ruster, aber in anderer inhaltlicher Begründung – das Christentum, d. h. dessen Theologie gegenüber, die zwar wesentlich auf Pathos, Metapher und Narration aufruht, diese aber in ihrer hermeneutischen Tradition und Expertise selbstreflexiv analysiert, zur Askese von jeglichem politischen Pathos anhält und so zur nötigen methodischen und argumentativen Tiefenschärfe des reflektierten Urteilens als Umgang mit Gewalt und Bedrohung beitragen kann. Religion in Form von Theologie wäre hier die Antwort nicht auf die Gewalt, aber auf den diskursiven Umgang mit der Herausforderung der Gewalt. In dem dritten Abschnitt des Bandes, der auf geschichtliche und gegenwärtige Konkretionen der Fragestellung fokussiert (wiewohl dieser Aspekt selbstverständlich auch seine Rolle in der Frage nach den heiligen Texten und der systematischen Reflexionen spielt), eröffnet Görge K. Hasselhoff mit einem Beitrag zu den Folgen des Talmudprozesses von 1240. Hasselhoff zeigt auf, wie es aus den „gewaltsamen“, weil eher „inquisitorischen“ Disputationen über den Talmud und die Verbrennung rabbinischen Schrifttums zu einer intensiven Übertragung und Verbreitung von Talmud, rabbinisch-exegetischer sowie jüdischphilosophischer Literatur kommt, als deren Folge es letztlich zu einer fruchtbaren christlichen Rezeption gerade des eigentlich geächteten und zu bekämpfenden Gedankenguts der anderen Religion kommt.

Einleitende Reflexionen zu Band und Beiträgen

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Einen geschichtlichen Stoff verhandelnd macht David von Mayenburg in seinem Beitrag auf einige grundsätzliche, paradigmatische Aspekte im Hinblick auf die Gewaltfrage aufmerksam. Damit macht er in besonderer Weise deutlich, wie unverzichtbar entscheidend geschichtliches Wissen und geschichtliche Reflexion in der Diskussion aktueller und brisanter Fragen sind. In seiner Betrachtung des mittelalterlichen Schiedsgerichtes stellt Mayenburg implizit die Rolle von Recht und damit vor allem die Frage nach Konfliktlösungsmitteln als einen wesentlichen Beitrag zur Vermeidung von Gewalt heraus. Im Gegensatz zu der These der Recht- und Gerechtigkeitslosigkeit der mittelalterlichen Ordnung aufgrund des allbestimmenden Faktors des Rangs der Person (Althoff) skizziert Mayenburg die Schiedsverfahren als ein aufgrund ihrer wesentlichen Faktoren valides Mittel zur Konfliktlösung. Insbesondere den Faktor der Gleichheit der Konfliktparteien im Verfahren und den Aspekt eines nicht allein am Recht orientierten, sondern auch um die Größen „Minne“ – „Gnade“ – „Freundschaft“ erweiterten Verfahrens stellt Mayenburg als entscheidende Komponenten für den gewaltvermeidenden Erfolg dieses Verfahrens heraus. Insofern mit „Minne“ – „Gnade“ – „Freundschaft“ „christliche“ Wertvorstellungen in dieses Konfliktlösungsmodell einfließen, ist nun die immer zu Grunde liegende Frage nach Religion und Gewalt direkt berührt. In seinem Wesen und in seinem Erfolg tritt das von Mayenburg hier vorgestellte Instrument zur Gewaltvermeidung und zur Regelung des Zusammenlebens in gewisser Weise in einen Kontrast zu der von Stünkel und auch von Ruster angezeigten Allgegenwart und systemischen Immanenz der Gewalt und insbesondere vielleicht zu der Benjamin’schen Beobachtung der notwendigen Verbindung von Gewalt und Recht. Dies eben möglicherweise deshalb und insofern, als das Ziel des Instituts der schiedsrichterlichen Konfliktlösung nicht in erster Linie auf das Recht, sondern auf die Konfliktlösung, den Frieden und die „Freundschaft“ abzielt. Mit dem Anteil der „christlichen“ „Minne“ und „Gnade“, in der Kombination aus „Theologie und Recht“, zeigt sich möglicherweise, dass Religion mit der ihr eigenen Wertvorstellung und Wirklichkeitsauffassung zu einem wichtigen Faktor innerhalb der Konfliktlösung zur Vermeidung von Gewalt und zur Errichtung von Frieden in einer Gesellschaft werden kann. (Vielleicht entsprechend wird auch Werner Post in seinem folgenden Beitrag die Religion als Chance und Korrektiv in der Frage nach einem schwer zu korrigierenden System struktureller Gewalt anführen.) Gleichsam umgekehrt stellt Mayenburg dar, wie es zur Gewalt in den Bauernkriegen kommen konnte, weil die schiedsrichterliche Regelung in ihren zentralen Aspekten in diesem Konflikt versagte – mit dem Erbe eines im Folgenden nun wesentlich rechtlich fundierten Zusammenlebens und einer ebensolchen Art und Weise der Konfliktbearbeitung. Werner Post lenkt gegen Ende dieses dritten Teils des Bandes den Blick auf die Gegenwart. Er zeigt, dass es neben der leicht wahrzunehmenden aktuellen

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physischen Gewalt auch auf den ersten Blick nicht so leicht als Gewalt ins Auge fallende strukturelle Gewalt gibt. Post zeichnet und analysiert den unsere Gesellschaft und die globalisierte Welt beherrschenden Ökonomismus als ein solches Phänomen. Damit korreliert er auch mit Überlegungen Thomas Rusters. Der Aspekt des Religiösen scheint in zweifacher Weise berührt. Einmal hat auch der Ökonomismus mit seinen ideologischen und insofern über dem Menschen stehenden Anteilen auch ein religiöses oder parareligiöses Element. Insofern ist der Gewalt des Ökonomismus nicht leicht beizukommen. Zum anderen führt Post dann die Religion in ihrer Unterscheidung von Materiellem und NichtMateriellem, von Sichtbar und Unsichtbar mit der Bewertung des letzteren als „letzte Wahrheit“ als ein kritisches Korrektiv, vielleicht sogar als das entscheidende Korrektiv an. Abschließend weitet der Beitrag von Tony Neelankavil wiederum exemplarisch den Blick, indem seine bloße Präsenz darauf hinweist, dass die Frage von Religion und Gewalt keinesfalls auf einen vom Islamismus bedrohten Westen beschränkt ist. Vielmehr handelt es sich um eine globale Frage mit vielen verschiedenen lokalen Manifestationen, die gerne aus dem Blickfeld geraten (obwohl z. B. Indien das zweitbevölkerungsreichste Land der Welt ist) bzw. gar nicht erst in dieses gelangen. Gewissermaßen macht auch die sprachliche Präsentation dieses Beitrags darauf aufmerksam, wie wichtig es in dieser Frage ist, sozusagen auch eine andere Sprache mindestens zur Kenntnis zu nehmen. – Zu Beginn zeigt Neelankavil gleichsam noch einmal für den gesamten Band abschließend an, dass es unausweichlich ist, sich in allen (geistes-)wissenschaftlichen Disziplinen mit der Gewalt zu beschäftigen, da Gewalt vorhanden – und, in unterschiedlichen Graden, in jedem Menschen vorhanden ist. Insofern liegt die These, dass Gewalt nicht in der Religion, sondern im Menschen liegt, nahe. Ihr stellt Neelankavil aber zur Seite, dass Gewalt gerade auch mit tiefen und letzten Überzeugungen verbunden sein kann. Auch von daher kann die Theologie aus diesen fragenden Disziplinen nicht herausgehalten werden. Schon im Hinblick auf die Frage der indischen Unabhängigkeitsbewegung macht der Beitrag auf die Ambivalenz von Gewalt in ihrer politischen Ausrichtung aufmerksam: Gewalt kann zur Unterdrückung oder zum Widerstand, zur Vereinigung oder Separation, zum Fortschritt oder zur Verhinderung von Veränderung, als einziger Weg zur Freiheit oder als Weg einzig in Zerstörung und Vernichtung verstanden werden. Für Indien ist Diversität und Pluralität, auch in der Religion, ein zentrales Kennzeichen – in der Gewaltfrage steht die vermeintliche Hochschätzung der Gewaltlosigkeit als indische Tugend der Rolle der Gewalt im politischen Leben gegenüber. Letzteres äußert sich insbesondere in hinduistisch-nationalistischen Aktionen gegenüber Sikhs, Muslimen und Christen. Neelankavil zeigt auf, dass diese Gewalt zwar einerseits im Trauma der kolonial evozierten Aufteilung des Subkontinentes wurzelt. Andererseits ist aber eine einfache diasta-

Einleitende Reflexionen zu Band und Beiträgen

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tische Bewertung der Rolle Bal Gangadhar Tilaks, der Gewaltlosigkeit als utopisch-ergebnislose Schwäche im Befreiungskampf moniert, als verwerflich und negativ gegenüber einer positiven und ethisch überlegenen Gewaltlosigkeit Mohandas Karamchand Gandhis eine undifferenzierte Schwarz-Weiß-Malerei. Einer solchen gerät die Frage nach der Berechtigung von Tilaks Anliegen und Argumentation ebenso aus dem Blick, wie die Frage nach Schwächen und Nachteilen der Gandhi’schen Position – etwa, wenn Gandhis ideale Matrix der Gleichheit (des Anderen) auf außergewöhnliche Situationen der vorhandenen asymmetrischen Ungleichheit trifft. Umgekehrt kann sich Tilaks Postulat einer der fremden Kolonialmacht gegenüberzustellende Einheit (die sich auch bei Gandhi findet) der anderes nicht zulassendes Gleichen als eine Hypothek darstellen, wenn Tilak in der Gegenwart hinduistisch-nationalistisch in Anspruch genommen wird. Insbesondere diese Rezeption wiederum erschwert es, Tilak gegenüber Gandhi angemessen zu würdigen. Neelankavil setzt auf die Interkulturalitätsforschung und die interkulturelle Begegnung, um der Frage von Gleichheit und Verschiedenheit angemessen zu begegnen. In einem Nebeneffekt wird dem außenstehenden Beobachter deutlich, dass sich Gewalt in Indien tatsächlich immer wieder mit der Frage nach der – wortwörtlich – „heiligen Kuh“ verbindet. Zieht man zusammen, zeigt sich eine ungeheure Vielfältigkeit der Aspekte, die auch das Thema „Religion und Gewalt“ zu einer schwer zu überschauenden, komplexen Frage macht, die mindestens nicht einfach zu beantworten ist. Gleichwohl lassen sich am Ende doch einige Linien bestimmen. Die erste Sektion „Heilige Texte“ deutet als Antwortversuch auf die entscheidende Größe eines hermeneutisch reflektierten Umgangs mit heiligen Texten hin, die vermeintlich oder tatsächlich zu Gewalt auffordern. In der zweiten und dritten Sektion tritt die teils subtile und auf den ersten Blick gar nicht zu erkennende Allgegenwart von Gewalt, von ideologisch verankerter, mit letzten Überzeugungen verbundener Gewalt zu Tage – bis hin zu Stünkels Beobachtung der Gewalt als ein Indikator für eine (formal-)religiöse Dimension. Gewalt lässt sich also in keiner Weise aus dem Phänomen „Religion“ und „letzte Überzeugung“ ausklammern, solange Religion nicht als eskapistische, von der Welt vollkommen getrennte Größe verstanden werden will. Zugleich wird deutlich, dass die Frage nach Gewalt, nach Religion und Gewalt nicht nur die Frage nach ihrem genetischen Zusammenhang, sondern auch die Frage des rezeptiven Umgangs und der Auseinandersetzung mit ihr ist – wobei diese Auseinandersetzung mit der Frage gleichsam selbst wieder in einen Zusammenhang von Gewalt, von Religion und Gewalt, führt bzw. führen kann. Bemerkenswerterweise rechnet eine erstaunliche Vielzahl der in sich vollkommen unterschiedlichen und divergierenden Beiträge mit der Religion, mit dem Christentum – was in dieser Perspektivierung natürlich auch der Auswahl der Beitragenden geschuldet ist – als einem oder

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dem einzigen Element der Alternative und des Kontrastes zur Gewalt. Wenn auch dieses Element der Religion als Alternative und Kontrast zur Gewalt in den einzelnen Beiträgen wieder vollkommen verschiedenen und unterschiedlichen gefasst wird, stellt es aber doch eine erhebliche, grundsätzliche Gemeinsamkeit dar. Das ist ein Ergebnis, das vielleicht überrascht, vielleicht aber auch selbstverständlich erscheinen kann, in jedem Falle ist es aber ein Zeugnis für eine aktuelle Relevanz und die bleibende Notwendigkeit von Religion und den Impulsen ihrer hermeneutischen Reflexion.

Heilige Texte – Judentum, Christentum, Islam

Egbert Ballhorn

Religion und Gewalt im Alten Testament

Das Problemfeld „Religion und Gewalt“ erweist sich in Hinblick auf das Alte Testament als komplex. Es geht nicht nur um die biblischen Texte, die es auszulegen und zu erwägen gilt, und ihre Problematik allein. Es kommt noch unser eigener, heutiger Standpunkt, unser geographischer, historischer, politischer und wirtschaftlicher Horizont, in dem wir uns befinden, hinzu. Der Lesekontext verändert die jeweilige Lektüre der Texte. Diese Erkenntnis hat sich auch in der Exegese der letzten Jahrzehnte durchgesetzt. Alttestamentliche Wissenschaft bedeutet nicht, die Texte „an sich“ oder allein in ihrem Entstehungshorizont auszulegen, sondern ebenso auch den eigenen zeitgenössischen Standpunkt bewusst zu reflektieren, um von dort her Fragen an die Texte richten zu können und Impulse für das eigene Nachdenken und Handeln zu gewinnen. Und schließlich gibt es eine zweitausendjährige christliche Lese- und Interpretationsgeschichte der alttestamentlichen Texte, die nicht nur zeigt, wie diese Texte im christlichen Kontext rezipiert worden sind, sondern auch belegt, dass diese Auslegung Fakten geschaffen hat, die unsere gegenwärtige Welt mitprägen. Die Christentums- und Kirchengeschichte ist keine Ruhmesgeschichte, sondern auch eine Geschichte, in der unter Berufung auf biblische Texte Gewalt ausgeübt und Menschen Gewalt angetan wurde. Die Geschichte der Ausübung und des Missbrauchs von Gewalt im Namen der Religion und des eigenen Gottes ist lang. Die Grenze zwischen Lektüre, Gebrauch und Missbrauch von Texten ist nicht einfach zu ziehen. So prägen der eigene Lesehorizont und die eigene Herkunftsgeschichte die Wahrnehmung biblischer Texte, und es gehört gerade zum Anspruch der Wissenschaftlichkeit, sie nicht zu negieren, sondern sie in den hermeneutischen Horizont einzubeziehen. Die alttestamentlichen Texte sind in diesem Sinne durchaus „Gegenwartstexte“: Wir lesen sie in der Gegenwart, sie haben unsere Gegenwart geprägt – und sie haben Impulse in unsere Gegenwart zu geben. Gerade weil die alttestamentlichen Texte sich in der Wirkungsgeschichte als überaus wirkungsvoll erwiesen haben, mag dies zu einer ambivalenten Haltung in Bezug auf eine heutige Lektüre der Bibel führen. Zum einen werden die Texte durchaus auch im Sinne des Wortes „schuld-

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bewusst“ gelesen, zum anderen mag es auch Wünsche oder Tendenzen geben, die Bibel zu entschuldigen oder gewaltprovokative Stellen in der Lektüre lieber zu übergehen.1 Es kann ein Anliegen sein, dem als zudringlich und auch als problematisch empfundenen Anspruch der biblischen Texte entkommen zu können. Noch komplexer wird die Gesamtlage dadurch, dass Gewalt im Namen der Religion nicht allein von christlicher Religion ausgeübt wird, sondern von politischen Mächten, die im Namen anderer Religionen Gewalt ausüben. Dies lässt die Standpunkte „flirren“. Wo geht es um eine selbstbezogene Standpunktklärung, wo geht es im Gewand einer solchen Klärung dann auch um eine implizite Abwehr anderer Ansprüche und Praktiken? Diese Fragenkomplexe können im Rahmen dieses Beitrags nicht geklärt, sollen aber wohl benannt werden. Jeder Mensch, der unbefangen eine Lektüre des Alten Testaments beginnt und über alle Schwierigkeiten hin durchhält, wird frühzeitig und immer wieder beim Lesen die Erfahrung machen: Gewalt gehört zur Welt der Bibel unaufgebbar dazu. Hier ist nichts zu verstecken oder abzuschwächen: „Gewalt“ ist ein eminent wichtiges Thema der Bibel. Bereits diese Tatsache gilt es nüchtern festzuhalten und auch bereits auszuwerten. Wer die Bibel gern als „gewaltfreie Zone“ hätte, lässt außer Acht, dass unsere gesamte Welt von Gewalt zutiefst geprägt ist. Die Bibel ist kein Buch, das narrativ eine Sonderwirklichkeit errichtet, die von unserer Welt abgekoppelt ist. Die Bibel ist ein Buch, das mit Gewalt „umgeht“, und dies ist kein randständiges Motiv, sondern mit ihrem Kernanliegen verknüpft: der Botschaft vom in der Geschichte wirkenden Gott Israels. Gerade deshalb wird die Frage der Gewalt auch bibeltheologisch virulent: Weil Gott und Menschenwelt nicht voneinander getrennt werden können, ist die Erfahrung und Ausübung von Gewalt ein Grunddatum menschlicher Existenz.2 Diese Fragen führen auch zum biblischen Gottesbild. Das Christentum hat im Laufe seiner Geschichte häufig den Gott des Alten Testaments als den der Rache und des Krieges betrachtet, während es für sich selbst das jesuanische Gebot der Feindesliebe in Anspruch genommen hat. Dennoch zieht sich durch seine Geschichte eine unübersehbare Spur von Gewalt und Krieg, zu deren Rechtfertigung der christliche Gott angerufen wurde. Es ist nicht zu verkennen, dass 1 Fuchs, Belehrung, 131 nennt als Vermeidungsstrategien: „Übersetzungsentschärfungen […], Ästhetisierungen […], Fortschrittsideologien […], Metaphorisierungen […], liturgische Zähmung“ sowie die „Geringschätzung des Alten Testamentes als einer noch unmenschlichen ,Vorstufe‘ der eigentlichen Glaubensgeschichte“. 2 Vgl. Görg, Gott 28; Benedict, Seite, 38f.; Lohfink, Gewalt, 63. – „Unsere Schöpfung, wie sie ist – nicht die, die Gott eigentlich möchte –, kennt also Gewalttat, doch fordert Gott von den Menschen, diese nach Möglichkeit durch rechtliche Sanktionen zu verhindern.“ (Lohfink, Gewalt, 74). – Vgl. auch den Sammelband von Fischer, Macht.

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Menschen zur Durchsetzung eigener Interessen über Gott zu verfügen versuchten. Das Schuldbekenntnis von Papst Johannes Paul II. im Jahr 2000, das auch die Schuldgeschichte des Christentums beim Namen genannt hat, kann hier kaum hoch genug eingeschätzt werden. Vor diesem Hintergrund ist ein Blick auf die biblischen Texte von Interesse. Weil kein Wirklichkeitsbereich des Menschen aus der Bibel ausgeklammert ist, gibt es in ihr nicht nur eine Theologie des Friedens, sondern auch einen vielfältigen Umgang mit dem Faktum des Krieges und der Gewalt. Und beides kann nicht von der Gottesfrage gelöst werden.

Die „größte militärische Leistung“ Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat in ihrem Magazin einen Fragebogen, der sich an Prominente richtet und in dem sich seit Jahrzehnten die gleichen Fragen finden, deren eine lautet: „Was halten Sie für die größte militärische Leistung?“ Diese Frage kann einen zum Erschauern bringen. Die beste biblische Antwort hierauf soll aber nicht vorenthalten werden, jene des Buches Deuteronomium. „Und es soll geschehen, wenn ihr zum Krieg heranzieht, dann soll der Priester herantreten und zum Volk reden, und er spricht zu ihnen: Höre Israel, ihr rückt heran zum Krieg gegen eure Feinde. Euer Herz verzage nicht, fürchtet euch nicht und ängstigt euch nicht und erschreckt nicht vor ihnen, denn der HERR euer Gott geht mit euch, um für euch mit euren Hassern zu kämpfen, um euch zu retten. Und es mögen die Hauptleute so zum Volk reden: Wer ist der Mann, der ein neues Haus gebaut und es nicht eingeweiht hat? Er gehe und kehre zurück in sein Haus, das er nicht sterbe im Krieg und ein anderer Mann es einweihe. Und wer ist der Mann, der einen Weinberg gepflanzt und die Lese nicht gehalten hat? Er gehe und kehre zurück in sein Haus, das er nicht sterbe im Krieg und ein anderer Mann ihn lese. Und wer ist der Mann, der sich einer Frau verlobt hat und sie nicht zu sich genommen hat? Er gehe und kehre zurück in sein Haus, das er nicht sterbe im Krieg und ein anderer Mann sie zu sich nehme. Und die Hauptleute sollen fortfahren so zum Volk zu reden: Wer ist der Mann, der furchtsam ist und ein verzagtes Herz hat? Er gehe und kehre in sein Haus zurück, dass nicht das Herz seines Bruders schmelze wie sein Herz.“ (Dtn 20,1–8)

Dieser Text tut alles, um den Männern die Lust am Krieg zu nehmen, indem er mögliche unausgesprochene Vorbehalte gegen einen Krieg artikuliert, das Unwohlsein am Krieg verstärkt und die sozialen Verpflichtungen zu Hause plastisch ausmalt. Mit einem solchen Kriegsgesetz ist kein einziger weltlicher Krieg zu führen. Man kann sich keine bessere Kriegsunfähigkeitsmachung vorstellen als diesen Aufruf. Und in ihm liegt wohl die größte militärische Leistung der Bibel. Selbstverständlich, es gibt auch andere Texte der Bibel, und sie müssen zu-

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einander in ein Verhältnis gesetzt werden. Aber immerhin, dieser hier steht an prominentester Stelle, er ist Bestandteil der Tora, der verbindlich für Israel gegebenen Weisung. Folgt man der innerbiblisch vorgegebenen Reihenfolge und Struktur der Texte, so hat dieser Text als von Mose dem Volk für immer verbindlich vorgegebene Gottesweisung als Grundgesetz für die Existenz im Land der Verheißung allergrößtes Gewicht. Man mag sich fragen, wie die Weltgeschichte verlaufen wäre, wären diese Verse mit gleicher Innigkeit zur Vorschrift politischen Handelns gemacht worden wie andere Verse der Bibel. Hieran zeigt sich: Die Problematik liegt nicht allein auf der Ebene der biblischen Texte, sondern viel mehr an der Selektivität des Gebrauchs. Die Wirkungsgeschichte biblischer Texte ist mit den Aussagen dieser Texte nicht unbedingt gleichzusetzen.

„Kriegsrecht“ „Wenn du eine Stadt viele Tage belagerst um sie zu bekämpfen und sie einzunehmen, sollst du ihren Baumbestand nicht vernichten, indem du die Axt gegen sie schwingst. Denn davon kannst du essen, und du sollst ihn nicht abhauen. Denn ist der Baum des Feldes ein Mensch, dass er von dir belagert werden müsste?“ (Dtn 20,19)

Im gesamten Alten Orient war es üblich, den Krieg als ein Gottesgericht anzusehen. Dies bedeutete, dass die siegreiche Seite nach damaliger Anschauung den stärkeren Gott auf ihrer Seite gehabt haben muss. Auch das Buch Deuteronomium geht von dieser Vorstellung aus, verändert sie aber dahin, dass der möglichen Kriegführung eine strenge Rechtsordnung gegeben wird. Hierin zeigt sich wieder die typisch biblisch-israelitische Eigenart, dass Gott und Recht untrennbar zusammen gehören. Der Glaube an den Gott des Exodus bedeutet nicht die Gewissheit, in allem, was man tut, den eigenen Gott im selbstverständlichen „Besitz“ zu haben. Vielmehr sind auch in kriegerischen Konflikten mit anderen Völkern, in Situationen also, in denen normalerweise ethische Grundsätze über Bord geworfen werden, humane und sogar ökologische Grundrechte einzuhalten.3 Wie wenig selbstverständlich eine solche rechtliche Ordnung des Kriegszustandes ist, zeigt nicht zuletzt ein Blick in die Gegenwart, in der auch westliche Demokratien nicht bereit sind, in ihren Kriegen die völkerrechtlich verbindlichen Vereinbarungen der Genfer Konvention einzuhalten. Ganz ähnlich verhält es sich bei dem dreiteiligen „Verfassungsentwurf“, den das Buch Deuteronomium ebenfalls enthält und welcher eine regelrechte Ge3 Zur Auslegung von Dtn 20 vor dem Hintergrund der Kriegspraxis des Alten Orients und der Konstruktion des deuteronomischen Kriegsgesetzes als theologischer Gegenutopie vgl. Rüterswörden, Deuteronomium, 128–135.

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waltenteilung zwischen Priestern, König und Propheten vorsieht. Hierin ist der König in seinem Amt nur durch zwei Dinge charakterisiert: Die positive Kennzeichnung besteht darin, dass er Tag und Nacht in der Tora lesen und lernen soll und damit von Anfang an den Prototyp des jüdischen Frommen darstellt, wie er weit über biblische Zeiten bis in die Gegenwart hinein prägend gewesen ist. Die zweite Kennzeichnung ist allein eine negative: „Nur soll er sich nicht zu viele Pferde anschaffen, und er soll das Volk nicht nach Ägypten zurückführen, damit er sich noch mehr Pferde anschafft.“ (Dtn 17,16)

Eine merkwürdige Vorschrift. Sie dient dazu, den König vor der Anschaffung von Kriegsspielzeug zu bewahren. Pferde dienen nicht nur der höfischen Prachtentfaltung, sondern auch der Ausrüstung von damals hochmodernen Streitwagen, wie sie beispielsweise die Ägypter bei der Verfolgung der Israeliten beim Exodus verwendet haben. Der König soll davon abgehalten werden, die Waffen, die Israel als Bedrohung erlebt hat, nun selbst zur Vernichtung anderer Völker zu verwenden. Letztlich wird mit dieser rechtlichen Vorschrift das Königtum, schon vor der konkreten Einsetzung eines Königs, abgerüstet.

Im Namen des „Gottes der Gewalt“? Vor dem Hintergrund solcher Texte ist es wohl bezeichnend, dass diese deuteronomische Antikriegspolitik, soweit erkennbar, keine militärische Wirkungsgeschichte nach sich gezogen hat. In fast allen Kriegen des sich als christlich verstehenden Abendlandes hat man sich auf den Gott der Bibel berufen. Im Ersten Weltkrieg hieß es beispielsweise auf den Koppelschlössern der deutschen Soldaten „Gott mit uns“ – dass die Franzosen mit demselben Gott in den Krieg zogen, schien auf beiden Seiten niemanden zu stören. Man hat von den Texten das wahrgenommen, was man wahrnehmen konnte und wollte. Diese Differenzen lassen sich nicht so verteilen, dass man alles Problematische in den Bereich des Alten Testaments verlagert und eine neutestamentliche Ethik als außerhalb dessen stehend ansieht. Es ist derselbe Jesus, der die Friedensstifter seligpreist (Mt 5,9) und der sagt: „Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ (Mt 10,34). Dieses Beispiel macht auch deutlich, dass die Einteilung „Gott des Alten Testaments = Gott der Rache; Gott des Neuen Testaments = Gott der Liebe“ nicht biblisch vorgegeben ist, sondern ein Wahrnehmungsfilter ist, den Christen sich angewöhnt haben. Es kann gar nicht geleugnet werden, dass es Texte grausamer Gewalt im Alten Testament gibt, aber es gibt sie ebenso im Neuen Testament. Das Problem löst sich also nicht, wenn man schlicht auf den „alttestamentarischen“ Gott verzichtet.

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Der oben genannte Wahrnehmungsfilter führt zu einem doppelten Paradox: Texte, die in dieses Schema nicht hineinpassen, seien es Antigewalttexte im Alten Testament oder Gewalttexte im Neuen Testament, fallen durch das Raster der Wahrnehmung hindurch. Umgekehrt kann man aber, wie eben die Geschichte immer wieder gezeigt hat, durchaus auch von diesem vermeintlich klaren neutestamentlichen Raster abrücken und selbst Gewalt ausüben, ohne es eigens zu reflektieren – und dabei möglicherweise noch den „Gott der Liebe“ für sich in Anspruch nehmen. Der durch das eigene Handeln implizit vollzogene Paradigmenwechsel wird nicht reflektiert. Dieses Beispiel mag als Warnsignal dienen, auch heute nicht zu schnell mit Zuschreibungen und Indienstnahmen biblischer Texte bei der Hand zu sein. Jede Wahrnehmung hat naturgemäß ihre blinden Flecke. Das Ziel wissenschaftlicher Exegese ist eine möglichst große, reflektierte Achtsamkeit: Gegenüber den biblischen Texten und gegenüber den eigenen Voreinstellungen. Dabei zeigt sich, dass das Alte Testament kein einheitliches Muster im Umgang mit Gewalt hat, sondern dass hier sehr unterschiedliche Weisen begegnen.4 Zu einem angemessenen Umgang mit biblischen Texten sind also drei Aspekte grundlegend: Die biblischen Texte sind bereits in sich bedeutungsoffen und einer damit einer legitimen Vielfalt von Auslegungen zugänglich, zudem gibt es eine große Fülle biblischer Texte mit differenzierten Aussagerichtungen, auch in Bezug auf das Gewaltmotiv, und schließlich erfolgt die Auslegung biblischer Texte nicht in einem abstrakten Raum, sondern immer in ganz konkreten Kontexten, die die Lektürefragen mit bestimmen.5 Dazu braucht es eine differenzierte Wahrnehmung der Texte, aber auch eine regelrechte Auslegungskunst, um die in den Texten selbst angelegten Potentiale sichtbar zu machen.6

4 Eine Systematisierung der biblischen Umgangsweisen mit Formen der Gewalt findet sich bei Mayordomo, Gewalt und Dietrich / Mayordomo, Gewalt, 211f.; ebenso werden biblische Weisen der Gewaltüberwindung dargestellt (a.a.O, 212–215). Auch bei Kegler, Gewaltverherrlichung und Schnocks, Testament finden sich beispielsweise hilfreiche Systematisierungen. 5 Vgl. Schnocks, Testament, 4. 6 Als Beispiel sei die Gewalthermeneutik im Buch Josua genannt. Die Rezeption von Texten daraus im Buch Jesus Sirach macht deutlich, dass sich dort „keinerlei innere Distanz oder Distanzierung im Hinblick auf die traditionellen Darstellungen der Inbesitznahme des Erbes mit kriegerischen Mitteln und der Vernichtung des Gegners erkennen“ lassen (Elsner, Josua, 91). Eine solch innerbiblisch-deuterokanonisch belegte Leseweise der josuanischen Gewalttexte besagt jedoch keineswegs, dass damit die Aussage des Prätextes angemessen erfasst sei.

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Israel gegen Ägypten? Eine der ersten Szenen, in denen Gott in der Bibel mächtig in Erscheinung tritt, ist jene am brennenden Dornbusch, in der JHWH dem Mose verspricht, sein Volk aus der Knechtschaft Ägyptens zu befreien. Und dieses Versprechen wird machtvoll in die Tat umgesetzt, indem Mose auf Gottes Geheiß das Schilfmeer spaltet und das Volk sicher hindurchführt, während über den ägyptischen Streitwagen die Wasserfluten tosend zusammenbrechen. Israel steht gerettet am Strand und singt folgendes Lied: „JHWH ist ein Mann des Krieges – JHWH ist sein Name.“ (Ex 15,3)

Der Gotteskrieg als erste Tat, die Israel konstituiert? Aber der Satz muss im Kontext gelesen werden, dann wird manches klarer.7 Es geht um kein gleichberechtigtes Kräftemessen zwischen Israel und Ägypten, in das Gott gewalttätig eingreift. Vielmehr sind die Kräfte sehr unterschiedlich verteilt. Ägypten wird in immer neuen Formulierungen als hochgerüstete Kriegsmaschinerie dargestellt, das einem wehrlosen Flüchtlingsvolk nachjagt, um es zu vernichten. Nun ist es nicht so, dass Gott in diesem ungleichen Verhältnis die Israeliten im Kampf siegen lässt. Vielmehr heißt es: „Der HERR kämpft für euch, ihr aber sollt still sein.“ (Ex 14,14)

Gott nimmt seinem Volk den Kampf aus der Hand, und auch er selbst lässt die Ägypter nicht durch Waffen umkommen, sondern durch Wasser. Dabei geht es nicht einfach um ein Naturwunder. „Ägypten“ ist hier nicht als Ansammlung von kriegerischen Einzelpersonen geschildert, sondern nach häufigem biblischem Brauch, als anonyme und überpersönliche Todesmacht. Diese Todesmacht lässt Gott in der anderen Todesmacht, den Wassern der Chaosflut, untergehen. Tod kommt zu Tod, damit das Leben leben kann. Im Grunde ist dies gleichzeitig eine Rettungs- und eine Schöpfungsgeschichte. Wie im ersten Schöpfungstext in Gen 1 schafft Gott inmitten der Chaoswasser einen trockenen Raum, in dem es Platz für das Leben gibt. Es geht um den Kampf Tod gegen Leben, nicht um Israel gegen Ägypten und schon gar nicht um jenen von Israeliten gegen Ägypter. Deshalb ist JHWH ein Kriegsmann, weil er seine Macht zugunsten des gefährdeten Lebens einsetzt. Die Sprache von Gott als Krieger steht vor dem Hintergrund des Sprachgebrauchs im gesamten Alten Orient, und sie macht eindeutig klar, dass nicht Menschen das Recht haben, über Leben und Tod zu entscheiden, sondern allein Gott. Wenn Menschen Macht haben und sie gegen andere Menschen miss7 Zur Auslegung von Ex 14 vgl. Görg, Gott, 143–152; Steins; Lesungen 50–57; Fischer, Gott; Dietrich / Link, Seiten, 187f.

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brauchen – eine uralte Menschheitserfahrung – dann muss Gott die noch größere Macht haben, das ist der letzte Rettungsanker der Gerechtigkeit. Aussagekräftig ist dann jedoch, dass Gott, obwohl als „Kriegsmann“ tituliert, nicht mit Mitteln des Kriegs, sondern mit Mitteln der Schöpfung kämpft. „Ägypten“ als Symbolgestalt der Todesmacht in diesem Text will Leben vernichten und damit die von Gott lebensfreundlich eingerichtete Schöpfung in einen Todesraum verwandeln. Und Gott sorgt dafür, dass Leben Leben bleibt – aber „Ägypten“ selbst in jener Todessphäre, für die es sich entschieden hat, das Leben lässt. Dieser einen Stelle, an der Israel seiner Rettung durch Gott zuschaut, sind viele weitere an die Seite zu stellen, in denen Gott seinem Volk den Krieg aus der Hand nimmt. Im Kampf gegen die Amalekiter ist es das Gebet des Mose, das die Rettung bringt: „Und es geschah, wenn Mose seine Hand erhoben hielt, war Israel stärker, wenn er seine Hand sinken ließ, war Amalek stärker.“ (Ex 17,11)

Mit dieser Erzählung soll keine Gebetsmagie begründet werden. Vielmehr wird die Aussage gemacht, dass auch hier der Sieg Israels nicht von der eigenen Kriegstätigkeit abhängt, sondern im Gottvertrauen liegt, das durch den Gebetsgestus symbolisiert wird. Noch deutlicher heißt es im Psalm: „Nicht an der Stärke des Pferdes hat er Gefallen, noch an den Schenkeln des Mannes Freude. Gefallen hat der HERR an denen, die ihn fürchten, an denen, die auf seine Gnade hoffen“. (Ps 147,10f)

Auch wenn militärische Bilder stark eingesetzt werden: Vielen biblischen Texten geht es darum, das Gewaltmonopol Gottes herauszustellen. Gott setzt seine Gewalt ein, die stärker ist als die erfahrbare Gewalt von Menschen, um den Schwachen zu Hilfe zu eilen. So kann man erkennen, dass es eine sehr differenzierte Verwendung der Aussagen von Krieg und Gewalt innerhalb der Bibel gibt. Aber manche Aussagen gehen noch weiter.

Gott führt Krieg gegen sein Volk Auch im Prophetenbuch Jesaja gibt es viele Stellen, die mit gewalttätigen Bildern arbeiten. Es zeigt sich aber eine erstaunliche Umkehrung der Aussagebereiche. „Weh denen, die das Böse gut und das Gute böse nennen, die Finsternis zu Licht machen und Licht zu Finsternis, die Bitteres zu Süßem machen und Süßes zu Bitterem. (Weh denen), die den Frevler für Bestechungsgeld gerecht sprechen, aber den Gerechten die Gerechtigkeit vorenthalten.“ (Jes 5,20.23)

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Auf das bittere Unrecht, das im Volk Israel geschieht, reagiert Gott. Sein Zorn entbrennt gegen sein eigenes Volk: „Und er errichtet ein Feldzeichen für die Nation in der Ferne, und er pfeift sie herbei von den Enden der Erde. Und siehe, eilends, zügig wird sie kommen. Ihr Gebrüll ist wie das eines Löwen, sie brüllt wie die Junglöwen, sie knurrt und packt die Beute und schleppt sie fort. Es gibt keinen Retter. Sie knurrt über ihr wie das Tosen des Meeres. Man schaut auf der Erde – und siehe: Finsternis. Das Licht verfinstert sich durch ihr Gewölk.“ (Jes 5,26.29f.)

Auf die Umkehr der Verhältnisse von Gut und Böse, von Recht und Unrecht durch sein Volk antwortet Gott nun seinerseits mit einer Umkehrung der Verhältnisse: Eine gewaltige, durch JHWH an seinem Volk bewirkte Katastrophe ereignet sich. Die Zahl der Weherufe hat diesen Prozess eingeleitet. Auch hier wird mit schöpfungstheologischen Aussagen gespielt. Wie das Volk Israel Recht und Unrecht, Licht und Finsternis vertauscht und damit Gottes gute Schöpfung pervertiert, so lässt Gott auf der Erde Finsternis herrschen, so nimmt er die Schöpfung zurück. Genau genommen ist dies keine Strafe Gottes, sondern nur die logische Konsequenz aus dem Handeln des Volkes. Dabei arbeitet der Prophetentext mit wechselnden Katastrophenbildern: Das Bild der wilden Tiere geht in das der Chaosmacht des Meeres, der Urflut, über. Und beides trifft sich mit der Aussage, dass eine fremde Kriegsmacht Israel bedrohen und überwältigen wird. Hier geht es um allgemeines, emotional packendes Bildmaterial, das seinen Zusammenhang in der Bedrohung Israels hat. Bemerkenswert ist, dass sich hier verschiedene Aussagen treffen. Die Bildrede geht in konkrete Geschichtsdeutung über. Im biblischen Sprachgebrauch lassen sich diese Aussageebenen nicht einfach voneinander trennen. Schöpfungstheologie und konkrete Geschichtsdeutung haben die gleiche Zielrichtung: Israel selbst hat Exil und Fremdherrschaft durch sein eigenes Verhalten verschuldet. Die Feindvölker sind Werkzeug göttlicher Gerechtigkeit. Gott als oberster Souverän auch der anderen Völker pfeift sie herbei, und sie führen den göttlichen Auftrag aus. Diesen Zusammenhang deckt der Prophet schonungslos auf. Er setzt bittere Geschichtserfahrung in theologische Deutung um – mit einer geradezu schockierenden Aussage. Gott steht auf Seiten des Krieges und der Feinde Israels. Diese Kriegsaussagen wollen das Volk aufrütteln, es mit aller Macht zum Schuldbekenntnis und zum Tun von Recht und Gerechtigkeit aufrufen. Die Sprache von Gewalt dient dazu, Gewalt und Unrecht aufzudecken und weitere Gewalt und weiteres Unrecht zu verhindern. Hierbei wird auch deutlich: Gerade die Tatsache der sprachlichen Repräsentation von Gewalt spielt eine entscheidende Rolle. Sprachliche Gewaltrepräsentation fungiert als „Gegen-Text“ gegen eine gewaltsam erfahrene Wirk-

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lichkeit, sie gibt der äußeren Wirklichkeit nicht die alleinige Macht, sondern bringt auf sprachliche Weise Gott selbst und sein machtvolles Handeln ins Spiel.8 Hier kommt auch ein weiterer, eminent wichtiger Aspekt dessen zum Ausdruck, was man als „biblische Gewalthermeneutik“ bezeichnen könnte: Gott selbst hat das Monopol auf Gewalt. Nach biblischem Glauben kann kein Wirklichkeitsbereich aus dem Machtbereich Gottes ausgeklammert werden, er muss also als Ursache hinter allem, was geschieht, vorgestellt werden. Umgekehrt bedeutet das auch, dass biblische Texte selten der Legitimierung menschlicher Gewaltausübung dienen, sondern dass ganz im Gegenteil Gott das Handeln überlassen wird. In solchen Aussagen liegt die unüberholbare prophetische Kraft. Einer nationalreligiösen Ausbeutung des Krieges und des eigenen Gottes schiebt die Bibel energisch einen Riegel vor.9 Der Maßstab von Recht und Gerechtigkeit steht über allem, er ist das innerste Wesen Gottes, und alles andere hat sich dem zu beugen.

Der differenzierte Umgang mit Macht und Gewalt Der Durchgang durch einige exemplarische Stellen der Bibel hat gezeigt, dass es einen vielfältigen, differenzierten Umgang mit dem Phänomen der Gewalt in der Bibel gibt. Es konnten nur einige wenige Stellen beleuchtet werden, während vieles andere ausgeklammert blieb, so zum Beispiel der Umgang mit Aggression und Gewalt in den Psalmen. Dennoch lassen sich einige Aussagelinien ziehen. Israel kannte Gewalt und Krieg, und es lebte in einer von Gewalt und Krieg bestimmten Welt. Dies schlägt sich auf vielfältige Weise in der Bibel nieder. Die Bibel ist ein Buch, das alle erfahrbaren Seiten der menschlichen Wirklichkeit zur Sprache bringt und daher in der Rede von Gott auch keine dieser Dimensionen ausklammert. Dabei ist jedoch festzuhalten, dass Israel im Laufe seiner Geschichte mehr Gewalt und Unterdrückung erleiden musste, als dass es sie selbst ausübte. Die Texte der Bibel gehen mit diesen Phänomenen um, nennen die Formen der Gewalt und Unterdrückung beim Namen – aber auch an jenen Stellen, wo Israel selbst seinem eigenen Rechts- und Gottesanspruch untreu geworden ist. Letztlich müssen die Fragen, die die biblischen Texte stellen, an uns selber gehen: Wo

8 Vgl. Baumann, Gottesbilder, 97–99. 9 Beispielhaft ist dies anhand der Achan-Perikope in Jos 7 zu erkennen, worin das Gewaltmotiv durch wechselnde Formen des Rollentausches seiner vermeintlichen Eindeutigkeit beraubt wird. Israel selbst wird in die Entscheidung gerufen, auf welcher Seite es stehen will. Vgl. Ballhorn, Zorn.

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ist unsere Welt von Gewalt geprägt? Wo erleiden andere durch uns Gewalt? Wie gehen wir mit der Gewalt um?

Der Friede Krieg und Friede sind in der Bibel kein ursprüngliches Gegensatzpaar. Krieg war ein universaler Begriff, während „Schalom“ in seiner ursprünglichen Bedeutung nur das Heilsein des einzelnen oder der überschaubaren Gemeinschaft war (vgl. Jer 29,7). Friede ist ursprünglich auf das eigene Wohnumfeld und das eigene Volk beschränkt (vgl. Ps 122,6). Aber dabei bleibt die biblische Friedenstheologie nicht stehen. Als Israel die anderen Völker um sich herum wahrnimmt, gerade jene Völker, von denen es so viel Leid erfahren hat, bezieht es auch sie in das eigene, empfangene Heil ein. So findet es sich beispielsweise beim Propheten Jesaja: „Und es wird sein an den späteren Tagen: Fest steht der Berg des Hauses des HERRn als Haupt der Berge, erhoben aus allen Hügeln. Und es strömen zu ihm alle Nationen. Und es gehen viele Völker und sagen: Geht, lasst uns hinaufziehen zum Berg des HERRn, zum Haus des Gottes Jakobs, damit er uns belehre aus seinen Wegen. Und lasst uns gehen auf seinen Pfaden. Fürwahr : von Zion wird Tora ausgehen, und das Wort des HERRn aus Jerusalem. Und er richtet zwischen den Nationen und wird Recht sprechen für viele Völker – und sie werden umschmieden Schwerter zu Pflugscharen und ihre Speere zu Winzermessern. Nicht erhebt Nation gegen Nation das Schwert, und Krieg lernen sie nimmermehr.“ (Jes 2,2–4)

Inmitten einer Welt von Gewalt hat Gott einen Friedensplan für die „vereinten Nationen“. Dieser Friede beruht auf der Offenbarung Gottes an Israel, die ihre Kreise bis in die anderen Nationen zieht, die daran teilhaben sollen. Und dieser Friede beruht auf Recht und Gerechtigkeit, nicht auf Macht, Herrschaft und Unterdrückung. Wichtig ist auch, dass Friede eigens gelernt werden soll. Er ist kein Zustand, der von sich aus über die Welt hereinbricht. Friede ist eine Vision von Gottes Seite her und zugleich eine Praxis, die unter Völkern eingeübt werden muss. – Diese Worte haben ihre bleibende Aktualität, ihre Brisanz und ihr Hoffnungspotenzial bis in die Gegenwart bewahrt.

Literatur Ballhorn, E., Zorn, Gewalt, Klage. Theologische Anmerkungen zur Achan-Perikope (Jos 7), in: ThG 54 (2011) 176–190. Baumann, G., Gottesbilder der Gewalt im Alten Testament verstehen, Darmstadt 2006.

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Egbert Ballhorn

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Klaus Wengst

Gewalt an und in biblischen Texten. Zur Verantwortung der Auslegenden im (Weiter)Schreiben in der Schrift und über die Schrift (hinaus)*

1.

„Es wurde noch hinzugefügt“ (Jer 36,32b). Bruch-Erfahrungen und ihre Folgen

Das Zitat im Motto über diesem Abschnitt aus Jeremia 36 steht am Ende dieses Kapitels, das vom Schicksal einer Schriftrolle erzählt. Sie enthält die Worte Jeremias seit dem Tod von König Josia bis ins vierte und fünfte Jahr des Königs Jojakim über das kommende Gericht Gottes, die der Prophet dem Schreiber Baruch diktiert hat und die dieser im Tempelbezirk verlesen soll – in der Hoffnung auf Umkehr, damit Gott sein Gericht nicht vollziehe. Baruch liest aus der Schriftrolle vor versammeltem Volk anlässlich eines ausgerufenen Fastens. Das wird dem versammelten Kabinett gemeldet, das Baruch samt Schriftrolle kommen und sich seinerseits vorlesen lässt. Die Schriftrolle wird einbehalten und dem König zur Kenntnis gebracht. Und jedes Mal, wenn ihm drei oder vier Spalten vorgelesen sind, schneidet er sie mit einem Schreibermesser ab und wirft das Stück ins Feuer. So wird die ganze Schriftrolle verbrannt. Doch Jeremia bekommt im Gotteswort den Auftrag, eine andere Schriftrolle zu nehmen und auf sie alle Worte der ersten zu schreiben, „die Jojakim, der König von Juda, verbrannt hat“ (Jer 36,28). Und dann heißt es ganz am Schluss: „Da nahm Jeremia eine andere Schriftrolle und gab sie Baruch, dem Schreiber, dem Sohn Nerijas, und der schrieb auf sie aus dem Mund Jeremias alle Worte des Buches, das Jojakim, der König von Juda, im Feuer verbrannt hatte – und über die hinaus wurde noch hinzugefügt: viele Worte wie diese.“ (Jer 36,32)

Ein König verbrennt eine Schriftrolle, die ihm nicht in sein politisches Konzept passt. In Deutschland wurden 1933 von den zur Herrschaft Gekommenen und ihren Mitläufern Bücher verbrannt, die nicht in ihr abstruses Weltbild passten. 1977 erschien ein Band mit dem Titel „Die verbrannten Dichter“. Er wollte * Der Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten zum 70. Geburtstag von Jürgen Ebach am 28. Februar 2015.

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ins Bewusstsein rufen, dass viele derjenigen, deren Werke man verbrannt hatte, schlicht in Vergessenheit geraten waren. Das sollte, war es die Absicht dieses Bandes, nicht so bleiben. Sie sollten in Erinnerung gerufen und ihre Werke wieder gedruckt und gelesen werden. Wer als Schriftsteller das Verbrennen seiner Werke überlebt hat und in der Lage ist, wieder zu schreiben, oder wer das Vermächtnis „verbrannter Dichter“ aufnehmen will, kann nicht einfach nur wiederholen, was vor dem Verbrennen geschrieben worden ist. Mit dem Verbrennen ist eine schmerzhafte Erinnerung eingebrannt, die nicht umgangen oder übersprungen werden kann, eine Erinnerung, die einen tiefen Bruch markiert. Und so müssen über die zuvor gesagten und geschriebenen Worte hinaus „viele Worte hinzugefügt“ werden, andere Worte, aber doch zugleich Worte „wie diese“, gleichsam durch den Bruch hindurch – und von ihm gezeichnet – mit ihnen verbunden. Tradition vollzieht sich nicht als immer gleichförmiger Prozess und in sich immer gleichbleibender Kontinuität. Sie vollzieht sich auch durch Brüche hindurch, in denen viel zu Bruch gehen kann oder auch muss und die einen tiefen Einschnitt bewirken. Die Erfahrung eines solchen Bruches wurde bestimmend sowohl für das rabbinische Judentum als auch für die auf Jesus bezogene Gemeinschaft aus jüdischen und hinzugekommenen nichtjüdischen Menschen, aus der dann die christliche Kirche hervorging. Diese Erfahrung war der jüdisch-römische Krieg von 66–70. In ihm richteten die siegreichen römischen Legionen Blutbäder über Blutbäder an, aber auch rivalisierende jüdische Kampfgruppen mordeten untereinander ; die Römer brannten eroberte Städte samt ihren umliegenden Ortschaften nieder, verwüsteten ganze Landstriche, verkauften diejenigen, denen die Flucht nicht gelang, in die Sklaverei, verbrannten schließlich den Tempel und zerstörten ihn völlig, machten Jerusalem dem Erdboden gleich. Es gab jüdische Gruppen – wir wissen es von den Sadduzäern und Essenern –, die danach keine Weiterexistenz hatten. Für sie ging mit diesem Bruch alles zu Bruch; er war das Ende. Das rabbinische Judentum, angefangen mit Rabban Jochanan ben Sakkaj im Lehrhaus von Javne, behielt die Bindung an die überlieferten heiligen Schriften bei, musste sie aber – ohne den Tempel, auf den ja so vieles in ihnen bezogen war – neu und anders lesen und hat dabei vor allem die in pharisäischer Tradition schon begonnene mündliche Tora kräftig weiter gestaltet und ausgebaut. Und so wurde über die überlieferten Worte der schriftlichen Tora hinaus „noch hinzugefügt: viele Worte wie diese“. Das führte schließlich zu Mischna und Talmudim, den grundlegenden Schriften des Judentums bis heute. Die rabbinischen Weisen haben für die Andersartigkeit der hinzugefügten Worte gegenüber den überlieferten in der Schrift ein klares Bewusstsein gehabt. An einer Stelle kommt es geradezu drastisch zum Ausdruck:

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„(Die Bestimmungen über die) Lösung von Gelübden schweben in der Luft. Sie haben nichts, worauf sie sich stützen. Die Bestimmungen über Sabbat, Festopfer und Veruntreuungen – passt auf! –, sie sind wie Berge, die an einem Haar hängen; denn bei ihnen gibt es wenig Bibel (4LKB; mikr#), aber es sind zahlreiche Bestimmungen. (Die Bestimmungen über) die Rechtsangelegenheiten und die Opferdienste, über die reinen und unreinen Dinge und über die verbotenen geschlechtlichen Verbindungen haben etwas, worauf sie sich stützen. Diese und jene sind Kernstücke der Tora.“ (mHag I,8)

Trotz der zuerst vorgenommenen Differenzierungen heißt es abschließend dennoch: „Diese und jene sind Kernstücke der Tora“ – also auch diejenigen, die in der Luft schweben oder nur wie Berge an einem Haar hängen. Blättert man etwa den Mischnatraktat Nedarim durch, in dem es um die Lösung von Gelübden geht, findet man in der Tat nur wenige Bibelzitate. Aber immerhin, man findet welche; es ist keineswegs so, als stünden dort überhaupt keine. Blickt man danach in den Talmudtraktat Nedarim, der die Sätze der Mischna aufnimmt und diskutiert, trifft man wieder vermehrt auf Bibelzitate. Die Luft, in der diese Bestimmungen schweben, ist offenbar biblische Luft, und das Haar, an dem die Berge anderer Bestimmungen hängen, ein biblisches Haar, stark genug, dass die Verbindung nicht zerreißt. Hier zeigt sich ein eindeutig nicht-fundamentalistischer Umgang mit der Bibel, der deren Aussagen nicht exekutiert, sondern sie als einen vorgegebenen Sprachraum versteht, der einen immer wieder zu gestaltenden Lebensraum eröffnet, ja auch einen Spielraum für kreatives Auslegen und Weiterdenken im Diskurs. Zur Aussage, dass die Bestimmungen zur Lösung von Gelübden in der Luft schweben, hat die Tosefta einen bemerkenswerten Zusatz: „Aber ein Weiser (A?;; chach#m: der gelehrte Rabbi) löst Gelübde gemäß seiner Weisheit auf“ (tHag I,9; Zuckermandel), gemäß situationsbezogener Einsicht. Dafür bietet gerade auch der Mischnatraktat schöne Beispiele.

2.

Das Gebot „Du sollst nicht morden!“ – und der Umgang mit der Sanktionierung durch Todesstrafe

Wie in einem konkreten Fall ein Bibelwort zitiert und verändernd weitergeführt wird und auslegend „Worte wie diese hinzugefügt“ werden, sei an einem Beispiel aus dem Matthäusevangelium aufgezeigt. Es kann zugleich deutlich machen, wie sehr Matthäus mit ihm zeitgenössischen rabbinischen Weisen in der Sache übereinstimmt – und zum guten Teil auch terminologisch. Ich meine die erste der sechs Toraauslegungen in Mt 5,21–48. Sie wird mit dem Satz eingeleitet: „Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt worden ist.“ Unentbehrlich ist hier nur die das Subjekt einschließende Verbform: „Es ist gesagt worden“. So steht sie auch allein für sich in der Zitateinleitung der dritten Toraauslegung. Dieses griechische 1qq´hg (err8the) entspricht genau dem hebräischen LB4D (ne’em#r), der am

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häufigsten gebrauchten Einleitung biblischer Zitate im rabbinischen Schrifttum. „Die Alten“ entsprechen dem hebräischen A=D9M=L8 (ha-rischon&m) womit die Sinaigeneration bezeichnet wird. Und so folgt in Mt 5,21 auf diese Einleitung zunächst auch ein wörtliches Zitat aus der am Sinai gegebenen Tora, ein Wort aus dem Dekalog: „Du sollst nicht morden!“ (Ex 20,13; Dtn 5,17) Doch an dieses Zitat wird nicht sofort die Auslegung angeschlossen, sondern das Zitat erfährt zunächst eine Fortsetzung, bei der man zwar zu Beginn einen Anklang an Bibelstellen hören kann, die aber gerade nicht zitiert werden: „Wer mordet, verfällt dem Gericht.“ Blickt man auf den Vordersatz: „Wer mordet“, wäre ja als biblisches Zitat u. a. möglich gewesen: „Wer Menschenblut vergießt, durch Menschen soll sein Blut vergossen werden“ (Gen 9,6). Auf Mord steht die Todesstrafe. Das scheint biblisch klar zu sein. Aber so klar formuliert Jesus nach Matthäus nicht: „Wer mordet, verfällt dem Gericht.“ Matthäus hat offenbar teil an der deutlichen Reserve gegenüber Todesurteilen im pharisäisch-rabbinischen Judentum, die bis dahin geht, Todesurteile tendenziell unmöglich zu machen. So heißt es in der Mischna: „Ein Sanhedrin, der einen in sieben Jahren tötet, wird terroristisch genannt. Rabbi Elasar ben Asarja sagt: ,Einen in siebzig Jahren.‘ Rabbi Tarfon und Rabbi Akiva sagen: ,Wenn wir im Sanhedrin gewesen wären, wäre niemals ein Mensch getötet worden.‘“ (mMakk I,10)

Anderer Meinung ist der anschließend angeführte Rabban Schimon ben Gamliel, nach dem ohne die Todesstrafe die Mörder in Israel zunehmen würden. Dem durch die Fortführung des Zitats schon neu akzentuierten Schriftwort fügt der matthäische Jesus noch eine Auslegung an. Deren Einleitung ist nicht mit „Ich aber sage euch“ zu übersetzen. Es handelt sich hier – wie in entsprechenden rabbinischen Texten – um Auslegungsterminologie, die mit „Ich nun sage euch“ oder ähnlichen Wendungen wiedergegeben werden muss.1 So eingeführt, heißt es weiter : „Jeder, der seinem Mitmenschen zürnt, verfällt dem Gericht. Wer zu seinem Mitmenschen sagt: ,Raka!‘ („Hohlkopf!“), verfällt dem Synhedrion. Wer sagt: ,Dummkopf!‘, verfällt dem Höllenfeuer.“ (Mt 5,22)

Was leistet diese Auslegung? Zunächst ist festzuhalten: Sie verändert nichts an dem Zitat und seiner Fortführung: „Wer mordet, verfällt dem Gericht.“ Dem Recht muss Genüge getan werden. Aber die Auslegung macht nun einen Schritt über das Recht hinaus, einen Überschritt in den nicht justiziablen Bereich. Denn wie sollte das tatsächlich gehen: „Jeder, der seinem Mitmenschen zürnt, verfällt dem Gericht“? Zürnen, das ja nicht einmal äußerlich sichtbar sein muss, ist nicht justiziabel. Kein Gericht der Welt würde eine Anklage wegen Zürnens zulassen. 1 Dazu vgl. ausführlich Wengst, Keine „Antithesen“, 12–15.

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Dass hier hyperbolisch geredet wird, zeigt sich auch daran, dass die in den Vordersätzen genannten Vergehen – zürnen und zwei nicht sonderlich schlimme Schimpfwörter, die geradezu Synonyme sind – auf derselben Ebene bleiben, während die in den Nachsätzen angegebenen Orte für das Verhängen der Sanktionen sich steigern vom normalen Ortsgericht über den Sanhedrin bis zum Gericht Gottes. Dieser Auslegung des matthäischen Jesus entspricht sehr genau eine Aussage des Rabbi Elieser ben Hyrkanos: „Wer seinen Mitmenschen hasst, passt auf!, der gehört zu denen, die Blut vergießen“, gilt also als Mörder. Er begründet diese Aussage mit Dtn 19,11: „Denn es ist gesagt: Und wenn ein Mensch seinen Nächsten hasst und ihm auflauert und sich gegen ihn erhebt“ (DER 11). Die Intention dieser Redeweise besteht darin, sensibel zu machen für alle denkbaren Vorstufen des Mordens. Dem Morden ist schon weit in seinem Vorfeld ein Riegel vorzuschieben. Nicht nur das Morden selbst wird untersagt, sondern auch schon alle emotionalen und verbalen Äußerungen, die Mitmenschen herabsetzen. Für diese Intention lassen sich weitere rabbinische Aussagen anführen. Im Midrasch Sifra wird betont, dass in Lev 19,17 das Hassen des Mitmenschen „in deinem Herzen“ untersagt wird, damit man nicht meine, es sei nur verboten, ihm zu fluchen, ihn zu schlagen, ihn zu ohrfeigen (Parascha Qedoschin, Perek 4). An anderer Stelle wird Dtn 19,11 so ausgelegt: „Von da aus hat man gesagt: Wenn ein Mensch ein leichtes Gebot übertreten hat, wird er schließlich ein schweres Gebot übertreten. Hat er übertreten: ,Du sollst deinen Nächsten lieben dir gleich‘ (Lev 19,18), wird er schließlich übertreten: ,Du sollst dich nicht rächen und nicht nachtragen‘ (ebd.) und: ,Du sollst deinen Bruder nicht hassen‘ (Lev 19,17) und: … ,dass dein Bruder neben dir leben kann‘ (Lev 25,36) – bis er dazu kommt, Blut zu vergießen.“ (SifDev § 187)

Ich komme noch einmal darauf zurück, dass es in der Tora klare Anweisungen für den Vollzug der Todesstrafe gibt – und das nicht nur für den Fall von Mord. Und weiter wird im Deuteronomium von Mose geboten: „Über das Wort hinaus, das ich euch gebiete, sollt ihr nichts hinzufügen und nichts von ihm wegnehmen, sodass ihr die Gebote des Ewigen, eures Gottes, haltet, die ich euch gebiete“ (Dtn 4,2). Das wird noch einmal wiederholt: „Jedes Wort, das ich euch gebiete, dass ihr es haltet: über es hinaus füge nichts hinzu und nimm nichts von ihm weg!“ (Dtn 13,1) Wie geht man damit um, dass man zur Tora nichts hinzufügen und nichts wegnehmen darf und auch beides nicht tut, sondern die Tora mit allen ihren Wörtern als heilige Schrift stehen lässt – und doch gute Gründe hat, sie in der Sache nicht wörtlich zu rezipieren? Die Rabbinen tun es so, dass sie die Wörter ganz genau beim Wort nehmen. Ich führe als Beispiel den Fall und die Anweisungen von Dtn 21,18–21 an. Dort heißt es:

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„Wenn jemand einen störrischen und widerspenstigen Sohn hat, der nicht auf die Stimme seines Vaters und die Stimme seiner Mutter hört, und wenn er, obwohl sie ihn zurechtgewiesen haben, doch nicht auf sie hört, dann sollen ihn sein Vater und seine Mutter packen und zu den Ältesten seiner Stadt bringen, zum Torgericht seines Ortes, und zu den Ältesten seiner Stadt sagen: ,Unser Sohn ist das, störrisch und widerspenstig, er hört nicht auf unsere Stimme, ein Prasser und Zecher.‘ Dann sollen ihn alle Menschen seiner Stadt steinigen, dass er stirbt. So sollst du das Böse aus deiner Mitte wegschaffen und alle in Israel sollen es hören und sich fürchten.“ (Dtn 21,18–21)

Zu diesem Text gibt es an verschiedenen Stellen ausführliche Darlegungen. Ich bringe nur Weniges aus dem Traktat Sanhedrin in der Mischna und im babylonischen Talmud. Der Fall wird in Mischna Sanhedrin VIII aufgenommen. In Mischna 1 wird dort der Anfang des Textes zitiert: „Wenn jemand einen Sohn hat“ und unmittelbar fortgefahren: „nicht Tochter“. Das aber bedeutet, dass die Hälfte der Bevölkerung von diesem Fall gar nicht betroffen werden kann. An dieser Stelle kam mir die Übersetzung von C5 (ben) mit „Kind“ in der „Bibel in gerechter Sprache“ dann doch etwas seltsam vor. Die Mischna nimmt anschließend das Wort „Sohn“ aus dem Text noch einmal auf und fügt eine weitere Verneinung an: „nicht Mann“. Aber wie lange ist eine männliche Person schon gerichtsfähig, aber noch kein Mann? Nach anderen Stellen trifft das gerade einmal für ein Vierteljahr zu. Die Anzahl möglicher Betroffener ist also äußerst minimiert. Aber es werden weitere prozessuale Hürden aufgebaut. Ich führe nur eine aus bSan 71a an, wo die Sätze dieser Mischna diskutiert werden. In einer Baraita heißt es da als Aussage des Rabbi Jehuda: „Wenn seine Mutter nicht seinem Vater gleicht in Stimme, Aussehen und Statur, gilt er nicht als störrischer und widerspenstiger Sohn. Was ist der Grund? Die Schrift sagt: ,Er hört nicht auf unsere Stimme.‘ Wenn die Stimme gleich sein muss, dann müssen auch Aussehen und Statur gleich sein.“ (bSan 71a)

Das ist natürlich nie der Fall; und so ergibt sich als Lehre Rabbi Jehudas: „Einen störrischen und widerspenstigen Sohn hat es nicht gegeben und wird es nicht geben.“ Dieses „hat es nicht gegeben und wird es nicht geben“ wird dann im Folgenden auch ausgesagt von der „abtrünnigen Stadt“ (Dtn 13,13–19), die samt ihrer Bewohnerschaft völlig niedergemacht werden soll, und vom „aussätzigen Haus“ (Lev 14,43–47), das abgerissen werden soll. Wenn es das alles jedoch nie gegeben hat und nie geben wird, stellt sich die dann auch dreimal ausgesprochene Frage: „Aber warum steht es dann geschrieben?“ Und dreimal wird die Antwort gegeben: „Forsche und empfange Lohn!“ Anders gesagt: Strenge dich bei der Auslegung an! Einen etwas anderen Weg der Argumentation als Rabbi Jehuda im Blick auf den „störrischen und widerspenstigen Sohn“ geht Rabbi Schimon, kommt aber zum selben Ergebnis, dass es ihn nie gab und nie geben wird. Er nimmt auf, wie

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die Mischna die Kennzeichnung dieses Sohnes als „Prasser und Zecher“ interpretiert. Er sei dessen „schuldig, nachdem er ein Tritemor Fleisch (etwa 180 Gramm) und ein halbes Log italienischen Wein (etwa einen Viertelliter) getrunken hat“. Dazu fragt Rabbi Schimon rhetorisch: „Weil dieser ein Tritemor Fleisch gegessen und ein halbes Log italienischen Wein getrunken hat, sollten ihn sein Vater und seine Mutter zur Steinigung hinausbringen?“ Welche Eltern würden so etwas tun? Und so zieht er dieselbe Folgerung wie Rabbi Jehuda. Allerdings behauptet im Anschluss daran Rabbi Jonatan: „Ich habe ihn gesehen und ich habe auf seinem Grab gesessen.“ Vor etwa zwanzig Jahren habe ich zusammen mit Edna Brocke in einer Übung ein ganzes Semester lang nichts anderes gemacht, als rabbinische Auslegungen des Deuteronomium-Textes über den „störrischen und widerspenstigen Sohn“ zu besprechen. Als ich in den Semesterferien danach einen befreundeten älteren Kollegen aus meiner Bonner Zeit traf, führte ich ihm die rabbinische Argumentation dazu vor. Er schmunzelte dazu, meinte dann aber : „Ach weißt du, Klaus, da ist mir aber Luthers klare Worterklärung lieber als diese rabbinische Rabulistik.“ Kurz darauf erzählte er mir, dass in seiner Heimatstadt Rastenburg in Ostpreußen – ich weiß nicht mehr, in welchem Jahrhundert – doch tatsächlich aufgrund dieses Bibeltextes ein junger Mann zwar nicht gesteinigt, aber doch aufgehängt worden sei. Darauf habe ich ihm gesagt: „Ach weißt du, Hermann, da ist mir aber die rabbinische Rabulistik lieber als diese klare Worterklärung.“ Es ist mir eine offene, für mich noch nicht geklärte Frage, ob es wirklich hilft, sich so ungemütliche Texte wie den vom „störrischen und widerspenstigen Sohn“ durch historisch-religionsgeschichtliche Distanzierung vom Leib zu halten, oder ob gegenüber kanonischen Texten die rabbinische Maxime: „Es gibt kein früher oder später in der Tora“ nicht doch angemessener ist. Warum mir bei dem angeführten Gegenüber die „rabbinische Rabulistik“ lieber war, liegt auf der Hand: Sie hat die eindeutig humanere Konsequenz. D. h. es stellt sich die Frage nach dem Kriterium oder den Kriterien von Auslegung. Von woher geleitet und in welcher Richtung und Linie werden „viele Worte hinzugefügt“? Es ist zugleich die Frage, wie man nicht der Beliebigkeit verfällt, sondern an der Verbindlichkeit des kanonischen Textes festhält, ohne auf der anderen Seite in Fundamentalismus abzugleiten.

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3.

Klaus Wengst

„Ein Auge anstatt eines Auges“ als Maß des Rechts – und wenn das Recht nicht funktioniert?

In Ex 21,22–27 stehen Regelungen, wie im Falle von Körperverletzungen rechtlich vorzugehen ist. Dabei findet sich eine Wendung – neben weiteren analogen –, die in der Regel mit „Auge um Auge“ wiedergegeben wird. Das suggeriert, als ginge es hier um die Regulierung von Vergeltung, was aber überhaupt nicht der Fall ist. Vielmehr wird der Schädiger daraufhin angesprochen, dass er über Richter dem Geschädigten entsprechenden Ersatz zu leisten hat, in der Regel in Form von Geld. Die Wendung wäre also angemessener mit „Auge anstatt eines Auges“ zu übersetzen. Buber hat pointiert formuliert: „Augersatz für Auge“. Mit der Wendung wird das Maß angegeben, an dem sich die Ersatzleistung zu orientieren hat. Auf dieser Bibelstelle basierend hat die rabbinische Tradition ein ausgefeiltes Invaliditätsrecht entwickelt und dafür als Grundsatz formuliert: „Wer seinen Mitmenschen (körperlich) verletzt, ist in Hinsicht auf fünf Dinge (zur Zahlung) verpflichtet: im Blick auf den Schaden, den Schmerz, die Heilung, den Arbeitsausfall und die Beschämung.“ (mBQ VIII,1)

Das wird im Einzelnen weiter entfaltet und im Talmud ausführlich und differenziert diskutiert. Es ist daher völlig verfehlt, wenn der Abschnitt Matthäus 5,38–42 in Bibelübersetzungen und Kommentaren immer wieder unter Überschriften mit dem Stichwort „vergelten“ gesetzt wird. In Jesu Toraauslegungen in der Bergpredigt wird als Schriftzitat angeführt: „Auge anstatt eines Auges, Zahn anstatt eines Zahnes“ (Mt 5,38). Bei der Auslegung dieses Schriftwortes ist zunächst zu beachten, dass Jesus nicht den Schädiger anredet, sondern den Geschädigten: „Ich nun sage euch, sich nicht dem Bösen zu widersetzen. Nein, wer dich auf die rechte Backe schlägt, dem halte auch die andere hin! Und dem, der mit dir sogar um dein Hemd prozessieren will: Lass ihm auch den Mantel! Und wer dir eine Meile Fron abzwingt, mit dem geh zwei! Dem, der dich bittet, gib! Und von dem, der von dir borgen will, wende dich nicht ab!“ (Mt 5,39–42)

Die übergreifende Mahnung, „sich nicht dem Bösen zu widersetzen“, wird durch drei Situationsschilderungen mit jeweiliger Handlungsanweisung erläutert. Daraus ergibt sich zunächst, dass mit „dem Bösen“ Personen gemeint sind und dann konkretisiert wird, um was für Personen es sich handelt. Als böse gilt, wer beleidigend schlägt, wer jemanden in einem Schuldprozess ganz legal bis aufs Hemd auszieht, wer Fronleistungen erzwingt. Weiter ist damit klar, dass Situationen im Blick sind, die die Sphäre des Rechts betreffen. Der Schlag mit der rechten Hand auf die rechte Backe meint den Schlag mit dem Handrücken, der

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als beleidigend angesehen und höher sanktioniert wird. Die zweite Szene hat ausdrücklich einen Prozess im Blick. Das Erzwingen von Fronleistungen, meistens Transportdienste, gründet auf Besatzungsrecht. So liegt auch auf der Hand, dass die Geschädigten auf dem Rechtsweg keine Chance haben. Das Recht funktioniert hier für die Stärkeren und Mächtigeren. In solcher Situation empfiehlt der Philosoph Epiktet passive Hinnahme. Er sagt in einem Vergleich: „Deinen ganzen Körper musst du so haben wie ein gesatteltes Eselchen, solange es möglich ist, solange es dir gegeben ist. Wenn aber eine Zwangsverpflichtung kommt und ein Soldat danach greift, lass es! Widersetze dich nicht und murre nicht! Andernfalls bekommst du Schläge und verlierst nichtsdestoweniger auch das Eselchen.“ (Dissertationen IV 79)

Anders als Epiktet rät Jesus bei Matthäus nicht zu passiver Ergebung aus Einsicht in die Notwendigkeit. Das Gegenüber wird von ihm klar als das benannt, was es ist: böse, mag es auch den Schein des Rechts für sich haben. Er gebietet, sich diesem Bösen in seinen verschiedenen Erscheinungsformen nicht zu widersetzen. Durch die drei Szenen macht er aber deutlich, dass er nicht bloße Hinnahme des Unrecht-Rechts meint. Er fordert auch nicht dazu auf, der Gewalt nun auch Gewalt entgegenzusetzen. Er verlangt vielmehr situationsbezogene Phantasie jenseits des Pochens aufs Recht und jenseits der Gewalt, eine Phantasie, die eine noch mögliche eigene Aktivität findet, die das Unrecht-Recht bloßstellt, eine Aktivität, die absurdes Theater inszeniert, die etwas hintergründig Subversives hat. In der rabbinischen Tradition heißt es: „Nennt dich dein Mitmensch einen Esel, so lege dir einen Sattel auf!“ (bBQ 92b)

Vor allem aber gibt Jesus noch eine letzte Mahnung, die nicht mehr auf „den Bösen“ sieht: „Dem, der dich bittet, gib! Und von dem, der von dir borgen will, wende dich nicht ab!“ Jetzt kommen diejenigen in den Blick, die in der Unrechtssituation ebenso und noch mehr leiden als die hier Angesprochenen. Da gilt die ebenso schlichte wie unbedingte Hilfe; da gilt es zu teilen. Die Aussage dieses Verses entspricht zahlreichen einschlägigen Weisungen der jüdischen Bibel und der jüdischen Tradition. Matthäus gibt also seiner Gemeinde in dieser Toraauslegung Jesu für die gekennzeichnete Situation eine doppelte Handlungsanweisung dafür, wie dem verletzten Recht zur Geltung verholfen werden könnte: einerseits phantasievolle, subversive Bloßstellung des Unrechts und andererseits solidarische Hilfe untereinander der unter dem Unrecht Leidenden.

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4.

Klaus Wengst

Zur Verbindlichkeit kanonischer Texte

Ich nehme die am Ende des vorletzten Abschnitts gestellte Frage auf, wie in der Auslegung an der Verbindlichkeit kanonischer Texte festgehalten werden kann und muss. Dazu weise ich zunächst auf zwei gegenläufige, aber doch zusammenhängende Bewegungen hin. Einerseits gibt es eine starke Ausdifferenzierung des Gebotenen. Rabbinisch werden 613 Vorschriften in der Tora gezählt, 365 Verbote wie die Tage des Jahres und 248 Gebote wie die Glieder des Menschen. Sie werden in der mündlichen Tradition breit entfaltet. Man müsste einmal die in dem viel schmaleren Neuen Testament gegebenen Anweisungen zusammenstellen und zählen; man käme auch da auf nicht wenig. Und viele aus der Tradition sind einfach vorausgesetzt, nach dem Matthäusevangelium nicht nur die schriftliche Tora, sondern auch die mündliche, wenn alles getan und gehalten werden soll, was „die Schriftgelehrten und die Pharisäer auf dem Lehrstuhl des Mose“ sagen (23,2–3a) und man auch das Verzehnten von „Minze, Dill und Kümmel“ nicht lassen darf (23,23). Andererseits wird aber sowohl bei den Rabbinen als auch im Neuen Testament nach einem „großen Gebot in der Tora“ gefragt, nach einer „großen Zusammenfassung“ oder „Hauptregel in der Tora“. Das Verhältnis dieses einen zu den vielen ist dabei so verstanden, dass es Richtung und Linie vorgibt, unter denen die vielen zu verstehen und zu praktizieren sind. Im Neuen Testament wird das Gebot aus Lev 19,18, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, als solche Zusammenfassung angeführt. So schreibt Paulus in Röm 13,8–10: „Wer den anderen Menschen liebt, hat die Tora aufgerichtet. Denn das: Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht morden, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren und was es sonst an Geboten gibt, ist in diesem einen Wort zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Daher ist die Liebe die Summe der Tora.“ (Röm 13,8–10)

In den ersten drei Evangelien ist das Gebot der Nächstenliebe nach Lev 19,18 mit dem Gebot der Liebe zu Gott nach Dtn 6,5 zum Hauptgebot verbunden. Das geschieht in jeweils unterschiedlichen Formulierungen, die je für sich aufschlussreich sind, worauf jetzt nicht einzugehen ist. Wird das Gebot der Nächstenliebe als Hauptgebot bezeichnet, lässt das die Frage zu, die bei Lukas auch gestellt wird: „Und wer ist nun mein Nächster?“ (Lk 10,29) Sie wird auch bei den Rabbinen diskutiert und erhält unterschiedliche Antworten. Bei Paulus ist die Antwort darauf schon in seiner Einführung gegeben, wenn er bereits vor dem Zitat aus Lev 19,18 thetisch festhält: „Wer den anderen Menschen liebt, hat die Tora aufgerichtet.“ Der Nächste ist „der andere“, jede und jeder andere. Gegenüber einer christlichen Tradition, die das Liebesgebot an die Stelle der

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Einzelgebote treten lässt und sie für entbehrlich hält, ist ausdrücklich zu betonen, dass das weder neutestamentlich noch rabbinisch der Fall ist. Wieso stünden dann im Neuen Testament so viele konkrete Mahnungen – und nicht immer nur der Hinweis auf die Liebe? Das zeigt auch sehr schön die Formulierung am Schluss des Abschnitts zum größten Gebot im Matthäusevangelium, wonach Jesus sagt: „An diesen beiden Geboten hängt die ganze Tora samt den Prophetenbüchern“ (22,40). Die ganze Schrift hängt daran wie die Tür in der Angel. Sie hängen davon ab, bekommen von daher Richtung und Linie. Das Doppelgebot der Liebe gibt die Dimension an, innerhalb deren den Einzelvorschriften nachzukommen ist. Mit dieser Formulierung schlägt Matthäus einen Bogen zurück in den Schlussteil von Jesu Lehre auf dem Berg. Dort hatte er schon einmal eine Zusammenfassung geboten: „Alles nun, was immer ihr wollt, dass es euch die Leute tun, das tut auch ihr ihnen ebenso! Das nämlich ist die Tora samt den Prophetenbüchern.“ (Mt 7,12)

Für Matthäus sind also die hier formulierte goldene Regel und das doppelte Liebesgebot sachlich identisch. Auch im rabbinischen Judentum fungiert die goldene Regel als Zusammenfassung der Tora, wie die bekannte Geschichte von dem Nichtjuden zeigt, der Proselyt werden will unter der Bedingung, dass ihm die ganze Tora gelehrt wird, während er auf einem Bein steht. Schammaj „vertrieb ihn mit einer Bauelle, die in seiner Hand war. Er kam zu Hillel. Der machte ihn zum Proselyten. Er sprach zu ihm: ,Was dir verhasst ist, das tu deinem Mitmenschen nicht an! Das ist die ganze Tora; alles Weitere ist Auslegung. Geh, lerne!‘“ (bSchab 31a)

Der Unterschied zwischen Schammaj und Hillel ist nicht, dass Schammaj die ganze Tora für verbindlich hält und es deshalb als eine Zumutung ansieht, sie in wenigen Minuten lehren zu sollen, während Hillel meine, auf die Tora zugunsten der goldenen Regel verzichten zu können. Auch Hillel hält selbstverständlich die ganze Tora für verbindlich. Auch nach ihm nimmt ein Proselyt „das Joch des Himmelreiches“ und also „das Joch der Gebote“ auf sich. Das ist am Schluss des Textes deutlich, der deshalb nicht weggelassen darf. Denn dort steht die Aufforderung zu lernen, nämlich die als Auslegung der goldenen Regel charakterisierte Tora mit allen ihren Geboten. Aber im Unterschied zu Schammaj, der den konversionswilligen Nichtjuden mit einer Bauelle – einem Maßstab! – vertrieb, gibt ihm Hillel einen Maßstab an die Hand, der als Zusammenfassung der Tora dem Lernen im Einzelnen eine grundlegende Orientierung bietet. Auch in rabbinischer Diskussion wird das Gebot der Nächstenliebe nach Lev 19,18 als „eine große Zusammenfassung in der Tora“ angeführt. Aber sie gilt nicht als einzige. Neben sie und über sie wird eine andere Stelle gesetzt. In BerR 24,7 heißt es:

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Klaus Wengst

„Ben Asaj sagt: ,Dies ist das Buch der Generationen des Menschen – das ist eine große Zusammenfassung in der Tora.‘ Rabbi Akiva sagt: ,Du sollst deinen Nächsten lieben dir gleich – das ist eine größere Zusammenfassung als jene, damit du nicht sagst: Weil ich verachtet werde, soll auch mein Mitmensch verachtet werden.‘ Rabbi Tanchuma sagte: ,Wenn du so handelst, dann sei dir im Klaren, wen du verachtest: In der Ähnlichkeit Gottes machte er ihn.‘“ (BerR 24,7)

Wenn Ben Asaj aus 1. Mose 5,1 zitiert: „Dies ist das Buch der Generationen des Menschen“ und das als eine zusammenfassende Hauptregel in der Tora erklärt, dann meint er nicht nur den zitierten Satz, sondern den ganzen Vers und dabei ist ihm am wichtigsten die Aussage von der Gottähnlichkeit des Menschen. Sie soll das Verhalten der Menschen zueinander begründen und bestimmen. Jeder Mensch hat den Mitmenschen in der Perspektive zu betrachten und zu behandeln, dass auch der und die andere Ebenbild Gottes ist. Wenn Rabbi Akiva 3. Mose 19,18 als größere Hauptregel anführt, will er damit ausschließen, dass schlechtes Verhalten vonseiten des Mitmenschen das Verhalten ihm gegenüber bestimmt. Das „Wie du mir, so ich dir“ soll keine Chance haben. Das Votum von Rabbi Tanchuma lenkt auf die Hauptregel Ben Asajs zurück. Was Akiva will, ist dort schon eingeschlossen. Denn da der Mensch Ebenbild Gottes ist, träfe eine schlechte Behandlung des Mitmenschen, auch wenn sie als Revanche erfolgt, allemal Gott selbst. Bildet die Gottebenbildlichkeit jedes Menschen die Hauptregel, kann die Frage, wer mein Nächster sei, gar nicht aufkommen; sie ist immer schon beantwortet. Das können weitere rabbinische Aussagen vertiefen, die sich auf die Gottebenbildlichkeit des ersten Menschen und aller Menschen beziehen. In mSan 4,5 wird die Frage, warum am Anfang nur ein einzelner Mensch erschaffen wurde, u. a. so beantwortet: „Um des Friedens unter den Geschöpfen willen, damit kein Mensch zu seinem Mitmenschen sagen kann: ,Mein Vater war größer als dein Vater.‘“ Etwas weiter im Text wird angegeben: „Und um die Größe des Heiligen, gesegnet er, kundzutun: Wenn ein Mensch viele Münzen mit einigem einzigen Stempel prägt, sind sie alle gleich, eine wie die andere. Aber der König der Könige der Könige, der Heilige, gesegnet er, prägte jeden Menschen mit dem Stempel des ersten Menschen und kein einziger von ihnen gleicht seinem Mitmenschen. Deshalb ist jede und jeder Einzelne verpflichtet zu sagen: ,Meinetwegen ist die Welt erschaffen worden.‘“ (mSan IV,5)

Hier kommen Universalität und Partikularität als notwendig aufeinander bezogene Pole zusammen und eröffnen so einen Raum für Humanität. Partikulares, das sich als universal behauptet, wird anderes Partikulare vergewaltigen. Eine humane Universalität kann sich nur einstellen in der gegenseitigen Achtung alles Partikularen. Würde also dem kanonischen Text nichts weggenommen und nichts hinzugefügt, wenn – wie in diesem Fall – aus ihm selbst „eine große Zusammenfas-

Gewalt an und in biblischen Texten

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sung“, eine „Hauptregel“ gewonnen wird, die als ein zutiefst humanes Kriterium eine Leitlinie der Auslegung bildet? Und wären dann die Worte, die in der Auslegung hinzugefügt werden und hinzugefügt werden müssen, eben „Worte wie diese“? Ich will dafür noch einen letzten Blick auf einen rabbinischen und einen neutestamentlichen Text werfen. In dem rabbinischen wird noch eine Aussage ganz anderer Art geradezu als Basis herausgestellt. In bMak 23b–24a wird von dem Faktum der traditionellen 613 Vorschriften ausgegangen. Im Folgenden wird diese große Zahl sukzessiv verringert: auf 11, auf 6, auf 3, auf 2, auf 1. Dabei ist zu beachten, dass nicht die Vorschriften selbst verringert werden. Am Ausgangspunkt heißt es ja: „613 Vorschriften wurden Mose gesagt“ – von Gott gesagt. Wie sollte von Gott Gesagtes weggenommen werden können? Wörtlich übersetzt lautet die erste Stelle der Verringerung, der die folgenden sprachlich entsprechen: „Es kam David und stellte sie (die 613 Vorschriften) auf elf“, worauf Ps 15 zitiert wird, der die Bedingungen für diejenigen nennt, die zum Tempel auf dem Berg des Ewigen kommen wollen. Es wird also in der Schrift nach einer Basis gesucht, auf der die vielen Vorschriften stehen, auf der sie getan werden können. Und als diese Basis wird zuletzt eine Aussage gefunden, die selbst gar kein Gebot ist: „Es kam Habakuk und stellte sie auf eins; denn es ist gesagt (Hab 2,4): Und der Gerechte wird durch sein Vertrauen leben.“ Das Vertrauen auf Gott, der Glaube, gilt hier als Fundament des Lebens, das sich im Befolgen des von Gott Gebotenen vollzieht. Das Zitat von Hab 2,4 findet sich auch bei Paulus im Römerbrief. Es steht dort an prominenter Stelle, nämlich am Schluss des Abschnitts, der das Thema des Briefes angibt. Es ist also auch für Paulus ein grundlegendes Zitat. Er bietet es in einer eigenartigen Form. Im Bibeltext ist es Gottesrede. In der hebräischen Fassung lautet es, wie eben schon geboten: „Und der Gerechte wird durch sein Vertrauen leben.“ Nach der Septuaginta heißt es: „Der Gerechte wird aufgrund meiner Treue leben.“ Paulus lässt das Possessivpronomen weg. Durch dieses Wegnehmen kann er hinzufügen, nämlich beide kanonischen Traditionen anklingen lassen, die hebräische und die griechische. So wäre in der Übersetzung eine Verdoppelung des Wortes p¸stir (p&stis) angemessen: „Der Gerechte wird aufgrund von Treue und Vertrauen leben“, aufgrund der Treue Gottes und aufgrund seines darauf gerichteten Vertrauens.

Literatur Wengst, K.: Keine „Antithesen“, sondern Auslegung der Tora. Zu Mt 5,17–48, in: ZNT 36/ 18 (2015) 12–21.

Friedmann Eißler

„… tötet nicht, außer aus einem rechtmäßigen Grund!“ (Koran). Gehört die Gewalt zum Islam?

Vorbemerkung Das Thema, das mir gestellt wurde, ist kein vergnügliches. Zudem kann der evangelische Theologe, wenngleich religions- und islamwissenschaftlich arbeitend, schnell in den Ruf kommen, allzu einseitig, gar einseitig be- und abwertend, über das Thema zu berichten. Wie kommt er überhaupt dazu, sich eines Islamthemas – eines solchen Islamthemas – anzunehmen? Der Umgang mit der Vielfalt religiös-weltanschaulicher Entwürfe in der pluralen Gesellschaft fordert zu Dialog und Unterscheidung heraus. Das gesellschaftliche Miteinander braucht den Dialog, der sich engagiert und sachbezogen um das Selbstverständnis des Gegenübers bemüht, aber auch eigene Positionen transparent macht und klärt, um beides auf konkrete Anforderungen des gesellschaftlichen Prozesses zu beziehen. Dies gilt fraglos in jeweils beide Richtungen. Es ist wünschenswert, dass sich Muslime in gleicher Weise und Intensität mit dem Christentum und Themen des christlichen Glaubens auseinandersetzen, wie es Christen mit dem Islam und islamischen Themen tun. Insofern ist dieser Beitrag als ein Element des Dialogs zu verstehen, das nicht Vollständigkeit, noch weniger abschließende Geltung beansprucht, sondern den interessierten und notwendigen Blick von außen auf ein zentrales Thema widerspiegelt, das allen gleichermaßen aufgegeben und nicht mit Pauschalurteilen zu erledigen ist.1

1 Die Ermöglichung hierzu ist den Veranstaltern der Ringvorlesung zu danken, in der eine Reihe von unterschiedlichen Perspektiven zur Sprache kommt. Der Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten.

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1.

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Einleitung

a. Es ist sinnvoll und nötig, dass im Dialog auch das Thema Gewalt nicht ausgespart wird, sondern mit der angemessenen Sachlichkeit zur Sprache kommt – offen, kritisch, zugleich differenziert und mit dem nötigen Respekt. Ziel ist es, die damit verbundenen Herausforderungen zu benennen und ins Auge zu fassen. Die Phänomene sind beunruhigend und verstörend. Am 22. Mai 2013, um nur ein Beispiel herauszugreifen, wurde in London Woolwich der junge Soldat und Familienvater Lee Rigby auf bestialische Weise auf offener Straße von zwei Angloafrikanern ermordet, die zum Islam konvertiert waren und sich in einem salafitischen Milieu radikalisiert hatten. Schockiert nahm die Welt zur Kenntnis, dass die jungen Täter nicht nur einen extrem grausamen Mord verübten, sondern direkt nach der Tat am Tatort blieben, sich filmen ließen und ziemlich gründlich Auskunft gaben über ihre Motive. Solange britische Soldaten Muslime bekämpften, seien Muslime aufgefordert, gegen Briten zu kämpfen. „Ihr seid die Extremen. Bei Allah, wenn ich heute deine Mutter mit einem Buggy sehen würde, ich würde ihr die Treppe hinauf helfen. Das ist meine Natur. Aber wir müssen nach dem Koran Sure at-Tauba (Sure 9) und vielen, vielen Versen im Koran gegen sie kämpfen, so wie sie uns bekämpfen.2 Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich entschuldige mich bei der Frau, dass sie das heute mit ansehen musste, aber in unserem Land müssen unsere Frauen dasselbe ansehen. Ihr Leute werdet nie sicher sein! ….. Gottes Frieden und Segen sei auf Muhammad …“3

Seit dem 11. September 2001 steht das Thema Islam und Gewalt dringlicher denn je auf der Tagesordnung. In Deutschland war der erste ausgeführte Gewaltakt im Namen des Islam vor fünf Jahren zu verzeichnen: Der Kosovo-Albaner Arid Uka aus Frankfurt-Sossenheim erschoss am 2. März 2011 als 21Jähriger mit dem Ausruf Allahu akbar („Gott ist groß“) unbewaffnete Fahrgäste und den Fahrer eines Busses der US-amerikanischen Streitkräfte. Wir haben die Salafismusdebatte seit einigen Jahren mit zunehmenden Zahlen und beunruhigenden Fakten, wir haben öffentliche Debatten über islamistische und dschihadistische Tendenzen, die auch in Deutschland Fuß fassen, wir verfolgen aufmerksam die enormen politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen in den Mittelmeeranrainerstaaten nach dem sogenannten arabischen Frühling und – auf eigene Weise – in der Türkei. Alles bisher Gekannte hat die Brutalität des sogenannten „Islamischen 2 Wörtl. „Wir werden vom Koran gezwungen …“ (We are forced by the Qur’an … through many ayah in the Qur’an …). 3 Vgl. etwa www.liveleak.com/view?i=37e_1369335448 und www.meforum.org/3514/wool wich-killing (Internetseiten in diesem Artikel zuletzt aufgerufen am 30. 3. 2016).

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Staates“ (IS) weit in den Schatten gestellt. Das grelle Licht modernster Videopropaganda fällt auf Enthauptungen und Vernichtungszüge gegen die Weltzivilisation. Der Führer des „Islamischen Staates“ hat – wenn die Audiobotschaft echt ist – im Frühjahr 2015 wissen lassen, der Islam sei nie eine Religion des Friedens gewesen: „Der Islam ist eine Religion des Kriegs.“ Der Krieg, den der Islamische Staat führt, sei der Krieg aller Muslime, der IS nur die Speerspitze: „Es ist der Krieg der Muslime gegen die Ungläubigen.“4 Die Brutalität ist uns nahegerückt durch die Anschläge in Brüssel, Paris, Kopenhagen, wieder Paris, und erneut Brüssel.5 b. Wir haben bisher extreme, physisch schädigende Formen von Gewalt adressiert. Gewalt hat viele Facetten. Es ist hier nicht der Ort, um den differenzierten Zusammenhang mit verwandten Begriffen wie Autorität, Macht oder Herrschaft zu klären. Es muss allerdings im Blick bleiben, dass Gewalt in einem weiteren Sinne keineswegs nur negativ konnotiert ist. In unserem Staatsverständnis etwa spielt Gewalt eine Rolle, wir sprechen vom „Gewaltmonopol“, von der „Gewaltenteilung“, von der „Staatsgewalt“ in neutralem Sinne. Gewaltanwendung zur Abwehr außerrechtlicher und rechtswidriger Gewalt ist notwendiger Teil von Staatstheorien. Die schädigende Gewalt wiederum kennt vielfältige Abstufungen (verbale Gewalt, strukturelle Gewalt). Schließlich kann Gewalt auf ganz unterschiedliche Weise ausgeübt werden. Es gibt – unter religiösen Vorzeichen – die subtile Gewalt der religiösen Gesetzlichkeit (welcher Religion auch immer), die Gewalt der Angsterzeugung, etwa durch die Androhung von Höllenstrafen oder auch „nur“ dem Ausschluss aus dem Familienzusammenhang, die Gewalt, die sozusagen in kleiner Münze austeilt, was die sozialen (meist patriarchalen) Machtstrukturen hergeben, und sicher noch viele andere Formen. Uns geht es vor dem Hintergrund der hier aufgegriffenen Fragestellung zunächst und im Wesentlichen um Formen der physischen Gewalt.

4 Vgl. Florian Rötzer, telepolis vom 15. 5. 2015, www.heise.de/tp/news/Der-Islam-ist-eine-Reli gion-des-Kriegs-2650265.html. 5 Parallel dazu sehen wir eine zunehmende Muslimenfeindlichkeit bis hin zu offenem Hass gegenüber Muslimen und allem Fremden, was uns nicht unberührt lässt und keineswegs gleichgültig sein darf. Dies ist allerdings nicht Thema dieses Artikels, ebenso wenig wie Gewalt, die von Christen ausgeht, und die unmenschlichste Formen etwa in der „Lord’s Resistance Army“ („Widerstandsarmee des Herrn“) des Joseph Kony angenommen hat, um ein Beispiel zu nennen. Die LRA wurde als „wohl brutalste Rebellengruppe der Welt“ bezeichnet und treibt seit über 25 Jahren ihr Tod und Schrecken verbreitendes Unwesen in Uganda, Kongo, im Sudan. Nach Aussagen von Kony und Mitgliedern der Rebellen kämpft die Organisation gegen die Regierung von Präsident Museveni und für die Errichtung eines Gottesstaates auf Basis der Zehn Gebote.

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c. Religionen können zu Verstärkern von Gewalt werden, Religionen sind immer auch Quellen und Produktionsherde von Konflikt und Gewalt – denn: Gewalt ist zuallererst ein allgegenwärtiges, unausweichliches Phänomen menschlichen Zusammenlebens. Wenn es den sogenannten Weltreligionen wirklich um eine ganzheitliche Perspektive, um die Deutung von Wirklichkeit im Ganzen geht, dann gehören die Probleme von Konflikt und Gewalt von vornherein dazu. Man kann sie nicht ausklammern. Religionen „spielen ihr Spiel immer nur innerhalb kultureller und gesellschaftlicher Einheiten, in denen es Gewalt schon gibt“.6 Man kann ohne Zweifel einen „roten Faden, besser : eine schrecklich breite blutrote Spur“ finden, die insbesondere die monotheistischen Religionen durch die Geschichte ziehen.7 Dabei spielen selbstverständlich auch die Heiligen Schriften der monotheistischen Religionen eine bedeutende Rolle – genau genommen: ihre jeweilige Auslegung.8 Die Religionen machen freilich – auch im Rahmen der Auslegung ihrer Heiligen Schriften – ebenso Ansagen zum Umgang mit Konflikt und Gewalt. Dennoch sind die praktischen Wirkungen von Religionen und die dadurch gesetzte Realität nicht mit den Idealen und moralischen Absichtserklärungen der Religionen zu verwechseln. Tendenziell tragen Ausbreitung und Institutionalisierung von Religionen zu größerer Gewaltproduktion bei. Religion und Kultur gehen dabei in vielfältiger Interaktion aufeinander ein und ineinander über. Dabei entsteht immer wieder auch die Frage, was der Religion zuzuschreiben ist und was nicht.9 d. Fazit dieses einleitenden Teils in Gestalt einer These: Religionen haben zwangsläufig mit Gewalt zu tun und leiten zum Umgang mit Gewalt an. Religionen haben ihre Gewaltgeschichte(n). Insofern stehen ihre Anhänger vor gemeinsamen oder analogen Aufgaben, die es zu erkennen und anzunehmen gilt. Sache des interreligiösen Dialogs ist es und muss es aber auch sein, die Wahrnehmung für die Unterschiede und die daraus sich ergebenden Herausforderungen zu schärfen.

6 Häring, Konflikt- und Gewaltpotentiale, 25. 7 Krötke, Religionen, 47. 8 Vgl. Jan Assmanns These, auf die wir hier nicht weiter eingehen, dass die „mosaische Unterscheidung“ zwischen Wahr und Falsch, zwischen Gott und Abgott – jener neue, absolute und exklusive Monotheismus in besonderer Weise Intoleranz, Gewalt und Ausgrenzung in die Welt gebracht habe (Assmann, Unterscheidung). 9 Was sind – z. B. patriarchale – kulturelle Elemente, was ist religiös begründet, wenn wir problematische Phänomene im Kontext von Geschlechterbeziehungen oder etwa sogenannte Ehrenmorde betrachten?

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2.

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Grundlagen: Gewaltaussagen im Koran

Es gibt im Koran eine Vielzahl von Stellen, die ihrem Wortlaut nach zur Gewalt aufrufen oder Gewalt legitimieren. Wenn man sich die Lebensbedingungen der damaligen Zeit insgesamt und die Lage auf der arabischen Halbinsel im 7. Jahrhundert n. Chr. vergegenwärtigt, ist dieser Befund nicht verwunderlich, jedenfalls nicht verwunderlicher, als wenn entsprechende Passagen der Bibel im zeitgeschichtlichen Kontext ihrer Entstehung betrachtet werden. a. Ein Sachverhalt, der zum Verständnis grundsätzlich wichtig ist, wenngleich er hier nur sehr grob angedeutet werden kann, ist die Unterscheidung der koranischen Offenbarungen, die in Mekka ergangen sind, von den Offenbarungen aus der Zeit in Medina. Der Koran weist jede Sure als „mekkanisch“ oder „medinisch“ aus. Tatsächlich lassen sich charakteristische Tendenzen erkennen. In der frühen Zeit trat Muhammad vor allem als Warner und Freudenbote auf,10 der in eindringlicher Poesie und unter Berufung auf grundlegende ethische Werte zur Verehrung des einen und einzigen Gottes aufrief, des Schöpfers und Richters aller Menschen. Hinzu kommt, dass der Prophet in Mekka zunehmend in die Defensive geriet und daher eher Anknüpfungspunkte mit seinen Gesprächspartnern suchte. In Medina zeigt er sich uns in einem anderen Licht. Der Einschnitt durch die Hidschra (622 n. Chr.) – nicht zufällig der Beginn der islamischen Zeitrechnung – kann kaum überschätzt werden. Aus dem verspotteten Künder des nahen Gerichts im Umfeld des mekkanischen Polytheismus wird die geistliche und zunehmend auch politische Führungsautorität eines schnell wachsenden Gemeinwesens. Die Ausgestaltung des privaten und öffentlichen Lebens der wachsenden umma (der Gemeinschaft der Muslime) erfordert verstärkt gesetzliche Regelungen, was sich im Charakter und in den Inhalten der medinischen Offenbarungen niederschlägt. Der Bruch mit den Juden (und den Christen) führt zu einer Neuorientierung (siehe etwa die Änderung der Gebetsrichtung nach Mekka u. a.). Die „Verleiblichung“ des Islam in einem „Staatswesen“ zieht vermehrt klar formulierte Angriffe gegen diejenigen nach sich, die tatsächliche Gegner sind oder als solche wahrgenommen werden. Aus „dem Anführer einer bedrängten religiösen Minderheit war sozusagen über Nacht eine politisch bedeutende, auch außerhalb seiner Gemeinde geachtete und gefürchtete Persönlichkeit geworden. An Stelle der rein ideologischen Auseinandersetzung mit den Gegnern trat nun auch das Mittel der Kriegführung, gelegentlich sogar das des politischen Mordes.“11 Kurz vor der Hidschra erhielt Muhammad „Die Offenbarung des Befehles 10 basˇ¯ır und nad¯ır, so die doppelte Funktion des Propheten nach Sure 2,213; 4,165; 5,19 u. ö. ¯ 11 Paret, Mohammed, 152.

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zum Kampf“, so auch der Titel des Abschnitts in der Prophetenbiografie (Sira).12 War ihm zuvor, so lesen wir, „nur aufgetragen worden, für Gott zu werben, Kränkungen zu ertragen und dem Unwissenden zu vergeben“, so hieß es jetzt (Sure 2,193): „Kämpft gegen sie, bis es keine Verfolgung (fitna) mehr gibt die Religion (allein) Allahs ist.“13 Auch und gerade diese Linie von milderen und versöhnlicheren Aussagen zu schärferen, gewaltbereiteren Aussagen ist vor dem Hintergrund der traditionellen Lehre von der unmittelbaren Verpflichtung des „schönen Vorbilds“ (uswa hasana) des Propheten Muhammad und der Weisungen des Korans für alle ˙ Muslime (Sure 33,21; 62,2; 72,23) in den Blick zu nehmen. b. So tut sich ein breites Spektrum innerhalb des Korans auf: Aufforderungen zur friedlichen Koexistenz stehen neben den Aufrufen zur Gewalt. Die islamischen Ausleger haben zur Klärung der normativen Geltung widersprüchlich scheinender Koranverse eine Theorie entwickelt, die besagt, dass jüngere Offenbarungen ältere in bestimmten Fällen modifizieren oder sogar aufheben. Sie ist als die Lehre von der Abrogation bekannt, arab. an-na¯sih wa-l–mansu¯h. Sure ˘ ˘ 2,106: Was wir an Versen aufheben oder in Vergessenheit geraten lassen – Wir bringen bessere oder gleichwertige dafür.14

Im Blick auf unser Thema ist festzustellen, dass die Verbindlichkeit der späteren Offenbarungen zu einer Verschärfung führt, da die späteren Texte polemischere Töne anschlagen, während die entsprechenden milderen Aussagen als überholt gelten können. Ein markantes Beispiel: Sure 9,5 – auch als „Schwertvers“ bezeichnet – abrogiert nach den bedeutendsten Islamgelehrten (z. B. Ibn al-Arabi und at-Tabari) mildere Aussagen zum Dschihad, die etwa eine Gefangennahme heidnischer Gegner in Betracht ziehen (vgl. Sure 47,4). Da Sure 9,5 später offenbart worden sei, gelte jetzt: Wenn nun die Schutzmonate abgelaufen sind, dann tötet die Götzendiener, wo immer ihr sie findet, ergreift sie, belagert sie und lauert ihnen aus jedem Hinterhalt auf! Wenn

12 Vgl. Ibn Isha¯q, Leben, 101f. Arabisch: nuzu¯l al-amr li-rasu¯li lla¯h (saw) fı¯ l-qita¯l, s. Ibn Hisˇa¯m, ˙ Im Koran wird diese Offenbarung traditionell mit Sure 22,39–41 in Verbindung as-Sı¯ra, 467f. gebracht, danach Sure 2,193. 13 Ein wichtiger Ansatz zur Interpretation dieses Verses wird in der Auslegungsgeschichte die Unterscheidung sein, ob hier von einem ius in bellum oder allgemeiner von einem ius ad bellum die Rede ist; vgl. Asad, Botschaft, z. St. 14 ma¯ nansah min a¯yatin au nunsiha na’ti bi-hair minha¯ au mitliha¯ ; vgl. Sure 16,101; 13,39; ¯ ˘ ˘ 87,6f.

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sie aber bereuen, das Gebet verrichten und die Abgabe entrichten, dann lasst sie ihres Weges ziehen.

Die Abrogationslehre ist Bestandteil koranischer Exegese, auch wenn – das muss sogleich dazu gesagt werden – eine große Bandbreite von Meinungen besteht, welche Verse aufheben, welche aufgehoben sind, wie viele Verse dies betrifft und in welchem Sinn. Hier besteht keineswegs Einigkeit.15 c. Muhammad hat im Rahmen der mag˙a¯zı¯ (Kampfhandlungen, Überfälle auf durchziehende Karawanen und benachbarte Beduinenstämme, um die Versorgung zu gewährleisten – daher unser Wort „Razzia“) den Friedensbruch in einem „heiligen Monat“, Rag˘ab, gerechtfertigt – ein absolutes Tabu seiner Zeit. Die Legitimierung dieses Tabubruchs hat sich in der frühesten der medinischen Suren niedergeschlagen, Sure 2,216f: Vorgeschrieben ist euch zu kämpfen, obwohl es euch zuwider ist. Aber vielleicht ist euch etwas zuwider, während es gut für euch ist … Sie fragen dich nach dem Schutzmonat, danach, in ihm zu kämpfen. Sag: In ihm zu kämpfen ist schwerwiegend. Aber von Allahs Weg abzuhalten – und Ihn zu verleugnen –, … ist (noch) schwerwiegender bei Allah. Und Verfolgung (fitna) ist schwerwiegender als Töten. Und sie werden nicht eher aufhören, gegen euch zu kämpfen, bis sie euch von eurer Religion abgekehrt haben – wenn sie (es) können.16

Muhammad verurteilt jeden Kampf im heiligen Monat als Verbrechen. Wer jedoch gegen den Islam kämpfe und Muslime zum Abfall bringe und vertreibe, begehe ein größeres Verbrechen. Entscheidendes Kriterium ist, dass Muslime Opfer von Aggression werden. In solchem Kampf gilt auch die Offenbarung Sure 8,17, dass darin Gottes Handeln zum Ausdruck kommt: Nicht ihr habt sie getötet, sondern Allah hat sie getötet. Und nicht du hast geworfen, als du geworfen hast, sondern Allah hat geworfen, und damit Er die Gläubigen einer schönen Prüfung von Ihm unterziehe. Gewiss, Allah ist Allhörend und Allwissend.

d. Das Wort Dschihad (arab. g˘ iha¯d) bedeutet „Anstrengung, Bemühung, Kampf“, im Koran insbesondere die umfassende Anstrengung „für die Sache Gottes“ oder „auf dem Wege Gottes“ (fı¯ sabı¯l Alla¯h). Die Unterscheidung zwischen einem „großen Dschihad“ (al-gˇ iha¯d al-akbar, einmal in Sure 25,52 als g˘iha¯d kabı¯r) und dem „kleinen Dschihad“ (al-g˘ iha¯d al-asg˙ar) ist in der land˙ läufigen Füllung dieser Begriffe17 nicht in den islamischen autoritativen Quellen 15 Vgl. as-Suyu¯t¯ı, al-Itqa¯n, Bd. 3, 732–751 (Kap. 47), hier insbesondere 742. ˙ unten 2 b. 16 Zu fitna s. auch 17 Der „große Dschihad“ sei die Bekämpfung der eigenen Schwächen und weltlichen Begierden, kurz die Bemühung des Muslims, ein besserer Muslim zu werden. Hierzu wird auch die da‘wa, arab. „Ruf“, gerechnet, die friedliche Einladung zum Islam, die zeichenhaft durch den Lebensstil bzw. verbal oder durch Schriften geschieht. Davon wird dann das militante und

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belegt. Von greifbarer politischer und juristischer Bedeutung war durch die Jahrhunderte der „kleine Dschihad“, um diesem Wortgebrauch zu folgen, d. h. der militärische und unter gewissen Bedingungen auch nur diplomatische Kampf zur Stärkung und Verteidigung der umma gegen die Ungläubigen.18 Der Koran spricht unmissverständlich vom Kampf, gerade auch vom bewaffneten Kampf gegen die Ungläubigen mit dem Ziel ihrer Unterwerfung bzw. Tötung.19 Wir weisen nur auf eine kleine Auswahl von Koranversen hin, auf denen das Konzept „Dschihad“ aufbaut (Sure 9,5 und 2,193 s. schon oben).20 Sure 2,190f: Und kämpft auf Allahs Weg gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen, doch übertretet nicht! Allah liebt nicht die Übertreter. Und tötet sie, wo immer ihr auf sie trefft, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben, denn Verfolgung ist schlimmer als Töten! Kämpft jedoch nicht gegen sie bei der geschützten Gebetsstätte, bis sie dort (zuerst) gegen euch kämpfen. Wenn sie aber (dort) gegen euch kämpfen, dann tötet sie. Solcherart ist der Lohn der Ungläubigen.

Sure 9,29: Kämpft gegen diejenigen, die nicht an Allah und nicht an den Jüngsten Tag glauben und nicht verbieten, was Allah und Sein Gesandter verboten haben, und nicht die Religion der Wahrheit befolgen – von denjenigen, denen die Schrift gegeben wurde –, bis sie den Tribut (g˘ izya) aus der Hand entrichten und gefügig sind!

Sure 22,39 (Verteidigung): Erlaubnis (zum Kampf) ist denjenigen gegeben, die bekämpft werden, weil ihnen ja Unrecht zugefügt wurde – und Allah hat wahrlich die Macht, ihnen zu helfen.

gewaltförmige Vorgehen gegen Ungläubige bzw. den Unglauben als „kleiner Dschihad“ abgehoben. 18 Vgl. dazu Nagel, Angst, 360–364; Haarmann, Pflichten, 95–110. – Damit soll nicht die theologische und vor allem kommunikative Bedeutung der semantischen Erweiterungen und Verschiebungen des Begriffs „Dschihad“, auch nicht der vielfach belegte metaphorische Gebrauch des Wortes, geschmälert oder gar geleugnet werden. Hier geht es allein um die Grundlagen auf der Basis des Korans. 19 Der ideelle Kampf wird modern mit kifa¯h bezeichnet, was im Koran allerdings nicht vor˙ ¯ hı¯ verkauft). kommt (Hitlers „Mein Kampf“ wird als Kifa 20 Die Wortwurzel von „Dschihad“ (gˇ-h-d III) kommt in verschiedenen Wortformen rund 35mal im Koran vor, die ausdrückliche Aufforderung „sich abzumühen“ sechsmal: 5,35; 9,41.73.86; 22,78; 25,52 (g˘iha¯dan kabı¯ran „mit großem Dschihad/großem Einsatz“). Die Wurzel des semantisch enger gefassten Begriffs Qital (qita¯l, q-t-l III, [mit Waffen] bekämpfen, sich gegenseitig töten) erscheint in unterschiedlichen Wortformen etwa 66-mal im Koran, 13-mal werden ausdrückliche Befehle zum qita¯l formuliert (und weitere in der Form q-t-l I „töten“): 2,190.193.244; 3,167; 4,76.84; 8,39; 9,12.14.29.36.123; 49,9.

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Sure 9,123 (Härte):21 O die ihr glaubt, kämpft gegen diejenigen, die in eurer Nähe sind von den Ungläubigen! Sie sollen in euch Härte vorfinden (wal-yag˘ idu¯ fı¯kum g˙ ilzatan). Und wisset, dass Allah ˙ mit den Gottesfürchtigen ist!

Sure 3,195 (Belohnung): … Ich lasse kein Werk eines (Gutes) Tuenden von euch verlorengehen, sei es von Mann oder Frau … Denen also, die ausgewandert und aus ihren Wohnstätten vertrieben worden sind und denen auf Meinem Weg Leid zugefügt worden ist, und die gekämpft haben und getötet worden sind, werde Ich ganz gewiss ihre bösen Taten tilgen und sie ganz gewiss in Gärten eingehen lassen, durcheilt von Bächen, als Belohnung von Allah. …22

e. Den Hintergrund für die Formulierung und Durchsetzung solcher Aussagen und Befehle bildet die Situation in Medina zur Zeit Muhammads, in der Religion und Politik eng miteinander verwoben sind. In diesem Kontext sind die Aufrufe zum Kämpfen und Töten zu interpretieren. Allerdings wird bis heute in Verbindung mit der Vorbildfunktion des Propheten (s. o.) häufig der Modellcharakter der damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse in Medina betont. Ausgehend von Sure 2 und späteren Überlieferungen, die religionsgesetzlich relevantes Material enthalten, sowie von politischen Dokumenten wie der „Charta von Medina“ wird deren islamische Ordnung als vollkommene Verwirklichung einer auf islamischen Prinzipien gegründeten Gesellschaft überhöht und geradezu ins Überzeitliche gehoben. Die Charta, auch „Gemeindeordnung von Medina“ genannt (arab. sah¯ıfa), ˙ ˙ deren bekannteste Version in der (späten) Prophetenbiografie des Ibn Hischam 23 überliefert ist, ist ein Bündnisvertrag zwischen Muhammad bzw. den Muslimen und den Einwohnern von Yathrib/Medina über die Rechte und Pflichten aller Beteiligten. Sie stellt weniger eine grundsätzliche Äußerung Muhammads oder der frühen islamischen Gemeinde dar als vielmehr eine pragmatische Vereinbarung zwischen der jungen muslimischen Gemeinde (aus Zugewanderten und medinischen „Helfern“) und den ortsansässigen Stämmen.24 „Me21 An mehreren Stellen im Koran ergeht die Aufforderung an den Propheten, „hart“ gegen die Ungläubigen zu sein, vgl. Sure 9,73; 66,9. 22 Dass Märtyrer („die auf Allahs Weg getötet werden“) unmittelbar ins Paradies eingehen, geht aus Koranstellen wie Sure 2,154; 3,169; 9,88f; 22,58 und 47,4–6 hervor. 23 Vgl. zum Vertrag von Medina: Gil, Constitution, 21–45; Lecker, Constitution; Nagel, Mohammed, 342–345; Schaller, Gemeindeordnung. 24 Das Abkommen dient „der Festigung der Gemeinschaft der unter dem Banner des Propheten Kämpfenden“ und schließt dazu die jüdischen Mitglieder der Sippen ein, „deren Muslime sich Mohammed zur Verfügung stellten, und nur auf diese Sippen sind die Bestimmungen zurechtgeschnitten“, so Nagel, Mohammed, 342. Ob und inwiefern Juden überhaupt einbezogen waren, ist zumindest fachlich umstritten.

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dina“ steht indessen für eine Gesellschaft unter islamischer Herrschaft, in der Juden und Christen bestimmte Minderheitenrechte, genauer die Rechte von „Schutzbefohlenen“ (Dhimmis) im Rahmen einer islamischen Rechtsordnung, genießen und alle einschlägigen Rechtsfälle „Gott und Muhammad, seinem Gesandten“ vorzulegen sind. Die Verhältnisse in Medina gelten als ein (mehr oder weniger fiktives) Ideal einer gerechten Gesellschaftsordnung, in der die Rechte von Minderheiten gewahrt und Toleranz gegenüber Andersgläubigen praktiziert worden seien, weshalb davon auch heute noch ein gesellschaftsgestaltender Anspruch abgeleitet wird.25 Dies als vorbildlichen Umgang mit gesellschaftlichem Pluralismus, ja geradezu als historisches Kernkonzept eines demokratischen Rechtsstaats zu präsentieren, ist islamistisches Gemeingut geworden – und unter gläubigen Muslimen weithin akzeptiert. Die „Gemeindeverfassung von Medina“ wird in diesem Sinne als schriftliche „Verfassung“ oder gar als „erster demokratischer Staatsvertrag“ gepriesen, zum Beispiel so: „Die Charta, ein Stadt-Staatsvertrag zwischen den Einwohnern von Yatrib (dem späteren Medina), war der erste demokratische Staatsvertrag, der von Menschen ausgehandelt, akzeptiert und unterzeichnet wurde. Dieser Staatsvertrag regelte den Beistand der verschiedenen Religions- und Stammesschichten in der Stadt und um der Stadt Medina (sic).“26 Wenn die historisch wahrscheinlichen Zusammenhänge derart (um-)interpretiert und Sachverhalte tendenziös dargestellt werden, ist – bei aller Betonung von „Minderheitenrechten“ – die Trennung zwischen „Gläubigen“ und „Ungläubigen“ sowie die Gewaltausübung gegenüber letzteren grundsätzlich angelegt.

3.

Praxis: Zum Umgang mit den Gewaltaussagen

Wir haben uns aus Platzgründen auf einige Aspekte von Gewalt, vor allem gegenüber Ungläubigen bzw. Nichtmuslimen, beschränkt; Gewalt gegen Frauen, Gewaltausübung der Obrigkeit gegen Diebe, Ehebrecher usw. werden hier nicht berücksichtigt.27 Entscheidend sind freilich nicht die Gewaltaussagen des Korans an sich – Gewaltaussagen kommen, wie immer wieder betont wird, in der Bibel wie im Koran vor –, entscheidend sind nicht nackte Textbelege, sondern die zugeschriebene Geltung und Relevanz der entsprechenden Stellen für die 25 Zur jüngsten Aktualisierung der Bedeutung der „Charta von Medina“ im internationalen islamischen Kontext s. die „Erklärung von Marrakesch“ vom 27. Januar 2016 (http://www. marrakeshdeclaration.org), dazu: Eißler, Erklärung, 103–106; Nagel, „Verfassung“, 141–145. 26 http://www.ansary.de/Islam/ChartaMedina.html, Übersetzung der Charta von dem bekannten „Islamologen“ Amir Zaidan. 27 Ebenso Gewaltaussagen in der Tradition, Hadith und Sunna.

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praktische Ethik. Dies führt uns zum Verständnis und zur Auslegung der UrKunden des Glaubens. Wir suchen an dieser Stelle keine systematische Darstellung, die von den Fragen der Quellen über die Hadith- und verschiedenen Grundlagenwissenschaften (Usul ad-din, Usul al-fiqh) zu den Entwicklungen unterschiedlichster Auslegungsverfahren und ihrer Bewertung in Geschichte und Gegenwart kommen müsste. Wir greifen vielmehr exemplarisch drei Beispiele heraus, die typische Verfahren in der aktuellen Debatte aufzeigen. Die Gefahr dabei ist, sich dem Vorwurf des Reduktionismus und der Willkür auszusetzen; ein Vorteil mag darin bestehen, dass konkret und fokussiert Eckpunkte der Diskussion markiert werden. a. Mäßigung der Gewalt durch die rechte Anwendung der Scharianormen (Open Letter to Al-Baghdadi): Nicht nur in Deutschland verurteilen Muslime regelmäßig Terror und Gewalt, insbesondere die Barbarei des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS). Die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) bezeichnete schon 2014 die Praktiken des IS als unerträgliche Verbrechen. Ähnliches war zu hören von hohen Gelehrten aus Ägypten, Indonesien, von führenden britischen Organisationen und 100 britischen Imamen, von den Großmuftis Ägyptens und Saudi-Arabiens und vielen anderen. Der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) hat sich mehrfach eindeutig und mit einem klaren Bekenntnis zum Existenzrecht der Christen und der anderen Minderheiten in den Krisengebieten geäußert. Der Koordinationsrat der Muslime in Deutschland (DITIB, Islamrat, VIKZ, ZMD) führte im September 2014 die bundesweite Aktion „Muslime stehen auf gegen Hass und Unrecht“ durch.28 Sehr häufig wird im selben Atemzug mit der Distanzierung von Gewalt die Behauptung laut, der IS und seine Taten, überhaupt terroristische und extremistische Gewalt, hätten nichts mit dem Islam zu tun.29 Anders sahen das über 120 islamische Gelehrte, die sich im September 2014 in einem „Offenen Brief“ direkt an „Dr. Ibrahim Awwad Al-Badri“ alias Abu Bakr al-Baghdadi, den Anführer des „Islamischen Staates“, wandten. Zu den Unterzeichnern gehörten unter anderen der ägyptische Großmufti, hohe Vertreter der Azhar-Universität in Kairo, der jordanische Prinz Ghazi bin Muhammad sowie der frühere Großmufti von Bosnien-Herzegowina Mustafa Ceric´ und ein weiteres Dutzend 28 Wobei der Aufruf zur Demonstration gegen „Extremismus jeglicher Couleur“ allerdings in diesem Fall vor allem die Angriffe auf Moscheen in Deutschland beklagte und dazu aufforderte, nicht zuzulassen, „dass extremistische Gruppen unser friedliches Zusammenleben stören“. 29 Der Migrationsforscher Klaus J. Bade gab damals in einer Auseinandersetzung um Islamäußerungen des Kabarettisten Dieter Nuhr zu Protokoll: „Das hat in etwa so viel miteinander zu tun wie eine Kuh mit dem Klavierspiel.“ (http://www.welt.de/politik/deutschland/ar ticle133641173/Nuhr-verwechselt-Islam-mit-dem-Islamischen-Staat.html).

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europäischer Vertreter, aber auch viele Geistliche aus Nordafrika, Asien und den USA.30 Der – im Original arabische – Offene Brief beinhaltet neben einer Zusammenfassung eine gründliche islamisch-theologische Zurückweisung des ISDschihads, die Punkt für Punkt die als relevant erachteten religionsgesetzlichen Aspekte durchgeht und die IS-Ideologie mit einer Fülle von Zitaten aus Koran und Sunna zu widerlegen sucht. Schon die Überschrift macht klar, dass es sich um eine Ermahnung zur Wahrheit unter Glaubensbrüdern handelt, wie das erste Zitat Sure 103 belegt.31 Den IS-Kämpfern wird zwar jegliche Legitimation etwa zur Ermordung von Muslimen bestritten, ihr Muslimsein jedoch – in Einklang mit der sunnitisch-murdschi’itischen Mainstreamtheologie – zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt (kein Takfir). In ähnlicher Weise werden auch das Töten von Unschuldigen, von Emissären (was auf Journalisten angewandt wird) und von Eziden (die aufgrund von Sure 22,17 zu den Dhimmis gerechnet werden32), die Versklavung und unrechtmäßige Demütigung von Frauen, die falsche Anwendung der im Übrigen „fraglos verpflichtenden“ Hudud-Strafen (Todesstrafe für Apostasie und Ehebruch u. a.), Folter und Verstümmelung sowie weitere andere Verbrechen verurteilt. Die Institution des Kalifats – die als grundsätzliche Verpflichtung für die Muslime betrachtet wird – könne nicht von einer einzelnen Gruppe ohne Autorität ausgerufen werden. Der IS habe eine „verdrehte Theologie“, fasste einer der Mitunterzeichner zusammen, die den Islam missverstehe und falsch interpretiere. Denn der Prophet sei „als Barmherzigkeit für die Welt“ gekommen (Sure 21,107), so auch der Islam insgesamt. Am Ende des Briefes werden die IS-Kämpfer aufgefordert, Buße zu tun und zur Religion der Barmherzigkeit zurückzukehren. Der Brief ist keine offizielle Verlautbarung – die es in der Form, wie sie christlicherseits von kirchenleitenden Gremien bekannt ist, gar nicht gibt. Es handelt sich auch nicht um eine Fatwa, was man sich als religionsgesetzlich verbindliche(re) Äußerung hätte vorstellen können. Im Grunde wird hier eine – wohlbegründete und fachkundig vorgetragene – Meinung formuliert. Der gesamte Duktus zeigt, dass diese Meinung im Prinzip die Augenhöhe mit dem Gegner sucht und auch so geäußert wird. Es wird kaum etwas grundsätzlich 30 Open Letter to Al-Baghdadi vom 19. September 2014, s. http://lettertobaghdadi.com. Vgl. dazu auch Eißler, Muslime. 31 Die Sure hat drei Verse: Im Namen Gottes, dem Allbarmherzigen, dem Allgütigen. Preis sei Gott, dem Herrn der Welten Frieden und Segen seien auf dem Siegel der Propheten und Gesandten. Beim Zeitalter! Der Mensch befindet sich wahrlich in Verlust, außer denjenigen, die glauben und rechtschaffene Werke tun und einander die Wahrheit eindringlich empfehlen und einander die Standhaftigkeit eindringlich empfehlen. 32 Eine interessante Erweiterung („Neuerung“) des traditionellen Dhimmi-Konzepts, das Juden und Christen (und „Sabiern“) den Status von Schutzbefohlenen im islamischen Gebiet zugesteht.

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infrage gestellt, sondern die eigene, orthodox verstandene Auslegung der Auslegung in den Reihen des IS entgegengestellt. Der (gemeinsame) Rahmen traditioneller Schariaregelungen wird indessen nicht tangiert, sondern durchgehend bekräftigt. Der Offene Brief argumentiert auf der Grundlage, dass die Barmherzigkeit Gottes und die Gerechtigkeit in der Welt auf der Basis der Scharia ihre Erfüllung finden. Nun ist es ein notwendiger und wichtiger Schritt, wenn die Gelehrten auf der Grundlage der Tradition und damit auch im Rahmen der Schariaauslegung gegen Terror und Gewalt argumentieren. Wie anders sollten – wenn überhaupt – IS-Kämpfer oder gar deren Drahtzieher erreicht werden können? Der Islam kennt kein Lehramt, im Kräftespiel der Autoritäten zählt idealerweise die Kraft des Arguments. Die Argumentation der Gelehrten zielt darauf, die islamisch verbürgten Minderheitenrechte (etwa für Dhimmis) zu erhalten und zu gewähren. Zugleich bestätigt der Brief mit hoher islamischer Autorität: Der vorherrschende Tenor praktisch aller distanzierenden Äußerungen, der IS-Terror habe mit „dem Islam“ nichts zu tun, ist haltlos.33 Dem IS wird Missbrauch in der Anwendung der gottgegebenen Schariaregelungen vorgeworfen. Der Geltungsbereich und die Geltungsweise des traditionellen Schariarahmens werden nicht infrage gestellt. Die Tötung von Ungläubigen, die Verstümmelung von Rechtsbrechern, die Einschränkung von Frauenrechten usw. werden nicht grundsätzlich verurteilt, sondern sollen Mäßigung durch die Scharia erfahren. b. Ablehnung von Gewalt unter Berufung auf den Koran – mit unklaren Folgen (Mahnwache am Brandenburger Tor): Die Mahnwache am Brandenburger Tor in Berlin am 13. Januar 2015 aus Anlass der Anschläge von Paris war ein starkes Zeichen der Solidarität mit den Opfern der Anschläge auf das Satiremagazin Charlie Hebdo, Polizisten und einen jüdischen Supermarkt (7.–9. Januar 2015). Die vom Zentralrat der Muslime in Deutschland und der Türkischen Gemeinde zu Berlin organisierte Veranstaltung unter dem Motto „Zusammenstehen – Gesicht zeigen“ richtete sich gegen islamistischen Terror. Zugleich setzten die Teilnehmer ein Zeichen für Toleranz, Meinungsfreiheit und ein friedliches Zusammenleben der Religionen.34 Eröffnet wurde die Kundgebung mit einer Koranrezitation. Abdelhak Elkouani, erster Vorsitzender des Fiqh-Rates des marokkanisch dominierten Deutsch-Islamischen Vereinsverbands Rhein-Main (Mitglied im ZMD), rezitierte Sure 5,32. Häufig wird dieser Koranvers heran33 Laut SPIEGEL-Informationen führte die Tageszeitung al-Hayat im August 2014 eine Umfrage in Saudi-Arabien durch, der zufolge 92 Prozent der Befragten der Ansicht sind, dass der IS mit den Werten des Islams und der Scharia übereinstimme. 34 Vgl. Eißler, Nein, 93–95.

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gezogen, um zu belegen, dass der Islam gegen Gewalt sei und gar ein generelles Tötungsverbot kenne – daher könnten Verbrechen wie die in Paris nichts mit „dem Islam“ zu tun haben. Wer ein menschliches Wesen tötet, ohne (dass es) einen Mord (begangen) oder auf der Erde Unheil gestiftet (hat), so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte. Und wer es am Leben erhält, so ist es, als ob er alle Menschen am Leben erhält. (Sure 5,32)

Der Vers wurde auf Arabisch und Deutsch vorgetragen. Der einschränkende Halbsatz, im Zitat kursiv, der den Hintergrund der Blutrache und die Bedingung für eine „rechtmäßige“ Tötung deutlich macht (vgl. Sure 18,74), wurde nicht – wie sonst häufig – ausgelassen. Allerdings hat der Vers auch einen Anfang und eine Fortsetzung, die praktisch nie im Zusammenhang zu hören sind. Der Vers beginnt so: „Aus diesem Grunde haben Wir [d. h. Gott] den Kindern Israels vorgeschrieben: …“,35 und er endet: „Unsere Gesandten sind bereits mit klaren Beweisen zu ihnen [d. h. den Juden] gekommen. Danach aber sind viele von ihnen wahrlich maßlos auf der Erde geblieben.“ Vor allem aber wird im direkt anschließenden Vers 33 der Lohn derjenigen aufgelistet, „die Krieg führen gegen Allah und Seinen Gesandten und sich bemühen, auf der Erde Unheil zu stiften“, nämlich: „dass sie allesamt getötet oder gekreuzigt werden, oder dass ihnen die Hände und Füße wechselseitig abgehackt werden, oder dass sie aus dem Land verbannt werden. Das ist für sie eine Schande im Diesseits, und im Jenseits gibt es für sie gewaltige Strafe.“ Es ist also nach dem Korantext klar : „… tötet nicht die Seele, die Allah verboten hat zu töten, außer aus einem rechtmäßigen Grund!“36 (Sure 6,151) Der Gewaltgebrauch wird nicht abgelehnt, sondern geregelt. Der rechtmäßige Grund nach dem Koran lautet im Kontext von Sure 5,32f Kriegführen (muha¯raba) ˙ gegen Gott und seinen Propheten sowie „Unheilstiften“ (fasa¯d/ifsa¯d). Die Auslegungen dazu sind nicht einheitlich. Unheilstiften ist keine Kleinigkeit, sondern die vorsätzliche Störung der von Gott gestifteten und bleibend gültigen Ordnung durch gottlose Übeltäter (Sure 2,6–15; z. B. der Juden, Sure 5,64). Das Unheil und den Aufruhr (fitna) der Ungläubigen muss man bekämpfen (Sure 2,190–194; 8,73). Ein besonders großes Unheil ist der Abfall vom Glauben. Dazu gehört auch die Schmähung eines Propheten. Diese Art von Beleidigung wird in Schariawerken im Kapitel „Apostasie“ verhandelt. Wer den Namen eines Propheten verächtlich macht oder einem Propheten einen Mangel vorwirft, ist ein Abtrünniger. Die Rechtsschulen des Islam sind sich einig, dass der Apostat mit dem 35 Eines der wenigen unmittelbar nachvollziehbaren Zitate im Koran, nachzulesen in der Mischna Sanhedrin IV,5. 36 wa-la¯ taqtulu¯ n-nafsa llatı¯ harrama lla¯hu illa¯ bi-l-haqq, vgl. Sure 17,33; 25,68; 7,33. ˙ ˙

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Tod zu bestrafen ist.37 „Ebenso verhält es sich mit dem, der einen Propheten … beleidigt. Er wird ohne Aufforderung zur Buße getötet.“ – „Wer den Gesandten Gottes (d. i. Muhammad) schmäht oder beleidigt, oder einen anderen der Gesandten, die im Koran vorkommen, oder wer den Gesandten Gottes in seiner Einladung (zum Islam) für einen Lügner erklärt, wird in Vollzug der Strafe für die Übertretung der von Gott gesetzten Grenze (hadd) getötet.“38 Satire ist unter ˙ diesen Vorzeichen eine delikate Angelegenheit.39 Auch hier ist zu differenzieren: Selbstverständlich sind die Zeichen und die klaren Worte des Miteinanders und der Solidarität von großer Bedeutung. In der Tat muss die Absage an jede Gewalt letztlich auch und vor allem mit dem Koran begründet werden. Und die „Deutungshoheit“ über Koran und Sunna liegt in erster Linie bei den Muslimen. „Gewalt gegen Unschuldige ist durch nichts zu rechtfertigen“, erklären Vertreter islamischer Verbände unter Berufung auf besagte Koranstelle. Doch diese Koranauslegung, die sich von der erdrückenden Mehrheit der vorhandenen Traditionstexte abhebt (und abheben muss!), kann nur dann verständlich und nachhaltig wirksam werden, wenn sie in intensiver Kooperation mit den gesellschaftlichen Akteuren aktiv diskutiert und in den Moscheegemeinden vor Ort in ihren Konsequenzen zum Thema gemacht wird. Denn der dargestellte Zusammenhang provoziert die Frage: Wie wird die Konditionalität der Aussagen interpretiert und tatsächlich verstanden? Keine Gewalt gegen Unschuldige – aber was ist mit „Schuldigen“ im Sinne der Tradition? Angesichts der weit verbreiteten Auffassung von der unabänderlichen und universalen Gültigkeit des Korans und der Sunna stellt sich die dringliche Frage, wie die Muslime in den Moscheegemeinden und allen voran die Vertreter der Islamverbände die normative Relevanz dieser Zusammenhänge bewerten und interpretieren. c. Abschied vom Schariaparadigma – Neue Auslegungen für alte Texte (Reformansätze): Der Münsteraner Professor für Islamische Religionspädagogik Mouhanad Khorchide hat im Herbst 2012 sein Buch „Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion“ im Herder-Verlag veröffentlicht. Im Jahr darauf erschien das Buch „Scharia – Der missverstandene Gott“.40 Er plädiert 37 ‘Abd ar-Rahma¯n, Kita¯b, Bd. 5, 372ff. ˙ 38 A. a. O., 377f. 39 Vgl. auch Sure 9,65f: „Und wenn du sie fragst, werden sie ganz gewiss sagen: ,Wir haben nur (schweifende) Gespräche geführt und gescherzt.‘ Sag: Habt ihr euch denn über Allah und Seine Zeichen und Seinen Gesandten lustig gemacht? Entschuldigt euch nicht! Ihr seid ja ungläubig geworden, nachdem ihr den Glauben (angenommen) hattet. Wenn Wir (auch) einem Teil von euch verzeihen, so strafen Wir einen (anderen) Teil (dafür), dass sie Übeltäter waren.“ 40 Inzwischen ist der Titel „Gott glaubt an den Menschen. Mit dem Islam zu einem neuen Humanismus“ (2015) auf dem Markt.

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leidenschaftlich für ein Islamverständnis, das die „Botschaft der Barmherzigkeit, die von einem absolut barmherzigen Gott ausgeht“ in den Mittelpunkt stellt.41 Die Beziehung zwischen Gott und Mensch soll nicht auf Angst und Gehorsam gründen, sondern wie die Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Kind auf Liebe und Respekt. Das „Schariaparadigma“ ist wohl ein wichtiger Teil der islamischen Tradition, kann und soll aber nicht ihr allein maßgeblicher Rahmen für die Interpretation des Korans hier und heute sein. Vielmehr sollen die ethischen und humanen Potenziale des Islam grundlegend und neu in den Blick genommen werden.42 Dies bedingt eine historische Analyse und Einordnung der dominanten rechtswissenschaftlichen und religionsgesetzlichen Orientierungen. Man könnte eine ganze Reihe weiterer Protagonisten (und Protagonistinnen) nennen, die unterschiedliche Versuche unternehmen, die Traditionstexte in den historischen Kontext einzuordnen, ein hermeneutisches Verständnis zu formulieren und so den Weg für ein Koranverständnis zu ebnen, das mit den Grundkonsensen westlicher pluraler Gesellschaften kompatibel ist. Neben Khorchide gehörten Bülent UÅar (Osnabrück), Abdel-Hakim Ourghi (Freiburg i. Br.), Ahmad Mansour (Berlin), Ednan Aslan (Wien) und andere zu denen, die mit klaren Worten den Zusammenhang von Islam und Islamismus anerkannt und eine Auslegung des Korans „im historischen Kontext“ gefordert haben. Dass dies ein gangbarer Weg ist und in der Geschichte des Islam genügend Anknüpfungspunkte für neue Wege in der Koranauslegung vorhanden sind, zeigen in ganz unterschiedlicher Weise Intellektuelle und Universitätslehrer im internationalen Kontext, die „den Islam neu denken“.43 Eine den Namen verdienende historische und hermeneutische Koranauslegung gibt es indessen, so muss man feststellen, in der Breite nicht. Wo es sie ansatzweise gibt, geschieht es allzu rasch, dass der warnende Zeigefinger des Schariaislam erhoben wird. Vertreter der Islamverbände sehen in reformorientierten Neuformulierungen nicht selten eine Bedrohung der islamischen Lehre. In Interviews wischt der Zentralratsvorsitzende Aiman Mazyek die Ge41 Khorchide, Islam, 27. 42 Vgl. hierzu auch die Impulse des Frankfurter Koranexegeten Ömer Özsoy (knapp zusammenfassend etwa „Die fünf Aspekte der Scharia und die Menschenrechte – Die Auslegung des Koran auf neuen Wegen“, https://www.uni-frankfurt.de/43455141/Die-fuenf-Aspekte-derScharia-und-die-Menschenrechte.pdf). 43 So der Titel des Buches von Katajun Amirpur, Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte. Vgl. dazu auch z. B. Amirpur / Ammann, Islam; Benzine, Islam; sowie die Buchreihe der Georges-Anawati-Stiftung „Religion und Gesellschaft. Modernes Denken in der islamischen Welt“. – Kritik an der Tradition wird in Verbindung mit eigenen Ansätzen auch aus feministischer bzw. spezifischer Frauenperspektive formuliert, vgl. Mernissi, Amina Wadud, Sa"da Keller-Messahli, aber auch Beiträge von Rabeya Müller oder Kübra Gümüs¸ay.

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walt im Namen des Islam als „Missbrauch von Religion“ beiseite. Man könne sich nur von etwas distanzieren, „wo vorher eine gewisse Nähe war“. Er erklärt: „Koran und die Aussprüche des Propheten sind klare Bekenntnisse für Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung zwischen den Völkern und Religionen.“44 Nachgerade beunruhigen muss seine Feststellung: „Die Fragen von Krieg und Frieden sind in der über 1000 Jahre alten Auslegungspraxis eindeutig geklärt worden.“ Wenn dem so wäre, bestünde in Sachen Koranverständnis kein Klärungsbedarf. Nur „zwei, drei Verse“ seien in aller Munde und würden falsch interpretiert, so Mazyek. Diese ausdrückliche Ablehnung der Notwendigkeit, innerislamisch die Koranauslegung intensiver zu diskutieren, kann im Klartext nur bedeuten, dass es aus Sicht des ZMD an den Vorgaben der islamischen Tradition, zuerst Koran und Sunna, nichts zu deuteln gibt.

4.

Schluss

Die allermeisten Musliminnen und Muslime leben friedlich und ohne Gesetzeskonflikte in unserer Mitte, viele ohne großes Interesse an Einzelheiten der Scharia.45 Doch eine islamische Instanz, die verhindern kann, dass sich Einzelne die Durchsetzung des dem Anspruch nach „von Gott gesetzten Rechtes“ anmaßen, gibt es nicht. Weit verbreitet ist die Lehre, das „schöne Vorbild“ (uswa hasana) des Propheten Muhammad und die Weisungen des Korans seien un˙ mittelbar verpflichtend (Sure 33,21; 62,2; 72,23). Wer das konsequent verfolgt, hat gegen Gewaltgebrauch praktisch nichts in der Hand.46 Es sind im Wesentlichen zwei Aspekte, die eine innerislamische Kritik des Verhältnisses von Islam und Gewalt erschweren. Zum einen die ursprünglichen politischen Anteile, die aufgrund bestimmter historischer Entwicklungen in die islamischen Grundlagen eingegangen sind, Stichwort „Medina-Modell“ (s. o. 2 e.). Zum anderen das Fehlen einer kritischen Exegese in den Zentren der 44 Interview in Herder Korrespondenz 69/1 (2015), 15–19, hier 16.17; die menschenverachtenden Taten stünden „mit keiner Religion in irgendeinem Kontext“ (www.islam.de/24054. php). 45 Der ZMD vertritt in 24 Mitgliedsvereinen höchstens 0,5 Prozent der Muslime in Deutschland, der Koordinationsrat der Muslime zusammen – die Zahlen sind umstritten – vielleicht zwischen 20 und 30 Prozent. – Der Anteil aus Sicht des Verfassungsschutzes als extremistisch eingestufter Muslime liegt übrigens bei etwas über 1 Prozent der Menschen muslimischen Glaubens; der Salafismus in Deutschland bei ungefähr 0,2 Prozent der muslimischen Bevölkerung. 46 Selbstverständlich kann im selektiven Verfahren eine Haltung des Friedens, der Toleranz und der Nächstenliebe auch aus Koran und Sunna gewonnen werden. Dies prägt viele Musliminnen und Muslime im individuellen Kontext. Das Problem ist, dass dasselbe selektive Verfahren – gleichsam ex negativo – Verhaltensweisen des modernen Dschihadismus und viele Handlungen des IS ebenso legitimieren kann.

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Gelehrsamkeit im Bereich der traditionalistischen Islamauslegung wie auch und besonders im Bereich der islamistischen Strömungen. So besteht die Möglichkeit, Entscheidungen und Verhältnisbestimmungen aus dem Medina des 7. Jahrhunderts ohne größere hermeneutische Umstände ins Europa des 21. Jahrhunderts zu übertragen. Insofern zeigt sich eine Ambivalenz in der Themenfrage, die auch für Muslime zunehmend gefährlich werden kann.47 Hier die „friedliche Religion des Islam“, dort die „Extremisten“ kann deshalb kaum ein erfolgversprechender Ansatz zur Verhinderung weiterer Radikalisierungsbiografien sein. Solange für Muslime auch nur die Möglichkeit besteht, davon auszugehen, dass Gott zwar selbstverständlich Gewalt und Terror verbiete, das Schicksal unzähliger Terroropfer jedoch die (gerechte) Folge ihres unheilstiftenden Tuns sei, solange wird die Gesellschaft Misstrauen hegen. Aufgabe der Religionen kann es nicht sein, die täglich neue Gewalt beiseite zu schieben, sie zu verharmlosen oder von ihr abzulenken. Alle Religionen müssen sich mit den Schwach- und Gefahrenpunkten des menschlichen Zusammenlebens auseinandersetzen, an allererster Stelle mit der Gewalt. Religion ist möglicherweise „der einzige Ort, der Gewalt auf Dauer bannen und die Gemeinschaft vor ihrer eigenen destruktiven Haltung schützen kann“.48 Daher sind die Reaktionen und Distanzierungen vieler Musliminnen und Muslime wertvolle und wichtige Signale, die auch von der Gesellschaft wahr- und ernst genommen werden müssen. Nichtmuslime dürfen nicht durch einseitige und verzerrte „Islaminterpretationen“ dazu beitragen, dass Muslime auf radikale und gewaltlegitimierende Lesarten ihrer Religion geradezu festgelegt werden. Gleichwohl ist als Problembeschreibung vorläufig festzuhalten, was Tilman Nagel so formuliert hat: „Islam und Islamismus sind so lange nicht voneinander zu trennen, wie Koran und Sunna als absolut und für alle Zeiten wahr ausgegeben werden, so lange, wie das Übergeschichtliche in dem an die Zeit gebundenen Diesseits Wirklichkeit werden soll, weil es schon einmal, im Medina des Propheten, Wirklichkeit gewesen sei. Solange die Muslime an dieser Forderung festhalten, versperren sie sich den Weg zu einer kritischen Sichtung ihrer Vergangenheit …“49

Erst eine historisch-kritische Würdigung Muhammads und damit eine Relativierung zeitgebundener Handlungsmuster und -anweisungen durch maßgebli-

47 Zusätzlich erschwert werden eigenständige Entwicklungen durch die massive Einflussnahme über das Internet durch konservative, islamistische und dschihadistische Netzwerke nicht nur, aber vor allem aus den Herkunftsregionen der Muslime. 48 Häring, Kolflikt- und Gewaltpotential,, 23f mit Bezug auf Ren8 Girard, Das Heilige und die Gewalt. 49 Nagel, Angst, 267.

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che islamische Autoritäten wird den Weg ebnen für einen liberalen ethischen Diskurs auf Augenhöhe mit dem „Westen“. Aiman Mazyek hat schon recht, wenn er sagt: „Auf dem Weg zum deutschen Islam haben wir noch ein Stück.“ Auch wenn er dies ganz anders gemeint haben dürfte.50

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50 Der Tagesspiegel, 15. 2. 2015 (www.tagesspiegel.de/themen/reportage/interview-mit-aimanmazyek-auf-dem-weg-zum-deutschen-islam-haben-wir-noch-ein-stueck/11374416.html).

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Ibn Hisˇa¯m, Abu¯ Muhammad Abd al-Malik, as-Sı¯ra an-nabawı¯ya, hg. von M. as-Saqa / I. alAbyari / A. Shalabi, 2 Bände in 4 Teilen, Beirut o. J. (Kairo 1936). Ibn Isha¯q, Das Leben des Propheten, aus dem Arabischen übertr. und bearb. v. G. Rotter, ˙ Kandern 1999. Khorchide, M., Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion, Freiburg/ Br. 2012. – Gott glaubt an den Menschen. Mit dem Islam zu einem neuen Humanismus, Freiburg/ Brsg. u. a. 2015. Krötke, W., Sind monotheistische Religionen besonders „anfällig“ für Gewalt?, in: R. Hempelmann / J. Kandel (Hg.), Religionen und Gewalt. Konflikt- und Friedenspotentiale in den Weltreligionen (Kirche–Konfession–Religion 51), Göttingen 2006, 47–62. Lecker, M., The „Constitution of Medina“. Muhammad’s First Legal Document (Studies in Late Antiquity and Early Islam 23), Princeton 2004. Nagel, T., Mohammed. Leben und Legende, München 2008. – Angst vor Allah? Auseinandersetzungen mit dem Islam, Berlin 2014. – Die „Verfassung“ von Medina, in: Materialdienst der EZW 4/2016 141–145. Paret, R., Mohammed und der Koran. Geschichte und Verkündigung des arabischen Propheten, Stuttgart u. a. 71991. Schaller, G., Die „Gemeindeordnung von Medina“ – Darstellung eines politischen Instrumentes. Ein Beitrag zur gegenwärtigen Fundamentalismus-Diskussion im Islam, Inaugural-Dissertation, Augsburg 1985. ˇ ala¯l ad-Dı¯n ‘Abd ar-Rahma¯n al-Itqa¯n fi ‘ulu¯m al-Qur’a¯n, ed. N.M. al-Ba¯z, as-Suyu¯t¯ı, G ˙ ˙ 4 Bände, ar-Riya¯d 1417 / 1996. ˙

Hildegard Scherer

Gewalt bewältigen. Neutestamentliche Stimmen

1.

Hinführung

Gewalt, der willentliche Angriff auf menschliches Wohlbefinden, instrumentalisiert den Schmerz. Sie verwundet Körper und Seelen, um Menschen gefügig zu machen. Sie zerstört dabei nicht nur die Integrität, sondern auch das Vertrauen ins Leben – in den Betroffenen hinterlässt sie ein Mal des Leids, der Ohnmacht und Entwertung. Und doch will das Leben weitergehen – und fordert heraus, das Erfahrene anzunehmen. Wie gelingt es Menschen, die Narben in ihre Lebensperspektive einzuordnen? Ohne die Problematik der Gewaltausübung im Namen der Religion schmälern zu wollen, stelle ich im Folgenden diese Frage in den Vordergrund und richte sie an zwei exemplarische Texte des Neuen Testaments, in denen subjektiv erlebte Gewalt bearbeitet wird.1 In 2Kor 11,23–29 äußert sich Paulus zu physischer Gewalt – die Passage ist argumentativ einzuordnen, aber auch auf den Hintergrund von Gewalterfahrung zu stellen, soweit wir ihn aus den Briefen und der historischen Situation rekonstruieren können. Hebr 12,1–11 hält dann eine lebensweltlich fundierte Analogie bereit, die der Gewalterfahrung einen Sinn beilegen will: die Metapher der sportlichen Erziehung. Bevor diese Texte vorgestellt werden, bleibt jedoch von vornherein hermeneutisch klarzustellen, dass selbst biblische Texte weder Patentrezepte noch normative Strategien für die Bewältigung der Gewalt liefern. Gäbe es solche Verfahren, die die Wirkungen der Gewalt gegen Null regeln, würde dies sie bagatellisieren. Bewältigungsmuster, die in den Texten in wohlgesetzten Worten erscheinen, sind das Ergebnis eines schmerzhaften persönlichen Prozesses. Ob er tatsächlich gelingt, ist in allen Fällen offen. Zudem ist die Erfahrung unumkehrbar – das Leiden lässt sich nicht löschen. Weiter sei berücksichtigt, dass biblische Texte eine Lebensdeutung versu-

1 Zur Perspektive „Verarbeitung von erfahrener und erwarteter Gewalt“ vgl. Leutzsch, Gewalt, 7f.

70

Hildegard Scherer

chen, die ihren kulturellen Paradigmen verpflichtet ist. Diese sind auf ihre historische Bedingtheit zu prüfen. Erst dann zeigt sich, ob sie auch heute tragen.

2.

Paulus in Bedrängnis

Jeder der paulinischen Briefe thematisiert Schwierigkeiten, die sich den christlichen Gruppen und ihren Initiatorinnen und Initiatoren stellen – darunter möglicherweise Gewalterfahrungen. Im regen Austausch über persönliche Begegnungen steht anzunehmen, dass Paulus die Situation der Gemeinden vor Augen hat; den Adressaten ist sie aus eigener Erfahrung vertraut. Daran liegt es wohl, dass Paulus die jeweiligen Vorfälle nicht genauer benennt, sondern mit Überbegriffen chiffriert. Dies zeigt ein Blick auf seine Beschreibungssprache.

2.1

Zur Beschreibungssprache der paulinischen Briefe

Spricht Paulus von unangenehmen Erfahrungen, denen seine Adressaten2 und er3 ausgesetzt sind, dann verwendet er bevorzugt die Begriffe „Bedrängnis“ (hki˜xir jtk.), „verfolgen“ (di¾jy jtk.) und „leiden“ (p²swy jtk.). „Leiden“ beschreibt das subjektive schmerzhafte Empfinden in einer Situation – sie selbst und ihr mögliches Gewaltpotential erschließt es jedoch nicht. So in 1Thess 2,14: Hier „leiden“ die Adressaten von ihren Landsleuten Gleiches wie die Christusgläubigen der Judaia – die Konkretionen in V. 15f., Verfolgung und Verhinderung der Heidenpredigt, bezieht Paulus allerdings auf ein „uns“, und das heißt ggf. spezifisch Missionare. Was vorgefallen ist, erfahren wir im Kontext des Briefes nicht – zumal auch die „Bedrängnis“ in 1,6 nichts Näheres preisgibt. „Bedrängnis“ bedient sich der Raummetaphorik: In seiner eigentlichen Bedeutung, die auch medizinisch verwendet wird,4 meint der Begriff ein (Zusammen-)Drücken – der nötige Entfaltungsraum wird gewaltsam eingeengt, was Schmerz und Schaden verursacht. Semantisch weitet sich der Begriff insbesondere in der biblisch-jüdischen Literatur5 auf äußere Widerfahrnisse, die Menschen auf unangenehme Weise angehen. Dass damit auch eine emotionale Befindlichkeit gemeint sein kann, zeigt Phil 1,17: Hier bedrängen Paulus auf 2 Bedrängnis: 1Thess 1,6; 3,3; Röm 5,3; 8,35 (vgl. bezüglich Dritter 2Kor 1,4; 8,2); Verfolgung: Röm 8,35; 12,14; (vgl. bezüglich Dritter Gal 6,12); Leiden: 1Thess 2,14; Phil 1,29; 2Kor 1,6f.; Röm 8,17. Daneben tritt noch allgemein „Schlechtes (jajºm)“: Röm 12,17.21. 3 Bedrängnis: 1Thess 3,4.7; Phil 4,14; 2Kor 1,4.6.8; 4,8.17; 6,4; 7,4f.; Verfolgung: 1Thess 2,15; 1Kor 4,12; 2Kor 4,9; Leiden: 1Thess 2,2; 2Kor 1,5. 4 Vgl. LSJ s. v. 5 Vgl. Kremer, hk¸xir, 376.

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eigenen Vorteil bedachte Verkündiger. Für einen materiellen Mangel steht der Begriff dagegen in Phil 4,14. Nach Peter Arzt-Grabner bezeichnet er in den Papyri wirtschaftliche Not, sozialen Druck oder (später) auch Emotion.6 Auf der semantischen Linie des gewaltsam eingeschränkten Raums liegen auch „Engpass“ (stemowyq¸a)7 (vgl. 2Kor 4,8; 6,4; Röm 8,35) und „verfolgen“ (di¾jy jtk.): Hier nähern sich feindlich gesinnte Menschen räumlich an; was jedoch passiert, wenn die Verfolgten „eingeholt“ sind, können wir aus den Aussagen des Paulus selbst8 nur vage nachvollziehen: Nach Gal 1,13 sollten die Gemeinden „vernichtet“ werden – das muss nicht heißen, dass ihre Mitglieder umkommen; man kann auch an Versammlungsverbote oder sonstige Zerstörung einer Gemeinschaftsstruktur denken. Welche Form von Gewalt oder Gewaltandrohung dabei im Spiel war, bleibt offen. Insgesamt haben diese Begriffe hohes metaphorisches Potential. Sie können für innere und äußere Beklemmungen und Belastungen aller Art stehen. Näheres über erlittene Gewalt erfahren wir nur vorsichtig von Paulus und seinen Informationen über einige namentlich genannte Christusgläubige. Am klarsten benennt er in Phil 1,7.13f.17 und Phlm 10 seine „Fesseln“ (vgl. 2Kor 6,5; 11,23: „Gefängnis“); Phil 1,13 lokalisiert ein „Prätorium“; Phlm 23 und Röm 16,7 nennen Epaphras, Andronikus und Junia als „Mitgefangene“. Die Genannten befinden sich also in behördlichen Gefängnissen. Die „Misshandlung“ in Philippi (rbqish´mter: 1Thess 2,2; vgl. 2Kor 12,10) ist passivisch formuliert – Täter und Tat sind damit nicht eruierbar.9 Wenn Paulus dennoch in Thessalonich verkündet, steht zwischen den Zeilen, dass die Maßnahmen in Philippi eine Verkündigung unterbinden sollten. Semantisch lässt sich dahinter nicht mehr greifen, ob verbale oder physische Übergriffe geschehen waren,10 ob sie institutionell oder privat veranlasst waren; das Verb besagt einzig, dass Paulus sie als übersteigert empfand. In der Asia hat Paulus lt. 2Kor 1,8f. eine „Bedrängnis“ erlitten, und in diesem Zusammenhang fällt das Stichwort „Bescheid bezüglich des Todes“ (t¹ !pºjqila toO ham²tou)11 – Paulus hat ihn jedoch „bei uns selbst“ erhalten, d. h. als gott6 Vgl. Arzt-Grabner, 2Kor, 167f.; ebd. auch zur Unklarheit bezüglich der Situation des Paulus in 2Kor 1,4.6; 4,17; 7,4; 8,1f. 7 Kritzer in Arzt-Grabner, 2Kor, 345: „in erster Linie eine Bedrängnis oder Einengung aufgrund eines Mangels lebensnotwendiger Güter“. 8 Auf Illustrationen der Apg zu den behandelten Phänomenen wird aus methodischen Gründen verzichtet – sie haben ggf. ihre eigene literarische Geschichte. 9 Nach Arzt-Grabner, 2Kor, 513 ist „die Verwendung des Begriffs tatsächlich sehr breit“; er weise „eher abstrakt auf ein erlittenes Unrecht hin […] als auf einen konkreten Übergriff […]“. 10 Vgl. Verweisstellen bei Lüdemann, rbq¸fy, 908 der jedoch ebd. für Paulus dennoch „körperliche Mißhandlungen“ veranschlagt. 11 Zur Bedeutung vgl. Kritzer in Arzt-Grabner, 2Kor, 200f.: Antwort auf eine Anfrage.

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gegebene Klarheit in einer kritischen Situation, die er überlebt.12 Die näheren Umstände bleiben einmal mehr im Unklaren;13 Paulus beschreibt nur seine belastete emotionale Reaktion. Die Bedrängnis in Makedonien (2Kor 7,5) beinhaltet „von außen Kämpfe, von innen Ängste“: Welcher Natur diese Kämpfe sind, bleibt offen.14 Desgleichen wissen wir nicht aus erster Hand, inwiefern Paulus nach Röm 15,31 in der Judaia vor „Unfolgsamen“ „gerettet“ werden musste. Zweimal zieht Paulus die Kulisse der spectacula auf (1Kor 4,9; 15,32) – beide Male mit metaphorischen Untertönen. Da ein solcher Kampf in der Regel tödlich endete, kann er schwerlich stattgefunden haben, wenn Paulus von ihm erzählt. Der Kampf in Ephesus (1Kor 15,32) steht zudem im Irrealis. Bestens hätte ein solches Ereignis in die Reihe von 2Kor 11,24f. gepasst, wo es nicht vorkommt – wie auch nirgends in den übrigen sogenannten Peristasenkatalogen diese Dimension erreicht wird. Ist dort von physischer Gewalt die Rede, so treffen wir auf Schläge (1Kor 4,11; 2Kor 6,5; 11,23–25) und Freiheitsentzug (2Kor 6,5; 11,23).15 Offensichtlich sind Paulus und seine Gefährtinnen und Gefährten den Gefängnissen immer wieder entkommen. Die akuteste Todesbedrohung wird von Priska und Aquila ausgesagt (Röm 16,4). Sie hielten für Paulus „ihren Nacken hin“, d. h. sie setzten sich einer Enthauptung aus – auch sie haben überlebt. Damit zeigt sich, dass in der Regel exponierte Protagonisten der christlichen Gruppen unmittelbar mit Gewalt belangt wurden.16 Wenn Paulus Analogien zwischen seinem Geschick und den Adressaten zieht, dann auf einer prinzipiellen Ebene: Leiden und Kampf des Paulus (Phil 1,29f.) dürften die Philipper nicht durch eigene Gefangenschaft o. ä. geteilt haben; mit Phil 1,7 ist vielmehr an eine empathische Solidarität zu denken. Jedoch strahlen die Gewalterfahrungen der Protagonisten auf die emotionale Befindlichkeit der Adressaten aus – sie erzeugen Angst (Phil 1,14.28). Bei alledem kommt Paulus immer wieder auf den Tod zu sprechen:17 Einen Todesbescheid nennt 2Kor 1,9f.; die „Vernichtung des äußeren Menschen“ 2Kor 12 Arzt-Grabner, 2Kor, 201 liest einen inneren Vorgang: Die in Ratlosigkeit bei Gott gestellte Anfrage bezüglich des bevorstehenden Todes fällt so aus, dass der Tod abgewendet wird. Schmeller, 2Kor I, 71 denkt dagegen an „innere Gewissheit seines Todes“, lehnt aber ebd. Anm. 180 auch einen forensischen Bezug ab. 13 Vgl. den Abriss von Deutungsmöglichkeiten bei Schmeller, 2Kor I, 69f., von denen er Gefängnisaufenthalt oder Krankheit für plausibel, aber nicht entscheidbar hält; oder ArztGrabner, 2Kor, 207–212 (Haft mit Gerichtsverfahren, Depression, behördlicher Übergriff). 14 Vgl. Schmeller, 2Kor II, 13, der an Streit, ggf. mit Gegnern, denkt. 15 Dies spricht m. E. gegen die These von z. B. Zeller, 1Kor, 501–503, die Aussage wörtlich zu nehmen – er bringt ebd. 502 Anm. 280 sogar die Idee ins Spiel, Paulus wäre ggf. durch eine Intervention von Priska und Aquila in letzter Minute gerettet worden. Pro metaphorische Rede: Schmeller, 2Kor I, 69 mit Argumenten. 16 Dies unterstützt die These von Wendt, s. u. Anm 51. 17 Vgl. zum Todesgedanken und einigen Stellen auch Burz-Tropper, Todesleiden, 72f.

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4,16; Todesgefahren 2Kor 11,23. Neben den einzelnen Momenten von Todesnähe steht allerdings auch ein paradoxer Gedanke, der das Einmalige in Repetitionen denkt: als „tägliches“ Sterben (1Kor 15,31), als „jederzeit“ Tötung umhertragen oder „immer“ in den Tod übergeben werden (2Kor 4,10f.).18 Damit breitet sich eine Todessphäre über Erfahrungen jenseits der akuten Lebensgefahr. Diese deutet sich als mögliche Folge an oder wird partiell im Ausfall von emotionalen oder physischen Funktionen wahrgenommen, ohne dass jedoch immer mit Gewaltbedrohung zu rechnen ist. Wie ist nun dieser Befund unter dem Fokus von Gewalterfahrung zu interpretieren? (1) Wir lesen die Briefe außerhalb ihrer ursprünglichen Kommunikationssituation. Dort genügt ein Stichwort, um die Erfahrungsebene aufzurufen; uns fehlt das situative Wissen. Dennoch können die vagen Formulierungen des Paulus auch einen pragmatischen Zweck erfüllen: In seinen Andeutungen öffnet er einen Raum für belastende Empfindungen, ohne sie auf bestimmte Erfahrungen engzuführen.19 Was die Protagonisten verschärft und auch in lebensbedrohlichen Somatisierungen spüren, fällt seinem Sprachgebrauch zufolge in die gleiche Kategorie wie das Erleben der Adressaten – ein lediglich gradueller Unterschied. (2) Methodisch ist es nur sehr eingeschränkt möglich, hinter der paulinischen Sprache eine Verhaltens- und Erfahrungsebene herauszuschälen. Die Schwierigkeiten können verschiedene Quellen haben – bisweilen, aber nicht automatisch sind sie willentlich von Menschen verursacht und damit gewaltbedingt. Daher muss sich die Analyse von Gewaltbewältigung auf die Stellen beschränken, an denen „Ross und Reiter“ genannt werden. (3) Eine konkrete, breit ausgebaute Spur führt jedoch zur staatlichen bzw. sozial institutionalisierten Gewalt, die in jedem Fall bei Gefangenschaft und Kapitalstrafen, aber auch hinter diversen Formen von „Schlägen“ zu vermuten ist. Dies wird deutlich in 2Kor 11,23–29, wo Paulus existentielle Schwierigkeiten seiner apostolischen Tätigkeit summiert. Dort findet sich nicht nur die längste, sondern auch die aussagekräftigste Konkretion von Gewalt, die Paulus persönlich durchlebt hat. Sie soll nun exemplarisch daraufhin untersucht werden, wie Paulus Gewalterfahrung in seine Biographie20 und in seine soziale Rolle integriert.

18 Vgl. auch den Zustand „wie Sterbende“ 2Kor 6,9. Tägliches Sterben: vgl. Sen., Ep mor 24,20, über die ablaufende Zeit. 19 Zum Identifikationspotential vgl. Schiefer Ferrari, Sprache, 337. 20 Zum biographischen Aspekt vgl. auch Choi, Peristasenkataloge, 177.

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2.2

Exemplarisch: der persönliche Peristasenkatalog21 2Kor 11,23–29

(1)

Rhetorische Funktion

In den Kapiteln 10–13 des 2Kor setzt sich Paulus scharf mit seinen Gegnern auseinander. Seine Reputation als Apostel steht auf dem Spiel; er rückt sich ins rechte Licht, indem er einen Redewettkampf22 inszeniert. Seine Argumentation enthält eine lange Liste von bedrohlichen Widerfahrnissen. Paulus bringt sie ein, wenn er mehr noch als seine Gegner die Bezeichnung „Diakon Christi“ beansprucht:23 „Diakone Christi (di²jomoi WqistoO) sind sie? An der Vernunft vorbei rede ich: Ich noch mehr …“ (2Kor 11,23)

Wie der Verweis auf die Vernunft zeigt, geht es Paulus nicht nur um den Anspruch, sondern auch um die Bewertungsmaßstäbe. Diese gelten bei den Gegnern wie bei den Korinthern, doch Paulus will sie von innen heraus aushöhlen. Nachdem er nachgewiesen hat, nach diesen Maßstäben Prestige beanspruchen zu können,24 demontiert er sie durch subtilen Perspektivwechsel, wie, T. Schmeller folgend, unten noch zu zeigen sein wird. Dabei schillert die ganze Zeit hindurch der Massstab von „Schwachheit“ und „Stärke“.25 Paulus profiliert sich mit unangenehmen Erfahrungen von Lebensgefahr und Gewalt, die die der Gegner übertrifft. Wie diese bewertet werden, ist nun eine Frage der Perspektive: Wer die Gewalt ausübt, betrachtet den Ausgelieferten als den Schwächeren – wer die Gewalt erduldet, kann sich davon mental distanzieren und so innere Stärke reklamieren. 21 Zum Begriff vgl. Ebner, Leidenslisten, 115: „biographische[r] Bezug“ im Unterschied zu „Beispielkatalogen“, die „aufzählen, was jedermann an Mißgeschick passieren kann [kursiv i.O.]“; ebd. 117 Anwendung auf 2Kor 11,23–29. 22 Zur Narrenrede als „Redeagon“, in dem sich Paulus mit den Gegnern vergleicht und bei den Zuhörern als Besserer ankommen will, vgl. Ebner, Leidenslisten, 95–108; vgl. ebd. 97 zur Struktur ; ebd. 106f. und 148–153 zur Korrespondenz von Taten der Gegner (11,20) und Taten des Paulus (11,23–29). Auf den weiteren Kontext der Narrenrede wird aufgrund der begrenzten Fragestellung des Beitrags nicht im Einzelnen eingegangen. 23 „Dieser Titel und der dahinter stehende Anspruch ist der eigentliche Streitpunkt“, Ebner, Leidenslisten, 107. 24 Im Raum steht der Vorwurf der körperlich schwachen Erscheinung (2Kor 10,10), vgl. Ebner, Leidenslisten, 151. 25 Vgl. z. B. zu V. 30 Schmeller, 2Kor II, 263; ebd. 340f. zum „Nebeneinander der Perspektiven“ (ebd. 341). Zum Schillern auch des Selbstruhms an sich, den Paulus vollzieht, von dem er sich aber doch absetzt, vgl. z. B. Schmeller, 2Kor II, 235f. Dieses Problem liegt m. E. auch zugrunde, wenn Heszer, Speech, 237 die Gewalt in 2Kor, 11,23–29 als Sklavenstrafen und damit Zeichen der Niedrigkeit und Schwäche interpretiert; dafür muss sie sie von den philosophischen Texten absetzen, was m. E. nicht zutrifft – in diesen wird der Umdeutungsprozess transparent.

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Doch nun zum weiteren Text: „23 … in Mühen überfließender, in Gefängnissen überfließender, in Schlägen übertreffend, in Todesgefahren häufig. 24 Von Juden erhielt ich fünfmal Vierzig weniger einen, 25 dreimal wurde ich ausgepeitscht, einmal gesteinigt, dreimal erlitt ich Schiffbruch, eine Nacht und einen Tag machte ich in der Tiefe durch. 26 Häufig auf Reisewegen, durch Gefahren von Flüssen, Gefahren von Räubern, Gefahren vom eigenen Volk, Gefahren von Völkern, Gefahren in der Stadt, Gefahren in der Wüste, Gefahren im Meer, Gefahren durch Falschbrüder, 27 in Mühe und Plage, häufig in Schlaflosigkeit, in Hunger und Durst, in Fasten häufig, in Kälte und Nacktheit. 28 Abgesehen von denen darüber hinaus: den täglichen Andrang zu mir,26 die Sorge um alle Ekklesien. 29 Wer ist schwach und ich bin nicht auch schwach? Wer wird zu Fall gebracht und ich brenne nicht?“

In diesem Kontext nennt Paulus nun mit Schlägen, Gefangenschaft und Steinigung auch explizit von Menschen willentlich verursachte Gewalt. Allerdings haben wir es mit einem rhetorisch hoch stilisierten Text zu tun, den Paulus in der Rückschau schreibt. Damit verschwindet das Bewältigungsmuster, das Paulus durch den akuten Schmerz getragen hat. Was bleibt, ist eine biographische Verarbeitung, die Paulus in seine Selbstcharakterisierung aufnimmt.

(2)

Die Topik: Natur-Gewalten – und ihre kulturelle Vorlage

Die Liste der V. 23–29 lässt sich unter dem Stichwort „Missionstätigkeit“ subsumieren:27 Als reisender Verkündiger einer profilierten Botschaft setzt sich Paulus Konflikten aus, nimmt die Gefährdungen und Notlagen des Unterwegsseins auf sich – und belastet sich schließlich mit Begegnungen wie Reibungen im Leben der Gemeinden. Dem Ziel, das Ausmaß des Erlebten darzustellen, entspricht die Listenform – sie umfasst 26 Widrigkeiten28, gruppiert sie jedoch durch verschiedene Anaphern29 : V. 23 24f.

Anapher in Zahlwort

Elemente Mühen – Gefängnisse – Schläge – Todesgefahren 39 (Schläge) – Auspeitschung – Steinigung – Schiffbruch

26

Reise Gefahr durch

Flüsse – Räuber – (eigenes) Volk – Völker – Stadt – Wüste – Meer – Falschbrüder

26 Bei der Wiedergabe von V. 28 schliesse ich mich Schmeller, 2Kor II, 244.260f. an. 27 Dass Paulus generell die Leiden im Zusammenhang mit dem apostolischen Dienst beleuchtet, bemerkt Burz-Tropper, Todesleiden, 81f. 28 Nicht mitgezählt sind die Erläuterung von V. 25d sowie die Überbegriffe V. 26a und 27a. 29 Vgl. Ebner, Leidenslisten, 108–111.

76 (Fortsetzung) V. Anapher 27 Mühe und Plage in 28f. –

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Elemente Schlaflosigkeit – Hunger – Durst – Fasten – Kälte – Nacktheit Andrang – Sorge um Ekklesien – Schwachheit mit Schwachen – Brennen mit Skandalisierten

Die Widerfahrnisse lassen sich auch inhaltlich clustern: Die unterschiedlichen Schläge und das Gefängnis sind Gewalt von Menschen. Daneben treten Gefährdungen durch Naturereignisse wie Schiffbruch und die Gefahren durch Wasser und Wüste sowie ungestillte physische Bedürfnisse (V. 27). In V. 26 mischen sich nun menschliche Akteure und Naturgewalten unter dem Stichwort „Reise“, und es zeigt sich Redundanz: Die Gefahren des Wassers dürften sich teils mit dem Schiffbruch decken; die Gefahren durch eigenes und fremde Völker sowie in der Stadt30 kulminieren in den in V. 24f. benannten Gewaltakten.31 Letzteres legt nahe, dass sich diese Gewalt aus der missionarischen Reisetätigkeit des Paulus ergab; aufgegriffen wird diese schließlich in den Belastungen mit der Seelsorgsarbeit in V. 28f.32 Auffällig bleibt, dass die rhetorischen Strukturen sich mit den inhaltlichen Gruppierungen kreuzen, wenn Naturgewalten und menschliche Gewalt in V. 24f. und V. 26 undifferenziert zusammengespannt werden. Zudem handelt es sich bei den menschlichen Gewaltakten um institutionalisierte Gewalt. In den „Vierzig weniger einen“ kommt eine Tora-Weisung (Dtn 25,1–3) zur Anwendung, d. h. sie wird von einer jüdischen Gruppe als legitime Strafe betrachtet;33 die drei „Stockschläge“ bzw. Auspeitschungen sind in diesem Kontext als gängige römische Strafmaßnahme auf Stadtebene zu verstehen.34 Die Steinigung ist keine 30 Zu weiteren kriminellen Gefahrenlagen in der Stadt vgl. z. B. die Papyrusbelege in ArztGrabner, 2Kor, 493. 31 Vgl. auch bereits die übergreifenden Stichworte Schläge und Todesgefahren in V. 23, die in V. 24 aufgegriffen sind (vgl. Ebner, Leidenslisten, 133); zu V. 26 ebd. 140f. Zur Redundanz vgl. auch Burz-Tropper, Todesleiden, 71. 32 Zum Inhalt vgl. Ebner, Leidenslisten, 144–148. 33 I. d. R. wird die Strafe mit der „Synagoge“ in Verbindung gebracht, vgl. z. B. Arzt-Grabner, 2Kor, 485 („im Synagogenhof vollzogen“); Ebner, Leidenslisten, 134; Schmeller, 2Kor II, 256. Da die Synagoge hier nicht genannt ist, empfiehlt sich methodische Vorsicht bei der Zuordnung zur insgesamt schwer zu umreißenden Institution der Synagoge (vgl. Heszer, Speech, 234). Jos., Ant IV 238 nennt die „öffentliche Lederpeitsche“, aber kein Forum; von Geißelung in Synagogen sprechen Mt 10,17; 23,34; vom Schlagen Mk 13,9; Apg 22,19 – Choi, Peristasenkataloge, 201 bewegen diese Stellen, den Bezug zur Synagoge herzustellen, obwohl der Punkt dort problematisiert wird. Zu beachten bleibt auch, dass Paulus hier keinen determinierenden Artikel verwendet, der eine offiziell-repräsentative jüdische Instanz klarer bezeichnet hätte. 34 Vgl. Ebner, Leidenslisten, 134; Choi, Peristasenkataloge, 202–204; auch Arzt-Grabner, 2Kor, 485, Paulus spiele „offensichtlich auf die römische Prügelstrafe oder Auspeitschung mit

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koordinierte Rechtsmaßnahme – sonst wäre sie tödlich verlaufen –, sondern ein Akt der „Lynchjustiz“:35 Dennoch steht hinter ihr eine Gruppe, die sich als Repräsentant einer Institution oder eines Wertes im Recht sah handgreiflich zu werden. Tatsächlich gibt es für die undifferenzierte Zusammenstellung von Bedrohungen durch Mensch und Natur kulturelle Vorbilder. Auch Seneca und Epiktet, die sehr häufig mit der Auflistung von Widrigkeiten arbeiten,36 kennen sie. Seneca, De tranquilitate animi 11,7, platziert die Gefangenschaft zwischen Krankheit, Einsturz und Feuer als Geschicke, auf die der Mensch sich gefasst machen soll. Als „Angriff“ nennt er in Ep 59,8 Armut, Trauer, Beschimpfung und Schmerz, wobei die Beschimpfung psychische Gewalt impliziert. Epiktet gruppiert Fieber, Seereise, Tod und Verurteilung (II 5,27) oder Räuber, Tyrannen, Winter, Mangel und Verlust von Geliebtem (IV 1,92) zusammen.37 Die Philosophen deuten diese Widrigkeiten als Bewährungsproben, in denen sie empirisch beweisen, wie tragfähig ihre Philosophie ist. Dennoch erstaunt, wie bedrohlich und unberechenbar die staatliche bzw. gesellschaftlich institutionalisierte Gewalt einem antiken Menschen, insbesondere einem Philosophen oder Verkündiger, entgegenkam. Sie wird nicht angefragt, sondern als Geschick ertragen – und das, wie an Paulus zu sehen, in fast schon zu erwartender Widerkehr. Dass die Philosophen diese Gewalt klaglos in Kauf nehmen, dass Paulus sie sogar biographisch vor sich her tragen kann, zeigt, wie wenig moralische Autorität die Gewaltenträger haben, wie wenig die damit erzwungenen Werte geschätzt werden. Dies ruft nach einem Blick in die sozialen Hintergründe. (3)

Realien: Gewalt im sozialen System

Keineswegs beschränkte sich in der griechisch-römischen Umgebung des Paulus die Gewalt auf städtische oder staatliche Institutionen – Gewaltausübung von Privatleuten ist gang und gäbe, beim Ausrauben, beim Widerstand gegen unliebsame Maßnahmen, in Konfliktfällen.38 Da die Behörden nicht flächendeckend arbeiteten, verschafften sich die Geschädigten selbst Rache und Recht;

35 36 37 38

Ruten an“; vgl. aber ebd. Anm. 208, Äquivalenz zu fasces sei nicht belegbar. Vgl. aber Apg 16,22 von städtischen Strategen. Ebner, Leidenslisten, 135; vgl. auch Arzt-Grabner, 2Kor, 486. Vgl. die Zusammenstellung von Belegstellen bei Schiefer Ferrari, Die Sprache, 86f.; 90–92.131f. Vgl. auch Epikt. III 20,12; 24,28f. Vgl. die Belege von Kritzer in Arzt-Grabner, 2Kor, 346; ebd. 345f.: Vorkommen des Begriffs „Schläge“ i. d. R. auf Petitionen oder Anzeigen. Vgl. auch die Belege ebd. 486 zu Steinwürfen; vgl. auch die extremen Beispiele in Fagan, Violence, 467–469.479–483.

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weiterhin blieben Übergriffe ungeahndet, was wiederum die Hemmschwelle senkte.39 Inmitten all dessen zogen die offiziellen Behörden eine brutale und häufig auch unberechenbare Gewaltkulisse40 auf. Sie begann mit Freiheitsentzug und endete mit exponierten Kapitalstrafen, darunter einprägsame öffentliche Hinrichtungen ad bestias – und dies alles ohne jegliche Verfahrenssicherheit.41 Paulus ist in jedem Fall dort in behördliche Verfahren involviert, wo von Gefängnis oder Fesseln die Rede ist.42 Staatliche Gefängnisse waren vom Militär betrieben, städtische Gefängnisse von den Magistraten und ihren Mitarbeitern. Dorthin wurden die vermeintlichen Delinquenten in der Regel auf Anklage hin verbracht, um zunächst ihrem Urteil oder anschließend der Exekution entgegen zu sehen. Die Haftbedingungen waren den Umständen geschuldet – Versorgung oder Zutritt von Angehörigen lagen im Ermessen der Gefängniswärter ; die Schwere der Fesselung variierte. Im schlimmen Fall waren Schmutz, Dunkelheit, Hunger, Durst und schwere Ketten zu erwarten, und dies auch auf unbestimmte Zeit. Mit dem gewaltsamen Freiheitsentzug einher gingen unterschiedslos physische Gewaltanwendungen, um Geständnisse und Informationen zu erzwingen.43 Wenn Paulus dem Gefängnis entkam, dann entweder aufgrund eines Freispruchs, durch Einsatz eines/einer Patron/in,44 die auf informellem Weg die Freilassung erwirkten, durch Amnestie – oder aber durch Flucht, wie in 2Kor 11,32f. geschildert.45 Ansonsten drohten Kapitalstrafen wie Enthauptung oder Verurteilung zum Tierkampf; bei den Philosophen ist auch häufig Verbannung genannt. In alledem spiegelt sich permanente soziale Ungleichheit: Da die Haftbedingungen und Schwere der Übergriffe variieren konnten, wurde mit jeder Maßnahme auch der Grad an sozialer Demütigung inszeniert.46 Zudem sind damit Gewalt und Brutalität ohne Umschweife institutionalisiert und gewinnen den Anschein der Legitimität.47 Das spiegelt sich auch in spontanen Gewaltan39 Vgl. Krause, Gefängnisse, 34.38–43; Fagan, Violence, 476. 40 Zur Gewaltschwelle im Zusammenhang mit spectacula vgl. Fagan, Violence, 471. 41 Vgl. Krause, Gefängnisse, 189–211 zu „Beamtenwillkür“ und „Klassenjustiz“; Fagan, Violence, 476. 42 Zum Folgenden vgl. Krause, Gefängnisse, 64–91.224–234.252–264.271–308. Vgl. auch ArztGrabner, 2 Kor 208–210, der sich häufig auf Krause bezieht, aber auch papyrologische Belege nennt. 43 Zu Gewalt im Rechtssystem vgl. auch Fagan, Violence, 471.475f.; Epikt. I 1,21–25. 44 Vgl. Apg 17,9: Bürgschaft statt Gefangenschaft; zur Bürgschaft anstelle der Untersuchungshaft vgl. auch Krause, Gefängnisse, 66–74. 45 Zur Freilassung vgl. Krause, Gefängnisse, 212–222. 46 Vgl. insgesamt zu Gewalt als Statusdemonstration Fagan, Violence, 475.489f. 47 Vgl. Fagan, Violence, 471.

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wendungen der Behörden, wie wir sie im „Verdreschen“48 mit Stock- oder Peitschenschlägen antreffen. Solcherlei Gewalt entlud sich an denen, die die Gesellschaft als Verbrecher klassifizierte – Mörder, Räuber, Ehebrecher u. a., aber auch an devianten Einzelpersönlichkeiten, die solche Tatbestände nicht erfüllten.49 Hier erwies sich die Idee einer gesellschaftlichen „Ordnung“ als dehnbar, insofern sich nach Ermessen Störungen ausmachen ließen – Unruhestiftung wurde geahndet, auch die Beleidigung von Amtsträgern oder die Tätigkeit von Magiern oder Philosophen.50 Heidi Wendt ordnet das Vorgehen gegen Christen in das übergreifende Vorgehen gegen „freelance religious experts“ ein, die aus eigener Autorität und außerhalb gesellschaftlicher Institutionen agierten und sich dabei auf Götter oder überirdische Wesen, auch Astrologie, bezogen.51 Besonders in den paulinischen Briefen sieht sie Analogien – u. a. in der Bestrafung, was wiederum deren Analogien zu stoisch-kynischen Philosophen als weiteren „freelance experts“ nahelegt.52 Die Zufälligkeit und Unwägbarkeit der Bestrafung mag erklären, weshalb sie von Paulus und anderen in eine Reihe mit den unentrinnbaren Naturschicksalen gestellt werden kann. Dieses Ausgeliefert-Sein an die Umstände trug mit Sicherheit dazu bei, dass sich als Außenseiter Verfolgte von den behördlichen Strafen moralisch emanzipierten – allerdings nicht in Kritik53 und (wohl aussichtslosem) Kampf um ihre Rechte, sondern in innerer Distanz, die sie gegen die beabsichtigten psychischen Straffolgen immunisierte; bisweilen sogar in 48 Kritzer in Arzt-Grabner, 2Kor, 485 bringt Papyrusbelege mit Bezug auf Getreide und spricht von „verdroschen“. 49 Zu Tatbeständen und Inhaftierung insgesamt vgl. Krause, Gefängnisse, 92–135; er führt allerdings „Christen/religiöse Vergehen“ als eigenen Tatbestand auf. 50 Zum Tatbestand der öffentlichen Störung vgl. Ebner, Leidenslisten, 136 mit Verweis auf Apg 16,19–23. 51 Zur Definition vgl. Wendt, Martyrdom, 185; neben den religiösen Experten erwähnt sie auch die Bereiche Philosophie, Medizin, Recht und Rhetorik. Sie beschränkt sich i. W. auf Rom (ebd. 184) und führt beispielhaft an (ebd. 187f.): Ausschaffung bzw. Vertreibungen der Anhänger ägyptischer und jüdischer Riten unter Tiberius (Tac., Ann II 85; vgl. Suet., Tib 36; Jos., Ant XVIII 65–84); die Berichterstattung des Livius über den Bacchanalienskandal – Tradition des Verbots fremder Kulte (XXXIX 16,8–9); Augustus’ Ausschluss ägyptischer Kulte aus dem Pomerium (Dio C. XL 47,3f.; LIII 2,4; LIV 6,6); seine Einschränkungung der Wahrsagerei (Dio C. LVI 25,5; Suet., Tib. 63) und Konfiskation der sibyllinischen und anderer prophetischer Bücher (Suet., Aug 31,1; Tac., Ann VI 12); weitere Maßnahmen unter Tiberius (u. a. Tac., Ann II 32: Vertreibung der Magier und Mathematiker ; Tötung zweier davon durch den Senat; Dio C. LVII 15,8: Tötung der fremden Magier und Goeten; Verbannung der Bürger). Sie setzt dafür zwar die Bedeutung der christlichen Gruppen niedrig an, doch erscheint das strategische Vorgehen gegen die öffentlich aktiven Protagonisten wie Paulus aus der römischen Außenperspektive plausibel. 52 Vgl. Wendt, Martyrdom, 189–193. 53 Bisweilen fällt das pejorative Stichwort „Tyrann“, z. B. Epikt. I 29,5f.; II 6,18f.; IV 7,31.

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Umwertungen, die die Strafen als gottgeschickte Bewährungsproben für wahre moralische Stärke verstanden. Dass nicht-staatliche Institutionen wie jüdische Gruppierungen auch zu Gewaltmaßnahmen griffen, verwundert in diesem Setting nicht. Die „Vierzig weniger einen“ kam unter Berufung auf die Tora zur Anwendung. Sie verfehlt ihre Wirkung auf Paulus insofern, als der sich nicht zu einem Kurswechsel bewegen lässt. Er verweigert die moralische Akzeptanz, wenn er sie insgesamt fünfmal von Neuem über sich ergehen lässt. Die niedrige, unkontrollierte Gewaltschwelle spiegelt sich auch in der Lynchjustiz einer Steinigung, zu der sich eine nicht notwendig formal greifbare Gruppe von Personen offensichtlich berechtigt sah.54

2.3

Auswertung: Integration von Gewalterfahrung

(1)

Moralische Entmachtung der Gewaltquelle

Die Zusammenstellung mit Naturgewalten und die lakonische Aufzählung der Strafwiederholung zeigen, mit welcher Haltung Paulus den Gewaltmaßnahmen gegenübertritt: Auf der einen Seite entlarvt er sie als Willkür, auf der anderen bleibt er – soweit die Willkür systematisierbar ist – in seinen Einstellungen und Überzeugungen außerhalb des Systems. Er lässt sich davon nicht verändern oder gar überzeugen, behauptet also seine moralische Autonomie und verweigert sich bewusst und wiederholt den mit Gewalt eingeforderten Werten. Dabei stützt ihn eine Tradition philosophischen Systemwiderstands, der, wenn auch nicht mit den gleichen Leitwerten,55 die behördliche Gewalt öffentlich nicht ernst nahm und ihr damit ihre Funktion absprach. Bei Epiktet I 30,2f. z. B. wird dies so formuliert:56 „2 … Jener (Zeus) fragt dich nun: 3 ,Exil und Gefängnis und Fesseln und Tod und Ehrlosigkeit – was hast du sie im Studium genannt?‘ ,Ich: Gleichgültiges‘ …“

Epiktet wie Paulus schöpfen ihr Bewusstsein, im Recht zu sein, aus einer inneren Überzeugung – die einen aus einem vernunft- und lebensbewährten Wertkonzept, der andere aus seinem apostolischen Auftrag. Diese Überzeugungen sind jeweils handlungsleitend, auch wenn sie gesellschaftlichen Machtdynamiken und Gruppenkonsensen entgegenstehen.

54 Zum Phänomen der Lynchjustiz und „popular“ bzw. „mob justice“ vgl. auch Fagan, Violence, 478f. 55 Vgl. Schmeller, 2Kor II, 257, auch mit Verweis auf u. a. Epikt. I 30,2f. 56 Vgl. auch z. B. Epikt. I 1,21–25; II 1,35.38f.; Dio C. VIII,16.

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(2)

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Ethos des Aushaltens

Im breiteren Feld kultureller Plausibilitäten finden sich Modelle, die das Aushalten und Überstehen von Schmerzen zur Notwendigkeit und zum Gütekriterium erheben. Die Philosophie zieht die Analogie zum Krieg und zum sportlichen Training57 – Letzterem sei unten zum Hebräerbrief ein ausführlicherer Blick gewidmet. In beiden Feldern gilt es, um eines höheren Zieles Willen Strapazen und physische Schmerzen auszuhalten. Des Weiteren gelten die Zumutungen als Bewährungsprobe, die sogar von Gott selbst geschickt sein können, um die Größe des Erprobten zum Vorschein zu bringen.58 Darüber hinaus bestätigen die Inkaufnahmen der Leiden die Ernsthaftigkeit der Botschaft.59 Gleiches gilt auch für Politiker und Feldherren: „Mühen und Gefahren sind das Material, aus dem der Ruhm gebaut wird“; die Liste des Paulus bietet „Topoi für Leistungs- und Risikobereitschaft“.60 Paulus ruft einen solchen Hintergrund in 2Kor 11 nur assoziativ ins Bewusstsein: in der Gattung des persönlichen Peristasenkatalogs und den Anklängen an die numerischen Tatenlisten, die mit Persönlichkeiten wie Alexander, Diogenes, Herkules oder Augustus verbunden sind, und die ihren Zweck in der Demonstration von Überlegenheit hatten.61 Dennoch ist zu erwarten, dass die kulturellen Muster bei seinem Publikum bereit liegen. Besonders deutlich wird dies, wenn die Liste in V. 27 mit durchwachten Nächten, Hunger/Durst/Fasten und Kälte/Nacktheit62 auch die Lebensumstände des Paulus aufreiht.63 Sie ist von einem philosophischen Ideal durchzogen, das schon Topoi ausgebildet hat: die Bedürfnislosigkeit, vor allem in Bezug auf Nahrung und Kleidung. Schlaflosigkeit wie Mühen gelten als „Zeichen für Einsatzbereitschaft und Strapazierfä-

57 Vgl. zum Training/Agon z. B. die Belege bei Croy, Hebrews, 44–57, ebd. 57: „Athletic imagery in moral exhortation was a commonplace“; zum Krieg z. B. Sen., Prov IV 4.7 (mit Croy, Hebrews, 149f.). 58 Vgl. z. B. Epikt. II 1,38f.; 16,42–44; III 20,12–15. 59 Vgl. Wendt, Martyrdom, 191f. 60 Ebner, Leidenslisten, 153.154; Belege ebd. 153f. (z. B. Cic., Arch 14). Im Gegensatz dazu stehen nach 11,20.22; 12,2–4.7–9 die Gegner (ebd. 155). 61 Vgl. zu beidem Ebner, Leidenslisten, 112–133; ebd. 133 nochmals zur inhaltlichen Spezifizierung: die Tatenlisten sind „grundsätzlich Sieger- und Erfolgslisten“; ebd. 130: „die numerische Auflistung von Folterstrafen und Schiffbrüchen“ ist „auf dem Hintergrund der Gattung auffallend“. 62 Mit Ebner, Leidenslisten, 39–42: Verzicht auf das Untergewand unter dem Mantel als typische Philosophenkleidung. 63 Zu diesem Abschnitt und damit zur Gattung der „Peristasenkataloge[n] der äußeren Lebensumstände“, zu feststehenden, populären Topoi und zur Funktion („Niederschlag der Idealhaltung, wie sie die Philosophie lehrt, nämlich der Unabhängigkeit von äußeren Gegebenheiten“) und paulinisch-christlicher Differenz vgl. Ebner, Leidenslisten, 27–55; Zitate ebd. 30.33; Bezug auf 2Kor 11,27: ebd. 117; weiter ebd. 141–144.

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higkeit“.64 Mit diesem Lebensstil vermittelt der (kynische) Philosoph seine innere Stärke und die authentische Übereinstimmung von Philosophie und Lebenspraxis;65 gleichfalls der Feldherr seine „Führungsqualitäten“66. Geht es Paulus auch nicht um philosophische Haltung, sondern um die Christusorientierung,67 für die er die Nachteile in Kauf nimmt, so kann er sich dennoch sicher sein, dass seine Lebensumstände analog zu denen des Philosophen oder Staatsmanns verstanden werden; zudem, dass das kulturelle Muster des philosophischen Anspruchs und damit eine hohe ethische Bewertung durch die Topik angeregt und auch auf Paulus übertragen wird.

(3)

Rollenmodell: „Diakon Christi“

Schließlich kommt noch die Bezeichnung ins Spiel, die Paulus erst zur Aufzählung veranlasst hat: Die Rolle eines „Diakon Christi“, wie auch seine Gegner sie verstehen,68 wird durch Leidbewährung erworben. Der „Diakon“ in seiner ursprünglichen Bedeutung agiert als Mittelsmann.69 Als solche Diakone Gottes sind nun laut 1Kor 3,5 Paulus und Apollos unterwegs; laut Röm 13,4 kann sogar die Staatsmacht diese Rolle übernehmen. Im 2Kor beansprucht Paulus den Titel, spricht ihn aber den Gegnern ab (2Kor 11,15). Zum einen paraphrasiert der Titel nun die apostolische Tätigkeit – zum anderen aber ist er auch der Umwelt durch Epiktets Diatriben als Bezeichnung für den Philosophen bekannt:70 Der Diakon Gottes steht in seinem unmittelbaren Auftrag und zeichnet sich gerade durch die gottgeschickten Widrigkeiten aus. Damit ist also das Diakon-Konzept an sich 64 65 66 67

Ebner, Leidenslisten, 143. Vgl. Ebner, Leidenslisten, 33. Ebner, Leidenslisten, 144. Zu Differenzen zwischen Paulus und Philosophie vgl. auch Choi, Peristasenkataloge, 28 und schließlich 41: Paulus erleide „in seinen Peristasenkatalogen seine Leiden im Vergleich und im Gegensatz zu der stoischen Bewährung der Tugend im Rahmen einer am Autarkiegedanken orientierter Philosophie existentiell anders“ und verstehe sie „auch theologisch anders“. 68 Choi, Peristasenkataloge, 146 stellt die berechtigte Frage nach der Differenz zwischen „Diakon“ und „Apostel“ als Rollenbezeichnung des Paulus und macht sie an „Ausführung“ (Diakon, kursiv i. O.) im Unterschied zur „Sendung“ (Apostel) fest, erstere impliziere „Geistbegabung“ (vgl. auch ebd. 190). In unserem Kontext allerdings ist für die Wahl der Bezeichnung m. E. ausschlaggebend, dass das Stichwort die Konkurrenten lieferten (vgl. Schmeller, 2Kor II, 252); zudem die begriffliche Assoziationsmöglichkeit zur Philosophie. Die Assoziation zum jesajanischen leidenden Gottesknecht, die Heszer, Speech, 234f. favorisiert, scheint mir dagegen zu weit gegriffen. Zu den geteilten Bewertungsmassstäben vgl. die Argumentation von Schmeller, 2Kor II, 253f. 69 Vgl. z. B. Arzt-Grabner, 2Kor, 259; ebd. zum Verb in Lehrlingsverträgen: die Aufträge des Ausbilders erfüllen. 70 Vgl. hierzu Ebner, Leidenslisten, 156–159, v. a. mit Verweis auf Diss III 24,64–66, die einen persönlichen Peristasenkatalog enthalten.

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schon mit den Widrigkeiten (bzw. auch positiven Umständen) assoziierbar. Umso mehr ist dies der Fall, wenn Christus, der Gekreuzigte71 – und damit prototypischer Träger von Gewalterfahrung für die Sache Gottes –, als Auftraggeber genannt wird. Damit steht zu erwarten, dass seine Diener ein analoges Lebensschicksal, wenn auch mit abgeschwächten Gewalterfahrungen, zu tragen haben.72

(4)

Brechung: Mut zur „echten“ Schwachheit

Eine strukturelle Beobachtung Thomas Schmellers73 hebt einen besonderen Akzent der paulinischen Schwierigkeits- und damit auch Gewaltverarbeitung hervor: Vom Aufbau her korrespondierten die Abschnitte 2Kor 11,21–33 und 12,1–9 – jeder der beiden schliesse nach einem Selbstruhm mit einer Passage, die echte Schwachheit bedeute, mit der Damaskusepisode (V. 32f.) und der Erzählung vom „Stachel im Fleisch“ (V. 7b–9a). Die in der Liste genannten Widerfahrnisse hätten alle ihren Platz unter den überstanden Widrigkeiten um der guten Sache Willen verdient, die sich in einen moralischen Sieg umwerten lassen.74 Paulus schließt sich hier also einer Statusgenerierung an, die auch seine Gegner und evtl. weitere Teile der Bevölkerung teilen. Die Kehrseite dieser „Schwächen“, die innere Stärke, tritt hinter den Widerfahrnissen provokativ hervor. Anders die nachgeklappte Episode von der Flucht aus Damaskus, die laut Schmeller bereits ins Komische tendiert.75 Mit ihr verlässt Paulus die alte Umwertungsstrategie – eine Flucht, das Ausweichen vor Gewalt, lässt sich nicht zu einer impliziten Stärke machen. Sie bleibt, wie man es dreht und wendet, eine schwache Leistung. Hier steht Paulus nicht nur zu vordergründiger, sondern zu eigentlicher Schwachheit, die der Gewalt mit allen Mitteln zu entweichen sucht. Wenn Paulus auch das heroische Ideal der durchgestandenen Leiden bedienen kann, letztendlich bricht er mit ihm und steht, wider alle Statuszuschreibungen, zu seiner Flucht.76 Damit integriert er echte Schwachheit, Angst und Hilflosigkeit in sein Rollenbild und auch in das Rollenbild des Diakons Christi. 71 Zum Bezug und damit zur Differenz gegenüber der Stoa vgl. Ebner, Leidenslisten, 159. 72 Vgl. zur „Zeugnisfunktion“ des Leidens Burz-Tropper, Todesleiden, 87. Ebd. 80–87 auch weitere Überlegungen unter Berücksichtigung anderer Stellen zu Leidbewältigung und Christusbezug in verschiedenen Schattierungen. 73 Vgl. bes. Schmeller, 2Kor II, 254.326f. 74 Vgl. Schmeller, 2Kor II, 263: „in diesem Kontext als Leistungen verstanden“. 75 Vgl. insgesamt zu dieser Stelle (Komik – Schwachheitsdeutung) Schmeller, 2Kor II, 266f. Zu den Realien: Mit Arzt-Grabner, 2Kor, 502 ist von der Wortbedeutung her nicht zwingend eine Festnahme durch den Ethnarchen vorausgesetzt, sondern allgemein ein Druck – evtl. „drohte“ „die offiziell angeordnete Festnahme“. 76 Analog liest Schmeller den Hinweis auf den „Stachel im Fleisch“: Die statusträchtige Himmelsreise werde mit einem nicht positiv bewertbaren Faktum konterkariert.

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3.

Ein Deutungsangebot des Hebräerbriefes: Hebr 12,1–11 und das väterliche Training

Paulus hat sich diskursiv auseinandergesetzt – der Hebräerbrief wählt eine metaphorische Strategie der Leidintegration. Er wendet sich an ein biblisch wie griechisch-römisch sozialisiertes Publikum. Unter den vielfältigen theologisch aufgeladenen Mahnungen und Erläuterungen verwendet er eine heute schwer nachvollziehbare, doch den damaligen Adressaten akzeptable Analogie.

3.1

Situation

Aufschlussreich für die Erlebensebene des Hebräerbriefs ist Hebr 10,32–34.77 Der Autor erinnert seine Adressaten an folgenden „Leidenskampf“: „… 33 einerseits vorgeführt durch Schmähungen und Bedrängnisse, andererseits Partner geworden von denen, die so lebten. 34 Ihr habt nämlich auch mit den Gefangenen mitgelitten und den Raub eurer Besitztümer mit Freude angenommen, wissend, dass ihr selbst einen besseren und bleibenden Besitz habt.“

Wie von Paulus her zu erwarten, stellt sich die Situation differenziert dar : Ein kleiner Kreis ist in Gefangenschaft geraten und damit staatlichen Gewaltmaßnahmen ausgesetzt. Die Adressaten selbst haben „mitgelitten“, d. h. sich empathisch und solidarisch gezeigt, nicht jedoch selbst Gefangenschaft erlebt. Was sie allerdings ohne Unterschied trifft, sind Konfiskation, verbale Gewalt und Stigmatisierung durch Schmähungen sowie die, wie oben erläutert, nicht näher bestimmbare „Bedrängnis“. Dass es sich hierbei um soziale Repressalien handelt, nicht um physische bzw. todesverheißende Gewaltanwendung, bestätigt Hebr 12,4: „Noch nicht widerstandet ihr bis zum Blut.“78 Welche Gruppierungen des sozialen Umfelds allerdings für diese Maßnahmen gegen den breiteren Adressatenkreis verantwortlich sind, erfahren wir nicht. Anders als bei Paulus ergibt sich aus Hebr auch nicht, in welcher Situation sich der Briefautor befindet. Allein Hebr 13,23 nennt eine Freilassung des „Bruders Timotheus“. Doch spricht der Autor nicht allein aus Distanz, sondern schließt sich in Hebr 12,1f. ins Geschehen ein. Dadurch erhält die folgende Mahnung an die Adressaten eine gewisse Erfahrungssättigung – der Autor scheint sein eigenes Bewältigungsmuster weiterzugeben, das er aus der griechisch-römischen Lebenswelt schöpft, allerdings mit einem Zitat aus Spr verbinden kann. 77 Vgl. z. B. Croy, Hebrews, 2.162–164 (Verweis auch auf Hebr 13,4). 78 Vgl. Croy, Hebrews, 163 Anm. 4.

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3.2

Das metaphorische Muster: Sportliche Erziehung (Hebr 12,1–11)

(1)

Text

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Hebr 12,1f. will die Adressaten im Kohortativ motivieren, ihre Situation metaphorisch als sportlichen Wettkampf – hier ein Ausdauerlauf –79 zu deuten und die Rolle von Athleten einzunehmen: „1 Daher, wo auch wir eine so große Wolke von Zeugen um uns liegen haben, alle Last ablegend und auch die schnell umgarnende Sünde, lasst uns mit Ausdauer laufen den vor uns liegenden Wettkampf 2 und dabei schauen auf den Anführer und Vollender des Glaubens, Jesus, der für die80 vor ihm liegende Freude ein Kreuz aushielt, und, nachdem er die Schande verachtet hatte, zur Rechten des Thrones Gottes Platz genommen hat.“

Richtungsweisend ist dabei Jesus als Anführer, der bereits über die Strecke zum Ziel gelangt ist – und den Weg dorthin hinter sich gebracht hat. Das Ziel wird als wünschenswert konnotiert: Die „vor ihm liegende Freude“ korrespondiert in V. 2 chiastisch mit dem „Platz zur Rechten des Thrones Gottes“. Der Weg dorthin ist dagegen äußerst unangenehm: Ein „Kreuz“ ist auszuhalten; auch ihm korrespondiert eine Erläuterung – die „Schande“. Wird das Kreuz also über seine sozialen Konnotationen wahrgenommen, ist damit die soziale Problematik der Gemeindesituation eingefangen; die Konnotation des körperlichen Leids wird dagegen ausgeblendet. Diese Perspektive setzt sich im folgenden Imperativ fort, der mahnt: „3 Bedenkt nämlich denjenigen, der solchen Widerspruch gegen sich von den Sündern ausgehalten hat, damit ihr nicht ermüdet, durch eure Seelen erschlafft.“

Damit fokussiert auch er das Kreuz auf den sozialen Konflikt. Darüber hinaus malt aber auch dieser Vers die Wettkampf-Metaphorik aus, wenn er von „Ermüden“ und „Erschlaffen“ spricht – und damit das Wortfeld ergänzt, das bislang die Zuschauer, die Vorbereitung der Athleten, den ausdauernden Lauf, den Anführer, seine Kondition und den Gegensatz von Weg und Ziel umfasst; zum Wortfeld zählt schließlich auch ein Begriff aus V. 11, das „trainiert werden“.81 Mit dieser Inklusion will auch die folgende Argumentation V. 4–11 unter den sportlichen Vorzeichen verstanden werden, wenn dort nun das Thema „väterliche Erziehung“ dominiert: „4 Noch nicht widerstandet ihr bis zum Blut, gegen die Sünde ankämpfend, 5 und vergessen habt ihr den Trost, der euch wie Söhnen zugesprochen wird: Mein Sohn, 79 Vgl. Croy, Hebrews, 58: Hier sei der Aspekt der Ausdauer hervorgehoben, nicht die Aggression wie bei Boxen oder Ringen. 80 Zur Übersetzung vgl. Croy, Hebrews, 177–185; ebd. 185 wählt er : „for the sake of the joy …[kursiv i.O.]“. 81 Zum Wortfeld in V. 1–3 vgl. ausführlich Croy, Hebrews, 58–70.

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schätze nicht die Erziehung des Herrn gering und erschlaffe nicht, von ihm zurechtgewiesen. 6 Wen der Herr liebt, den erzieht er, er peitscht aber jeden Sohn, den er annimmt. 7 Zur Erziehung haltet ihr aus, wie Söhnen kommt Gott euch nahe. Denn wer ist ein Sohn, den der Vater nicht erzieht? 8 Wenn ihr ohne Erziehung seid, deren Teilhaber alle wurden, seid ihr schließlich Unrechtmäßige und nicht Söhne. 9 Dann: Wir hatten die Väter unseres Fleisches als Erzieher und hatten Respekt. Werden wir uns nicht vielmehr dem Vater der Geister unterwerfen und leben? 10 Diese nämlich erzogen für wenige Tage nach dem für sie Gültigen, er aber zum Nutzen, hin zur Übernahme seiner Heiligkeit. 11 Alle Erziehung scheint nun für die Gegenwart nicht von Freude zu sein, sondern von Traurigkeit, später aber erstattet sie eine friedliche Frucht der Gerechtigkeit denen, die durch sie trainiert sind.“

Für den antiken Hörer gehen Wettkampf- und Erziehungsmetaphorik ineinander über, insofern die sportliche Ausbildung Teil des Erziehungsprogramms war.82 Diese Verbindung ist näher zu beleuchten.

(2)

Vaterrolle und Erziehungsideal

Die Erziehungs- und Agon-Metaphorik bietet eine kulturelle Analogie an, die eine Situation von menschlich zugefügtem Leid integrieren kann. Im Training wie im entscheidenden Kampf ist die unangenehme Belastung notwendige Voraussetzung für ein erstrebenswertes Ziel; Gleiches lässt sich auf ein antikes Erziehungskonzept übertragen, dem zufolge schmerzhafte Maßnahmen wertvolle Fähigkeiten hervorbringen.83 Doch nicht nur die Diskrepanz von Weg und Ziel werden so eingefangen; zudem verbindet sich dies mit dem Konzept von der Wertschätzung durch den Erzieher – in diesem Fall den Vater. Dafür steht in Hebr 12,5 der weisheitliche Mahnspruch Spr 3,11f. LXX84 Pate. Der Spruch ist bereits an dieser Stelle metaphorisch eingesetzt. Er schließt vom erfahrenen Leid auf den Erzieher zurück, ist also keineswegs ein Erziehungsratschlag, wenn er auch zeitgenössische Erziehungspraxis abbildet.85 Er konstruiert als Kausalität, dass schmerzhafte Erziehung Zeichen von Liebe und Akzeptanz sei. Dies ist keineswegs originell, denn eine Parallele findet sich auch in stoischer Linie bei Seneca86, Prov IV 7: 82 83 84 85

Vgl. Croy, Hebrews, 158f. Zu dieser antiken Überzeugung vgl. Fitzgerald, Proverbs, 314–317. Zur Differenz zu MT vgl. z. B. Croy, Hebrews, 89; Fitzgerald, Proverbs, 306–311. Solche gibt es biblisch auch; sie sind an anderer Stelle zu problematisieren. Zum Hintergrund mit Belegen aus der Weisheitsliteratur vgl. z. B. Fitzgerald, Proverbs, 300–306. Zum übertragenen Gebrauch in der Frage nach dem Leid vgl. Cebulj, Umgang, 274. 86 Vgl. insgesamt zum Traktat auch Croy, Hebrews, 147–150, der, wie Karrer, Hebr, 321, auch auf Prov II 5f. eingeht. Analog z. B. auch Epikt., III 26,31f.: Zeus trainiert seinen Sohn Herakles durch die Mühen (vgl. z. B. Croy, Hebrews, 149f.). Beide Autoren/Belege nochmals bei Croy, Hebrews, 196.

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„Die also, die der Gott gelten lässt, die er liebt, härtet er ab, prüft er, beschäftigt er ; die aber, denen er scheinbar gewogen ist, die er zu schonen scheint, spart er ungehärtet für künftiges Unglück auf …“ (ÜS Rosenbach)87

Das dahinter stehende Erziehungsideal, nach welchem Eltern im Abhärtungstraining zu rigorosen Mitteln greifen können, zeigen auch die sprichwörtlichen spartanischen Sitten: Man erzählt sich vom Brauch der Spartaner, die Kinder öffentlich auspeitschen zu lassen – unter den Blicken der Väter, die sie zum Durchhalten anfeuerten (Sen., Prov IV 1188). Seneca sieht besonders die Väter als die harten Erzieher. Er schreibt in De Providentia II 5: „Siehst du nicht, wie verschieden Väter, verschieden Mütter Nachsicht üben? Jene wollen ihre Kinder zu ernster Arbeit frühzeitig angehalten sehen, dulden sie auch an Feiertagen nicht müßig, bringen sie in Schweiß und bisweilen zum Weinen. Dagegen die Mütter wollen sie auf ihrem Schoss hegen, im Schatten halten, sie niemals betrüben, weinen, arbeiten lassen. (ÜS Rosenbach)“

Der Plutarch zugeschriebene antike Erziehungsratgeber De liberis educandis89 muss solcher väterlicher Härte mehrmals gegensteuern und Alternativen zur gewaltsamen Erziehung bewerben (8F; 12C; 13D) – was zeigt, dass die Schläge doch ein Mittel der Wahl waren. Er kritisiert z. B. falschverstandene Vaterliebe, die aus Ehrgeiz den Kindern übermäßige Lasten aufbürdet (9B). Den Aufwand einer Erziehung, so die Logik von V. 6, betreiben Väter nur, wenn sie ihren Sohn fördern und als rechtmäßigen Nachfolger aufbauen wollen. „Sohn“ ist man im römischen Denken nämlich nicht per Geburt, sondern erst durch den Rechtsakt des Vaters, der den Sohn akzeptiert – oder, z. B. im Falle eines Sklavenkindes, eben auch nicht.90 Der Aufwand bestätigt den Sohnesstatus. An den Schmerzen der Erziehung zeigt sich, dass der Vater in den Sohn investiert, so der Tenor von V. 7f. In V. 9f. folgt nun der Schluss von der menschlichen Erfahrung auf Gott. Wurde die Erziehung durch menschliche Väter akzeptiert, um wie viel mehr ist also auch die Erziehung Gottes zu akzeptieren. V. 11f. hält schließlich den Sinn der Erziehungsmaßnahmen fest: Sie sind Training, d. h. in antiker Logik: unangenehme Anstrengungen für ein erstrebenswertes Ziel. Die Trainingsmetaphorik gibt dem Autor eine damals plausible Erfahrungsbasis an die Hand, um seine Forderung nach zielgerichteter Ausdauer in einer Leidenssituation zu untermauern, die v. a. durch psychische Gewalt von außen, aber auch durch Repressalien gekennzeichnet ist. Das kulturelle Muster von sportlicher Erziehung versucht, die Erfahrungen als notwendiges Trainingsstadium und väter87 88 89 90

Das Schicksal gilt ihm als Kampf, durch den Mut und Kraft trainiert werden (IV 12). Zur Stelle vgl. Karrer, Hebr, 319f. Verweis bei Backhaus, Hebr, 421. Vgl. Ebner, Stadt, 168f.

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liche Zuwendung aufzuwerten. Wie auch in 2Kor 11 – und noch viel öfter in der urchristlichen Literatur – ist die Verbindung zum Gekreuzigten, hier nicht als Auftraggeber, sondern als Vorbild, maßgeblich, um die Plausibilität zu unterstützen.

4.

Fazit

Die beiden erläuterten Beispiele, 2Kor 11,23–29 und Hebr 12,1–11, spiegeln Gewalterfahrungen, die Menschen in ihrer Rolle als Verkündiger der christlichen Botschaft bzw. Christusgläubige erlitten. Gleichzeitig spiegeln sie Strategien, wie diese Erfahrungen – von massiver körperlicher Bedrohung bis zu verbalen Repressalien – in einen Sinnzusammenhang eingebunden werden. Beide lehnen sich an die Gestalt des Gekreuzigten an, darüber hinaus aber an die Plausibilitäten ihrer Umgebung: Paulus kann auf philosophische Bausteine zurückgreifen und sie auf seine apostolische Rolle hin modifizieren; er kann sich auf ein Ethos des Aushaltens stützen, das die Ohnmacht des körperlich zugefügten Leids in mentale Stärke umdeuten kann. Dabei zeigt sich aber auch, wie schillernd diese Leiderfahrung aus den Perspektiven des Akteurs oder des Erleiders gedeutet werden kann. Paulus öffnet schließlich den Raum für die Flucht vor der Gewalt. Der Hebräerbrief veranschaulicht in der Analogie sportlicher Erziehung, wie unangenehme Zufügungen mit einer guten Ursache und einem wertvollen Ziel verbunden werden können. Wie der paulinische Peristasenkatalog optiert der Hebräerbrief für das Aushalten der Gewalt – eine Haltung, die marginale Protagonisten jenseits einer freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung einnehmen. Die Bewältigungsstrategien der Texte haben ihre Grenzen. Was sie nicht thematisieren, sind Gewalterfahrungen außerhalb der Rolle der Christusgläubigen – also z. B. Gewalt im privaten oder beruflichen Umfeld. Für diese Situationen sind die Texte nicht geschrieben. Zudem schöpfen sie ihre Plausibilitäten zum großen Teil aus dem kulturellen Umfeld – sie greifen biblische, philosophische, sozial praktizierte Konzepte auf. Wie zeitbedingt diese sind, zeigt sich in der philosophischen Passivität; vor allem aber in einem gewaltorientierten Erziehungskonzept, das heute nicht mehr haltbar ist. Zweierlei könnten diese Analysen für einen heutigen Umgang mit Gewalt austragen: 1. Vor aller Reflexion über die Bewältigung von Gewalt steht die Vermeidung von Gewalt – die Möglichkeiten dazu sind abhängig vom gesamtgesellschaftlichen System, seinen Werten, seiner Gewaltkulisse. Diese Strukturen sind, sofern die Möglichkeit besteht, so auszurichten, dass Gewalterfah-

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rungen vermieden werden.91 Nur wo das nicht realisierbar ist, setzt eine Reflexion über die Bewältigung erlebter Gewalt ein – sonst macht sich ein Ethos des Aushaltens zum stillen Komplizen des Unrechts. 2. Wo Menschen dennoch die Erfahrung von Gewalt nicht erspart bleibt, fordern solche biblischen Texte die Seelsorge bzw. Therapie heraus. Sie haben das verantwortungsvolle Erbe der hier vorgestellten Bewältigungsmuster angetreten und reflektiert. Wenn die kulturellen Plausibilitäten biblischer Texte ggf. nicht (mehr) greifen – gelingt es dann, mit den Betroffenen den bitteren Weg der Aufarbeitung und Bewältigung zu gehen und dabei eigene Strategien zu entwickeln? Ob diese verfangen, können letztlich nur die Leidtragenden selbst entscheiden.

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91 Die Problematik der Legitimation von Gewalt und die damit verbundene Wertdebatte liegen auf der Hand. Vgl. z. B. kurz Leutzsch, Gewalt, 5f.

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Krause, J.-U., Gefängnisse im Römischen Reich (Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien 23), Stuttgart 1996. Kremer, J., Art. hk¸xir jtk., in: EWNT3 (2011) 375–379. Leutzsch, M., Gewalt und Gewalterfahrung im Neuen Testament. Ein vergessenes Thema der neutestamentlichen Wissenschaft, in: ZNT 9 (2006) 2–13. Lüdemann, G., Art. rbq¸fy jtk., in: EWNT3 (2011) 907f. Schiefer Ferrari, M., Die Sprache des Leids in den paulinischen Peristasenkatalogen (SBB 23), Stuttgart 1991. Schmeller, T., Der zweite Brief an die Korinther, Bd. 1 und 2 (EKK VIII/1 und 2), Neukirchen-Vluyn / Ostfildern 2010 bis 2015. Wendt, H., Ea Superstitione. Christian Martyrdom and the Religion of Freelance Experts, in: JRS 105 (2015) 183–202. Zeller, D., Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 2010.

Systematische Reflexionen

Thomas Ruster

Das Kreuz Jesu und die Transformation der Gewalt

1.

Die Weltkriegsgesellschaft

Wir stehen hilflos vor der Gewalt. Die aufgeklärte Gesellschaft kommt mit dem Problem der Gewalt nicht zurecht. Ihre Mittel zur Überwindung von Gewalt sind unzulänglich, sie rufen Gewalt eher hervor als dass sie sie vermindern. Auf diese These laufen die 1200 Seiten der Säkularisierungsgeschichte des kanadischen Philosophen Charles Taylor zu.1 Das allabendliche Fernsehprogramm gibt ihm Recht. Da werden unablässig Mordfälle aufgeklärt, aber ein Ende des Mordens ist nie in Sicht, sondern nur die nächste Folge der Serie. Die Aufklärung der Gewalttaten, die Einsicht in ihre Gründe und Motive, die Einblicke in die Seelen der Täter können und wollen den nächsten Mord nicht verhindern. Das Fernsehen mit seinem überdimensionierten Anteil an Krimis sowie eine entsprechende, sich in immer grausamerer Schilderung der Gewalt ergehende Literatur üben einen Normalisierungsdruck aus, dem man sich kaum entziehen kann. Hätte Gott das heutige Fernsehprogramm schon gekannt, er hätte weniger entsetzt auf den Mord Kains an Abel reagiert. Geht es dann weiter mit den Nachrichten, werden wir allabendlich mit Berichten über Krisenherde, über Kriege, bürgerkriegsartige Auseinandersetzungen und Flüchtlingsströme konfrontiert. Die Friedensbemühungen der Politiker wirken hilflos. Militärische Interventionen, sogenannte Friedensmissionen, schaffen selten oder nie den Frieden, den man sich von ihnen verspricht. Dagegen laufen die Waffenproduktion und der Rüstungshandel auf Hochtouren – wer weiß denn schon, wie ernstgemeint die Friedensbemühungen von Staaten, die an der Rüstung verdienen, wirklich sind. Michel Foucault hat zu beweisen versucht, dass die Politik in der Moderne die Grenze zwischen Krieg und Frieden verwischt hat. Die Übergänge vom Frieden zum Krieg sind fließend geworden. Der industrialisierte Krieg hat die räumliche und zeitliche Trennung von Krieg und Frieden aufgehoben, das industrialisierte Schlachtfeld ist immer um1 Taylor, Zeitalter, 1028ff.

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kämpft.2 Es scheint, dass er Recht hat. Hat der Erste Weltkrieg eigentlich jemals aufgehört, ist er nicht vielmehr aus Erschöpfung zusammengebrochen, um jederzeit wieder aufzuflammen, nicht nur im Zweiten Weltkrieg, sondern ebenso in den unzähligen regionalen Konflikten, die zusammengenommen jederzeit die Dimension eines Weltkriegs haben? Die Weltgesellschaft ist eine Weltkriegsgesellschaft. Dabei haben wir die Gewalt gegen Tiere und Natur, die Gewalt am Arbeitsplatz, die sexuelle Gewalt, die häusliche Gewalt noch gar nicht erwähnt. Nach Taylor stehen sich heute drei Positionen zur Gewalt gegenüber. Die eine ist die des säkularen Humanismus, die auf Gewalt nur mit Ausgrenzung reagieren kann. Ihr steht eine Richtung gegenüber, die Gewalt für unüberwindlich hält – sei es, dass sie darauf mit Verherrlichung der Gewalt reagiert wie Nietzsche und die Neonietzscheaner, sei es, dass sie wie Freud die Unüberwindlichkeit der gewalthaften Triebe resignierend beklagen. Schließlich gibt es noch die christliche Position, die Taylor auf die Formel Transformation der Gewalt bringt.3 Letzterer will ich auf die Spur kommen. Was kann, oder besser, was könnte aus dem christlichen Glauben erwachsen, um Gewalt zu überwinden? Was sagt uns hierzu das Kreuz Jesu? Ist es selbst das Fanal von Gewalt oder bringt es die Erlösung von Gewalt? Um den christlichen Beitrag zu verstehen, ist es zuerst nötig, die beiden anderen von Taylor genannten Strategien im Umgang mit dem Problem der Gewalt zu erfassen.

2.

Exklusion von Gewalt

Die neuzeitliche Gesellschaft geht aus den Religionskriegen hervor. Konfrontiert mit der Gewalt zwischen den religiösen Konfessionen, suchte sie die gesellschaftliche Ordnung anders als durch den Rekurs auf einen göttlichen Urheber und dessen ewiges Gesetz zu begründen. Die Grundlage der Gesellschaft sollte allein die Vernunft sein. Wichtig sind die Konsequenzen, die daraus für das Verständnis des Bösen und der Gewalt erwachsen. Die unerlaubte Anwendung von Gewalt ist jetzt nicht mehr ein Vergehen gegen göttliche Gebote, gegen eine von außen gesetzte göttliche Ordnung. Sie ist auch nicht in erster Linie eine unmoralische Tat. Ihre Bedeutung ermisst sich auch nicht allein nach der Schwere des begangenen Verbrechens. Der Verbrecher ist vielmehr in erster Linie jemand, der unvernünftig handelt. Er vergeht sich gegen die Ordnung der Vernunft, die die Gesellschaft trägt und die eigentlich auch in seinem Interesse liegen müsste, denn sie ist ja aus der Vernunft aller erwachsen. Der Verbrecher ist weniger eine amoralische als vielmehr eine unvernünftige Person, im Grenzfall 2 Vgl. Foucault, Licht. Vgl. dazu Hüppauf, Transformation, 49–82, bes. 50f. 3 Vgl. Taylor, Zeitalter, 1058f. 1107–1115.

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ein Irrsinniger, der einfach nicht verstehen kann oder will, dass die Ordnung, der er zuwiderhandelt, auch für ihn nützlich ist. Die auf Vernunft gründende Gesellschaft kann verbrecherische Gewalt nur exkludieren, denn der Verbrecher bezeugt durch seine Tat seine Unvernunft. Die Gesellschaft als Ganze steht immer auf der Seite der Vernunft bzw. der aus der Vernunft hervorgegangenen Ordnung, die sich heute als die freie Marktwirtschaft präsentiert. Wer die Vernunft der freien Marktwirtschaft nicht akzeptiert, bestraft sich selbst. Die Freiheit des Menschen gründet in der Übereinstimmung mit dem Nutzenkalkül aller. Der Staat braucht eigentlich nicht mehr zu regieren, ist doch der Markt die Stimme der Vernunft, die zu internalisieren der vernünftigen Autonomie eines jeden obliegt. Die Gesellschaft will die böse Gewalt einfach ausschließen oder therapieren, aber damit wird die „komplexe, widersprüchliche Natur des Bösen … disambiguiert“, so Taylor.4 Die Exklusionsstrategie kann die Faszination des Bösen und der Gewalt nicht erklären, die es immer gegeben hat und die es weiterhin gibt. Die „ungebändigte Seite“ des Menschseins einfach als krank oder irrsinnig zu erklären, reicht nicht aus. Die reduktionistische Auffassung der Gewalt führt zur Spaltung und schließlich zur Verachtung der eigenen Persönlichkeit und ihrer immer vorhandenen gewalthaften Anteile.5 Dazu passt, dass Ventile zum Ausleben der Gewalt, wie es sie früher gegeben hat – der Karneval, öffentliche Hinrichtungen, Stierkämpfe usw. – immer mehr eingeschränkt werden.6 Dass aber, und darin liegt die Pointe der Analysen Taylors, der Kampf gegen die Gewalt in dem Bewusstsein, auf der Seite des Guten und der Vernunft zu stehen, neue Ausgrenzung und damit neue Gewalt hervorruft, das erst macht das Dilemma der Gewalt vollends deutlich: „Je höher die Moral, desto maßloser der Hass und daher die Verheerung, die wir anrichten können, ja müssen. … Jetzt bleibt nur noch der verbissene, schonungslose Kampf gegen das Böse.“7

3.

„Der Mythos der erlösenden Gewalt“

Die als nietzscheanisch gekennzeichnete Position liefert uns die meiste Unterhaltung in der Film- und Fernsehindustrie, angefangen von den Zeichentrickfilmen für Kinder bis zu den Blockbustern der Hollywood-Produktion. Immer sehen wir da Helden, die unter extremem Einsatz von Schusswaffen und sons4 5 6 7

Ebd., 1037. Vgl. ebd., 1112–1114. Vgl. ebd., 1094. Ebd., 1176.

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tiger Gewalt gegen Bösewichter kämpfen – gegen Monster oder internationale Verbrechersyndikate, Schurkenstaaten oder Außerirdische. Meistens steht das Schicksal der Welt auf dem Spiel, und nur dem Einsatz der Helden ist zu verdanken, dass die Welt einstweilen weiterläuft. Aber dazu braucht es den skrupellosen Einsatz von Gewalt, von sehr viel Gewalt. Wie viele Tote säumen eigentlich den Weg des charmanten Sonderagenten James Bond? Wie viele Zeichentrickfiguren werden zu Brei geschlagen, bevor der Held am Ziel anlangt? Walter Wink, ein amerikanischer Theologe, spricht vom „Mythos der erlösenden Gewalt“ als der eigentlichen Religion unserer Zeit: „Der Mythos der erlösenden Gewalt ist der tragende Mythos der modernen Welt. Weder Judentum noch Christentum noch Islam, sondern allein die Gewalt ist die herrschende Religion unserer heutigen Gesellschaft.“8

Sowohl Wink wie Taylor betonen, dass die Vorstellung von der erlösenden oder heiligen Gewalt uralte religiöse Wurzeln hat.9 Im babylonischen Schöpfungsmythos führen es die Götter selbst vor, dass durch gewaltsame Tötung neues Leben entsteht: „Marduk ermordet und zerstückelt Tiamat und erschafft die Welt aus ihrem Kadaver.“10 Die Götter billigen heilige Kriege, heilige Massaker, sie machen sich die Gewalt zunutze, um ihren Willen durchzusetzen. Im religionsgeschichtlich hoch aufgeladenen Phänomen des Opfers überkreuzen sich göttliche und menschliche Gewalt: Blut muss fließen, um die Götter zu besänftigen, Tod muss sein, um Leben zu erzeugen. Wer auch nur ein wenig vom Christentum kennt, weiß, wie sehr und oft wie wenig glücklich die Kirche versucht hat, die religiösen Opfertraditionen aufzunehmen und sie in einem christlichen Sinne so zu transformieren, dass das höchste Opfer – das Opfer Jesu Christi am Kreuz – zugleich das Ende aller Opfer, das Ende göttlich legitimierten Gewaltanwendung bedeutet. Aber sei es nun infolge oder gegen den christlichen Einfluss: Die zutiefst heidnisch-religiöse Auffassung von der heiligen Gewalt beherrscht heute wieder unsere Welt. Die Unzahl von Filmen, elektronischen Spielen oder Büchern, die die erlösende Gewalt verherrlichen, sind religiöse Propaganda reinsten Wassers. Sie legitimieren und motivieren die tatsächliche Gewaltanwendung, die tagtäglich geschieht. So ist es die von Taylor genannte zweite Position, die sich heute de facto durchgesetzt hat. Sie ist, das sei noch einmal betont, eine zutiefst religiöse Position. Der säkulare Humanismus, der die Religion aus der Gesellschaft heraushalten wollte, weil er sie für die Gewalt verantwortlich machte, ist an sein Ende gekommen, denn Religion ist wieder da

8 Wink, Verwandlung, 49. 9 Vgl. Taylor, Zeitalter, 1075–1082. 10 Wink, Verwandlung, 51.

Das Kreuz Jesu und die Transformation der Gewalt

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und mit ihr die Gewalt. Christen aber sollten sich fragen, wie es mit ihrer Beteiligung an dieser Religion steht.

4.

Transformation von Gewalt – das christliche Modell?

Blickt man auf die Rolle von Christentum und Kirchen in den beiden Weltkriegen, den bisher massivsten Gewaltexzessen der Geschichte, so ist zunächst für die Überwindung der Gewalt vom Christentum gar nichts zu erwarten. Denn die Kirchen haben in den beiden Weltkriegen nichts getan, um die offensichtlich sinnlose Gewalt auch nur einzudämmen, geschweige denn zu verhindern. Sie haben im Gegenteil zu Heldenmut und Opfergesinnung, zu Gehorsam gegen die Obrigkeit und zu nationalistischer Parteilichkeit aufgerufen und damit viel für die „Kampfmoral“ der Soldaten auf beiden Seiten der Front geleistet. Die Kirchen, die doch auf beiden Seiten vertreten waren – Christen kämpften gegen Christen! – haben es noch nicht einmal zustande gebracht, die Bindung an Glauben und Kirche als Korrektiv gegen das nationalistische Freund-FeindSchema zur Geltung zu bringen, haben dagegen immer noch Gründe gefunden, um das „Gott mit uns“ in allen Kriegsparteien zu proklamieren. Das sollte offen eingestanden werden. Die Kirchen sind nicht besser gewesen als die Gesellschaften, deren Teil sie sind. Und doch: Es gibt einige zugegeben recht kryptische Hinweise, die darauf hindeuten, dass im christlichen Glauben ein Potential zur Transformation von Gewalt steckt. Der Heilige Sebastian, ein Soldat der römischen Prätorianergarde, wurde, nachdem er sich zum Glauben bekannt hatte, auf Befehl des Kaisers Diokletian von Bogenschützen niedergestreckt, und, als das nicht reichte, noch mit Keulen erschlagen. Man kennt die Bilder des nackten jungen Mannes mit den Pfeilen im Leib. Sebastian ist der Patron der Schützenbruderschaften.11 Er ist der Patron derjenigen, die mit Schießgerät umgehen. Für sie wäre ein Sebastianus ein mögliches Ziel. Aber sie schießen nicht auf Menschen, sondern auf Tontauben. So hat das katholische Schützenwesen einen Weg gefunden, Gewalt zu transformieren. Weiterhin darf da geschossen werden, aber Menschen kommen nicht zu Schaden. Vielleicht ist es unvermeidlich, dass Männer mit Schießprügeln herumlaufen, aber in diesem Fall tun sie es ohne jemandem gefährlich zu werden. Schließlich ist Sebastian ihr Patron, der selbst ein Opfer von Schusswaffen gewesen ist. Man kann nicht den Heiligen Sebastian verehren und weiterhin Menschen erschießen. Wir finden hier ein ähnliches Schema wie auch bei anderen Märtyrern und Märtyrerinnen. Der Hl. Apollonia schlug man die Zähne aus, sie wird bei Zahnschmerzen angerufen. Der Heilige Dionysius wurde ent11 Vgl. Jacobus de Voragine, Legenda, 78–85.

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hauptet, er ist zuständig für Kopfschmerzen. Es scheint, dass durch das Erleiden einer Sache eine besondere Kompetenz entsteht, diese Sache zum Guten zu wenden. Man muss es durchlitten haben, um es heilen zu können. Sebastian hat Gewalt erlitten, er weiß von ihr zu heilen. Der Moralismus der modernen Welt, von dem Taylor spricht, ist in der Märtyrerverehrung unterlaufen. Es bekämpfen nicht die Guten und Vernünftigen die Bösen mit verbissenem Hass, sondern die Opfer bekehren die Gewalttätigen, indem sie sich als Opfer kenntlich machen. Das Opfer wird von den Protagonisten der Gewalt verehrt; die Zwei-Seiten-Form der Moral ist überwunden. Zieht man diese Linie der Volksfrömmigkeit weiter aus, gelangt man zur Eucharistie. Wandlung ist deren Kerngeschehen, transformatio, die um eine Person kreist, die Opfer schlimmster Gewalt geworden ist. Jesus Christus, zu Unrecht angeklagt, gegeißelt und gekreuzigt, stiftet Frieden. Offensichtlich ruft er nicht zu Hass oder Vergeltung auf, sondern bringt die Gottesdienstbesucher dazu, sich den Frieden zu wünschen. Aus dem Gedächtnis an das Opfer der Gewalt erwächst eine friedliche Mahlgemeinschaft. Um das zu erklären, müsste man alle eucharistietheologischen Ansätze auswerten. Eine, die auf das Gewaltproblem in besonderer Weise zu beziehen ist, sieht die Wandlung als ein ökonomisches Geschehen. Die Gläubigen bringen ihre Gaben mit zur Feier. Das eigentlich meint ja die Darbringung der Gaben, die Gabenbereitung. Sie wollen sie Gott zum Opfer darbringen, so versteht es die katholische Kirche. Das Ganze läuft zunächst ab wie eine antike Opferfeier. Mit ihrer Darbringung wollen die Leute etwas von Gott erlangen („dass es uns das Brot des Lebens und der Kelch des Heiles werde“, so heißt im Darbringungsgebet), und sie hoffen darauf, dass diese Gaben Gott wohlgefällig sind und von ihm angenommen werden. Dieses noch ganz im Modell des Gabentauschs verstehbare Verhalten wird dann gewandelt. Was als Opfer beginnt, kommt nicht damit durch, ein Opfer zu sein, sondern es wird zur Gabe Gottes an die Gläubigen.12 Die Wandlung geschieht durch das Gedächtnis an den, der selbst Opfer gewesen ist. Durch ihn wird die Logik des Gebens und Nehmens aufgebrochen. Er gibt sich hin, lässt sich verzehren, wird zur Speise, zum „Brot des Lebens“ (Joh 6,48). Das Resultat ist, dass alle miteinander Kommunion feiern können, d. h. eine Mahlzeit, bei der für alle genug da ist und alle satt werden, auch und gerade die Armen. Die Gaben, die als Gabe an Gott gedacht waren, werden zur Nahrung, die man miteinander teilt. Rein ökonomisch betrachtet handelt es sich um die Wandlung von Privateigentum zu Gemeineigentum, also um das Gegenteil dessen, was normalerweise in der Ökonomie geschieht.13 Die Asymmetrien der Ökonomie werden in der 12 Vgl. Stock, Gabenbereitung, 33–51; Ruster, Wandlung, 137–156. 13 Bei den Erntedankfeiern kann man dies zuweilen noch erleben: Was die Bauern zum Altar bringen, wird an die Gottesdienstbesucher verteilt.

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Eucharistie im Prinzip dadurch überwunden, dass das Privateigentum und seine Vermehrung zu Lasten des Gemeinwohls aufgehoben werden.14 In der Urgemeinde der Christen „nannte keiner etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam“ (Apg 4,32). In der Feier des Herrenmahls war das grundgelegt. Paulus kritisiert in Korinth heftig eine Praxis der Eucharistie, bei der „jeder seine eigenen Speisen verzehrt, und dann hungert der eine, während der andere schon betrunken ist“ (1Kor 11,21). Das christliche Programm zur Transformation von Gewalt ist eine Wandlung von der Ökonomie des Tausches zu einer Ökonomie der Gabe. Schlimm, dass davon heute so wenig zu bemerken ist.

5.

Jesus und die Gewalt

Um hinter der verkrusteten Fassade der Eucharistiefeiern den transformatorischen Vorgang zu entdecken, müssen wir weiterschauen – auf den, der da nach dem Glauben der Kirche gegenwärtig ist. Jesus hatte offenbar etwas an sich, was die Mechanismen der Gewalt außer Kraft setzte. Er war wohl so sehr mit sich einig, so sehr mit seinem inneren Selbst verbunden, dass sich in seiner Gegenwart gewalthafte Obsessionen nicht halten konnten. Die Bibel berichtet davon unter dem Titel der Dämonenaustreibungen. Da war zum Beispiel jener Besessene, der bei Gerasa in den Grabhöhlen hauste und den man mit Ketten gefesselt hatte; er hatte aber die Ketten bereits zerrissen, schrie herum und schlug sich mit Steinen. Jesus brauchte nur zu sagen: „Verlass diesen Mann, du unreiner Geist“, da wich der Zwang zur Gewalt von dem Mann, und er saß ordentlich da und war wieder bei Verstand (Mk 5,1–20). Der Mann war wie verwandelt. Jesus hatte aber nicht gegen den Mann oder dessen unreinen Geist gekämpft, so wie die, die ihm die Ketten anlegt hatten, sondern verständig mit ihm gesprochen, das heißt eigentlich mit den Dämonen, die ihn besetzten. Mit Dämonen kann man reden, ja sogar ihre Bitten erfüllen (in die Schweine auszufahren), man muss sie nicht bekämpfen. Jesu Auftreten verändert die Konstellation, die bei seinem Eintreffen besteht: Dort der Besessene, eine Gefahr für sich und andere, hier die Leute, die ihn wiederum mit Gewalt zu bändigen versuchen. Aber Jesus macht es nicht mit Gewalt. Die Worte, die Jesus in der Bergpredigt über die Feindesliebe sagt, bringen die Erfahrungen auf den Punkt, die er mit der feindlichen Gewalt gehabt hatte: „Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand“ (Mt 5,39), „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen“ (Mt 5,43). Man würde zu kurz greifen, dies nur als einen ,unmöglichen‘ Appell an die Herzen aufzufassen – wie soll das gehen, seine Feinde zu lieben? Es ist viel eher eine weisheitliche 14 Dazu Bieler / Schottroff, Abendmahl, 168–173.

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Strategie: „Nicht zu dem werden, was wir hassen.“15 Werdet nicht zu dem, das ihr bekämpft! Lasst euch nicht in das System des Gegners hineinzwingen! Walter Wink sieht darin die wesentliche Anweisung Jesu zur Überwindung der Gewalt. „In ihrem Widerstand gegen Hitler wurden die Vereinigten Staaten zu einer militarisierten Gesellschaft. In ihrer Opposition gegen den Kommunismus waren die USA, ebenso wie ihre Gegner, bereit, die Welt in Brand zu setzen. … ,Man wird immer zu dem, was man am stärksten bekämpft‘“.16

Systemisch gesehen, ist diese Angleichung an den Gegner offensichtlich das Programm militärischer Konflikte. Im Ersten Weltkrieg war das beispielhaft zu beobachten: Hat der Gegner Giftgas, musst du es auch haben, hat der Gegner Panzer, musst du sie auch haben.17 Das kann man dann bis zur Erschöpfung weiterführen, aber eine kluge Taktik sieht anders aus. Mit der Bergpredigt ist Jesu Auseinandersetzung mit der Gewalt noch nicht beendet. Es kommt noch etwas: dass er selbst zum Opfer der Gewalt wurde. In den Streitgesprächen während seiner letzten Tage erleben wir ihn keinesfalls als stillen Dulder. Im Gegenteil, und das wird viel zu wenig gesehen: Durch seine Worte und Taten provoziert er seine Gegner bis aufs Äußerste. Immer wieder heißt es von seinen Gegnern, dass sie nach den Gesprächen mit ihm nach einer Gelegenheit suchten, ihn umzubringen (z. B. Mk 11,18; 12,12). Unmittelbare Todesgefahr, in die sich Jesus begab und der er nicht auswich!18 Seine Gegner : Das waren die Repräsentanten der ökonomischen, politischen und religiösen Macht. Mit ihnen legt er sich an – gewaltfrei, aber doch in unüberbietbarer prophetischer Schärfe. Und dann geschieht, was geschehen musste: Sie schaffen es ihn umzubringen, sie wirken alle zusammen, um diesen Justizmord zu vollziehen. Hat also die Gewalt über den Gewaltlosen gesiegt? Aber wie stehen sie denn da, diese Mächte, als Jesus am Kreuz hängt? Sie sind durchschaut, sie sind lächerlich gemacht: der Hohe Rat, der auf falsche, widersprüchliche Zeugen zurückgreifen muss (Mk 15,56); König Herodes mit seiner peinlichen Sensationssucht und Wundergier (Lk 23,6–12); die Tempelleute mit ihrer demagogischen Aufwiegelung des Volkes (Lk 23,13–25)19 ; schließlich Pilatus, der, überzeugt von Jesu Unschuld, ihn doch aus politischen Opportunitätsgründen zum Tode verurteilt (Joh 19,8–16). Am Ende sind sie alle blamiert. Was immer sie als Motive für ihr Verhalten geltend machen – die Erhaltung des Tempels, die Reinheit der Gottesverehrung, die politische Ordnung – es ist doch alles erlogen 15 16 17 18 19

Wink, Verwandlung, 109. Ebd., mit einem Zitat von C.G. Jung. Dazu Münkler, Krieg, 448–459. Vgl. Füssel / Füssel, Körper ; Sobrino, Christologie, 278–282. Dass hinter den Rufern des „Kreuzige ihn“ Leute standen, die vom Tempel ökonomisch profitierten, hat Theißen, Studien, 142–159, wahrscheinlich gemacht.

Das Kreuz Jesu und die Transformation der Gewalt

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von ängstlichen, macht- und geldgeilen Seelen. Jesus aber, das Opfer ihrer Umtriebe, geht in Würde in den Tod. Er lässt es zu, dass sich die Mächte an ihm austoben. Und sich dabei demaskieren, der Lächerlichkeit überführen, ihre Ohnmacht beweisen. Vom Tempel, dem Symbol ihrer Macht, ist kein Stein auf dem anderen geblieben; das hatte Jesus vorausgesehen (Mk 13,2). Jesus aber lebt. Das sagen die Berichte von der Auferstehung. Da er lebt, ist es erwiesen, dass die Mächte ohnmächtig sind. Am Kreuz wird Gewalt in Leben transformiert.

6.

Der Sieg über die Mächte und Gewalten

Die urchristliche Verkündigung hat Jesu Tod und Auferstehung im Rahmen einer Theologie der Mächte und Gewalten kommuniziert. Im Kolosserbrief heißt es: „Er [Gott] hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zu Schau gestellt und hat einen Triumph aus ihnen gemacht in Christus.“ (Kol 2,10)

Über den Begriff der Mächte und Gewalten kann man, so glaube ich, die Gegenwartsbedeutung dieses Geschehens und auch seine Bedeutung für NichtChristen erschließen. Was die Bibel Mächte und Gewalten, Throne, Herrschaften, Reiche usw. nennt – Pluralbildungen jeweils, die bekannte Erfahrungen mit Macht, Gewalt, Herrschaft usw. ins Anonyme, Ungreifbare transponieren20 – lässt sich auf dem Stand systemtheoretischer Reflexion mit sozialen Systemen in Zusammenhang bringen.21 Kurz gesagt, sind soziale Systeme ähnlich wie auch biologische Systeme einzig auf ihre Selbstfortsetzung bedacht. Sie stehen immer in Gefahr, ihre Freiheitsgrade ohne Rücksicht auf die Umwelt auszunutzen.22 Kommt es dazu, dass sie ihre Selbstfortsetzung zu Lasten der Funktion betreiben, für die sie da sind, dann gibt das nach Luhmann zu „schlimmsten Befürchtungen“ Anlass23 bzw. handelt es sich nach biblischem Sprachgebrauch um satanische Mächte. Gewalt ist, so meine These, immer systemisch bedingt. Sie verweist jeweils auf die Autonomisierung von Systemen gegenüber ihrem dienstbaren Zweck, seien es psychische, soziale oder Funktionssysteme. Und Gewalt kann überwunden werden, wenn der systemische Zwang durchschaut wird. Dann kommt Freiheit auf, und es ergeben sich Möglichkeiten, jenseits der Systemzwänge zu handeln. Dass die Mächte ihrerseits mit allen Mitteln der Lüge und der Propaganda den Eindruck zu erzeugen suchen, die Gewalt, zu der sie 20 21 22 23

Vgl. Hafner, Angelologie, 220–225. Dazu ausführlich: Ruster, Menschen, 62–93. 117–158. Vgl. Luhmann, Gesellschaft, 128–134. Luhmann, Aufklärung, 233.

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nötigen, sei unvermeidlich, ist bekannt. Aber eben dieser Schein ist zu demaskieren, wie es Jesus in seinen Streitgesprächen getan hat. Wie wäre es gewesen, wenn christliche Prediger in den Weltkriegen die wahnhaften Ideen des Nationalismus und des Militarismus enttarnt, aufgedeckt, der Lächerlichkeit preisgegeben hätten? Auch sie hätten es zulassen müssen, dass sich die Mächte an ihnen austoben. Dass nur von der Opferseite her, in Solidarität mit den Opfern, die Macht des gewalthaften Systems aufgedeckt werden kann, ist die Lektion, die Jesus uns zu lernen gibt. Der erste Schritt zur Überwindung der Gewalt ist ihre Aufklärung. Dies zu sagen unterstreicht die enge Verbindung zwischen dem Christentum und dem Programm der Aufklärung, die Taylor so wichtig ist. Gegenüber der Exklusion von Gewalt setzt der christliche Glaube aber auf die Transformation erlittener Gewalt.

7.

Erlösung von Sünde, Tod und Teufel

Die christliche Lehre verbindet mit dem Tod Jesu die Erlösung von den Sünden. Das ist heute einer der am schwersten zu verstehenden Sätze. Keinesfalls kann er so verstanden werden, dass Gott den Tod Jesu als Sühneleistung akzeptiert und dann in einem himmlischen Soll- und Haben-Buch die Solleinträge löscht. Man muss genauer hinschauen. Die Formel der Tradition lautet, dass wir durch den Tod Jesu von Sünde, Tod und Teufel erlöst sind.24 Der Teufel ist dabei von den systemischen Zwängen zu verstehen, die durch Jesu Tod „ihrer Macht entkleidet und öffentlich zur Schau gestellt worden sind“. Ist deren Macht einmal gebrochen, schwindet auch der Tod dahin, den die Mächte mit sich bringen. Und warum jetzt noch sündigen, warum weiter den destruktiven Zwängen des Systems dienen? Die Befreiung vom Zwang des Systems bringt zugleich die Befreiung vom Zwang zum Sündigen mit sich. In diesem Sinne sind die, die daran glauben, dass Christus der Herr aller Mächte und Gewalten ist, von ihren Sünden erlöst. Sie können auch nicht sündigen. Der Ertrag der Erlösung ist ein posse non peccare, ein Nicht-sündigen-Können im Gegensatz zu dem Nicht-nicht-sündigen-Können unter den Zwängen eines sündigen Systems, wie Augustinus sagt.25 Konkret gesprochen etwa für einen kriegerischen Konflikt: Die Freund-FeindUnterscheidung, die das militärische System machtvoll erhebt und die das Verhalten aller ihrer Elemente bestimmt, kann aufgegeben werden. Und dann ist der Feind eben kein Feind mehr, sondern ein anderer Mensch. Und Versöhnung 24 So in dem Osterlied „Seele, dein Heiland ist frei von den Banden“, Str. 2: „Freue dich, Seele, die Hölle erlieget, Sünde und Satan und Tod sind besieget.“ (Gotteslob, Diözesananhang Köln Nr. 777). 25 Vgl. Augustinus, De correptione et gratia 12,33; vgl. dazu Dziewas, Sünde, 210–247.

Das Kreuz Jesu und die Transformation der Gewalt

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wird möglich. Und zugleich damit Reue – Reue darüber, vorher in so blinder Weise den Systemzwängen gedient zu haben. Reue über die eigene Beteiligung an dem gewaltsamen Wirken des Systems, das seine Macht über mich verloren hat. Das ist das neue Leben, das den Erlösten gegeben ist. Die Aussage, dass Jesus am Kreuz für unsere Sünden gestorben ist, muss also differenziert werden. Da ist zum einen die Erlösung von den Sünden, d. h. die Befreiung von der zur Sünde zwingenden Macht der Mächte und Gewalten bzw. Systeme. Jesu Friedensbotschaft – liebe deine Feinde, werde nicht das, was du bekämpft, lass dir nicht das Gesetz der Gewalt aufzwingen – und seine Demaskierung der Mächte aus der Perspektive der Opferseite ergänzen und bedingen sich gegenseitig. Weil ich glauben darf, dass die Gewaltmächte entgegen allem Anschein ohnmächtig sind, komme ich ihnen gegenüber frei zu stehen. Von der Erlösung ist dann die Vergebung der Sünden zu unterscheiden. Sie folgt aus der Erlösung. Denn erst, wenn ich den Mächten entronnen bin, kann ich meine eigene Beteiligung an ihnen erkennen. Und kann auch erkennen, wenn ich mich wieder in ihre Gewalt ziehen lasse, und kann das bereuen und um Vergebung bitten. Was für die persönliche Ebene gilt, gilt nicht weniger für die politische. Die erschreckende Zunahme von Gewalt in unserer Welt hängt mit den ökonomischen Asymmetrien zusammen, in die wir alle verwickelt sind. Die Konflikte können nicht externalisiert werden, als handele es sich nur um Fundamentalismus oder die Misswirtschaft in gewissen Ländern. Aufklärung ist nötig, wie sie aus dem Glauben an die Befreiung von Wachstumszwang, Schuldenrückzahlungszwang, Sparzwängen und dem Zwang zur wirtschaftlichen Konkurrenz möglich ist. Ich meine, dass Papst Franziskus dazu in seiner Enzyklika Laudato si einen entscheidenden Beitrag geleistet hat; am Ende läuft diese ja auf eine deutliche Absage an das System der freien Marktwirtschaft hinaus, wie es heute praktiziert wird.26 Und dann kann die eigene Beteiligung eingestanden werden. Und dann sind aus der Kraft der Vergebung heraus Schritte möglich, die die Gewalt in eine friedliche Lebensordnung transformieren, in der alle genug zum Leben haben.

Literatur Augustinus, A., De correptione et gratia, ed. C. Boyer (Textus et Documenta Ser.Theol. 2), Rom 21951. Bieler, A . / Schottroff, L., Das Abendmahl. Essen, um zu leben, Gütersloh 2007.

26 Vgl. besonders die Nummern 107–109. 178. 194.

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Dziewas, R., Die Sünde der Menschen und die Sündhaftigkeit sozialer Systeme. Überlegungen zu den Bedingungen und Möglichkeiten theologischer Rede von Sünde aus sozialtheologischer Perspektive (Entwürfe 2), Münster 1995. Foucault, M., Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte. Vorlesungen vom 21. und 28. 1. 1976 am CollHge de France in Paris, Berlin 1986. Franziskus, Papst, Laudato si. Die Umweltenzyklopädie des Papstes. Über die Sorge für das gemeinsam Haus, Freiburg 2015. Füssel, K. / Füssel, E., Der verschwundene Körper. Neuzugänge zum Markusevangelium, Luzern 2001. Gotteslob. Katholisches Gebet- und Gesangbuch. Ausgabe für die Erzdiözese Köln, Stuttgart 2013. Hafner, J.E., Angelologie (Gegenwärtig Glauben Denken 9), Paderborn u. a. 2010. Hüppauf, B., Transformation der Gewalt in Kriegsritualen der Modernen, in: G. Korff (Hg.), Alliierte im Himmel. Populare Religiosität und Kriegserfahrung (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts), Tübingen 2006, 49–82. Jacobus de Voragine, Legenda aurea. Heiligenlegenden, Übersetzung. aus dem Lateinischen, Anmerkungen und Nachwort v. J. Laager, mit einem. kunstgeschichtlichen Hinweis von M.-C. Berkemeier-Favre (Manesse Bibliothek der Weltliteratur) Zürich 1982. Luhmann, N., Soziologische Aufklärung V. Konstruktivistische Perspektiven, Opladen 2 1993. – Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1997. Münkler, H., Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918, Berlin 2014. Ruster, T., Von Menschen, Mächten und Gewalten. Eine Himmelslehre, Ostfildern 22005. – Wandlung. Ein Traktat über Eucharistie und Ökonomie, Ostfildern 22009. Sobrino, J., Christologie der Befreiung, Mainz 1998. Stock, A., Gabenbereitung. Zur Logik des Opfers, in: Liturgisches Jahrbuch 53 (2003) 33–51. Taylor, C., Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt 2009. Theißen, G., Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 31989. Wink, W., Verwandlung der Mächte. Eine Theologie der Gewaltfreiheit, hg. v. T. Nauerth u. G. Steins, Regensburg 2014.

Knut Martin Stünkel

Religiöse Gewalt in philosophischer Reflexion

1.

Einleitung

Im Kontext eines Bandes zum Thema „Religion und Gewalt“ scheint der folgende Beitrag durch seinen Titel andeuten zu wollen, dass er im Gegensatz zu den materialbezogenen anderen Beiträgen eine Metaperspektive einnehmen möchte, indem er grundsätzlich mittels eines philosophischen Instrumentariums über das Thema der religiösen Gewalt reflektiert. Zunächst ist das zwar richtig; es wird sich aber bald zeigen, dass das Thema der philosophischen Reflexion religiöser Gewalt eine ebensolche Case-Study ist, ja sogar sein muss, eine ebensolche Case-Study als etwa das Thema „Gewalt in der Bibel“ oder „Gewalt im Judentum“.1 Als Gegenstand eines philosophischen Vortrags ist nichts eher zu erwarten als eine Meditation über seinen Titel, insbesondere was die hier verwandten Begriffe in ihrer spezifischen Kombination betrifft. Dieser Konvention möchte auch ich einleitend Genüge tun. „Religiöse Gewalt in philosophischer Reflexion“ – das klingt zunächst wie ein Titel einer jener unsäglichen Talkshowdiskussionen, in denen die Teilnehmer grundsätzlich nur einer Meinung sein können und eine spannende Kontroverse gar nicht aufkommen kann. Der Tenor einer solchen Veranstaltung bezogen auf unser Thema könnte also lauten: Philosophisch ist religiös motivierte oder gar gerechtfertigte Gewalt rundweg anzulehnen, wie auch Gewalt überhaupt. Die Frage wäre dann diejenige nach dem Adjektiv

1 Für die Druckfassung wurde der ursprüngliche Vortragsstil als Beitrag zur Ringvorlesung „Religion und Gewalt“ beibehalten. Ergänzt wurden in den Anmerkungen Nachweise und einige grundsätzliche Literaturangaben für den Text, der nicht den momentanen Forschungsstand, sondern vor allem das Interesse des Autors wiedergibt. Für die philosophische Diskussion der Gewalt wäre mindestens auch auf Georges Sorel einzugehen, dessen Schrift „R8flexions sur la violence“ (1908) an dieser Stelle wenigstens genannt sei. Dennoch hoffe ich, bei meiner willkürlichen und kontingenten Auswahl einige strukturelle Aspekte der philosophischen Reflexion der Gewalt aufzeigen zu können.

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„religiös“ – macht dieses die Gewalt noch schlimmer und, wenn ja, ist es dafür verantwortlich, Religion moralisch als „erledigt“ zu betrachten? Doch der Titel ist ebenso (natürlich möchte man sagen) mehrdeutig. Auf der einen Seite kann religiöse Gewalt philosophisch behandelt werden, auf der anderen Seite aber, so scheint er anzudeuten, gibt es auch religiöse Gewalt im Philosophieren. Eine Analyse dieser Gewalt wäre somit ein wichtiges Mittel der Besinnung der Philosophie auf sich selbst. Eine entsprechende Frage wäre dann: ist das Philosophieren selbst als religiöse Gewalt moralisch am Ende?

2.

Der Begriff der religiösen Gewalt

Im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ gibt es zwar einen längeren Artikel über Gewalt, jedoch nichts zu speziell religiöser Gewalt, obwohl der erste hier behandelte Autor Martin Luther mit seiner Unterscheidung von weltlicher und geistlicher Gewalt, zwischen dem Schwert und dem Wort ist.2 An diese Bestimmung lässt sich anknüpfen: nach Martin Luther gilt, dass geistliche Gewalt spricht (predigt), es besteht also ein enger Zusammenhang von geistlicher Gewalt und der Sprache. Die geistliche Gewalt wird durch Sprache zur religiösen Gewalt. Inwiefern? Wenn Religion im Wesentlichen mit Niklas Luhmann als Kommunikation bestimmt werden kann,3 dann ist religiöse Gewalt ebenfalls eine Kommunikation, und zwar eine Kommunikation die dem Satz widerspricht, das Medium sei die Botschaft. Vielmehr ist die Botschaft, dass das exekutive Organ der Gewalt (als Einzelner oder als Kollektivsubjekt), der gewalttätig Handelnde, das Medium also, eben völlig unwichtig ist vor demjenigen, der „durch es“ mittels Gewalt kommuniziert und somit sich zum Ausdruck und ins Gespräch bringt. Man denke an das „Gott will es“ der Kreuzzüge, aber auch strukturelle Gewalt eines gottgefälligen Lebens, allgemein an die Überzeugung, durch sein Handeln den Anforderungen eines Transzendenten zu entsprechen. Auch religiöse Gewalt ist somit ein Zuschreibungsphänomen, wobei besonderes Interesse die Zuschreibungen derjenigen finden, welche Gewalt ausüben und diese als religiös motiviert bezeichnen. Bei der wissenschaftlichen Beschreibung von Gewaltphänomenen ist es daher sinnvoll bei diesen Selbstbeschreibungen anzusetzen. Dabei lassen sich einige Kennzeichen religiöser Gewalt gewinnen. Religiöse Gewalt ist in besonderer Weise durch Medialität ausgezeichnet. Diese Medialität steht in einem engen Zusammenhang mit dem Gebrauch von Medien durch religiöse Gewalttäter. Religiöse Gewalt sucht die Öffentlichkeit, der Gewaltakt 2 Röttgers, Art. „Gewalt“, 562–570. 3 Vgl. Luhmann, Religion, 135–146.

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wird zu einem öffentlichen Bekenntnis und zur eindrucksvollen Machtdemonstration des durch religiöse Gewalttäter Handelnden. Religiöse Gewalt bedarf des öffentlichen Raumes. Religiöse Gewalt kann somit beschrieben werden als ein dreifältiges kommunikatives Phänomen, dessen Grammatik (wie im Griechischen) durch drei Genera bestimmt wird. Das Objekt der religiösen Gewalt (Passiv) wird zur Projektionsfläche des durch sein Medium (Medium) handelnden eigentlichen Subjekts (Aktiv). Religiöse Gewalt ist in mehrfacher Hinsicht als ein Übertragungsphänomen gekennzeichnet: in seinem Tun ist der Handelnde beeinflusst durch ein (ganz) anderes, Göttliches, ist dessen Medium und auf dieser Weise in der gewalttätige Handlung besonders engagiert. Der religiöse Gewalttäter überträgt die Macht und den Willen, den Anspruch des Anderen in das Hier und Jetzt und antwortet durch Gewalt. Es ist also dem Phänomen angemessen, religiöse Gewalt als eine Stimmung bzw. eine Haltung zu kennzeichnen (der Täter ist bzw. beschreibt sich selbst in seinem Tun als gestimmt und bestimmt durch ein anderes; er pflegt und demonstriert die Haltung des Offenseins für eine solche Stimmung bzw. er ist in seinem gewaltsamen Handeln durch das Andere ge-halten [bzw. zu seinem Handeln durch ein Anderes angehalten]). Die Zuschreibung des Religiösen (auf der Ebene der Objektsprache), die Beschreibung der Gewalt als religiös, kennzeichnet also weniger die aktive Ausübung von Gewalt durch ein handelndes (menschliches) Subjekt, sondern bezieht sich auf eine (mediale) Haltung des Gewalt Ausübenden, welcher durch seine Tätigkeit deutlich macht (anzeigt), dass letztlich nicht er oder sie es ist, welcher in Gewalttätigkeit handelt. Auch scheint sogar das Handeln selbst in diesem Falle sekundär zu sein, primär ist nicht die Gewalttätigkeit, die Tat an sich, sondern die Manifestation oder Demonstration (Zeugnis) des Anderen (Göttlichen): religiöse Gewalt ist in diesem Sinne ein Sprechakt, der das Walten von etwas, seinen (plötzlichen) Einbruch in die Welt vielleicht, kommuniziert.

3.

Zur philosophischen Kritik der (religiösen) Gewalt

3.1.

Von der Religion zur Gewalt

Vordergründig scheint die explizite Kritik religiöser Gewalt als Kritik der Gewalttätigkeit alles Religiösen vor allem ein Geschäft der Aufklärung zu sein, und zwar im Zuge ihrer allgemeinen Religionskritik. Als ein besonders eindringliches Beispiel behandele ich im Folgenden eine wahrscheinlich im Jahre 1766 in französischer Sprache erschienene Schrift, das nach Friedrich Melchior Grimm kühnste und schrecklichste Buch, das jemals auf der Welt erschien („C’est le livre

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le plus hardi et le plus terrible qui ait jamais paru dans aucune lieu de monde.“)4 mit ostentativ falscher Autorenangabe, Erscheinungsjahr (1756) und Erscheinungsort.5 Es trägt den Titel „Das entschleierte Christentum oder Prüfung der Prinzipien und Wirkungen der christlichen Religion von weiland Herrn Boulanger“. Dieses skandalträchtige Buch stammt aus der Feder von Paul Heinrich Thiry (Dietrich), Baron D’Holbach (1723–1789). Holbach ist so etwas wie der Motor und Mäzen der französischen Aufklärung des Kreises um die „Enzyklopädie“ (Diderot), der ihre Unternehmungen finanzierte und ihrem Kreis in seinem Salon einen zentralen Ort bot.6 Holbach hat einige wichtige materialistische radikalaufklärerische Bücher publiziert, doch nie unter seinem eigentlichen Namen. Sein Lieblingsgegner ist dabei die christliche Religion als reformunfähiges Hindernis für die vernunftgeleitete Entwicklung des Menschengeschlechts. Im Vorwort zu seinem Werk nutzt Holbach eine interessante Technik: er nimmt in einem „Brief des Verfassers an Herrn***“ mögliche Einwände gegen sein Buch vorweg, und zwar nicht Einwände, die etwa von christlichen Apologeten stammen können (es scheint, dass Holbach diese ohnehin nicht als diskutabel ansieht), sondern Einwände, die von einer moderateren Form der aufklärerischen Religionskritik vorgebracht werden könnten. Diese Einwände anerkennen zwar die rationale Unhaltbarkeit der Religion und ihre fatalen moralischen Auswirkungen, sehen aber trotzdem einen pragmatischen Nutzen in der Religion als sozialen Stabilisator, der die Möglichkeit einer Moral überhaupt garantiere und so gesellschaftliches Zusammenleben ermögliche. Eine solche Position ist vor allem von Voltaire („Wenn es Gott nicht gäbe, müsste man ihn erfinden“) als dem Aushängeschild der französischen Aufklärung überliefert, und wahrscheinlich ist dieser der Adressat des Briefes. Das Vorwort stellt somit eine wichtige Selbstreflexion der französischen Aufklärung dar und radikalisiert sich durch diese. Die Kritik an der Religion wird relevanter und grundsätzlicher in der Metakritik ihrer moderaten Kritiker. Holbach schreibt nun: „Sie [d. h. der Adressat des Briefes = Voltaire] schaudern vor den Greueltaten der Christen, die deren intoleranter Geist sie begehen ließ, wann immer sie die Macht dazu hatten. Sie sehen ein, daß eine Religion, die auf einen blutrünstigen Gott gegründet ist, nur eine Religion des Blutes sein kann. Sie beklagen diesen Wahnsinn, der sich von Kindheit an des Geistes der Fürsten und Völker bemächtigt und die einen wie die anderen zu Sklaven des Aberglaubens und seiner Priester macht, sie daran hindert, ihre wahren Interessen zu erkennen, sie der Vernunft gegenüber taub macht und sie von den 4 Tournaux, Correspondance, 367. 5 Boulanger, Christianisme. 6 Zu Holbachs Biographie und seinem Pariser Salon vgl. Blom, Philosophen. Zur radikalen Aufklärungsbewegung allgemein vgl. Israel, Enlightenment.

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großen Gegenständen ablenkt, die sie beschäftigen müßten. Sie erkennen an, daß eine Religion, die sich auf Schwärmerei oder auf Betrug gründet, keine gesicherten Grundsätze haben kann, eine ewige Quelle von Streitigkeiten sein muß und am Ende immer Wirrnisse, Verfolgungen und Verheerungen verursacht, besonders dann, wenn die politische Macht sich unbedingt verpflichtet glaubt, in ihre Zänkereien einzugreifen. Schließlich gehen Sie so weit einzugestehen, daß ein guter Christ, der sich buchstäblich an die Lebensweise hält, welche ihm das Evangelium als die vollkommenste vorschreibt, in dieser Welt auch nicht einen der Zusammenhänge erkennen wird, auf welche die wahre Moral gegründet ist, und, fehlt es ihm an Energie, entweder ein unnützer Menschenfeind oder, hat er ein hitziges Gemüt, ein zügelloser Fanatiker sein wird. Wie ist es nach diesen Zugeständnissen noch möglich, daß Sie mein Werk für gefährlich halten?“7

Holbachs Einwände sind mannigfach und gelten letztlich jeglicher Religion, aber vor allem dem Christentum und dem Judentum als dessen Vorläufer. Für unser Thema ist dieses Argument entscheidend: Aufgrund ihrer Gewalttätigkeit kann Religion Sozialität nicht fördern, sondern zerstört diese nachhaltig. Gewalt ist nach Holbach der Religion inhärent, strukturell ist Religion ein Unterwerfungsmechanismus, angewandt sowohl bei ihren Anhängern (als Unterdrückung ihrer rationalen und moralischen Fähigkeiten) wie auch gegen ihre Gegner. Als Gewalt verdirbt sie den Menschen im Allgemeinen und die Gesellschaft von Menschen im Besonderen und macht diese in ihrem Namen zu Gewalttätern gegenüber anderen und der natürlichen Vernunft und Moral. Dieses ihr eigene Gewaltpotential, welches stets auch realisierte Gewalt (in Form von struktureller Gewalt) ist, macht Religion und ihre menschlichen Träger interessant für die politische Gewalt, zumal gerade die sogenannten „abrahamitischen“ Religionen die Voraussetzungen für einen veritablen, äußerst flexiblen Machiavellimus in Sachen Moral schaffen und religiös rechtfertigen: „Zumindest ist es evident, daß die Anhänger eines solchen Gottes eine schwankende Moral haben müssen, deren Prinzipien keinerlei Festigkeit besitzen. In der Tat ist dieser Gott nicht immer ungerecht und grausam; sein Verhalten wechselt […] Nie hat er in seinem Verhalten jene Gleichmäßigkeit, welche die Weisheit kennzeichnet. Parteiisch in seiner Vorliebe für ein verächtliches Volk und ohne Grund grausam gegenüber dem übrigen Menschengeschlecht, befiehlt er Betrug, Diebstahl, Mord und macht es seinem treuen Volk zu Pflicht, ohne Zaudern die abscheulichsten Verbrechen zu begehen, die Redlichkeit mit Füßen zu treten und das Recht der Menschen zu mißachten. Wir sehen ihn aber bei anderen Gelegenheiten, wie er diesen gleichen Verbrechen wehrt, Gerechtigkeit befiehlt und den Menschen vorschreibt, sich von Dingen fernzuhalten, welche die Ordnung der Gesellschaft stören. Dieser Gott, der sich zugleich Gott der Rache, Gott der Barmherzigkeit, Herr der Heerscharen sowie Gott des Friedens nennt, ist immer wetterwenderisch. Folglich läßt er jeden seiner Anbeter 7 Ich zitiere „Le Christianisme D8voil8“ in der Übersetzung von Rosemarie Heise: Holbach, Schriften, 55f.

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selbst bestimmen, wie er sich zu verhalten habe, wodurch seine Moral willkürlich wird. Ist es also nach alledem verwunderlich, daß sich die Christen bis heute untereinander nie einigen konnten, ob es in den Augen ihres Gottes angemessener sei, den Menschen Nachsicht zu zeigen, als sie ihrer Anschauungen wegen zu vernichten? Mit einem Wort, es ist ein Problem für sie zu wissen, ob es ratsamer sei, diejenigen, die nicht denken wie sie, umzubringen und zu ermorden oder sie in Frieden zu lassen und ihnen mit Menschlichkeit zu begegnen.“8

Da die eigentliche Handlung Gott zugeschreiben wird, ist angesichts der irrationalen Willkür dieses Handelns die Religion für ihre ausführenden Organe nicht nur ein theoretisches, sondern ein konkret praktisches Problem, da möglicher Gewalttätigkeit keinerlei Zügel (Kontrollmechanismen) angelegt werden. Die Haltung religiöser Gewalt macht unberechenbar und entzieht sich (als demonstrative Kritik alles Menschlichen) jeglicher Kritik. Charakteristisch für religiöse Gewalt ist also nach Holbach der Umstand, dass der gewalttätig handelnde Religiöse den Beweggrund für sein Handeln gewissermaßen „outgesourced“ hat: dass er oder sie sich nicht mehr auf seine natürliche Vernunft und Moral besinnt, sondern fremdgesteuert handelt (und darauf womöglich noch stolz ist). Die einzige Quelle der Gerechtigkeit und ihr Maßstab ist der willkürlich handelnde Gott, welcher Gerechtigkeit befiehlt. Diese enge Bindung der gerechten Handlung an Gott, ihre Herausnahme aus der menschlichen Sphäre, ist ein Hauptmerkmal der „mosaischen Unterscheidung“, wie sie zweihundertfünfzig Jahre später von dem Ägyptologen und Kulturtheoretiker Jan Assmann diskutiert wird. Sein Buch „Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus“ erläutert einige Thesen seines früheren Buches „Moses der Ägypter“ im Hinblick auf ihr religionsphilosophisches Analysepotential gerade im Hinblick auf das Problem der religiösen Gewalt. Die mosaische Unterscheidung ist den, wie Assmann sie nennt, „sekundären“ oder „Gegenreligionen“ grundlegend, denn nur sie kennen ein „Gegenüber“ der (und das heißt ihrer jeweiligen) Wahrheit, welches denunziert, verfolgt und ausgegrenzt werden kann, darf und sogar soll. Dieses Othering nun ist abhängig von einer theologischen Revolution des Gerechtigkeitsbegriffs. „Zwar hat der Monotheismus die Gerechtigkeit nicht erfunden, wie behauptet wird, aber er hat sie erstmals zur unmittelbaren Sache Gottes gemacht. Einen gesetzgebenden Gott hatte die Welt bis dahin nicht gekannt […] In Ägypten ist die Gerechtigkeit eine göttliche Idee, aber das Recht und die Gesetze sind eine menschliche Institution. Daher sind sie die Sache des Königs, der sie immer neu zu erlassen und in Kraft zu setzen, im Gnadenfall aber auch aufzuheben hat. Er macht darin den Göttern nicht Konkurrenz, sondern vertritt das göttliche Prinzip der Gerechtigkeit und repräsentiert das Göttliche auf Erden. Genau diese Rechtssouveränität nimmt der biblische Gott für 8 Holbach, Schriften, 81.

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sich in Anspruch. […] Indem der Monotheismus die Gerechtigkeit zur Sache Gottes macht, d. h. ,theologisiert‘, erhebt er sie in den Rang einer religiösen Wahrheit. Gerechtigkeit wird zum Inbegriff der wahren Religion, und damit werden Rechtlosigkeit, Unmoral und Unzucht zur Signatur des Heidentums.“9

Rechtlosigkeit ist hier in doppelter Bedeutung, d. h. intern und gegenüber ihren rechtgläubigen Gegnern, zu verstehen. Die monotheistische Wende bekam so die Form einer „Konversion, die auf der Unterscheidung von wahr und falsch beruht und in ihrer späteren Rezeptionsgeschichte die Unterscheidung von Juden und Heiden, Christen und Heiden, Christen und Juden, Muslimen und Ungläubigen, Rechtgläubigen und Häretikern generiert und sich in einem Unmaß von Gewalt und Blutvergießen manifestiert hat.“10

Assmanns Überlegungen sind zwar eigener Aussage nach nicht als Beitrag zur Religionskritik zu verstehen, sie entsprechen aber grundsätzlichen Thesen der aufklärerischen Religionskritik und kennzeichnen die Genese und Struktur bzw. die Semantik explizit religiöser Gewalt.

3.2.

Von der Gewalt zur Religion

Während die beiden bisher behandelten Autoren den Zusammenhang von Religion und Gewalt aus einer auf die Religion konzentrierten Perspektive behandeln, so kommen die folgenden Autoren von ihrer Analyse der Gewalt (zwangsläufig?) auf die Religion zu. Während diese die Frage „Ist Religion gewalttätig und warum?“ bearbeiten, beantworten jene die Frage „Ist Gewalt religiös und inwiefern?“. Interessant ist, dass es hier signifikante Entsprechungen gibt, die einen engeren Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt vermuten lassen. Walter Benjamin betont in seinem Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ aus dem Jahre 1920/21 den engen Bezug von Recht und Gewalt.11 Letztere wird, so Benjamin, nur wirkende Ursache, wenn sie in sittliche Verhältnisse eingreift,12 d. h. wenn sie als Mittel entweder rechtssetzend oder rechtserhaltend ist.13 Dies bedeute aber, dass „eine völlig gewaltlose Beilegung von Konflikten niemals auf 9 Assmann, Unterscheidung, 75f. 10 Assmann, Unterscheidung, 22. 11 Ich zitiere die Ausgabe Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt: Suhrkamp 1971. 12 Benjamin, Kritik, 29. 13 Benjamin, Kritik, 45.

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einen Rechtsvertrag hinauslaufen kann.“,14 zu dessen Einhaltung Gewalt notwendigerweise angewandt werden muss. Eine auf Rechtsverhältnissen basierende Gesellschaft ist somit notwendig gewalttätig. Benjamin spricht von der „latenten Anwesenheit von Gewalt in einem Rechtsinstitut“,15 dessen Wirksamkeit in dem Grade verfällt, wie diese Anwesenheit von Gewalt in Vergessenheit gerät. Im Hinblick auf unser Thema der religiösen Gewalt sind die folgenden Überlegungen Benjamins von besonderem Interesse. Gewissermaßen verbindet er seine Überlegungen zur Gewalt mit religionsgeschichtlichen Konzepten, und zwar hinsichtlich des Phänomens der objektiven Manifestation von Gewalt, welche sich der Mittel-Zweck-Relation entziehen (als Beispiel nennt er hier einen Zornausbruch). Diese objektive Manifestation von Gewalt, eine Gewalt also, die nicht instrumentell ist, sondern präsentiert bzw. manifestiert, findet sich im Mythos. Mythische Gewalt ist Manifestation der Götter. Diese Manifestation, so Benjamin, straft nicht instrumentell (und rechtserhaltend) die Übertretung eines bestehenden Rechts, sondern richtet vielmehr ein Recht auf. Benjamin schreibt: „Rechtssetzung ist Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation der Gewalt. […], Macht das Prinzip aller mythischen Rechtssetzung.“16

Diese Bestimmung der mythischen Gewalt hat unmittelbare Auswirkungen auch auf Zustände, wo die Gewalt scheinbar in Mittel-Zweck-Relationen pazifiziert ist, d. h. als Mittel der Rechtserhaltung wirksam ist, also in einer durch Rechtsverhältnisse geregelten Gesellschaft wie der unseren. „Weit entfernt, eine reinere Sphäre zu eröffnen, zeigt die mythische Manifestation der unmittelbaren Gewalt sich im tiefsten mit aller Rechtsgewalt identisch und macht die Ahnung von deren Problematik zur Gewißheit von der Verderblichkeit ihrer geschichtlichen Funktion, deren Vernichtung damit zur Aufgabe wird. Gerade diese Aufgabe legt in letzter Instanz noch einmal die Frage nach einer reinen unmittelbaren Gewalt vor, welcher der mythischen Einhalt gebieten vermöchte.“17

Gegen die Verderblichkeit der geschichtlichen Funktion der Rechtsgewalt, die durch Gewalt eingesetzt und durchgesetzt wird, also manifest und strukturelle Gewalt ausübt, gibt es nach Benjamin nur eine Potenz, die die Aufgabe der Vernichtung des Verderblichen (Mythischen) leisten kann, und dies ist die göttliche Gewalt. Wie in einer bestimmten Auffassung der Religionsgeschichte gibt es also nach Benjamin eine evolutionäre Linie von den Göttern (Polytheismus) zum einen Gott (Monotheismus), die Religion überwindet den Mythos: 14 15 16 17

Benjamin, Kritik, 45. Benjamin, Kritik, 46. Benjamin, Kritik, 57. Benjamin, Kritik, 59.

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„Wie in allen Bereichen dem Mythos Gott, so tritt der mythischen Gewalt die göttliche entgegen. Und zwar bezeichnet sie zu ihr den Gegensatz in allen Stücken. Ist die mythische Gewalt rechtssetzend, so die göttliche rechtsvernichtend, setzt jene Grenzen, so vernichtet diese grenzenlos, ist die mythische verschuldend und sühnend zugleich, so die göttliche entsühnend, ist jene drohend, so diese schlagend, jene blutig, diese auf unblutige Weise letal.“18

Die göttliche Gewalt entsühnt, so Benjamin, nicht von einer Schuld (so würde sie sich innerhalb des Rechtssystems als Gnadeninstanz bewegen), sondern sie entsühnt vom Recht und leistet so die Vernichtung des historisch Verderblichen, die Auflösung der Rechtsgewalt. „Denn mit dem bloßen Leben hört die Herrschaft des Rechts über das Lebendige auf. Die mythische Gewalt ist Blutgewalt über das bloße Leben um ihrer selbst, die göttliche reine Gewalt über alles Leben um des Lebendigen willen. Die erste fordert Opfer, die zweite nimmt sie an.“19

Die Häufung von Worten, die einem religiösen Bereich entnommen zu sein scheinen (göttlich, rein, Opfer), und mit denen Benjamin diese dritte, „rechtsvernichtende“ Gewalt beschreibt, erlaubt es, diese Gewalt als religiöse Gewalt zu beschreiben. Umgekehrt kann aus der Analyse Benjamins die Struktur religiöser Gewalt beschrieben werden, z. B. dass sie einem bestehenden Rechtssystem unversöhnlich entgegengesetzt ist und deren Gewaltmonopol bricht, dass sie Opfer akzeptiert (vielleicht sogar fordert), dass sie sich durch Hinweis auf das Leben und dessen Verteidigung überhaupt „rechtfertigt“ (ein falscher Ausdruck, denn die göttliche Gewalt steht ihrem Begriff nach jenseits aller Rechtfertigung). Gegen das Recht ist (siehe Holbach und Assmann) die Gerechtigkeit (Gottes) gesetzt: „Gerechtigkeit ist das Prinzip aller göttlichen Zwecksetzung.“20 Benjamin schließt seinen Aufsatz auch konsequenterweise sprachlich religioid21 im Stile eines Propheten: „Verwerflich aber ist alle mythische Gewalt, die rechtsetzende, welche die schaltende genannt werden darf. Verwerflich auch die rechtserhaltende, die verwaltete Gewalt, die ihr dient. Die göttliche Gewalt, welche Insignium und Siegel, niemals Mittel heiliger Vollstreckung ist, mag die waltende heißen.“22

Ich meine, der Eindruck ist nicht ganz falsch, dass angesichts dieser Charakteristik der religiösen Gewalt durch Benjamin die Entfesselung der Gewalt von den 18 19 20 21

Benjamin, Kritik, 59. Benjamin, Kritik, 60. Benjamin, Kritik, 57. Im Sinne eines zum auskristallisiert Religiösen hin entwickelbaren strukturverwandten Materials nach der Wortprägung von Georg Simmel vgl. Simmel / Krech, Religion, 33. 22 Benjamin, Kritik, 64.

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Banden des Rechts, ihre Dispensierung von jeglicher Rechtfertigung, die verderbliche Rechtsgewalt jetzt nicht nur negativ zu sein scheint. In ihrer Schrift „On Violence“ („Macht und Gewalt“) aus dem Jahre 1970 untersucht Hannah Arendt die Formen des Verhältnisses von Theoretikern der Neuen Linken zur Gewalt.23 Sie denkt hier vor allem an Autoren wie Frantz Fanon und Jean Paul Sartre. Hier beschreibt sie angesichts der Studentenrevolte einen „neuen Trend zur Gewalt im Denken der heutigen Revolutionäre“24 und untersucht dessen Ursachen. Hinsichtlich der Frage nach der religiösen Gewalt ist ihre Analyse deshalb für uns von Interesse, da sie zeigt, wie diese sich selbst als marxistisch beschreibenden Theoretiker aufgrund ihrer theoretischen Annahmen oder wahrscheinlich sogar gerade deswegen zu „neuen Predigern der Gewalt“25 werden. Das Frappierende hierbei ist weniger, dass die Theoretiker Gewalt befürworten, sondern, dass sie diese in religiöser Weise „predigen“, dass Hannah Arendt also sachlich gerechtfertigt zur Beschreibung ihres Denkens auf das Arsenal religiöser Begrifflichkeit zugreifen zu können meint und die von den betreffenden Theoretikern geforderte Gewalt als religiöse Gewalt kennzeichnet. So spricht sie von „Beschwörungsformeln“, von „Propheten“ der Gewalt26 und ähnliches. Das Religiöse in der Argumentation der neuen Gewaltpropheten leitet sich nun nach Arendt aus einem Missverständnis her, die eine uns schon bekannte (religiöse) Auffassung der Gewalt durchscheinen lässt. Arendt warnt ausdrücklich vor diesem Missverständnis: „Wenn wir unter Geschichte einen kontinuierlich chronologischen Prozeß verstehen, dessen Fortschreiten in der einmal eingeschlagenen Richtung zudem automatisch vonstatten geht, so liegt es nahe, in der Gewalt in Form von Kriegen und Revolutionen die einzig mögliche Unterbrechung solcher Abläufe zu sehen. Wenn dies stimmte, wenn nur das gewalttätige Handeln imstande wäre, automatische Prozesse im Bereich der menschlichen Angelegenheiten zu unterbrechen, dann hätten die Befürworter der Gewalt in einem sehr entscheidenden Punkt gewonnen. (Soviel ich weiß, hat keiner der Gewalt-Theoretiker je auf diesen Punkt hingewiesen, aber es scheint mir unbestreitbar, daß diese Überzeugung hinter den vielfach rein destruktiven Studentenaktivitäten steht.) In Wahrheit jedoch ist das die Funktion jeden Handelns, im Unterschied zu einem bloß reaktiven Sichverhalten (behaviour) Prozesse zu unterbrechen, die sonst automatisch und damit vorhersagbar verlaufen würden.“27

Die Wahrheit über diese Prozesse im Sinne Hannah Arendts (Vita activa28), soll uns an dieser Stelle nicht interessieren, sondern das von ihr gekennzeichnete 23 24 25 26 27 28

Zitiert nach der deutschen Ausgabe: Arendt, Macht. Arendt, Macht, 17. Arendt, Macht, 25. Arendt, Macht, 79. Arendt, Macht, 34f. Arendt, Vita.

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ontologische Fundament, welches eine bestimmte, und zwar religiöse, Auffassung von der Funktion der Gewalt stützt. Dies ist die Idee (vorhersagbarer) automatischer (Geschichts-)abläufe, die durch einen Eingriff (von oben) unterbrochen werden. Arendts eigene Theorie des Handelns ist gewissermaßen eine Säkularisierung dieser Idee.29 Dieser Eingriff in eine Kontinuität wird als gewaltsam wahrgenommen, ist jedoch gleichzeitig eine Epiphanie des (ganz) Anderen, welches erwartbare Kontinuitäten auf den Kopf stellt und somit der Gewalt eine religiöse Qualität verleiht. Gewalt als Ereignis ist religiös. In einer Anmerkung zu ihrem Text zitiert Arendt eine entsprechende Definition Sartres,30 der sein Eintreten für die Gewalt dadurch begründet, dass der Mensch in einer bestimmten Kontinuität stehe, nämlich in einer Geschichte, die von dem Aspekt des Mangels geprägt ist, so dass jeder Mensch zu einem Produkt des Mangels wird. Diese Kontinuität stellt, so Sartre, den Menschen unter die „Herrschaft des Manichäismus“, also unter ein dualistisches, gut und böse genau kennzeichnendes gewalttätiges Weltbild, gegen welches sich gewalttätig zu wehren gerechtfertigt sei.31 Die zitierte Stelle aus Macht und Gewalt ist für unser Thema auch deshalb von besonderem Interesse, da hier zum ersten Mal ein heute vielbeachteter Philosoph die intellektuelle Bühne betritt, der sich ebenfalls intensiv mit dem Phänomen (religiöser) Gewalt auseinandergesetzt hat. In einer Fußnote weist Hannah Arendt darauf hin, dass es Ansätze zur einer Theorie religiöser Gewalt als ein Unterbrechen von Kontinuitäten bei einem jungen Italiener gibt, nämlich Giorgio Agamben: „Er behauptet, nahezu alle primitiven Völker kennen eine violenza sacra, deren Ritual dazu diene, den homogenen Fluss der profanen Zeit zu unterbrechen, das Urchaos zu reaktualisieren, um so dem Menschen zu gestatten, die ursprüngliche Dimension der Schöpfung wieder zu erreichen.“32

In seinem Buch „Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben“ (1995) kommt Agamben dann auch auf Benjamin und seine „Kritik der Gewalt“ zu sprechen, und zwar konkret auf die dritte (religiöse) göttliche Gewalt als dem Zentralproblem der Interpretation jenes Essays. Ausgenommen von allen (Denk)Kontinuitäten ist diese Gewalt nicht eigentlich positiv bestimmbar, gewiss sei nur, dass sie das Recht weder setze noch erhalte, sondern entsetzt. „Die Gewalt, die Benjamin als göttliche bestimmt, ist indes in einer Zone angesiedelt, wo es nicht mehr möglich ist, zwischen Ausnahme und Regel zu unterscheiden. […] Deswegen […] kann Benjamin sagen, daß die göttliche Gewalt das Recht weder setzt 29 30 31 32

Vgl. Arendt, Vita, 312. Arendt, Macht, 88. Vgl. Sartre, Kritik, 141. Arendt, Macht, 35.

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noch erhält, sondern entsetzt. Sie offenbart die Verknüpfung zwischen den beiden Gewalten – und umso mehr zwischen Gewalt und Recht – als einzigen realen Inhalt des Rechts.“33

Das Entsetzliche der göttlichen Gewalt in ihrer unterbrechenden Regel und Ausnahme objektivierenden Wirkung offenbart bestimmte Realitäten, insbesondere diejenige zwischen Gewalt und Recht.

3.3

Ein kurzes Zwischenfazit

Religiöse Gewalt kann dargestellt und kritisiert werden als Folge eines Selbstentmündigungsprozesses, als etwas, das außerhalb menschlicher Kompetenz liegt, und gerade hieraus seine gewaltige Kraft bezieht. Gewalt, so machen die diskutierten Autoren deutlich, kann in einer bestimmten Form der Ausdruck einer Epiphanie sein. Die Zuschreibung des Religiösen für ein als Gewalt empfundenes Ereignis findet auf ein überwältigendes, Erwartungen konterkarierendes Ereignis statt. Der Einbruch der Gewalt bedeutet ein Ereignis innerhalb einer Kontinuität, ein Kontingenzerlebnis vor dem Hintergrund eines als determiniert angesehenen Weltbildes, welches durch dieses Ereignis umgestürzt, im Wortsinne ent-setzt wird. Der Begriff des Ent-setzen, im Doppelsinne des „Heraussetzens aus …“ sowie des „Frappiert, Außer-Sich-Seins“ (d. h. außerhalb von als selbstverständlich angesehenen Zusammenhängen) scheint somit ein Kernbegriff für die Charakteristik religiöser Gewalt zu sein: religiöse Gewalt ist entsetzlich. Dies klingt zwar sehr lapidar und inhaltsarm, beschreibt aber dennoch den Prozess religiöser Gewalt ziemlich präzise, und auch die emotionale Reaktion hierauf. Sie betrifft das Herausgesetzsein des Mediums aus der eigenen Handlungskompetenz und sein Ausgesetztsein dem göttlichen Zugriff gegenüber. Das Entsetzen ist die dem Einbruch der Gewalt entsprechende emotionale Reaktion. Religiöse Gewalt muss ihre Entsetzlichkeit als „Insignium heilige Vollstreckung“ (Benjamin) öffentlich betonen.

4.

Zur religiösen Gewalt der philosophischen Reflexion

4.1

Kriegsstrategien der Philosophie

Die Philosophie ist im Wesentlichen auch ein polemisches Projekt. Nach Heraklits wohlbekannter Weisheit ist der Krieg der Vater aller Dinge. Das Verhältnis 33 Agamben, Homo, 75f.

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zu ihren Objekten kann als Gewalt bestimmt werden. Philosophen greifen gerne auf den großen Fundus kriegerischer Metaphern zur Kennzeichnung ihres eigenen Geschäftes zurück, und dies – was vielleicht erstaunen mag – vor allem affirmativ. Auch hier ist, nach Clausewitz’ berühmter Definition, der (philosophische) „Krieg ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.“ Damit also auch uns als Philosophierenden unser Wille geschehe, bedienen wir uns der Gewalt; ist der Gegenstand unserer Willensanstrengung nicht willig, braucht man Gewalt. Das klingt nun schon recht religiös angehaucht: Gewalt im Philosophieren kann religiös inspiriert sein. Die Frage ist nun, in welchen Formen sich diese Gewalt manifestiert. Ein hintersinniges, wenn auch, wie ich denke, ebenso für die spätere Zeit exemplarisches Beispiel stammt aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Religion spielt hier eine entscheidende Rolle, denn das Argument hinsichtlich philosophischer Gewalt wird anlässlich eines Religionskonfliktes entwickelt, in diesem Fall demjenigen zwischen Christentum und Islam. Wenn direkte Gewaltanwendung scheitert, sind nicht primär friedliche Mittel um des Friedens willen, sondern subtilere Formen der Übermächtigung, also friedliche Mittel um des Krieges willen anzuwenden, nämlich die des intellektuellen Gesprächs („Religionsdialogs“). Eine grundlegende Regel der Kriegskunst findet hier Anwendung: die gewaltsame Auseinandersetzung möglichst auf ein Terrain zu verschieben, welches die eigenen militärischen Stärken am besten zur Geltung bringt. Denn natürlich sind diese Religionsgespräche, welche unter der Ägide der Vernunft stattfinden sollen, selbst ein Element der religiösen Auseinandersetzung. Offen ausgesprochen wird diese Strategie in einem brieflichen Gespräch zwischen Johannes von Segovia und dem deutschen Kardinal und Philosophen Nikolaus von Kues. Inspiriert ist dieses Gespräch durch einen Vorschlag des Johannes von Segovia, Konziliarist, Kardinal des letzten Gegenpapstes Felix V., bedeutender Theologe und Koranübersetzer, ausgeführt in seinem „Liber de Magna Auctoritate Episcoporum in Concilio Generali“ von 1445.34 Die Christen sollten, so Johannes, ihre Chance zur Überwindung des Gegners in ihrer geistigen Überlegenheit suchen, denn, so zeigt die bittere Erfahrung der Geschichte, (siehe die 1444 verlorene Schlacht von Warna), mit eigentlichen Schwertern, Schlachten und Kriegen verlieren sie im Allgemeinen. Nikolaus von Kues schreibt am 29. Dezember 1454, also nach der traumatischen Eroberung Konstantinopels 1453 und nach der Abfassung seiner berühmten Schrift „De pace Fidei“ in seiner Antwort auf eine briefliche Anfrage Johannes’:

34 Vgl. zum Dialog von Nikolaus von Kues mit Johannes von Segovia: ]lvarez-Gjmez, Bedingungen.

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„Ich stimme also Ihren Überlegungen zu, die sowohl im göttlichen als auch im menschlichen Recht bestens begründet sind; denn wenn wir gemäß [der] Lehre Christi vorgehen, werden wir nicht irren, sondern sein Geist wird in uns sprechen, dem kein Feind Christi widerstehen können wird. Aber wenn wir uns für den Angriff mit dem Schwert entscheiden, müssen wir fürchten, dass wir, mit dem Schwert kämpfend, auch durch das Schwert untergehen würden. Daher ergibt sich also: Allein die Verteidigung ist ohne Gefahr für den Christen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass wir durch die Vermittlung der weltlichen Fürsten, die die Türken den Priestern vorziehen, Gespräche erreichen können [ad colloquia posse perveniri], durch die der Zorn besänftigt werden und sich die Wahrheit selbst zu Gunsten unseres Glaubens zeigen wird.“35

Für den Juristen Cusanus ist das Problem eine Rechtsfrage bzw. eine Frage der Rechtfertigung der eingesetzten (gewaltsamen?) Mittel. Die hier angedeutete cusanischen Maxime ad colloquia als Anweisung zur Verschiebung des Schlachtfeldes, des Ortes der Gewaltsamkeit in Fragen eines als religiös interpretierten Konflikts, liegt auch seinem berühmten Religionsdialog „De Pace Fidei“ zugrunde:36 der einzig gangbare gerechtfertigte Weg ist derjenige Christi und zwar in biblischer („alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen“ Mt 26,52) wie auch in philosophischer Hinsicht, was sich in einem durch die weltliche Gewalt, die Fürsten (und nicht durch die Priester) vermittelten Gespräch alsbald zeigen wird. Erfolgversprechend ist allein der Weg der Konferenz bzw. des Kolloquiums.37 Der für die Christenheit im Gespräch vor allem nutzbare Umstand liegt dabei nach Johannes von Segovia vor allem darin, dass die Muslime die Wissenschaft scheuen, da sie durch Vielweiberei und die Hitze abgelenkt sind und keine Ermutigung zur Disputation durch den Koran erfahren, ja die Wissenschaft sogar prinzipiell verachten. Dies ist die schwache Stelle der muslimischen Schlachtordnung. Darum, so schließt Johannes, müssen die Christen vor allem danach streben, den Konflikt auf die theoretische Ebene zu verlegen, sprich, sie müssen alles tun, um mit den Sarazenen ins Gespräch zu kommen, und zwar auf einer bestimmten Ebene, d. h. in ein wissenschaftliches Gespräch, um hier ihre Überlegenheit siegreich auszuspielen.38 Davon zeigt sich auch Cusanus überzeugt: „Für meinen Teil bin ich jedenfalls ganz und gar der Überzeugung, dass es besser ist, mit ihnen zu sprechen als gegeneinander Krieg zu führen […]“ (Ego tamen, etsi omnino cum ipsis potius putem conferendum quam bellandum […]).39

35 Die Übersetzung stammt von Walter Andreas Euler aus dem Band: Euler / Kerger (Hg.), Cusanus und der Islam, 69f. 36 Vgl. etwa Nikolaus von Kues, Frieden. 37 Vgl. hierzu Stünkel, Religio. 38 Vgl. Meuthen, Fall, 58f. 39 Euler / Kerger, Cusanus, 74f.

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Johannes von Segovia und Nikolaus von Kues sind sich über die Notwendigkeit der Verschiebung des Ortes der gewaltsamen Auseinandersetzung einig. In „De Pace Fidei“ führt Cusanus dann vor, welchen Erfolg eine Diskussion im „Himmel der Vernunft“ für eine christliche Position dann werden kann. Wichtig ist hierbei vor allem die vernunftgemäße Vorgehensweise, welche nun allerdings, trotz Johannes’ eher despektierlicher Auslassungen, davon ausgehen muss, dass die in der Unterredung anwesenden Muslime zumindest in der Lage sind, eine wissenschaftlich schlüssige Argumentation als solche zu erkennen und intellektuell zu schätzen sowie sich begründet überzeugen zu lassen. Kündigt sich hier eine neue, verdeckte, aber doch wohl genuin philosophische Form der (religiös motivierten) Gewaltanwendung an, die Gewalt des Diskurses? Die Nutzung von Kriegs- bzw. Gewaltstrategie als philosophische Methode ist ebenfalls nicht ungewöhnlich. Ich zitiere hierzu einen vielleicht überraschenden Kronzeugen, nämlich den Sprachdenker Franz Rosenzweig (1886–1929). In seinem Aufsatz aus dem Jahre 1925 „Das neue Denken“ gibt er einen in jeden Fall beachtenswerten Tipp für die Lektüre philosophischer Schriften, deren Widerstand man am besten gewaltsam mit einer bestimmten militärischen Strategie bricht. Für philosophische Bücher gilt nämlich nach Rosenzweig folgendes: „Hier folgt ein Satz nicht aus seinem Vorgänger, sondern viel eher aus seinem Nachfolger. Wer einen Satz oder Absatz nicht verstanden hat, dem hilft es wenig, wenn er in dem gewissenhaften Glauben, nichts unverstanden zurücklassen zu dürfen, ihn etwa wieder und wieder liest oder gar noch mal von vorn anfängt. Philosophische Bücher versagen sich solcher methodischen ancien r8gime-Strategie, die keine Festung unerobert im Rücken lassen zu dürfen meint; sie wollen napoleonisch erobert werden, in kühnem Vorstoß auf die feindliche Hauptmacht, nach deren Besiegung die kleinen Grenzfestungen schon von selber fallen werden. Wer also etwas nicht versteht, darf die Aufklärung am sichersten erwarten, wenn er mutig weiterliest.“40

Seinen Aufsatz verstand Rosenzweig als Lektürehilfe für sein eigenes Buch, den 1918 entstandenen „Stern der Erlösung“ (geschrieben in philosophos und in tyrannos, also ein philosophisches Buch gegen die Philosophie).41 Das Buch ist selbst von Rosenzweig als ein gewaltsamer Akt zum Zwecke einer Neubegründung des Denkens gestaltet. Hier schreibt er definitorisch: „Es ist der Sinn aller Gewalt, daß sie ein neues Recht gründe.“42 Ist Rosenzweigs pragmatischer Lektürevorschlag als solcher sehr wichtig, seine Kennzeichnung durch Begriffe der Kriegskunde sind es ebenso. Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg sind sie nicht ungewöhnlich, man findet sie etwa auch bei Jaspers oder Heidegger (insbesondere hinsichtlich der im ersten 40 Rosenzweig, Denken, 189. 41 Rosenzweig, Stern. 42 Rosenzweig, Stern, 370.

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Weltkrieg zur Überwindung des Grabenkrieges entwickelten „Stoßtrupp“Taktik).43 Strategische Gewalt erscheint als ein hermeneutisches Instrument, gerade dann, wenn es um die, wie Rosenzweig schreibt, „Hauptschlacht des Verständnisses“ geht. Diese Schlacht kann nicht gewonnen werden, wenn der Gegner Terrain und Strategie bestimmt: diese müssen vielmehr durch Gewalt abgewiesen und der eigenen Vorgehensweise unterworfen werden. Rosenzweigs Rat ist daher eine martialische Reformulierung des Grundgesetzes der hermeneutischen Billigkeit (also den Autor eines Buches für so intelligent wie möglich zu halten – aber nach eigenen Maßstäben der Intelligenz). Doch dieses Grundgesetz wird umgekehrt in seiner Gewalttätigkeit von Rosenzweig deutlich aufgezeigt. „Die Gewalt“ kann nun auch sachlich zu einem beherrschenden Thema eines Philosophen werden – obwohl es in dem folgenden Fall nicht offensichtlich ist: Am Ende seines Lebens schreibt der neunzigjährige Karl Raimund Popper am 4. März 1993 in einem Brief an einen seiner Biographen: „Was mich betrifft, so habe ich nie etwas geschrieben, das nicht einem echten, dringenden Problem gewidmet war – in letzter Linie, den Problemen des Totalitarismus und des Krieges: der Violence (das englische Wort paßt besser als ,Gewalt‘; aber das ist kein Problem der Sprachanalyse – nur der praktischen Kommunikation).“44

Gewaltphänomene sind also echte, dringende Probleme, vielleicht die entscheidenden Probleme überhaupt, denen sich der verantwortliche Philosoph anzunehmen hat. Am deutlichsten wird dies im Blick auf Poppers Denkweg. In seiner Autobiographie berichtet er von seinem philosophischen Konversionserlebnis weg vom Marxismus, welches er dem eigenen Bericht nach angesichts von Gewalt als noch nicht 17-jähriger hatte. „Während einer Demonstration machten junge, unbewaffnete Sozialisten, angespornt von den Kommunisten, den Versuch, einige Kommunisten zu befreien, die in der Wiener Polizeidirektion unter Arrest waren. Mehrere junge sozialistische und kommunistische Arbeiter wurden erschossen. Ich war erschüttert; entsetzt über das Vorgehen der Polizei, aber auch empört über mich selbst. Denn es wurde mir klar, daß ich als Marxist einen Teil der Verantwortung für die Tragödie trug – wenigstens im Prinzip. Die marxistische Theorie verlangte die dauernde Verschärfung des Klassenkampfes, damit das Kommen des Sozialismus beschleunigt werde.“45

In der Folge erkennt Popper sein Erlebnis von Gewalt als ein genuin religiöses, denn seine damalige Weltanschauung, der Kommunismus „ist eine Religion, die 43 Vgl. Heidegger / Jaspers, Briefwechsel, 41. 44 Im Original reproduziert bei Geier, Popper, 125. 45 Popper, Ausganspunkte, 40.

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eine bessere Welt verspricht“,46 und die zu Gewaltphänomenen führt, die im Sinne Benjamins und Arendts erschüttern und entsetzen. Im Exil in Neuseeland schrieb zwischen 1937 und 1943 der bis dahin vor allem als Wissenschaftstheoretiker und Wissenschaftsphilosoph hervorgetretene Popper zwei Bücher, ein kurzes mit dem Titel „Das Elend des Historizismus“ und ein sehr umfangreiches, das „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ betitelt ist. Beide Bücher, und insbesondere das letztere, verstand Popper explizit als einen aktiven und konkreten Kriegsbeitrag.47 Seine philosophische Mission setzte Popper also den alliierten Anstrengungen (d. h. insbesondere der der westlichen Demokratien) zur Seite, die faschistischen und nationalsozialistischen Diktaturen militärisch in die Knie zu zwingen. Doch stellt Popper seine Kriegsanstrengung (und seinen Sieg) auf Permanenz. Der philosophische Krieg sollte nun durch eine kritische Interpretation der ideologischen Wurzeln jener Regime gewonnen werden, und zwar durch eine eingehenden Interpretation und folgender Kritik von Philosophen im Sinne einer kriegerischen Niederwerfung, vor allem von Platon und Marx, aber auch von Hegel. Ich nenne das Beispiel Poppers, um zu zeigen, dass die theoretische Rechtfertigung und ausdrückliche praktische Anwendung von Gewalt in der philosophischen Reflexion nicht auf Apologeten zweifelhafter politischer Meinungen unter den Philosophen beschränkt ist, sondern durchaus auch (und vielleicht gerade) Denker ein gewalttätiges Recht des Stärkeren (in diesem Falle des besseren Arguments) befürworten, die wir (wiederum) mit Recht als ethisch-moralisch und politisch überlegen bezeichnen würden. Ein eigener Einschätzung nach wehrhafter Demokrat wie Popper kann auch die Stimme für eine gewalttätiger Ausmerzung schädlicher tyrannischer Ideologien zugunsten der Etablierung einer offenen Gesellschaft erheben. Im Marx-Teil seines Buches unter der Überschrift „Die soziale Revolution“ schreibt Popper: „Ich bin nicht in allen Fällen und unter allen Umständen gegen eine gewaltsame Revolution. Wie einige christliche Denker des Mittelalters und der Renaissance, die die Zulässigkeit des Tyrannenmordes lehrten, glaube auch ich, daß es in einer Tyrannei vielleicht keine andere Möglichkeit gibt und daß eine gewaltsame Revolution gerechtfertigt sein kann. Aber ich glaube auch, daß das einzige Ziel jeder solchen Revolution die Einrichtung einer Demokratie sein sollte: und unter einer Demokratie verstehe ich nicht etwas so Vages wie etwa die ,Herrschaft des Volkes‘ oder die ,Herrschaft der Majorität‘, sondern eine Reihe von Einrichtungen […], die die öffentliche Kontrolle der Herrscher und ihre Absetzung durch die Beherrschten gestatten und die es den Beherrschten ermöglichen, Reformen ohne Gewaltanwendung und sogar gegen den Wunsch der Herrscher durchzuführen. Mit anderen Worten: Die Anwendung von Gewalt ist nur in einer Tyrannei gerechtfertigt, in der sich Reformen 46 Popper, Ausganspunkte, 41. 47 Popper, Gesellschaft, 489.

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nicht ohne Gewalt durchführen lassen; und sie sollte nur ein Ziel haben, nämlich die Erreichung eines Zustandes, in dem gewaltlose Reformen wieder möglich sind.“48

Interessant ist hier der Rekurs Poppers auf Denker, die in ihrer Rechtfertigung von Gewalt als explizit als solche so genannten „christliche“ Denker in einem religiösen Kontext operierten. Ist damit angedeutet, dass es religiöse Gewalt ist, welche im Tyrannenmord eine Rechtfertigung erfährt? Treibt die philosophische Gewalt ein religiöser Impuls? Interessant ist auch, dass er das Medium von Gewaltlosigkeit nicht als einen Menschen bzw. eine Gruppe von Menschen, sondern als eine Institution („Einrichtung“) bestimmt, welche verändernde Taten allererst ermöglicht. Diesen Institutionen gegenüber besteht eine sittliche Verpflichtung.49 Sie sind auch Ziel und Rechtfertigung von Gewaltausübung. Anders gewendet: Gewalt durch Menschen ist nur gerechtfertigt in einer institutionenlosen Tyrannei, in einem ordnungslosen Urzustand. Innerhalb der philosophischen Diskussion jedenfalls herrscht, so muss man es dann deuten, Tyrannei ohne beschränkende Institutionen (für Popper sind dies etwa Standards des philosophischen Argumentierens), und zwar diejenige Tyrannei der Erben Platons und Marxens (welche die Anhänger Sokrates’ und Kants als Poppers besondere Helden unterdrücken). Ihre Tyrannei muss als solche entlarvt, die Tyrannen selbst, d. h. nicht ihre Nachbeter in heutiger Zeit, gewaltsam zu Fall gebracht werden. Als ein exkursorischer (und selbst polemischer) Einschub: Der Gestus der Entlarvung und des Tyrannenmords ist kennzeichnend für bestimmte kritische Bestrebungen, eine intellektuelle Atmosphäre nach dem 2. Weltkrieg: Sie ist ausgezeichnet durch den Anspruch auf ein permanentes Kriegsrecht, befeuert von einer als grundsätzlich angesehenen moralischen Überlegenheit („Wir sind die Guten!“), welche jegliches gewalttätiges Handeln rechtfertigt. Man denke an Vulgärformen der kritischen Theorie, an den Terrorismus der siebziger und achtziger Jahre, aber auch jüngst an den Umgang der Reformpädagogik mit den Vorgängen an der Odenwaldschule. Und zwar geschieht dies unter dem Bild der Verteidigung die mir auf protestantische Wurzeln hinzudeuten scheint: sie evoziert das Bild der von einer Welt von Teufeln belagerten festen Burg, deren Erhaltung jegliches Opfer – auch das der persönlichen Integrität – wert ist. Er rechtfertigt auch den Kampf gegen selbsterschaffene Monster. Hinsichtlich der geschichtsphilosophischen Tyrannei des Historizismus schreibt Popper : „Ich habe mich aber sehr bemüht, alle denkbaren Argumente, die sich für den Historizismus vorbringen lassen, zu sammeln, um meiner auf die Darstellung folgenden Kritik eine sinnvolle Aufgabe zu stellen. Ich habe mich bemüht, den Historizismus als wohldurchdachte und differenzierte Philosophie darzustellen. Dabei habe ich nicht 48 Popper, Gesellschaft, 177f. 49 Vgl. Popper, Gesellschaft, 279.

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gezögert, Gedankengänge zur Stützung des Historizismus zu konstruieren, die meines Wissens von den Historizisten selbst nie vorgebracht werden. Ich hoffe, daß es mir dadurch gelungen ist, einen Standpunkt zu konstruieren, den anzugreifen sich wirklich lohnt.“50

Philosophische Gewalt lohnt sich nur am geeigneten Objekt, das man zur Not erfinden muss. Wenn es aber auch, wie Popper selbst schrieb, darum geht, seine Schriften „eine Verteidigung gegen totalitäre und autoritäre Ideen – und als eine Warnung vor den Gefahren des historizistischen Aberglaubens“51 zu verstehen, dann stellt sich die Frage nach dem Glauben, der diesen gewaltsamen Kampf auf Leben und Tod zu fordern und zu leiten im Stande ist. Popper selbst kennzeichnet seine grundsätzliche Entscheidung für die Vernunft bzw. Rationalität als eine Glaubensentscheidung,52 für die er dieselben Rechte zur Verbesserung der conditio humana beizutragen beansprucht wie etwa für den „religiösen Mystizismus“. So redet er nicht „der religiösen Intoleranz das Wort“.53

4.2

Hermeneutische Gewalt

Die Anwendung von Gewalt ist also in mehrfacher Hinsicht gerechtfertigt. Sie ist sogar in einem Bereich gerechtfertigt, wo man sie zunächst wohl nicht erwarten würde, und eher im Gegenteil wie in den Philologien eine besonders behutsame Vorgehensweise vermutet. Ich spreche von der Interpretation von Texten. Unter Philosophen kann man hier ganz erstaunliche Gewaltausbrüche beobachten. Ich zitiere zum Beleg Martin Heideggers Vorwort zur zweiten Auflage seines Buches „Kant und das Problem der Metaphysik“ (1929) aus dem Jahre 1950: „Die vor zwei Jahrzehnten veröffentlichte und alsbald vergriffene Schrift erscheint hier unverändert. So bleibt ihr die Form erhalten, in der sie auf mannigfache Weise gewirkt und nicht gewirkt hat. Unablässig stößt man sich an der Gewaltsamkeit meiner Auslegungen. Der Vorwurf des Gewaltsamen kann an dieser Schrift gut belegt werden. Die philosophiehistorische Forschung ist mit diesem Vorwurf sogar jedesmal im Recht, wenn er sich gegen Versuche richtet, die ein denkendes Gespräch zwischen Denkenden in Gang bringen möchten. Im Unterschied zu den Methoden der historischen Philologie, die ihre eigene Aufgabe hat, steht ein denkendes Zwiegespräch unter anderen Gesetzen. Diese sind verletzlicher. Das Verfehlende ist in der Zwiesprache drohender, das Fehlende häufiger.“54 50 51 52 53 54

Popper, Elend. Popper, Ausgangspunkte, 163. Vgl. Popper, Suche, 232. Popper, Gesellschaft, 301. Heidegger, Kant.

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Jedenfalls zur Zeit der Abfassung seines Buches scheint Heidegger der Meinung gewesen zu sein, dass Gewalt dem Denken, dem Philosophieren als Kommunikationsinstrument, wenn nicht gar als Kommunikationsermöglichung dienen kann und soll. Die Art und Weise, wie sich Heidegger in den sogenannten Davoser Gesprächen zur gleichen Zeit mit und gegen Ernst Cassirer auf Krawall gebürstet zeigte, lässt vermuten, dass die ostentative Gewalttätigkeit gegenüber Kant mehrere Adressaten bzw. Objekte hatte (Cassirer war im Gespräch souverän genug, Heidegger in Watte laufen zu lassen, so dass dieser sich ob der fehlenden Angriffsfläche seines angenommenen Opfers beschwerte).55 Heideggers Begründung der Gewaltanwendung ist jedenfalls die Folgende: Die Philosophie nutzt im Gegensatz zu den Methoden der historischen Philologie Gewalt, um ein denkendes Gespräch mit einem Autor aus einer anderen Zeit möglich und fruchtbar zu machen. Die Konsequenz aus dieser Idee der gewaltsamen Refertilisierung vergangener Philosophie zieht, wiederum im Hinblick auf eine mögliche Kommunikation mit Kant, Gilles Deleuze. Philosophische Interpretation, die Reflexion über einen anderen Autor, wird zur bewusst eingesetzten Vergewaltigung. Deleuze schreibt über sein Buch „Kants kritische Philosophie. Die Lehre von den Vermögen“: „Mein Buch über Kant ist eine andere Geschichte, ich habe es gern. Ich habe es geschrieben als Buch über einen Feind, von dem ich zu zeigen versuchte, wie er funktioniert, was seine Zahnräder sind – Tribunal der Vernunft, angemessener Gebrauch der Vermögen, Unterwerfung, die um so heuchlerischer ist, da man uns den Titel des Gesetzgebers verleiht. Aber vor allem war meine Art, mich dieser Episode zu entziehen, glaube ich, die Geschichte der Philosophie als eine Art Arschfick zu verstehen, oder was auf dasselbe hinausläuft: unbefleckte Empfängnis. Ich stellte mir vor, hinter den Rücken eines Autors zu gelangen und ihm ein Kind zu machen, das sein eigenes und trotzdem monströs wäre. Es ist sehr wichtig, daß es sein eigenes ist, weil es nötig ist, daß der Autor wirklich sagt, was ich ihn sagen lasse. Aber es war auch wichtig, daß das Kind monströs ist, weil er alle Arten von Dezentrierung – Gleitbewegungen, Brüche, geheime Absonderungen – durchlaufen mußte, die mir beliebten.“56

Deleuze zeichnet hier ein Bild des angemessenen interpretatorischen Umgangs mit der Geschichte der Philosophie, welches ernsthafte Historiker und Philologen schaudern macht. Deleuzes Ansatz ist leicht übertragbar auf andere kulturelle Bereiche, und das hat man auch getan, allerdings keineswegs affirmativ. Die Orientalismusdebatte handelt im Kern von dem Vorwurf konzeptueller Vergewaltigung in Form eines die Eigenwürde der untersuchten Gegenstände 55 Zu den Davoser Gesprächen vgl. Friedmann, Carnap/Cassirer/Heidegger. Zu Heideggers fehlgeschlagenem Gewalttätigkeitsversuch gegenüber Cassirer vgl. seinen Brief an Elisabeth Blochmann vom 12. April 1929 in: Heidegger / Blochmann, Briefwechsel, 30. 56 Deleuze, Philosophie.

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mit Füßen tretenden Begriffsimperialismus (cultural imperialism).57 Deleuzes Auslassungen zu Kant im Speziellen sind nun nicht nur ob ihrer plastischen Bilder von Interesse. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass ausgerechnet Kant so häufig Objekt philosophischer Gewaltphantasien ist. Die Stichworte, die Deleuze hier nennt, werden für uns im Folgenden bei der Analyse religiöser Gewalt in philosophischer Reflexion von Bedeutung sein.

4.3

Religiöse Gewalt im Philosophieren

Nun mag der Zusammenhang zwischen philosophischer Reflexion bzw. Interpretation und Gewalt keine besonders neue und umstürzende Erkenntnis sein. Ich möchte den Satz jedoch modifizieren, so dass eine vielleicht noch nicht genügend bedachte Spezifik philosophischer Reflexion deutlich wird: Die philosophische Reflexion operiert mittels religiöser Gewalt bzw. als religiöse Gewalt. Dabei scheint dieser Schritt im Hinblick auf die bisher besprochenen Autoren eigentlich nicht möglich zu sein. Heidegger zum Beispiel hat oftmals die Notwendigkeit eines „methodischen Atheismus“ im Philosophieren betont und gar (in einem Vortrag vor Marburger Theologen) die „Todfeindschaft“ zwischen der Philosophie und dem Glauben deklariert.58 Eine religiöse, konkret eine „christliche Philosophie“ ist für ihn ein „hölzernes Eisen“. Popper bezeichnet sich ausdrücklich als mindestens Agnostiker.59 Wie sollte das Philosophieren dann aber religiöse Gewalt ausüben? Vorgreifend sei vermerkt, dass gerade Heidegger sich in seinem Denken gerne religiöser Formen (etwa Konversion, Prophetie bzw. der Johannesfigur, Metaschematismen etc.) bedient, wahrscheinlich auch ein Grund dafür, dass sich insbesondere Theologen (etwa Rudolf Bultmann oder Karl Kardinal Lehmann) für sein Philosophieren interessiert haben. Dies ist jedoch eine andere Geschichte.60 Ich hoffe, dass ich bis hierhin zumindest habe zeigen können, dass Gewalt nicht nur Thema des Philosophierens ist, sondern dass sich das Philosophieren im hohem Maße der Gewalt bedient, vielleicht sogar bedienen muss, um fruchtbare Ergebnisse zu erzielen und so ihre Existenz zu rechtfertigen. Dass sie sich nun sogar in ihrer Praxis Formen religiöser Gewalt bedient, ist die These des verbleibenden Teils der Untersuchung. Zum Beleg dieser These möchte ich ein historisches Beispiel ausführlicher 57 Siehe Said, Culture. 58 Siehe insbesondere Heideggers Aufsatz „Phänomenologie und Theologie“ in: Heidegger, Wegmarken, 46–79, hier 66. 59 Vgl. Popper / Eccles, Ich, 14. 60 Siehe hierzu Stünkel, Positionen, 98–142.

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behandeln. Der Ort des Szenarios ist ein Gesprächszusammenhang vor ungefähr zweihundertfünfzig Jahren in Königsberg, zu diesem Zeitpunkt eines der lebhaftesten intellektuellen Zentren Deutschlands und nicht, wie es oftmals scheint, der weitabgelegene Ort nur eines solitären geistigen Leuchtturms, nämlich Immanuel Kants. Bisher haben wir in den verstörenden Beispielen Heideggers und Deleuzes Kant vor allem als Opfer gewalttätiger philosophischer Reflexion kennen und bemitleiden gelernt. Doch in diesem Fall ist es anders. Ein Gesprächspartner und Freund Kants in Königsberg, Johann Georg Hamann (1730–1788),61 wirft der Philosophie im Sinne Kants ihre (unreflektierte) Gewalttätigkeit vor, und zwar eine Gewalttätigkeit, die sich bei näherer Hinsicht als religiös erweist. Philosophie ist Religion und handelt entsprechend gewalttätig. Es gibt eine Tradition in der Rezeptionsgeschichte, die Hamann, den „Magus in Norden“ als Mystiker, Irrationalist und Anti-Aufklärer denunziert62 (obwohl dies oftmals als Lob gemeint ist, siehe die entsprechenden Äußerungen im Kontext des „Sturm und Drang“). Doch gerade in der Kritik Kants als dem beispielhaften Anti-mystiker, Vernunftdenker und Aufklärer schlechthin, in der, wie es Hamann nennt, Metakritik, zeigt sich ein anderes Bild von Hamann als dem radikaleren Aufklärer, demjenigen nämlich, der das aufklärende Philosophieren über seine blinden Flecken unterrichtet. Hamann stört sich dabei insbesondere an dem Begriff der „reinen“ Vernunft. Ein gerade im religiösen Kontext höchst bedeutsames Konzept, die Reinheit, wird von Kant, so Hamann, zur Leitdifferenz gelingenden, d. h. vernünftigen Philosophierens erhoben. Die Vernunft macht das Sinnliche, Historische und Materielle in ihrem Bestreben, sich hiervon zu reinigen, zu einem moralisch Unreinen im biblischen Sinne. Sie stellt Natur, Sinnlichkeit und Geschichtlichkeit unter Generalverdacht. Diese Form von Unreinheit kann nicht entsühnt werden und ist nur durch Ausschluss zu bekämpfen. Der kritische Weg im Sinne Kants geht nach Hamann von der gewaltsamen Hygiene zur Ethik des Ausschlusses und der Exterminiation. Hamanns Argumentation ist wie folgt: Wenn man der Auffassung ist, die Vernunft bzw. der Vernunftgebrauch habe „rein“ zu sein, so zieht man Demarkationslinien, grenzt ihren reinen Bereich hermetisch und rigoros gegen das Fremde und Verunreinigende ab.63 Eine Kritik der reinen Vernunft dient, so schreibt Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ „nicht zur Erweiterung, sondern nur zur Läuterung unserer Vernunft“.64 Eine solche sich scheinbar selbst bescheidende philosophische Abgrenzung ist aber auch eine Form der Theo61 62 63 64

Zu Hamann grundsätzlich: Bayer, Zeitgenosse. Berlin, Magus. Vgl. hierzu Stünkel, Fremdkörper, 201–218. Kant, Kritik, 63.

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gonie und somit als Läuterung ein religiöser Prozess. In den Säuberungsbemühungen aufgeklärter Philosophen wird die reine Vernunft zu einer Hypostase, zu einer eigenständigen Person in einer „heiligen Prosopopee“65 (Personifikation), die auch unabhängig ist von dem, der sie beschreibt bzw. unter ihrer Ägide philosophisch handelt. Sie wird somit zum Subjekt einer absoluten Subjektivität und erlangt durch die reine Geburt aus sich selbst einen quasi gottgleichen Status, der im Wortsinne gewaltige Macht zugeschrieben wird. Zudem schreibt sich die reine Vernunft die eigene Bibel mit einem Autor als Medium. Per Reinigung wird das rein auf die Sache bezogene philosophierende Subjekt zum Teilnehmer einer göttlichen Heilsgeschichte. Die philosophische Initiation zur Kritik führt zu einer Wandlung des ganzen Menschen im Sinne einer Konversionserfahrung, in dem der Mensch zum Sprachrohr einer höheren Macht wird. Die erkenntnisleitende Furcht ist, durch das Fremde korrumpiert zu werden. Kant notiert hierzu definitorisch: „Es heißt aber jede Erkenntnis rein, die mit nichts Fremdartigen vermischt ist. Besonders aber wird eine Erkenntnis schlechthin rein genannt, in die sich überhaupt keine Erfahrung oder Empfindung einmischt, welche mithin völlig a priori möglich ist.“66

Fremd und somit unrein für die Erkenntnis ist dem Denker der reinen Vernunft das Sinnliche und Materielle, dessen Einfluss auf das Denken möglichst eliminiert werden soll. Die Vernunft wird hypersensibel gegenüber der normalen Umwelt, denn sie nimmt eine grundsätzliche Abwehrhaltung ein. Der Ekel wird dem Denker zur Attitüde und die Abstoßung normativ besetzt. Bei Kant heißt es entsprechend in seinen „Prolegomena“: „wer einmal Kritik gekostet hat, den ekelt auf immer alles dogmatische Gewäsche […]“.67 Dies hat, so Hamann, verheerende Folgen für den Habitus des Philosophierenden. Er ist nämlich nunmehr durch die grundsätzliche Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt, schlimmer noch, durch seine selbstauferlegte Verpflichtung zur Anwendung von Gewalt bei einer entsprechenden Notlage, charakterisiert. Dabei rechtfertigt seine Philosophie diese Gewalt noch normativ und begründet sie heilsgeschichtlich. In der soteriologischen Abwehrhaltung manifestiert sich die Tendenz zur Abgrenzung. So kultiviert der Philosoph einen Zustand permanenten abwehrenden Alarms, der zudem noch zu hysterischen Überreaktionen neigt, und zwar in Form eines ins Absolute gesteigerten Drangs zur Hygiene, welche sich in einer intensivierten Spirale wiederum die Abwehrbereitschaft steigert. Zuletzt kann Fremdes überhaupt nicht mehr friedlich integriert, und auch nicht mehr nur gemessen ertragen (d. h. im Wortsinne toleriert) werden und wird in 65 So Hamann in seinen Denkwürdigkeiten /Aesthetica, 99. 66 Kant, Kritik, 62 (A 11). 67 Kant, Prolegomena, 243.

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einem finalen Schritt gewaltsam abgestoßen. Diese entzündliche Reaktion auf das Andere wird zu einer Sache auf Leben und Tod, die gewalttätige Aktionen unmittelbar rechtfertigt. Schließlich richtet sich die neurotische philosophische Idee gegen die Lebensbasis des betroffenen Individuums selbst und wird so zu einer Bedrohung für andere. Hamann betont diesen Punkt in aller Schärfe: das zuvor aus dem Denken Herausdefinierte wird in der Philosophie exekutiert. „Eure mordlügnerische Philosophie hat die Natur aus dem Weg geräumt …“68 ist Hamanns Vorwurf. Das Materielle überhaupt wird als unrein und verschmutzend, als schädlich und aggressiv interpretiert, und wird somit zu einer Bedrohung, die man am besten selbst präventiv, aggressiv und endgültig beseitigt. Diese Attitüde ist ebenso und nicht zufällig gerade in den Religionen zu beobachten: „Das Unreine wird als aggressiv bestimmt: Es steckt an, bemächtigt, befleckt, stigmatisiert, weshalb es präventiv ausgeschlossen oder repressiv ausgemerzt werden muß.“69

Dies hat natürlich auch politische Folgen, und zwar zunächst einmal innenpolitische. Denn die Aggressivität nach außen geht so einher mit einer Despotie nach innen, in der die Vernunft sich selbst gleichschaltet. Vernunft organisiert sich per Reinheit solcherart, dass sie keine möglichen Bezugspunkte mehr zur materiellen Welt bietet, um so das Risiko einer Kontamination auszuschalten. Das Reich der philosophischen Reinheit wird zur Insel, wie es Kant in der Kritik der reinen Vernunft selbst eindrucksvoll beschreibt: „Dieses Land aber ist eine Insel, und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt …“70

Das Land der Wahrheit ist formvollendet eingedeicht und seine Bewohner so sicher vor dem unbegrenzten Reich des Scheins. Doch die sich abgrenzende Vernunft ist hier nicht mehr im eigentlichen Sinne vernünftig, d. h. vernehmend bzw. offen für Ansprache oder auch empfänglich und empfängnisbereit, sondern autistisch. Diesen Autismus, so Hamanns Vorwurf, nennt der Philosoph gleisnerisch geistige Freiheit, Autarkie und Selbstgesetzgebung. Denn der Anspruch, unter Anleitung der Vernunft voraussetzungslos und vorurteilsfrei die Wahrheit erschließen zu können, ist, so Hamann, als Unabhängigkeitserklärung und Selbstapotheose des menschlichen Geistes ein anmaßender Irrtum, der von der Sinnlichkeit, Geschichtlichkeit und Sprachlichkeit des Denkens absieht. 68 Hamann, Denkwürdigkeiten / Aesthetica, 113. 69 So Petra Bahr in ihrem Artikel „Reinheit“, 150. 70 Kant, Kritik, 267.

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Da nun nach Hamann das Historische und die Sinnlichkeit nicht hintergehbar sind, wird durch den Reinigungsversuch nur ein bestimmter zeitlicher Zustand eines bestimmten Individuums perpetuiert. Reine Vernunft wird so zur reinen kontingenten Subjektivität als Selbstapotheose. Der in sich kreisende Denker erkennt nur sich selbst und kann daher zu keinen fruchtbaren Ergebnissen kommen. Schlimmer noch, durch diese intellektuelle Form von permanenter Masturbation wird die Vernunft zu ihrer größten Unehre beschmutzt und befleckt. Hamann erzählt das selbstinduzierte Verrücktwerden der Vernunft in seiner Metakritik als die Geschichte ihrer „dreifachen Reinigung“71, durch die die Vernunft „schrittweise ihre Bodenständigkeit und Bestimmtheit verliert“.72 Dieser Verlust ist zentrales Element der kritischen Philosophie. Durch vorschnelle und abstrakte Vorurteilskritik wird die Tatsache verkannt, dass der Mensch ohne auf Vorurteilen basierende Überlieferung nicht existieren kann: „Die erste Reinigung der Philosophie bestand nemlich in dem theils misverstandenen, theils mislungenen Versuch, die Vernunft von aller Überlieferung, Tradition und Glauben daran unabhängig zu machen.“73

Gelingen kann dieser Bruch faktisch nicht, jedoch ist schon der Versuch strafbar. Durch den Bruch mit der Überlieferung macht sich die Vernunft zum Kind ihrer selbst und verschließt sich in sich – ein Vorgang, der viel Ähnlichkeit mit dem von Mary Douglas und Emmanuel Sivan beschriebenen Phänomen der „kulturellen Enklave“ im Sinne einer Phänomenologie starker Religiosität besitzt.74 Erfahrung und die alltägliche Praxis werden aus dem vernünftigen Diskurs durch dicke Mauern der Glaubenstreue eliminiert. „Die zweite ist noch transcendenter und läuft auf nichts weniger als eine Unabhängigkeit von der Erfahrung und ihrer alltägl. Induction hinaus“75.

Doch der Mensch agiert tagtäglich erfahrungsgeleitet mittels Induktion. Hamann wirft Kant vor, dass er den ihm von Hamann selbst zur Lektüre empfohlenen Hume und dessen Betonung von Erfahrung und Induktion vergessen hat. Doch nicht genug damit. Als letzter Akt der Selbstabschottung in die eigene Enklave wird die Sprache als die letzte Bastion von „Bodenständigkeit, Erfahrungssättigung und Anwendungsbezug“76 zu einem eitlen Spiel leerer Abstraktionen geläutert: 71 72 73 74 75 76

Bayer, Vernunft, 248. Bayer, Vernunft, 251. Hamann Metakritik ist zitiert nach der kritischen Ausgabe bei Bayer, Vernunft, 252. Vgl. Kippenberg, Gewalt, 41. Bayer, Vernunft, 254. Bayer, Vernunft, 264.

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„Der dritte, höchste und gleichsam empyr[ä]ische Purismus betrifft also noch die Sprache, das einzige/ erste u letzte/ Organon und Kriterion der Vernunft, ohne ein ander Creditiv als Ueberlieferung und USUM.“77

Kant selbst denkt nicht kritisch genug, da er die Tatsache außer Acht läßt, daß eine Reinigung der Sprache selbst wiederum nur sprachlich vollzogen werden kann. Doch die Vernunft befindet sich nicht auf dieser niederen Sphäre. An dieser Stelle macht Hamann den religiösen Charakter der philosophischen Reinigung besonders deutlich. Das Ergebnis der Purifikation ist ein kalter Götze im höchsten empyräischem Himmelreich, der ebendieselbe Tyrannei – und dies noch im potenzierten Maße – ausübt wie diejenigen vermeintlichen Götzenbilder, die der vernünftigen philosophischen Kritik (und Verwerfung) unterlagen. Hamann beklagt „eure allgemeine Menschenvernunft, die ihr durch eine mehr als poetische Licenz zu einer wirklichen Person vergöttert, und dergleichen Götter und Personen macht ihr durch die Transsubstantiation eurer Bildwörter so viel, daß das größte Heidentum und blindeste Pabsttum in Vergleichung eurer philosophischen Idololatrie am jüngsten Gericht gerechtfertigt und vielleicht losgesprochen seyn wird.“78

Der Gerichtshof der Vernunft besteht beim Jüngsten Gericht nicht, da er seine eigenen juristischen und politischen Implikationen vertuscht. Denn durch ihre Reinigungen verspricht die Vernunft: „auch mit eben so viel Trotz den ungedultigen Zeitverwandten, und zwar in kurzer Zeit, jenen allgemeinen und zum Katholicismo und Despotismo nothwendigen und unfehlbaren Stein der Weisen, dem die Religion ihre Heiligkeit und die Gesetzgebung ihre Majestät flugs unterworfen wird, besonders in der letzten Neige eines kritischen Jahrhunder[t]s, wo beyderseitiger Empirismus, mit Blindheit geschlagen, seine eigene Blöße von Tag zu Tag verdächtiger u. lächerlicher macht.“79

In ihrem Reinheitsbestreben zeigt die Vernunft die für die umfassende Weltherrschaft (kat-holon) benötigte intellektuelle Waffe, die sie in despotischer Weise zu handhaben gedenkt, insofern dass die hieraus resultierende Macht als Reinheit gleich Recht ist. Die Philosophie setzt durch ihre Gewaltausübung ein neues Recht und will somit im despotischen und zwingenden Sinne Weltreligion werden. Auf diese Weise jedoch, so Hamanns subversiver Vorwurf an die Adresse kritischer Philosophie wird die Heiligkeit der Religion nicht aufklärerisch als unvereinbar mit dem Selbstdenken verworfen, sondern unreflektiert selbst beansprucht. Die Vernunft usurpiert den Thron Gottes:

77 Bayer, Vernunft, 264. 78 Hamann, Apologie, 106. 79 Bayer, Vernunft, 254.

Religiöse Gewalt in philosophischer Reflexion

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„Denn was ist die hochgelobte Vernunft mit ihrer Allgemeinheit, Unfehlbarkeit, Überschwenglichkeit, Gewißheit und Evidenz? Ein Ens rationis, ein Ölgötze, dem ein schreyender Aberglaube der Unvernunft göttliche Attribute andichtet.“80

Die Begierde nach De-finition, nach Abgrenzung, hat Folgen für Gesinnung und Handlung. Gewaltenteilung ist hier nicht mehr möglich. Der Reiniger wird zum Richter, der die Gesetze selbst erlassen hat, der seine Tätigkeit im öffentlichen Prozess ausübt und den Verurteilten also sozial unmöglich machen will: Die Reinigung der Vernunft führt zu einer höchstrichterlichen Verhaltensweise. Kant hingegen fängt gleich mit dem Richterspruch an. Es ergeht eine „Aufforderung an die Vernunft, das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis aufs neue zu übernehmen und einen Gerichtshof einzusetzen, der sie bei ihren gerechten Ansprüchen sichere …“81

Die Philosophie fällt im Namen eines Abstrakten und einer Hypostase Urteile und sucht die Verurteilten einem öffentlichen Urteil auszusetzen. Reinigung hat somit notwendig unverhüllten gewaltsamen Despotismus zur Folge, wenn dieser auch nicht als solcher erkannt wird. „Ja, ihr feinen Kunstrichter! fragt immer was Wahrheit ist, und greift nach der Thür, weil ihr keine Antwort auf diese Frage abwarten könnt – Eure Hände sind immer gewaschen, es sey, daß ihr Brodt essen wollt, oder auch, wenn ihr Bluturtheile gefällt habt – Fragt ihr nicht auch: Wodurch ihr die Natur aus dem Wege geräumt?“82

Wenn Natur und Sinnlichkeit erst einmal als Beschmutzungen von den Händen abgewaschen sind, bleibt nur noch ein höchst künstliches, dabei aber nichtsdestoweniger sehr gefährliches Urteilen möglich. Zugunsten eines Abstrakten spricht man über das Konkrete das Todesurteil. Für den Einzelnen, der in einer reinen Gesellschaft lebt, bedeutet dies den konstanten Zwang zur richterlichen Selbstkontrolle und zur Normierung der Persönlichkeit. Als dieses Urteilen bzw. Verurteilen ist der Reinheitsdiskurs immer auch ein herrscherlicher Diskurs, der für sich das Gericht Gottes beansprucht. Wenn also Kant sich etwa in der Schrift Zum ewigen Frieden den Krieg verdammt und den Frieden fordert, wird angesichts des Status der Garantiemacht für sein Urteil die eigene Position latent gewalttätig: „Daß doch die Vernunft vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab den Krieg als Rechtsgang schlechterdings verdammt, den Friedenszustand dagegen zur unmittelbaren Pflicht macht […]“83 80 81 82 83

Hamann, Konxompax, 225. Kant, Kritik, 13. Hamann, Denkwürdigkeiten / Aesthetica, 113. Kant, Frieden, 211.

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Der Begriff der Reinheit stabilisiert somit die Deutungsmacht der Aufklärung über den philosophischen Diskurs der Zeit. Der Wille zur Reinheit ist auch Wille zur und Wille der absoluten Macht einer bestimmten Art des Philosophierens, die sich in Gewalttätigkeit äußert und starken Druck (unmittelbarer Pflicht) auf die durch sie sozialisierten Individuen ausübt. In der Philosophie lässt sich also manifeste und strukturelle religiöse Gewalt ausmachen. Ist Hamanns Kritik am Philosophieren Kants als religiös gewalttätig nur eine (zudem noch unzutreffende) historische Kuriosität, vielleicht eine richtige, aber dennoch nur eine Kritik eines Einzelfalls? Vielleicht. Es gibt jedoch Möglichkeiten der Beschreibung philosophischer Reflexion, die eine solche Ansicht verallgemeinern können. Man denke nur an Heideggers Affinität zur religiösen Sprache in seiner „Gigantomachia“ um das Sein, den heiligen Ernst, mit dem analytische Philosophen die Wissenschaftlichkeit der Philosophie verteidigen und alles „Lyrische“ aus dem ernstzunehmenden Diskurs ausscheiden und ihn somit rituell reinigen, den inquisitorischen Ernst kritischer Philosophen, ihre Gegner zu demaskieren usw. Diese Beschreibungen sind, zugegebenermaßen, Metaphern, aber auch solche für deren Gebrauch man selbst einiges an Argumenten beibringen kann. Philosophien, insbesondere metaphysische Denksysteme können als Übermächtigungsapparate beschrieben werden, die alles, die Wirklichkeit wie den Leser durch den Zwang des unabweisbaren Arguments zu unterwerfen trachten. Auch innerhalb des Philosophierens wird religiöse Gewalt kommuniziert.

5.

Fazit

Philosophie kann und soll Beschreibung, Analyse und Kritik religiöser Gewalt leisten. Sie muss auf Selbstentmündigungsprozesse und der vernünftigen Kontrolle unzugängliche Epiphaniekonzeptionen hinweisen, die religiöse Gewalt begründen oder gar rechtfertigen. Sie darf und muß sich in solche Fragen kritisch und normativ einmischen, und zwar schon allein aus eigenem Interesse. Bei diesem normativen Anspruch ist nämlich die Selbstbezüglichkeit von Beschreibung, Analyse und Kritik nicht außer Acht zu lassen. Es kann der Fall sein, dass eben diejenigen, die Religion auf den verschiedenen Ebenen (strukturell und aktuell) als grundsätzlich gewalttätig charakterisieren, selbst in ihrem Argumentationsgang auf (diese) gewalttätigen religiösen Formen zurückgreifen. Das nimmt zwar der philosophischen Kritik an der Religion nicht ihre Bedeutung, sollte aber doch Anlass sein darüber nachzudenken, inwieweit man aus gegebenen Formen des Denkens ausbrechen und so gegen sich selbst denken kann. Insgesamt sind unsere Überlegungen eine Be-

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sinnung darauf, wie nahe und selbstverständlich uns als kritischen Menschen religiöse Gewalt wirklich ist. Die Form der religiösen Gewalt ist selbst in die philosophische Reflexion eingeschrieben, und zwar solcherart, dass sie als methodische Selbstverständlichkeit nicht mehr Gegenstand der philosophischen Selbstbesinnung ist. Die Gewalttätigkeit philosophischer Reflexion ist einer, wenn nicht der aufsässigste Indikator der grundsätzlich formalreligiösen Form der Philosophie. Kritik ist somit nicht ohne Selbstkritik, philosophische Explikation der religiösen Gewalt nicht ohne Selbstexplikation möglich. Dies scheint zunächst ein erschreckendes Ergebnis zu sein, und dies ist es in der Tat, wenn bei diesem Ergebnis stehengeblieben wird. Doch notwendig ist vielmehr eine Analyse der Auswirkungen dieser Haltung zu deren Überwindung. Ist die Gewalt die Praxis der formalreligiösen Form? Bei Martin Heidegger heißt es hinsichtlich des Zusammenhangs von Gewalt und Philosophie nicht ohne religiöse Allusion in den berüchtigten „Schwarzen Heften“: Philosophie – wird nicht erlösen, nicht entdecken (forschen), keine Weltanschauung auf Begriffe ziehen (nachträglich) – sondern den polemos wieder wissen – das Ereignis – Grund und Abgrund und Ungrund zu ergründen und so eine Not und Nötigung zu werden – das Aufgegebene zu ergreifen und das Mitgegebene zu bezwingen – die Geschichte zum Geschehen bringen = noch einmal die Götter wagen.84

Als Denkende werden wir also die religiöse Gewalt nicht los, denn sie bleibt uns ins mehrfacher Hinsicht erhalten: zunächst als Thema der Reflexion, dann innerhalb der eigenen Methodik, und vielleicht sogar als ein (notwendiges?) Ziel der Besinnung.

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Cornelia Richter

Narrationen des Politischen. Essayistische Reminiszenz und Aufgabenskizze hermeneutischer Theologie

Jede geisteswissenschaftliche Reflexion trägt die Signatur ihrer Zeit in sich, aber nicht immer ist diese in der gleichen Weise so offenkundig und dringlich wie für diesen Band unter dem Titel „Religion und Gewalt“. Der vorliegende essayistische Versuch einer Annäherung an das Thema ist in Bonn im November 2016 verfasst, also in einer Zeit, die vom Syrienkrieg samt allen zugehörigen Konfliktfeldern bestimmt ist, die eine weltweite und in den Zahlen noch weithin unberechenbare Migrationsbewegung zu bewältigen hat, in der sowohl die westlichen Gesellschaften Europas und Nordamerikas als auch die dem Westen gegenüber aufgeschlosseneren muslimischen Länder mit ständigen Terrorwarnungen und häufigen Anschlägen durch den IS rechnen und in der es auch vor der eigenen Tür zu regionalen Gewaltexzessen kommt wie in der Kölner Silvesternacht. Es ist zugleich eine Zeit, in der eine weltweite politische Radikalisierung im rechten Lager offensichtlich ist, in der von den USA bis nach Russland in zahlreichen Staaten politische Führer gewählt werden, die ungeniert mit Oligarchien und den propagandistischen Mitteln totalitärer Staaten operieren, in der in Sichtweite Europas offen über die Wiedereinführung der Todesstrafe debattiert wird, in der rechtsradikales und nationalsozialistisches Gedankengut wieder offen ausgesprochen wird, in der rassistische, sexistische und minoritätsfeindliche Positionen die Wahlprogramme dominieren und in der die Lüge nicht nur das politische Argument ersetzt hat, sondern in der sie ganz offenkundig als Mittel der politischen Auseinandersetzung akzeptiert wird. Es ist schließlich eine Zeit, in der sich politisch liberale Stimmen unter Druck gesetzt sehen, in der sich das Sachargument in der Breite nur durchsetzt, wenn es mit der nötigen emotionalen Tiefenwirkung verbunden ist und in der die Demokratie in manchen Ländern eigenartigerweise stärker von jenen Wählern genützt wird, die sich dem antidemokratischen Gedankengut exklusiver Mechanismen näher fühlen als einer liberalen und offenen Gesellschaft. Nicht zuletzt ist es eine Zeit, in der sich Religionsgemeinschaften im Islam wie im Christentum stark polarisieren, weil sich in ihnen einerseits fundamentalistische Radikalisierungen ausbilden, die zu den bisher genannten Prozessen maßgeblich beigetragen

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haben, und weil sie andererseits für die Aufrechterhaltung einer politisch liberalen Geisteshaltung eintreten, die sie mit den radikalen Kräften in Konflikt bringt. Wer für eine demokratisch reflektierte und kritisch selbstreflexive Gesellschaft einritt, braucht – ungeachtet ob in Politik, Religion, Kunst oder Wirtschaft – nicht nur die nötige Überzeugungskraft, sondern bereits heute auch den Mut, für diese Überzeugung öffentlich zu werben. Sicherlich, noch ist dies in Deutschland oder Österreich nicht zu vergleichen mit dem Mut, den es in dysfunktionalen Gesellschaften und totalitären Staaten braucht, weshalb sich jedes Pathos verbietet. Aber dass wir in zeitdiagnostischer Hinsicht in einer Zeit leben, in der wir alert sein sollten gegenüber den politischen, sozialen und religiösen Verschiebungen, das ist ohne Zweifel jenseits allen Pathos’ zu konstatieren. Es ist daher in höchstem Maße zu begrüßen, dass die politische Debatte wieder verstärkt Teil der intellektuellen Kultur ist. Allerdings zeigt sich an dieser Debatte auch, wie komplex und schwierig sie zu führen ist. Denn so wie das eingangs skizzierte Zeitbild nur aus eklektischen, in ihrem Zusammenhang assoziativ verbundenen Einzelszenen und Verweisen besteht, so spiegelt auch die intellektuelle Debatte jeweils sehr viel stärker die ungeschulte und von der eigenen Überzeugung getragene Diagnostik der Beitragenden wider als ein tatsächlich sachkompetent abwägendes Urteil. Im Folgenden soll dieser Eindruck (1) anhand der jüngeren deutschen Feuilletondebatte erörtert und das Augenmerk auf riskante intellektuelle Simplifizierungen gelegt werden. Es folgt (2) im Anschluss an die Auseinandersetzung mit Herfried Münkler eine kleine Reflexion des Verhältnisses von Politischer Theorie und Narrativität, die schließlich (3) übergeht in die knappe Reminiszenz an zwei Klassiker der geisteswissenschaftlichen Lektüre: Ernst Cassirer und Hannah Arendt. Sie haben mit der Bedeutung des Mythischen und der Zentralität des Bösen Motive und Konstellationen behandelt, die für unsere Frage nach Selbst und Anderem, nach der Genese politischer Indifferenz bei gleichzeitiger emotionaler Übersteuerung oder auch für die Frage nach der Salonfähigkeit der Lüge von hohem Wert sind. Umso mehr als für beide Entwürfe zu vermuten ist, dass sie ihrerseits einer politischen Narration gefolgt sind und daher auch im Sinne der Metareflexion gegenwärtiger Theoriebildung und Positionierung eine Relecture wert wären.

Narrationen des Politischen

1.

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Intellektuelle Simplifizierungen1

Das Problem intellektueller Simplifizierungen lässt sich exemplarisch verdeutlichen anhand der Debatte, die um den Jahreswechsel 2015 herum im Deutschen Feuilleton angesichts der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung geführt wurde. Es war eine heftige, intellektuelle Debatte über Sinn und Unsinn der politischen Programme, Maßnahmen oder Unterlassungen sowie über die Klärungs- und Deutungskompetenz der Geisteswissenschaften im weitesten Sinne. Der Schlagabtausch zwischen dem Literaturwissenschaftler Rüdiger Safranski, dem Philosophen Peter Sloterdijk und dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler in der ZEIT und anderen renommierten Foren hatte schnell verdeutlicht, dass einer metaphorisch aufgeladenen philosophischen Reflexion eine ganz andere Deutungskompetenz zukommt als einer politik- oder sozialwissenschaftlichen Analyse, obgleich beide mit Begriffen, Metaphern, Symbolen und Bildern von Selbst und Anderem, Kontingenz und Konstellation, Identität und Fremdheit arbeiten. Die Debatte war aus einer bereits recht ausgeprägten Diskussionslage erwachsen, nämlich der wechselseitig freundlichen Erkundung zwischen Christentum und Islam, die sich mit den Namen Navid Kermani und Mouhanad Khorchide verbunden hatte, einerseits, den politischen Zuspitzungen zur Zeit der Pariser Attentate auf „Charlie Hebdo“ und die folgenden Dispute um Potential wie Risiken von Karikaturen, parallel laufend zu Michel Houllebecqs Roman „Soumission“ andererseits und schließlich den Auseinandersetzungen um die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung zwischen Merkel-Anhängern und, stark vergröbert, der AfD und dem bayrischen Ministerpräsidenten, kritisch kommentiert von den Stimmen der Kirchen, allen voran Heinrich BedfordStrohm und Alois Glück. Schon der Diskurs war kurzatmig und schnell geführt, aber noch viel schneller lief die Nachrichten- und Bildinszenierung, so dass die intellektuelle Debatte kaum Schritt halten konnte mit den Ereignissen der Tagespolitik, die sich ihrerseits überstürzten. In diesem Sinne hatte einem die ZEIT aus dem Herzen gesprochen als sie im Februar 2016 getitelt hatte: „Verstehen Sie noch, worum es geht?“2 Die wenigsten konnten diese Frage damals und könnten sie heute mit einem überzeugten „ja“ beantworten, sofern sie sich einer simplifizierenden Antwort enthalten möchten. Denn um zu verstehen, worum es geht, bräuchte man profundes politikwissenschaftliches, ökonomisches, soziologisches, historisches und mindestens auch medientheoretisches Wissen – und das nicht nur bezogen auf den deutschsprachigen Bereich oder auf Europa, sondern im Bewusstsein 1 Aufgrund des exemplarischen Charakters dieser Feuilleton-Debatte erlaube ich mir an dieser Stelle eine Wiederholung mit leichter Überarbeitung, vgl.: Richter, Zeit. 2 DIE ZEIT 10/2016, 25. Februar 2016.

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globaler Geschichte mitsamt allen kolonialen und sonstigen historischen Komplexitäten. Im Kontext von Theologie und Religionsphilosophie kommt erschwerend hinzu, dass Zentralbegriffe wie Freiheit, Nächstenliebe und Vertrauen, Verantwortung und Versöhnung per definitionem zwischen Transzendenz und Immanenz schwanken und eine umso präzisere reflexive Bestimmung erfordern. In wie hohem Maße dies gilt, hat sich ausgerechnet an der Feuilleton-Debatte gezeigt, und zwar deshalb, weil ihre Proponenten das Gegenteil suggeriert haben. In der Feuilleton-Debatte schienen die Antworten nämlich auf der Hand zu liegen: Peter Sloterdijk hatte unter anderem in einem Interview mit dem Cicero eine ausführliche Kritik der Regierungspolitik geäußert, in der er mit hohem rhetorischen Gestus der deutschen Regierung, personifiziert in Angela Merkel, „Souveränitätsverzicht“ im großen Stil bescheinigt und im Gegenzug den Schutz der europäischen Grenzen gefordert hat.3 Nun ist Peter Sloterdijk selbstverständlich zu klug als dass man ihm eine durchgängig unreflektierte Haltung unterstellen dürfte. Durchaus bedenkenswert wären seine Ausführungen zu der medial beträchtlich potenzierten Wirkung von Terrorakten als eine „systemische Kopplung zwischen dem Anschlag und dem Medienapparat“, die den Terroristen in die Hände spiele, aber keine echte Aufklärung biete. Ebenso hätte so mancher Spitzensatz eine Diskussion verdient: Weil „das Recht auf den Aufschrei“ höher gestellt werde „als die Notwendigkeit, den Schrecken durch Nichtwahrnehmung zu ächten“, bleibe es „bei der faktischen Zusammenarbeit zwischen den Attentätern und dem Nachrichtensystem“ und „Unsere Medienwelt [sei] per se terror-affin, weil sie dem Primat der Sensation verpflichtet“ sei. Zu ergänzen wäre dies inzwischen für den Umgang mit rechtsextremen, nationalistischen Äußerungen und Hatespeech, die ebenfalls umso wirkungsvoller sind, je mehr sie öffentliche Foren erhalten, in denen sie wieder- und damit weitergegeben werden. Doch leider trat und tritt an die Stelle des sachhaltigen Arguments und der differenzierten Argumentation jeweils zu rasch die politische Polemik, und zwar sowohl im Blick auf die Rolle der Medien als auch auf jene der Bundesregierung. Letztlich ist Sloterdijk damit seiner eigenen Kritik verfallen: „In Europa [sei] die kritische Intelligenz reflexhaft fixiert auf den Zwang zur Auflehnung gegen Macht und Mächtige.“ Statt seine knappen Überlegungen zum Umgang mit der Grenzpolitik auszuführen, wich Sloterdijk entweder in den Gestus des Propheten aus: „Merkel wird zurückrudern“ oder er wählte im Blick auf Merkel und Juncker den Stil des inkriminierenden Attests: „habitueller Betrug“, „Lügenäther“, „die wahrheitslose Sphäre der Politik“ und bescheinigte Merkel einen „naiven Grundton“; am Ende schloss er mit dem 3 Das kann nicht gut gehen. Interview mit Peter Sloterdijk; daraus stammen sämtliche Zitate des Absatzes.

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effektvollen Satz, es gebe „schließlich keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung“. Dass sein eigener Gebrauch des „Lügenäthers“ die scheinbare Sachhaltigkeit dieses Prädikats im Blick auf die Regierung (und übertragbar für jede sonstige Regierung) noch einmal mehr salonfähig gemacht haben dürfte, ist eine besonders subversive Wirkung seiner Kritik. Nur wenige Wochen zuvor hatte sich Rüdiger Safranski in der Schweizer „Weltwoche“ für eine Schließung der Grenzen und die Einrichtung von „Zonen“ in der „Nähe von Bürgerkriegsgegenden“ ausgesprochen und der Regierung auf diesem Wege mitteilen lassen, dass er doch gerne hätte gefragt werden wollen, bevor man zulasse, dass das Land mit „Abermillionen islamische[r] Einwanderer“ einen so dramatischen Veränderungsschub erlebe.4 Auch bei ihm fanden sich gehaltvollere Anmerkungen zur politischen Geschichte und Rolle Deutschlands als sein Spitzensatz, Deutschland erlebe eine „Politik moralistische[r] Infantilisierung“, erwarten ließ. Gleichwohl beließ er es jeweils bei kurzen reflexiven Andeutungen, etwa dass „Freiheit … in grossem Massstab die Selbstzerstörung als Möglichkeit mit ein[schließe]“. An die Stelle der Ausführung dieses Arguments ließ er stattdessen einerseits die Selbstbezichtigung treten, dass Deutschland „viel zu wenig mit sich selbst in Übereinstimmung [sei], um einen glaubhaften Integrationsdruck erzeugen zu können“; andererseits griff er zu einer populären Fremdbezichtigung, indem er sich fragte, weshalb die geflohenen jungen Männer ihre „virile Energie“ nicht lieber zum Wiederaufbau der eigenen Heimat verwenden würden. Wiederum war an diesem Interview nicht problematisch, dass Safranski eine klare, wenn auch umstrittene Position einnahm und nachdrücklich vertrat. Problematisch war jedoch, dass er sich zu einer sachlich riskant verkürzten und gerade nicht mehr im eigentlichen Sinne „argumentierenden“ Argumentation hinreißen ließ. Es wäre für die Debatte sehr viel gewinnbringender gewesen, wenn Safranski gerade vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen mit ideologischen und totalitären Systemen (hier der Mao-Kommunismus) in analytischer Manier genauer nach den Beweggründen der in der Tat oft männlichen und jungen Flüchtlinge gefragt hätte. Damit wäre noch keine Analyse und/oder Antwort auf die Frage des Umgangs mit den Grenzen gegeben, aber wenigstens eines der zahlreichen und komplexen Phänomene hätte etwas Erhellung finden können. Zuzutrauen wäre es ihm gewesen, weshalb also diese unreflektierte Unterstützung populistischer Rede? Um darauf aufmerksam zu machen, dass die Entscheidungen der Regierung nicht unumstritten sind, dass sie Fehleinschätzungen und -entscheidungen beinhalten, hätte gerade nicht die Emotion an die Stelle des Arguments treten dürfen. Sollte hingegen der eigene emotionale Aufschrei das Ziel gewesen sein, 4 Politischer Kitsch. Interview mit Rüdiger Safranski; daraus stammen sämtliche Zitate dieses Absatzes.

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dann hätte Safranski ein für Argumente vorgesehenes Forum auf brisante Weise zweckentfremdet. Im Anschluss an Safranski und Sloterdijk hatten sich diverse Autoren in einer ebenso scharfen Abgrenzungsrhetorik eingemischt und die Medien hatten ihrerseits – darin die These Sloterdijks bestätigend – dankbar das Bild einer in die Extreme zerrissenen intellektuellen Elite kolportiert: Wer für Sloterdijk argumentierte, schien bereits auf der Seite der AfD zu stehen, wer sich von Sloterdijk abgrenzte, tat dies, indem er ihn – wie Christian Schröder im „Tagesspiegel“ – mit gefährlichen nationalen Attributen, Stahlhelmen zum Beispiel, ausstattete: „Die Diskussion um die Flüchtlingspolitik wird militanter. Einige von denen, die sich jetzt zu Wort melden, haben schon den Stahlhelm aufgesetzt. Stacheldraht ersetzt die Argumentation, Metaphern werden entsichert.“5

Eine Charakterisierung, die ganz offensichtlich ebenfalls wenig zur Sachklärung beitrug, auch wenn sie den Ton im Kern traf. Vor dieser Debattenlage nahmen und nehmen sich die verschiedenen Beiträge des Politikwissenschaftlers Herfried Münkler geradezu wohltuend nüchtern und sachorientiert aus. In regelmäßigen Gastbeiträgen in der ZEIT versucht er, Problemperspektiven, Strategieoptionen und deren Konsequenzen jeweils differenziert auseinanderzuhalten. So hatte er zum Beispiel im November 2015 die auf Europa gerichtete und Europa herausfordernde Zielrichtung der auf nationalen Territorien (hier in Frankreich) ausgeführten Terroranschläge analysiert.6 Im Januar 2016 hatte er Jörg Baberowskis „Räume der Gewalt“ rezensiert und für dessen Verzicht „auf einfache Lösungsvorschläge und große Thesen“ gewürdigt.7 Ab Februar 2016 war freilich auch bei ihm der Ton schärfer geworden, besonders in der Replik auf Sloterdijk und Safranski, die er bereits im Titel als zwar „klug“, aber eben auch „ahnungslos“ bezeichnete.8 Neben der expliziten Wertschätzung beider Autoren, sah Münkler in ihrem sozusagen methodischen Zugriff eine Gefahr : „Ihre jüngsten Einlassungen [zeigten], dass diese Vor-Denker viel über das 20. Jahrhundert geredet haben, dass ihre Neigung zu einem Denken in Metaphern sie aber daran gehindert hat, analytisch zu durchdringen, worüber sie redeten“,

so dass sie den allgemein gewordenen problematischen „Gestus der Alternativlosigkeit“ prolongierten statt ihn sachhaltig zu kritisieren. Münkler hingegen benannte knapp und präzise strategische Problemzugänge (die Flüchtlingskrise als humanitäres, logistisches oder politisch-strategisches Problem), Gründe für 5 6 7 8

Schröder, Deutsche Denker. Münkler, Wie wir kämpfen müssen. Münkler, Wo kommt all die Gewalt her. Münkler, Wie ahnungslos kluge Leute doch sein können.

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die Entscheidung, die politische und ökonomische Stärke Deutschlands für die Stabilisierung des europäischen Schengenraums zu nützen, fragte nach Alternativszenarien, die sich durch nationale Grenzschließungen ergeben könnten und war in all dem keineswegs unkritisch gegenüber den Berliner Regierungsentscheidungen. Gleichwohl hatte sich Sloterdijk nicht nur zu einer Entgegnung berufen gefühlt, sondern hatte von Münkler eine Entschuldigung für ungehöriges Verhalten verlangt und ihm, wie allen übrigen Kritikern, sowohl „primitive Reflexe“ der Pawlowschen Art attestiert als auch das „Einknicken vor der Faktizität“ analog des „politischen Somnambulismus“ vor 1914.9 Das war insofern interessant, als er Münkler zugleich hohe Sachkenntnis attestierte; allein, dieses Attest kam leider allzu gönnerhaft daher und enthielt so gut wie kein Argument zum eigentlichen Problem. Nur der Aspekt der durch die mediale Berichterstattung hochgejubelten Werbung für den IS, dessen Mechanismus man eigentlich anhand des RAF-Terrors hätte lernen können, könnte als Argument durchgehen. Stattdessen erging sich Sloterdijk im Selbstmitleid des ungehörten Intellektuellen, dessen Nuancierungen im Getöse der Kritik verloren gegangen seien, garniert mit der Drohung, dass man in fünf Jahren schon sehen werde, wer recht gehabt haben werde. Münkler reagierte auch darauf mit einer zwar scharfen und durchaus bissigen Replik indem er Sloterdijks Gestus und widersprüchliche Aussagen hervorhob, aber er enthielt sich der larmoyanten Selbstbespiegelung und fundierte stattdessen die Replik mit strikt problembezogenen Klärungen, zum Beispiel bezüglich des Verhältnisses von Kontingenz und Strategie im politischen Handeln, das angesichts der stets dynamischen Konstellationen zwangsläufig eine Offenheit des Ausgangs mit sich bringe – weshalb auch dieser Beitrag völlig unabhängig von der Auseinandersetzung mit Sloterdijk in höchsten Maße nach wie vor lesenswert ist. Für den Zusammenhang des vorliegenden Artikels ist wiederum ein eher methodisch-wissenschaftstheoretisches Argument Münklers interessant: „Man muss Sloterdijks Essay […] nicht unbedingt als Dokument eines verkorksten Denkens lesen, sondern kann darin auch die Abdankungserklärung eines Typus öffentlicher Intellektualität sehen, der die Debattenkultur dieses Landes lange Zeit beherrscht hat. Dieser Typus hat sich nicht einer klaren und präzisen Begrifflichkeit bedient, sondern mit dunklen Metaphern Gedankenschwere simuliert.“10

In der Tat wird man mit Münkler sagen können, dass Metaphern selbstverständlich aufschlussreich sein können, dass sie jedoch für die anstehenden konkreten politischen Handlungsstrategien, Reaktionserfordernisse und 9 Sloterdijk, Primitive Reflexe. 10 Münkler, Weiß er, was er will.

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Handlungsoptionen nur bedingt hilfreich sind. Ihnen kommt die sekundäre Deutungsebene zu, die für die geistesgeschichtlichen und identitätsbildenden Prozesse einer Gesellschaft ohne Zweifel von Bedeutung sind. Aber sie haben eine andere Funktion als die politische Analyse. Wer sich vorrangig an Metaphern orientiert, statt über das für die politische Analyse nötige Wissen zu verfügen, versteht deshalb zwangsläufig nicht so gut, worum es geht. Dies soll im Folgenden zunächst an einer Aussage Münklers weiter vertieft werden, um von dort aus auf Ernst Cassirer und Hannah Arendt11, zwei Klassiker der politischen Theorie zu blicken, die sich ihrerseits an der Grenze zwischen einer metaphorischen und einer politisch sachkompetenten Analyse bewegen.

2.

Politische Theorie und Narrativität

Angesichts der unzweifelhaft hohen Sachkompetenz Münklers ist es umso auffälliger, dass sich auch in seiner Argumentation ein Argument findet, das an der Schwelle zwischen Analyse und Metapher steht und sich genau darin als problematisch erweist. In einem Interview für den Deutschlandfunk hatte er sowohl über die Inhumanität und Absurdität eines eingegrenzten Europas gesprochen als auch über die realpolitischen Schwierigkeiten der tatsächlichen integrativen Arbeit und deren zivilpolitischer Intention: „Man darf hier so etwas wie eine ikonische Szene oder ein ikonisches Ereignis [hier : die sogenannte Willkommenskultur an den Bahnhöfen, CR] nicht verwechseln mit dem, was der Fall ist [hier : die mühevolle Arbeit in den Sprachkursen, das Zusammenleben in den Flüchtlingsheimen etc., CR] bei der Herausforderung, aus diesen Leuten Deutsche zu machen: im Sinne einer gewissen Arbeitsdisziplin, gewisser Arbeitsfähigkeiten, der Durchsetzung von Toleranz, der Entpolitisierung des Religiösen. Das alles werden kolossale Anstrengungen sein und dabei wird es viele Enttäuschungen geben, bei denen, die hergekommen sind, aber auch bei denen, die ihnen offen gegenüberstehen, und dann werden auch einige wieder zurück müssen, nicht weil sie keine Berechtigung hätten, sondern weil sie nicht bereit sind, sich den Anforderungen und Rahmenbedingungen dieses Landes entsprechend anzupassen. Das alles, denke ich, ist klar.“12

11 Cassirer, Der Mythus des Staates; Arendt, Über das Böse. 12 Deutschland ist kein Hippie-Land, Interview mit Herfried Münkler; Kursivsetzung durch C. Richter. An diesem Zitat hat sich am 9. April 2016 auf der Tagung „Was ist lutherisch? Frömmigkeit und Freiheit, Wahrheit und Weltverantwortung“ in der Evangelischen Stadtakademie Nürnberg eine Debatte mit Notger Slenczka, Mareile Lasogga und Johannes Schilling entzündet, die Anlass gegeben hat für die Tagung „,Die Markierung des Anderen‘ (S. Sieber). Religionsphilosophische Reflexionen zu Irritation und Befreundung“ am 11./ 12. November 2016, ausgeführt vom Bonner Institut für Hermeneutik und Institut für

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Problematisch ist nicht die Analyse der Schwierigkeiten, sondern die Wendung, dass aus all diesen Menschen „Deutsche“ zu machen seien. Mit dieser Wendung scheint ein imaginatives, mindestens ein identitätsbestimmendes narratives Element in Münklers Argumentation einzuziehen. Denn erstens ist trotz der von Münkler sinngemäß angeführten Beispiele keineswegs begrifflich und theoretisch klar, was „das Deutsche“ eines Menschen sein könnte, wenn man von den äußeren rechtlichen Rahmenvorgaben der Zugehörigkeit zur Nation Deutschlands absieht. Zu groß sind die sozialen, alters- und genderspezifischen, bildungs- und mentalitätsmäßigen Differenzen unter Deutschen, als dass ein klarer Typus auch nur skizziert werden könnte. Zweitens wäre zu diskutieren, dieser Einwand ist Notger Slenczka verdankt, ob mit solch einer Vorstellung nicht eher ein unproduktiver Gegensatz von sozusagen alteingesessenen „Deutschen“ und „Deutschen im Werden“ oder „zu Deutschen zu erziehenden Menschen“ aufgemacht werde. Wäre die produktive Auseinandersetzung nicht eher so zu denken, dass auch unsere eigene Identität als eine sich stets dynamisch verändernde verstanden wird, so dass in der freundlichen Begegnung wie konflikthaften Konfrontation mit den neu Zugezogenen auch das eigene Selbst in Frage gestellt und neu konstituiert wird? Im Gesamtzusammenhang dieses Beitrags scheint mir darin ein entscheidender Aspekt zu liegen, den es aus der aktuellen Debattenlage zu lernen gilt: Die Irritation, die gegenwärtig so viele Menschen empfinden, bezieht sich nicht nur darauf, dass es so ungeheuer anspruchsvoll ist, die politischen Sachfragen mit der nötigen Sachkenntnis nachvollziehen und beurteilen zu können. Denn laienhafte Unkenntnis ließe sich durch Erklärungen, nachvollziehbare Analysen und Darlegungen in genauere Kenntnis überführen. Die Irritation bezieht sich in mindestens ebenso hohem Maße auf die Vermischung von dominant vorgebrachter, emotionaler Meinung und subordinant vorgebrachten Argumenten, die in die narrative Konstruktion und Rekonstruktion von Selbst und Anderem eingeht und über die jeweils eigene Selbstverortung die Narrative unserer Gesellschaft mit bestimmt. Hinzu kommt, darauf hat jüngst Michal Beth-Dinkler hingewiesen, dass die in Narrationen implizierten normativen Elemente besonders dort zu Geltung kommen, wo nicht-explizite oder gar antinormative Narrationen vertreten werden. Im Ergebnis tragen Narrationen immer ein normatives Element in sich: „Narrative’s felicitous functioning is normative in both descriptive and prescriptive ways. Narratives reflect reality (i. e., they represent „what is“ or „what was“) and, concomitantly, narratives shape reality (i. e., they influence „what ought to be“). Narratives also

Evangelische Theologie Köln in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Religionsphilosophie.

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cut across temporal divides: as far as we can tell, narratives are everywhere, in every culture, from every time and place.“13

Einem solchermaßen vermischten Diskursstil sollten wir in Akademie und Kirchen mit Nachdruck entgegen treten und, an der eigenen Geschichte geschult, sowohl die Hermeneutik solcher Diskurse entschlüsseln als auch beharrlich auf die Sachfragen konzentriert bleiben und die Narrative zu decodieren versuchen. In der April-Ausgabe des „Cicero“ hatte der Historiker Paul Nolte dazu eine Deutung vorgestellt, die zwar ihrerseits kein hartes Sachargument ist, jedoch ein wichtiges Motiv hervorhebt: „Viel mehr, viel tiefer aber geht es um eine kulturelle Differenz. Optimisten stehen gegen Pessimisten, Zuversichtliche gegen Ängstliche.“14 Ungeachtet der Frage, ob dies eine kulturelle oder eher eine mentale Differenz ist, scheint mir darin insofern ein möglicher Einsatzpunkt zu liegen, als in Narrationen nicht die deskriptive Darstellung dominiert, sondern sie mehr oder weniger bewusste, intentionale und affektiv grundierte Identifikationsprozesse sind. Vergangene erlebte wie künftig erhoffte Perspektiven gehen in sie ein und verdichten sich auf den Moment aktualer Selbstwahrnehmung hin. So wie sie umgekehrt aus der momentanen Selbstwahrnehmung heraus erwachsen und sich die eigene Vergangenheit daher – je nach aktual empfundener Stärke oder Schwäche – in durchaus unterschiedlichem Licht rekonstruieren lässt. Je stärker sich das Selbst aktual in Frage gestellt sieht, wird die eigene Neukonstituierung nach Gründen suchen, die zur Destabilisierung geführt haben – und die lassen sich bekanntlich immer finden. Es wird uns also nicht zuletzt um die Frage gehen müssen, inwiefern wir in der Debatte um Flüchtlingspolitik, Migration und Integration ebenso wie in der Auseinandersetzung mit dem politischen Populismus von einer unhinterfragt kohärenten Eigenperspektive ausgehen, von der aus die Anderen und deren Aktivität, Exklusion oder Integration diskutiert wird – oder ob wir nicht vielmehr zuerst und vorrangig klären müssten, wie vielschichtig und gerade nicht kohärent die in Anspruch genommene Eigenperspektive ist. Welches Selbstverständnis kommt zum Ausdruck und welches Selbstverständnis ist in welcher Weise tangiert, wenn es zur Debatte zwischen Selbst und Fremd, Selbst und Anderem geht. Ob man diese Debatte in religionsphilosophischer Perspektive eher mit Hanna Arendt und Carl Schmitt zu führen beabsichtigt oder eher mit Emanuel Levinas und Paul Ricœur, mit Claude Lefort oder gar mit Slavoj Zˇizˇek, das sei dahingestellt. Dass die Debatte unsere Agenda der nächsten Jahre bestimmen wird, ist hingegen sicher.

13 Beth-Dinkler, Beyond the Normative/Descriptive Divide. 14 Nolte, Zeitenwende, 25.

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3.

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Anregungen für eine aktuelle Hermeneutik der Narration

Mit dem Ergebnis der US-Wahl und im Blick auf die anstehenden Wahlen in den europäischen Staaten hat diese Frage in eminenter Weise an Dringlichkeit gewonnen. Selbst und Fremd, Selbst und Anderes sind ganz offensichtlich in eine Irritation geraten, die dringlich der hermeneutischen Reflexion bedarf, weil sie letzter Ausdruck eines salonfähig gewordenen Populismus ist, der sich explizit und ohne Sanktionierung der Lüge sowie einer gewaltfördernden Rhetorik und Praxis bedient, die ohne Zweifel auf zahlreichen narrativen Elementen beruht – Quereinsteiger gegen das Establishment, das Volk gegen die herrschende Elite und dergleichen mehr. Die Analysebedürftigkeit gilt jedoch ebenso für die Reaktionen auf den Wahlausgang. Denn sie waren in hohem Maße von dem Motiv getragen, das Ergebnis in den USA sei „unerwartet“ und „unvorhersehbar“ gewesen und vor allem die liberalere Seite hat weltweit mit einer Art Schockzustand reagiert, deren Stimmung sich in folgendem Zitat widerspiegelt: „Als wir zuerst die politischen Mythen hörten, fanden wir sie so absurd und unangemessen, so pathetisch und lächerlich, daß wir kaum dazu vermocht werden konnten, sie ernst zu nehmen. Jetzt ist uns allen klar geworden, daß dies ein großer Fehler war. Wir sollten denselben Irrtum nicht ein zweites Mal begehen. Wir sollten den Ursprung, die Struktur, die Methoden und die Technik der politischen Mythen sorgfältig studieren. Wir sollten dem Gegner ins Angesicht sehen, um zu wissen, wie er zu bekämpfen ist. […] Was wir in der harten Schule unseres modernen philosophischen Denkens gelernt haben, ist die Tatsache, daß die menschliche Kultur keineswegs das festverankerte Ding ist, für die wir sie einst hielten. […] [D]ie großen Meisterwerke der menschlichen Kultur […] sind weder ewig, noch unangreifbar. Unsere Wissenschaft, unsere Dichtung, unsere Kunst und unsere Religion sind nur die obere Decke einer viel älteren Schicht, die in große Tiefe hinabreicht. Wir müssen immer auf heftige Erschütterungen vorbereitet sein, die unsere kulturelle Welt und unsere soziale Ordnung bis in ihre Grundlagen erschüttern können. […] Die Mächte [gemeint sind tief verankerte, mythische Schichten, CR] wurden durch höhere Kräfte besiegt und unterworfen. Solange diese Kräfte, intellektuelle und moralische, ethische und künstlerische, in voller Stärke stehen, bleibt der Mythus gezähmt und unterworfen. Aber wenn sie einmal ihre Stärke zu verlieren beginnen, ist das Chaos wiedergekommen. Dann beginnt mythisches Denken sich von neuem zu erheben und das ganze kulturelle und soziale Leben des Menschen zu durchdringen.“15

Der Aktualitätsbezug dieser Worte ist frappierend, aber sie stammen bereits von Ernst Cassirer, berühmt geworden durch seine Philosophie der symbolischen Formen (1923–1929), die bis heute ein Grundlagenwerk der Kulturphilosophie ist.16 Cassirer war jüdischer Herkunft, ist 1933 in die USA emigriert und hat dort 15 Cassirer, Mythus, 388–390. 16 Cassirer, Philosophie.

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1945, kurz vor seinem Tod, noch die Monographie Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens geschrieben. Die zitierte eindrückliche Selbstreflexion Cassirers beschließt die Studie mit dem Motiv des nicht-Wahrhabenwollens, das nicht im Sinne einer bloß emotional tangierten Blindheit zu verstehen ist, sondern das in theoretischer Hinsicht auf die unzeitgemäß revitalisierte Kategorie des Mythos bezogen ist: Weil dessen Revitalisierung im 20. Jahrhundert als so unerwartet schien, deshalb sei er in seiner destruktiven Macht unterschätzt worden. Geschärft ist Cassirers Blick durch seine jahrzehntelange Mythos- und Mythenforschung, die er nur in dieser späten Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus so ausführlich auf den Staat bezogen hat. Der Duktus seiner Argumentation verläuft in drei Kapiteln von einer allgemein gehaltenen Klärung des Mythosbegriffs über den seit der Antike währenden „Kampf gegen den Mythus in der Geschichte der politischen Theorie“ hin zum „Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts“, den er durch Thomas Carlyles Theorie der Heldenverehrung vorbereitet sieht, verstärkt durch Arthur de Gobineaus Rassentheorie und schließlich Georg Wilhelm Friedrich Hegels Staatstheorie. Besonders in der Art, wie Cassirer Hegel liest, zeigt sich, wie präzise Cassirer zwischen dem theoretischen Potential seiner Referenzautoren und deren faktischer Selbstbeschränkung zu unterscheiden weiß und also sehr viel genauer gelesen hat, als manche Rezeption im 20. Jahrhundert nahegelegt hat. Im Ergebnis bietet Cassirer eine Analyse, die einerseits in philosophischer Hinsicht ebenso überzeugt wie auf dem Gebiet der Politischen Theorie, weil es auch für unsere Gegenwart darauf ankäme, solch unerwartete, tiefsitzende und zugleich sich offensiv durchsetzende Dynamiken aufzuspüren – eine Relecture ist daher unbedingt zu empfehlen! Andererseits wäre vorsichtig zu fragen, ob Cassirers Rekonstruktion des Verhältnisses von Mythos und politischer Theorie nicht ihrerseits auf einem Narrativ des Mythos beruht, das der Kritik bedürfte oder sich zumindest für die aktuelle politische Programmatik weniger konsolidiert darstellt als es für den Nationalsozialismus möglicherweise der Fall gewesen ist. Anders als Cassirer würden wir unsere heutige Problemlage nicht primär unter den Leitbegriffen des Mythos und der Staatstheorie verhandeln, sondern auf Phänomene der Individualität und Identitätsbildung schauen, auf Gruppendynamiken und Kollektivierungsstrategien, die institutionell hybrid und fluide sind und sich deshalb noch einer eindeutigen Einschätzung entziehen. Ebenso wäre das scheinbar Unerwartete des US-Wahlergebnisses als bedauerlicherweise durchaus erwartbar zu decodieren gewesen, auch wenn die bisherige Methodik der Wahlumfragen möglicherweise in höherem Maße als gedacht auf einer rechtlich eingehegten political correctness basiert haben mag. Nein, die Artikulation und sichtbare Wahrnehmbarkeit von Wortmeldungen, die auf Segregation, Desintegration und die Durchsetzung partikularer Inter-

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essen zielen, war und ist international offensichtlich. Deshalb sollten wir uns schließlich vor allem des politischen Pathos enthalten: Es mag einem in diesen Tagen aus dem Herzen sprechen und auf der Zunge liegen, aber es hilft wenig für die gezielte Analyse unserer Gegenwart, ungeachtet der Tatsache, dass wir alles dafür tun sollten, um nicht am Ende eine ähnliche wissenschaftliche wie persönliche Bilanz ziehen zu müssen. Stattdessen sollten wir uns vor allem in der Theologie auf unsere hermeneutische Expertise besinnen, die aus der wissenschaftstheoretisch alerten Reflexion der eigenen mythisch-narrativen Tradition erwachsen ist. Dass die Rede vom Postfaktischen 2016 von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres gewählt wurde, ist bezeichnend und weist auf die Notwendigkeit der zu führenden grundlegenden Debatte. Mit der Warnung vor dem Pathos sei abschließend in nochmals essayistisch verkürzter Manier der Blick auf Hannah Arendt gerichtet, deren Berichterstattung zum Eichmann-Prozess und ihre (später präzisierte) These von der „Banalität des Bösen“ ebenfalls ein Musterbeispiel ist für die innovative Aufnahme und Etablierung eines provokanten Leitbegriffs. Während man ihrer frühen Analyse eindeutig noch den Vorwurf machen konnte und kann, dass sie selbst einer politischen Narration – nämlich der Selbstnarration Eichmanns – geschuldet war, gilt dies sehr viel weniger für ihre späte Vorlesung Einige Fragen der Ethik, die sie 1965 unter dem Titel „Some Questions of Moral Philosophy“ in vier Teilen an der New School for Social Research in New York gehalten hat und die nun unter dem publikumswirksamen Titel „Über das Böse“ neu veröffentlicht ist.17 Auch bei Arendt findet sich (in der ersten Vorlesung) das Motiv des nicht-Wahrhabenwollens, das der gezielten politischen Reflexion nur sehr allmählich Raum gegeben hat, nun jedoch nicht nur auf die Zeit des Nationalsozialismus selbst bezogen, sondern auch auf die Jahre seiner theoretischen Reflexion: „Wenn ich an die zwei Jahrzehnte seit dem Ende des letzten Kriegs zurückdenke, habe ich das Gefühl, daß dieses moralische Problem im Schlummer gelegen hat, weil es von etwas zugedeckt war, über das zu sprechen in der Tat äußerst schwierig und das zu begreifen fast unmöglich ist – vom Horror selbst in seiner nackten Monstrosität. Als wir erstmals mit ihm konfrontiert wurden, schien er nicht nur für mich, sondern für viele Andere alle moralischen Kategorien ebenso hinter sich zu lassen, wie er sicher alle juristischen Normen sprengte. Man konnte dem auf verschiedene Weise Ausdruck verleihen. Ich habe gewöhnlich gesagt, daß dies etwas ist, das niemals hätte geschehen dürfen; denn die Menschen werden unfähig sein, es zu bestrafen oder zu vergeben.“18

Arendt weist sodann auf die problematische, weil nur äußerst zäh angelaufene kritische Aufarbeitung der Geschichte in Deutschland hin und die mit der 17 Arendt, Böse. 18 Arendt, Böse, 17f.

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Themenscheu einhergehende Transformation des kritischen Arguments in atmosphärische Ausdrucksformen, die sich auch im gegenwärtigen Gestus gehäuft finden: „Da es den Menschen schwer fällt – und dies mit Recht –, mit etwas zu leben, das ihnen den Atem raubt und sie sprachlos macht, haben sie allzu oft der offensichtlichen Versuchung nachgegeben, ihre Sprachlosigkeit in alle möglichen auf der Hand liegende [sic!] Sprachgebilde, die, immer natürlich unangemessen, gefühlsmäßige Erregung ausdrücken, zu übertragen. Die Folge ist, daß heute die ganze Geschichte gewöhnlich in Begriffen der Gefühlswelt, die als solche nicht unbedingt kitschig sein müssen, erzählt wird, um sie zu sentimentalisieren und zu verkitschen. […]. Die ganze Atmosphäre, in der die Dinge heutzutage diskutiert werden, ist mit Gefühlen, oft nicht gerade großen Formats, aufgeladen, und wer immer diese Fragen anspricht, muß damit rechnen, wenn überhaupt noch möglich auf ein Niveau heruntergezogen zu werden, auf dem ernsthaft nicht mehr diskutiert werden kann.“19

In der Folge argumentiert Arendt in Auseinandersetzung mit zentralen Positionen der Philosophie- und Theologiegeschichte deshalb für eine präzisere Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität, Moralität und Ethik, unterschiedlichen Begründungen moralischen Handelns, unterschiedlichen Normativitätsdiskursen und nicht zuletzt zwischen politischem Handeln und religiöser Haltung sowie zwischen unmittelbar emotionaler Urteilsbildung und politischer Indifferenz. In letzterer sieht sie – 1965 – ein besonderes Problem: „Diese Indifferenz [gegenüber verschiedenen Gesellschaftsformen, CR] stellt, moralisch und politisch gesprochen, die größte Gefahr dar, auch wenn sie weit verbreitet ist. Und damit verbunden und nur ein bißchen weniger gefährlich ist eine andere gängige moderne Erscheinung: die häufig anzutreffende Tendenz, das Urteilen überhaupt zu verweigern. Aus dem Unwillen oder der Unfähigkeit, seine Beispiele und seinen Umgang zu wählen, und dem Unwillen oder der Unfähigkeit, durch Urteil zu Anderen in Beziehung zu treten, entstehen die wirklichen ,skandala‘, die wirklichen Stolpersteine, welche menschliche Macht nicht beseitigen kann, weil sie nicht von menschlichen oder menschlich verständlichen Motiven verursacht wurden. Darin liegt der Horror des Bösen und zugleich seine Banalität.“20

Dass Arendt in einer öffentlichen Vorlesung solchen Ranges einen rhetorisch starken Schlusspunkt setzt, ist nachvollziehbar. Interessant ist jedoch, dass sie dafür ihre kluge Analyse politischer Prozesse mit dem Hinweis auf das Problem politischer Indifferenz im theoretisch reflektierten Urteilen (im Unterschied zum bloßen Meinen) auf riskante Weise konterkariert durch die Rede vom „Bösen“ und damit – ähnlich wie Cassirer – eine mythologische, emotional hoch besetzte Kategorie aufruft. So verständlich dies sein mag, so deutlich zeigt es, 19 Arendt, Böse, 19. 20 Arendt, Vorlesung, 150.

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dass wir um des intellektuellen und politischen Verstehens unserer gegenwärtigen Debatte willen einer theoretisch feinsprachlich differenzierten Analyse jener Motive, Metaphern und sonstiger rhetorischer Mittel bedürfen, die sich durch die komplexe Interaktion von sozialpolitischen Lebenserfahrungen, emotional-pathetischer Deutung, systemischer Partikularität, theoretischer Indifferenz auszeichnen und zu den politischen Narrativen unserer Zeit beitragen: Selbst und Andere/r, das Böse, die Indifferenz gegenüber der Lüge und das Postfaktische – aber auch die Narrative des gelingenden Lebens, Versöhnung und Hoffnung sind neu zur Debatte zu stellen. Geleistet werden kann solch eine Analyse nur in interdisziplinärer Kooperation, weil die spezifischen Logiken und objektiven Komplexitäten gerade nicht in simplifizierender Weise reduziert werden dürfen. Aufgabe der Theologie könnte und sollte es jedoch sein, aufgrund ihrer hermeneutischen Tradition und Expertise das Forum hierfür zu bieten, um nicht nur in essayistischer Manier, sondern mit der nötigen theoretischen Tiefenschärfe darüber nachzudenken, wie sich die Narrative des Politischen verstehen lassen.

Literatur Arendt, H., Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. Aus dem Nachlass herausgegeben von Jerome Kohn, übers. v. Ursula Ludz, mit einem Nachwort von Franziska Augstein, München / Zürich 2003. Beth-Dinkler, M., Beyond the Normative/Descriptive Divide: Hermeneutics and Narrativity, Vortrag auf der Tagung des Netzwerk Hermeneutik Interpretationstheorie, Zürich 01./02.12. 2016, unpubliziertes Manuskript. Cassirer, E., Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens (1945), postum publiziert Zürich / München 1949 [ND Frankfurt/M 1985]. – Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil : Die Sprache, Bd. 11 der Gesammelten Werke (ECW, Hamburger Ausgabe, hg. v. Birgit Recki, Hamburg 1998–19XX), hg. v. Birgit Recki, Text u. Anm. bearb. v. Claus Rosenkranz, Hamburg 2001; Zweiter Teil : Das mythische Denken, Bd. 12 der ECW, hg. v. Birgit Recki, Text u. Anm. bearb. v. Claus Rosenkranz, Hamburg 2002 ; Dritter Teil : Phänomenologie der Erkenntnis, Bd. 13 der ECW, hg. v. Birgit Recki, Text u. Anm. bearb. v. Julia Clemens, Hamburg 2002. Münkler, H., Deutschland ist kein Hippie-Land, Interview mit Herfried Münkler, geführt von Sandra Schulz, in: Deutschlandfunk, 11. September 2015, online abgerufen über : http://www.deutschlandfunk.de/debatte-um-fluechtlingspolitik-muenkler-deutschlandist.694.de.html?dram:article_id=330759 (15. 9. 2016). – Wie wir kämpfen müssen. Der Terror richtet sich gegen Europa, nicht nur gegen Frankreich. Sind wir reif für eine gefahrvolle Solidarität?, in: DIE ZEIT 47/2015, 19. November 2015, online abgerufen über: http://www.zeit.de/2015/47/terroran schlaege-paris-europa-solidaritaet (15. 9. 2016).

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– Wo kommt all die Gewalt her? Jörg Baberowskis Analyse „Räume der Gewalt“ verzichtet auf einfache Lösungsvorschläge und große Theorien, in: DIE ZEIT 4/2016, 21. Januar 2016, online abgerufen über: http://www.zeit.de/2016/04/raeume-der-gewaltjoerg-baberowski (15. 9. 2016). – Wie ahnungslos kluge Leute doch sein können. Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk kritisieren die Regierung und verlangen eine rigide Grenzsicherung – das zeigt, wie unbedarft die beiden sind, in: DIE ZEIT 7/2016, 11. Februar 2016, online abgerufen über : http://www.zeit.de/2016/07/grenzsicherung-fluechtlinge-peter-sloterdijk-ruedigersafranski-erwiderung (15. 9. 2016). – Weiß er, was er will? Der Philosoph Peter Sloterdijk hat sich vorige Woche in der ZEIT gegen die Kritik von Herfried Münkler gewehrt und ihn einen „Kavaliers-Politologen“ der Kanzlerin genannt. Eine Antwort, in: DIE ZEIT 12/2016, 10. März 2016, online abgerufen über : http://www.zeit.de/2016/12/fluechtlingsdebatte-peter-sloterdijkphilosoph-antwort (15. 9. 2016). Nolte, P., In der Zeitenwende. Der Aufstand der Frustrierten und die Krise des Modells Merkel, in: Cicero 4/2016. Richter, C., Die Zeit des Schweigens ist vergangen. Christliches Ethos angesichts politischer Irritationen, in: Luther 88 (2017) 31–47. Safranski, R., Politischer Kitsch. Interview mit Rüdiger Safranski, geführt von Nico Bandle, in: Die Weltwoche 52/2015, online abgerufen über : http://www.weltwoche.ch/ ausgaben/2015-52/artikel/deutsche-fluechtlingspolitik-politischer-kitsch-die-weltwocheausgabe-522015.html (15. 9. 2016). Schröder, C., Deutsche Denker gegen Angela Merkel, in: Der Tagesspiegel, 1. Februar 2016, online abgerufen über : http://www.tagesspiegel.de/kultur/botho-strauss-ruedigersafranski-peter-sloterdijk-deutsche-denker-gegen-angela-merkel/12907680.html (15. 9. 2016). Sloterdijk, P., Das kann nicht gut gehen. Interview mit Peter Sloterdijk, geführt von Alexandra Kissler und Christoph Schwennicke, in: Cicero, 28. Januar 2016, online abgerufen über : https://blendle.com/i/cicero/das-kann-nicht-gut-gehen/bnl-cicero20160128–124360_das_kann_nicht_gut_gehen (15. 9. 2016). – Primitive Reflexe. In der deutschen Flüchtlingsdebatte erleben Rüdiger Safranski und ich Beißwut, Polemik und Abweichungshass. Eine Antwort auf die Kritiker, in: DIE ZEIT 11/2016, 2. März 2016, online abgerufen über : http://www.zeit.de/2016/11/ fluechtlingsdebatte-willkommenskultur-peter-sloterdijk (15. 9. 2016).

Geschichte und Gegenwart

Görge K. Hasselhoff

Der Talmudprozess von 1240 und seine Folgen*

Ungefähr im Juni 12411 wurde in Paris eine unbestimmte Menge an Talmudim (und, wie anzunehmen ist, weiterer Bücher mit hebräischer Schrift) verbrannt.2 Auch wenn die Zahl der verbrannten Bücher traditionell mit 20 (= 14+6)3 bzw. 244 Wagenladungen angegeben wird, ist sie so nicht haltbar, weil es in Frankreich nicht entfernt so viele Bücher mit hebräischer Schrift (geschweige denn Talmud-Exemplare) gegeben haben kann, wie Colette Sirat überzeugend nachgewiesen hat.5 Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass durch Christen erstmals das relativ neu in Europa eingeführte heilige Schriftkorpus des Talmud6 öffentlich zerstört und entheiligt wurde.7 Nach dem Aufruf zum Kreuzzug von 1096 und den sich anschließenden Pogromen im Rheinland8 war das die nächste Zäsur für das europäische Judentum,9 der später weitere Bücherverbrennungen folgen sollten.10 * Die Arbeit an diesem Artikel wurde ermöglicht innerhalb des European Union’s Seventh Framework Programme (FP7/2007–2013) / ERC Grant agreement n8 613694 („The Latin Talmud and Its Influence on Christian-Jewish Polemic“ at the Universitat Autknoma de Barcelona). – Ich danke meinem Kollegen Alexander Fidora, Bellaterra, für seine kritischen Kommentare zur Einführung und =scar de la Cruz Palma, Bellaterra, für seine Durchsicht der Edition. 1 So der – nicht unumstrittene – Vorschlag von Paul Lawrence Rose, vgl. ders., Talmud. 2 Zu Bücherverbrennungen im Mittelalter vgl. die monumentalte Studie von Thomas Werner (Werner, Irrtum), hier 19 mit Anm. 32 zu den Pariser Bücherverbrennungen. 3 So z. B. bei Rose, Talmud, 326 mit Anm. 4, bzw. 329 Anm. 11 (mit Verweis auf die Handschrift Paris, BibliothHque nationale de France 16.558, f. 211v, und die Sächsische Weltchronik, ed. L. Weiland, Hannover 1877, 255). 4 So in den Monumenta Erphesfurtensia saec. XII, XIII, SIV, ed. O. Holder-Egger, Hannover 1899, 98, zit. bei Rose, 329 mit Anm. 9. Auch Grayzel, Talmud, 226, nennt diese Zahl. 5 Sirat, Les manuscrits, 127. 6 Vgl. dazu Talya Fishmans unverzichtbare Darstellung: Fishman, People. 7 Zu möglichen kanonrechtlichen Grundlagen des Verbrennens vgl. Kedar, Law. 8 Vgl. Chazan, God; Cohen, Sanctifying; Haverkamp (Hg.), Berichte. 9 Vgl. auch den Niederschlag in der zeitgenössischen jüdischen Dichtung (z. B. bei R. Meir ben Baruch von Rothenburg = „Maharam“, ca. 1220–1293). 10 Für eine Übersicht vgl. Grayzel, Talmud; Werner, Irrtum, 547–652.

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Görge K. Hasselhoff

Auch für das Christentum bedeutete die Talmudverbrennung mitsamt dem vorangegangenen Talmudprozess sowie den nachfolgenden Übersetzungen jüdischen Schrifttums einen Einschnitt, wie im Folgenden dargestellt werden soll.

I.

Die 1. Pariser Talmuddisputation

Im Jahr 1238 wandte sich der aus dem Judentum konvertierte Neuchrist Nikolaus Donin aus La Rochelle11 mit einer ungewöhnlichen Bitte an den römischen Papst: In der (neuen) heiligen Schrift des Judentums, dem Talmud, fänden sich Blasphemien gegen das Christentum, weswegen dieses Buch verboten werden müsse. Zum Beleg fügte Nikolaus Donin der Eingabe eine Liste von 35 Auszügen aus dem Talmud in lateinischer Sprache bei.12 Der Papst seinerseits reagierte auf diese Bitte und beauftragte alle christlichen Könige in Europa mit der Prüfung der Anfrage, jedoch reagierte nur der französische König Ludwig IX., der „Fromme“.13 Er lud Vertreter des französischen Judentums zu einer Disputation über die Fragen nach Paris. Bei dieser Veranstaltung, die im Juni 1240 in Anwesenheit der Königin Blanca stattfand, scheint es sich wohl eher um ein inquisitorisches Verhör als eine Disputation gehandelt zu haben; zumindest verzeichnet der hebräische Bericht überwiegend Fragen der christlichen und Antworten der jüdischen Seite.14 Ein Jahr später erfolgte die einführend erwähnte öffentliche Verbrennung des Talmud, die wohl eine (indirekte?) Folge des Disputationsverhörs war. Einige Jahre später erfolgte 1248 zudem unter Leitung des Pariser Bischofs Wilhelm von Auvergne eine (erneute) Verurteilung des Talmud durch Theologen der Pariser Universität. Bei dieser Form von Gewalt blieb es jedoch nicht; es gab auf christlicher Seite, wohl veranlasst durch den Pariser Dominikanerkonvent, transformatorische Handlungen.

11 Zu diesem vgl. Capelli, Conversion; Fidora / Cecini, Articles. 12 Die Anklageartikel liegen vor bei: Kisch, Anklageartikel, 67–71; Loeb, Controverse 2, 253–270, Controverse 3, 39–54. – Eine kommentierte, kritische Neuedition ist ein dringendes Forschungsdesiderat. 13 Vgl. zu dem Prozess z. B. Rosenthal, Talmud, 70f; Maccoby, Judiasm, 19–38; Rembaum, Talmud; The Trial of the Talmud (transl. Friedman u. a.) (dazu jedoch meine kritischen Anmerkungen in: Journal of Transcultural Medieval Studies [= JTMS] 1 (2014 [2015]), 334–336). 14 Zur geplanten Neuedition vgl. Capelli, Processo; ders., Texts; Galinsky, Versions.

Der Talmudprozess von 1240 und seine Folgen

II.

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Judentum für Christen um 1245

Bereits der „Ankläger“ und damit Urheber des Pariser Talmudprozesses, Nikolaus Donin, hatte einige Abschnitte aus dem Talmud in lateinischer Sprache vorgelegt. Ob er selbst der lateinischen Sprache mächtig war oder ob er ins Mittelfranzösische übersetzte, von wo aus ein ungenannt Bleibender dann die erhaltene lateinische Fassung erstellte, ist hier unerheblich.15 Wichtiger erscheint, dass in der Folge eine kurze, sehr fruchtbare Übersetzungstätigkeit einsetzte, die nicht ohne Folgen für die lateinische Theologie der Zeit blieb. Ein Übersetzerkreis, der über den Pariser Subprior Theobaldus des Saxonia OP (Thibaud de S8zanne)16 mit dem Dominikanerkonvikt St. Jacques in Verbindung stand und zu dem möglicherweise Heinrich von Köln OP,17 aber auch weitere, anonym bleibende Übersetzer gehörten, fertigte vor 1248 zwei weitere, voneinander abhängige Übertragungen aus dem Talmud und aus weiteren rabbinischen Schriften an, die in einer Pariser Handschrift (Paris, BibliothHque nationale de France, Ms. lat. 16.558) sowie neun weiteren heute noch bekannten Überlieferungsträgern in unterschiedlichem Umfang erhalten sind.18 Am Anfang stand unzweifelhaft eine Auswahlübersetzung, die in der Regel der Ordnung der talmudischen Traktate, wie sie heute im Babylonischen Talmud kanonisiert vorliegen,19 folgt, wenngleich auch signifikante Abweichungen zu vermerken sind. Der nicht ganz vollständigen Aufstellung Ch. Merchavias20 zufolge handelt es sich um rund 2.000 Exzerpte. Schwerpunkte bilden dabei Passagen und Aussagen zum Messias, zu Irrtümern des Judentums, (vermeintliche und tatsächliche) Polemiken gegen das Christentum sowie Bibelexegesen, die für Christen interessant sein könnten. Die meisten Exzerpte stammen aus den Traktaten Berakhot und Sanhedrin, deutlich weniger aus den ebenfalls namentlich genannten Traktaten Shabbat, Bava Qamma, Bava Metsia, Bava Batra, Makkot, Shevuot, Avoda Zara. Bemerkenswert sind zudem zwei Sammlungen, die eine unter dem Titel „Nassym“, die Texte aus dem Seder Nashim („Frauen“), einen Traktat aus dem Seder Teharot („Nidda“) sowie

15 16 17 18

Zu dieser Frage vgl. Fidora / Cecini, Articles. Zu diesem vgl. Dahan, Traductions. Zu dem wenigen von ihm Bekannten vgl. Bund, Untersuchungen, 16. Vgl. die Übersicht bei Fidora, Rearrangement, 66f; vgl. auch ders., Influence; ders., Translators; ders., Handschrift. 19 Es ist auffällig, dass die Übersetzer den Jerusalemer Talmud anscheinend nicht kannten, obgleich er in der Rashi-Schule aus Troyes durchaus bekannt war. Übersetzt wurden Auszüge daraus erst rund zwanzig Jahre später durch den katalanischen Dominikaner Ramon Mart&; vgl. dazu Hasselhoff, Yerushalmi Texts. 20 Vgl. Merchavia, Church, 363–420.

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Auszüge aus dem nebentalmudischen Sefer Kallah enthält,21 sowie eine unter dem Titel „Kazassin“ mit Texten aus dem Seder Qodashin. Dieser im weitesten Sinne sequentiellen Übertragung sind mehrere kleinere Sammlungen angehängt, zum einen ein Liber Krubot, der vor allem Übertragungen aus Piyyutim (religiöser Dichtung) enthält,22 eine Sammlung mit Exzerpten aus dem Bibelkommentarwerk Rashis (dazu unten mehr) sowie eine Liste mit Exzerpten vor allem aus den Traktaten Makkot, Shavuot, Avot und Chullin, die in der Pariser Handschrift mit „De quibusdam de diuersis libris“ bzw. „De iudiciis“ überschrieben ist.23 Ein anonymer Kompilator erstellte aus den Übertragungen von Nikolaus Donin sowie der sequentiellen Sammlung eine neue Sammlung, die die Texte nach Themenzusammenhängen wie „Blasphemien“ oder „Dummheiten“ systematisiert; die Übertragungen sind durchgesehen und teilweise neu erstellt. Mit der Talmudübertragung teilweise verbunden ist ein vielgestaltiges Übertragungsprojekt von Texten des Bibel- und Talmudkommentators Rashi (R. Shlomo Yitzhaqi, 1040–1105).24 Zum einen sind in die (sequentielle) Talmudübertragung ab und an dessen eigenen, fortlaufenden Talmudglossen eingefügt. Entweder lag den Übersetzern eine Handschrift mit seinen Glossen vor25 oder aber sie haben diese kongenial an die passenden Stellen eingefügt. Zudem ist ihm, wie schon erwähnt, ein eigener Abschnitt der Pariser Handschrift mit rund 160 Auszügen aus dem die gesamte hebräische Bibel umfassenden Kommentarwerk gewidmet.26 Die Exzerpte umfassen Denkwürdigkeiten (und „Irrtümer“) aus den Kommentaren zum Pentateuch,27 zu den vorderen und hinteren Profeten,28 sowie einige Texte aus den Schriften („Ketuvim“).29 Zu den meisten dieser Kommentare, die im „Original“ zumeist eine Erläuterung aus den antiken und mittelalterlichen rabbinischen Schriften darstellen, finden sich Vorlagen in den erhaltenen Kommentaren Rashis. Im Umkehrschluss heißt das, dass für die 21 Zum Sefer Kallah vgl. Brodsky, Bride, und die Edition von Michael Higger (ed.), Massekhtot Kallah. 22 Eine Edition bereiten gegenwärtig Görge K. Hasselhoff und Wout van Bekkum vor. 23 In den Kopien in einer anderen stemmatischen Tradition entfallen diese Titel. 24 Zu Rashi vgl. die umfassende Biografie von Grossman, Rashi. 25 Dass es derartige Handschriften gab, zeigen Lehnardt, Talmud-Fragment; Perani / Sagradini, Fragments, 252, 299. 26 Es gibt zudem zwei weitere mittelalterliche und eine frühneuzeitliche Handschrift dieser Übertragung; der größte Teil liegt inzwischen in kritischer Edition vor, vgl. die nachfolgenden Anmerkungen sowie den Anhang. 27 Die Exzerpte zu Genesis liegen vor in: Dahan, Rashi, 46–54; die zu Levitikus bis Numeri bei Hasselhoff, Readers, 108–110; zu denen aus Exodus vgl. u. im Anhang. 28 Diese Exzerpte liegen bis auf die aus dem Buch des Profeten Jesaja vor bei Hasselhoff, Trials, 37. 40f; ders., Friars. – Die Exzerpte aus Jesaja erscheinen 2017 in einem Sammelband: Hasselhoff, Rashi’s Glosses. 29 Diese liegen vor bei Dahan, Dossier, 335f (Proverbien), sowie Hasselhoff, Trials, 38–40.

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159

übersetzten Kommentare, für die keine hebräischen Vorlagen mehr greifbar sind, anzunehmen ist, dass dem Übersetzer eine ebensolche vorgelegen hat.30 Ob eine weitere erhaltene, anonym überlieferte Übertragung von Rashis Hoheliedkommentar31 im gleichen Umfeld entstanden ist, kann nicht entschieden werden. Gleichwohl fügt sie sich in den Umgang mit jüdischen Texten nach der Talmudverbrennung gut ein. Das gilt auch für das dritte, hier zu nennende Textkorpus. Etwa zeitgleich mit den Übertragungen von Talmud und Rashi wurden, wie ich andernorts dargestellt habe,32 in Paris und wohl auf Veranlassung von Dominikanern um Moneta von Cremona und Albertus Magnus33 umfassende Teile des „Führers der Unschlüssigen“ (Dalalat al-Ha’irin; hebr. More ha-nevukhim) ins Lateinische übersetzt. Diese Übersetzung ließ einerseits rabbinische Spezifika insbesondere des ersten Teils aus, andererseits wurde sie um einen rabbinischen Text des Maimonides, die Auflistung der 613 Ge- und Verbote nach der Fassung von Maimonides’ halakhischem Hauptwerk Mishne Tora ergänzt. Diese Liste wurde zeitgleich von dem an der eingangs genannten Pariser Talmuddisputation beteiligten Moshe ben Jacob aus Coucy (bezeugt 1240–4) in dessen Sefer Mitzvot ha-gadol („SeMaG“) ausgelegt und kommentiert – bloße Koinzidenz oder doch ein Hinweis auf den Übertragungsort der lateinischen Version?

III.

Zur Wirkungsgeschichte der Pariser Übersetzungsarbeiten

Den Übertragungen jüdischer Texte in Folge der Talmuddisputation kam eine sehr unterschiedliche Wirkungsgeschichte zu. Während die Talmudübertragungen in erster Linie abgeschrieben und vergleichsweise wenig rezipiert wurden,34 sieht man ab von Verarbeitungen in Werken wie Thibaud de S8zannes Pharetra oder einer in zwei bekannten Abschriften überlieferten Epitome,35 wurde Rashi zum Ideengeber für Nikolaus von Lyra36 und damit für einen sehr 30 Beispielhaft lässt sich das für den Psalmenkommentar zeigen, dessen Vulgatafassung Mayer I. Gruber (vgl. Gruber, Commentary) vorbildlich ediert hat, während die neue Fassung der Mikra’ot Gedolot „Haketer“ einen anderen, umfangreicheren und polemischeren Text bietet. – In den Rashi-Übertragungen finden sich Entsprechungen zu beiden Fassungen. 31 Vgl. Secundum Salomonem. 32 Vgl. Hasselhoff, Dicit. 33 Zu Alberts Verbindung zum Talmudprozess und seinen Folgen vgl. Resnick, Talmud, 73–77. 34 Ein Nutzer scheint Albertus Magnus gewesen zu sein; vgl. dazu Resnick, Talmud, sowie demnächst Fidora, Albert. 35 Eine Edition wird gegenwärtig von Isaac Lampurlan8s Farr8, Bellaterra, im Rahmen einer Dissertation vorbereitet. 36 Trotz einiger wichtiger Vorarbeiten – genannt sei v. a. Krey / Smith, Nicholas; Klepper, Insight – bedarf es hier einer tiefergehenden Analyse der Quellen von Nikolaus.

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wirksamen Zweig der spätmittelalterlichen Bibelexegese. Maimonides dagegen prägte durch seinen biblizistischen Aristotelismus die albertinisch-thomasische Scholastik.37 Aus dieser Skizze dürfte bereits deutlich geworden sein, wie ein gewaltsamer Anfang – das Verbrennen von Büchern – zu einer zwar intendiert negativen, aber wirkungsgeschichtlich fruchtbaren Auseinandersetzung mit dem verfemten religiösen Gedankengut des vermeintlichen Gegners wurde.

Anhang: Edition der Exzerpte aus Rashis Exoduskommentar Die nachfolgende Textedition ist Teil einer ca. 160 Exzerpte umfassenden Sammlung, die zeitgleich mit der lateinischen Talmudübertragung angefertigt worden ist. Diese Exzerpte liegen in vier Handschriften vor; drei sind mittelalterlichen Handschriften, die sich zwei verschiedenen Traditionen zuordnen lassen, die beide vom Archetyp abstammen. Bei der vierten Handschrift handelt es sich um eine frühneuzeitliche Abschrift der einen mittelalterlichen Handschrift. Dabei handelt es sich um die folgenden vier Handschriften:38 P = Paris, BibliothHque nationale de France, Ms. lat. 16558, f. 224a–230rb, hier 226rb-227rb. Pergamenthandschrift aus der Mitte des 13. Jahrhunderts. Diese Handschrift dient als Leithandschrift, da sie in weiten Teilen zuverlässiger ist als die zweite Tradition; dennoch weist auch diese Handschrift Textauslassungen aus. P weist fast vollständige Marginalien als Belege für die zitierten Bibelstellen sowie kategorisierende Kommentare (nota, error, goy, usw.) auf, Kommentare des Übersetzers werden im Allgemeinen durch Unterstreichung kenntlich gemacht. M = Paris, BibliothHque mazarine, Ms. lat. 1115, f. 412r–421r, hier 414r–416v. Papierhandschrift des 17. Jahrhunderts. M ist eine direkte Abschrift von P und gibt den Text nicht immer korrekt wieder. C = Carpentras, BibliothHque municipale l’Inguimbertine, Ms. lat. 153, f. 74ra76va, hier 75ra-va. Papierhandschrift aus dem Ende des 13. oder dem Beginn des 14. Jahrhunderts. Die Handschrift stammt ursprünglich aus dem Augustinerkonvent in Aix en Provence. C scheint auf einen Hyparchetyp zurückzugehen, der signifikante Abweichungen aufweist.

37 Vgl. dazu Hasselhoff, Dicit. 38 Detaillierte Beschreibungen der Handschriften werden im Rahmen der Edition des lateinischen Talmud durch =scar de la Cruz Palma und Ulisse Cecini (beide UAB Barcelona) erfolgen.

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G = Girona, Arxiu Capitular, Ms. 19b, f. 79ra-81rb, hier 79vb-80ra. Papierhandschrift aus der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts, wahrscheinlich aus Frankreich (Avignon?). Die Handschrift geht auf den gleichen Hyparchetyp wie C zurück und ist im Allgemeinen etwas zuverlässiger. Kriterien für die Auswahl der Exzerpte werden nicht deutlich; dennoch lässt sich festhalten, dass in den Fällen, wo Rashis originale Kommentierung erhalten ist, diese verbatim wiedergegeben wird.39 Deswegen seien hier nur die Abweichungen benannt: – Exodus 2, 15: Die Erklärung entspricht Rashis Kommentar, ist aber nicht ganz wörtlich. – Exodus 14, 7: Wo der Übersetzer „goym, Gencium“ hat, steht in den gängigen Ausgaben „mitsrayim“. – Exodus 14, 10: Die zweite Hälfte der Erklärung (ab „Dicit talmud“) ist bei Rashi nicht erhalten. Es könnte sich allerdings um eine Ergänzung aus der Talmudübertragung handeln. – Exodus 19, 19: Die zweite Hälfte der Erklärung (ab „et alibi scriptum est“) ist bei Rashi nicht erhalten. – Exodus 21, 1: Zu dem in Raschis Kommentar genannten Vers aus Deuteronomium wird die dortige Erläuterung ergänzt. – Exodus 22, 30 (mit der enthaltenen Erklärung zu Dtn. 14, 21): Die Erklärung entspricht Rashis Kommentar, ist aber – insbesondere im Blick auf das enthaltene Zitat aus Deuteronomium samt Erläuterung – nicht ganz wörtlich. – Exodus 33, 11: Die Erklärung ist bei Rashi nicht erhalten.

exo. ij.

stul.

[P f. 226rb, sub col. C f. 75ra G f. 79vb M f. 414r] Numquid occidere me tu dicis sicut occidisti40 egypcium. [Ex. 2, 14] [M f. 414v] Glosa41: [P f. 226rb, col.] ex hoc patet quod occidit eum per semamphoras42, i. e. nomen43 explanatum, nomen dei scilicet xlij44 litterarum45. Audiuitque pharao46 verbum47 hoc, et querebat occidere mosse [Ex. 2, 15]. Glosa: tradidit48 eum iusticie occidendum nec vnquam49 potuit gladius in eum intrare50 sicut alibi scriptum est:

39 Ich beziehe mich im Folgenden auf die Standardlesarten des Textus receptus Rashis, wie er in der Ausgabe Herczeg, Torah, wiedergegeben wird. 40 C G add. heri [cf. Acta 7, 28]. 41 C G nota. 42 C G semethemforas M semanphoras. 43 C nomem. 44 C xiiij G xiij. 45 C horarum. 46 C farao. 47 Vg.: sermonem.

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(Fortsetzung) infra xviij deus enim patris mei adiutor meus et eruit me de gladio pharaonis [Ex. 18, 4], et ibi dicit glosa: quod collum51 ipsius52 factum est marmoreum. stul. exo. 4 zach. ix. stul. exo. 10 Goy exo. 14 er. No. stul. exo. 15 er. ys. xlviij

48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71

Inposuit eos super asinum [Ex. 4, 20]. Glosa: iste asinus est ille super quem ascendit abraham quando iuit ad immolandum ysaac, et super53 istum asinum equitabit messyas, sicut scriptum est: ecce rex tuus54 et infra: ascendens super asinum [Sach. 9, 9]. Nec remansit una in cunctis finibus egypci [Ex. 10, 19]. Glosa: nec eciam locuste iam sallite55 quas sallierant ad comedendum. Super illud tulit sexcentos currus etc. [Ex. 14, 7]. Glosa: optimum goym, Gencium, occide melioris serpentum contere caput. Viderunt egyptum mouentem56 post se57 [Ex. 14, 10]. Glosa: uiderunt principem egypciorum qui mouebat58 exibat59 de celis, ut adiuuaret egypcios. Dicit60 talmud, quod angelus qui preest alicui populo [P f. 226va] prius punitur61 quam ipse populus. Dextera62 tua domine mag[nifice]63 in for[titudine] dextera etc.64 [Ex. 15, 6]. Glosa: quare65 bis66 ponitur dextera? quia quando israel facit voluntatem dei sinistra eius fit dextera67, ad adiuuandum eos. 68 Sanctuarium tuum domine quod firmauerunt69 manus tue [Ex. 15, 17]. Glosa: templum quod est inferius directe est contra sedem, que est superius in celo, et ex hoc patet quod magis dilectum est70, a deo templum quam residuum mundi, fecit enim templum cum duabus71 manibus, et mundum cum vna, sicut scriptum est: manus mea fundauit terram [Jes. 48, 13].

C G tradit. C G nunquam. C G intrare in eum. P callum. C G eius. Om. C G. M add. venit. C falssite G salsite. M morientem. C G mouere posse. M moriebat. C G exhibat. C G dixit. G ponitur. C destera. M magnificata. C G om. tua domine … dextera. C G quia. C G vis. C destera. C G add. Firmissimo habitaculo tuo quod operatus es Domine. C G fir. C est dilectum G est dilectum est. M duobus.

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(Fortsetzung) exo. 16 Cum operuisset superficiem terre [Ex. 16, 14]. Glosa: quando sol radiabat ros qui72 erat super manna73 ascendebat per radium solis, et [M f. 415r] dicunt quod testa ouj plena rore ascendit per radium solarem. er. exo. xviij

Ut comederent panem cum eo coram domino [Ex. 18, 12]. Glosa: ex hoc discimus74 quod qui comedit in mensa in qua comedunt sapientes tantum valet quantum si viueret de gloria dei. Populum qui assistebat moysi a mane vsque ad uesperam [Ex. 18, 13]. Glosa: hoc non potest ita intelligi, sed sic intelligendum7576quod quilibet iudex qui iuste iudicat tantum reputetur77 in scriptura quantum si fuisset socius dei in creacione mundi.

stul. exo. 19 stul. Nota

In die tercio descendit dominus coram omni plebe [Ex. 19, 11]. Glosa: et78 hoc apparet quod nullus erat cecus, quia erant omnes sanati. Steterunt79 ad radicem montis in hebreo80 sub monte [Ex. 19, 17]. Glosa: ex hoc patet quod mons eradicatus fuit et aperuit81 eos, sicut cupa82 vna hominem vnum, et alibi scriptum est, quod deus dixit eis, si vultis recipere legem bene sin autem, hic erit sepulcrum uestrum.

stul.

Moyses loquebatur et dominus respondebat ei [Ex. 19, 19]. Glosa: quia moy[P f. 226vb]ses loquebatur eis83 verba, et non audierunt84 ab ore dei, nisi hec duo verba: ego dominus deus tuus85 etc. [Ex. 20, 2] Non habebis deos alienos coram me etc. [Ex. 20, 3] et non alia. Cunctus [C f.75rb] populus uidebat uoces [Ex. 20, 15 (20, 18 V)]. Glosa: ex hoc apparet quod nullus erat cecus, nec mutus sicut supra dicitur : respondit omnis populus simul86 [Ex. 19, 8], nec surdus sicut ibi87 dicitur audiemus [Ex. 24, 17].

stul. exo. 20 Nota stul.

72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89

De celo locutus sum vobis [Ex. 20, 19 (20, 22 V)]. [Glosa:] ex hoc patet quod deus inclinauit celos superiores et inferiores, et extendit eos super montem, sicut culcitam88, super lectum et tunc demisit89 sedem super eos, et ex eis loqutus est ipsis.

M res quae. C magna. C M dicimus. M intelligitur. C G add. est. C G reputatur. C G ex. C exteterunt. G del. mo(n). C G coperuit. C G capa. M eius. C adierunt. C G t. C G summus. C G ibidem. G M culcitram. C G dimisit.

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(Fortsetzung) 90 Hec sunt iudicia que propones eis [Ex. 21, 1], Glosa: propones eis91 et non Goy gentibus et si eciam scias92 ad93 iudicium quod gentes iudicant secundum Nota israel non agites iudicium in curia94 eorum, quia ille qui ducit iudicia israel exo. 21 coram gentibus vilificat nomen dei et exaltat nomen, auozazara95, ecclesia sicut dicitur : deut. xxxij

Goy exo. Xxij deut. xiiij101

ex. xi.102

90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106

Non enim est deus noster ut dij eorum et inimici nostri [M f. 415v] sunt iudices [Deut. 32, 31]. Glosa: quia inimici nostri sunt iudices,96 hoc est probatio fidei eorum. Animam pro anima [Ex. 21, 23]. Glosa: magistri nostri diuersa97 hic senciunt [G f. 80ra] quidam enim dicunt quod occidetur alij quod multabitur98 pecunia, qui enim intendit occidere vnum hominem et occidit alium, reddet99 pro illo tantam pecuniam quanta pro eo haberetur in foro si venderetur. Oculum pro oculo [Ex. 21, 24]. Glosa: si eruit oculum socii sui, reddet ei tantam peccuniam in quanta precium eius minuitur, si deberet in foro vendi, et sic de ceteris membris, et non taliter intelligendum est100 quod auferantur ei membra. Carnem que a bestiis fuerit pregustata103, non comeditis sed prohicietis104 canibus [Ex. 22, 30 (22, 31 V)]. Glosa: et goy105 xristianus est sicut canis, aut non dicit hoc nisi de [P f. 227ra] canibus proprie, istud potestis dicere per hoc quod106 de morticinio dicitur quicquid107 morticinum estne108 vescamen109 ex eo: peregrino qui intra portas tuas est da ut comedat aut vende ei [Deut. 14, 21]. Glosa: per110 peregrinum111 intelligitur goy xristianus et arguunt per leue et graue, i. e. per locum a minori, si morticinium quod excluditur ab omni vtilitate, vsu conceditur gentibus multo forcius caro rapta a bestiis, cuius vsus conceditur112 ad aliquam vtilitatem quare ergo dicitur prohicietis113 canibus? docens114 te quod honorabilior sit115 canis116 quam goy117 xristianus quia morticinium datur xristiano, et caro118 rapta, que119 melior120 est datur cani121, et eciam docet te in hoc quod deus non retinet mercedem aliter122 creature vnde soluit in hoc cani123 mercedem quia non latrauit apud filios israel, sicut legitur apud omnes124 filios125israel non muciet canis [Ex. 11, 6].

C add. Et. propones eis P add. in margine. C scias scias. C G aliquis. M terra. C G auozassara. glossa … iudices G add. in margine. M add. sunt. P M mulctabitur. C G reddit. Om. C G. C in marg. G in marg. deu xiiij8. C in marg. G in marg. exo xi. C grustata pregustata. G proicietis M proiicietis. C G goym. C add. scilicet.

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(Fortsetzung) Et introducat ad locum quem paraui [Ex. 23, 20]. Glosa: quod iam paraui contra ipsum et iste est vnus de multis versibus qui probant quod templum superius directe est contra templum inferius. exo. 31 er. exo. 32128 stul. exo. 33129 er

107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134

Dixitque dominus moysi conpletis huiuscemodi126 sermonibus in monte syna [Ex. 31, 18]. Glosa: docet quod moyses audiebat ex ore [M f. 416r] dei, et postea reuertebantur ambo simul, et repetebant127 suam halaka, leccionem de talmut. Vade descende [Ex. 32, 7]. Glosa: in illa hora fuit mosse excommunicatus ex ore superiorum iudicum angelorum. Moyses tollens130 tabernaculum, tetenderat131 extra castra procul [Ex. 33, 7]. Glosa: a tempore peccati super vitulo et vltra separauit tabernaculum a castris, iustum est enim, ut132 qui excommunicatus est a superiori magistro habeatur pro excommunicato a discipulo133. Et omnis populus qui querebat deum egre[P f. 227rb]diebatur ad tabernaculum federis extra castra [Ex. 33, 7]. Glosa: eciam angeli qui134 seruiunt deo, quando querebant ad inuicem vbi est deus, respondebatur in tabernaculo moysi est.

G Quid. P est ne. M vescimini. Om. C G. C peregrinu. C G comeditur. M proiicietis. C doces M docent. C G est M erit. G in marg. Nota. Om. P M. G corr. ex faro. G quod. P molior. P carni. C G alius M alienus. C tam. C apud os ap(ud) os Om. M. C in marg. G in marg. xxiiij. M huiusmodi. C repectebant. G in marg. xxxij8. C in marg. G in marg. xxxiij8. P tallens. C G tetendit. C G ut enim. C dicipulo. C q(ui) quj.

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(Fortsetzung) 135 blas. Loquebatur dominus ad moysen, facie136 ad faciem [Ex. 33, 11]. [Glosa:] Dixit137 r[a]by138 ysaac: Dixit dominus ad mosse putas ne quod ego et tu discamus omnes exposiciones de halakod, de sentenciis talmud sicut darsaui tibi exposui, ita darsa israeli139.

exo. 34141

Posteriora mea videbis [Ex. 33, 23]. Glosa: ostendit ei no[n]dum filacteriorum140 suorum hoc habes supra de talmud. Nullus ascendat tecum [Ex. 34, 3]. Glosa: quia prime tabule date fuerunt in tumultu, et vocibus et142 multitudine hominum ideo malus143 oculus habuit in eis potestatem ad fascinandum eos. Scribe tibi verba hec [Ex. 34, 27]. Glosa: sed144 non licet tibi scribere legem super os, id est talmud145. Venerunt ad eum eciam146 omnes filii israel [Ex. 34, 32]. Glosa: postquam docuit seniores, reuersus est, et docuit totum israel halaka, leccionem de talmud, dicunt magistri quomodo147 docuit eum mysna? materiam capitulorum de talmud, mosse discebat148 ex ore dei, ingressus est aaron et docuit eum mosse suum perec, capitulum de talmud, tunc aaron amouit se et sedit ad sinistram mosse. Ingressi sunt filii sui et docuit eos mosse suum perec, amouerunt illi se et sedit eleazar, ad dexteram149 mosse, et [C f. 75va] ythamar sedit ad sinistram aaron. Ingressi sunt seniores et docuit eos mosse suum perec. Remouerunt se seniores, [M f. 416v] et sederunt a lateribus hinc inde. Ingressus est omnis populus, et docuit eos mosse suum perec. Populus igitur150 audiuit semel, seniores bis, filii aaron ter, aaron quater.

tal.

Literatur Brodsky, D., A Bride Without a Blessing: A Study in the Redaction and Content of Massekhet Kallah and its Gemara, Tübingen 2006. Bund, K., Untersuchungen zu Magister Heinrich von Köln, dem Abschreiber der Abreviatio de animalibus des Avicenna (1232), und zur Frage seiner Identifizierung mit dem 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150

C add. et. P fa. C G Dicit. P G M rby C Raby. C G israel. C G filateriorum M phileuteriorum. C in marg. G in marg. xxxiiii8. C G In. Om. Dahan, Dossier, 332 Anm. 42. C secundum. C G add. supra est. P M et. C quo. C G dicebat. C desteram. M ergo.

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David von Mayenburg

Zwischen Recht und Revolution – Konfliktlösung durch Schiedsrichter im Kontext des Bauernkrieges von 15251

I.

Einführung

Der St. Galler Prediger Johannes Kessler2 berichtet in seiner Chronik „Sabbata“ von einer folgenschweren Begegnung, die sich im Februar 1525 auf einem Feld außerhalb Ulms zugetragen haben soll:3 Eine große Zahl unzufriedener Bauern habe sich dort versammelt, um gemeinsam gegenüber ihren Herren auf ihre drückenden Lebensverhältnisse aufmerksam zu machen. Ihr Anführer, der Schmied Huldrich Schmid aus dem nahe gelegenen Dorf Sulmingen,4 habe am 16. Februar die bäuerlichen Beschwerden den herbeigerittenen Gesandten des Schwäbischen Bundes vorgetragen, mit folgenden Worten: „Ist aber dieser gegenwürtigen versamlung kain ander manung, clag und anbringen, dann sy der unmaßen von üch, iren herren, beschwert sin gaistlich und liblicher wis, das inen nit mer müglich, sollichen last witer zue tragen: gaistlich, das sy Gottes wort 1 Die folgenden Überlegungen wurden in einer ersten Fassung erstmals am 27. 6. 2012 präsentiert anlässlich eines Abendvortrags auf Einladung der IMPRS für vergleichende Rechtsgeschichte und des LOEWE-Schwerpunkts „Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung“ in Frankfurt am Main. Sie fassen gleichzeitig einige wichtige Thesen der Habilitationsschrift des Verf. zusammen, die unter dem Titel „Gemeiner Mann und Gemeines Recht“ 2017 im Verlag Klostermann erscheinen soll. Ermöglicht wurden die Forschungen zu diesem Beitrag durch eine Fellowship des LOEWE-Schwerpunkts, für deren Gewährung ich herzlich danke; ein Vorabdruck dieses Beitrags erschien unter dem Titel „Streitschlichtung auf dem Lande – Untersuchungen zur südwestdeutschen Schiedsordnung zwischen Spätmittelalter und Bauernkrieg“, in: Max Planck Institute for European Legal History Research Paper Series No. 2016–12, https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2866977 [14. November 2016]. 2 Zur Person Johannes Kesslers und den Hintergründen der Sabbata, einer in den Feiertagsstunden aufgezeichneten Chronik vgl. Egli, Johannes Kessler, VII–XXIV; Wissmann, Reformationschronik. 3 Kesslers Chronik ist in zwei Editionen greifbar. Dabei wird im Folgenden nicht auf die ältere Ausgabe von Goetzinger, Sabbata, sondern durchgehend auf Egli / Schoch, Sabbata zurückgegriffen. 4 Zum Bauernführer Huldrich Schmid, dessen Lebensdaten unbekannt sind, vgl. zuletzt: Kissling, Huldrich Schmid, 255–269.

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muessend berobt sin, dardurch seelseligkait die höchsten gefar erliden mueß; liblich sije die schatzung und beschwernus so grim und streng, das weder baid ir grund und moden mögen ertragen.“5

Nach Vertagung der Verhandlungen, so berichtet Kessler weiter, seien die Gesandten des Bundes wieder nach Ulm geritten, um sich zu beratschlagen. Als die Emissäre am 27. Februar wieder in das bäuerliche Lager zurückgekehrt seien, sei die Zahl der Bauern bereits auf bedrohliche 30.000 angewachsen. Nachdem Schmid ihm versichert habe, dass die Anwesenden nur zur Selbstverteidigung bewaffnet seien und keine feindlichen Absichten hegten, habe der Gesandte des Schwäbischen Bundes gegenüber Schmid und einem inzwischen gewählten Bauernausschuß als Antwort auf die bäuerlichen Beschwerden erklärt, er könne ihnen keine andere Nachricht überbringen, als dass die Herren bereit seien, sich den Bauern im Wege des Rechts zu stellen. Huldrich Schmid habe dieses Angebot jedoch harsch zurückgewiesen: „Liebe herren, das mueß Gott erbarmen, das ir den armen lüten, so ietzund umb gnad werbend, erst das recht fürschlachend!“6

Wären die Bauern in der Lage, sich mit ihren Obrigkeiten rechtlich zu verständigen, so bedürfte es der gegenwärtigen Verhandlungen nicht. Nachdem aber die Herren dennoch auf ihrem Standpunkt beharrt hätten, so Kessler weiter, habe Schmid gefragt, welches Recht sie denn vorzuschlagen hätten: „Antwurtend sy : das camergricht. Und daruf bald gefragt: welches recht er begere? Antwurt Huldrich: das gottlich recht, das iedem stand ußspricht, was im gebürt, ze thuen oder ze lassen. Sprachend die herren mit spottlichen worten: Lieber Huldrich, du fragest nach gottlichem recht. Sag an, wer wirt sollich recht ußsprechen? Gott wirt ja langsam von himel komen herab und uns ainen rechtstag anstellen. Antwurt Huldrich: Lieben herren, es ist mir schwer nach miner ainfaltigkait, in il richter oder ußsprecher zue anzeigen; aber das will ich thuen: dry wuchen ongefarlich will ich zil nehmen, in welchen ich alle priester aller kilchhörinen vermanen will, gemain bett zue Gott halten, das er uns gelerte, frome männer, die disen span nach lut gottlicher gschrift wissen urthailen und ze entschaiden, anzaigen und verordnen welle. Das gab die herrschaft willig zue mit embietung, glicher maßen in gemainen bett und erkiesung gelerter männer flißig zue bedenken…“7

Ob sich die Anekdote aus der Frühgeschichte des Bauernkriegs von 1525 wirklich so zugetragen hat, ist heute eher zweifelhaft.8 Sie steht aber sinnbildlich 5 6 7 8

Egli / Schoch, Sabbata, 174. Egli / Schoch, Sabbata, 175. Egli / Schoch, Sabbata, 175. Kritisch bereits Lehnert, Studien, 15, Anm. 31, Neuerdings hat Kissling, Huldrich Schmid, plausibel herausgearbeitet, in welch starkem Maße die Erzählung der narrativen Zielsetzung des Autors folgt und somit als literarische Konstruktion zu betrachten ist: ebd., 261.

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für eine Wahrnehmung des Konflikts, die sich von der zeitgenössischen Beobachtung Kesslers bis zur modernen Bauernkriegsforschung durchzieht: Auf der einen Seite die zynischen Herren als Vertreter einer Moderne, die sich auf rational organisierte Entscheidungssysteme stützten, auf der anderen Seite die Bauern, die die ökonomischen, politischen und rechtlichen Realitäten verkannten und in einer naiven Schriftgläubigkeit die Chancen für eine Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Stellung sahen.9 Diese Hoffnung scheiterte, als sich die führenden Reformatoren für den status quo entschieden und die Herren ihre Position mit brutaler Gewalt durchsetzten. Das Thema dieses Bandes lautet „Religion und Gewalt“ und die soeben vorgeführte Deutung der Ereignisse 1525 trifft dieses Thema ganz offensichtlich gut. Die Theologie schien kein Antidot gegen das Gift der Gewalt parat gehabt zu haben und die Vertreter der Religion, auf der einen Seite die Reformatoren und auf der anderen das altgläubige Establishment als Teil der Herrschaftsordnung, standen offensichtlich der Eruption der Gewalt im Jahr 1525 im schlimmsten Fall zustimmend, im besten Fall hilflos gegenüber. Diese Perspektive soll aber auf den folgenden Seiten nicht weiterverfolgt werden. Vielmehr ist eine alternative Interpretation anzubieten, auf die Gefahr hin, dass damit das Generalthema nicht mehr direkt, sondern eher reflexiv in den Blick kommt. Ziel ist es, einen weiteren Aspekt aus einer Nebenrolle ins Zentrum zu befördern, nämlich die Rolle des Rechts und der friedlichen Streitbeilegung im Kontext des Bauernkrieges. Damit wird gleichzeitig die immer noch verbreitete These von der Bedeutung der Religion und des göttlichen Rechts für diesen Konflikt ein wenig zu relativieren sein. Dies geschieht nicht nur deshalb, weil ich mich damit auf vertrautem Gelände, nämlich dem der Rechtsgeschichte bewege, sondern vor allem auch, weil es bisher noch kaum jemand versucht hat. Doch Gewalt und Religion bleiben damit trotzdem im Blick: Gewalt erscheint nun im besten Fall als rechtlich und damit friedlich gebändigte Selbsthilfe, im schlimmsten Fall als das Gegenteil von Recht, als Willkür und Unfrieden. Und auch die christliche Religion bleibt im Blick: In die Form des kanonischen Rechts gegossen, bilden fundamentale Werte des Christentums einen Pfeiler des ius commune, des gemeineuropäischen Rechts.10 Und als Parteien, Schiedsrichter und Richter übten Geistliche auch in ihrer Person Einfluß auf die Chancen und Risiken einer rechtlichen Beilegung der agrarischen Konflikte an der Wende zu Neuzeit aus. Auf beide Aspekte wird zurückzukommen sein. 9 So Willoweit, Verfassungsgeschichte, 122f.: Die Bauernbewegung sei als „ein tragischer Versuch zu bewerten, dem harten Zugriff des zweckrational operierenden Obrigkeitsstaates zu entgehen“. 10 Zum Ius Commune zusammenfassend: Bellomo, L’Europa.

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Der Münsteraner Mediävist Gerd Althoff hat vor einigen Jahren unter dem Titel „Recht nach Ansehen der Person“ einige provozierende Thesen vertreten.11 In der mittelalterlichen Ordnung, so Althoff, habe „viel, wenn nicht alles“ vom Rang der Personen abgehangen.12 Selbst dort, wo die Formen des Rechts gewählt wurden, sei die juristische Form der Streitbeilegung bestenfalls eine äußere Hülle gewesen, die ihren durch die Ständeordnung vorgegebenen Kern nur sehr unzureichend verbergen konnte.13 Weit bedeutender seien nicht rechtliche, sondern gütliche Formen der Konfliktlösung gewesen, die es ermöglicht hätten, bereits durch die Besetzung der Schiedsinstanzen mit genehmen Personen deren Entscheidungen auf ständische Ansprüche und ständisches Rangbewußtsein auszurichten.14 Dieser Primat der Person gegenüber dem Verfahren, man kann erweiternd auch sagen, der Primat der Politik gegenüber dem Recht, ist kennzeichnend für eine gerade unter Historikern weit verbreitete Grundauffassung nicht nur zur mittelalterlichen Geschichte – eine Auffassung, die dem Recht kaum eine eigenständige gesellschaftliche Funktion zuerkennt.15 Dieser herrschenden Auffassung sollen hier zwei Antithesen entgegengehalten werden, nämlich (1.) die Behauptung, dass auch die nicht gerichtliche Streitbeilegung in ganz überwiegendem Umfang in rechtlich definierten Bahnen verlief, und (2.) die These, dass diese rechtlich formulierten und zunehmend durch juristische Experten begleiteten Entscheidungsmechanismen bereits lange vor dem Bauernkrieg ein wichtiges, wenn nicht vielleicht das wichtigste Instrumentarium einer gesellschaftlichen Inklusion der unterbürgerlichen Schichten waren.16 In einer Welt, in der gerichtliche Hilfe oft nur unter Schwierigkeiten zu erhalten und der moderne Staat noch in weiter Ferne war, spielten außergerichtliche und damit privat organisierte Formen der Streitbeilegung nicht nur für den Adel, sondern auch auf dem Land eine wichtige, vielleicht sogar entscheidende Rolle. Dieses im Mittelalter geprägte, nicht staatliche aber damit nichtsdestoweniger rechtliche Streitschlichtungsmodell geriet dann allerdings im Kontext der Auseinandersetzungen von 1525 in eine schwere Krise; diese führte in der Folgezeit zu einer wachsenden Bedeutung regulärer Gerichte für die Bewältigung von Untertanenkonflikten. Die wesentlichen Grundprinzipien des spätmittelalterli-

11 12 13 14 15

Althoff, Recht, 79–92. Althoff, Recht, 80f. Althoff, Recht, 82. Althoff, Recht, 83. Es ist zu betonen, dass Althoff inzwischen den rechtlichen Bereich deutlich stärker in seine Überlegungen einbezieht. Auch beziehen sich seine Thesen vor allem auf die adeligen Führungsschichten und weniger auf die ländliche Bevölkerung, ders., Recht, 81. 16 Zum Begriff der Inklusion vgl. Luhmann, Inklusion, 226–251.

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chen Schiedsverfahrens wurden aber auch im Anschluss an den Bauernkrieg in modifizierter Form weiter beachtet. Es soll im Folgenden also darum gehen, nach den Möglichkeiten und Grenzen rechtlich geleiteter Formen außergerichtlicher Streitbeilegung zu fragen. Genauer gesagt richtet sich die Fragestellung auf die Existenz und Stabilität von Mechanismen rechtsförmiger Streitbeilegung im ländlichen Südwesten an der Wende des Mittelalters zur Neuzeit. Obwohl Schiedsurkunden bereits für die Zeit vor 1600 „in beängstigender Fülle“ vorliegen,17 lag das schiedsrichterliche Verfahren lange Zeit eher im Schatten des rechtshistorischen Interesses.18 Wo sich die Literatur damit beschäftigte, konzentrierte sie sich häufig auf adlige Streitigkeiten und die Beilegung von Fehden.19 Wissenschaftliche Kontroversen entstanden vor allem über die Frage, ob das südwestdeutsche Schiedsverfahren stärker kirchenrechtlich oder deutschrechtlich geprägt war und spiegelten damit den inzwischen weitgehend obsoleten rechtshistorischen Schulenstreit zwischen Romanisten bzw. Kanonisten einerseits und Germanisten andererseits.20 Der bäuerliche Bereich blieb dagegen weitgehend unbeachtet.21 Erst vor Kurzem ist die außergerichtliche Streitbeilegung als Untersuchungsgegenstand neu entdeckt worden. Von 2012 bis 2015 war sie Gegenstand des in Frankfurt am Main angesiedelten Hessischen Exzellenzschwerpunkts (LOEWE-Schwerpunkt) „Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung“.22 Aus der dort erfolgten Forschung ist unter anderem ein wichtiger, von Albrecht Cordes herausgegebener Sammelband hervorgegangen, der sich aus historischer Perspektive der Frage der Schiedsentscheidung nähert.23 Auch die folgenden Überlegungen haben ihren Ausgangspunkt in diesem LOEWE-Schwerpunkt genommen. Ziel ist es, die seit dem Ende des 12. Jahrhunderts einsetzenden, dann seit dem 13. Jahrhundert in stark wachsender Zahl überlieferten Schiedsurkunden spezifisch nach Untertanenkonflikten zu durchsuchen und 17 Janssen, Bemerkungen, 78. 18 Vgl. Sellert, Schiedsgericht; Coing, Entwicklung, 35–46; Kornblum, Verfahren 289–312; Kobler, Schiedsgerichtswesen; Bader, Arbiter, 239–276; Rennefahrt, Herkunft, 1–55; Caspers, Güte- und Schiedsgedanke; Bader, Entstehung; Krause, Entwicklung; Usteri, Schiedsgericht; Bornhak, Schiedsvertrag, 1–46. 19 Begert, Kurkolleg, 399–434; Kampmann, Arbiter ; Schubring, Adelsbund, 7–30; Sydow, Vertrag; Schutting, Schiedsgerichtsbarkeit; Waser, Quellen; ders., Schiedsgericht; Frey, Schiedsgericht. 20 Eine Darstellung der Kontroverse findet sich bei: Trusen, Anfänge, 148–150. 21 Vgl. allerdings den für die hier gestellte Fragestellung wenig ergiebigen Beitrag: Aubin, Entwicklung, 191–218. 22 Vgl. den Webauftritt unter http://www.konfliktloesung.eu/ [besucht am 20. 7. 2016]. 23 Cordes, Freundschaft. Im hier interessierenden Zusammenhang sind dabei folgende Beiträge wichtig: Cordes, Quellentermini, 9–18; Carl, Ausloten, 119–132; Westphal, Austräge, 159–174.

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nach der Bedeutung dieser Streitentscheidungsform für Rechtsstreitigkeiten auf dem Lande zu fragen. Dieses Projekt ist noch nicht abgeschlossen, weswegen hier nur ein erster thesenhafter Zugriff auf der Basis edierter Schiedsurkunden erfolgt.24 Präzisere Differenzierungen auf der Grundlage einer systematischeren Auswertung müssen einer in Arbeit befindlichen umfangreicheren Darstellung vorbehalten bleiben. Zunächst (unter II.) wird herauszuarbeiten sein, warum hinter den vielgestaltigen Formen spätmittelalterlicher Streitbeilegung eine Art „allgemeine Schiedsordnung“ zu sehen ist, die alles andere als spontan oder willkürlich, sondern im Kern juristisch-formal definiert ist. In einem zweiten Schritt (unter III.) soll begründet werden, in welcher Weise diese Schiedsordnung spätestens an der Wende zum 16. Jahrhundert in eine tiefe Krise geriet, die letztlich stark dazu beitrug, dass nicht nur die Herrenseite, sondern auch die Bauern in der Folgezeit zunehmend auf Mechanismen gerichtlicher Streitentscheidung setzten.

II.

Aspekte einer „allgemeinen Schiedsordnung“ an der Wende zur Neuzeit

1.

Varianten

Bei der Durchsicht der zahlreichen Schiedsurkunden, die aus dem ländlichen Süden und Südwesten seit dem Spätmittelalter überliefert sind, lassen sich einige typische Muster erkennen, deren Summe sich als eine Art „allgemeine Schiedsordnung“ rekonstruieren lässt. Auf den ersten Blick ist dieses Material allerdings sehr heterogen. Sowohl die Streitgegenstände, als auch die Parteien, die Richter und ihre Zahl, sowie der Ablauf des Verfahrens und dessen Ziele variieren stark.

a)

Parteien

Blickt man zuerst auf die beteiligten Parteien, so finden sich gerade in der Anfangszeit – sieht man von den allerdings zahlreichen Schiedsentscheiden in zivilrechtlichen Streitigkeiten ab25 – vor allem Streitigkeiten der Obrigkeiten untereinander. Klöster, Adelige und Städte einigten sich insbesondere über kauf24 Sammlungen von Schiedsurkunden finden sich an sehr verstreuten Orten, so dass eine vollständige Übersicht an dieser Stelle nicht möglich ist. Die folgenden Überlegungen basieren auf einer Auswahl. 25 Hierzu Kornblum, Verfahren, 296.

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oder lehensrechtliche Kontroversen. Während hier die Landbevölkerung allenfalls als Rechtsobjekt in den Blick kommt, als verkaufte oder getauschte Leibeigene oder als Aktivvermögen eines Hofes, treten im weiteren Verlauf Bauern und vor allem ihre Gemeinden (in ihrer juristischen Verfasstheit als universitates26) zunehmend auch als Rechtssubjekte in Erscheinung.

b)

Streitgegenstände

Bereits im 13. Jahrhundert verglichen sich Bauern und ihre Herren vor diversen Schiedsrichtern über typisch agrarische Streitfragen, wie sie später auch in den berühmten 12 Artikeln der oberdeutschen Bauern von 1525 aufgeführt wurden27, also Zehntpflicht, Allmende, Jagd-, Fischerei- und Holzungsrechte, die Leibeigenschaft und ihre Folgen, sowie Gülten und andere Abgaben aus der Grund-, Leib- und Gerichtsherrschaft.28 Auffällig ist, dass man auch dann noch an den herkömmlichen Formen der Streitbeilegung festhielt, als die Konflikte im ausgehenden 15. Jahrhundert immer stärker überregional wurden und damit tendenziell politische Züge annahmen.29 In diesen Fällen ging es dann weniger um einzelne Rechte, als um Probleme, die Hermann Aubin mit dem Begriff der Landfriedewahrung umschrieb.30

c)

Schiedsrichter

Wollte man nicht die Richter eines regulären Gerichts als Schiedsrichter anrufen,31 traten die oben genannten Personengruppen, nämlich adelige, klösterliche oder städtische Obrigkeiten einerseits aber auch Bauern und bäuerliche Gemeinden andererseits als Richter hervor, wobei Bauern als Richter oder Schiedsrichter vorwiegend in eigenen Angelegenheiten richteten. Während in Flächenstaaten wie Bayern häufig der Territorialherr als Richter oder Vermittler zwischen intermediären Gewalten und der bäuerlichen Bevölkerung in Erscheinung trat,32 übernahmen in den territorial zersplitterten Gebieten des Allgäus, des Hegaus und des Schwarzwalds, die sich durch einen nur unvollkommen verwirklichten Herrschaftsanspruch Österreichs auszeichneten, meist 26 Vgl. König, Autonomie, 89–103. 27 Eine wissenschaftlich zuverlässige Edition findet sich bei: Götze, Artikel, 1–33 im Faksimile erneut wiedergegeben bei Blickle, Revolution, 321–327. 28 Näher : Mayenburg, Beschwerden. 29 So etwa beim Versuch, in der Frühphase des Bauernkrieges im Oktober 1524 durch einen „guotlichen spruch“ zu einer Lösung des Konflikts zu gelangen: Roder, Chronik, 101. 30 Aubin, Entwicklung, 195, 215. 31 Kornblum, Verfahren, 299f. 32 Ausführlich: Schlosser, Zivilprozeß, 81–82.

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Honoratioren aus dem Klerus, dem Adel oder dem Stadtbürgertum die Vermittlungstätigkeit.33 Im Hochmittelalter waren vor allem gelehrte Kleriker gesuchte Schiedsrichter, später wuchs dann die Bedeutung städtischer Vermittler, die auch im Kontext des Bauernkrieges von besonderer Wichtigkeit waren.34 Dennoch finden sich auch an der Wende zur Neuzeit noch gelehrte Vermittler. So wurde ein Zehntstreit zwischen dem Abt der Reichsabtei Salem und den Bauern von Beuren 1483 durch zwei Schiedsrichter geschlichtet,35 nämlich Wilhelm Achtwig, Altbürgermeister von Überlingen und Dr. Konrad Gäb, einem gelehrten Juristen und Kirchherrn von Sulgen.36 Letzterer war offenbar ein erfahrener Vermittler, denn bereits 1471 hatte er als Subdelegierter des Bischofs von Augsburg, der als kaiserlicher Kommissar eingesetzt war, einen Streit zwischen Herzog Siegmund von Österreich und einigen aufständischen Gemeinden im Engadin geschlichtet.37 Im Jahr 1479 wurde Dr. Gäb dann als Schiedsrichter in einem Streit über „Trieb und Tratt“ zwischen den Dörfern Welldorf und Altenbeuren angerufen, erklärte einen älteren Schiedsspruch aufgrund der aufgetretenen Auslegungsdifferenzen für ungültig und legte die Gemeindegrenzen neu fest.38 Das Beispiel zeigt, dass die Bauern an der Wende zur Neuzeit keineswegs eine allgemeine Abneigung gegen gelehrte Juristen hatten, sondern sich durchaus freiwillig vertrauenswürdige Rechtskundige suchten, wenn sie von ihnen eine Lösung ihrer Probleme erwarten konnten. Bemerkenswert ist, dass sich keine Quellen finden, die auf eine vertragliche Verpflichtung der Schiedsrichter hindeuten, das Schiedsamt zu übernehmen. Förmliche „Schiedsrichterverträge“ sind nicht überliefert.39 Der Freiburger 33 Z. B. vermittelte 1494 Jörg Graf von Werdenberg im Streit um Trieb und Tratt zwischen der Stadt Sigmaringen und der Gemeinde Jungnau „auf deren Ansuchen als deren Herr“: Schiedsentscheid Stadt Villingen ./. Jungnau, 30. 5. 1494, in: Fürstenbergisches Urkundenbuch 7, Nr. 169, 312. 34 Beim oben (Anm. 29) erwähnten Vermittlungsversuch im Hegau 1524 traten als Vermittler auf: Vier Honoratioren aus Überlingen, zwei aus Villingen, zwei aus Rheinfelden, einer aus [Bad] Säckingen, einer aus Laufenburg, sowie zwei aus dem österreichisch beherrschten Schwarzwald. Vgl. Roder, Chronik, 101. 35 Vergleich Reichsabtei Salem ./. Die Bauernschaft zu Beuren, 29. 7. 1483, in: Fürstenbergisches Urkundenbuch 7, Nr. 100, 188. 36 Über Gäb ist nicht viel bekannt. Vgl. Roth von Schreckenstein, Kronen, 166f. 37 Schiedsspruch im Streit Siegmund von Österreich ./. Verschiedene Kommunen im Engadin, 16. 3. 1471, in: o. V., Verfassungen, 197–202. Ein weiterer Auftrag führte Gäb im Auftrag des Bischofs von Konstanz nach Pfullendorf, wo er 1484 half einen Streit zwischen Graf Georg von Werdenberg und Freiherr Johann Werner von Zimmern beizulegen: Vochezer, Waldburg, 886. Im Jahr 1480 vermittelte Gäb zwischen dem Abt des Klosters Königsbronn und dem Priester Michael Setzing, Leutpriester zu Pfullendorf in einem Streit über Novalzehnten: Roth von Schreckenstein, Kronen, 166. 38 Schiedsentscheid Ammann, Maier und Insassen zu Welldorf ./. dieselben von Altenbeuren, 19. 4. 1479, in: Fürstenbergisches Urkundenbuch 7, Nr. 69, 126f. 39 Kornblum, Verfahren, 303.

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Rechtslehrer Ulrich Zasius (1461–1535) betonte, dass niemand zur Übernahme eines Schiedsamts verpflichtet sei, da diese Übernahme der freien Entscheidung unterliege.40 Hier schien eine aus Rechtsgewohnheiten gespeiste, letztlich nur moralische Verpflichtung genügt zu haben, die sich aus der Ehre ergab, mit einem Schiedsamt betraut worden zu sein. Selbst das Reichskammergericht sah offenbar nichts Anstößiges darin, dass es im Vorfeld des Bauernkrieges zunächst als Schiedsrichter im Konflikt der Stühlinger und Fürstenberger mit ihren Herren angerufen wurde und ließ sich sogar auf die im Anlass in Form einer Zweimonatsfrist niedergelegte Verpflichtung zur Beschleunigung des Verfahrens ein.41 Auch hinsichtlich der Zahl der Schiedsrichter finden sich starke Variationen. Dabei sind die Schiedsgerichte nicht prinzipiell in ungerader Zahl besetzt, was im Sinne einer Mehrheitsentscheidung zu erwarten wäre und auch in der gemeinrechtlichen Literatur empfohlen wird.42 Vielmehr dominierte im deutschen Südwesten das mit vier Schiedsrichtern besetzte Gremium, das bei Stimmengleichheit durch die Zuwahl eines fünften Mannes entscheiden konnte.43 Die Auswahl dieses „Züngleins an der Waage“ erfolgte entweder durch die Parteien, durch die bereits vorhandenen Schiedsrichter oder durch Dritte (Amtsträger oder Landesherr44). Gelegentlich werden zwei Vermittler genannt, wie in dem Streit zwischen der Abtei Buchau und den Bauern von Jugendorf und Dietelhofen, der 1395 in Konstanz durch Franciscus Murer, Kirchherrn und Offizial zu Konstanz und Rudolf von Friedingen dem Älteren, Vogt zu Jugendorf und Dietelhofen, als „erkorne“ Schiedsrichter geklärt wurde.45 Für den politisch hochbrisanten Konflikt im Hegau im Oktober 1524 wurden 12 Schiedsrichter bestimmt.46 40 Ulrich Zasius, Kommentar zu D.4.8. (De receptis: qui arbitrium receperint ut sententiam dicant), n.4, in: Zasius, Opera. Tomus Primus, 120: „Cogi autem nemo potest ut sit arbiter, cum arbitria assumere sit liberæ uoluntatis“. 41 „Verrer ist in disem anlaß entlich abgeredt vnd bewilligt, das solh handlung in zwayen monaten vor dem kayserlichen camergericht nach date dis briefs gütlich oder rechtlich vsgetragen vnd vollendet werden sol, es were den, das solhs mit verwilligung des camerrichters vnd vnserer beider partyen sich lenger Verzug, das sol vns zu beiden teiln, ouch diesem anlaß vnuergriffen vnd vnnachtailig sein“: Anlass zwischen den Grafen von Fürstenberg und Lupfen und den Herrn von Schellenberg einer- und deren Untertanen anderseits, 10. 2. 1525, abgedruckt in: Baumann, Akten, 104. 42 Zasius, Kommentar zu D.4.8 n.4, in Zasiius, Opera. Tomus Primus, 121: „Possunt autem arbitri eligi, aut unus aut plures, tamen impar sit numerus, ut maiori parti stari possit“. 43 Nachweise bei Kornblum, Verfahren, 300f. Diese Zuwahl war bereits nach römischem Recht zulässig, vgl. Ulp. D.4.8.17.5. 44 Kornblum, Verfahren, 302. 45 Schiedsentscheid Abtei Buchau ./. Gemeine Bauernschaft von Jugendorf und Dietelhofen, 13. 9. 1395, in: Fürstenbergishes Urkundenbuch 6, Nr. 114, 190f (unter 3.). 46 Roder, Chronik, 101.

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Manchmal findet sich auch eine von vornherein ungerade Zahl von Entscheidern. Im Bereich des oberen Neckar und im Schwarzwald war die Entscheidung durch einen Vorsitzenden (der „Gemeine“) und vier Beisitzer („Zusätze“), jeweils zwei für jede Partei verbreitet.47 So wurde 1492 ein Streit zwischen den Gemeinden Niederwangen und Oberwangen aufgrund einer Anordnung der Vögte von Stühlingen und des Allerheiligenklosters von Schaffhausen durch ein Schiedsrichtergremium geschlichtet. Die Leute aus Niederwangen benannten Hans Wißer, Bürger von Stühlingen und Jakob Widmar aus Schwenningen, die Einwohner von Oberwangen Vogt Ruedi Mayer und Hans Hartmann den Älteren, beide aus Grauenhausen als ihre Schiedsrichter. Als Vorsitzenden wählten beide Parteien Hans Hartmann Wolf von Tillendorf.48 Jedoch konnten die Umstände auch eine andere Zahl von Schiedsrichtern ergeben: So wurde 1360 ein Streit zwischen der Abtei Habach und deren Eigenmann Heinrich durch ein Schiedsgericht beigelegt, dem der Probst des benachbarten Klosters Polling vorstand, unterstützt von einem Adeligen, sowie drei Bürgern der Stadt Weilheim.49 Außerdem, so heißt es in der Urkunde, „andere ehrbare Leute waren genug dabei“.50 Hier schien nicht die Arithmetik, sondern eine möglichst hohe Zahl von Schiedsrichtern bestimmend gewesen zu sein.

d)

Verfahren

Ähnlich heterogen wie die Besetzung des Schiedsgerichts war das Verfahren der Streitbeilegung. Dabei ist zunächst grundsätzlich zwischen einer Schlichtung, in deren Verlauf der eingeschaltete Dritte lediglich einen Lösungsvorschlag unterbreitet, dem sich die Parteien unterwerfen können, aber nicht müssen, und einem Schiedsverfahren zu unterscheiden, bei dem zwar die Wahl der Entscheider auf die Willkür der Parteien zurückzuführen ist, dessen Entscheidung aber für beide Seiten bindend ist. Beim Blick in die Quellen ist häufig nicht leicht zu erkennen, welche dieser Alternativen gegeben ist.51 Hinzu kommt, dass Ausgangspunkt eines Schiedsverfahrens auch die förmliche Klage einer Partei oder ein königlicher Befehl an einen kommissarisch eingesetzten Richter sein 47 Jänichen, Rechtszug, 217. 48 Schiedsentscheid Niederwangen ./. Oberwangen, 22. 9. 1492, in: Fürstenbergisches Urkundenbuch 7, Nr. 162, 280f. 49 Schiedsurkunde Abtei Habach ./. Eigenmann Heinrich aus Partenkirchen, a. 1360, in: Monumenta Boica 10, n. 87, 132. 50 Schiedsurkunde Abtei Habach ./. Eigenmann Heinrich aus Partenkirchen, a. 1360, in: Monumenta Boica 10, n. 87, 132: „ander erwerger Laeut waren genug dopey“. 51 Versuche einer Abgrenzung nach Wortlaut und weiteren Merkmalen unternimmt Kornblum, Verfahren, 292–296.

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konnte. Weit häufiger aber haben sich die Parteien selbst bereits zuvor vertraglich auf eine oder mehrere Personen geeinigt, die als Schiedsrichter (Tädingsherren) angerufen werden sollten.52 Der entsprechende Vertrag hieß in römisch-kanonischer Rechtstradition compromissum und wurde in Südwestdeutschland meist „Anlass“53, aber auch „willkore“54 genannt.55 Manchmal hatten die im Anlass genannten Schiedsrichter bereits das compromissum selbst mit ausgehandelt. Häufiger aber übernahmen nach Abschluss des Anlasses andere Personen die Schiedsrichterrolle. Diese gewillkürten Richter konnten durchaus auch solche Personen sein, die ohnehin als ordentliche Richter in geistlichen oder weltlichen Sachen fungierten.56 Der Ablauf des Verfahrens hing ganz wesentlich davon ab, welche Zielsetzung die Parteien verfolgten. Die Quellen scheinen hier zwei klar abzugrenzende Formen zu unterscheiden, nämlich eine Entscheidung nach dem Recht und eine solche, die im zeitgenössischen Sprachgebrauch nach der Minne, nach der Gütlichkeit, nach der Gnade erging.57 Karl Siegfried Bader vermeinte hier auch verfahrensrechtlich „zwei scharf voneinander zu scheidende Teile“ zu erkennen.58 Diese Auffassung ist bereits früher als anachronistisch kritisiert worden.59 Dem ist zuzustimmen: Paarformeln wie „Recht und Minne“ oder „Gnade und Recht“ (lateinisch meist: consilio vel iudicio60) zeugen bereits von der engen Verbindung dieser vermeintlichen Gegensätze.61 Mit Blick auf die Praxis scheinen diese Paarformeln damit weniger einen klar konturierten Gegensatz, als das Spektrum möglicher Verfahrensziele und -abläufe zu bezeichnen. Ziel konnte zunächst die Befriedigung klar definierter Ansprüche und Forderungen sein, die sich in Form einer actio mit den Mitteln eines stark formalisierten Rechtsverfahrens erreichen ließ. Gerade dort aber, wo sich Körperschaften gegenüberstanden, die einerseits teilweise sehr heterogene Interessen bündeln mussten und andererseits stets auch gewaltsame Optionen in der Hinterhand hatten, ging es vielfach schlicht darum, den Frieden zu sichern und zu einem freundschaftlichen Zusammenleben zurück zu finden. Ziel des Verfahrens war dabei 52 Ältere Urkunden nennen sie auch „ratlude“, „sunelute“, „ratmannen“ oder „rachtungslude“, spätere dann „zusätze“, „schidliche“, „schiedleute“, „Spruchleute“, „schiedliche Leute“, „Beisitzer“: Kornblum, Verfahren, 295, 299. 53 Kornblum, Verfahren, 294 findet den Begriff in den Akten des Ingelheimer Oberhofs aber nur vereinzelt, in denen aus Neustadt häufiger. 54 Kornblum, Verfahren, 292. 55 Zu den dogmengeschichtlichen Hintergründen vgl. Coing, Privatrecht, 487–491. Näher : ders., Entwicklung. 56 Kornblum, Verfahren, 297. 57 Hattenhauer, Minne, 325–344; Schäfer, Consilio, 719–733; Homeyer, Formel, 29–55. 58 Bader, Entstehung, 40; ähnlich: Hattenhauer, Minne, 342f. 59 Kornblum, Verfahren, 291f. m. w. N.; ähnlich: Hattenhauer, Minne, 327. 60 Hattenhauer, Minne, 331; ausführlich: Schäfer, consilio. 61 Über Paarformeln im Recht: Dilcher, Paarformeln.

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weniger die Befriedigung der einzelnen Forderungen in formalisierter Weise, als ein allein auf das Friedensziel ausgerichteter Interessensausgleich.62 Ein geschickter Schiedsrichter wusste, dass beide Ziele nicht wirklich zu trennen waren, dass eine Befriedung der Bevölkerung nur gelingen konnte, wenn auch ihre Forderungen jedenfalls teilweise erfüllt wurden. Wilhelm Janssen hat in diesem Zusammenhang aber zu Recht darauf hingewiesen, dass dieses Friedensziel nicht notwendig im Sinne allgemeiner Harmonie interpretiert werden darf, sondern durchaus interessengeleitet war und „durch Machterweiterung bzw. Machtdemonstration“ motiviert sein konnte.63 Je nachdem, wo konkret der Schwerpunkt lag, unterschieden sich dann auch die Verfahrensabläufe.64 In den meisten Anlässen war davon die Rede, dass die Entscheidung zunächst nach der Minne und dann nach dem Recht erfolgen solle.65 Es findet sich allerdings auch die umgekehrte Variante, dass der Richter zuerst rechtlich durchentscheiden und sich dann fragen sollte, ob das Ergebnis mit Hilfe der Gnade zu korrigieren sei.66 Es liegt also nahe, den Begriff der „Minne“ dem Schiedsverfahren zuzuordnen, während das „Recht“ das reguläre gerichtliche Verfahren betrifft.67 Allerdings kann „Recht“ auch auf die Förmlichkeit des Verfahrens verweisen, während „Minne“ die Lösung vom rigor iuris unter Verweis auf Gnade und Billigkeit bedeuten kann.68 Die Quellen sind hier nicht eindeutig, und zwar nicht nur auf der Ebene der Urkunden, sondern auch auf der des gelehrten Rechts. Ort des Schiedsentscheids konnte auch ein reguläres Verfahren sein.69 Auch wenn Hans Schlosser die kirchenrechtlich übliche Praxis, jedem Verfahren zwingend einen gütlichen Einigungsversuch vorangehen zu lassen, für das

62 Wilhelm Janssen hat bereits für frühe Schiedsurkunden im niederrheinischen Raum auf die häufige Verwendung des Begriffs „pax“ als Verhandlungsziel hingewiesen: ders., Bemerkungen, 81. 63 Janssen, Bemerkungen, 82. 64 Kornblum, Verfahren, 304–309 konstatiert nur wenige konkrete Hinweise der von ihm untersuchten Quellen aus Ingelheim und Neustadt zum Verfahren. 65 Dies geschah im Hegau 1524. Im Bericht des Chronisten Heinrich Hug heißt es über die gewählten 12 Schiedsrichter : „Die solltend ain guotlichen spruch thuon, und wo das nit mochte sin, so sollten sy ain rechtlichen spruch thuon…“: Roder, Chronik, 101. 66 Deutschritterorden ./. Verwandte des Hospitalstifers zu Neuß, April 1250, in: Lacomblet, Urkundenbuch, 189; näher : Janssen, Bemerkungen, 77. Diese Variante wird bei Hattenhauer, Minne, 336 nicht erwähnt. 67 Bereits 1250 ließ der Kölner Erzbischof in einem Streit den Parteien die Wahl, ihren Streit „in forma iudicii vel in forma pacis“ zu entscheiden, also in der Form eines Urteils oder in Form einer Friedensstiftung. 68 Coing, Entwicklung, 41; so auch Hattenhauer, Minne, 329: „Nach recht erfolgt die Beilegung [des Konflikts] in besonders strikter, nach minne in weniger strenger Form“. 69 Kornblum, Verfahren, 297.

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bayerische Recht des Spätmittelalters nicht belegen kann,70 so findet sich eine entsprechende Regelung, zumindest für Bagatellsachen, in der bayerischen Gesetzgebung des frühen 16. Jahrhunderts.71 Wie auch die ähnliche Vorschrift der heutigen Zivilprozessordnung, sollte diese Regelung ganz offensichtlich vor allem der Entlastung der Gerichte dienen.72 Allerdings gelang mit der Wahl eines Schiedsverfahrens nur selten eine gegenüber dem regulären Prozess vorteilhafte Beschleunigung der Entscheidungsfindung.73 Gescheiterte Schiedsverfahren konnten als gerichtliche Prozesse fortgesetzt werden, sofern die formalen Voraussetzungen (ordnungsgemäße Klageerhebung etc.) gegeben waren.74 Schiedsgerichte konnten sich aber auch, umgekehrt, mit Entscheidungen regulärer Gerichte beschäftigen. Auch wenn sie keine echten Appellationsinstanzen waren, konnten sie bei der Interpretation gerichtlicher Entscheidungen helfen oder diese ergänzen.75 Wie stark sich das Schiedsverfahren nach rechtlichen Förmlichkeiten richten musste oder ob die Schiedsrichter nach einzelfallabhängiger Billigkeit entscheiden konnten, ist in der Literatur umstritten.76 Auch hier ist eher von einem Spektrum der Möglichkeiten als von einem klaren Entweder-Oder auszugehen. Anders als das reguläre Gerichtsverfahren war das Schiedsverfahren aber insgesamt offener für Pragmatismus. Das Konzept der „Gnade“ eröffnete den Weg zum direkten Zugriff auf das Befriedungsziel. Gerade hier fließen auch christliche Wertvorstellungen ein.77 Sie halfen, das vermeintlich gnadenlose Recht abzumildern und ermöglichten es dem Schiedsrichter in jeder Verfahrenssituation von den Pfaden des strengen Rechts abzuweichen und den Streit unter direktem Zugriff auf biblische Prinzipien der Barmherzigkeit beizulegen. Gnade und Rechtsverfahren wirken dabei ebenso als komplementäre Bausteine bei der Schaffung von Gerechtigkeit wie Recht und Theologie. Bei aller Flexibilität ist aber zu betonen, dass auch das Schiedsverfahren sich nicht vollständig von rechtlichen Bindungen lösen konnte, keinen „Kuhhandel“

70 Hinweise sieht allerdings Kornblum, Verfahren 293 mit Anm. 39 in den Akten des Ingelheimer Oberhofs. 71 Schlosser, Zivilprozeß, 221–225. 72 Vgl. § 278 ZPO. Für die Ingelheimer und Neustädter Schiedsurteile bezweifelt diesen Entlastungseffekt Kornblum, Verfahren, 298. 73 Kornblum, Verfahren, 306; anders: Janssen, Bemerkungen, 81. 74 Ein Beispiel findet sich bei Schlosser, Zivilprozeß, 131, Anm. 7, mit Differenzierungen gegenüber Kobler, Schiedsgerichtswesen, 73. 75 Jänichen, Rechtszug, 216f. 76 Kornblum, Verfahren, 308f.; Coing, Entwicklung. 77 So auch Janssen, Bemerkungen, 81; zur Gnade im Kontext der Begnadigung vgl. v. Mayenburg, Begnadigung.

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darstellte, sondern einen durchaus regelgeleiteten Weg zur Entscheidungsfindung.78 e)

Die Entscheidung

Auch die Entscheidung konnte je nach Rolle des Schiedsrichters unterschiedliche Formen annehmen: Manchmal besiegelte der Schiedsrichter nur einen zwischen den Parteien ausgehandelten Kompromiss, meist entschied er aber selbst. Diese Rolle des Schiedsrichters wird zu stark marginalisiert, wenn man, wie Peter Blickle und Andr8 Holenstein, die für die Agrarverfassung fundamentalen Schiedsentscheide als „Verträge“ qualifiziert.79 Mehrköpfige Gerichte konnten auf eine einstimmige Entscheidung festgelegt werden, es dominierte allerdings die Mehrheitsentscheidung. Besonders dort, wo ganze Interessencluster aufeinandertrafen und es mehr um Frieden als um Recht ging, war das Ergebnis der Verhandlungen häufig nichts weiter als ein neuer Anlass, die Einigung auf eine Fortsetzung des Verfahrens vor demselben Richter oder anderen Schiedsinstanzen.80 In dem bereits erwähnten Schiedsentscheid zwischen den Dörfern Niederwangen und Oberwangen setzten die Schiedsrichter fest, dass die Teilung einer streitigen Wiese zwischen den beiden Gemeinden durch eine weitere Kommission erfolgen sollte, in die jede der Parteien je einen oder zwei „erbere Leute“ zu entsenden hatte.81 Teilweise wurde dabei eine sehr ausführliche Verfahrensordnung formuliert, die im Falle neuerlichen Streits für ein effizientes und berechenbares Verfahren sorgen sollte. So bestimmte der Schiedsentscheid zwischen der Abtei Buchau und den Bauern von Jugendorf und Dietelhofen 1395 ein kompliziertes Verfahren für die Ernennung des Maiers. Die Gemeinden sollten für diesen Posten ein Vorschlagsrecht besitzen. Kamen Äbtissin und Bauern über diese Personalie nicht überein, sollten beide Seiten je einen ehrbaren Mann nennen, und diese beiden Honoratioren sollten dann die Entscheidung einvernehmlich fällen. Sollte auch dies zu keinem Ergebnis führen, musste ein dritter Mann bestimmt werden, so dass dann eine Mehrheitsentscheidung möglich wurde.82 Die Häufigkeit solcher mehrfach hintereinandergeschalteten Schiedsverfah78 Ein wenig überpointiert erscheint dieser Aspekt bei Hattenhauer, Minne, 337. 79 Blickle / Holenstein, Agrarverfassungsverträge; vgl. zu diesem Forschungsbegriff die Einleitung von Blickle, ebd., 1–15. Von dem genannten terminologischen Einwand abgesehen handelt es sich hier um eine vorzügliche Quellensammlung einiger wichtiger Schiedsentscheide im Bereich der Agrarverfassung Süd- und Südwestdeutschlands. 80 Vgl. Beitrag Peter Oestmann, berichtet in: v. Mayenburg, Tagungsbericht. 81 Schiedsentscheid Niederwangen ./. Oberwangen, 22. 9. 1492, in: Fürstenbergisches Urkundenbuch 7, Nr. 162, 280. 82 Schiedsentscheid Abtei Buchau ./. Gemeine Bauernschaft von Jugendorf und Dietelhofen, 13. 9. 1395, in: Fürstenbergisches Urkundenbuch 6, Nr. 114, 191 (unter 3.).

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ren bestätigt die These Peter Oestmanns, dass eine wichtige Funktion dieser Verfahrensart darin liegen konnte, den Konflikt nicht zu entscheiden, sondern lediglich zu bändigen und in der Schwebe zu halten.83

2.

Grundprinzipien

Der Variantenreichtum des spätmittelalterlichen Schiedsverfahrens ist leicht zu belegen, denn er entspricht der allgemein bekannten schillernden Natur der vormodernen Welt. Schwieriger zu beweisen ist aber die These, dass dieses Verfahren nichtsdestotrotz als ein rechtliches zu identifizieren ist, als ein Diskurs, der von der Suche nach Gerechtigkeit geleitet wird und sich dadurch von anderen Diskursen, etwa über Fragen von Macht oder Herrschaft unterscheidet.84 Ehe dieser Beweis unter Rückgriff auf die zeitgenössische Rechtsliteratur versucht werden soll, ist zunächst in einem Zwischenschritt herauszuarbeiten, worin trotz aller Differenzen im Detail die gemeinsame Erfolgsgeschichte des Schiedsverfahrens im deutschen Südwesten begründet liegt. Diese können auf insgesamt sechs gemeinsame Grundprinzipien zurückgeführt werden, die kurz zu erläutern sind. a)

Rechtsdurchsetzung und Friede

Der erste Grund wurde bereits oben vorgestellt: Das Schiedsverfahren bot die Chance auf dauerhafte Konfliktbewältigung, indem es zwei Ziele miteinander verband, nämlich die Abstellung konkreter Missstände und die Sicherung dessen, was nicht umsonst mit heute unjuristischen Begriffen wie „Minne“ oder „Freundschaft“ bezeichnet wird, also die nachhaltige Sicherung einer funktionierenden personalen Verbindung. Damit sollte eine dritte Option, nämlich der Griff zu den Waffen, begrenzt oder ausgeschlossen werden. Friede und Recht gehen somit bei der Schiedsentscheidung Hand in Hand. b)

Wechselseitige Anerkennung

Der zweite Aspekt kommt bereits in der Vertragsnatur des compromissum zum Ausdruck, nämlich das Prinzip einer wechselseitigen Anerkennung der Parteien 83 Vgl. Beitrag Peter Oestmann (Anm. 80). 84 Die Frage nach der Rechtsnatur schiedsrichterlicher Entscheidungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit wird in der Literatur kontrovers diskutiert; zum Streitstand vgl. Kornblum, Verfahren, 290–295.

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als gleichgeordnete Vertrags- und Verfahrenspartner.85 Die Bedeutung dieser für eine ständische Ordnung ungeheuerlichen Gleichstellung von Obrigkeit und Untertan kann gar nicht stark genug unterstrichen werden. Die Strukturen von Anlass und Schiedsentscheid zwangen die Parteien dazu, aus der vertikalen in die horizontale Perspektive zu wechseln, von der ständischen Hierarchie in die Gleichheit vor dem Schiedsrichter. Gerade die bäuerlichen Streitigkeiten mit ihren Herren sprechen daher gegen Althoffs These vom „Recht nach Ansehen der Person“.86 Bereits die Eingangsformeln nahezu aller erhaltener Schiedsurkunden machen den Anspruch auf Gleichordnung deutlich: Stets beginnt die Urkunde mit der Gegenüberstellung der Streitparteien, deren Gleichordnung mit Bezeichnungen wie „zur einen Seite … zur anderen Seite“, „einenteils … anderenteils“, „zum einen … zum anderen“ zum Ausdruck gebracht wird. Immer wieder betonen die Schiedsrichter, wie sie die Aussagen und Zeugen beider Parteien berücksichtigt haben, um zu einem gerechten Ausgleich zu gelangen. Diese wechselseitige Gleichordnung mag nicht immer der machtpolitischen Realität entsprochen haben und häufig genug wird die Entscheidung einseitig oder unter politischem Druck entstanden sein. Wichtig ist aber, dass die wechselseitige Anerkennung ihrem Anspruch nach stets als proprium des Schiedsentscheids erhalten blieb. Mit anderen Worten mag ein konkreter Schiedsentscheid diese Gleichordnung verletzt haben. Diese Verletzung war dann aber am immanenten Gerechtigkeitsanspruch des Verfahrens zu messen und wurde von den Zeitgenossen entsprechend auch identifiziert, benannt und bekämpft.

c)

Unparteilichkeit der Entscheidungsinstanz

Eng mit dieser Gleichordnung hängt auch ein weiterer Aspekt der Erfolgsgeschichte des Schiedsentscheids zusammen, der Anspruch auf Unparteilichkeit des Richters. An dieser Stelle setzt Althoff an mit der Behauptung, die Posten seien nicht nach objektiven Kriterien, sondern nach ständischen Spielregeln besetzt worden.87 Bei näherer Betrachtung der bäuerlichen Schiedsentscheide lässt sich diese These allerdings für diesen Lebensbereich, jedenfalls bis zum Bauernkrieg, nicht bestätigen. Selbstverständlich waren der Welt des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit Prinzipien wie der gesetzliche Richter fremd.88 85 In der Literatur wird dieser Aspekt nur selten betont. Eine Ausnahme bildet: Janssen, Bemerkungen, 85. 86 Vgl. oben, Anm. 11. 87 Vgl. oben, Anm. 12. 88 Zu den Wurzeln dieser Idee vgl. Müßig, Richter, 14f.

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Die Versuchung war groß, politischen Einfluss zu nutzen, um über eine Besetzung der Richterbank die Entscheidung im eigenen Sinne vorwegzunehmen.89 Entscheidend ist also, dass die Zeitgenossen diese Problematik kannten und durch prozessuale und symbolische Handlungen zu bewältigen suchten. Im Anlass konnte etwa vereinbart werden, die Richterbank ganz bewusst mit „Freunden“ der Parteien zu besetzen90, dann aber zu gleichen Teilen. Konnten sich diese paritätisch besetzten Schiedsgerichte nicht einigen, mussten sie einen meist fünften Richter wählen, der dann das Zünglein an der Waage spielte und der, so einige Urkunden, „nit von parthien“ sein durfte.91 Dieses Verfahren schloss ein abgekartetes Spiel zwar nicht aus,92 war aber transparent genug, um gegebenenfalls auf Gerechtigkeitsverstöße aufmerksam zu machen. Die ältere Literatur greift damit zu kurz, wenn sie in dieser Praxis eine Beeinträchtigung der Unparteilichkeit sieht.93 Die Unparteilichkeit der Entscheidung wird hier, ähnlich der Besetzung der Beisitzer im heutigen arbeitsgerichtlichen Verfahren mit Funktionären der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite,94 nicht auf der Ebene des einzelnen Richters gesucht, sondern in der symmetrischen Besetzung des Gerichts als Ganzem. In der Praxis, so das Ergebnis der Quellenauswertung, dominierten in dieser sensiblen Frage keinesfalls generell die Interessen der Obrigkeiten. Dies traf schon deshalb nicht zu, weil auch die Landbevölkerung nicht völlig wehrlos war. Hierzu ein Beispiel: Als die Bauern der fürstenbergischen Dörfer Hilpoltsweiler und Höhenreuthe im Jahr 1470 von ihrem Herren, der Abtei Einsiedeln an die Stadt Ravensburg verkauft wurden und von dort in ein ungünstigeres Abhängigkeitsverhältnis herabgedrückt werden sollten, wandten sie sich zunächst an ihren Schirmherrn, Graf Jörg von Werdenberg-Sargans (1425–1504), der als geschickter Unterhändler bekannt war.95 Dessen Vogt richtete daraufhin eine schroffe Note an die Abtei:96 Man möge den Bauern umgehend bestätigen, dass sie in ihrer Rechtsstellung bleiben dürften. Anderenfalls seien die Bauern bereit, sich einem schiedsrichterlichen Urteil zu unterwerfen. Als Tädingsherrn 89 Vgl. die Auseinandersetzung um die Besetzung der Richterbank des Stockacher Gerichts im Konflikt der Hegauer Bauern mit ihren Herren; hierzu unten, S. 195f. 90 Kornblum, Verfahren, 294. 91 Kornblum, Verfahren, 300 mit Anm. 129. 92 Beispiele flagranter Verletzungen des Unparteilichkeitsgrundsatzes nennt Janssen, Bemerkungen 83. 93 Kornblum, Verfahren, 300 m.w.N. 94 Vgl. § 6 Abs. 1 Arbeitsgerichtsgesetz: „Die Gerichte für Arbeitssachen sind mit Berufsrichtern und mit ehrenamtlichen Richtern aus den Kreisen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber besetzt.“ 95 Zu diesem Schiedsrichter, der letztlich arm und einflußlos verstarb, vgl. Liver, Graf Jörg. 96 Brief Peter Schenck, Vogt zu Sigmaringen, an Pfleger, Dekan und Kapitel des Gotteshauses Einsiedeln, 12. 3. 1470, in: Fürstenbergisches Urkundenbuch 7, Nr. 4, 19f.

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schlugen sie alternativ drei Adelige und zwei Städte vor. Mit erkennbarem Unwillen nahm die Abtei schließlich den Vorschlag einer Vermittlung „frfflntlicher vnderrichtung“ durch Vertreter der Stadt Konstanz an,97 die dann auch die Verhandlungen ohne erkennbare Präferenz für eine der Parteien übernahmen.98 Hier standen sich also keinesfalls obrigkeitliche Willkür und bäuerliche Ohnmacht gegenüber. Funktionierende Bindungen an mächtige Herren und geschickte Verhandlungsstrategien ermöglichten es den Bauern vielmehr regelmäßig, einen neutralen Schiedsrichter zu finden. d)

Freiwilligkeit des Zugangs

Ein weiteres Erfolgsgeheimnis des Schiedsentscheids war die Freiwilligkeit des Zugangs. Der Kompromiss war sichtbares Zeichen von Autonomie und für beide Parteien die Möglichkeit, ihr Gesicht zu wahren. Gab man nach, so geschah dies aufgrund eigener, autonomer Entscheidung und nicht auf Druck des Gegners oder eines Dritten. e)

Wahrung von Förmlichkeiten

Das Gerechtigkeitspotential des Schiedsverfahrens äußerte sich außerdem trotz aller Unterschiede zum förmlichen Rechtsentscheid in der Wahrung gerechtigkeitsorientierter Förmlichkeiten. Als Beispiel kann eine Urkunde dienen, die eine Verhandlung im Schweizerischen Sankt Gallen im Jahr 1466 wiedergibt.99 „Und nach clag, antwurt, und nachdem sy ir sachen baider syt nach lut des anlaß zuo uns satzten und beschlussent, sunder nach verhörung aller kuntschaften, die wyr aigentlich in geschrift genomen, uf die stöße geritten und die allenthalben besechen und daruf ainen andern tage gen Wyl in die statt angesetzt, clag und antwurt, öch die kuntschaften gehört, die stattlich und wolbedächtlich betracht, uns müg und arbait harinne nit lasse beduren und baid partyen mit ir gunst und willen und rechter, offner, wissenthafter Täding umb all ir spenn und stöß und zuosprüch, inhalt des anlaß, in mauß und form, das hienach von ainem artickel an den andern aigentlich beschaiden wirt, geaint, gericht und geschlicht haben: …“

Hier hatten drei Schiedsrichter den Streit zwischen Ritter Ludwig von Eppenberg und Bauern des Dorfs Bichwil geschlichtet. Das Protokoll gibt wörtlich den Anlass wieder und schildert dann minutiös, welche Mühen die Schiedsrichter in mehreren Verhandlungstagen aufgewendet haben, um nach Klage, Gegenklage, 97 Fürstenbergisches Urkundenbuch 7, Nr. 4, 20 (unter Nr. 1). 98 Fürstenbergisches Urkundenbuch 7, Nr. 4, 20f. (unter Nr. 2). 99 Schiedsvertrag Ritter Ludwig von Eppenberg ./. gemeine Meier und Hausgenossen des Dorfs Bichwill, a. 1466, in: Gmür, Rechtsquellen, 109ff.

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Verhör aller Kundschaften, die allesamt schriftlich aufgenommen worden seien, zu ihrer Entscheidung zu gelangen. Man habe, so heißt es in dem Protokoll, keine Mühe und Arbeit gescheut und beide Parteien nach ihrer Gunst und Willen und nach rechter, offener, wissenthafter Täding über alle Streitpunkte nach den Vorgaben des Anlasses in Maß und Form geeint, gerichtet und geschlichtet. Es wird deutlich, dass hier in solch weitgehendem Maße die Formen und Prozessstationen eines ordentlichen Prozesses eingehalten oder zumindest imitiert werden, dass kaum Abweichungen erkennbar werden. Klage und Replik, Vernehmung von Zeugen, Ortsbesichtigung und mehrere Verhandlungstage bezeugen die Nähe dieses Verfahrens zu einem regulären Prozess. Typisch ist auch die Formel am Ende, die die Verfahrensbeendigung durch „einen, richten und schlichten“ ein wenig pleonastisch formuliert, damit aber die Erreichung maximaler Gerechtigkeit zum Ausdruck bringt. Aus Sicht der Zeitgenossen waren die Grenzen zwischen einem ordentlichen Prozeß und einem Schiedsverfahren insgesamt weniger dogmatisch, als es aus der Retrospektive oder auch nach der zeitgenössischen Doktrin erscheint. f)

Schriftlichkeit

Als letztes Element muss schließlich die schriftliche Fixierung des Schiedsurteils und häufig auch des Anlasses hervorgehoben werden. Schon im Jahr 1261 begründete Johannes, Schultheiß von Kreuznach, die Verschriftlichung eines Vergleichs damit, dass Taten der Vergessenheit anheim fielen, wenn sie nicht schriftlich niedergelegt würden.100 Bäuerliches Recht in Form des Schiedsentscheids war damit nicht, wie es eine lange, auf Fritz Kern zurückgehende Tradition glauben machen will,101 überwiegend mündlich tradiert, sondern von jeher auch urkundlich fixiert. Die Rechtssicherheit, die damit verbunden war, stand den Bauern durchgehend vor Augen. In ihren 12 Artikeln, das konnte an anderer Stelle nachgewiesen werden, zeigt die Landbevölkerung vielmehr eine starke Präferenz für geschriebenes Recht, allerdings nur für solches, das diesen Namen auch verdiente.102

100 Bürger von Kreuznach ./. Abtei Eberbach, Januar 1261, in: Rossel, Urkundenbuch, S.421: „Quoniam res geste memoriam fugiunt nisi literis commendentur…“ 101 Kern, Recht. Nach Auffassung Kerns ist das mittelalterliche Recht durch sein Alter („Das Recht ist alt“), seine sittliche Qualität („Das Recht ist gut“) und seine Oralität („Das Recht ist ungesetzt und ungeschrieben“) gekennzeichnet; vgl. die Überschriften der ersten drei Kapitel des ersten Abschnitts, ebd., 11, 15, 23. 102 Mayenburg, Beschwerden, 112–117.

190 3.

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Rechtscharakter

Damit scheint nun der Boden bereitet, die soeben aufgezeigten Strukturen auch rechtlich noch präziser zu erfassen. Die mit den genannten sechs Merkmalen umrissenen Strukturen wurzeln zweifellos in lokalen Rechtstraditionen, die auf ständiger Praxis aufbauten. Gleichzeitig stehen sie aber auch, und das wird häufig vergessen, im Kontext der gemeinrechtlichen Lehre und Praxis, gewinnen aus ihr sowohl personell als auch argumentativ eine Verstärkung und Festigung, die später eine Einfügung und schließlich Absorption dieser Strukturen in die Kernbestände des gelehrten Rechts erlaubte. Diese Verknüpfung lokaler und gemeinrechtlicher Elemente ist dabei, so die hier vertretene Ansicht, nicht etwa das Produkt einer wie auch immer gearteten „Rezeption des römischen Rechts“ an der Wende zur Neuzeit,103 sondern reicht historisch viel weiter zurück. Selbst auf dem Land waren schon vor dem 16. Jahrhundert Elemente des „gelehrten Rechts“, wenn auch teilweise nur in angedeuteter Form, präsent. Diese Auffassung deckt sich auch mit neueren rechtshistorischen Forschungen aus der Schweiz. So konnte Mike Bacher nachweisen, dass selbst in den Innerschweizer Kantonen bereits im Spätmittelalter das römisch-kanonische Recht prägend wirkte.104 Als Beleg kann eine Urkunde aus dem Jahr 1270 über einen Streit zwischen dem Kloster Raitenhaslach und einigen Eigenleuten des Grafen Wernhard von Leonberg dienen:105 „… Quod dicti homines nostri solvent annuatim prefate Ecclesie … triginta denarios … nisi eos aut sterilitas terre, aut grando, aut incendium aut gravis terre Gwera tam graviter in eodem predio leserit, quod prenominatum censum nequierint… …dass unsere besagten Eigenleute dem Gotteshaus jährlich 30 Denare zahlen sollen, es sei denn, dass sie Dürre, Hagelschlag, Feuer oder schwere Landfehde so schwerwiegend auf diesem Landgut verletzt, dass sie den vorgenannten Zins nicht zahlen können…“

Der vom Grafen beurkundete Schiedsentscheid bestätigte unmissverständlich die Abgabenpflicht der Eigenleute. Diese erhielten jedoch Rechtssicherheit, da sowohl die Höhe dieser Abgaben, als auch das Datum ihrer Leistung klar geregelt waren. Vor allem aber konnten die Bauern bei Missernten oder in anderen Fällen höherer Gewalt von ihrer Abgabenlast befreit werden. Aus rechtshistorischer Perspektive besonders interessant ist dabei nicht nur, dass dieser Abgabenerlass ganz offensichtlich der aus dem römischen Recht der Landpacht bekannten und 103 Zu diesem problematischen Konzept (aus zustimmender Perspektive): Kiefner, Art. Rezeption, 970–984. 104 Bacher, Recht, 55 mit Anm. 204. 105 Schiedsvertrag Kloster Raitenhaslach ./. einige Eigenleute des Grafen Wernhard von Leonberg, a. 1270, in: Monumenta Boica 3, 165f., eigene Übersetzung.

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vom Kirchenrecht übernommenen remissio mercedis entspricht.106 Geradezu verblüffend ist, dass diese Zinsreduzierung, ganz im Einklang mit der zeitgenössischen Doktrin der Postglossatoren, als Unterfall der laesio enormis eingeordnet wird.107 Eingreifen soll die Ermäßigung nämlich immer dann, wenn die genannte höhere Gewalt die Güter so schwer verletzte, dass sie die Lasten nicht tragen konnten. Auch wenn wir nicht wissen, ob die beiden allenfalls lokal bedeutsamen Kleriker, die den Vergleich aushandelten, eine kanonistische Ausbildung in Italien genossen haben, so ist es doch mehr als wahrscheinlich, dass hier zumindest Versatzstücke einer gemeinrechtlichen Auseinandersetzung noch im Schiedsentscheid von Raitenhaslach erkennbar werden. Dies steht auch in Übereinstimmung mit der vor allem von Karl Siegfried Bader belegten These der besonderen Bedeutung der Kirche und ihres Rechts für die Geschichte des südwestdeutschen Schiedsverfahrens.108 Es ist bekannt, dass insbesondere die Dekretalengesetzgebung des 12. und 13. Jahrhunderts (vor allem X 1.43.1–14109) die rechtsdogmatische Präzisierung des Schiedsverfahrens vorantrieb und dass die hier entwickelten Regeln durch die enorm wirkungsmächtige Prozessrechtssammlung des Wilhelm Durantis (um 1230–1296) europaweit verbreitet und in die Praxis eingeführt wurden.110 Dabei wurden vielfach genau diejenigen Prinzipien betont, die oben als Grundprinzipien des Schiedsverfahrens herausgearbeitet wurden: So erklärte Papst Alexander III. Kompromisse für unwirksam, die durch Betrug oder Täuschung zustande gekommen sind.111 Innozenz III. betonte die Bindungswirkung des compromissum und damit den besonderen Vorrang der Parteiautonomie im Schiedsverfahren.112 Der Freiburger Jurist Ulrich Zasius hob später hervor, dass Schiedsrichter nicht als Marionetten zur Verkündung vordefinierter Urteile bestellt werden dürften, sondern volle Entscheidungsfreiheit haben müssten.113 Andererseits legte die gemeinrechtliche Doktrin der schiedsrichterlichen Praxis auch Fesseln an. So bemühten sich die gelehrten Juristen um die Ab106 Vgl. Ulp. 192.15.5; X 3.18.3 (Gregor IX. an ungarische Äbte, a. 1227/1234 = P 9537). Zur remissio mercedis allgemein: Sell, remissio; Zimmermann, Law, 371–374; de Neeve, Remissio, 296–339; Ernst, Nutzungsrisiko; du Plessis, History ; Colognesi, Remissio. 107 Ernst, Nutzungsrisiko, 575. 108 Bader, Arbiter. 109 Decretalium D. Gregorii Papae IX. Compilatio [= Liber Extra], Titulus XLIII De arbitriis, zit. n. Friedberg, Corpus, 230–238. 110 Durantis, Speculum. 111 Alexander III. an den Erzbischof von York, a. 1159/1181, X 1.43.2 (= 2 Comp. 1.20.1 = JL 13888 = Friedberg, Corpus, 230). 112 Innozenz III. an Abt und Konvent von Pegau, a. 1198 (= 3 Comp. 1.25.2 = Potth. 327 = Friedberg, Corpus, 232–234). 113 Zasius, Kommentar zu D.4.8, n.7, in: Zasius, Opera. Tomus Primus, 120: „Nec potest arbitro modus imponi, ut præcise hanc uel illam sententiam dicat: debet enim libera facultas esse arbitro sententiæ, quam suo ingenio putet ferendæ“.

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grenzung des Schiedsverfahrens vom regulären Verfahren einerseits und einer kaum noch rechtlich gefassten außergerichtlichen Einigung andererseits. Durantis etwa unterschied zwischen dem arbiter, der als gewillkürter Schiedsrichter dem ordentlichen Richter gleichzustellen war, und dem arbitrator, der kein Urteil fällte, sondern als compositior amicabilis allein dem Friedensziel zu dienen hatte:114 „Arbiter est, qui de partium consensu eligitur, & in eum sub pœnæ stipulatione compromittitur… Arbitrator vero est amicabilis compositor, nec sumitur super re litigiosa, vel vt cognoscat; sed vt pacificet… Arbiter ist derjenige, der durch Konsens der Parteien gewählt wird, und auf ihn einigt man sich unter Vereinbarung einer Strafklausel… Arbitrator aber ist der freundschaftliche Vermittler, und er wird nicht angerufen um über den Streitgegenstand zu entscheiden, sondern um Frieden zu stiften…“

Durantis band hier das compromissum an ein Strafversprechen. Mit anderen Worten sollte die Einigung auf den Schiedsrichter nur wirksam sein, wenn die Appellation an ein ordentliches Gericht ausdrücklich und unter Androhung einer Vertragsstrafe ausgeschlossen war. In der südwestdeutschen Praxis bäuerlicher Schiedsgerichte waren solche Strafversprechen aber eher die Ausnahme. Vielmehr war es hier üblich, die Bindungswirkung durch einen Eid oder eine Bürgschaft zu bewirken.115 Fiel somit die schiedsrichterliche Praxis der Bauernkriegszeit überhaupt aus dem gemeinrechtlichen Rahmen heraus? Eine derart enge dogmenhistorische Sichtweise übersähe die Flexibilität und Praxisorientierung vieler gemeinrechtlicher Autoren. Auch für sie standen Gerichtsverfahren, Schiedsverfahren, und gütliche Vermittlung im selben Kontext, werden systematisch an den gleichen Stellen abgehandelt. Plastisch schreibt Zasius, dass die Schiedsrichter aus dem Anlass heraus urteilten und das ordentliche Verfahren imitierten.116 Auch der als Scharnier wichtige Laienspiegel Ulrich Tenglers rubriziert ganz selbstverständlich arbitri, arbitratores, compromissarii und amicabiles compositores trotz aller Unterschiede im Detail allesamt unter die Kategorie der weltlichen Richter.117 Das Schiedsverfahren in all 114 Durantis. Speculum, lib.1, part.1, n.1, 3. (eigene Übersetzung). 115 Ulrich Zasius: Commentaria in C.3.1.14 (Auth. hodie iurant), n.8, in: Zasius, Opera Omnia. Tomus Quartus, 64. 116 Ulrich Zasius: Commentaria in C.3.1.14 (Auth. hodie iurant), n.7, in: Zasius, Opera Omnia. Tomus Quartus, 64: „…Porro nominat Compromissarios, qui ex compromisso iudicant, & iudicia ordinaria imitantur“. 117 [Tengler, Ulrich]: Layenspiegel, 2re: „Es werden richter in mangerlay gestalt gesetzt / wann etlich zuo zeiten in ainer oder mer sachen von den partheyen durch wilkür schrifftlich anlaß / zuo latein genannt Compromissen mitt oder one peen verbüntlich on ferrer waygrung oder reduction von zuozeiten schlechtlich on peen / erkiest / zuo latein genant Arbitri oder etwo Arbitratores Compromissarii Amicabiles Compositores…“

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seinen Schattierungen war damit in die Sphäre des Rechts gestellt und wurde von den Zeitgenossen als Domäne des Rechts und der Juristen verstanden.

III.

Das Schiedsverfahren in der Krise

Damit kann nun der Frage nachgegangen werden, in welcher Weise die Funktionsfähigkeit des geschilderten Streitschlichtungsmechanismus im Vorfeld von 1525 unter Druck geriet, bis er schließlich im Bauernkrieg zeitweise zusammenbrach. Damit soll nicht gesagt werden, dass bis Ende des 15. Jahrhunderts die Welt in Ordnung und das schiedsrichterliche Verfahren ein Allheilmittel zur Bewältigung agrarischer Konflikte gewesen sei. Dennoch lässt sich festhalten, dass bis dahin jedenfalls nicht systematisch in die Funktionsvoraussetzungen der Schlichtungsinstanzen eingegriffen wurde. Etwa gegen Mitte des 15. Jahrhunderts nahmen diese Eingriffe jedoch zu und nicht zufällig beginnt gleichzeitig die Serie bäuerlicher Aufstände und Unruhen, die schließlich in die Katastrophe von 1525 mündete.118 Ebenfalls zeitgleich zeigt die Überlieferung einen erkennbaren Rückgang bei der Überlieferung von Schiedsurkunden. Diese finden sich fortan vor allem noch in Bagatellsachen.119 Wesentlich beteiligt an dieser Krise des bäuerlichen Schiedsgerichts waren einige grundsätzliche Veränderungen des politischen und sozio-kulturellen Systems an der Wende zur Neuzeit, die zunächst scheinbar nur sehr indirekt etwas mit der Problematik der agrarischen Schiedsgerichtsbarkeit zu tun hatten. Eine erschöpfende Analyse würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Die beiden wichtigsten Aspekte sollen aber herausgegriffen werden, nämlich die Rolle der Territorialisierung und der Landfriedensbewegung.

1.

Auswirkungen der Territorialisierung

Eine wichtige Ursache der Krise des Schiedsverfahrens bildete die Territorialisierung, also die Schaffung eines möglichst einheitlichen, an der Fläche des beherrschten Gebiets orientierten Herrschaftsraums. Dieser Prozess implizierte die Versuche der Obrigkeiten, aus einer komplexen Gemengelage verschiedener Abhängigkeitsverhältnisse einen personal wie territorial homogenen Untertanenverband zu schaffen.120 Diese Homogenitätspolitik strebte danach, nicht nur 118 Zum Überblick vgl. Blickle, Unruhen. 119 Diese Beobachtung trifft Janssen, Bemerkungen, 78 für den Niederrhein, aber auch für Südwestdeutschland. 120 Allgemein zur Territorialisierung: Willoweit, Territorialstaat. Zu den Auswirkungen auf die ländliche Bevölkerung im deutschen Südwesten: Blickle, Revolution, 73–77.

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die Untertänigkeit selbst, sondern auch die mit ihr verbundenen Steuer- und Abgabenpflichten innerhalb ihres Territoriums einheitlich auszugestalten. Nimmt man als Beispiel etwa Auseinandersetzungen über das sogenannte Besthaupt, also die beim Tod eines Untertanen anfallende Abgabe,121 so hatten jahrhundertelang Schiedsgerichte die entsprechenden Konflikte im Einzelfall relativ interessengerecht gelöst, etwa indem für arme Familien Ausnahmen oder Erleichterungen geschaffen wurden oder nach zähen Verhandlungen die Abgabe auf eine rein symbolische Rekognitionsgebühr zurückgeführt wurde. Am Ende dieses Prozesses stand ein bunter Fleckenteppich sehr unterschiedlicher Regelungstraditionen selbst in eng benachbarten Dörfern. Diese lokalen Traditionen wurden durch die Territorialisierung aufgebrochen und, etwa in Polizei- oder Landesordnungen durch relativ unflexible, meist für die Bauern ungünstigere Regelungen ersetzt.122 Diese sehr prinzipiell angelegte Homogenisierungspolitik der Herren provozierte ebenso fundamentale Forderungen seitens der Bauern, etwa nach ersatzloser Streichung des Besthaupts.123 Der so reformulierte Konflikt war aber kaum noch mit den Mitteln des Kompromisses und des wechselseitigen Nachgebens in einer Schiedsverhandlung zu bewältigen. Das schroffe „Entweder-oder“ dieser Auseinandersetzungen, die sich nicht mehr auf die Ebene des einzelnen Hofs oder der Dorfgemeinschaft, sondern auf überregionale Zusammenhänge bezogen, und die Schwierigkeiten, vor diesem Hintergrund zu einem schiedsrichterlichen Ausgleich zu kommen, durchzieht sämtliche Vermittlungsversuche, die im Umfeld des Bauernkrieges unternommen wurden.

2.

Auswirkungen der Landfriedensbewegung

Eine Verschärfung erfuhr dieser Prozess paradoxerweise durch die Landfriedensbewegung.124 Dieser Versuch, die Fehde einzudämmen und willkürliche Übergriffe auf Leib und Leben zu sanktionieren, war zwar zunächst vor allem gegen den niederen Adel gerichtet. Jedoch hatte die Landfriedensbewegung durchaus auch gravierende Folgen für den Diskurs zwischen den Obrigkeiten und ihren Bauern. Dabei ist zunächst die Bürokratisierung und Professionalisierung im Bereich 121 Hierzu: v. Mayenburg, „Laudabilis usus“, 337–387. 122 Blickle, Revolution, 72–77. Zu den Differenzierungen vgl. demnächst: v. Mayenburg, Mann. 123 Der entsprechende Art. 11 der bäuerlichen Zwölf Artikel repräsentiert nur eine in zahlreichen dörflichen Beschwerdeschriften erkennbare Unzufriedenheit der Bauern mit dieser Abgabe. 124 Umfassend: Carl, Bund; ders., Art. Landfrieden; ders., Landfrieden als Konzept.

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der Streitschlichtung zu beachten.125 Die Politik setzte dabei auf das Gericht als entscheidendes Instrument zur Eindämmung der Gewalt und drängte damit auch im Bereich der Untertanenkonflikte alternative Formen der außergerichtlichen Streitentscheidung zurück.126 Der Rückgang der Schiedsurkunden seit der Mitte des 15. Jahrhunderts und ihre Beschränkung auf Bagatellsachen dürfte zu einem nicht geringen Teil durch den Bedeutungszuwachs gerichtlicher Streitentscheidung zu erklären sein.127 Doch hatte die Landfriedensbewegung für die ländliche Welt noch weitere Konsequenzen: Denn sie führte zur Schaffung eines organisatorischen Überbaus, der den Territorialisierungsprozess regional erweiterte. Angesichts der Schwäche des Reichs schlossen sich schwäbische Adelige 1406 zu einem überregionalen Sonderbund, dem Sankt Jörgenschild zusammen, einem Schutz- und Friedensbündnis, das als Vorläufer des 1488 unter maßgeblicher Mitwirkung des Kaisers aus der Taufe gehobenen Schwäbischen Bundes gilt.128 Für die Bauern hatten diese Konglomerationen ihrer Herren gravierende Konsequenzen: Zunächst stand den Untertanen mit dem Bund ein weiterer, überregional agierender Kontrahent gegenüber. Dies provozierte auch bei den Bauern die Idee der Interessenbündelung in Form einer überlokalen und überregionalen Verbrüderung. Das Vorbild der nahen Schweiz tat das Seinige, um die Idee überregionaler Bauernbünde zu fördern, was wiederum zu einer noch allgemeineren Formulierung der bäuerlichen Forderungen führen musste und die Suche nach Kompromissen weiter erschwerte. Hinzu kam, dass der Sankt Jörgenschild und besonders der Schwäbische Bund dazu übergingen, den schiedsrichterlichen Austrag bei sich zu monopolisieren. Die nun geschaffenen Sondergerichte, vor allem das Bundesgericht des Schwäbischen Bundes, waren im Kern ständige Schiedsgerichte, deren compromissum die jeweilige Bundesakte bildete.129 Dies war so lange unschädlich, wie es dabei lediglich um die Lösung von Konflikten zwischen den Bundesgliedern ging. Jedoch führte die Friedensidee dazu, den Anwendungsbereich nicht nur auf die verbündeten Stände zu erstrecken, sondern auch auf die von ihnen beherrschten, nicht selbst bündnisfähigen Bauern und ihre Gemeinden. In Art. 31 seiner zwölfjährigen Einung von 1500 nahm der Bund eine Klausel auf, 125 Ranieri, Stand, 83–105. 126 Zur gerichtlichen Behandlung von Untertanenprozessen eingehend und unter Einbeziehung der Entwicklung seit dem Spätmittelalter : Sailer, Untertanenprozesse; Fetzer, Untertanenkonflikte. 127 Janssen, Bermerkungen, 78. 128 Obenaus, Recht. Zur umstrittenen Rolle des Kaisers im Bund ausführlich: Carl, Bund, 21–60. 129 Das Bundesgericht ist bislang rechtshistorisch noch nicht gründlich erforscht. Eine gute Übersicht bietet: Carl, Bund, 370–422.

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die die Bauern unmissverständlich dazu anhielt, Streitigkeiten mit ihren Herren zwar nicht vor dem Bundesgericht, aber vor der Bundesversammlung zu verhandeln, wo diese gütlich und notfalls rechtlich zu entscheiden waren:130 „Es soellen auch dye Comunen [o]der vnderthan / vns Bundsverwanten zugehoerig / iren herren / irer oberkayt vnd gehorsam nit entziehen / Sunder die zu yeder zeyt halten / in maß sy schuldig sein / vnd von alter herkommen ist: Wo sye aber vermainten / daz wider sy unbillicher weiß / wider alt herkommen vnd anders dann sy schuldig waeren / gehandelt oder fuergenomen wuerd: So soellen sy sich dannocht wider ire herren nit abwerffen / oder in ain ainich vngehorsam geben / Sunder das an die gemaine versamlung des Bunds gelangen lassen; die baid tail gegen ainander fuerderlich vnd summarie verhoeren / vnd fleiß haben soellen / sy zimlicher weiß guettlich mit ainander zuuerainen. Ob aber die guetlichkeit nit erfunden werden moechte / wie dann bayd tayl durch die versamlung des Bunds irer irrung vnd Spenn halb entschayden werden / darbey soellen vnd wöllen wyr zu allen tailen den behaltenden tail handthaben / on irrung vnd widerred.“

Zwei Voraussetzungen des Schiedsverfahrens waren damit in Frage gestellt, nämlich die Freiwilligkeit des Zugangs und die Unparteilichkeit der Schiedsrichter. Die Monopolisierung der Schiedsgewalt beim Bund erschwerte die Möglichkeit, dass sich Bauern und ihre Herren individuell auf einen bestimmten Schiedsrichter einigten. Die Praxis zeigt, dass nach 1500 im Einflussbereich des Schwäbischen Bundes nur noch sehr wenige Schiedsentscheide ohne dessen Mitwirkung ergingen. Dass dadurch die Unparteilichkeit betroffen war, liegt auf der Hand. Die vom Bund gesandten Kommissare traten häufig als Unterhändler der Obrigkeit auf, als Vertreter der Ordnung und ihre Vollstrecker zugleich. Dies kann durch die Vorgänge in Kempten illustriert werden, wo seit 1492 zwischen dem Fürstabt und seinen Untertanen ein Konflikt tobte, der vor allem die Frage der Leibeigenschaft betraf.131 Während einer Hungersnot im November 1491 wandten sich die Bauern des Stifts Kempten im Konflikt mit dem Fürstabt an die Bundesversammlung des Georgenschildes.132 Außerdem verbündete man sich und verpflichtete sich wechselseitig, nicht voneinander zu weichen, ehe der Konflikt gelöst war.133 Ein daraufhin abgehaltener Bundestag versprach dem Kemptener Abt militärische Unterstützung, ohne die Bauern vorher angehört zu haben. Als „Tädinger“ setzte man einseitig eine von Hans von Frundsberg angeführte Delegation ein.134 Es 130 Ordnung der zwölff Jährigen Ainung deß löblichen Bundsts im Land zu Schwaben, a. 1500, art. 31, zit. n. Datt, Volumen, c.18, 357. Näher: Sea, League, 89–111, bes. 101f. 131 Die Geschichte Kemptens im Bauernkrieg ist gut erforscht: Erhard, Bauernkrieg; Immler, Gerichtsbarkeit; Blickle, Leibherrschaft; Goetze, Appellationsprozeß; Ludi, Gotzhus, 67–90. 132 Carl, Bund, 483; Haggenmüller, Geschichte, 409. 133 Haggenmüller, Geschichte, 409. 134 Carl, Bund, 485.

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folgten Verhandlungen mit kleineren Zugeständnissen an die Bauern, die ihre Waffen niederlegen mussten. Aus Sicht der Bauern waren diese Verhandlungen eine Farce. Sie schrieben später über das herrische Auftreten Hans von Frundsbergs, der damit drohte, die Frauen und Kinder der Bauern zu Witwen und Waisen zu machen, wenn sie den Schiedsvertrag nicht annähmen.135 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Bauern die Vermittler als Freunde des Abts denunzierten und die Abmachung nicht halten wollten. Sie taten, was in dieser Situation durchaus logisch erscheint und sandten eine Petition an die einzig verbleibende, vermeintlich unabhängige Instanz, den Kaiser persönlich. Nachdem ein erster Bote vom Schwäbischen Bund abgefangen wurde und verschollen blieb, kam ein zweiter durch und der Kaiser forderte den Abt auf, seine Bauern anzuhören.136 Diesem Wunsch kam der Abt zwar nach und bestellte zwei Unterhändler, ließ aber die Bauern gleichzeitig erneut durch den Bund zum Gehorsam auffordern. Mitte Februar 1492 wurden die Bauern zum Bundestag nach Esslingen geladen und angehört. Anschließend tagte der Bund und entwarf den Text eines Vermittlungsvertrags, der den Bauern zugeschickt und, wenig überraschend, von diesen zurückgewiesen wurde.137 Im September berichten dann die Unterhändler dem Bund, dass die Bauern den Vermittlungsversuch ablehnten und sich lieber an den Kaiser wandten.138 Zwei Tage später schlugen Truppen des Bundes den Aufstand der Bauern blutig nieder.139 Am 15. Oktober 1492 wurde in Memmingen dann eine „gütliche Einigung“ beschlossen. Es erschienen: Der Abt und sein Konvent, 252 Bauern, sowie die bereits bekannten Unterhändler, unterstützt durch vier weitere Bundesräte.140 Der Vertrag war vor dem Hintergrund der bäuerlichen Niederlage nicht einmal ungünstig, insbesondere, weil er verfahrensrechtliche Mittel vorsah, um Detailprobleme in weiteren Verhandlungen zu lösen. Darauf hat Horst Carl in Abgrenzung zur älteren Literatur zu Recht hingewiesen.141 Richtet man den Blick jedoch weniger auf die Frage, wer aus dem Konflikt als Sieger hervorging, als auf die Geeignetheit des Vertrags, Stabilität im Allgäu zu begründen, muss die Beurteilung weniger günstig ausfallen. Allein die Tatsache, dass der Vertrag keinen Abschluss brachte, sondern dass die Verhandlungen bis ins Bauernkriegsjahr weitergeführt wurden, zeigt, dass die Einigung allenfalls brüchig war. Claudia 135 Die Beschwerden der Bauern über das Verhalten der Gesandtschaft finden sich bei: Franz, Bauernkrieg, 23. Vgl. auch Carl, Bund, 485; Haggenmüller, Geschichte, 411. 136 Haggenmüller, Geschichte, 411. 137 Graf Bug zu Werdenberg, Hauptmann des Adels, an Bürgermeister und Rath der Stadt Ulm, 8. 2. 1492, in: Klüpfel, Urkunden, 124f.; Carl, Bund, 486. 138 Wilhelm Besserer an die Bundesstädte, 27. 9. 1492, in: Klüpfel, Urkunden, 136. 139 Carl, Bund, 486. 140 Carl, Bund, 487. 141 Carl, Bund, 487.

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Ulbrich kam daher bei einer vergleichenden Analyse des Vertrags von 1492 und den Konfliktpunkten von 1525 zu dem Ergebnis, dass trotz der Übereinkunft von 1492 „die meisten Streitpunkte weiterbestanden“.142 Die Vorgänge in Kempten belegen, wie die neue politische Ordnung die Aushandlung von Kompromissen unter den oben beschriebenen Voraussetzungen erschwerte. Deutlich wird vor allem die Schwierigkeit, geeignete Schiedsrichter zu finden. Indem nahezu alle Honoratioren der Umgebung im Schwäbischen Bund vereint waren, blieben den Bauern nur zwei Optionen: Die Akzeptanz des Bundes, dessen Unparteilichkeit zu Recht bezweifelt wurde,143 oder der Gang zum Kaiser. Letzterer wurde versucht, konnte aber nicht mehr bewirken, als die Gewährleistung wenigstens einer Anhörung durch den Bund. Das vom Bund daraufhin gewählte Verfahren, die Beteiligung der Bauern auf eine Anhörung zu beschränken und ihnen den Schiedsvertrag zu diktieren, war von den Kemptener Untertanen als flagranter Verstoß gegen die innere und äußere Verfahrensgerechtigkeit leicht zu identifizieren. Der durch den Bund damit provozierte Zusammenbruch des hergebrachten, auf Gleichrangigkeit beruhenden Verhandlungssystems ebnete damit den Weg in den bewaffneten Konflikt. Deutlich wird an den Kemptener Vorgängen noch ein weiterer Aspekt, der sich im frühen 16. Jahrhundert als permanentes Hindernis für Verhandlungen erwies, nämlich die Gehorsamsproblematik. Bereits im Spätmittelalter war die Landfriedensidee mit dem crimen laesae maiestatis verbunden worden, also jede Art von Ungehorsam als Akt der Verschwörung gegen die Obrigkeit definiert worden.144 Bewaffnete Aufstände galten damit von jeher als nicht tolerierbare Gehorsamsverweigerung. Die Grenzen waren allerdings fließend, insbesondere bei der passiven Verweigerung von Steuern und Abgaben oder der widerrechtlichen Inanspruchnahme von Weide-, Holzungs- und Fischereirechten. Diese Akte des Widerstands, die häufig mit der Verweigerung des Huldigungseids einhergingen,145 waren meist der Ausgangspunkt für Verhandlungen zwischen den Bauern und ihrer Obrigkeit und ähnlich den heutigen Streiks Teil des Vermittlungsprozesses selbst.146 Nicht zu vergessen ist dabei, dass diese 142 Ulbrich, Oberschwaben 101, Anm. 18. 143 Carl, Bund, 487, weist allerdings darauf hin, dass die Besetzung des Schiedsgerichts von 1492 (je drei vom Adel und drei von den Städten) bauernfreundlicher war, als die des Friedensversuchs von 1491. 144 Hierzu: v. Mayenburg, Bauer. 145 Zum Huldigungseid eingehend: Holenstein, Huldigung, 385–432; außerdem: Saarbrücker Arbeitsgruppe, Huldigungseid, 117–155. 146 Ähnlich bereits Bloch, caractHres, 197: „Aux yeux de l’historien, qui n’a qu’/ noter et / expliquer les liaisons des ph8nomHnes, la r8volte agraire appara%t aussi ins8parable du r8gime seigneurial que, par exemple, de la grande entreprise capitaliste, la grHve.“ Ebenso: Rösener, Bauernaufstände, 152.

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Form des Protests in die Agrarrechtsordnung der Zeit insofern integriert war, als die störungsfreie Ausübung bestimmter Rechte zu deren Erwerb im Wege der Ersitzung bzw. praescriptio führen konnte.147 „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt“ war also ein auch rechtlich relevantes Grundprinzip der spätmittelalterlichen Agrarrechtsordnung. In einem ersten Schritt wurden nun diese Formen des bäuerlichen Ungehorsams von den Obrigkeiten unter Rückgriff auf die Friedensidee als Hochverrat kriminalisiert.148 Durch sämtliche Urkunden über agrarische Konflikte des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts zieht sich wie ein roter Faden die Verknüpfung der eigenen Verhandlungsbereitschaft mit einer zuvor erfolgten Gehorsamsgeste. Jede Abweichung, und insbesondere jede Form autonomer bäuerlicher Bündnispolitik, war verboten. Es war die Obrigkeit, die bestimmte, welche Zusammenschlüsse als Schwureinung zulässig und welche als Verschwörung verboten waren.149 Damit war zugleich aber ein wesentliches Prinzip der Waffengleichheit beim Zugang zur Streitschlichtung berührt: Bereits ihr Zusammenschluss zur gemeinsamen Formulierung von Klageartikeln konnte verhindern, dass die Bauern überhaupt angehört wurden, geschweige denn als gleichberechtigte Partei eines Vergleichs auftreten durften. Die Gehorsamsanforderung war damit ein entscheidendes Mittel, um den Zugang der Bauern zu Mechanismen der Streitentscheidung zu blockieren.150 Die Friedens- und die Rechtsaspekte des Vergleichs wurden sozusagen gegeneinander ausgespielt, das Recht musste dem Frieden weichen. Die Problematik wog auch deshalb besonders schwer, weil die Gehorsamsideologie keinesfalls nur ein taktisches Manöver des Bundes gegen die Bauern war, sondern sich inzwischen tief in der Mentalität der Eliten eingenistet hatte. Ein Beleg hierfür ist nicht zuletzt die Reaktion der Reformatoren auf den Bauernkrieg, die ihre Weigerung, die bäuerliche Not auch nur zur Kenntnis zu nehmen, allein auf den Ungehorsam der Bauern stützten.151

3.

Der Bauernkrieg als Wendepunkt

Der Bauernkrieg selbst markierte vor diesem Hintergrund einen Wendepunkt in der Geschichte der Schiedsgerichtsbarkeit in Fragen der Agrarrechtsordnung. Er 147 148 149 150 151

Mayenburg, Beschwerden, m. w. N. Blickle, Criminalization. Über die Nähe von Schwureinung und Verschwörung vgl. Oexle, Kultur. Mayenburg, incolumitas. Zur Reaktion der Reformatoren auf die bäuerlichen Forderungen im Bauernkrieg vgl. die Beiträge von Michael Basse, Mathias Schmoeckel, Ute Mennecke und Hellmut Zschoch zu Martin Luther, Philipp Melanchthon, Johannes Brenz und Urbanus Rhegius in: Hasselhoff / v. Mayenburg, Artikel.

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zeigte zunächst augenfällig den Kollaps der alten Schiedsordnung, die der Komplexität und Dynamik der Auseinandersetzung nicht gewachsen war. Gleichzeitig führten die Schrecken des Krieges und seine ungeheuren Verluste aber auch auf der Herrenseite zu der Erkenntnis, dass eine Gesellschaft durch eine Politik der vollständigen Exklusion einer Bevölkerungsgruppe nicht stabil zu regieren war. Der Zusammenbruch wird deutlich, wenn man auf die bislang in der historischen Literatur eher unbeachtet gebliebenen Versuche einer gütlichen Streitbeilegung in der Anfangsphase des Bauernkriegs blickt. Es wird dabei vor allem erkennbar, dass die Auseinandersetzungen zwischen den Herren und Bauern weniger über inhaltliche Fragen geführt wurden, als vor allem über die oben dargestellten Prinzipien der Schiedsordnung. Der Konflikt begann im Mai 1524 im Benediktinerkloster Sankt Blasien im Schwarzwald.152 Er griff schnell über auf die kleine Landgrafschaft Stühlingen, einem hochverschuldeten Habsburger Lehen, das von dem bereits alternden Grafen Siegmund zu Lupfen regiert wurde.153 Im Juni 1524 verweigerten die Bauern dort den Huldigungseid und ihre Abgaben.154 Landgraf Siegmund trat aber nicht selbst in Verhandlungen über die bäuerlichen Forderungen ein, sondern wandte sich an seinen Schirmherrn, den österreichischen Erzherzog Ferdinand.155 Dessen Regierung instruierte den zuständigen Verwaltungsbeamten, den Vogt von Nellenburg, in einem Schreiben vom 5. April 1524 wie folgt:156 Man möge den Bauern ausrichten, dass sie umgehend Eid und Steuern leisten sollten. Wegen ihrer Beschwerden solle man ihnen anbieten, diese vor das Reichsregiment in Esslingen, vor den österreichischen Erzherzog entweder in seiner Eigenschaft als Statthalter des Reiches oder als Fürsten von Österreich, oder aber vor die Vorderösterreichische Regierung in Innsbruck zu bringen. Dem Grafen von Lupfen empfahl die Regierung, seinerseits die eigenen Bauern vor dem Reichsregiment zu verklagen um ein Pönalmandat zu erreichen, mit dem die Bauern unter Androhung der Acht angehalten würden, ihrem Herrn gehorsam zu bleiben. Wenn dieses Angebot die Bauern überhaupt erreichte, so waren sie jedenfalls nicht gewillt, den vorgeschlagenen Weg zu gehen. Auch wenn nähere Dokumente fehlen, so lassen sich hierfür vor allem zwei Erklärungen finden. Zum einen mussten die Bauern davon ausgehen, dass die habsburgische Verwaltung sich nicht ebenso ernsthaft auf ihre Forderungen einlassen würde wie ein unabhängiges Schiedsgericht. Und zum anderen unterstrich Österreich seine Unterstützung für seinen „Schirmverwandten“ Lu152 153 154 155 156

Roder, Villingen, 326. Oka, Bauernkrieg; Stolze, Erhebung; Hössler, Entstehungsgeschichte. Oka, Bauernkrieg, 4. Oka, Bauernkrieg, 4–6. Hofrat zu Innsbruck an den Vogt von Nellenburg, 4. 7. 1524, in: Baumann, Akten, Nr. 5, 2f.

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pfen durch den Aufmarsch von Truppen im Protestgebiet. Auf einer Versammlung in Leutkirch am 5. Juli 1524 versprachen sich die lokalen Fürsten und Österreich wechselseitig militärische Unterstützung im Falle eines Aufstandes.157 Erfolgreicher als der Verweis auf den Weg über Reichsregiment und vorderösterreichische Regierung war der Versuch, den Konflikt mit Hilfe eines Schiedsgerichts zu lösen. Vertreter von Bauern und Herren begannen am 18. Juli 1524 mit Verhandlungen in dem neutralen Ort Tiengen.158 Als Vermittler fungierten die österreichischen Emissäre Ulrich von Habsberg und Hans Jakob von Landau, sowie Vertreter der vier Städte und des Schwarzwalds „als verwillkurnten tedingsherrn und undertedinger“.159 Diese Besetzung war nicht wirklich geeignet, bäuerliche Reserven aufzulösen: Ulrich von Habsberg (Lebensdaten unbekannt) war ein Verwandter des Hauses Habsburg, der dafür verantwortlich gemacht wurde, dass in der Schlacht an der Calven 1499 durch seine Flucht vom Schlachtfeld nahezu 4.000 Soldaten des von ihm befehligten bäuerlichen Landsturms der Vernichtung preisgegeben waren. Er war überdies selbst unter den vorderösterreichischen Räten umstritten.160 Dass er bei den Bauern nicht besonders beliebt war, kam später auch dadurch zum Ausdruck, dass diese im weiteren Verlauf des Konflikts gewalttätig gegen ihn wurden.161 Hans Jakob von Landau (†1557) wiederum war ebenfalls ein militärisch erprobter Diplomat der Habsburger und als Landvogt von Nellenburg im Hintergrund damit beschäftigt, die gewaltsame Niederschlagung des Bauernaufstands vorzubereiten.162 Das Ergebnis der Verhandlungen war ein am 22. Juli 1524 vorgelegter Anlass.163 Dieser „Abschied von Tiengen“ sah zunächst einen Waffenstillstand vor. Entscheidend war die Klausel, wonach Erzherzog Ferdinand drei seiner Räte, drei Vertreter der Städte Villingen, Radolfzell und Stockach und außerdem einen unparteiischen Vorsitzenden verordnen sollte und dass diese sieben Personen innerhalb von zwei Monaten einen Tag ansetzen sollten, um den Streit beizulegen.164 Die letztgenannte Regelung war nicht unproblematisch, denn es lag nicht in der Hand der Parteien, sondern des Erzherzogs, das Ergebnis durch die Auswahl nicht nur des Obmanns, sondern auch der als Räte benannten Schiedsrichter entscheidend zu bestimmen. Die Bauern lehnten den Abschied 157 158 159 160 161 162

Tag zu Leutkirch, 5. 7. 1524, in: Baumann, Akten, Nr. 6, 3f. Oka, Bauernkrieg, 6. Stolze, Akten. Vgl. Wiesflecker, Österreich, 205, 291, 365. Pelizaeus, Kaisers, 115. Hofrat zu Innsbruck an das Reichsregiment zu Ensisheim, 26. 7. 1524 und Hofrat zu Innsbruck an den Landvogt von Nellenburg, 1. 8. 1524, in: Baumann, Akten, Nr. 9 und 10, 5f. 163 Erster Abschied von Tiengen, 22. 7. 1524, in: Stolze, Akten, Nr. 7. 164 Erster Abschied von Tiengen, 22. 7. 1524, in: Stolze, Akten, Nr. 7.

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daher ab.165 Ihr Gegenvorschlag lautete, dass Siegmund von Lupfen sechs ihm genehme Personen, ebenso die Untertanen sechs Personen benennen und diese 12 unparteiischen Schiedrichter sich einen ebenso unparteiischen landsässigen Vorsitzenden wählen sollten, der selbst weder Hoch- noch Niedergericht, Forstund Wildbann haben durfte.166 Vergleicht man den bäuerlichen Vorschlag mit den oben skizzierten Grundlagen der ländlichen Schiedsordnung, so muss man festhalten, dass er mit dieser nahezu perfekt übereinstimmt. Dass jede Seite paritätisch Vertreter ihrer Sache als Schiedsrichter benennt, war üblich und aufgrund der Stimmengleichheit auch nicht ungerecht, die Wahl eines Vorsitzenden durch dieses Gremium ebenfalls gängige Praxis. Es waren daher politische Erwägungen, die dazu führten, dass nicht nur Erzherzog Ferdinand diesen Vorschlag ablehnte, sondern auch der Landgraf.167 Dessen Argument, dass die bäuerlichen Schiedsrichter parteiisch seien, musste aus bäuerlicher Perspektive eindeutig als vorgeschoben interpretiert werden.168 Nachdem der Anlass von Tiengen damit gescheitert war, eskalierte der Konflikt durch militärische Aufrüstung auf beiden Seiten bis September 1524 weiter.169 Inzwischen hatte sich die Stadt Schaffhausen als Vermittlerin eingeschaltet.170 Auch der Vergleich in 39 Artikeln, den Vertreter der Stadt am 10. September 1524 aushandeln konnten, zeigt in Form und Inhalt alle Elemente der alten Schiedsordnung, also insbesondere Gleichberechtigung der Parteien und Unparteilichkeit der Entscheider. Dass der Vertrag trotzdem scheiterte, lag einerseits an den Bedingungen, die der Landgraf für dessen Umsetzung stellte, nämlich die demütigende Unterwerfung der Bauern unter seine Obrigkeit, andererseits aber auch an der Radikalisierung der Bauern, die sich über die Annahme dieses eigentlich positiven Vermittlungsergebnisses nicht einig werden konnten.171 Einen Monat später vermittelten Unterhändler einer anderen Stadt, diesmal aus Überlingen, erneut über die Forderungen der Stühlinger. Verhandelt wurde hier allerdings nicht wie in Schaffhausen in der Sache selbst, sondern wieder nur über einen Anlaß. Am 12. Oktober 1524 einigte man sich, einen Tag für den 6. Januar 1525 nach Radolfzell einzuberufen, wo „ein gütlicher oder auch rechtlicher Austrag“ versucht werden sollte.172 Beide Parteien sollten dabei drei Beisitzer schicken, den Vorsitz die Stadt Überlingen 165 166 167 168 169 170 171 172

Notarielle Niederschrift Jakob von Landaus, 25. 7. 1524, in: Stolze, Akten, Nr. 9. Notarielle Niederschrift Jakob von Landaus, 25. 7. 1524, in: Stolze, Akten, Nr. 9. Oka, Bauernkrieg, 7. Schreiben Sigmund von Lupfen an die Statthalter und Regenten in Stuttgart, 15. 8. 1524, in: Stolze, Akten, Nr. 10. Oka, Bauernkrieg, 8–11. Oka, Bauernkrieg, 11. Zu den Hintergründen ausführlich die Dokumente in: Schreiber, Bauernkrieg 1, 31–33, 37–50; Oka, Bauernkrieg, 12–15. Muchow, Geschichte, 61; Oka, Bauernkrieg, 18.

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übernehmen. Für die Bauern kam dieser Anlass in letzter Minute, denn unmittelbar darauf erging seitens Erzherzog Ferdinands der Befehl an seine Räte, militärisch gegen die Stühlinger Bauern vorzugehen. Dass dieser Befehl nicht befolgt wurde, lag offensichtlich daran, dass die Räte vor Ort sich an den Anlass gebunden fühlten und ein militärisches Vorgehen für rechtswidrig erachteten.173 Am 28. Dezember 1524 starb Landgraf Siegmund.174 Dass der Tod einer Partei zur Diskontinuität des Verfahrens und zur Nichtigkeit des Anlasses führte, war gemeinrechtlich anerkannt und wurde auch von allen Parteien so gesehen.175 Doch gelang es durch Verhandlungen vor allem der Stadt Überlingen, dass sich die Parteien in Radolfzell am 8. Januar 1525 darauf einigten, den Anlass zu bestätigen und damit die Verhandlungen fortzusetzen. Unter dem Vorsitz Überlingens sollte dann binnen eines Monats eine endgültige Einigung erzielt werden.176 Tatsächlich gelang es, am 10. Februar 1525 einen weiteren Anlass zustande zu bringen,177 der in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert ist. Zum einen zeigt sich der überregionale Aspekt des Konflikts. Partner des Kompromisses sind nämlich nicht nur der neue Landgraf Jörg von Lupfen und seine Stühlinger Untertanen, sondern darüber hinaus auch die Herren und Bauern der benachbarten Territorien der Fürstenberger und Schellenberger. Weiter ist die Urkunde interessant, weil sie, anders als die vorangegangenen Vereinbarungen, keinen Vermittler erkennen lässt. Offensichtlich kam die Vereinbarung aber durch die Vermittlung des Reichsregiments in Esslingen zustande, das nach eigener Auskunft von Seiten der Bauern um Hilfe gerufen wurde.178 Die Vermittlungstätigkeit des Reichsregiments ergibt sich unter anderem auch aus einem Brief der Stadt Villingen nach Freiburg vom 9. Februar 1525. Dort wird berichtet, den Reichsständen in Esslingen sei es nicht gelungen, die Stühlinger Bauern mit ihren Herren zu vergleichen. Dagegen stünden die Bauern aus Fürstenberg und Schellenberg noch in Verhandlungen über einen „ander Mittelweg“. Die Antwort der Bauern auf dieses Vergleichsangebot stünden aber noch aus.179 Es liegt demnach nahe, dass der Lösungsvorschlag für Fürstenberg und Schellenberg von den dortigen Bauern angenommen wurde und sich dann auch die Stühlinger 173 Muchow, Geschichte, 61f. 174 Schreiber, Bauernkrieg 2, 2. 175 Vgl. Zasius, Kommentar zu D.4.8, n.22, in: Zasius, Opera.Tomus Primus, 123: „…Denique si uel arbiter uel ex litigantibus alter moritur, compromissum intercidit, nisi sit facta mentio hæredis…“. 176 Abschied der Unterhändler zu Radolfzell, 8. 1. 1525, in: Schreiber, Bauernkrieg 2, 1f. 177 GLA Karlsruhe 71/819, Fürstenberg etc. ratione der Beschwerden irer underthanen, wieder abgedruckt in: Baumann, Akten, Nr. 91. 178 Die gemeine Bauerschaft von Bonndorf, Stühlingen, und andere Ihre Mitverwandten an das kaiserliche Regiment,vor dem 20. 2. 1525, in: Baumann, Akten, Nr. 101. 179 Villingen an Freiburg, 9. 2. 1525, in: Schreiber, Bauernkrieg 2, 9f., hier : 10.

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Untertanen dazu entschlossen, sich dem Anlass anzuschließen. Im Ergebnis hatten die Bauern mit ihrer Supplikation an das Reichsregiment genau denjenigen Weg gewählt, den ihnen Erzherzog Ferdinand bereits im Sommer 1524 gewiesen hatte. Leider fehlen in den Quellen Antworten auf die Frage, was diesen Sinneswandel bewirkt haben könnte. Doch der Anlass vom 10. Februar 1525 ist auch inhaltlich ungewöhnlich:180 Zunächst einigte man sich detailliert auf eine Übergangslösung bis zur endgültigen Beilegung des Konflikts. Bis dahin sollten keine aggressiven Handlungen gegeneinander vorgenommen werden. Die Bauern mussten die wichtigsten Abgaben weiter entrichten und durften kein Rotwild jagen. Allerdings verzichteten die Herren auf die besonders umstrittenen Leistungen, nämlich die Frondienste, das Besthaupt und das Ungeld (eine Umsatzsteuer). Die wichtigste Regelung betraf aber das Verfahren der endgültigen Streitbeilegung: Es wurde nämlich vereinbart, dass die Richter des Reichskammergerichts in Esslingen zunächst als Schiedsrichter, und wenn dies nicht gelänge, in ihrer richterlichen Funktion den Streit beilegen sollten. Die Parteien des Anlasses wollten überdies den kaiserlichen Statthalter, also Erzherzog Ferdinand bitten, das Kammergericht zu ersuchen, diese Aufgabe binnen zweier Monate zu übernehmen. Also was wir obgedachten herschaften an vnsere vnderthanen obbenant spruch vnd vorderung, desgleichen was die obgedachten vnderthanen an vnser herschaften, ouch obbemelt, vermeinen spruch vnd beschwerden ze haben, das sollen wir vor dem kayserlichen camergericht furbringen, vnd alßdann vf gnugsam verhör von gedachtem kayserlichen camerrichter vnd gericht vleis furkert werden sol, die sachen vnd spen gutlichen hinzulegen, wo aber die gutlichait nit verfahen, noch stat haben mocht, was alßdann von dem camerrichter vnd gericht zu vnd mit recht erkent wirdet, das sol von vns zu beiden teilen on all ferrer weygern, wie die genant oder erdacht mochte werden, stet vnd vest ze halten vnd dem selbigen zu gleben vnd nachzukomen. Verrer ist in disem anlaß entlieh abgeredt vnd bewilligt, das solh handlung in zwayen monaten vor dem kayserlichen camergericht nach date dis briefs gütlich oder rechtlich vsgetragen vnd vollendet werden sol, es were dan, das solhs mit verwilligung des camerrichters vnd vnserer beider partyen sich lenger verzug, das sol vns zu beiden teiln, ouch diesem anlaß vnuergriffen vnd vnnachtailig sein. Wyter so sollen vnd wellen wir beidersits vmb furderliche tagsatzung, desgleichen zu volendung des rechtens den kayserlichen stathalter ansuchen vnd biten, dem camerrichter zu mandieren vnd zu befehlen, die gedachten vnsere handlung vnd spen in zwayen monaten, wie obstat, zu verhoren vnd die gutlich oder rechtlich zu entschaiden.181

180 GLA Karlsruhe 71/819, Fürstenberg etc. ratione der Beschwerden irer underthanen, wieder abgedruckt in: Baumann, Akten, Nr. 91. 181 GLA Karlsruhe 71/819, Fürstenberg etc. ratione der Beschwerden irer underthanen, wieder abgedruckt in: Baumann, Akten, Nr. 91, hier: 104.

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Dieser Kompromiss schien Früchte zu tragen: Die Bauern erklärten durch ihren Anwalt gegenüber dem Reichsregiment, die Vereinbarung erfüllen zu wollen und baten um Ansetzung eines Gerichtstages.182 Auch die Kammerrichter waren mit dem im Anlass vorgegebenen Procedere einverstanden. Ein Schriftstück der Gerichtskanzlei vom 20. Februar 1525 enthält die Verfügung, aufgrund des genannten Anlasses und auf Bitten der Parteien am 7. März 1525 einen Gerichtstag anzusetzen.183 Der Wortlaut dieser Notiz legt nahe, dass das Gericht nicht, wie im Anlass vorgesehen, auf Befehl Erzherzog Ferdinands tätig wurde, sondern sich freiwillig auf die Übernahme des Falls eingelassen hatte. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die ebenfalls in Esslingen ansässigen Bundesrichter bereits an der Aushandlung des Kompromisses beteiligt waren. Wie ambitioniert der Zeitplan war, zeigte sich am 7. März 1525, als es dem bäuerlichen Anwalt nicht gelang, die Sache der Bauern fristgerecht vorzutragen. Das Gericht vertagte sich daher auf den 4. April 1525 und legte zugleich fest, in welcher Form die Parteien ihre Schriftsätze einzureichen hatten.184 Die Bauern taten dies in einer einheitlichen Klageschrift, die sowohl gemeinsame als auch separate Forderungsartikel enthielt. Dieses Vorgehen wurde allerdings offensichtlich vom Kammergericht abgelehnt, das die Forderungen ausschließlich separat verhandeln wollte. Ob dieses „Auseinanderreißen“ der Klageschrift tatsächlich politische Ursachen hatte, wie in der Literatur vermutet wird,185 kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Dass die Selbstdefinition der Bauern als „Christliche Vereinigung“ und die daraus abgeleitete Verbindung der Klageartikel auch juristisch problematisch war, ist dabei nicht zu leugnen. Allerdings ist ebenfalls denkbar, dass die schlichte Komplexität des Verfahrens die Richter dazu bewog, zur Vereinfachung den Rechtsstoff übersichtlicher zu gliedern. Die Umstände, unter denen das Esslinger Verfahren letztlich scheiterte, waren dramatisch. Inzwischen war der Bauernkrieg militärisch eskaliert. Auch im Schwarzwald hatten radikale Kräfte damit begonnen, sich militärisch zu organisieren und Schlösser und Klöster zu plündern. Die Herrenseite nahm dies zum Anlass, nun ebenfalls mit großer Härte gegen die Bauern vorzugehen. Ein Schreiben der bäuerlichen Partei an das Reichskammergericht legt nahe, dass die moderaten Bauern, die weiterhin auf eine friedliche Lösung ihrer Konflikte 182 Die gemeine Bauerschaft von Bonndorf, Stühlingen, und andere Ihre Mitverwandten an das kaiserliche Regiment, vor dem 20. 2. 1525, GLA Karlsruhe 71/819, wieder abgedruckt in: Baumann, Akten, Nr. 101. 183 Kanzlei des Reichskammergerichts, 20. 2. 1525, GLA Karlsruhe 71/819, wieder abgedruckt in: Baumann, Akten, Nr. 102. 184 Beschluß des kaiserlichen Kammergerichts in Sachen der Grafen von Lupfen, Fürstenberg und der Herrn von Schellenberg gegen ihre aufrührigen Bauern, 7. 3. 1525, GLA Karlsruhe 71/819, wieder abgedruckt in: Baumann, Akten, Nr. 144. 185 Baumann, Akten, 208; Oka, Bauernkrieg, 25.

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hoffte, von den Radikalen massiv unter Druck gesetzt wurden und gleichzeitig keine Unterstützung durch ihre Herren erfuhren. Obwohl man sich immer an die Verträge gehalten hätte, sei man nun gezwungen worden, den Schwur auf die Christliche Vereinigung zu leisten.186 Dieses letzte Schreiben in den Prozessakten ist weniger als Klagerücknahme, denn als dramatischer Hilfsappell zu interpretieren,187 der letztlich erfolglos blieb. Die Kampfhandlungen rund um Esslingen führten noch im April 1525 zur Flucht des Gerichts und das Verfahren versandete.188 Die Betrachtung der Stühlinger Geschichte zeigt eine erstaunliche Beharrlichkeit der unmittelbar Betroffenen, im Wege einer gütlichen Einigung zum Ziel einer Rückkehr zum Frieden zu gelangen. Erschwert wurde dieses Ziel weniger durch juristische Hürden. Das Reichskammergericht zeigt in dieser Situation durchaus ein Bewusstsein für die politische Bedeutung des Falls und lässt sich auf eine Vermittlerrolle ein, die für das Gericht eher ungewöhnlich war. Hintertrieben wurden die Versuche einer friedlichen Lösung eher durch externe Faktoren. Die Politik der vorderösterreichischen Regierung zeugt von einer mangelnden Sensibilität für die Chancen einer friedlichen Einigung. So sandte man als Unterhändler keine Juristen, sondern Soldaten aus dem niederen Adel, die gegenüber den Bauern eine herablassende Haltung einnahmen. Auf Seiten der Bauern wiederum wirkten sich die Radikalisierung von Teilen der Untertanen und deren Anspruch auf überregionale Problemlösungen bremsend auf die Chancen einer Verhandlung aus. Ähnliche Faktoren zeigen sich auch bei der Betrachtung der benachbarten Landgrafschaft Hegau. Hier einigte man sich im Riedheimer Vertrag vom Herbst 1524 unter Führung Überlingens auf einen Anlass.189 Anders als in den Parallelverhandlungen mit Stühlingen sollte die Entscheidung hier allerdings nicht von einem Schiedsgericht, sondern dem freien Landgericht in Stockach getroffen werden.190 Dessen reguläre Besetzung nicht nur mit Richtern aus dem Adel und des lokalen Bürgertums, sondern auch aus der Bauernschaft schien den Bauern einen fairen Prozess zu garantieren. Jedoch ersetzte die österreichische Regierung die gesetzmäßigen Richter des Landgerichts willkürlich durch habsburgische Kommissare und Vertreter des lokalen Adels.191 186 Eine ganze gemeine Bauerschaft der Landgrafschaft Stühlingen, der Grafschaft Fürstenberg und der Herrschaft Schellenberg mitsammt Waldau an das kaiserliche Kammergericht, 20. 4. 1525, GLA Karlsruhe 71/819, wieder abgedruckt in: Baumann, Akten, Nr. 239. 187 So zu Recht die ausführliche Interpretation dieses insgesamt schwierigen Dokuments durch Oka, Bauernkrieg, 29f.; gegen Buszello, Oberrheinlande, 72. 188 Die Akte bricht an dieser Stelle ab, weitere Prozesshandlungen sind nicht überliefert. 189 Der Vertragstext ist in der sog. Bodmaner Chronik überliefert. Ein Faksimile mit neuhochdeutscher Übertragung findet sich bei: Göpfert, Bauernkrieg, 94–97. 190 Riedheimer Vertrag, nach Göpfert, Bauernkrieg, 94–97. 191 Näher : Beger, Studien, 51–56; Muchow, Geschichte, 62. Ein zeitgenössischer Bericht des

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Dieser Versuch der österreichischen Regierung, durch eine flagrant rechtswidrige Besetzung der (Schieds-)Richterbank die Entscheidung des Landgerichts Stockach zu beeinflussen, gefährdete 1524/25 die ohnehin schwierigen Verhandlungen mit den Bauern. Als die Hegauer Untertanen am 27. Dezember 1524 zu den Verhandlungen nach Stockach anreisten und die Umbesetzung der Richterbank feststellten, protestierten sie gegen die vorschriftswidrige Besetzung des Gerichts:192 „und alß das lantgericht nach gewonlichem gebrauch nidersaß, ließen inen die herrn und vom adel reden, wie inhalt eines vertrage, so kayser Maximilian mit inen alß ein lantgraf zu Nellenburg aufgericht, sich gebüren wolte, daß diß lantgericht mit ainem landrichter vom adel und den meremteil mit edlen urtelsprechern besetzt wurde. Das widersprachen die pauren, vermainten, sie weren für das gewonlich lantgericht veranlast, und vil guetlich underhandlungen der commissarien wolte nichts verfahen, kamen ires streits für das gewonlich lantgericht zuerecht.“

Für die Bauern bedeute dies zunächst das Ende der Verhandlungen.193 Der Protest blieb aber nicht ohne Wirkung. Einige Tage später befahl Erzherzog Ferdinand seinen Kommissaren in Stockach, die traditionelle Besetzung der Richterbank nicht zu ändern: „so wurden sich des die pawern nit wenig beswern, in maynung, als ob ainicher gefer gegen inen yetz wider alt herkomen geuebt, vnd an zweifel nit clain irrungen daraus fließen, vnd, als zu besorgen, dermaßen anziehen, als ob sjlch änderung erst ditsmals mit vrtl vnd inen zn sunderm nachtail angefangen wurde.“194

Dieses Scheitern zeigt jedoch letztlich auch die Stärke der tradierten Prinzipien prozeduraler Gerechtigkeit. Die Tradition, die in Stockach eine ausgewogene Besetzung der Richterbank vorsah, konnte also zwar jederzeit durch obrigkeitliche Eingriffe in Frage gestellt werden. Sie war aber immerhin geeignet, stabile Erwartungen zu erzeugen, an denen sich konkretes Verhalten messen lassen musste. Die Kemptener Bauern machten kurze Zeit später die gleichen Erfahrungen. Die Versuche, ihre Streitigkeiten mit dem Fürstabt auf dem Rechtsweg vor dem Schwäbischen Bundesgericht klären zu lassen, wurden vom Bund hintertrieben. Wo immer die Bauern während der Auseinandersetzungen rechtlichen Beistand bei lokalen Anwälten oder Professoren der Universität Tübingen suchten, rea-

Streits findet sich in den Aufzeichnungen des Schreibers von Jörg Truchseß, abgedruckt in: Baumann, Quellen, 531. 192 Schreiber des Jörg Truchseß, bei Baumann, Quellen, 531f. 193 Beger, Studien, 55f. 194 Erzherzog Ferdinand an die Kommissare in Stockach, 10. 1. 1525, in: Baumann, Akten, 85.

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gierte die Gegenseite mit panischer Obstruktionspolitik.195 Der Weg des Rechts, das war den Obrigkeiten klar, barg immer die Möglichkeit einer Niederlage.

IV.

Schluss

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Weg in den blutigen Krieg über eine Kette fehlgeschlagener Vermittlungsversuche führte. Deren Scheitern war nicht nur der Dynamik des Konflikts und der bewussten Kriegspolitik der Parteien geschuldet, sondern auch der strukturellen Überforderung des hergebrachten Schiedssystems. Dieses war anfällig für Eingriffe von außen und einseitiger Einflussnahme, vor allem von Seiten der Obrigkeiten. Die ohnehin kleine Zahl wirklich unparteiischer Schiedsrichter schwand im Laufe der Auseinandersetzung noch mehr, die Komplexität der Verhandlungen über eine Vielzahl von Forderungen einer Vielzahl von Bauern war in der Kürze der Zeit nicht zu bewältigen. Wichtig scheint aber, dass die tradierte Hintergrundfolie einer funktionierenden Streitbeilegung es ermöglichte, Gerechtigkeitsdefizite exakt zu benennen und zu diskutieren. Der Diskurs zwischen Obrigkeiten und Bauern im Vorfeld des Bauernkriegs wurde nicht nur und vielleicht nicht einmal in erster Linie, wie in der Nachfolge Günter Franzens häufig behauptet wird, über „altes Recht“ oder „göttliches Recht“ geführt,196 sondern um die richtige Ordnung eines geregelten Verfahrens. Dies erkannten auch die Herren, als der Pulverdampf sich Mitte 1525 verzog. Auf dem Reichstag von Speyer 1526 wurde über den Bericht eines Ausschusses diskutiert, der sehr mutig die Missstände im agrarischen Bereich offengelegt hatte.197 Auch vor Ort erkannte man, dass eine permanente Politik der Exklusion größerer Bevölkerungsteile auf die Dauer die Idee des Friedens hintertrieb. Man war sich klar, dass zu den Grundprinzipien der alten Verfahrensordnung zurückgekehrt werden musste, gleichzeitig aber den strukturellen Veränderungen der frühneuzeitlichen Gesellschaft Rechnung zu tragen war.198 Bereits im Konflikt selbst verlagerte sich die Suche nach dem Recht erkennbar von den Schiedsgerichten zu den ordentlichen Gerichten. Diese Tendenz verstärkte sich 195 Hierzu näher demnächst v. Mayenburg, Mann. 196 Franz, Bauernkrieg, 1–79. Vgl. bereits Franz, Kampf, 105–145, 105f.; Bierbrauer, Recht, 210–234; Blickle, Recht, 26–39. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Thesen zum Bauernkrieg findet sich bei Buszello, Bild, 35–50. 197 Wohlfeil, Reichstag. Die Akten des Speyerer Reichstags von 1526 sind neuerdings in edierter Form greifbar : Aulinger, Reichstag; – vgl. hier besonders die Einleitung, 90–97. 198 Bahnbrechend zu dieser Entwicklung: Schulze, Bedeutung, 277–302; zustimmend: Neuhaus, Kultur, 103, der den Bauernkrieg als eine „tiefe Zäsur“ ansieht, von der an „an die Stelle gewaltsamer Niederschlagung die rechtliche Erledigung“ getreten sei.

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nach dem Bauernkrieg noch. Die Bauern von Stühlingen wie die von Kempten und dem Hegau strebten in letzter Instanz nach einem Entscheidungsgremium, das durch Kontinuität und Professionalität ausgezeichnet ist. Teilweise blieb man auch dem tradierten Schiedsgericht treu. In der Ortenau handelte man auf dem Höhepunkt des Bauernkrieges einen auf den berühmten 12 Artikeln basierenden Vertrag aus, der über Jahrhunderte die Grundlage der Ortenauer Agrarrechtsordnung blieb.199 Und auch der Konflikt in Kempten wurde 1526 mit dem Memminger Vertrag in hergebrachter Weise beigelegt.200 Neu war allerdings, dass dessen Inhalt in die Kemptener Polizeiordnung eingebracht wurde und damit Gesetzesrang erhielt. Auch dieser Vertrag war noch Jahrhunderte später Rechtsgrundlage für bäuerliche Beschwerden gegen den Fürstabt.201 Der Bauernkrieg hatte also die Mechanismen der außergerichtlichen Streitbeilegung nicht beseitigt, sondern allenfalls die Verschiebung hin zu gerichtlichen Formen der Konfliktbewältigung forciert. Dass es in der Folgezeit für 400 Jahre nicht mehr zu gravierenden Aufständen der ländlichen Bevölkerung kam, mag nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen sein, dass den Bauern nach 1525 eine ernsthafte Option angeboten wurde, Streitigkeiten mit ihren Herren in den Formen des Rechts auszutragen. Blickt man abschließend auf die These Althoffs zurück, der das mittelalterliche Schiedsgericht als einen Ort ansah, wo „Recht nach Ansehen der Person“ gesprochen und damit gesellschaftliche Ungleichheit symbolisch zementiert wurde, so sollte deutlich geworden sein, dass dies zumindest für die Streitentscheidung agrarischer Konflikte im deutschen Südwesten nicht zutraf. Vielmehr entstand dort spätestens im Hochmittelalter eine rechtlich definierte Ordnung, die vor allem auf der Gleichordnung der Parteien und ihrer Unterwerfung unter einen unparteilichen Richter basierte. Versuche der Obrigkeiten, die tendenziell inklusiven Aspekte dieser Ordnung zu beseitigen, mündeten in die Katastrophe von 1525. Erst als ihre Fundamente unter veränderten Vorzeichen neu geschaffen waren, konnte die Wiederholung eines bäuerlichen Massenprotests wie 1525 dauerhaft verhindert werden.

199 o. V., Abrede. Zu den Hintergründen des Bauernkriegs in der Ortenau vgl. Hartfelder, Ortenau, 385–443; Klein, Bauernkrieg, 129–132. 200 Mathys, Vertrag, 153–161. 201 Mathys, Vertrag.

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Ökonomismus als Gewalt

1. Wenn wir von Gewalt sprechen, meinen wir intuitiv meist physische Gewalt, Beeinträchtigung der körperlichen Integrität, also das, was juristisch unter „Gewaltkriminalität“ firmiert. Anders als oft wahrgenommen ist die in Deutschland in den letzten Jahren laut Polizeistatistik leicht, aber stetig zurückgegangen, quantitativ, nicht aber unbedingt im Grad ihrer Brutalität. Dieses Feld bearbeiten Kriminologen und Psychologen, sie entwickeln auch Programme zu Prävention und Therapie, jenseits rein strafrechtlicher Belange.1 Mehr noch erschrecken uns Formen von Gewalt, wie wir sie in Kriegen, Folter und grausamem Terror erleben, exempla docent. Will man nicht gleich auf Perversionen wie Sadismus oder Nekrophilie hinaus, fragt man sich, wie Menschen sich so bösartig verhalten können; eine Frage übrigens, die sich auch im Rückblick hierzulande stellt: Wie konnten Leute, die im Zivilleben völlig unauffällig waren und es wohl auch geblieben wären, als Soldaten in SS und Wehrmacht mörderische Verbrechen vollbringen? Offenbar ist es möglich, im Namen vermeintlicher Ideale bisher kulturell sublimierte Triebimpulse zu enthemmen und unterdrückte Wut freizusetzen. Das Wort „Selbstbeherrschung“ verrät etwas vom zivilisatorischen Druck, der unseren Trieben und Affekten auferlegt bleibt; ihn begleitet latente Wut, die sich bei entsprechender Frustration immer wieder zu entladen droht. Das gelingt besonders dann, wenn offen zur Entsublimierung aufgerufen wird. So jedenfalls sagt es die sozialpsychologische Frustrations-Aggressions-Hypothese. Freilich kommt Gewalt auch in weniger verfänglichen Formen vor: So reden wir von Naturgewalt, die moralisch indifferent, oder auch von Staatsgewalt, die 1 Pinker, Gewalt, vertritt sogar die These, dass die Gewalt in der Geschichte ständig abgenommen habe. Das Gegenteil behauptet z. B. Baberowski, Räume: Gewalt verschwindet nicht, sondern ist immer nur suspendiert. – Für einen allgemeinen Überblick siehe: Koloma Beck / Schlichte, Theorien.

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notwendig und hoffentlich geteilt ist. Sie reagiert auf eine ursprüngliche Gewalt des Naturzustands und hebt damit eine den Rechtszustand behindernde Gewalt auf, ermöglicht somit Freiheit (Hegel). Spekulativ riskant hingegen sind Überlegungen zur revolutionären Gewalt: In einem letzten Gewaltakt soll die lange Menschheitsgeschichte von Unrecht und Gewalt bereinigt werden und in eine höhere herrschaftsfreie Endzeit, z. B. im Sozialismus, übergehen (Luk/cs, Sorel, Benjamin u. a.). Noch radikaler eine ästhetisierende Feier der Gewalt als Faszinosum, als archaischer Ursprungsakt, mit starkem antibürgerlichen Affekt (Sorel, Bataille, C8line, Jünger u. a., Futurismus.), als elementar heroische Lebenstatsache gegen die zivilisatorische Dekadenz. Oder schließlich auch – mit teilweise fließenden Übergängen in der herrischen Handlungsermächtigung – das „Homo-homini-lupus“ und dann der Faschismus als Triumph der Gewalt über das Recht und der Idolisierung des kriegerischen Helden oder gar der blonden Bestie.2

2. Nicht wenige dieser Autoren beziehen sich in ihrem Revolutionspathos direkt oder mittelbar auf die Marxistische Theorie; und das geschieht dort auch mit Recht, wo es um die Kritik der politischen Gewalt des bürgerlichen Staates geht. Marx bringt allerdings ein neues Motiv ins Spiel: die Staatsgewalt verbindet sich in der bürgerlichen Ära mit einer anderen Gewalt: dem Eigentum. Diese beiden Gewalten, Staat und Eigentum, vereinen sich zur Herrschaft des Kapitals. Doch mobilisiert sich im Proletariat revolutionäre Gegengewalt, der wiederum die reaktionäre Gewalt der Bourgeoisie antwortet. Die Revolution muss man sich nicht unbedingt als romantischen Barrikaden-Aufstand vorstellen: Vielmehr entspricht der Übergang zur neuen Gesellschaft einem objektiven Prozess, kann also durchaus friedlich parlamentarisch verlaufen (Engels), wenn nicht der alte Staat mit Gewalt dagegen hält. Aber warum soll Eigentum Gewalt sein? Kant und viele Liberale haben zum Beispiel das Wahlrecht an eine eigenständige Existenz gebunden, also an Eigentum, um frei von äußerer Abhängigkeit entscheiden zu können: Besitzindividualismus. Natürlich geht es Marx nicht um das Häuschen des Bausparers, sondern um eine gesellschaftliche Dimension, in diesem Fall um die Diskrepanz von Reichtum und Verelendung. Reichtum entsteht nicht mehr durch Fleiß und kluges Haushalten wie in der Manufaktur-Periode, sondern 2 Das Beispiel schon des Neandertalers kann zeigen, dass diese „arche¯“ der Gewaltgeschichte eine Projektion ist: man weiß z. B. dass Steinzeitjäger vor über 40.000 Jahren durch Verletzung gehandicapte Clan-Angehörige solidarisch aufgefangen haben.

Ökonomismus als Gewalt

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durch die private Verfügung über die Produktivkräfte. Deren ökonomische Gewalt schlägt sich nieder in Ausbeutung und sozialer Herrschaft. Die Klassenkampf-Gewalt konnte beispielsweise durch Arbeiterbewegung und sozialstaatlichen Kompromiss von Kapital und Arbeit erheblich entschärft werden – auch wenn eine gewisse Asymmetrie von Kapital und Arbeit bestehen und die Stärke der Bataillone immer noch ungleich verteilt blieb. Diese Lösung betraf die alte industrielle Arbeitswelt; auch sie hat aber einen Wandel erlebt: den zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft (Touraine; Bell, Beck u. a.). In ihr wandert die Produktivität sozusagen aus der Fabrik in den Sektor von Wissenschaft und Technologie, bis hin zur gegenwärtigen Informationsgesellschaft. Nicht mehr der klassische Arbeiter und Eigentümer, sondern der Angestellte und Manager bestimmt das berufliche Bild. Unternehmen und Produzenten sollen im Idealfall der Politik unterstehen, was jene wiederum als enormen Auftrieb von Bürokratie und deren Herrschaft beklagen.

3. Damit wird die industrielle Produktion natürlich nicht überflüssig, sie hat nur ihre frühere ökonomische Dominanz eingebüßt. In unserm Kontext lohnt sich nun ein Blick auf kulturelle Implikationen dieses Wandels. Fangen wir ganz handfest an: Das traditionelle Legitimationsschema sah ungefähr so aus: Wer diszipliniert und ordentlich arbeitet, erhält als Gratifikation für seinen Lustverzicht Lohn und Gehalt, über die wieder Konsum als Entschädigungsgenuss versprochen wird. Doch dieses lange Zeit sehr populäre Schema trägt immer weniger. Das hat verschiedene Ursachen. Eine gut bekannte bezieht sich auf die grassierende Verteilungs-Ungerechtigkeit des gesellschaftlichen Gesamtvermögens – ganz sicher ein Auslöser von Frustration und Gewalt.3 Folgenreicher dürfte ein damit verbundener Bewusstseinswandel sein. Schon Marx glaubte ja, dass mit zunehmender Technisierung der Produktion auch die Ansprüche an das Bildungsniveau steigen müssten; seine Hoffnung, dass sich solche technischen auch in emanzipatorische Kompetenzen verwandeln würden, war allerdings trügerisch. Denn zur postindustriellen Gesellschaft gehört viel eher ein anderer Mentalitätswandel: vom Prekariat zum Bürgerlichen, vor allem die Entdeckung postmaterieller Werte, also etwa Gerechtigkeit, Freiheit, Individualität, Partizipations-Chancen, Transparenz der politisch-sozialen Prozesse, Lebensqualität und natürlich auch die ökologische Diskussion. Die postindustrielle Epoche hat noch eine andere folgenschwere Ent-Materialisierung im Gefolge; nochmals handfest gesagt: Wer heute schnell 3 Vgl. dazu Stiglitz, Reich.

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viel Geld machen will, geht nicht in die Produktion, sondern an die Finanzmärkte und spekuliert. In der jüngeren Zeit, hier bei uns also etwa nach dem Ende des „Rheinischen Kapitalismus“, haben die Bezieher höherer Einkommen (z. B. gewisse Manager) ihre soziale Macht ausgenutzt, um sich selbst finanziell reichlich zu segnen („peanuts“, Boni etc.), und zwar so, dass die Gehaltsunterschiede keinem plausiblen Produktivitätsgefälle mehr entsprechen. So wachsen in dieser Art Kapitalismus die Kapitaleinkommen erheblich schneller als die Gesamtwirtschaft.4 Zugleich haben wir aber auch erlebt, wie durch die Finanzspekulationen nicht nur riesige Gewinne abgestaubt, sondern auch ruinöse Krisen für die Gesamtökonomie und politische Destabilisierung erzeugt werden. Der individuelle Marktteilnehmer, Otto Normalverbraucher, steht der komplizierten Undurchschaubarkeit solcher Praktiken ohnmächtig gegenüber : einer fremden Gewalt.

4. Dieser Finanzmarkt ist freilich nicht plötzlich vom Himmel gefallen. Theoretisch entstammt er der Monetarismus-Schule der Chicago-Boys (M. Friedman u. a.). Monetaristen betreiben einen angebotsorientierten Neoliberalismus und wollen durch Regulierung des Geldmengen-Umlaufs die Wirtschaft steuern; und das bedingt einen Primat der Finanzmärkte. Diese Märkte sind aber global players, nicht zuletzt dank der Informationstechnologien. Was Globalisierung bedeutet, hat ein bekannter Autor als das revolutionäre Wirken der Bourgeoisie beschrieben: „Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat sie alle feudalen, patriarchalen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande […] unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose ,bare Zahlung‘. […] Die Bourgeoisie kann nicht existieren ohne […] sämtlichen gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. […] Die fortwährende Umwälzung […] die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Verhältnisse, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieepoche vor allen anderen aus […] Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht […] Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel […] Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet […] An die Stelle der alten

4 Vgl. dazu Piketty, Economics; Brown, Revolution.

Ökonomismus als Gewalt

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lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander […]“5

Diese ausgewählten Sentenzen stammen aus dem Jahr 1848: aus dem Kommunistischen Manifest. Man würde heute vielleicht von der rücksichtslosen Gewalt kapitalistischer Modernisierung reden. Und das verdampfte Ständische, Stehende und entweihte Heilige, das würden wir wohl Zerstörung der menschlichen Lebenswelt durch den Systemzwang unermüdlichen (ökonomischen) Wachstums nennen. Dieser Ökonomismus kann Anderes als seine Selbstoptimierung allenfalls als Randphänomen, eher noch als Kollateralschaden gelten lassen. Beispiele für diese Ökonomisierung des Sozialen gibt es reichlich: etwa das „unternehmerische Selbst“: Es enthält den kategorischen Imperativ des in allen Lebenslagen kreativ, flexibel, risikobewusst, eigenverantwortlich, kundenorientierten Handelnden, die Ich-AG. Wir brauchen aber gar nicht in die Ferne zu schweifen: auch im Bildungsbereich findet sich probates Anschauungsmaterial für diese Tendenz: Professoren müssen heute eigentlich unternehmerische Manager sein, um möglichst viele Projekte, damit Geld und Exzellenz einzuheimsen. Die Bologna-Reform an den Universitäten, zunächst geleitet von guten Absichten, ist in die Fänge der Verwertungsrationalität geraten: möglichst schnell und möglichst kostengünstig ein Maximum an akademischem Output bereitzustellen, Entqualifizierung in Kauf genommen. Auch die Verkürzung der Schulzeit auf G 8 ist nicht ganz frei von solchen Intentionen. Und womöglich leidet eine der wirklich großartigen politischen Ideen der Nachkriegszeit, die Europäische Union, immer mehr an der krämergeistigen Reduktion aufs Finanzielle einer Wirtschaftsunion

5. Anders als bei Klassenkampf oder autoritären Herrschern tritt das Gewaltsame am Ökonomismus nicht offen zutage. Das zeigt sich dann, wenn Occupy, Attac oder andere Empörungs-Manifestationen nach schwungvollem Beginn allmählich doch wieder erschöpft versanden; man läuft sich rasch tot, wenn man gegen abstrakte Institutionen ankämpft. So dienen diese Anläufe oft eher der internen Selbstvergewisserung (als käme es auf den Einzelnen wirklich an) denn effektiver Veränderungen; bisweilen aber schlagen diese Ohnmachtsgefühle in entsprechenden Aktionismus, also in vermeintliche Gegen-Gewalt um. Gleichwohl richtet diese anonym-systemische Gewalt andere konkrete Zerstörungen

5 Marx / Engels, Manifest, 26f.

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an, als schlechte Dialektik der Aufklärung. Sie lockt mit dem Versprechen, uns von den Mühen der Freiheit und Autonomie zu entlasten. Diesen Idealen galten alle die historischen Anstrengungen zur Emanzipation des Subjekts in Aufklärung und Moderne, in vielen Teilen der Welt werden sie den Menschen auch heute noch vorenthalten. Nun aber scheint sich ihre Bedeutung bei uns zu verkehren: Freiheit ist zur Einschüchterungsformel geworden, wir scheinen zur Freiheit verdammt. Jeder soll sein Schicksal in die eigene Hand nehmen müssen, jeder seine eigene Ich-AG mit Selbstmanagement bilden, flexibel, innovativ, durchsetzungsfreudig (aber teamfähig!) als Geschäftsführer seines eigenen Lebens.6 Wer nicht als Ladenhüter im Supermarkt des Lebens vergammeln will, muss sich auf dem Markt in Szene setzen.7 Es handelt sich, kurz gesagt, um eine ökonomistisch erzeugte Individualisierungsfalle. Adornos böses Diktum scheint sich zu bewahrheiten: Bei manchen Menschen hat man den Eindruck, es sei eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen. Der individualen Dauerüberforderung begegnet man durch Konformismus oder durch psychosomatische Pathologien; als durchgehendes Muster zeichnet sich ab, „dass authentische Subjektivität dann nur noch in einer Sphäre jenseits der Eigenverantwortung, jenseits der personalen Zurechnung und der Rechtfertigung erfahren wird“.8 Die Spielwiese für solche Rückzüge des Subjekts bildet vorzugsweise der Körper. Auf der einen Seite eignet er sich für die Exerzitien der Disziplinierung und Selbstkontrolle, also für das erwähnte Selbstmanagement; andererseits aber streikt der Körper auch und entzieht sich so ins Unkontrollierbare, verhilft aber gerade so zum Entkommen aus der Repression der Anpassungszwänge. Das mag den Eskapismus von Facebook etc. oder die Konjunktur der vielen Gesundheits-Ticks und Fitness-Ideale erklären, ebenso die Burn-out-Mode. Dieses Subjekt erlebt sich nur selbst, indem es alle offiziellen Formen der Subjektivität – Freiheit, Verantwortung, Selbstorganisation – unterläuft: das erschöpfte Selbst (Ehrenberg). Diese Disziplinierungsmacht ist die Herrschaft des Produktionsparadigmas, dem übrigens auch die sozialistische Tradition durchaus angehangen hat. Schon der trotz allem fortschrittsgläubige Marx vertraut der Systemik, der antagonistischen Dynamik der Produktivkräfte mehr als der kommunikativen Kompetenz der sozialen Akteure; er kann nicht überzeugend erklären, warum ausgerechnet das ausgepowerte Proletariat die große universale Menschheitsrevolution herbeiführen soll. Das „erschöpfte Selbst“ kann kaum jene Ich-Stärke mobilisieren, die zu solchem Widerstand nötig wäre. Man muss hier freilich differenzieren: Es gibt eine lange gegenauf6 So z. B. „Persönlichkeit“: Wenn in den Stellenanzeigen der großen Zeitungen am Wochenende eine „verantwortungsbewusste. usw. Persönlichkeit“ gesucht wird, dann ist die gerade nicht gemeint, sondern eine Figur von der Stange. 7 Vgl. Bröckling, Gouvernementalität. 8 Günther, Ermächtigung, 136.

Ökonomismus als Gewalt

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klärerische Traditionslinie, die teils religiös mit der erbsündliche Schwäche der menschlichen Natur argumentiert, teils anthropologisch mit einem instabilen Antriebsüberschuss des Subjekts: Beide konvergieren darin, dass sie die Individuen einer institutionellen Ordnungsmacht unterstellt sehen wollen, etwa einer Religion oder einem starken Staat. Diese restaurativ-altkonservative Position steht gegen den Emanzipationsgewinn subjektiver Autonomie überhaupt und ist antiliberal und modernitätsfeindlich. Die Diagnose vom erschöpften Selbst bezieht sich auf einen völlig anderen Kontext: auf die ökonomistische Funktionalisierung der klassischen Subjekt-Ideale. Deren mögliche dysfunktionale Potenz wird systemisch integriert; autonome Freiheit mit Selbstmanagement übersetzt.

6. Es entsteht eine „Normalisierungsgesellschaft“, in der sich Disziplinierung und Regulierung jeweils ergänzen (Foucault). Im Hintergrund steht dabei die Sorge, dass sich im Inneren dieses Corpus der Bevölkerung destabilisierende oder zentrifugale Tendenzen entwickeln könnten. Foucault bleibt, in gut französischer Tradition, mit seiner Machtkritik etatistisch geprägt; es sind der Staat und seine Institutionen, die sowohl disziplinieren als auch regulieren. Inzwischen haben sich die Verhältnisse so geändert, dass die klassischen Nationalstaaten gegenüber einer globalisierten Ökonomie in Verzug geraten sind und mit deren wirtschaftlicher Dynamik kaum noch Schritt halten können, sich ihr oft nur noch andienen. Hierzulande figuriert das als „marktkonforme Demokratie“. Der Begriff umschreibt einen Zustand, den man gelegentlich als „Postdemokratie“ bezeichnet.9 Die Regularien stimmen, es werden korrekte Wahlen abgehalten usw. Bei näherem Zusehen verändert sich das Bild. Wir müssen dabei nicht nur an den gigantischen Aufwand an Spenden bei US-Präsidentschaftswahlen denken, sondern einfach daran, wie auch hier Experten, spin doctors, die öffentlichen Debatten steuern, indem nur zuvor ausgewählte Themen auf die Liste kommen. In ihnen formieren sich mächtige Interessengruppen, die sich auf bisweilen monopolistische Medienherrschaft stützen können (Berlusconi, Murdoch, US-Fox). Überdies verfügen sie als global agierende Konzerne über hinreichend Drohpotential (Abwanderung von Arbeitsplätzen usw.), um ihre Privilegien behaupten zu können. Also auch ein Fall von Refeudalisierung. Angesichts dieser strukturellen Gewalt gewinnen Bürger den Eindruck, dass alle wichtigen Entscheidungen ohnehin im Hinterzimmer der Macht getroffen werden, und reagieren mit Apathie und Loyalitätsentzug (Neo-Biedermeier); 9 Crouch, Postdemokratie.

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andere wiederum im Sinne repressiver Entsublimierung: Wenn man eh nichts zu melden hat, kann man auch gleich restliche Hemmungen fahren lassen (Ausländer, Flüchtlinge, Minderheiten). Das bleibt eine ständige Gefahr für Demokratie und Rechtstaat. Es kommt hinzu, dass die frühere Attraktion der westlichdemokratischen Ideale stark im Schwinden begriffen ist; andere Großmächte führen vor, wie erfolgreich ein allein auf ökonomisches Wachstum (China, Singapur, usw.) oder militärische Stärke setzendes autoritäres Regime sein kann, auf Gewalt also. Das erscheint etlichen Dritte-Welt-Potentaten durchaus verlockend. Zugleich haben vor allem die USA viel von ihrer demokratischen Glaubwürdigkeit verloren, insbesondere durch ihre kriegerischen Interventionen und kompromittierenden Praktiken. Der Kapitalismus gründet sich, grob vereinfacht, auf zwei widersprüchliche Ursprungsmotive: zunächst auf die liberale Tradition der Moderne mit ausgeprägt individualistischen Freiheitsidealen (Locke, Rousseau, Smith, Mill usw.). Allerdings ist dieses Ideal von Anfang an mit Eigentum amalgamiert und mutierte zum Besitzindividualismus. Davor machte auch die bürgerliche Revolution von 1789 halt.10 Das andere zweite Ursprungsmotiv hat Hegel das „System der Bedürfnisse“ genannt: also den triebhaften Bereicherungswillen. Wir könnten das heute den sozialdarwinistischen Anteil nennen: struggle for life, oder noch einfacher : das Recht des Stärkeren, also Gewalt, die einem ungebändigten Raubtier-Kapitalismus zugehört. Das entwickelt sich durchaus zu einer speziellen Form von Terrorismus. „Leider ist an die Stelle der Utopie, deren Ende man im konservativen Lager so freudig begrüßt hat, jener bewusstlose Nihilismus getreten, der für eine universelle Menschengemeinschaft nichts mehr erwartet …“11

… außer stetem wirtschaftlichem Wachstum, der rasende Stillstand.

7. Kann man diese Form von Gewalt beseitigen? Da wird mancher zum Stammtisch-Experten oder Schreibtisch-Revolutionär. Es gibt in der Geschichte keine Wirtschaftsform, die trotz allem so erfolgreich war wie der Kapitalismus. Der globale Gesamtreichtum ist heute höher als je zuvor ; was wir beklagen, ist die 10 Ein interessantes Beispiel dafür bietet das „Testament des Abb8 M8slier“ (+1729): Dieses materialistisch- revolutionäre Testament eines Landpfarrers aus Etr8pigny bei Reims zirkulierte posthum (ab 1735) als Geheimtext in aufgeklärten literarischen Kreisen. Voltaire machte Diderot, d’Alembert und Helvetius mit dem Text bekannt, veröffentlichte schließlich einen Extrakt daraus mit aller Religions- und Vorurteilskritk – aber abzüglich aller ökonomisch-revolutionären Partien. 11 So Michael. Theunissen. Vgl. den Nachruf von Thomas Assheuer in „DIE ZEIT“.

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kapitalistische Unfähigkeit zur Verteilungsgerechtigkeit. Solange es keine überzeugenden operativen Alternativen gibt, bleibt nicht viel anderes als Schadensbegrenzung, also versuchsweise Zähmung des inhärenten Gewaltpotentials. Die erreicht man nicht durch Gardinenpredigten und moralische Appelle, sondern mit dem Aufschließen innerer Widersprüche, also der internen Legitimationsprobleme. Ein allen bekanntes Beispiel dafür bietet die Ökologie: Das Versprechen ständig steigenden Wohlstands wird konterkariert durch die lebensgefährdenden Unkosten, die damit verbunden sind. Die aktuellen Konflikte um den Übergang zu alternativen Energien mit den widerständigen Traditionsindustrien verdeutlichen auch, dass die klimapolitisch erheischte Energiewende noch nicht profittüchtig geworden ist: Mit anderen Worten: Die ökologische Umsteuerung erscheint als Geschäftsidee noch nicht interessant genug. Oder nehmen wir die aparte Sache mit den zunehmenden gated communities: Multimillionäre schützen sich in streng bewachten Wohnanlagen vor jenen, die ihnen als Kunden oder Angestellte den Reichtum miterarbeitet haben. Und auch wenn sie die Wallstreet nicht gleich erzittern lässt: Es gibt immer noch so etwas wie „Kultur“, in ihren besten Kunststücken ein Spiel des interesselosen Wohlgefallens, Zweckmäßigkeit ohne Zweck, Freiheit und Schönheit statt Gewalt und Profitzwang. Auch das nicht ungefährdet: Wenn Kunstmärkte als Geldwaschanlage fungieren oder Sport zum Geschäft oder zur Arbeit degeneriert. Wieder andere versuchen eskapistisch mit Flucht und Rückzug, zum Beispiel ins vermeintlich heilere Landleben, zu reagieren; übersehen dabei allerdings manchmal, dass sie die Unnatur der ökonomisierten Gesellschaft gegen einen Idiotismus des Landlebens eingetauscht haben. Möglich auch, dass religiöse Überzeugungen widerständig werden können,12 insofern sie die Erinnerung daran, dass unsere Wirklichkeit nicht schon die letzte Wahrheit sein muss, wachhalten; Religion kann die Differenz von sichtbar und unsichtbar sichtbar machen. Und mit ihrer christlichen Herkunft aus dem Stall, nicht aus dem Palast, gilt ihre Parteilichkeit nicht unbedingt den Gewinnern und Reichen. All dies gehört in den weiten Kontext einer reflektierten Moderne, die ihre Herkunft gleichursprünglich aus Athen und Jerusalem begreift. Zum Schluss noch eine politische Perspektive: Es wird viel darauf ankommen, ob die vielzitierten „westlichen Werte“, die ja Sprösslinge der europäischen Aufklärung sind, so überzeugen können, dass sie nicht nur als Prinzipien, sondern auch faktisch universale Geltung erlangen und damit auch als Schranke eines globalisierten Raubtierkapitalismus fungieren können. Die Weltmacht USA hat 12 Religionsgeschichtlich hat etwa Ren8 Girard in „Das Heilige und die Gewalt“ am Beispiel der prähistorisch-anthropologischen Funktion des Opfers die Gewalt-Bändigung des Heiligen beschrieben. Vgl. auch den anderen Ansatz von Armstrong, „Im Namen Gottes“.

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dafür, wie schon erwähnt, erheblich an früherer Glaubwürdigkeit eingebüßt. Es wäre also umso wichtiger, dass die 500 Millionen Europäer sich nicht nur ihrer ökonomischen Potenz versichern, sondern auch ihrer politisch-kulturellen Erbschaft, wozu auch 50 Jahre friedlichen Miteinanders nach unendlichen Gewaltexzessen der Vergangenheit gehören. Leider zeigt sich aktuell nun, dass, neben gewissen internen Demokratie-Defiziten, nicht allein ökonomistische Motive, sondern auch Anfälle politisch-nationalistischer Regression wieder destruktive Gewalt erzeugen. Europa scheint in der jetzigen Form unfähig, höhere Solidaritätszumutungen zu akzeptieren, bedauerlicherweise vor allen in jüngeren östlichen Beitrittsländern. Es könnte sich deshalb jene rumorende Tendenz verstärken, die die EU in ein Europa der zwei Geschwindigkeiten je nach politischem Entwicklungsgrad aufteilen möchte.

Literatur Armstrong, K., Im Namen Gottes. Religion und Gewalt, München, 2014. Assheuer, T., Nachruf. Zum Tode des Philosophen Michael Theunissen, in: DIE ZEIT 17/2015, 23. April 2015. Baberowski, J., Räume der Gewalt, Frankfurt/M., 2015. Brown, W., Die schleichende Revolution, Berlin, 2015. Bröckling, U., Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt/M., 2000. Crouch, St., Postdemokratie, Frankfurt/M., 2008. Girard, R., Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt/M., 1994. Günther, K.; Zwischen Ermächtigung und Disziplinierung, in: A. Honneth (Hg.), Befreiung aus der Mündigkeit, Frankfurt/M., 2002. Koloma Beck, T. / Schichte, K. (Hg.), Theorien der Gewalt, Hamburg, 2014. Marx, K. / Engels, F., Manifest der Kommunistischen Partei, Stuttgart 1969. Piketty, T., The Economics of Inequality, Cambridge/MA, 2015. Pinker, S., Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt/M., 2011. Stiglitz, J., Reich und Arm, Berlin, 2015.

Tony Neelankavil

Roots of Religious Violence in India

Violence and Religion? Is violence a principal topic to be studied? The answer is in the affirmative because there are violent people out there. An in-depth search within ourselves as humans reveals the presence of violence to various degrees within us. The topic also suggests that there is a link between violence and religion. Do religion and violence go together? Or should violence and religion not cancel each other out? An atheist may argue in the following manner : ‘If there is violence in a religion, then that religion is no religion. Its god is no God. Since there is violence in religion, I believe neither in religion nor in God’. In response, we may have to come back to the question of the violence within us. Because we find violence within humans and violence should not belong to humanity, should we deny human existence? On the contrary, we need to reflect further on how violence finds its way into human existence even though it is an anomaly. Lorenzo Magnani, in his book, Understanding Violence: The Intertwining of Morality, Religion and Violence: A Philosophical Stance, has criticised the way scholars dismiss violence as something ‘trivial, bad, intolerable, confused, ineluctable, marginal and hence not worthy for any serious consideration’.1 According to him, this topic should not be simply left for historians, sociologists, psychologists, criminologists or anthropologists. Philosophers and theologians, while remaining in their respective worlds of intellectual pursuit, need to engage in the seemingly paradoxical realities in life and function as applied scientists. Magnani, as a philosopher, finds space in his philosophical enterprise for an ethical pursuit of the topic of violence. How does a certain ‘morality’ paradoxically demand that we ‘respect’ violence? ‘Violence is performed on the basis of strong convictions and deliberations, whether these are morally correct or not’. People tend to take these convictions for granted. Often one becomes violent towards another person when convictions and standpoints differ. Why 1 Magnani, Understanding, vii.

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do we react violently in the face of different and even opposing standpoints? Does this mean that humans are ‘intrinsically violent people’? Violence is linked to contexts of hostility. These contexts are mostly multifaceted, inviting us to approach the problem of violence from an interdisciplinary perspective. Its rootedness in one’s convictions makes it also a theme for religious sciences and ethics. Violence is used as a political tool in multiple ways – to unite and divide, to produce fear and impose compliance, to provoke or neutralise mobilization, to resist domination or to impose subordination and so on. It is either presented as the only path for liberation or the inevitable road to annihilation and destruction. Again, it is taken as a necessary means for transformation or as the ultimate means of avoiding change and defending the status quo.2 The ambivalence of violence invites us to a deeper analysis into the dynamics of violence in humans as well as in religion. This article deals with certain instances of religious violence in India.

Religious Violence in India India is the second most populous country in the world. India’s population was 1.21 billion according to the 2011 census. There was also an increase of 182 million people over ten years, an increase of 17.64 % (the population according to the 2001 census was 1.02 billion). There is an overarching religious atmosphere in India. It is the birthplace of four world religions: Hinduism, Buddhism, Jainism and Sikhism. Christianity and Islam reached India soon after their birth. The table below gives a picture of India’s religious configuration. Religion Hinduism

Percentage 79.8 %

Total 966.26

Male 498.31

Female 467.95

Muslim Christian

14.23 % 2.30 %

172.24 27.82

88.27 13.75

83.97 14.07

Sikh Buddhist

1.72 % 0.70 %

20.83 8.44

10.95 4.30

9.88 4.15

Jain Other religions

0.37 % 0.66 %

4.45 7.94

2.28 3.95

2.17 3.98

Not stated 0.24 % 2.87 1.46 1.40 Based on C-1 Population by Religious Community, published by the Office of the Registrar General, Government of India3

2 Institute for the Development of Education, Violence. 3 Cf. http://www.censusindia.gov.in/2011census/c-01.html, accessed on 10-09-16.

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The tribal people are integrated into Hinduism, though many tribes themselves do not wish to be included under that heading. Christians include all Christian denominations. Among the people categorised as ‘other religions’ include Zoroastrians, Jews and Baha’is. Only 0.24 % of the population has not stated any religion. Interestingly, the population growth rates of all the major religions have decreased in the last decades. The Hindu population growth rate has decreased from 19.92 % to 16.76 %; the Muslim population growth rate has fallen from 29.52 % to 24.60 %; the Christian population growth rate has dropped from 22.52 % to15.5 %; the Sikh population growth rate has decreased from 16.98 % to 8.4 %; and the Jain population growth rate is now just 5.4 %. Statistical experts forecast that the Hindu, Muslim and Christian population growth rates are expected to fall considerably by 2021.4 Plurality in the religious configuration of India is only one of the various dimensions of diversity in India. In fact, diversity is at the core of the Indian ethos. A Tamil Hindu and a Tamil Christian have more in common than a Tamil Hindu and a Haryana Hindu, though both Tamil and Haryana Hindus belong to the same religion. There are twenty-three official languages in India, including English. None of the languages can claim majority status. Hindi is the most commonly spoken language, but only 40 per cent of the Indian population speaks Hindi as their native language. Apart from these official languages, there are 415 Indian languages listed in the world languages list, out of which 24 languages are spoken by more than a million people. In order to confidently build up an Indian ethos in which unity is possible without arriving at uniformity in religion, caste, class and language, Indian sensibilities highlight nonviolence as the core Indian virtue. In spite of these attempts, however, our analysis agrees with that of many political and historical analysts that violence has been playing a considerable role in the transformation of meaning and practices in Indian politics.5 The current government in India, headed by Prime Minister Narendra Modi of the Bharatiya Janatha Party (BJP), came to power on 16 May 2014. The prime minister and his party share the ideology of Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), a Hindu fundamentalist movement and its offshoots such as Vishwa Hindu Parishad (VHP) and Siva Sena. Many Hindu fundamentalist fractions consider the victory of BJP as the victory of Hindu majoritarianism and consider it as a license to infringe on the religious and secular rights of the minority religions. There were several instances of intimidation and attacks by religious and caste-based groups against people of other faiths, journalists, authors, artists and human rights defenders, when they openly criticised the situation of 4 Cf. http://www.census2011.co.in/religion.php, accessed on 10-09-16. 5 Kapila, History, 439.

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religious intolerance in the country. Dozens of Indian authors, scientists, historians and film industry workers have returned national awards they received in protest against the suppression of student campaigners against religious intolerance, the murder of scholars and mob-killing of the marginalised, especially of the dalits (the ‘untouchables’ in the caste system and the ‘oppressed’ in the language of the so-called low caste people) over rumours of cow slaughter. Apart from a few instances of rhetorical reactions, many accuse Modi and his government of remaining largely silent in the face of such assaults in the name of a majority culture. The situation highlighted above is preceded by a sequence of events in independent India. We only mention here four major events from the snippets of religious violence in India of the previous four decades. The anti-Sikh riots in 1984 were the aftermath of the assassination of then Prime Minister Indira Gandhi by two of her Sikh bodyguards. At least 3,000 Sikh were killed and many more homeless. A Hindu-Muslim riot arose in the wake of the 1992 demolition of the 16th century Babari Masjith mosque by Hindu fundamentalists. The Hindus claimed that it was originally a temple at the birth place of Sri Rama, the seventh incarnation of Hindu God Vishnu. The riot claimed the lives of 3,000 people. In 2002, another Hindu-Muslim riot surged after Muslims of the city of Godra were said to have set fire to a train carrying Hindu extremists to the controversial site of Ayodhya. Sixty people died in the fire and the reprisal thereafter claimed 700 lives and left 56,000 people homeless. The murder of a Hindu Sanyasi, Swami Laxmanananda on 23 July 2008 triggered violence against Christians and cost nearly 100 lives. According to Anto Akkara’s study on the three-month pogrom conspired by Hindu fundamentalists, 300 churches were destroyed and 56,000 Christians were displaced as Hindu fanatics torched 6,000 Christian houses.6

Religious Violence and the Trauma of the Partition of the Subcontinent While there are reports of religious violence quite regularly appearing in the media, the Government of India does not officially provide statistics on religious violence for varied reasons. Often, the reason suggested is not to further escalate communal sentiments of enmity causing additional harm. Further, religious violence in India has been discussed mostly in the context of Hindu-Muslim tensions. Scholars are often accused of disregarding those instances of religious

6 Cf. Akkara, Who Killed.

Roots of Religious Violence in India

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violence that affect other minority religions and communities.7 A consequence of these problems regarding data is that the reports of the affected communities are often based on inflated data, influenced by their respective biases and prejudices. Hence, scientific study on ethnic violence has been highly problematic. The custom of not publicizing factual reports of religious violence is often seen as carried over from the period of colonial British rule of India. The colonial British narrations of communal violence were mostly reports of the so-called ‘bare facts’ that were thoroughly interpreted, and even constructed, out of prejudices and biases. They were intended to argue that inter-religious and intercommunal conflicts could only be exterminated by a strong colonial hand.8 Many Indian scholars argue that the British fostered Islamic communalism as part of their ‘divide and rule’ policy in order to counter the growing nationalism. Others consider that the religious revivalism of the last quarter of the 19th century resulted in an affirmation of religious identity in contrast to others. John R. McLane argues that the potential of hostility and violence between Muslims and Hindus was already gaining momentum, though at a slow pace, during the partition of Bengal in 1905 in certain regions. In these areas, Hindus enjoyed ‘a disproportionate share of economic, educational and administrative opportunities while Muslims had outstripped the Hindus. Riots between lower class Hindus and Muslims were quite infrequent. Antagonisms escalated only in the uncommon occasions of reconversion (suddhi) efforts from Arya Samaj, Hindi-Urdu controversy and the cow protection movements’.9

The long cherished dream of independence was realised on 15 August 1947. However, while the British empire acknowledged the independence of the subcontinent, the British also divided it into two countries – Islamic Pakistan and constitutionally secular India – which was preceded and followed by horrific massacres of Muslims, Hindus, and Sikhs. It was soon evident that the dream of independence had become a nightmare since it was accompanied by a gush of religious and ethnic violence. The partition of India has been described as ‘the fundamental and originating trauma of Independence’.10 It is estimated that the terrible experience of the partition of India left around 2 million dead, 75,000 7 Though we are aware of this problem, this article focuses mainly on Hindu-Muslim tensions because of the particular historical context we have chosen for our study. 8 Cf. Pandey, Construction. 9 McLane, Decision, 221. For further analysis on the British decision to partition Bengal and the communal attitudes thereof, cf. Ray, Attitudes, 34–46. The article analyses how Lord Curzon, the then Viceroy of British India opted for incorporating the Muslim majority districts into the newly formed Province of Eastern Bengal and Assam, thus gaining the support of the Muslims against the Hindu opposition to the partition. 10 Datta, Trauma, 317.

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women violated and 12 million homeless. The snippets of religious violence in India mentioned earlier reveal how the trauma has recurred in the history of independent India. The analysis of violence involving religious sentiments in colonial India at the beginning of the 20th century echoes many of the important facets of religious and communal conflicts in present-day India. Hence, retrieving the memories of the past helps us to identify as well as address the problems of today. Thus, we focus on the violence-nonviolence debates in colonial India. In our view, such an analysis will equip us to approach the question of religious violence in India with the right perspective.

Nonviolence and India’s Independence India’s independence is seen as a victory of nonviolence and Mohandas Karamchand Gandhi, respectfully called Mahatma Gandhi, has been regarded as synonymous with nonviolence. His influence finds no bounds. Gandhi was born on 2 October 1869. He was a lawyer trained in London and established a successful practice in South Africa. He encountered a system of racial discrimination in India, London and the worst in South Africa, leading him to become a social activist against discrimination. In 1915, he returned to India, abandoning his career as a lawyer and turned towards political action through Satyagraha, literally translated as ‘hold fast to the truth’, which is Gandhi’s philosophy of conflict resolution and his method of nonviolent action. In 1920, he began a nationwide non-cooperation campaign as his first attack on the colonialist system, which brought him widespread national as well as international attention. Many social and political resistance movements and crisis resolutions were inspired by the nonviolence movement of Mahatma Gandhi.11 Often Gandhi’s nonviolence is interpreted as a mere idealist philosophy or an inner conviction. According to Hannah Arendt, the German-born Jewish American theorist, the nonviolent strategy of Gandhi led to the successful decolonization of the country only because of the fragility of the British imperial state of the time. The British empire was so weak that it could not afford to channel its energy to suppress the Indian independence movement. If the state of Britain had been in a much more powerful position like Russia during the period of Stalin or Germany during the 11 Martin Luther King, Jr. was among the many whose social involvements were greatly influenced by this nonviolent revolutionary. According to Richard B. Gregg, American pacifist leader and a follower of Gandhian nonviolence, already in 1922 Mahatma Gandhi ‘seemed more like Christ than anyone I had heard of in the present world’. Cf. Kosek, Richard Gregg, 1323.

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period of Hitler, it would have used violence resulting in massacre and submission. According to Arendt, India and Gandhi’s nonviolence were in an advantageous position because a weak British imperial power had to restrain itself from any violent attack for fear of a boomerang effect.12 Though Hannah Arendt’s essay, On Violence, is still acclaimed as groundbreaking, Shruti Kapila from the Cambridge Faculty of History critically looks at some of Arndt’s presuppositions regarding the relationship between violence and power.13 She questions Arendt’s presupposition that the ‘state is the legitimate, all-powerful author of violence and indeed holds the monopoly on it’.14 Arendt considered the dynamics of violence – whether it be sanctioning or restraining from violence – as the prerogative solely of the state. Kapila questions this link between violence and the modern state. Instead, she draws our attention to the situation of India during the freedom struggle, where violence was not always directed to the colonial government but to the fellow Indians belonging to different religions and castes. Kapila calls us to shift our approach to violence from a narrowly constructed linkage between state and citizens to a broader context that takes all players into account. Hence, she distances herself from a linear discussion on the nonviolent Gandhian approach versus the British colonial government and moves towards a conceptual and practical debate on violence and nonviolence existing during India’s freedom struggle.

Tilak, Violence and the Pre-eminence of the Political Bal Gangadhar Tilak (1856–1920), respectfully called Lokmanya Tilak,15 is indeed one of India’s greatest nationalists; he is also one of ‘India’s most misunderstood prophets’.16 Indian historiography has often presented him as ‘an extremist nationalist, an agitator and a chauvinist, opposing moderate nationalists, constitutional men and polite petitioners who led the freedom struggle until then’.17 Current scholarship, however, informs us that he was one of the greatest leaders and central thinkers of the Indian freedom struggle, long before Gandhi returned from South Africa and began to influence the Indian National Congress. One cannot deny that Tilak’s critique of the ‘moderate’ and ‘anglicised’ leadership of the Indian National Congress, India’s political base for the

12 13 14 15 16 17

Cf. Arendt, On Violence, 53. See also Arendt, Supplement. Kapila, History, 437–457. Kapila, History, 438. lokmanya literally means ‘accepted by the people’. Grover, Tilak, xi. Kapila, History, 440.

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struggle for independence, made visible the conservative and religious dimensions of the Indian ethos. His involvement in the cow protection movement and defense of religious symbols and community values became a method of mobilizing people for mass politicization. Such mobilizations occur at regular intervals, though temporarily.18 If Gandhi’s nonviolence had sublimated the political and ideological strand of Tilak, these recurrences would not have happened. Though Tilak is in no way responsible for these violent outbreaks, the legacy of Tilak ‘did make violence possible, plausible and conceivable’, says Kapila.19 Gandhi’s nonviolence is commemorated in postcolonial India, especially when ethnic violence, riots or pogroms occur. However, Kapila believes that the political unconscious of twentieth-century India still carries the legacy of Tilak, which needs to be unveiled in order to approach the link between violence and the political.20 One of his statements in the 1890s electrified the freedom struggle: ‘Swaraj is my birth right and I shall have it’.21 By the opening years of the twentieth century, Tilak emerged as one of the central ideologues of the Swadeshi movement, which focused on boycotting British products and the revival of domestic (swadeshi) products and processes of production. Tilak became so popular for pioneering this movement that even Vladimir Lenin declared him as the revolutionary figurehead of Asia.22 The failure of the Swadeshi movement with the partition of Bengal in 1905 prompted many of its leaders, like Aurobindo Ghose and Rabindranath Tagore, to step back from public life. However, the awareness of the tyrannical power of the colonial state, which was evident in the failure of the Swadeshi movement, forced Tilak to critically reflect on the dynamic needed for an agent to confront such an asymmetrically oppressive power as the British. He found that the virtues of renunciation and detachment, which are promoted by the traditional interpretation of Bhagavad Gita, only weakened the capacity of the nationalists to confront the British. Tilak’s own interpretation of Gita, found in his work, ‘Srimad Bhagavdgita-Rahasya’,23 seeks to understand interventions not merely as selfless action, but as affirmation of the subject in the face of an event. The rupture in the nature of historical time by the subject where event is

18 19 20 21

Blom / Jaoul, Moral, 2. Kapila, History, 440. Kapila, History, 441. Uncited source. The term swaraj comes from two terms – swa (self) and raj (rule or government). It means the mastery of the freedom of the self or the ‘rule of the self ’. In the context of the freedom struggle, the term meant home rule or self-government through emancipation from the British. 22 Lenin, Liberation, 14–15, quoted in Kapila, History, 444. 23 Tilak, Srimad Bhagavdgita-Rahasya.

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central, makes the political superior to the ethical – a point quite different from the commentaries on Gita up to that time.24

The Ethical and the Political: Gandhi and Tilak in Conversation The the self/other dichotomy in Hindu-Muslim relations in terms of friend and foe is considered as a relatively recent construct by the colonial and Hindutva traditions. Both Gandhi and Tilak tried to retrieve the age-old tradition of looking at the relationship between Hindus and Muslims in terms of kinship and brotherhood. Both acknowledge that a fraternal relation exists between Hindus and Muslims, in contrast to the British, the ‘Outsider’. Gandhi writes in Hind Swaraj: ‘Any two Indians are one as no two Englishmen are’.25 Both leaders’ approaches to violence need to be assessed in terms of sacrifice and kinship, but in two different directions. Violence between Hindus and Muslims, therefore, has been understood as a rupture of fraternal enmity that is only temporary, as in any kinship. Kapila analyses the two seminal works of Gandhi and Tilak, respectively, to retrieve this dynamics of violence in the Indian ethos. Gandhi and Tilak both wrote these works in 1908. Gandhi wrote Hind Swaraj aboard a ship from London to South Africa in his mother tongue, Gujarati,26 while Tilak wrote Srimad Bhagavdgita-Rahasya from his prison cell in Rangoon in his mother tongue, Marathi. Kapila brings them in sharp contrast to show that ‘Gandhi is the pre-eminent ethical thinker while Tilak is the arch-theorist of the political India’.27 All religions exalt satya, truth. Gandhi understood truth in terms of law and ethics. Hence, telling the truth or lie poses an ethical dilemma. The ethical commandments call for fidelity and non-reflexive obedience. However, Tilak considers nonviolence as weak at combating discrimination and judgement. For him, satya is not a matter of ethics, but a matter of conduct.28 He argues that ‘the root meaning of the word satya is “which exists”, that is, “which never ceases to exist”, or which is not touched by the past, present or the future’.29 For Tilak, the structural silence of truth for nonviolence cannot be acknowledged because it 24 For a detailed analysis of Tilak’s vantage point in interpreting Gita by making use of the understanding of the political as an event in Alain Badiou, see Kapila, History, 444–449. 25 Gandhi, Hind Swaraj, 439. 26 Gandhi, Home. 27 Kapila, History, 439. 28 The Gandhian approach is analogous to the Christian tradition of orthodoxy, while Tilak’s approach is analogous to the Christian tradition of orthopraxis. 29 Tilak, Srimad Bhagavdgita-Rahasya, 45. See also Kapila, History, 448–449.

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jeopardises the relationship between truth (satya) and nonviolence (ahimsa). His argument comes from the third common rule in Indian traditions along with satya and ahimsa, namely, not-stealing (asteya). Theft calls for a situation of exception that makes truth redundant and, hence, opens up space for violence as an exception.30 For Tilak, the fraternal is a given relationship with a friend or stranger that opens up the real possibility of conversion. The core of fraternity is ‘sameness’ for Tilak, hence the need for conversion in the face of differences. Enmity in the context of the fraternal is not permanent; it should be seen as analogous to a situation of brothers in conflict. The fraternal is natural and demands ethical clarity. However, we live in an epoch of immorality (kaliyug) or of the rule of evil, in which nonviolence (ahimsa), the highest form of religion, is suspended, according to Tilak. The contexts of strained relationships are exceptions that need disruption for the sake of mutation. In repressive situations, violence may become one’s sacrificial duty and the fraternal may act like an ‘outsider’, according to Tilak. There is the possibility for a temporary violent action in a particular ‘event’ till the ‘outsider’ becomes ‘insider’. Thus his interpretation gives space for acts of violence in which killing is naturalised. In line with the spirit of Bhagavad Gita, however, he insists that this act should be a ‘desireless’ action, which means, an act without any self-interest, but only in order to bring back the ‘outsider’. For Gandhi, the fraternal friend is what constitutes the ‘other’. The ‘other’ for Gandhi is not only outside of oneself but also relational in character. Fraternal, for him, is neighbourliness. Ajay Skaria, who has worked on Gandhi’s key concept of neighbourliness, explains as follows: ‘Neighbors shared nothing less (or more) than the kinship of all life; beyond this, the neighbor was marked by an absolute difference that could not be overcome by shared history or culture. In the face of such absolute difference, relations were created through tapasya, or suffering’.31

Nonviolence, understood in terms of neighbourliness, rests precisely in ‘coexistence keeping the respective differences in tact’32 and in sacrificing oneself to affirm the absolutely other. Many Gandhian scholars have noted the influence of the Christian Gospel, especially the sermon on the mount in this regard, which, in my opinion, Kapila has not taken seriously. Tilak’s emphasis on ‘sameness’ in the fraternal allows him to convert the other even with violence and permits him to consider it a sacrifice. Gandhi’s emphasis 30 One can fine elaborate arguments about exceptions to truth in Tilak, Srimad BhagavdgitaRahasya, 46ff. 31 Skaria, Gandhi’s Politics, 957. 32 Kapila, History, 440.

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on neighbourliness, on the other hand, cannot opt for violence because of the affirmation of the absolute difference and friendship involved in kinship. Instead, Gandhi opts for sacrificing oneself for the sake of living together in kinship with differences. Gandhi’s neighbourliness makes sense in an ideal situation of absolute difference and equality. However, when Gandhi was challenged by what Tilak calls exceptions, he had to propose different kinds of dialogue for political negotiation between people placed in different sociopolitical levels in society. He advocates three modes of dialogue: ‘the mode of friendship (mitrata) towards equals, as for example between Hindus and Muslims; of service (seva) towards subordinates, as for example between upper castes and the dalits, the oppressed (in Gandhian terms “children of God” (harijans); and, finally the mode of nonviolent appeal for truth (Satyagraha), as for example between the Indian population in relation to their colonial British government’.33

If we are to bring the approaches of Tilak and Gandhi in conversation, one could note the weakness of the Gandhian ethic to deal with situations of extraordinary inequality. Gandhi’s romanticisation of the plurality loses the critical edge to interrupt the situation for the sake of equality. Gyanendra Pandey rightly identifies the problem of Gandhi in too easily fixing ‘groups of people in a specified place in the social hierarchy – that of equal, dominant, or subordinate, to be met with mitrata, satyagraha or seva – and the homogenization of whole groups of people in order that they could be fixed’.34

Pandey asks an array of questions in this regard. Are Muslims and Hindus undifferentiated categories? Could we not treat the dalits on equal terms, rather than romanticising their unprivileged situation calling them daridranarayanan (God in the form of poor)? The question is raised whether Gandhi’s ethical approach to socio-political inequalities has the strength to transform society and the political.

Concluding Remarks The preceding paragraphs have tried to analyse the relationship between violence and religion in India, specifically focusing on the violence-nonviolence debate during India’s freedom struggle. We have reread the writings of Tilak and Gandhi in order to identify two viewpoints on this relationship that converge as well as diverge in various dimensions. In line with the argument of Shruti Kapila and many others, we have tried to show that a mere glorification of India’s 33 Skaria, Gandhi’s Politics, 957. 34 Pandey, State, 162.

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heritage of nonviolence is not sufficient for addressing the current interreligious crises India is facing. We need to retrieve the genuine concerns of leaders like Tilak, who were marginalised as ‘extremist nationalists’ in independent India. Perhaps this long neglect has returned today in the form of extremist violence on the Indian subcontinent. Few insights can be drawn from the above analysis. The discussions above clearly show how Tilak has been misinterpreted as the source of the later Hindutva ideology of the RSS. Tilak reflected on the fraternal call for conversion and temporary violence necessitated by asymmetrical relationships within the framework of a family relationship, whereas the Hindutva call for conversion to Indian identity is not relational in character. Instead, it is blind towards the multidimensional character of Indian society. The Hindutva forces admonish Indians of various religions to convert to an Indian identity, which is in fact, the Hindutva version of an artificially construed and homogenous identity that does not reflect the true Indian ethos. Moreover, it becomes dangerously fundamentalist and threatens the very existence of differences when sameness is associated with Hindu racial purity. Indian discourse on secularism mostly takes for granted the role of religions in dealing with differences. Whenever the notion of secularism made inroads to India, we saw upsurges of ‘fundamentalist’ counter-movements to bring back religion to public life. Some of the European criticisms of some forms of secularism question the presumption that religions are prone to violence when mixed with political life, and hence a strict separation between religion and state is inevitable.35 Our analysis, though not comprehensive, shows how religions empowered Indians to address the question of living with differences. Indeed, the Indian ethos does not foresee a dichotomy between religion and state because it sees religion as a way of life, rather than a set of doctrines that are completely divorced from public life. The Indian constitution proposes a secularism which is not anti-religious, but maintains neutrality towards every religion. The state should neither endorse one religion over another religion, nor over atheism, or vice versa.36 Since religion is understood as a way of life in India, our perspectives on violence and religion spontaneously took the socio-political and economic life of the people and their affiliations seriously. Our analysis also questions a mere glorification of the Indian context of diversity. An uncritical acceptance of India’s multicultural context only acknowledges ‘the diversity existing between equal cultures, seeking respect for their common rights’.37 Gandhi’s understanding of diversity falls into this cat35 Cf. Cavanaugh, Myth. 36 Bhargava, Secularism, 636–655. Rajeev Bhargava explains seven characteristics of Indian secularism. 37 Parker Gumucio, Conflicts, 320.

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egory. However, it does not adequately address an asymmetric situation of conflicting cultures and religions as is evident in our analysis of violence during India’s freedom struggle. We need to further search for an alternative framework that can address the question of harmony by not only taking differences seriously, but also by genuinely and critically engaging with the various conversation partners. We believe the framework of interculturality can take the ‘diversity of cultures in asymmetric positions of power’ seriously. India needs to unearth her resources for such genuine intercultural and interreligious encounters. For example, mutual hospitality and the custom of sharing the festal foods of one religion with believers of other religions promote not only a genuine dialogue of life but also a mutual understanding of differences and similarities. We need to explore intercultural spaces in tune with the changing socio-cultural and economic life of the people.

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Verzeichnis der Abkürzungen der antiken Quellen

1Kor 1Thess 2Kor Ann Ant Apg Aug bBQ BerR bSan bSchab DER Dio C. Dtn Ep (mor) Epikt. Ex Gal Gen Hab Hebr Jer Jes Joh Jos Jos. Kol Lev Lk

1. Korintherbrief 1. Thessalonicherbrief 2. Korintherbrief Annales Antiquitates Apostelgeschichte Augustus Babylonischer Talmud, Traktat Bava Qamma Bereschit Rabba Babylonischer Talmud, Traktat Sanhedrin Babylonischer Talmud, Traktat Schabbat Derekh Eretz Rabba Lucius Cassius Dio Deuteronomium (5. Buch Mose) Epistulae morales Epiktet Exodus (2. Buch Mose) Galaterbrief Genesis (1. Buch Mose) Habakuk Hebräerbrief Jeremia Jesaja Johannes(evangelium) Josua Josephus Flavius Kolosserbrief Leviticus (3. Buch Mose) Lukas(evangelium)

244 LXX mBQ mHag mMakk Mk mSan Mt Phil Prov Ps Röm Sach Sen. SifDev Spr Suet. Tac. tHag Tib

Verzeichnis der Abkürzungen der antiken Quellen

Septuaginta (griech. Übertragung der Hebräischen Bibel) Mischna, Traktat Bava Qamma Mischna, Traktat Hagiga ˙ Mischna, Traktat Makkot Markus(evangelium) Mischna, Traktat Sanhedrin Matthäus(evangelium) Philipperbrief De providentia Psalm(en) Römerbrief Sacharja Seneca Sifre Devarim Sprüche (Proverbia) Sueton Tacitus Tosefta, Traktat Hagiga ˙ Tiberius

Autorenverzeichnis

Dr. Egbert Ballhorn ist Professor für Exegese und Theologie des Alten Testaments am Institut für Katholische Theologie der TU Dortmund. Dr. Friedmann Eißler ist wissenschaftlicher Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in Berlin. Dr. Jochen Flebbe ist Privatdozent für Neues Testament an der EvangelischTheologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Lehrkraft für besondere Aufgaben für Neues Testament und Religionspädagogik an der Universität zu Köln. Dr. Görge K. Hasselhoff ist Privatdozent für Kirchen- und Theologiegeschichte im Institut für Evangelische Theologie der Fakultät 14 Humanwissenschaften und Theologie der Technischen Universität Dortmund und Mitglied des ERCProjekts „The Latin Talmud“ an der Universitat Autknoma de Barcelona, Katalonien. Dr. David von Mayenburg ist Professor für Neuere Rechtsgeschichte, Geschichte des Kirchenrechts und Zivilrecht am Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Dr. Tony Neelankavil ist Professor für Systematische Theologie und Rektor des Marymatha Major Seminary, Thrissur, India. Dr. Werner Post war Professor für Philosophie an der Universität Dortmund von 1987–2007. Dr. Cornelia Richter ist Professorin für Systematische Theologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Co-Direktorin des Bonner Instituts für Hermeneutik.

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Autorenverzeichnis

Dr. Thomas Ruster ist Professor für Katholische Theologie mit dem Schwerpunkt Systematische Theologie an der TU Dortmund. Dr. Hildegard Scherer ist Privatdozentin für Neues Testament an der KatholischTheologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelm Universität Bonn und lehrt Neutestamentliche Wissenschaften an der Theologischen Hochschule Chur. Dr. Knut Martin Stünkel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Käte Hamburger Kolleg „Dynamiken der Religionsgeschichte zwischen Asien und Europa“ am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität Bochum. Dr. Klaus Wengst war Professor für Neues Testament an der Ruhr-Universität Bochum von 1981–2007.

Stellenregister

a) Hebräische Bibel (Altes Testament) Genesis 5,1 46 9,6 38 Exodus 2,14 161 2,15 161 4,20 162 10,19 162 11,6 164 14,7 161, 162 14,10 161, 162 14,14 29 15,3 29 15,6 162 15,17 162 16,14 163 17,11 30 18,4 162 18,12 163 18,13 163 19,8 163 19,11 163 19,17 163 19,19 161, 163 20,2 163 20,3 163 20,13 38 20,15 [20,18 V] 163 20,19 [20,22 V] 163 21,1 161, 164 21,22–27 42

21,23 164 21,24 164 22,30 [22,31 V] 161, 164 23,20 165 24,17 163 31,18 165 32,7 165 33,7 165 33,11 161, 166 33,23 166 34,3 166 34,27 166 34,32 166 Levitikus 14,43–47 40 19,17 39 19,18 39, 44–47 25,36 39 Deuteronomium 4,2 39 5,17 38 6,5 44 13,1 39 13,13–19 40 14,21 164 17,16 27 19,11 39 20,1–8 11, 25f. 20,19 26 21,18–21 11, 39f. 25,1–3 76 32,31 164

248

Stellenregister

Josua 7 32

23,23 23,34 26,52

Jesaja 2,2–4 33 5,20.23 30 5,26.29f. 31 48,13 162

Markus 5,1–20 99 11,18 100 12,12 100 13,2 101 13,9 76 15,56 100

Jeremia 29,7 33 36,28 35 36,32 35

Lukas 10,29 44 23,6–12 100 23,13–25 100

Habakuk 2,4 47 Sacharja 9,9 162

Johannes 6,48 98 19,8–16 100

Psalmen 15 47 122,6 33 147,10f. 30 Proverbien 3,11f. (LXX)

86

b) Neues Testament Matthäus 5,9 27 5,21 38 5,22 38 5,21–48 37f. 5,38 42 5,38–42 42 5,39 99 5,39–42 42 5,43 99 7,12 45 10,17 76 10,34 9f., 27 22,1–13 10 22,40 45 23,2–3a 44

44 76 118

Apostelgeschichte 4,32 99 7,28 161 16,22 77 17,9 78 22,19 76 Römer 5,3 70 8,17 70 8,35 70, 71 12,14 70 12,17 70 12,21 70 13,4 82 13,8–10 44 15,31 72 16,4 72 16,7 71 1. Korinther 3,5 82 4,9 70, 72 4,11 72 4,12 70

249

Stellenregister

11,21 15,31 15,32

99 73 72

2. Korinther 1,4 70, 71 1,5 70 1,6 70, 71 1,6f. 70 1,8 70 1,8f. 71 1,9f. 72 4,8 70, 71 4,9 70 4,10f. 73 4,16 72f. 4,17 70, 71 6,4 70, 71 6,5 71, 72 6.9 73 7,4 71 7,4f. 70 7,5 72 8,1f. 71 8,2 70 10–13 74 10,10 74 11 81 11,15 82 11,20 74, 81 11,21 99 11,21–33 83 11,22 81 11,23 71, 72, 73, 74 11,23–25 72 11,23–29 69, 73, 74–80, 88 11,24f. 72 11,27 81 11,32f. 78, 83 12,1–9 83 12,2–4 81 12,7–9 81, 83 12,10 71 Galater 1,13 71

6,12

70

Philipper 1,7 71, 72 1,13 71 1,13f. 71 1,14 72 1,17 70f. 1,28 72 1,29 70 1,29f. 72 4,14 70, 71 Kolosser 2,10 101 1. Thessalonicher 1,6 70 2,14 70 2,15 70 2,15f. 70 2,2 70, 71 3,3 70 3,4 70 3,7 70 Philemon 10 71 23 71 Hebräer 10,32–34 84 10,33f. 84 12,1–11 69, 84–88 12,1f. 84 13,4 84 13,23 84 c) Rabbinisches Judentum Mischna Hagiga ˙ I,8 37

250

Stellenregister

LIII 2,4 79 LIV 6,6 79 LVI 25,5 79 LVII 15,8 79

Bava Qamma VIII,1 42 Sanhedrin IV,5 46, 62 VIII,1 40

Cicero, Pro Archia 14 81

Makkot I,10 38

Epiktet, Diatribe (dissertationes) I 1,21–25 78, 80 29,5f. 79 30,2f. 80

Tosefta Hagiga ˙ I,9 37 Babylonischer Talmud Schabbat 31a 45 Bava Qamma 92b 43 Sanhedrin 71a 40 Makkot 23b–24a

47

Außerkanonische Traktate Derekh Eretz Rabba 11 39 Midraschim Sifra 19,4 (Qedoschim)

39

Sifre Devarim 187 39 Bereshit Rabba 24,7 45 d) Griechisch-römische Literatur Cassius Dio VIII 16 80 XL 47,3f. 79

II 1,35 80 1,38f. 80, 81 5,27 77 6,18f. 79 16,42–44 81 III 20,12 77 20,12–15 81 24,28f. 77 24,64–66 82 26,31f. 86 IV 1,92 77 7,31 79 79 43 Josephus Flavius, Antiquitates IV,238 76 XVIII,65–84 79 Livius XXXIX 16,8f.

79

(Ps.)Plutarch, De liberis educandis 8F 87 9B 87 12C 87 13D 87

251

Stellenregister

Seneca Epistulae morales 24,20 73 59,8 77 De providentia II 5 87 II 5f. 86 IV 4 81 IV 7 81, 86f. IV 11 87 IV 12 87 De tranquilitate animi 11,7 77 Sueton Augustus 31,1 79 Tiberius 36 79 63 79 Tacitus, Annales II 32 79 II 85 79 VI 12 79 e) Koran 2,6–15 62 2,106 54 2,154 57 2,190 56 2,190f. 56 2,190–194 62 2,193 54, 56 2,213 53 2,216f. 55 2,244 56 3,167 56 3,169 57 3.195 57 4,76 56

4,84 56 4,165 53 5,19 53 5,32 62 5,33 62 5,35 56 5,64 62 6,151 62 7,33 62 8,17 55 8,39 56 8,73 62, 73 9 50 9,5 54, 56 9,12 56 9,14 56 9,29 56 9,36 56 9,41 56 9,65f. 63 9,73 56, 57 9,86 56 9,88f. 57 9,123 56, 57 13,39 54 16,101 54 17,33 62 18,74 62 21,107 60 22,17 60 22,39 56 22,39–41 54 22,58 57 22,78 56 25,52 55, 56 25,68 62 33,21 54, 65 47,4 54 47,4–6 57 49,9 56 62,2 54, 65 66,9 57 72,23 54, 65 87,6f. 54 103 60

Namenregister (Auswahl)

Abel 93 Abu Bakr al-Baghdadi 59f. Achtwig, Wilhelm 178 Agamben, Giorgio 115f. Akiva (Rabbi) 38, 46 Akkara, Anto 232 Al-Badri, Ibrahim Awwad s. Abu Bakr al-Baghdadi Albertus Magnus 159 d’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 226 Alexander („der Große“) 81 Alexander III. (Papst) 191 Althoff, Gerd 17, 174, 186, 209 Andronikus 71 Apollonia (Heilige) 14, 97 Apollos 82 Aquila 72 Arendt, Hannah 15, 16, 114f., 121, 138, 144, 146, 149f., 234f. Arzt-Grabner, Peter 71 Aslan, Ednan 64 Assmann, Jan 15, 52, 110f., 113 Aubin, Hermann 177 Augustinus, Aurelius 102 Augustus (Kaiser) 79, 81

Beck, Ulrich 221 Bedford-Strohm, Heinrich 139 Bell, Daniel 221 Ben Asaj 46 Benjamin, Walter 15, 111–114, 115, 116, 121 Berlusconi, Silvio 225 Beth-Dinkler, Michal 145f. Blanca (Königin) 156 Blickle, Peter 184 Bond, James 96 Bourdieu, Pierre 7 Brocke, Edna 41 Buber, Martin 42 Bultmann, Rudolf 125

Baberowski, Jörg 142 Bacher, Mike 190 Bade, Klaus J. 59 Bader, Karl Siegfried 181, 191 Ballhorn, Egbert 10f., 12, 23–34 Baruch (Schreiber) 35 Basse, Michael 7 Baudler, Georg 7

Deleuze, Gilles 124f., 126 Diderot, Denis 108, 226 Diocletian (Kaiser) 97 Diogenes 81 Dionysius (Heiliger) 14, 97f. Donin, Nikolaus 156–158 Douglas, Mary 129 Durantis, Wilhelm 191f.

Carl, Horst 197 Carlyle, Thomas 148 Cassirer, Ernst 16, 124, 138, 144, 147f., 150 Ceric´, Mustafa 60 Clausewitz, Carl Philipp Gottlieb von 117 Cordes, Albrecht 175 Curzon, George Nathaniel 233

254

Gäb, Konrad 178 Gandhi, Indira 232 Gandhi, Mohandas Karamchand („Mahatma“) 19, 234–240 Georg von Werdenberg 178 Ghazi bin Muhammad 59 Ghose, Aurobindo 236 Girard, Ren8 7, 227 Glück, Alois 139 Gobineau, Arthur de 148 Gregg, Richard B. 234 Grimm, Friedrich Melchior 107f. Hamann, Johann Georg 15, 126–132 Hans Jakob von Landau 201 Hans von Frundsberg 196 Hartmann, Hans d.Ä. 180 Hartmann Wolf von Tillendorf, Hans 180 Hasselhoff, Görge K. 16, 155–169 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 121, 148, 226 Heidegger, Martin 119f., 123f., 125, 126, 133 Heinrich von Köln 157 Helvetius, Jean Adrien 226 Heraklit 116 Herkules (Herakles) 81, 86 Hillel 45

15,

Ibn al- Arabı¯ al-Ma a¯firı¯ 54 Innozenz III. (Papst) 191 ˘

Felix V. (Papst) 117 Ferdinand (Erzherzog) 200–205, 207 Flebbe, Jochen 9–20 Foucault, Michel 93f., 225 Franz, Günter 208 Franziskus I. (Papst) 103 Freud, Sigmund 94 Friedman, Milton 222

Hitler, Adolf 235 Holbach, Paul Henri Thiry, Baron d’ 108–110, 113 Holenstein, Andr8 184 Houllebecq, Michel 139 Hume, David 129 ˘

Ehrenberg, Alain 224 Eichmann, Otto Adolf 149 Eißler, Friedmann 12, 49–68 Elasar ben Asarja (Rabbi) 38 Elieser ben Hyrkanos (Rabbi) 39 Engels, Friedrich 220 Epaphras 71 Epiktet 43, 80

Namenregister (Auswahl)

Jaspers, Karl 119f. Jeremia (Profet) 35 Jehuda (Rabbi) 40, 41 Jesus von Nazaret 10, 14, 27, 38, 43, 93f., 96, 99–101, 102, 103 Jochanan ben Sakkaj 36 Jörg von Lupfen 203 Jörg von Werdenberg-Sargans 178, 187 Johann Werner von Zimmern 178 Johannes Paul II. (Papst) 25 Johannes (Schultheiß von Kreuznach) 189 Johannes von Segovia 117, 118f. Jojakim (König) 35 Jonatan (Rabbi) 41 Josia (König) 35 Juncker, Jean-Claude 140 Junia 71 Kain 93 Kant, Immanuel 15, 122, 123–125, 126–132 Kapila, Shruti 235–239 Kermani, Navid 139 Kern, Fritz 189 Kessler, Johannes 171–173 Khorchide, Mouhanad 12f., 63f., 139 King, Martin Luther, Jr. 234 Lasogga, Mareile 144 Lefort, Claude 146 Lehmann, Karl 125 Lenin, Vladimir I. 236 Levinas, Emanuel 146 Locke, John 226 Ludwig IX. (König) 156

255

Namenregister (Auswahl)

Ludwig von Eppenberg Luhmann, Niklas 106 Luther, Martin 106

188

Magnani, Lorenzo 229 Maimonides, Moses 159f. Mansour, Ahmad 64 Marduk 96 Mart&, Ramon 157 Marx, Karl 121, 122, 220f., 224 Matthäus (Evangelist und Evangelium) 38, 43–45 Mayenburg, David von 17, 171–217 Mayer, Ruedi 180 Mazyek. Aiman 65, 67 McLane, John R. 233 Merkel, Angela 140 Mill, Frank 226 Modi, Narendra 231 Moneta von Cremona 159 Mose 26, 29 Moses ben Jacob 159 Münkler, Herfried 138, 139, 142–145 Muhammad 53–55, 57f., 63, 65, 67 Murdoch, Rupert 225 Murer, Franciscus 179 Nagel, Tilman 66 Neelankavil, Tony 18f., 229–242 Nietzsche, Friedrich 14, 94 Nikolaus von Kues 117–119 Nikolaus von Lyra 159 Nolte, Paul 146 Nuhr, Dieter 59 Oestmann, Peter 185 Ourghi, Abdel-Hakim 64

Safranski, Rüdiger 139, 141f. Sartre, Jean-Paul 114, 115 Schammaj 45 Scherer, Hildegard 13, 69–90 Schilling, Johannes 144 Schimon (Rabbi) 40f. Schimon ben Gamliel 38 Schlosser, Hans 182f. Schmeller, Thomas 83 Schmid, Huldrich 171f. Schmitt, Carl 146 Schröder, Christian 142 Sebastian (Heiliger) 14, 97 Setzing, Michael 178 Siegmund von Österreich 178 Siegmund zu Lupfen 200–203 Sirat, Colette 155 Sivan, Emmanuel 129 Skaria, Ajay 238 Slenczka, Notger 144, 145 Sloterdijk, Peter 139, 140f., 142, 143 Smith, Adam 226 Sokrates 122 Stalin, Josef 234 Stünkel, Knut Martin 14f., 16, 17, 19, 105–135 Tanchuma (Rabbi) 46 at-Tabari, Abu¯ Ja far Muhammad ibn ˙ Jarı¯r 54 Tagore, Rabindranath 236 Tarfon (Rabbi) 38 Taylor, Charles 14, 93–96, 98, 102 Thibaud de S8zanne 157, 159 Tiamat 96 Tiberius (Kaiser) 79 ˘

Pandey, Gyanendra 239 Paulus von Tarsus 13, 70–83, 84, 88, 99 Pilatus, Pontius 100 Platon 121, 122 Plutarch 87 Popper, Karl Raimund 120–123, 125 Post, Werner 17f., 219–228 Priska 72

Raschi (Rabbenu Schlomo Jitzchaki) 158f., 160–166 Richter, Cornelia 15f., 137–152 Ricœur, Paul 146 Rigby, Lee 50 Rosenzweig, Franz 119f. Rousseau, Jean-Jacques 226 Rudolf von Friedingen d.Ä. 179 Ruster, Thomas 14, 15, 16, 17, 18, 93–104

256

Namenregister (Auswahl)

Tilak, Bal Gangadhar („Lokmanya“) 19, 235–240 Touraine, Alain 221 UÅar, Bülent 64 Uka, Arid 50 Ulbricht, Claudia 197f. Ulrich von Habsberg 201 Voltaire

226

Wendt, Heidi 79 Wengst, Klaus 11f., 35–47 Wernhard von Leonberg 190 Widmer, Jakob 180 Wilhelm von Auvergne 156 Wink, Walter 96, 100 Wißer, Hans 180 Zasius, Ulrich 179, 191f. Zeus 80, 86 Zˇizˇek, Slavoj 146